Das Bernbiet ehemals und heute : Saint-Imier, eine Stadt um Laufe der Zeit

Objekttyp: Group

Zeitschrift: Historischer Kalender, oder, Der hinkende Bot

Band (Jahr): 289 (2016)

PDF erstellt am: 11.10.2021

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Saint-lmier, eine Stadt im Laufe der Zeit

DAS BERNBIET EHEMALS UND HEUTE

Blick auf Saint-lmier am Fusse des Mont-Soleil (Foto: Daniel Bigler)

Ei/ie Stach z'm Lczn/e r/er Zezf - der Ausdruck ist und haben das Know-how des Städtchens rund abgenutzt! In Saint-lmier erhält er jedoch seine um die Welt verbreitet. Es selber bleibt jedoch echte Bedeutung: Dank der Uhrmacherei erlebt oft noch unbekannt: Abseits des Mittellandes die Stadt im Berner Jura im 19. Jahrhundert und seiner Verbindungswege liegt es zwischen einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Biel und La Chaux-de-Fonds, am Fuss des Aufschwung, der ein ländliches Dorf in ein Chasserai und des Mont-Soleil. Vor dem Hin- Uhrenzentrum verwandelt. Longines, Breitling, tergrund seiner langen und reichen Vergangen- Leonidas, Heuer..., zahlreiche hochwertige heit wendet es sich mit Vertrauen seiner Zu- Uhrenmarken sind in Saint-lmier entstanden kunft zu.

70 Am Anfang war eine Legende die Römer keinen Ort auf dieser schmalen Achse bewohnt hatten. Saint-Imier und seine Die Geschichte von Saint-Imier fängt mit einer Umgebung liegen deutlich ausserhalb der Glas- Legende an: Ein Adliger, der auf seine Reich- und der Eisenerzzone. Seine Lage - es liegt auf tümer verzichtet hatte, kam aus dem Eisgau ins 820 m ü. M. — war einer frühen Besiedlung Schüsstal. Dort fand er nur Wildnis und Brach- nicht förderlich. Das Tal wird nicht erwähnt in land. Als die Sonne unterging, hielt der from- den strategischen Machtspielen um den Pass me Mann neben einer Quelle Rast. Die ganze Pierre Pertuis südlich von , wo sich Nacht blieb er wach und lobte Gott. Als der zwei römische Militärstrassen verbanden Hahn krähte, hörte er dreimal das leise Klin- (Avenches—-Augst und Besançon- geln eines Glöckchens. Von Gott geführt sah er Mandeure-Kembs). einen Haselstrauch, an dem das Glöckchen Die langsame Kolonisierung der Umgebung hing. Nachdem er noch eine Wildsau mit ihren belegen Ausdrücke, welche die Ansiedlung be- drei Frischlingen zu beruhigen vermochte und zeichnen. An der Wende zum 7. Jahrhundert eine Quelle entdeckte, wusste er, dass er als Hess sich vermutlich der eingangs erwähnte hei- Eremit an diesem Ort bleiben sollte. lige Mann namens Himerius im nieder. Eine mittelalterliche Handschrift fügt eine Das Dorf Saint-Imier soll sich um sein Grab zusätzliche Episode hinzu: Imier machte eine Pilgerreise nach Jerusalem. Während seines Aufenthalts ging er auf eine Insel, die ein Greif (mythisches, aus Tierkörpern, z.B. Löwe/Raub- vogel, bestehendes Mischwesen) verwüstet hatte. Die ganze Bevölkerung war entsetzt ob des grausamen Tiers. Der heilige Mann aber blieb standfest, als das furchtbare Wesen ihn mit schrecklichem Getöse angriff. Er machte ein Kreuzeszeichen und verlangte von ihm, dass es sich seine kleinste Klaue mit seinem eigenen Schnabel abschneide und sie ihm zur Erinnerung gebe. Das Tier gehorchte! So nahm der Heilige eine aussergewöhnliche Greifenklaue in seinem Gepäck mit - aber auch die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen. Schon in seiner Grundlegende erweist sich Saint-Imier als weltoffen!

Religiöse Spuren tragen zu seiner Geschichte bei

Die Legende, deren Authentizität umstritten ist, ist reich! Die historische Wirklichkeit ist aber weniger klar... Als der Eremit in die Ge- gend kam, muss er wohl ein wildes Gebiet vor- gefunden haben! des Im Erguel, dem oberen Teil Schüsstales, In der reformierten Kirche des etwas talabwärts gelegenen wurden keine Spuren von antiken Verbindungs- Courtelary sieht man den Heiligen Imier mit dem Greif. wegen gefunden; man nimmt daher an, dass (Mdl, Fonds Jean Chausse)

71 verehrte Himerius seine letzte Ruhe findet. In ihr residiert ein zwölfköpfiges Kapitel von Stiftsherren. Das Bistum Lausanne übt die geistliche Macht über Saint-Imier aus, jenes von Basel die weltliche.

Reformation

Der Streit zwischen Basel und Lausanne um die Herrschaft über die Gegend geht mit der zu Ende. 1530, zwei Jahre nach der Stadt Bern, setzt sich die neue Konfession in Biel durch - und damit auch in Saint-Imier. Die Reliquien des Heiligen werden verbrannt, der Altar zerbrochen, die Reichtümer der Stiftskirche beschlagnahmt, die Messe abge- schafft. Die Chorherren fliehen nach Solo- thurn. Der Vorkämpfer der reformatorischen Bewegung, Guillaume Farel, verbringt zehn Tage im Schüsstal, während deren er den neuen Glauben erläutert und verbreitet. Obwohl Saint-Imier die reformierte Konfes- sion gewählt hat, bleiben die Stadt und das Schüsstal unter der weltlichen Macht des Fürst- bistums Basel. Dieses versucht, Biel seine Rechte über die Gegend zu verkaufen: Im Fe- bruar 1552 nimmt das Basler Domkapitel in La Tour Saint-Martin, ursprünglicher Standort Biel eine wichtige Geldanleihe auf und bietet des Himeriusgrabes (Foto: Daniel Bigler) der Stadt als Gegenleistung die Verwaltung des herum entwickelt haben, und der Ort wurde Erguels an. Die Einwohner sträuben sich dage- nach ihm benannt. Die erste schriftliche Erwäh- gen und erhalten die Unterstützung Solothurns. nung — c/i'e ce//« ,s«;ict; Himerii c«m «<:/- 1556 gesteht der Fürstbischof die ersten Frei- jacen?« wird 884 der Abtei -Grandval heiten zu. Biel bleibt das Bannerrecht erhalten, unterstellt - bezeichnet wahrscheinlich ein reli- d.h. die Stadt hat das Recht, Männer für ihre giöses Bauwerk oder ein Bauerngut mit seinen Truppen einzuziehen. Nebengebäuden. Im Jahre 968 bestätigt man die Zugehörigkeit zu Moutier-Grandval mit der c«- pc//a Sa/rcfr Fmer/i, womit der Beweis für das Bestehen einer heiligen Stätte fc«/te//«J und WETTBEWERB eines Ortes (Sawct/ kmeräj erbracht ist. 999 Rudolf überträgt Burgunderkönig III. Der Berner Jura ist ein ideales Wandergebiet dem Bistum Basel die weltliche Oberhoheit mit tiefen markanten über die Abtei Moutier-Grandval und ihre Ne- Tälern, Erhebungen und Hochebenen. höchste Punkt befin- bengüter, d. h. auch über Saint-Imier. Acht Der Jahrhunderte lang wird Saint-Imier unter dem det sich auf dem Chasserai, und zwar auf Fürstbistum leben! Im II. Jahrhundert wird 1607 m ü. M. eine prächtige Stiftskirche gebaut, in der der 5/e/ie l/Ve7Tbewe/t>sfragen aufSe/Ye 707

72 Das Leben Schüler nach ihren Prüfungen oder der Bürger, der der Gemeinde seinen Ziegenbock zur Ver- Das dörfliche Leben während dieser stillen fügung gestellt hat. Arme Leute, Flüchtlinge, Jahrhunderte lässt sich schwer erfassen. Man Brandopfer werden ebenfalls unterstützt. kann es anhand einiger Archivanmerkungen erahnen: 1557 wird erstmals eine Schule im Dorf erwähnt. 1630 lebten zwei Hebammen in André Jaquet Saint-Imier. Während des Dreissigjährigen Krieges wurde der Ort von kaiserlichen Trup- Im 18. Jahrhundert strebt der Basler Fürstbi- pen verwüstet (1635-1639). Periodisch suchte schof Johann Konrad von Reinach-Hirzbach die Pest die Gegend heim: 1611 bringt ein Bote nach einer Modernisierung der Staatsverwal- aus Biel die Seuche nach Saint-Imier; 1638 tung im Geiste des aufgeklärten Absolutismus wurde ein Teil des Dorfes unter Quarantäne und versucht, die Regierung zu zentralisieren. gestellt. In den Eintragungsbüchern vermitteln Die Bevölkerung reagiert heftig. Der Wider- kleine Beträge Hinweise auf das alltägliche stand äussert sich 1726 zuerst im Erguel und in Leben: Während der Fastnacht bezahlt man den Freibergen, dann in Delsberg, im Laufental den Jungen den Wein; der Mann, der am 1. Mai und besonders im Eisgau. Die sog. «Landes- die Trommel schlägt, bekommt Geld sowie die troublen» weiten sich aus. Während 14 Jahren

La Collégiale aus dem 11. Jh. (Foto: Daniel Bigler)

73 versuchen die von den Stadtbürgern ermutigten Landgemeinden, die Aufrechthaltung der alten Privilegien, eine Steuersenkung und u. a. die Einschränkung des Jagdrechts zu erreichen. Schliesslich wendet sich der Fürstbischof an König Ludwig XV., was zur Folge hat, dass die französischen Truppen die Ordnung wieder- herstellen. Mehrere Aufrührer werden ge- fangen genommen und zum Tode oder zu Galeerenstrafen verurteilt. Am Anfang dieser berühmten Episode der jurassischen Geschieh- te scharten sich die Aufrührer im Erguel um André Jaquet. Im Alter von 50 oder 55 Jahren war dieser Anstifter zur Rebellion Notar in Saint-Imier. Schon im Jahre 1726 war er gefan- gen genommen worden. Es gelang ihm, aus dem Gefängnis zu fliehen, jedoch wurde er schnell wieder gefasst und für schuldig befun- den. Er wurde des Aufruhrs und des Eid- bruches bezichtigt und zum Tode verurteilt. Doch der Fürstbischof wandelte seine Strafe um: Jaquet wurde auf eine französische Galee- re geschickt und dank Berns Intervention sechs Jahre später befreit. Die Gemeinde von Saint- Imier gewährte ihm 15 Taler als barmherzige Entschädigung für das ihm widerfahrene Leid.

Die im Jahre 1903 eingeweihte Standseilbahn auf den Der Fürstbischof, die Revolutionäre, der Mont-Soleil (Mdl, Fonds Flotron) französische Kaiser und ein Kongress Bestrebungen ein Ende. Im Süden bleiben die Nach der Französischen Revolution erlebt die Vogteien, unter ihnen das Erguel, dank der eid- Gegend eine Folge von verschiedenen politi- genössischen Neutralität vor den französischen sehen Regierungen. Truppen momentan verschont. Im Erguel ver- Der Fürstbischof versucht, gegen die ersten suchen Patrioten, eine freie, unabhängige Ge- revolutionären Bestrebungen Widerstand zu Seilschaft zu bilden. Das Projekt hält nicht leisten. Er flieht schliesslich 1792 nach Biel lange: 1797 ziehen die französischen Truppen und dann nach Solothurn. im Erguel ein, Saint-Imier wird Teil des De- Die französischen Truppen quartieren sich partements Mont-Terrible, später des Departe- im Norden des Fürstbistums ein: In Pruntrut ments Haut-Rhin im Arrondissement Delsberg und Delsberg und in den Freibergen bilden die (1800-1814). Anhänger der Revolution eine Schwesterrepu- Nach den Niederlagen fallen die blik der Französischen Republik. Diese «Rau- alliierten Länder in Frankreich ein. Das Erguel rachische Republik» existiert drei Monate, wird der Verwaltung des Barons von Andlau zwischen Dezember 1792 und März 1793. Die unterstellt. Schliesslich gliedert der Wiener Vereinigung des nördlichen Teils des Fürst- Kongress Saint-Imier zusammen mit den Ge- bistums Basel mit Frankreich als Departement bieten des ehemaligen Fürstbistums Basel in Mont-Terrible setzt diesen republikanischen den Kanton Bern ein.

74 Uhrmacherei

Die Uhrmacherei entwickelt sich Schritt für Schritt. Während sie in Genf der englischen Konkurrenz ausgesetzt ist, breitet sie sich im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich in den Montagnes neuchâteloises aus. Von dort aus dringt sie ins Schüsstal und in die westlichen Freiberge vor. In Saint-Imier werden ab 1720 die ersten Uhrenbestandteile hergestellt, in den 1770er-Jahren erlebt die Uhrmacherei einen ersten Aufschwung. Die politischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Anschluss des 1867 weiht Ernest Francillon die Fabrik an einem Ort na- Fürstbistums Basel an Frankreich dämpfen mens «Les Longines» (die «länglichen Wiesen») in Saint- Imier ein. Der Name einer der aber den Flandel und führen zu einer wirt- weltweit berühmtesten Uhrenmarken ist geboren! (Mdl, Collection Longines) schaftlichen Flaute. Erst nach 1815 erholt sich die Uhrmacherei wieder und breitet sich im ganzen Jurabogen aus. Um 1890 kommt fast die Flälfte aller für den Export bestimmten Uhren und Uhrwerke aus Berner Werkstätten. Im 20. Jahrhundert arbeiten 90 Prozent der in der Uhrmacherei Tätigen im Jurabogen.

Longines-Werkstätte im Jahre 1900 (Fotografie erschienen < in: Nr. cinq graoAs fabriqué Journal Longines, 328, Jan./Apr. 1975) (T fjoriogerie de .St Jinier cantonal bernois du22au 29Ju ilet 1500 kleinen Werkstätten. Sie stellen Bestandteile W*. ^ für Lokalfabrikanten her, welche die Uhren in JjOUurj VU /V*vo>»a ihren Kontoren zusammensetzen und deren WJL, vAiVj UbXvovL. Verkauf organisieren. A**» VI WwNJoJl/ .Viuwl&t! Einige der Werkstätten gleisen eine glor- Fünf wichtige Uhrenfabriken in Saint-Imier. Kantonales reiche Zukunft auf: Agassiz (1832), Leonidas Schiessen, Juli 1900 (Mdl, Collection Musée de Saint-Imier) (1842), Heuer (1860), Breitling (1884). 1866 entscheidet sich Ernest Francillon, das her- kömmliche Produktionssystem aufzugeben, und Entstehung der Uhrmacherstadt errichtet die Manufaktur Longines, die erste mechanisierte Fabrik der Region. 1800 ist Saint-Imier ein Bauerndorf mit 900 Einwohnern, in dem die Uhrmacherei schwach verbreitet ist. Wenige Jahrzehnte später ver- Jacques David wandelt der rasante Aufschwung Saint-Imier in eine Industriestadt mit 7000 Einwohnern. Zu- Jacques David kommt 1866 nach Saint-Imier: erst arbeiten die Handwerker zu Hause oder in Der junge Mann - er ist 21 Jahre alt - soll

75 Am 29. April 1874 fährt der erste Zug durch Saint-Imier! Die Strecke verbindet Biel und Les Convers. Über den begeis- terten Empfang kann man in der Zeitung lesen: «Endlich kommt der glückliche Tag, der uns aus unserer Abgeschieden- heit herauszieht und uns mit unseren Eidgenossen verbindet! Die Dörfer haben sich für die Gelegenheit geschmückt: Tri- umphbogen, Girlanden, Fahnen, Banner, Granatwerfer, Festbeleuchtung, Feuerwerke, Musik, Chorgesänge, Reden, Fest- mahl... Nichts hat gefehlt!» Der Bau der Bahnlinie antwortet auf die industrielle Entwicklung und begleitet sie. (Collec- tions Mémoires d'Ici) seine Verwandten Ernest Francillon und weise erlaubt es, mehr und billigere Uhren her- Auguste Agassiz beim Aufbau der Uhrenma- zustellen. Seine Arbeit wirkt in der Schweiz nufaktur Longines unterstützen. Zehn Jahre wie ein Schock. Die Uhrenindustrie ist aufge- später besucht er in Philadelphia die erste offi- rüttelt! zielle Weltausstellung in den USA, die 1876 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Ar- das Jubiläum der hundertjährigen Unabhängig- beitsteilung extrem. Viele Fabriken stellen ein keitserklärung der Vereinigten Staaten feiert. einziges Element her. 1830 zählt man 54 Etap- Die /nfernrzfiona/ £jt/u7?/f/on o/Arfs, Manw/ac- pen in der Herstellung einer Uhr, 70 Jahre spä- tnres, anc/ Prot/wc/s o/ t/m So// cmc/ M/ne soll ter sind es doppelt so viele. der Welt die industrielle und innovative Kraft Amerikas zeigen. In dieser Ausstellung wurden zum Beispiel Vom Dorf zur Stadt Beils Telefon, Remingtons Schreibmaschine oder der Wallace-Farmer-Dynamo, aber auch Mit der Industrialisierung veränderte sich na- der Heinz Ketchup zum ersten Mal gezeigt! türlich das Gesicht des Dorfes. Dreimal zerstö- Im Auftrag der jurassischen Uhrenindustrie ren Grossbrände dessen Zentrum: 1839, 1843, verfasst David einen Bericht, in dem er die au- 1856. Auf den Trümmern baut man eine Stadt tomatisierten Maschinen, die er gesehen hat, auf, welche die neuen Bedürfnisse nach Unter- beschreibt. Eine rationalisierte Produktions- kunft erfüllt. Wie in La Chaux-de-Fonds setzt

76 sich das Schachbrettmuster der Strassenord- der Alkohol ins Elend führt, doch das Elend nung durch. Hohe Mietshäuser werden errich- führt zur Trunksucht. Gegen diese Plage wäre tet, in denen die Arbeiter eine Wohnung mieten eine Gesellschaftsreform wirksamer als Absti- können. Hygienisch und billig sollen diese Un- nenz.» terktinfte sein. Eltern und Kinder haben sepa- rate Schlafzimmer; es gibt eine Toilette auf jedem Stockwerk. Jede Familie hat ihren eige- Arbeiterinnen und Arbeiter nen Gemüsegarten. Gleichzeitig entstehen bür- gerliche Häuser, die auf Repräsentation der ge- Im Laufe des 19. Jahrhunderts beginnen die sellschaftlichen Stellung ausgerichtet sind. Arbeiter, sich zur Vertretung ihrer Interessen Zwischen 1890 und 1920 werden fliessendes zusammenzuschliessen. Die erste Soc/éfé cfe Wasser, Elektrizität und ein Kanalisationsnetz rAmfa/ice (Widerstandsgesellschaft) erreicht eingeführt, aber auch Telegrafie, Gasbeleuch- die Auszahlung der Löhne im Falle von Ar- tung und Telefon! beitslosigkeit oder Streik. Ab 1849 bietet die Société mutuelle von Saint-Imier, eine Art Ver- Sicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit, Gesellschaftliche Entwicklung ihren Mitgliedern Unterstützung bei Krankheit und Unfall. Die Arbeiter schliessen sich ent- Die Entwicklung der Industrie im 19. Jahrhun- sprechend ihren Berufen zusammen. Später dert verändert die gesellschaftlichen Grundla- organisieren sich die Verbände zunehmend auf gen. Die Frauen verlassen den häuslichen Herd nationaler Ebene bis zur gemeinsamen Uhrma- gehen jetzt in die Fabrik. Jede Woche bekom- chergewerkschaft SMUV, heute Unia, deren men die Arbeiter ihren Lohn, was ein völlig Lokalsektion 1886 in Saint-Imier gegründet neues Verhältnis zum Geld verursacht. Im wurde. Jahre 1900 soll Saint-Imier etwa 50 Gaststätten Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen Kon- gezählt haben. Wie in der ganzen Schweiz flikte oft gewalttätig aus. 1893 landen 30 Ar- bleibt die aus dem Mittelalter stammende Sitte beiter im Gefängnis. 1910 ist die Longines fünf des «blauen Montags» auch in der jurassischen Wochen lang einem Streik und einer Aussper- Stadt verbreitet: Am Tag, der einem Festtag rung unterworfen. Während des Generalstreiks folgt, ziehen die Arbeiter das Café oder den von 1918 treten die Armee und die Bürger- Müssiggang der Werkstatt vor - die Abwesen- wacht gegen die Arbeiter an. heit kann bis am Dienstag oder sogar am Mitt- woch dauern! Die Abstinenzlerbewegungen entstehen im Anarchistische Bewegungen Land. 1882 wird in Saint-Imier die Lokalsek- tion des Blauen Kreuzes gegründet; sie kämpft Die Weltgeschichte hat die Erinnerung an das «gegen Trunksucht und Laster» und eröffnet folgende Ereignis bewahrt: Marx und der rus- Cafés ohne Alkoholausschank. Auf den Vor- sische Revolutionär Bakunin befeinden sich in wurf des Sittenzerfalls antwortet der Arbeiter- der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation. verein folgendermassen: «Oft wird gesagt, dass Bakunin, der die Freiheit des Individuums und eine föderalistische Organisation befürwortet, stellt sich gegen die autoritären und zentralis- Ideen und sein Ver- Das Institut «Mémoires d'Ici» in Saint-Imier hat tischen von Marx. Bakunin bündeter James Guillaume Le Locle eine zweifache Mission: Bewahren und zur aus wer- den der Internationale in Den Geltung bringen des geschichtlichen und kultu- am Kongress 1872 rellen Erbes des Berner Juras. Näheres unter Haag ausgeschlossen. Im Gegenzug ver- www.ffl-id.cli. anstalten die Anhänger Bakunins am 15. und 16. September 1872 einen Kongress in Saint-

77 4565 — St-lmier - Rue Francillon

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Das ehemalige Rathaus wurde 1857 nach einem Grossbrand neu aufgebaut und in ein Hotel umgewandelt. Dort fand im Jahre 1872 der Kongress statt, an dem die Antiautoritäre Internationale gegründet wurde. (Mdl, Collection Musée de Saint-Imier)

Imier unter der Führung der Jurassischen Fö- Krise der 1970er-Jahre deration mit James Guillaume und dem Ak- tivisten aus dem Nachbardorf , Aufgrund der Quartztechnologie und des Adhémar Schwytzguébel, an der Spitze. Die durchschlagenden Anstieges der Produktion in italienische, die spanische und die jurassische Asien verschwinden Ende der 1960er-Jahre Föderation der Internationalen Arbeiterassozi- zahlreiche Kleinunternehmen der Uhrenindu- ation sowie Delegierte aus anderen Ländern strie. Diejenigen, die übrig bleiben, gliedern gründen zusammen die Antiautoritäre oder sich Holdinggesellschaften an. Infolge dieser Anarchistische Internationale. Bakunin ist Krise verliert Saint-Imier einen Drittel der Be- einer der Vertreter der italienischen Föderati- völkerung. Die Stadt hat keine andere Wahl, on. Ihre Doktrin vertritt das kollektive Besitz- als sich wirtschaftlich zu diversifizieren: Die tum der Produktionsgüter und, im Gegensatz Unternehmen verlagern ihre Kenntnisse in Mi- zum Marxismus, die Zerstörung des Staates. krotechnik auf neue Industriezweige, so zum Einer der in Saint-Imier gefassten Beschlüsse Beispiel auf Dental- und Medizintechnologie. geht in die Geschichte ein und wird zum Wahl- Saint-Imier kann sich dadurch vom exklusiven spruch des anarchistischen Gedankenguts: Bereich der Uhren lösen. Als die Uhrenindus- «Die Zerstörung jeglicher politischen Macht ist trie am Ende der 1990er-Jahre neue Lebens- die erste Pflicht des Proletariats.» kraft findet, hat sich die Industriestruktur der

78 Der grösste Windpark der Schweiz steht auf den Höhen des Mont Crosin und des Mont-Soleil. (Foto BKW AG)

Stadt breit gefächert. Die heutige Wirtschaft den Unternehmen interessieren jährlich Tau- baut auf dieser breiten Palette auf. sende von Besuchern. Die Kraftwerke gehören inzwischen zu den wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten der Gegend. Wind- und Sonnenkraft

In Saint-Imier befindet sich der grösste Wind- WETTBEWERB park der Schweiz: 16 Windturbinen erzeugen auf dem Mont Crosin und dem Mont-Soleil I Die Gesellschaft Chemin de fer du Jura wurde etwa 40 Millionen Kilowattstunden Strom pro 1944 gegründet. Es handelt sich um eine Jahr. Seit Februar 1992 produziert auch das I Fusion vier Bahnen: Tavannes-Le Noir- Sonnenkraftwerk und Forschungszentrum von I Mont-Soleil rund 550000 Kilowattstunden pro mont, Saignelégier—La Chaux-de-Fonds, Jahr, was dem Bedarf von ungefähr 120 Haus- I Saignelégier—Glovelier, Porrentruy-Bonfol. haltungen entspricht. Das damals grösste Son- | Das älteste, ursprünglich mit Dampf betrie- nenkraftwerk Europas - die Solarzellenfläche I bene Teilstück Tavannes- stammt bedeckt nU auch das bedeutendste I 4575 - ist aus dem Jahre 1884. private Fotovoltaik-Testzentrum der Schweiz. Die technischen Herausforderungen dieser bei- S/ehe Wefföewerbsfragen auf 5e/'fe 707

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