Der Sammelband Österreich in der Zweiten Republik gibt einen Philipp Strobl (Hrsg.) Einblick in die vielseitige, wechselhafte und nicht immer einfache Entwicklung eines Staates, der in seinem Selbstverständnis erst seit etwa 70 Jahren in seiner heutigen Form existiert. Die kritische Aufarbeitung der Herausbildung der Zweiten Republik (1945 – Österreich in der Zweiten Republik heute) durch Experten aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen ermöglicht einen Einblick in die vielfältigen Entwicklungen, die Österreich bis heute prägen. Großer Wert wurde auf eine umfas- sende Darstellung gelegt. So findet man neben Beschreibungen Ein Land im Wandel der historischen auch Darstellungen der politischen, der sozialen, der rechtlichen sowie der sprachlichen Entwicklungen Österreichs innerhalb der letzten sieben Jahrzehnte. Österreich in der Zweiten Republik Österreich in der Zweiten

ISBN 978-3-8300-7724-4 Verlag Dr. Kovač Strobl (Hrsg.)

Schriftenreihe

Studien zur Zeitgeschichte

Band 94

ISSN 1435-6635

Verlag Dr. Kovač

Philipp Strobl (Hrsg.)

Österreich in der Zweiten Republik

Ein Land im Wandel

Mit einem Vorwort von Dr.

Verlag Dr. Kovač

Hamburg 2014 VERLAG DR. KOVAČ GMBH F ACHVERLAG FÜR WISSENSCHAFTLICHE L ITERATUR

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ISSN: 1435-6635 ISBN: 978-3-8300-7724-4

© VERLAG DR. KOVAČ GmbH, Hamburg 2014

Satz: Daniel Holzer Umschlagillustration: Natalie Holzer

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Vorwort

Österreich in der Zweiten Republik Dr. Erhard Busek

Zunächst muss festgehalten werden, dass Österreich nach 1945 von einer sehr guten Entwicklung und viel Glück begleitet war. Das war nach den Geschehnis- sen, nach dem Zerfall der Donaumonarchie nicht selbstverständlich und hat sich auch deutlich darin dokumentiert, dass es zum Bürgerkrieg, der Abschaffung der Demokratie und dem Verlust der Eigenstaatlichkeit geführt hat. Wir zweifeln immer daran, ob aus der Geschichte gelernt wurde - im Falle Österreich, oder besser der handelnden Personen, kann man das ruhig behaupten. Niemand stellt heute mehr Österreich selbst in Frage, die wirtschaftliche und soziale Situation ist stabil und hat im Vergleich mit anderen Ländern des Kontinents sogar eine hervorragende Stellung errungen. Hier ist aber der entscheidende Punkt: ist in der politischen Landschaft die Fähigkeit noch vorhanden, eine gewisse Nachhal- tigkeit zu garantieren? Ein anderes Problem sind auch die Veränderungen im Umfeld: von der Lage am östlichen Rand der westlichen Welt zum Eisernen Vorhang sind wir in die Mitte des Kontinents zurückgekehrt, ohne dass wir allzu viel daraus gemacht haben. Wirtschaftlich gesehen ist es eine Erfolgsstory, denn viele Unternehmer sind "regional player" geworden, was ich mir vor 1989 nie erträumt hatte. Politisch gesehen haben wir aus unserer Rolle nicht allzu viel gemacht, wobei es sicher auch die Ansicht gibt, dass eine gewisse Unsichtbar- keit auch eine positive Strategie sei. Unter dem Aspekt, dass wir auf das "global village", das Weltdorf, zugehen, kann ich allerdings dieser Ansicht nichts abge- winnen... Was sich die Zweite Republik anrechnen kann, ist 1955 der Österreichische Staatsvertrag und 1995 der Beitritt zur Europäischen Union. Politisch gesehen ist in einigen Bereichen noch Normalität gefragt: die Parteienlandschaft in Ös- terreich ist es im Vergleich zu anderen Demokratien lange Zeit nicht gewesen, wobei die Erscheinungen der letzten Zeit dazu führen, dass nach einer Lager- mentalität, einer starken Stabilität durch große Koalitionen und Sozialpartner- schaft, nun eine Zeit der Bewegung kommt, deren Ergebnis wir noch nicht abse- hen können. Das Verhältnis zur eigenen Geschichte ist immer noch problema- tisch, weil wir angesichts der Entwicklung zu einem Einwanderungsland noch 6 Vorwort zu wenig aus den Fehlern der Zeit der Monarchie und danach gelernt haben. Dieser Vorgang steht noch aus und die Gewinnung einer neuen Qualität der Demokratie muss noch geleistet werden. Dank dafür ist zu sagen, dass die Zweite Republik durch die Autoren dieses Bandes aus den verschiedenen Aspekten und aus der Nachbarschaft auch be- trachtet wurde. Das ist für Österreich sehr wichtig, weil wir dazu neigen, eine Nabelbeschau zu betreiben und eine kritische Auseinandersetzung von außen abzulehnen. Dem Buch "Österreich in der Zweiten Republik" darf Erfolg ge- wünscht werden und den Autoren Dank gesagt. Inhaltverzeichnis

Einleitung: Ein Land im Wandel – Österreich in der Zweiten Republik (Philipp Strobl) ...... 9

Der wirtschaftliche, politische, moralische Wiederaufbau Österreichs nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges (Günter Bischof) ...... 13

Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss (Philipp Strobl) ...... 35

Von der Knappheit zum Wohlstand – Wirtschaftliche Entwicklung in der Zweiten Republik am Beispiel Tirols (Josef Nussbaumer) ...... 53

Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik (Otmar Höll) ...... 71

Österreich in der Europäischen Union (Jun Saito) ...... 89

Rechtspopulismus in Österreich – Systemsturz oder einfach nur Populismus? (Manfred Kohler) ...... 103

Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ Österreichische Zuwanderungsgeschichte seit 1955 aus identitätspolitischer Perspektive (Ingrid Blasge) ...... 117

Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung (Daniel Holzer) ...... 133

Korruptionsfälle in der Zweiten Republik – Gesellschaftliche Veränderung und (straf)rechtliche Reaktion (Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy) .. 149

Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen (Oksana Havryliv) ...... 175

Autorenliste ...... 195

Einleitung

Ein Land im Wandel – Österreich in der Zweiten Republik Philipp Strobl

Was ist typisch österreichisch – auf diese Frage erhält man außerhalb Öster- reichs durchwegs sehr einheitliche Antworten. „Habsburg, bzw. Sissi, Alpen, Tourismus, Mozart, Sound of Music, Kleinstaat, Neutralität, Wohlstand“ sind nur einige wenige Beispiele für das gängige Österreichbild im Ausland, mit dem man sich in Österreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts augenscheinlich auch sehr gut arrangieren kann. Diese Bilder kommen natürlich nicht von ungefähr. So war es Teil des österreichischen Identitätsbildungsprozesses nach 1945, ge- nau dieses verklärte Bild einer jahrhundertealten, österreichischen, friedlieben- den, unabhängigen, in sich geschlossenen Kleinstaatkultur zu prägen. Auf ge- meinsame Entwicklungen und enge Verflechtungen mit Nachbarstaaten, wie Deutschland, der Slowakei, Ungarn, Italien, Tschechien, Slowenien und vielen anderen Ländern wurde in diesem Zusammenhang nur sehr wenig Rücksicht genommen. Von Deutschland distanzierte man sich aufgrund der gemeinsamen nationalsozialistischen Vergangenheit, zu einer Identifizierung mit Staaten des damaligen kommunistischen Ostblocks bestand ebenso wenig Bereitschaft. Ös- terreich hatte sich also so gut es ging neu zu positionieren. Doch wo steht das Land heute? Wo befindet sich die Alpenrepublik in Zei- ten einer fortschreitenden Globalisierung, in Zeiten einer europäischen Integra- tion und in Zeiten verflochtener Märkte? Sucht man nach Antworten auf diese Fragen, stößt man rasch auf ein anderes Österreichbild. Man entdeckt ein Land, das nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges um seine staatliche Souveränität kämpfen musste. Man entdeckt einen Staat, dessen Politik sich nach jahrzehnte- langen vernichtenden Klassenkämpfen ab 1945 wieder selbst zu arrangieren hat- te. Man entdeckt eine Republik, die sich neu erfand, um in einem neuen Umfeld bestehen zu können. Man stößt allerdings auch auf eine Kultur des Vergessens und Verdrängens. Man begegnet einem Land, das aufgrund seiner neu erschaf- fenen Identität nur allzu gerne Verantwortung aufschiebt und ungern Position bezieht. So behindert diese, in Zeiten eines Zusammenwachsens Europas viel- fach immer noch eine tatsächliche Integration. Die „wir sind wir“ Mentalität, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich zwangsläufig entwickelt wurde, ist in 10 Philipp Strobl vielen Bereichen immer noch vorherrschend. Abseits privatwirtschaftlicher Be- mühungen, wurde beispielsweise politisch lediglich wenig getan, um das Land und seine Bevölkerung auf die enormen Chancen aber auch Herausforderung der EU-Osterweiterung des Jahres 2004 vorzubereiten. Die tschechische, ungari- sche, slowenische, oder slowakische Sprache sind auch 2014 immer noch tat- sächliche Außenseiter am Lehrplan österreichischer Schulen, obwohl die nahen Grenzen zu den Nachbarn nun problemlos überschritten werden können. Lang- fristige und weitreichende politische Kooperationen zwischen Österreich und seinen östlichen Nachbarn bestehen kaum. Dieser Sammelband versucht einen Einblick zu geben in die vielseitige, wechselhafte und nicht immer einfache Entwicklung eines Staates, der in seinem Selbstverständnis erst seit etwa 70 Jahren in seiner heutigen Form zu existieren begonnen hat. Experten aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen stellen darin entscheidende Entwicklungen dar, die dazu beitrugen, aus einem kleinen, im Denken seiner Bewohner „nicht lebensfähigen Gebilde“, die heutige in ihrem Selbstverständnis gefestigte Republik Österreich werden zu lassen. Die kritische Aufarbeitung der Herausbildung der Zweiten Republik (1945-heute) ermöglicht dem Leser einen Einblick in die vielfältigen Entwicklungen, die Österreich bis heute prägen. Dies bietet die Möglichkeit, sich selbst ein Bild davon zu machen, was typisch österreichisch ist und was nicht. Großer Wert wurde auf eine umfas- sende Darstellung gelegt. So findet man neben Beschreibungen der historischen auch Darstellungen der politischen, der sozialen, der rechtlichen, sowie der sprachlichen Entwicklungen Österreichs innerhalb der letzten sechs Jahrzehnte. Der erste Beitrag von Günter Bischof beschäftigt sich mit der Entstehungs- geschichte des österreichischen Staatsvertrags, welcher die rechtliche Grundlage für die Staatswerdung Österreichs bot, sowie mit dem Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Der zweite Beitrag versucht einen kurzen Über- blick über die wechselhafte Geschichte Österreichs. Josef Nussbaumer gibt an- schließend einen Überblick über die Entwicklung einer Konsumgesellschaft in Österreich am Beispiel des Bundeslands Tirol. Im vierten Beitrag gibt Othmar Höll Einblicke in die Richtung der österreichischen Außenpolitik der zweiten Republik. Jun Saito beschreibt im fünften Beitrag die nicht immer einfache Be- ziehung Österreichs zur Europäischen Union und die Rolle, welche die Alpenre- publik heute innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft einnimmt. Manf- red Kohler führt den Leser schließlich wieder zurück in die österreichische In- nenpolitik und hinterfrägt die Bedeutung von Populismus in der österreichischen  Einleitung 11 politischen Landschaft. Im siebten Beitrag beschäftigt sich Ingrid Blasge mit der Frage der Zuwanderung nach Österreich sowie mit dem nicht immer unkompli- zierten Umgang der Österreicher mit dem Thema Migration. Daniel Holzer be- schreibt den interessanten Werdegang der politischen Landschaft Österreichs aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive. Markus Höcher und Mathias Pazmandy analysieren das Wesen der österreichischen Korruption und deren strafrechtliche Folgen. Last but not least analysiert die Germanistin und „Schimpfwortforscherin“ Oksana Havryliv das Wesen der Wienerinnen und Wiener im Spiegelbild ihrer Sprache. Insgesamt wollen die Autoren des Sammelbandes einen umfangreichen Überblick über die vielfältigen und nicht immer einfachen Entwicklungen Öster- reichs in seiner jüngeren Geschichte geben und somit einen Beitrag zur Aufar- beitung oder vielleicht auch Neugestaltung des Österreichbildes liefern. Die Umsetzung dieses ehrgeizigen Projektes wäre undenkbar gewesen oh- ne die Unterstützung zahlreicher Institutionen, aber auch vieler Privatpersonen. Großer Dank gebührt dem österreichischen Kulturforum in Bratislava (unter der Leitung von Frau Mag. Brigitte Trinkl), welches durch seine finanzielle Unter- stützung nicht nur die Herausgabe dieses Bandes, sondern auch die Abhaltung einer gleichnamigen Vorlesung an der Wirtschaftsuniversität in Bratislava im Wintersemester 2013 ermöglichte. Im Besonderen möchten wir auch Herrn Dr. Erhard Busek danken, der sich innerhalb kürzester Zeit rasch und unkompliziert bereit erklärte, dieses Projekt durch die Verfassung eines Vorwortes zu unter- stützen. Großer Dank gebührt außerdem dem Österreichischen Austauschdienst (ÖAD), der durch den Ankauf einiger Exemplare des Bandes zur weiteren Ver- breitung beiträgt. Besondere Erwähnung muss auch das Team der freiwilligen Mitarbeiter um Doris Stauder und Daniel Holzer finden, die durch ihre uner- müdliche Arbeit die Herausgabe dieses Bandes erst ermöglichten. Der größte Dank gebührt nicht zuletzt Ihnen, der Leserin und dem Leser, für Ihr Interesse an dem Thema. Wir hoffen Ihre Erwartungen an unser Werk erfüllen zu können und wünschen in diesem Sinne, viel Spaß beim Schmökern...

Der wirtschaftliche, politische, moralische Wiederaufbau Österreichs nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges Günter Bischof

1. Die nach dem Ersten Weltkrieg errichtete Erste Republik Österreich hatte eine kurze und turbulente Lebensdauer1. Bedrängt vom Aufstieg der kommunisti- schen und faschistischen/nationalsozialistischen Totalitarismen auf allen Seiten und unter dem Druck eines schleichenden Bürgerkrieges zwischen den politi- schen Lagern der 1. Republik, flüchtete sich das Land in den “Ständestaat”, ei- nen quasi-hausgemachten Faschismus. Am 11. März 1938 fiel die deutsche Wehrmacht in Österreich ein -- das Land wurde von Adolf Hitlers “Drittem Reich” absorbiert. Nach dem “Anschluss” wurden die “Ostmark” bzw. die “Do- nau- und Alpengaue” Provinzen des Dritten Reiches. Der Einfall der deutschen Wehrmacht in Polen löste den 2. Weltkrieg in Europa aus. In den folgenden sechs Jahren ging die österreichische Bevölkerung durch alle Höhen und Tiefen des Hitlerschen Angriffs- und Vernichtungskrieges in Europa. 1,3 Millionen ös- terreichische Soldaten kämpften in den bewaffneten Formationen des Dritten Reiches an den Ost-, Nord-, Süd- und Westfronten des Krieges. Österreicher kämpften in der Wehrmacht und exekutierten den “Kommissarsbefehl” im Krieg gegen die Sowjetunion. Sie mordeten gnadenlos in den SS-Eliteverbänden und SS-Einsatzgruppen. Sie töteten zahllose unschuldige Juden in den Polizeieinhei- ten, die in den Ostgebieten agierten. Sie nahmen – oft in führenden Positionen -- an der gezielten Vernichtung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern in Osteuropa teil. Gegen Kriegsende kam es zu brutalen Lynchmorden an abge- schossenen Piloten und Air Crews, sog. “Luftpiraten” (Goebbels). Mit ihrer oft begeisterten Teilnahme an Hitlers Krieg luden viele Österreicher eine tiefe Schuld auf sich persönlich und in toto auf ihr Land.2

 1 Den besten Überblick zur österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert bietet Ernst Ha- nisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichs Geselsschaftsgeschichte im 20. Jahrhun- dert (Wien 1994), und Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert (Wien 2008). 2 Die beste Zusammenfassung der österreichischen Täter- und Opfergeschichte im Zweiten Weltkrieg sind die Aufsätze in Emmerich Talos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich (Wien 2000). 14 Günter Bischof

Zahlreiche Österreicher litten auch unter der nationalsozialistischen Okku- pation ihres Landes. Österreicher gingen in den Widerstand und bezahlten ihre Opposition gegen das NS-Regime oft mit ihrem eignenen Leben. Wie in den Reichsgauen gab es viele Versionen des Widerstandes in der Ostmark. Von den aktiven Formen der Progagandatätigkeit und des offenen Kampfes gegen das NS-Regime bzw. der Fahnenflucht, hin bis zu passiven Formen der “Resistenz”, in dem man Feindsender wie das BBC Radio abhörte, Fahnenflucht begann, in den Fabriken Sabotage betrieb, sich öffentlich zum katholischen Glauben be- kannte, jüdische Mitbürger versteckte, oder Zwangsarbeitern das Leben leichter machte; viele ostmärkischen ”Raunzer” schlichen sich “Herr Karls”-mässig wi- derwillig durch den Krieg und kollaborierten wo sie mussten. Der britische Dip- lomat Dennis Allen fasste die Grundstimmung in der Ostmark mit “passive grumbling rather than resistance” zusammen.3 Österreicher in den Städten lebten zunehmend unter den unablässigen Bombardements der alliierten Luftverbände und fristeten ihr Leben in zerstörten Wohnungen; gegen Kriegsende litten viele Hunger. Unter dem wachsenden psychischen Druck des “Bombenterrors” ver- zweifelten viele Zivilisten. Trotz der katastrophalen Lebensverhältnisse im Land unterstützten viele Österreicher das NS-Regime bis zum bitteren Kriegsende auf Grund der “Durchhalteparolen” der NS-Propaganda und dem Terror der Gesta- po.4 Als die alliierten Truppen im März bis Mai 1945 das Land befreiten, lebten viele Österreicher mit zwiespältigen Gefühlen. Die Bevölkerung in den “Donau- und Alpengauen” begrüßten das Kriegsende, das Ende des Kämpfens und Ster- bens und den Kollaps des unmenschlichen Hitler Regimes; man war froh über die Wiedererrichtung der Republik am 27. April 1945 durch die “Provisorische Renner-Regierung”, wenn ihre Regierungsmacht ursprünglich auch nur im von der Roten Armee befreiten Osten des Landes wirksam war. Hundertausende ös- terreichische Soldaten landeten aber in Kriegsgefangenschaft; für sie dauerte der Krieg oft Monate und Jahre weiter in Lagern von Sibirien bis Kalifornien.5 Viele  3 Dennis Allen zitiert in Günter Bischof, Die Instrumentialisierung der Moskauer Erklärung nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zeitgeschichte 20, H. 11-12 (1993), 350. 4 Evan Burr Bukey, Hitler’s . Popular Sentiment in the Nazi Era, 1938-1945 (Chapel Hill/London 2000). 5 Zu Österreichern in der Kriegsgefangenschaft, vgl. Günter Bischof, Barbara Stelzl-Marx, Lives behind Barbed Wire. A Comparative View of Austrian Prisoners of War during and after World War II in Soviet and American and Captivity. In: Günter Bischof, Fritz Plas- ser, Eva Maltschnigg (Hg.), Austrian Lives (=Contemporary Austrian Studies 21) (New Orleans/Innsbruck 2012), 327-58. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 15  Soldaten empfanden die “Befreiung” Österreichs doch als Niederlage eines Re- gimes, für das sie aufopferungsvoll gekämpft hatten. Nach siebenjähriger Anne- xion/Okkupation durch das Hitlerregime war man weniger erbaut über den Auf- bau eines neuen Besatzungsregimes unter den vier Befreiungsarmeen der Sow- jets, Amerikaner, Briten und Franzosen. Österreich wurde zwar im April/Mai 1945 befreit, war aber nicht “frei” von vielfältiger Bevormundung aus dem Ausland.6 Nun ging das lange Warten los und die Ungewissheiten über die Zukunft Österreichs häuften sich: würden die vier Besatzungsmächte das Land mit Repa- rationszahlungen belasten bzw. beim wirtschaftlichen Wiederaufbau mithelfen? Wie lange würde die Okkupation des Landes dauern und wann würde mit den Verhandlungen für einen Friedensvertrag begonnen werden, der den Abzug der Besatzungsmächte bringen würde? Würde das Land für die von Österreichern im Rahmen des Nazi-Deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges verübten Verbrechen und Verletzungen des Völkerrechtes belangt werden und was für einen Preis würde es dafür zu zahlen haben? Würde die rasche Wiedererrichtung eines demokratischen Gemeinwesens möglich sein mit den vielen autoritär ver- anlagten Tätern und Mitläufern, die sich dem Austrofaschismus und Nationalso- zialismus angedient hatten? Die Rekonstruktion Österreichs würde also in den Nachkriegsjahren auf parallelen Schienen des wirtschaftlichen, politischen und moralischen Wiederaufbaus ablaufen.

2. Im Mai 1945 waren große Teile der österreichischen Städte von den Bombenan- griffen der Alliierten in Schutt und Asche gelegt. Die Versorgungslage des Lan- des war katastrophal, da die Landwirtschaft auf Grund der zunehmenden Kampfhandlungen im Land im Winter/Frühjahr 1944/1945 gewaltige Produkti- onsausfälle hatte und die Handelsströme innerhalb des Dritten Reiches und Eu- ropas am Zusammenbrechen waren. Zudem konnte die Saat vieler Felder im Frühjahr 1945 auf Grund der Kampfhandlungen im Land nicht erfolgen. In den Jahren 1945/1946 hing das Überleben der Österreicher von der Gunst und Groß- zügigkeit der Besatzungsmächte ab.7 Die Wiener überlebten den Som-

 6 Günter Bischof, Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945-1955 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 4) (Innsbruck 1988). 7 Die letzten Kriegsmonate und die unmittelbare Nachkriegszeit in Europa sind zum Gegen- stand vieler einschlägiger Studien geworden, die in der österreichischischen Zeitgeschich- 16 Günter Bischof mer/Herbst 1945 durch die “Erbsenspenden” der Roten Armee und “Hamster- fahrten” zu den Bauern Niederösterreichs. Gleichzeitig plünderten die sowjeti- schen Soldaten alles was nicht niet- und nagelfest war. Die Frauen in Ostöster- reich wurden in den Tagen der “Befreiung” zudem von einer gnadenlosen Welle von Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee drangsaliert. Die physi- schen und pschychischen Leiden hinterließen einen tiefen Eindruck in der Be- völkerung, der eine ganze Generation zu Antikommunisten stempelte.8 Für die Bevölkerung der von den westlichen Armeen befreiten westlichen Bundesländer wurde zuerst durch die Hilfe der U.S. Army das Überleben gesichert. 1946 war es die Lebensmittelhilfe der United Nations Relief and Rehabilitation Administ- ration (UNRRA), die die minimale Grundversorgung für ganz Österreich sicher- stellte. Die Regierung Leopold Figls war sich im Klaren darüber, dass ohne die- se Auslandshilfen das wiedererrichtete Österreich sich lediglich am Existenzmi- nimum bewegte. Es gab Hungerrevolten und manche erkannten eine revolutio- näre Gefahr am Horizont, die nur den heimischen Kommunisten in die Hände spielen konnte. Die österreichische Wirtschaft in den ersten Nachkriegsjahren war von ei- ner maroden Mangelwirtschaft geprägt. Wiederum tauchte die Schicksalsfrage auf, die nach dem Ersten Weltkrieg bereits die Gemüter bestimmte – würde das Land überhaupt wirtschaftlich lebensfähig sein? Es gab zahlreiche wirtschaftli- che Engpässe, und das nicht nur in der Nahrungsmittelversorgung.9 Die Öster- reicher hatten nicht genug Kohle um ihre Wohnungen im Winter zu heizen, so- wie den Aufbau der industriellen Produktion anzukurbeln. Der Industrie fehlte es an allen Ecken und Enden an den wichtigsten Rohstoffen. Ohne Produktion gab es Nichts zu exportieren und man konnte keine Devisen lukrieren um Roh- stoffe im Ausland einzukaufen. Die devisenträchtige Fremdenverkehrsindustrie begann sich erst in den 1950er Jahren von den Dislokationen des Krieges zu er-

 teliteratur bis dato kaum rezipiert wurden, vgl. William I. Hitchcock, The Bitter Road to Freedom. The Human Cost of Allied Victory in World War II Europe (New York 2008); Keith Lowe, Savage Continent. Europe in the Aftermath of World War II (New York 2012). 8 Die beste Studie zur sowjetischen Österreichpolitik ist jetzt Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955 (=Kriegsfolgen-Forschung 6) (Wien/München 2012). 9 Diese “Engpasswirtschaft” (bottleneck ecnomy) ist zusammengefasst im Kapitel “The Marshall Plan and Austria” in Günter Bischof, Relationships/Beziehungsgeschichten. Aus- tria and the United States in the Twentieth Century (=TRANSATLANTICA 4) (Inns- bruck/Wien/Bozen 2014), 106-109. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 17  holen – auch von da waren keine Devisen zu erwarten. Das heimische Trans- portsystem war zusammengebrochen und musste wieder aufgebaut werden. Die Alliierten hatten 1944/45 versucht, das Eisenbahnnetz, die Brücken und die Bahnhöfe zu zerschlagen. Auch an Arbeitskräften fehlte es, waren doch Hunder- tausende Österreicher noch in alliierten Kriegsgefangenenlagern. Viele Fach- kräfte, die sich dem Nationalsozialismus angedient hatten – auch in der staatli- chen Verwaltung – verloren ihre Arbeitsplätze auf Grund der anfangs strikten Entnazifizierung der Besatzer. Neben diesen Mängeln, hatte die Republik 1945/46 hunderttausende Soldaten der vier Okkupationsarmeen zu versorgen. Zudem beschlagnahmten die Russen (und anfangs auch die Franzosen) wichtige Industriestandorte als “Kriegsbeute” und transportierten Maschinen und Eisen- bahnausstattungen ab in ihre Heimat. 1946 beschlagnahmten die Sowjets das gesamte sog. Deutsche “Auslandseigentum” in Österreich und begannen Repa- rationen aus der laufenden Produktion dieser ca. 400 Betriebe zu entnehmen. Zuerst versuchte die russische Besatzungsmacht die gesamte Erdölindustrie Ost- österreichs durch die Einrichtung einer sogenannten “Gemischten Gesellschaft” an sich zu reißen. Als dies misslang, wurden die Erdölanlagen in die “USIA” eingegliedert. Ihre “laufende Produktion” fiel als Reparationsleistung in sowjeti- sche Hände.10 In der unmittelbaren Nachkriegszeit trat die amerikanische Besatzungsar- mee zuerst als „guter Samariter“ auf, dann traten die USA im Rahmen des Eu- ropean Recovery Programs (ERP = Marshall-Plan, 1948-1952) auf Grund der zunehmenden Ost-West Spannungen und des Kalten Kriegs-Ausbruch als Me- gasponsor in Erscheinung. Es waren vor allem die großzügigen amerikanischen Wirtschaftshilfeprogramme – die Armee- und UNRRA-Hilfen, die zwei Über- brückungsprogramme vor dem ERP 1947 – und dann der Marshall-Plan, die zwischen 1945 und 1952 (und weit darüber hinaus mittels der ERP- und ERP- Fonds-Kreditprogramme) die österreichische Wirtschaft wieder auf die Beine stellten und lebensfähig machten.11 Natürlich gehörten zum Gelingen des erfolg- reichen österreichischen wirtschaftlichen Wiederaufbaus während der “Ost-West

 10 Walter M. Iber, Die sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich. Zur Vorgeschichte der OMV 1945-1955 (Innsbruck/Wien/Bozen 2011); vgl. auch den grösseren Kontext dere ex- ploitativen sowjetischen Wirtschaftspolitik in Osteuropa nach dem Krieg in Walter M. I- ber, Peter Rugenthaler (Hg.), Stalins Wirtschaftspolitik an der sowjetischen Peripherie (In- nsbruck/Wien/Bozen, 2011). 11 Hans Seidel, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg (Wien 2005); Wilfried Mähr, der Marshallplan in Österreich, Graz/Wien 1989. 18 Günter Bischof

Besatzung” (1945-1955) nach dem Krieg auch die massiven Investitionen, die das Nazi-Regime in den “Donau- und Alpengauen” auf dem Sektor der Schwer- und Energiewirtschaftsindustrie geleistet hatte (Hermann Göring Werke und Stickstoffwerke in Linz bzw. Anfänge der Kapruner Wasserkraftwerke). Dazu gehörte auch die verbissene Leistung der “Wiederaufbaugeneration”, die sich nach dem Krieg in die Arbeit stürzte. Die gut 1,5 Milliarden Dollar amerikani- scher Wirtschaftshilfen – etwas weniger als die Sowjets an Reparationen aus ihrer Zone herauspressten -- waren aber entscheidend für einen raschen Wieder- aufbau und die Eindämmung radikalerer politischer Lösungsversuche im heimi- schen Wirtschaftswesen.12 Es war der wirtschaftliche Aufstieg im Zeichen des Kapitalismus und Austrokorporatismus, der die Hungerrevolten, Putschgefah- ren, und radikal-sozialistischen Experimente in Schach hielt und zurückdrängte. Der antikommunistische Wahlausgang im November 1945 stellte sicher, dass Österreich auf seine traditionellen Bahnen eines pro-westlichen Sozialstaates zurückkehren würde. Der Wahlausgang drängte die KPÖ an die Peripherie des politischen Geschehens in Österreich und ließ nicht die fatale kommunistische Subversion zu, die zu den Coups im benachbarten Ungarn im Mai 1947 bzw. der Tschechoslowakei im Februar 1948 führte. Die amerikanischen Wirtschafts- hilfen hatten tiefgreifende politische und wirtschaftliche Konsequenzen.13 Als in der zweiten Hälfte 1948 die Marshall-Plan-Mittel zu fließen began- nen, erholte sich die österreichische Wirtschaft rasch. Die Amerikaner finanzier- ten nicht nur den Ankauf von Lebensmitteln und Rohstoffen in den USA (und ersparten Österreich damit die Ausgabe von nicht vorhandenen Devisen, und somit die Überbrückung des berühmten “dollar gaps”), sie brachten auch neue Maschinen (etwa für die Papier- und Eisenindustrie und die Landwirtschaft) und industrielle Großanlagen (eine Walzmühle für die VOEST-Alpine etc.) ins Land. Das geniale am Marshall Plan waren die sogenannten “Gegenwert- Konten” (counterpart funds), die im ERP-Büro des Bundeskanzleramtes ange- legt wurden. Diese “Counterparts”, die aus dem Verkauf der aus den USA im-  12 Vgl. die Tabellen in Günter Bischof, Austria in the First Cold War, 1945-55. The Leverage of the Weak (London/New York 1999), 87 und 102. Hans Seidel hat noch höhere Werte festgetellt: Österreich hat 1,83 Milliarden Auslandshilfe erhalten und hat 1,92 Miliarden an “Quasi-Reparationen” an die Sowjets geleistet, vgl. Österreichs Wirtschaft und Wirt- schaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, 343-482 (bes. 466ff). . 13 Bischof, Relationships/Beziehungsgeschichten, 109-138; idem, Dieter Stiefel, Anton Pelinka (Hg.), “80 Dollar”. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan in Österreich 1948- 1998 (Wien 1999); idem, Dieter Stiefel (Hg.), Images of the Marshall Plan. Film, Photo- graphs, Exhibits, Posters (=TRANSATLANTICA 3) (Innsbruck/Wien/Bozen 2009). Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 19  portierten Rohstoffe und Nahrungsmittel auf dem heimischen Markt lukriert wurden, avanicerten in den Jahren des Marshall-Plans (und noch einige Zeit da- nach) zu den wichtigsten Investionsmitteln für die heimische Wirtschaft und das zu einer Zeit als große Kreditmittelknappheit im Land herrschte. Die ERP- Counterparts waren entscheidend in der “Elektrifizierung” der östlichen Bundes- länder durch den Bau der Kapruner Wasserkraftwerke (das größte ERP- finanzierte Großprojekt im Land), aber auch im Ausbau und der Modernisierung der Linzer VOEST-Alpine zu einem europäischen Musterbetrieb in der Stahl- und Eisenproduktion. Kredite aus den ERP Gegenwertkonten wurden auch großzügig in die Modernisierung der Textil- und Papierindustrie investiert. Die Fremdenverkehrswirtschaft wurde durch den (Wiederauf-)Bau moderner Hotels und Gastbetriebe wieder wettbewerbsfähig gemacht. Mit der Investition in Lifte, Seilbahnen und Bergstraßen wurde die “zweite” Wintersaison im Tourismusge- schäft möglich. Die Wintersaison brachte zahlungskräftige ausländische Kunden ins Land und trug zum Ausgleich der heimischen Zahlungsbilanz im Laufe der 1950er Jahre bei.14 Die amerikanischen Marshallplaner regten nicht nur die Produktion der Wirtschaft an sondern versuchten sie mit modernen Managementmethoden auch produktiver zu machen. Mit dem Aufbau eines “Produktivitätszentrums und des- sen “Produktivitätskampagnen” kam frischer Wind in altväterisches Manage- mentdenken. Heimische Manager, Gewerkschafter und Politiker wurden mittels Marshall-Plan-Mittel auf lange Studienreisen in die USA geschickt, um moderne Produktionsmethoden und Arbeitsabläufe vor Ort zu studieren. Nicht alle radi- kalen amerikanischen Effizienz-Methoden wurden von den heimischen Mana- gern und Gewerkschaftern übernommen. Der Austrokorporatismus und der aus- gleichenden Sozialstaat wurden durch die amerikanische Produktivitätskampag- ne nicht über den Haufen geworfen. Die österreichische Elite hielt an manchen Traditionen fest und ließ sich nicht vom Druck der Amerikaner, “effizienter” zu arbeiten, beirren.15 Die “Amerikanisierung” erfolgte nur in Teilsegmenten der Wirtschaft und Gesellschaft. Mit der massiven Infusion amerikanischer Hilfs- programme wurde die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Zweiten Republik gesichert.  14 Kurt Tweraser, US Militärregierung in Oberösterreich 1945-1950, Bd. 2 (Linz 2009); Sei- del, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. 15 Kurt Tweraser, The Politics of Productivity and Corporatism. The Late Marshall Plan in Austria 1950-54. In: Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), Austria in the Nineteen Fifties (Contemporary Austrian Studies 3) (New Brunswick/London 1995), 91-115. 20 Günter Bischof

3. Ein Friedensvertrag der vier Besatzungsmächte mit Österreich (da Österreich seit dem “Anschluss” ans Dritte Reich 13. März 1938 als Staat nicht mehr exis- tierte und niemanden den Krieg erklärt hatte, bestand die österreichische Politik darauf, dieses völkerrechtliche Instrument als “Staatsvertrag” zu bezeichnen), hatte das Ziel, das Ende der Viermächtebesatzung zu erlangen. Der Staatsvertrag regelte aber auch viele andere Fragen wie Österreichs Grenzen, die Rechte der Minderheiten, das Verbot von Nazi-Organisationen, Beschränkungen der zu- künftigen militärischen Verteidigung des Landes, sowie zahlreiche wirtschaftli- che Auflagen, die mit dem Fragenkomplex “Deutsches Eigentum” und Vor- kriegsbesitz der “Vereinten Nationen” zusammenhingen. Bei den Verhandlun- gen um den Staatsvertrag ging es also um Österreichs politische Zukunft und internationale Stellung, wie etwa ein Verbot eines zukünftigen Anschlusses an Deutschland, wie es schon im Friedensvertag von St. Germain (1919) enthalten war. Die endlosen Verhandlungen um den Staatsvertrag hingen immer wieder von der politischen Großwetterlage ab, was hier betont werden muss. Auf Grund des Ausbruches des Kalten Krieges 1947/48 kam die Österreichfrage zuneh- mend in die Mühlen der Ost-West-Auseinandersetzungen.16 Die Amerikaner legten bereits Anfang 1946 den ersten Entwurf für einen zukünftigen Staatsvertrag mit Österreich vor. Die Sowjets verhinderten zunächst die Verhandlungen um einen Österreichvertrag auf die Tagesordnung des Au- ßenministerrates der Alliierten (Council of Foreign Ministers=CFM) in Paris zu setzen. Die Außenminister ernnanten darauf Stellvertreter (Deputies) für die Verhandlungen für einen Österreichvertrag, die in den folgenden Jahren auch den Löwenanteil an den Detailverhandlungen zu den einzelnen Punkten und Pa- ragraphen des Staatsvertrages hatten. Diese verhandelten zuerst im Jän-  16 Der grundlegende Langzeitklassiker zum Staatsvertag is Gerald Stourzh in 6 Auflagen, hier Um Einheit und Freiheit. Staatvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West- Besetztung Österreichs 1945-1955, 4., völlig überarbeitet und wesentlich erweiterte Aufla- ge (Wien/Köln/Graz 1998); um letzten Stand der Forschung vgl. den gewichtigen Sam- melband von Arnold Suppan, Gerald Stourzh, Wolfgang Mueller (Hg.), Der österreichi- sche Statsvertrag. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Idenität (=Archiv der österreichischen Geschichte 140) (Wien 2005); dazu auch die wertvolle Dokumentena- sammlung von Wolfgang Mueller, Arnold Suppan, Norman M. Naimark, Gennadij Bordjugov (Hg.), Sowjetischen Politik in Österreich (Wien 2005); Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Oesterreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955 (Graz - Wien - München, 2005); für eine handliche Zusammenfassung der Verhandlungen und Literatur, vgl. Günter Bischofs Kapitel “Cold War Miracle. The Austrian Treaty at 50,” in: idem, Relationships/Bezieungsgeschichten, 153-164. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 21  ner/Februar in London und darauf in zahlreichen weiteren Verhandlungsrunden bis 1953 in insgesamt 260 Sitzungen. Die Außenminister verhandelten die Ös- terreichfrage bei ihren Tagungen in Moskau (1947), London (1947), Paris (1949) und Berlin (1954). Dass die Sieger Österreich zur Verhandlungsmasse der Deutschen Frage nach dem 2. Weltkrieg zählten, war darin zu erkennen, dass Österreich auf Beharren der Sowjets meist zusammen mit einem deutschen Friedensvertrag auf der Tagesordnung stand. Erst nach den Berliner CFM löste die neue Führung unter Nikita Chruschtschow das Junktim mit der deutschen Frage.17 Im Sommer 1947 tagte in Wien eine spezielle Kommission ( Treaty Commission) um den kontroversiellen Fragenkomplex was überhaupt “Deutsches Eigentum” sei und wem es gehöre zu klären; besonders strittig war die Frage, was mit dem nach dem Anschluss 1938 meist mit Gewalt von Ost- märkern und Deutschen “arisierten” Eigentum -- das auch zur Masse des “Deut- schen Eigentums” gezählte wurde -- geschehen sollte. Insgesamt trafen sich die “Alliierten”, die eigentlich seit 1947 im Kontext des Ost-West Konfliktes zu Feinden wurden, zu gut 400 Sitzungen. Darüber hinaus gab es regelmäßige, in- formelle Vorbesprechungen zwischen den westlichen Besatzungsmächten und der österreichischen Regierung (die erst 1954 beim Berliner CFM offiziell als Verhandlungspartei auftrat). Die Vertreter der westlichen Besatzungsmächte akkordierten vor allen wichtigen Besprechungen der Außenminister bzw. ihrer Deputierten für den Österreichvertrag ihre Verhandlungsstrategien vis-à-vis den Sowjets. Die endlosen Verhandlungen zum Österreichvertag zählten zu den Klassikern der Diplomatiegeschichte des Kalten Krieges.18 Abgesehen von den Abrüstungsverhandlungen zu nuklearen- und konventionellen Waffen gab es keine diplomatischen Verhandlungsstränge zwischen Ost und West, die mehr Geduld und Sitzfleisch der beteiligten Diplomaten verlangt hätten, als die Ös- terreichverhandlungen. Die Verhandlungen zum österreichischen Staatsvertrag wurden immer wie- der vom “Tempo und der Temperatur” des Kalten Krieges beeinflusst und be-

 17 Die Verbindungslinien zur deutschen Frage werden herausgearbeitet in Rolf Steininger, Der Staatsvertrag. Österreich im Schatten von deutscher Frage und Kaltem Krieg 1938- 1955 (Innsbruck/Wien/Bozen 2005), und jetzt auch in der Aktensammlung von Michael Gehler, Rudolf Agstner (Hg.), Einheit und Teilung. Österreich und die Deutschlandfrage 1945-1960: Festgabe für Rolf Steininger zum 70. Geburtstag (Innsbruck/Wien/Bozen 2013). 18 Gerade die komplexen diplomatischen Verhandlungsstränge werde von Stourzh betont, vgl. Um Einheit und Freiheit. 22 Günter Bischof stimmt – waren also ein Spiegelbild der internationalen Großwetterlage.19 Vor dem Ausbruch des Kalten Krieges 1946 schien noch ein rascher Abschluss mög- lich, vor allem nachdem die Friedensvertäge mit Hitlers “Satellitenstaaten” (Un- garn, Rumänien, Bulgarian, Finland, Italien) bis Ende 1946 ausverhandelt wor- den waren. Die zunehmenden Ost-West-Spannungen machten sich spätestens bei den Moskauer CFM Verhandlungen im März/April 1947 bemerkbar, wo Fortschritte in den Österreichverhandlungen bereits zäh vorankamen, auch weil sie nur quasi “zweite Geige” nach den deutschen Friedensverhandlungen spiel- ten. Nach dem Budapester und Prager Coups sowie dem Austritt der Sowjets aus den Verhandlugen zum Marshall-Plan 1947/48 war der Kalte Krieg im vollen Gange. Trotzdem verhandelten Außenminister und Deputies weiter um einen Österreichvertrag, wenn auch die Junktimierung mit den Verhandlungen zu ei- nem Friedensvertrag mit Deutschland auf der Außenministerebene immer nega- tivere Folgen hatte. 1948/49 kamen dann die Spannungen um die Versorgung West-Berlins, Stalins Bruch mit Tito, der Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg in China und die Zündung der ersten sowjetischen Atomombe hinzu. Obwohl bei den New Yorker Außenministerverhandlungen im Herbst 1949 ein eingent- lich fertiger Entwurf des Staatsvertrages unterschriftsreif für die Außenminister vorlag, kam es auf Grund der zunehmenden Ost-West-Spannungen und neuer Moskauer Forderungen nicht zur Unterzeichnung.20 In der “heißen” Phase des Kalten Krieges, als in Korea gekämpft wurde (1950-1953), kamen die Verhandlungen zum Österreichvertrag völlig ins Sto- cken. Der Angriff Nordkoreas auf den Bruderstaat im Süden produzierte den ersten “Stellvertreterkrieg” im Kalten Krieg. Die Amerikaner unterstützten im Rahmen einer “UN-Aktion” ihren Alliierten Südkorea mit Truppen und Kriegs- material. Nordkorea wurde von Maos China mit Truppen und von Stalin mit Flugzeugen und Kriegsmaterial unterstützt. Präsident Harry Truman sah den Angriff in Korea als einen von Moskau gesteuerten Angriff des Weltkommu- nismus (kommunistische Expansion von Außen). Washington meinte, der

 19 Frustriert von der misslichen internationalen Großwetterlage im Ost-West Konflikt, der Forschritte in den Verhandlungen zum Österreichvertrag verhinderte, stellte der österrei- chische Aussenminister Karl Gruber am 7. Januar 1953 in einer Rede fest: “Der kalte Krieg ist also nicht unsere Erfindung, sondern eine internationale Tatsache; dessen Tempo, oder wenn sie so wollen, dessen Temperatur kann von uns nur wenig beeinflusst werden.” Vgl. Michael Gehler (Hg.), Karl Gruber. Reden und Dokumente 1945-1953 (Wien/Köln/Graz 1994), 413. 20 Bischof, Austria in the First Cold War, 105-110. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 23  Kommunismus gehe nun in die Offensive und erwartete weitere Angriffe in Eu- ropa, vor allem in Deutschland. Seit dem Prager Putsch im Februar 1948 be- fürchtete man in Washington, Österreich stünde auch auf der Liste kommunisti- scher Subversionsversuche (kommunistische Expansion von Innen). Als im Ok- tober kommunistische Gewerkschaften in Österreich einen Generalstreik ausrie- fen, drängte die österreichische Regierung die Westmächte diese Unruhen als einen kommunistischen “Putschversuch” zu betrachten. Darauf ging die ameri- kanische Besatzungsmacht daran, der Gefahr einer kommunistischen Macht- übernahme in Österreich mit der Wiederbewaffnung des Landes in den Westzo- nen entgegenzutreten (mit der Einrichung der sog. “B-Gendarmerie” als dem Kern einer zukünftigen österreichischen Armee; dem “Aufgebot”; dem Anlegen von Waffenlagern in den Alpen durch die CIA; auch eine Aufnahme in die NATO wurde angedacht). Im Zuge des Koreakrieges wurde die gesamte ameri- kanische nationale Sicherheitspolitik militarisiert. Mit dem Grundsatzdokument NSC 68 wurde das amerikanische Verteidigungsbudget im Laufe des Koreakre- ges vervierfacht und das massive Arsenal von Nuklearwaffen weiter ausgebaut. Die Amerikaner übernahmen mit General Dwight D. Eisenhower die Führung in der NATO, schickten amerikanische Divisionen nach Europa und setzten der Aliianz Zähne ein. Auch die Wiederbewaffnung Westdeutschlands wurde heftig debatiert. Stalin versuchte die Remilitarisierung Deutschlands mit einem Ver- such der Neutralisierung (und Wiedervereinigung) des Landes mittels der soge- nannten ”Stalin-Noten” zu stoppen (März/April 1952).21 In dieser “heißen” Phase des Kalten Krieges -- als beide Supermächte überhaupt keine Lust mehr auf Verhandlungen hatten, bzw. nur mehr aus einer “Position der Stärke” heraus -- wurde der Österreichvertrag aufs Abstellgleis geschoben. Stalin verhinderte die Deputierten-Verhandlungen mit an den Haa- ren herbeigezogenen Vorwürfen, wie der westlichen Remilitarisierung der seit dem Krieg besetzten italienischen Stadt Triest, bzw. “Erbsenschulden” für die Lebensmittel”-“Hilfe” von 1945. Die Amerikaner bereiteten einen für die Sow- jets unannehmbaren “Kurzvertrags”-Entwurf vor, der im März 1952 (ausgerech-

 21 Ibid., 123-29; Günter Bischof, Österreich - ein 'geheimer Verbündeter' des Westens? Wirt- schafts- und Sicherheitspolitische Fragen der Integration aus der Sicht der USA. In: Mi- chael Gehler,Rolf Steininger (Hg.), Österreich und die europäische Integration 1945-1992 2nd ed. (Graz/Wien/Weimar 2014), 451-477; idem, 'Ten Days of Red Terror'? Die ameri- kanische Perzeption der Arbeiterunruhen vom Herbst 1950 und ihre Auswirkungen auf Ös- terreichs Sicherheitspolitik. In: Thomas Albrich,Klaus Eisterer,Michael Gehler,Rolf Steininger (Hg.), Österreich in den 1950igern (Innsbruck 1995), 183-209. 24 Günter Bischof net zum Zeitpunkt der Präsentation von Stalins Deutschlandnoten) vorgelegt und sofort von dem sowjetischen Deputierten als inakzetabel abgelehnt wurde. Da die Amerikaner weiterhin auf Verhandlungen auf Grundlage des Kurzvertrags- entwurfs bestanden, blieb dieser bis im Sommer 1953 auf der Tagesordnung. Erst die Zurücknahme des Kurzvertragsentwurfs eröffnete die Chance neuer Verhandlungen auf Grundlage des Vollentwurfes, der 1949 kurz vor der Unter- zeichnung durch die Außenminister stand. Aber auch eine dramatische Ände- rung in der internationalen Großwetterlage favorisierte eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zum Abschluss eines Staatsvertrages mit Österreich.22 Im März 1953 starb der sowjetische Diktator Josef Stalin unter mysteriösen Umständen. In den folgenden Monaten kam es zu einem Stellvertreterkrieg um die Nachfolge, die Beria das Leben kostete und Chruschtschow im Laufe des Jahres 1954 in die Führungsposition brachte. Der britische Premier Winston Churchill regte bei dem sich erst seit Monaten im Amt befindlichen amerikani- schen Präsidenten Eisenhower ein Gipfeltreffen mit der neuen Kremlführung an. Eisenhower sah die Zeit nicht reif. Zuerst müsse man mit Moskau Fortschritte in der deutschen und österreichischen Frage sowie in der Beendigung des Ko- reakrieges machen, bevor man sich mit neuen Männern im Kreml treffe. Der neue Päsident meinte, all die vielen Bekenntnisse zu einer “friedlichen Koexis- tenzpolitik” des Kreml, seien lediglich “Worte”, denen nun “Taten” folgen müssten. Stattdessen trafen sich die drei westlichen Führungskräfte im Dezem- ber 1953 auf den Bermudas und die Außenminister zu einem neuen CFM in Berlin im Februar 1954. Eisenhower lehnte auf den Bermudas alle Bemühungen Churchills für eine Einigung mit Moskau ab. Sein Außenminister John Foster Dulles war aber in Berlin bereit, Zugeständnisse in der Österreichfrage zu ma- chen. Er brachte in Gesprächen mit dem sowjetischen Außenminister Molotow die Zauberformel einer “österreichischen Neutralität nach Schweizer Muster” zur Lösung der Österreichfrage ins Spiel; Neutralität war ein Lösungsmodell der Österreichfrage, das von den heimischen Staatsmännern schon bereits seit 1946 angedacht worden war. Auf Druck Chruschtschows löste Moskau das Junktim Molotows auf dem Berliner CFM, dass Fortschritte in den österreichischen

 22 Günter Bischof, “Recapturing the Initiative” and “Negotiating from Strength”. The Hidden Agenda of the Short Treaty Episode.” In: Suppan, Stourzh, Mueller (Hg.), Staatvertrag 1955, 217-48. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 25  Staatsvertragsverhandlungen an den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland gebunden würden.23 Als in den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 von den Westmächten die Remilitarisierung Westdeutschlands durch eine direkte Aufnahme der BRD in die NATO beschlossen wurde, entschied man sich im Kreml, den raschen Ab- schluss eines Staatsvertrages mit Österreich anzuvisieren. Man gab der österrei- chischen Regierung zu verstehen, dass eine von österreichischer Seite nach Un- terzeichnung des Staatsvertrages von selbst erklärte Neutralität den Abschluss des Staatsvertrages möglich machen würde. Nach dramatischen bilateralen Ver- handlungsrunden einer österreichischen ÖVP/SPÖ Regierungsdelegation mit der Kremlführung unter Chruschtschow in Moskau Mitte April 1955, sowie einer geschwinden Abschlussrunde der Wiener Botschafter aller vier Mächte, wurde am 15. Mai 1955 im Wiener Palais Belvedere der Staatsvertrag unterzeichnet. Nach der Ratifizierung des Vertrags und dem Abzug der vier Besatzungsregime und dem Auslaufen ihrer Rechte war das Land nach “17-jähriger Besatzung” (Figl), zuerst durch Hitlers Nazis 1938-1945, dann durch die vier Mächte 1945- 1955, wieder frei. Österreich erklärte am 26. Oktober 1955 seine “immerwäh- rende” Neutralität.24 Die Bevormundung der Bürger Österreichs durch außenste- hende Mächte hatte damit ein Ende. Österreich musste in den folgenden Jahren seine internationale Stellung als neutraler Staat, der keinen Militärbündnissen im Kalten Krieg angehören würde, neu definieren. Mit dem Beitritt zum Europa Rat und zu den Vereinten Nationen gab Österreich rasch zu verstehen, dass es seine Neutralität anders als die Schweiz verstand und zumindest mental nicht zwi- schen den Blöcken lavieren würde. Sowie der Marshall-Plan Österreichs wirt- schaftliche Lebensfähigkeit möglich machte, garantierten Staatsvertrag und Neutralität die politische Unabhängigkeit des Landes.

4. Die amerikanischen Hilfsprogramme beschleunigten einen raschen wirtschaftli- chen Wiederaufbau des Landes, wogegen sich der politische Wiederaufbau durch den Abschluss eines Friedens- bzw. Staatsvertrages über zehn lange Jahre  23 Günter Bischof, Eisenhower, the Summit, and the Austrian Treaty, 1953-1955. In: idem, Stephen E. Ambrose (Hg.), Eisenhower. A Centenary Assessment (Baton Rouge, 1995), 136-61. 24 Bischof, Austria in the First Cold War. 130-149; Gerald Stourzh, Der österreichische Staatsvertrag in den weltpolitischen Entscheidungsprozessen des Jahres 1955. In: Suppan, Stourzh, Mueller (Hg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955, 965-995. 26 Günter Bischof dahinzog und österreichische Politiker des öfteren “die Befreiung von den Be- freiern” monierten. Der politische Wiederaufbau, nämlich die Wiedereinrichung der Verfassung und der demokratischen Strukturen des Landes, verzögerte sich gerade auch durch die Auseinandersetzung um diffizile Fragenkomplexe, die man meist mit dem Wort “Vergangenheitsbewältigung” in Verbindung bringt, die ich hier aber mit dem “moralischen Wiederaufbau” des Landes beschreiben möchte. Nachdem zahlreiche Österreicher als Stützen oder auch als Mitläufer des Nazi-Regimes Schuld auf sich geladen hatten, verlangten die alliierten Best- zungsmächte eine strikte Säuberung der Gesellschaft von diesen Elementen aber auch eine Wiedergutmachung des erfolgten Unrechts gegenüber den Opfern des Nazi-Regimes. Vor allem ging es um die ausgeraubten, vertriebenen und um das Erbe der im Holocaust umgekommenen jüdischen Opfer. Diese Reinigung der österreichischen Gesellschaft vom hausgemachten Austrofaschismus – der aus innenpolitischen Gründen meist übergangen bzw. verschwiegen wurde – und dem “braunen Bodensatz” des Hitlerismus sollte sich weit über die Besatzungs- zeit hinausziehen.25 Der provisorische Staatskanzler, politische Überlebenskünstler und Erz- Opportunist Karl Renner, der 1938 die Losung ausgab für den Anschluss zu stimmen und dann den Krieg als Pensionist in Gloggnitz aussaß, plädierte von Anfang an für eine “Stunde Null”. Er definierte mit seiner “Unabhängigkeitser- klärung” vom 27. April 1945 die politische Mentalität und den interparteilichen Konsens der Nachkriegsjahre. Er monierte, dass der “Anschluss” vom “hochver- räterischen Terror einer nazistischen Minderheit” eingeleitet wurde und “[d]ass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtlosen Er- oberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jeweils gewollt hat […].” Ren- ner übernimmt dann das Angebot der, von den Alliierten verabschiedeten Mos- kauer Dekaration vom 1. November 1943, die Österreich als “erstes Opfer” Hit- lers bezeichnete und den Anschluss für “null und nichtig” erklärte. Renner pro- klamiere dann die Republik Österreich auf der Grundlage der Verfassung von  25 Dazu die Aufsätze von Anton Pelinka, Von der Funktionalität von Tabus. Zu den “Lebens- lügen” der Zweiten Republik; Ernst Hanisch, Die Präsenz des Dritten Reiches in der Zwei- ten Republik; Gerhard Botz, Geschiche und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Repub- lik. “Opferthese”, “Lebenslüge” und “Geschichtstabu” in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Wolfganga Kos, Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik (Wien 1996), 9-85. Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 27  1920 als wiederhergestellt. Er geht dann auf den dritten Absatz der Moskauer Erklärung ein, die von Österreich einen Beitrag zu seiner eigenen Befreiung for- derte, stellt dann sogleich fest, dass ein solcher Beitrag nur bescheiden sein kön- ne, da “das Volk enkräftet” und “das Land entgütert” sei. Renners Unabhäng- keitserklärung enthält also bereits den Kern der großen Erzählung der österrei- chischischen Nachkriegsgeschichte -- nämlich die “Vergewaltigung” des Landes im März 1938 und Österreich als prominentes Opfer des Hitler Faschismus.26 Diese “Selbstinfantilisierung” Österreichs (E. Hanisch), schiebt alle Schuld nach außen und spricht die Österreicher frei von den Verbrechen, die sie im 2. Welt- krieg begangen hatten. Renners Erklärung wollte die Unabhängigkeit von Deutschland erklären, und zwar zu einem Zeitpunkt als das Dritte Reich noch existierte, wenn es auch in seinen letzten Zügen lag. Sie strotzte von Halbwahrheiten, Auslassungen und Geschichtslügen. In der Präambel der Unabhängigkeitserklärung betont Renner eine lange Litanei von nationalsozialistischen Vergehen am “willenlosen” Öster- reich, wie etwa die Annexion und wirtschaftliche Ausbeutung des Landes. Es fehlt jedoch jeglicher Hinweis auf die jüdischen Opfer und den heimischen Wi- derstand während des Krieges. “Es fehlt auch der Hinweis auf die Mitschuld ge- genüber diesen Opfern und es fehlt jeder Hinweis darauf, dass die Mehrheit für den Anschluss war und dass dieser von vielen als Befreiung und Rettung be- grüßt wurde”, wie Alfred Noll und Manfried Welan zurecht betonen. Was da- mals als “kluge Diplomatie” galt und noch heute von machen Historikern als verständliches Winkeladvokatentum der Gründerväter der Zweiten Republik entschuldigt wird, war nichts anderes als eine Geschichtslüge.27

 26 Renner’s Unabhängigkeitserklärung ist zitiert in Günter Bischof, ’Opfer’ Österreich? Zur moralischen Ökonomie des österreichischen historischen Gedächtnisses, in: Dieter Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust (Querschnitte 7) (Wien 2001), 306-309; der Volltext ist als Faksimile des Staatsgesetztblattes Nr. 1-3 vom 1. Mai 1945 im Anhang von Alfred J. Noll, Manfried Welan, Die Abegelene. Einige kursorische Anmerkungen zur ös- terreichischen Unabhängigkeitserklärung 1945 (Wien 2010) zu finden. 27 Noll, Welan, Die Ablegene, 29f; Stourzh spricht von der “advokatorischen Funktion” der Moskauer Deklaration von 1943 (dessen gesamter Text in Renners Unabhängigkeitserklä- rung aufgenommen wurde) für die Gründerväter, vgl. Um Einheit und Freiheit, 26; Micha- el Gehler enlastet die Gründervätergeneration mit dem Argument: „Die Verantwortung für Taten, die Österreicher begannen hatten, sollte aus Sicht der Regierenden schnell verges- sen und daher verdrängt werden, um ein scheinbar geordnetes Leben für alle Staatsbürger zu gewährleisten“, vgl. Österreichs Aussenpolitik der Zweiten Republik, Bd. 1 (Innsbruck 2005), 23-27 (hier 27). 28 Günter Bischof

Die Liste der Kriegsverbrechen, die zahlreiche Österreicher in den Diens- ten des Nationalsozialismus oft mit Enthusiasmus begangen hatten und die Ren- ner in seiner Unabhängigkeitserklärung ignorierte, ist lang. Der Pensionist Ren- ner war immer ein aufmerksamer Beobachter der Politik und muss sehr wohl mit den prominenten ostmärkischen Karrieristen und Opportunisten während des Krieges vertraut gewesen sein.28 Da war Seyss-Inquart, der in Polen und den Niederlande zu höchsten Ämtern in der nationalsozialistischen Verwaltungshie- rarchie im Dritten Reich aufstieg, und dafür nach dem Krieg auch in den Nürn- berger Prozessen zum Tode verurteilt wurde. In seinem Stab befand sich der Salzurger Kunsthistoriker Kajetan Mühlmann, der im Urteil eines Experten zum Kunstraub der Nazis zum “most prodigious art plunderer in the history of human civilization” aufstieg.29 Nicht nur im Verwaltungsstab der Nazi Verwaltung machten viele Österreicher Karrieren, sondern auch im Todesgeschäft in der Vernichtung der Juden. Von der zentralen Rolle Adolf Eichmanns und seinen zahlreichen Helfershelfer (den “Eichmann-Männern”) im Transport der Juden zu den Vernichtungslagern im Osten, bis zu den Chefs der Vernichtungslager in Polen Rudolf Höss, Odilo Globocnik und Amon Goeth, befanden sich überall Leute aus den Donau- und Alpengauen in führenden Positionen.30 Mauthausen ist das prominenteste Beispiel eines KZs und Todeslagers in der Ostmark; ganz in der Nähe befand sich das Schloss Hartheim, das Euthanasiezentrum in Hitlers T-4 Vernichtungsprogamm von behinderten Menschen.31 Aber auch in den SS- Einsatzgruppen und den Polizeieinheiten, die am Anfang des Holocaust tausen- de Juden kaltblütig erschossen, fehlte es nicht an ostmärkischen Tätern. In den bewaffneten Formationen des Dritten Reiches (vor allem in der Wehrmacht) kämpften gut 1,3 Millionen Österreichter. Im Lauf des Zweiten Weltkrieges stiegen 220 Ostmärker in Generalsränge auf (darunter Alexander Löhr, Lothar Rendulic, Franz Böhme), 326 Ostmärker ergatterten das heiß er-  28 Für eine Zusammenfassung der österreichischen Tätergeschichte, vgl. Bischof, ’Opfer’ Österreich?, in: Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holcaust, 309-320. 29 Jonathan Petropoulos, The Faustian Bargain. The Art World in Nazi Germany (Oxford 2000), 170ff. Viele dieser gestohlenen Kunstschätze wurden in einem Salzbergwerk in Altaussee eingelagert, von wo sie ins für Linz geplante “Führermuseum” gebracht werden sollten; sie wurden am Kriegsende von Kunstexperten in der US-Armee “befreit”, vgl. Robert M. Edsel, The Monuments Men. Allied Heroes, Nazi Thieves, and the Greatest Treasure Hunt in History (New York 2009). 30 Hans Safrian, Die Einmann-Männer (Wien/Zürich 1993). 31 Gordon J. Horwitz, Out of the Shadows of Death: Living Outside the Gates of Mauthausen (New York 1990); Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen von 1945 bis zur Gegenwart (Innsbruck/Wien/Bozen 2006). Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 29  sehnte Ritterkreuz, den höchsten Orden für Soldaten, sicherlich ein Zeichen der Begeisterung für die Sache des Hitlerschen Eroberungs- und Vernichtungskrie- ges. Wir wissen heute, dass unter der Verantwortung der Wehrmacht 1,5 Millli- onen Juden, 5 Millionen Zivilisten und 3 Millionen Kriegsgefangene der Roten Armee im Krieg gegen die Sowjetunion starben. Ostmärker wirkten nach Hitlers “Kommissarsbefehl” mit in der Vernichtung hundertausender von “Kommissa- ren” und “Partisanen” an der Ostfront32. In englischer und amerikanischer Kriegsfagenschaften brüsteten sich Ostmärker gleich Bayern und Preussen über ihre “Heldentaten” im Osten, inkl. den brutalen Morden (Kriegsverbrechen!) an “Partisanen” und Kriegsgefangenen. Spätestens seit der Veröffentlichung der streng geheimen Abhörprotokolle aus britischen und amerikanischen Kriegsge- fangenlagern ist der Mythos der “sauberen Wehrmacht” ein für alle mal zer- stört.33 Als im Kabinettsrat am 12. Juni 1945 das Kriegsverbrechergesetz disku- tiert wurde, präzisierte Justizminister Gerö was mit “Kriegsverbrechen” gemeint war. Auch Soldaten hätten die Gesetze der Menschlichkeit zu achten”, ermahnte Gerö seine Kollegen im Kabinett und fügte hinzu, dass ein Soldat straflos sein, ”wenn er tötet, wenn er aber nachher den Leichnam massakriert, Augen und Ge- schlechtsteile herausschneidet, so kann ich doch eine solche Bestie nicht bloss wegen Leichenschändung bestrafen”.34 Renner muss auch wohl von den verbre- cherischen Umtrieben der Gauleiter in den Donau- und Alpengauen gewusst ha- ben, bzw. vom KZ in Mauthausen, dessen Nebenlager auch in der Nähe von Gloggnitz operierten. Es gab Leute in Renners erstem Nachkriegskabinett, die ihren moralischen Kompass trotz der Untaten des Krieges nicht über Bord geworfen hatten. Renner war sich über die Verstrickung vieler Österreicher und den Verbrechen der Wehrmacht im Klaren, wurde aber von den Diplomaten des Ballhausplatzes immer wieder zurueckgepfiffen, als er diese Untaten anklingen lassen wollte. In einer Radiorede Anfang Mai 1945 wollte er auf “die Beteiligung der österreichi- schen Soldaten an den Barbareien der deutschen Wehrmacht” verweisen. Seine  32 Bischof, ’Opfer’ Österreich?, in: Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holcaust, 311f. 33 Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten: Prokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (Frankfurt a.M., 2011); Felix Römer, Kameraden: Die Wehrmacht von innen (München, 2012); diese neue Literatur wird zusammengefasst in Günter Bischof, Bugging the German Generals: British and American Eavesdropping of German POWs during World War, in: Günter Bischof, Coleman Warner (Hg.), Museum Man (New Orleans 2014 [im Druck]). 34 Gertrud Enderle-Burcell, Rudolf JeĜábek, Leopold Kammerhofer Hg.), Prokolle des Kabi- netsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Bd. 1 (Horn/Wien 1995), 217. 30 Günter Bischof

Mitarbeiter am Ballhausplatz strichen ihm aber diesen Passus aus der Rede raus. Warum? Jeder Hinweis auf die Schuld von Österreichern an nationalsozialisti- schen Verbrechen würde der Sache der internationalen Durchsetzung der lega- listischen “Opferdoktrin”, an der die Ballhausplatz Juristen schmiedeten, scha- den. Als der Unterrichtsminister im Rennerkabinett Ernst Fischer vor einer ame- rikanischen Journalistenrunde am 5. August von “der Mitschuld der Österreicher am Kriege, ihrer Verantwortung und von der Sühne, die sie zu leisten hatten” sprach, wetterte der Diplomat Josef Schöner in seinem Tagebuch gegen den Kommunisten: dies sind “alles Dinge, dem man sich denken kann, aber von ei- nem Propagandastandpunkt nicht sagen darf”.35 Am Ende kam es zu einem widerwilligen politischen Nachkriegskonsens zwischen den Parteien, der die schwierigsten innenpolitischen Fragen unange- tastet ließ: Die Sozialisten in der SPÖ verzichteten darauf, die ÖVP auf die Säu- berung ihres austrofaschistischen Erbes zu drängen. Die Konservativen in der ÖVP unterließen es, die SPÖ an das großdeutsche Gedankengut in der Partei vor dem Krieg und Renners Unterstützung des Anschlusses zu mahnen. Die Außer- streitstellung dieser schwierigen Kapitel der heimischen Geschichtspolitik wur- de Teil des konsensuellen Geschichtsnarrativs der großen Koalition; eine “con- spircacy of silence” legte sich über die kontroversen Fragen der österreichischen Zweiten Weltkriegsgeschichte.36 Bereits in den ersten Tagen der Zweiten Republik wurde die österreichi- sche Politik und Bevölkerung auf den Opferstatus der Österreicher im Zweiten Weltkrieg eingeschworen was dann rasch zum Absterben jeglicher Verant- wortung und jedes Schuldgefühls beitrug. Die Auseinandersetztung mit der dunkeln Zweiten Weltkriegsvergangenheit (der sog. “Vergangenheitsbewälti- gung”/”mastering of the past”) wurde damit auf ein Abstellgleis geschoben, wo sie bis zur “Waldheim-Affäre” 1986 und dem Auftauen der langen Eiszeit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auch blieb.37 Erst ab den 1990er Jahren

 35 Josef Schöner, Wiener Tagebuch 1944/45, Hg. Eva-Marie Czáky, Franz Matscher, Gerald Stourzh (Wien/Köln/Weimar 1992), 237, 332. 36 Ernst Hanisch, Der forschende Blick. Österreich im 20. Jahrhundert: Interpretationen und Kontroversen. In: Carinthia 189 (1999), 567-583. 37 Günter Bischof, Founding Myths and Compartmentalized Past. New Literature on the Construction, Hibernation, and Deconstruction of World War II Memory in Postwar Aus- tria. In: Günter Bischof, Anton Pelinka (Hg.), Austrian Historical Memory and National Identity (=Contemporary Austrian Studies 5) (New Brunswick/London 1996), 302-41. Charles S. Maier spricht überhaupt von einer nicht-bewältigbaren deutschen Zweiten Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 31  erinnerten Politiker wie Franz Vranitzky an die Mitschuld der Österreicher an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, arbeitete die Historikerkommission die Geschichte zum Zweiten Weltkrieg auf, und war die Regierung Schüssel auch bereit, Restitutionen (“Wiedergutmachung”) an osteuropäischen Zwangs- arbeiter und nach dem “Anschluss” 1938 beraubte Juden zu bezahlen.38 In den 1990er Jahren wurde die “Schuld von Nationen” (guilt of nations) und eine Auf- arbeitung historischen Unrechts ein vielbeachtetes Thema der internationalen Politik.39 Die wirklichen Opfer des Nationalsozialismus waren sich über die Schuld und moralische Verantwortung der Österreicher für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges immer im Klaren. So desertierte 1943 der Wiener Wehrmachtsleut- nant Wolfgang Treichl in Nordafrika zu den Engländern. Ermuntert von der Moskauer Deklaration und dem Aufruf zum Widerstand, ließ er sich im Special Operations Executive ausbilden. Im Oktober 1944 wurde er über Tolmezzo mit dem Fallschirm abgesetzte, um beim Aufbau eines hausgemachten österreichi- schen Widerstandes mitzuhelfen. Treichl wurde von den Nazis erwischt und kam um.40 Der Holocaust-Überlebende Artur Rosenberg ermahnte bereits im Herbst 1945 die Regierung, dass die Österreicher mit ihren schrecklichen Unta- ten gegenüber den Juden eine schwere Schuld auf sich geladen hätten. Eine ma- terielle Wiedergutmachung könne erst nach einer “moralischen Restitution” er- folgen, indem alle Österreicher die Verantwortung für die Verbrechen an den Juden auf sich nehmen. Die Politik reagiert nicht auf Rosenbergs Ermahnungen. 41 Der Philosoph und Husserl & Heidegger-Schüler Günter Anders war einer der

 Weltkriegs-Vergangenheit, vgl. The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity (Cambridge/MA 1988). 38 Die Historikerkommission arbeitete vor allem Fragenkomplexe wie Raub (“Arisierun- gen”), Vermögenstranfers, Zwangsarbeit, und Restitutionen während und nach dem Zwei- ten Weltkrieg in akribischen Details in 49 Bänden auf, und fasste die Ergebnisse zusam- men in Clemens Jabloner, Brigitte Bailer-Galanda, Eva Blimlinger, Georg Graf, Robert Knight, Lorenz Mikoletzky, Bertrand Perz, Roman Sandgruber, Karl Stuhlpfarrer, Alice Teichova, Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögens- entzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Ös- terreich (Wien/München 2003). 39 Elazar Barkan, The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices (Baltimore/London 2000). 40 Gerald Stourzh, Der österreichischen Staatvertrag in den weltpolitischen Entscheidungs- prozessen des jahresd 1955, in: Suppan, Stourzh Mueller (Hg.), Der österreichische Staat- vertrag, 994f. 41 Richard Mitten, Jews and other Vitcims” The “Jewish Question” and Discourses of Vic- timhood in Postwar Austria. In: Günter Bischof, Anton Pelinka, Michael Gehler (Hg.), 32 Günter Bischof wenigen Juden, die aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückkehrten. Anders ließ sich 1950 in Wien nieder und beobachtete das gezielte und breitflä- chige Vergessen über das Kriegsgeschehen unter seinen Wiener Nachbarn, so- wie ihren rapiden, alltäglichen Antisemitismus, vor allem wenn es um Restituti- on und Eigentum von zurückgekehrten Juden ging. Den zahlreichen alten Nazis unter den “post-faschistischen Wienern” fehlte es an “moralischer Abstraktions- kraft” um sich mit ihren Verbrechen im Krieg auseinanderzusetzen.42 Selbige “moralische Abstraktionskraft” schien dem Großteil der Bevölkerung der Zwei- ten Republik in Folge der Einschwörung auf die Opferdoktrin abhanden ge- kommen zu sein. Die staatliche Opferdoktrin öffnete jedenfalls Tor und Tür das Gebot der Säuberung von mehr als einer halben Million von Parteimitgliedern (der Groß- teil davon sog. “Mitläufer”) halbherzig anzugehen. 1945/46 drängten die Besat- zungsmächte in ihren Zonen noch auf eine harte und gründliche Entnazifizie- rung der Gesellschaft. Als die Entnazifizierung aber in die Hände der österrei- chischen Regierung gelegt wurde, auf Grund der ausbrechenden Auseinander- setzungen zwischen Ost und West im Kalten Krieg, wurde diese Entnazifizie- rung ab 1948 rasch aufgegeben.43 Die Zweite Republik Österreich hat nie mit den vielen Nationalsozialisten in ihrer Gesellschaft gründlich aufgeräumt. In der Tat, in Nachkriegsösterreich gab es nur kurzfristig (1946/47) eine “Abrechnung” mit den Tätern nach dem Krieg.44 Das Resultat war, dass die alten Nazis bald wieder in führenden Positionen in allen Schichten der Gesellschaft waren, von der Regierung, über Ämter, die Universitäten und Schulen, bis hin zur Wirt- schaft. Der Geist des Nazismus lebte so weiter in der österreichischen Gesell- schaft, nicht nur in der 1949 neu gegründeten “Partei der Ehemaligen”, der Frei- heitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Der moralische Imperativ, Gesellschaft und Politik vom Bodensatz eines totalitären Regimes zu säubern, wurde somit auf

 Austrian in the European Union (Contemporary Austrian Studies 10) (New Bruns- wick/London 2002), 223-270 (bes. 324). 42 Anders’ anthropologischen Beobachtungen zum Nachkriegs-Wien sind zum ersten Mal vom amerikanischen Anders-Experten Jason Dawsey analysiert worden, vgl. Where Hit- ler’s Name Is Never Spoken: Günther Anders in 1950s Vienna, in: Günter Bischof, Fritz Plasser, Eva Maltschnigg (Hg.), Austrian Lives (Contemporary Austrian Studies 21) (New Orleans/Innsbruck 2012), 212-239 (Zitat 229) 43 Walter Schuster, Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich (Linz 2004). 44 Claudia Kuretsidis-Haider, Wiinfried R. Garscha (Hg.), Keine “Abrechnung”?. NS- Verbrechen, Justiz und Geselleschaft in Europa nach 1945 (Leipzig/Wien 1998). Der Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 33  die lange Bank geschoben.45 Die Folgen waren rasch abzusehen. Bereits in den ersten Nachkkriegjahren klagten die österreichischen Mitläufer kühn darüber “Opfer der Entnazifizierung” zu sein. In einer perversen Umkehrung der Realität beklagten sich die heimischen Mitläufer über die Härten der Entnazifizierung, die zudem als “undemokratisch” abgekanzelt wurde. Bereits 1947 meinten 71 Prozent der Österreicher, dass “das österreichische Volk keine Schuld am Nati- onalsozialismus trage”.46 Das Resultat ist, dass bis zum heutigen Tage promi- nente FPÖ Politiker das unmenschliche Regime des Nationalsozialismus ver- niedlichen. Die Opferdoktrin und das fehlende Schuldgefühl -- das von Anders monier- te fehlende “moralische Abstraktionsvermögen” -- haben den Aufbau eines de- mokratischen Staatswesens in Nachkriegösterreich von Anfang an behindert. Die Zweite Republik hat die Auseinandersetzung mit den “dunklen Seiten” des Zweiten Weltkrieges zu lange aufgeschoben, sich hinter der staatlichen Opfer- doktrin und der Amnesie über die Untaten des Zweiten Weltkrieges versteckt, und ist damit zu lange einer offenen, in einer demokratischen Streitkultur nor- malen Auseinandersetzung über vergangenes Unrecht, ausgewichen.47 Öster- reich hat sich nicht zuletzt auf Grund der Auslandshilfe wirtschafltich rasch von den Dislokationen erholt, politisch den Wiederaufbau und die Unabhängigkeit des Landes zügig vorangetrieben, hat aber den moralischen Wiederaufbau des Landes verabsäumt, schändlich auf die lange Bank geschoben und erst sehr spät aufgeholt.  45 Der österreichischen Vergangenheits- und Erinnerungspolitik zum Zweiten Weltkrieg ist eine wachsende Literatur gewidmet. Heidemarie Uhl hat am gründichsten zum Thema ge- arbeitet, vgl. etwa From Victim Myth to Co-Responsibility Thesis: Nazi Rule, World War II, and the Holocaust in Austrian Memory, in: Richard Ned Lebow, Ulf Kansteiner, Cludio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe (Durham/London 2006), 40-72; der europäische Vergleich erhellt den Blick, vgl. Istvan Deák, Jan T. Gross, Tony Judt (Hg.), The Politics of Retribution in Europe. World War II and its Aftermath (Princeton 2000). 46 “Report on Austrian Public Opinion”, 18.3.1947, in: Reinhold Wagnleitner (Hg.), Under- standing Austria. The Political Reports and Analyses of Martin F. Herz, Political Officer of the US-Legation in Vienna 1945-1946 (Quellen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhun- derts) (Salzburg 1984), 132f. 47 Günter Bischof, Restoration, Not Renewal: From Nazi to Four-Power Occupation – The Difficult Transition to Democracy in Austria after 1945, In: Hungarian Studies 14/2 (2000), 207-231; vgl. Auch das Kapitel In the Shadow of the Past, in: Oliver Rathkolb, The Paradoxical Republic. Austria 1945-2005, transl. Otmar Binder et al. (New York/Oxford 2010), 237-266, und Anton Pelinka, Out of the Shadow of the Past (Nations of the Modern World) (New York 1998); idem, Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu. Österreichs Um- gang mit seiner Vergagenheit (Wien 1987).

Österreich in der Zweiten Republik Ein kurzer historischer Abriss Philipp Strobl

Eine Geschichte der Zweiten Republik auf 18 Seiten – dieses Vorhaben er- scheint schwer möglich. Zu viel ist in den knapp 70 Jahren seit dem Ende des zweiten Weltkriegs geschehen. Zu viele Bereiche des Lebens haben sich in die- ser Zeit umfassend gewandelt und können daher auf so begrenztem Raum nicht wirklich angemessen dargestellt werden. So durchlebte das kleine Land in weni- gen Jahrzehnten verschiedene, gänzlich unterschiedliche Phasen der Entwick- lung. Es entwickelte sich von einem armen, vielfach noch stark landwirtschaft- lich geprägten als nicht lebensfähig erachteten Kleinstaat in einen modernen, wohlhabenden aktiven Teil einer größeren Europäischen Union. Seine Bevölke- rung erlebte in sieben Jahrzehnten einen ungekannten wirtschaftlichen und sozi- alen Aufstieg. Neben einer nie dagewesenen Zunahme des Konsums ab den 1950er Jahren, kam es mit den 1990er Jahren zu einer weitgehenden Digitalisie- rung und Vernetzung. Die letzten sieben Jahrzehnte brachten zudem dramatische Veränderungen in der geopolitischen Lage des Landes. So rückte Österreich nach 1945 an den Rand des Eisernen Vorhanges. Ganze Landstriche wurden über Jahrzehnte durch schwerüberwindbare Grenzbefestigungen auseinanderge- rissen und ehemalige Nachbarn getrennt. So entstand eine teilweise bis heute anhaltende Trennung in den Köpfen der Menschen. Nach 1989 fand sich das Land plötzlich im Zentrum des Europäischen Kontinents wieder. Mit der In- tegration in die Europäische Union und der später folgenden EU-Osterweiterung wurde diese Mittelrolle weiter verstärkt. Die folgenden Seiten versuchen einen kurzen skizzenhaften Überblick über diese bewegten Jahrzehnte und bieten so eine historische Ergänzung zu den Bei- trägen dieses Bandes. Aufgrund des geringen Umfanges der Arbeit kann natür- lich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Es wurde jedoch ver- sucht, wichtige politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungsschritte so gut als möglich darzustellen um so eine kompakte Kurzdarstellung der Ge- schichte der Zweiten Republik zu bieten. Der Aufsatz ist anhand einiger, für Ös- terreich wichtiger, Epochen gegliedert. Den Anfang macht eine Darstellung der Ausgangslage nach 1945. Im zweiten Teil wird kurz auf das österreichische Wirtschaftswunder eingegangen. Die Entwicklungen von 1955 bis 1970 stehen 36 Philipp Strobl im Zentrum des nächsten Kapitels. Die als Kreisky Ära bekannten Jahre zwi- schen 1970 und 1983 bilden den Rahmen für den vierten Teil. Das fünfte Kapi- tel widmet sich der Geschichte des Landes in den 1980er und frühen 1990er Jah- ren. Österreichs Entwicklung seit dem EU-Beitritt steht im Zentrum des 6. Ab- schnitts und das letzte Kapitel bietet schließlich ein kurzes Fazit der ereignisrei- chen Geschichte des Landes.

1. Ausgangslage nach 1945: Besatzung und Wiederaufbau Am 8. Mai kapitulierte die Deutsche Wehrmacht. Damit war auch für Österreich das Ende des 2. Weltkriegs gekommen. Das Kriegsende war gleichzeitig auch der Ausgangspunkt für einen neuen, eigenständigen Staat Österreich. Sieben Jahre zuvor (1938) hatte eine überwältigende Mehrheit der Österreicher für ei- nen Anschluss an das Nationalsozialistische Deutsche Reich gestimmt. Kurz darauf folgte der 2. Weltkrieg, der für das Land eine immense Katastrophe dar- stellte. In den sechs Kriegsjahren leisteten rund 1,25 Millionen Österreicherin- nen und Österreicher militärische Dienste (von einer Bevölkerung von knapp 6 Millionen), etwa 247.000 Personen bezahlten dafür mit ihrem Leben. 500.000 Österreicher gerieten in Kriegsgefangenschaft und etwa 100.000 wurden zu In- validen.1 Über 200.000 Wohnungen und Häuser waren zerstört2 und es zogen rund 1,6 Millionen Flüchtlinge durchs Land.3 Aus der Notlage des Frühjahrs 1945 heraus entwickelte sich eine eigene unabhängige österreichische Staatside- ologie, bei der man sich so gut es ging von Deutschland distanzieren wollte. Zum einen hatten die Erlebnisse des Kriegs sowie sieben Jahre der NS- Herrschaft den meisten Österreichern ihre Anschlussbegeisterung ausgetrieben,4 zum anderen ging es darum, um jeden Preis nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches angesehen zu werden, um nicht für dessen Taten zur Ver- antwortung gezogen werden zu können. Vorerst jedoch bestimmten die Kriegsgewinner über die Geschicke des Landes. Wie Deutschland wurde Österreich, gemäß des Kontrollabkommens vom 4. Juli 1945, in vier Besatzungszonen unterteilt. Vorarlberg und Tirol wur- de von Frankreich verwaltet, Salzburg und Teile Oberösterreichs gingen an die  1 Alois Niederstätter, Geschichte Österreichs (Stuttgart 2007), S. 235. 2 Felix Burtschek, Vom Nachzügler zum Spitzenreiter. in: Johann Burger, Elisabeth Mora- wek (Hg.), 1945 - 1995. Entwicklungslinien der Zweiten Republik (Wien 1995) 46-60, S. 46. 3 Karl Vocelka, Österreichische Geschichte (München 2005), S. 114. 4 Niederstätter, Österreich, S. 238. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 37  USA, die UdSSR erhielt das nördliche Oberösterreich, Niederösterreich und das Burgenland, die Bundesländer Kärnten sowie die Steiermark wurden Großbri- tannien zugesprochen. Die Bundeshauptstadt Wien wurde ebenfalls unter den vier Mächten aufgeteilt. Gleichzeitig verblieben zunächst rund 700.000 alliierte Soldaten im Land, die Österreich auch in Rechnung gestellt wurden.5 Die Kos- ten dafür belasteten das verwüstete Land schwer. Im Jahr 1946 betrugen sie bei- spielsweise noch 35 Prozent des österreichischen Gesamtbudgets.6 Noch vor Kriegsende hatten sich auch die meisten Parteien aus der Ersten Republik wie- der formiert (Sozialistische Partei Österreichs - SPÖ, die Österreichische Volks- partei - ÖVP, sowie die Kommunistische Partei Österreichs - KPÖ). Zunächst versuchte eine Übergangsregierung bestehend aus Vertretern aller Parteien die wirren Verhältnisse im Land zu klären um so schnell als möglich freie Wahlen zu ermöglichen. Diese fanden schließlich im November 1945 statt und brachten der ÖVP einen Wahlsieg (85 Mandate). Die SPÖ erhielt 76 Sitze im Nationalrat und die KPÖ, vor dem Hintergrund der Vergewaltigungen und Plünderungen der Roten Armee in Wien, lediglich vier Mandate.7 Leopold Figl (ÖVP) bildete eine Proporzregierung aus Angehörigen aller drei Parlamentsparteien.8 Etwa 10 Prozent der Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt von den Wahlen ausgeschlos- sen, da sie als ehemalige Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei nicht wahlberechtigt waren. Bereits kurz nach Kriegsende breiteten sich Knappheit und Mangel in ganz Österreich aus. Es fehlte nahezu an allen Dingen, die man zum Leben benötigte. Besonders deutlich wurde dies im Bereich der Lebensmittelversorgung. So lag die durchschnittliche Pro-Kopf- Kalorienzahl in den unmittelbaren Nachkriegs- jahren zwischen 800 und 900 pro Tag, die empfohlenen Mindestwerte lagen je- doch bei 2.600 bis 3.000.9 Eine dramatische Unterernährung weiter Teile der Bevölkerung war die Folge. Da die wenigen vorhandenen Güter nicht reichten, um den Bedarf der Bevölkerung zu decken, griff der Staat regulierend in die Verteilung ein und legte unter anderem Preisobergrenzen fest. Dies führte wie- derum dazu, dass viele Betriebe ihre Produkte nicht mehr auf legalem Weg ver- kaufen wollten und so entwickelte sich ein blühender Schwarzmarkt, der bis in  5 Niederstätter, Österreich, S. 241. 6 Philipp Strobl, Innsbrucker Wirtschaftsgeschichte (Innsbruck 2013), S. 146. 7 Wilhelm J. Wagner, Geschichte Österreichs: Daten, Fakten, Karten (St.Pölten 2002), S. 320. 8 Niederstätter, Österreich, S. 240. 9 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 142. 38 Philipp Strobl die 1950er Jahre ein wichtiges Segement des Wirtschaftslebens bildete. Viele Produkte des täglichen Bedarfs konnten überhaupt nur mehr auf diesem Weg beschafft werden.10 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren profitierte das im Aufbau befindli- che Land von zahlreichen, überwiegend amerikanischen Hilfsprogrammen. So flossen bis zum Jahr 1948 Güter und Bargeld in der Höhe von 682,8 Millionen Dollar ins Land. Der amerikanische Marshallplan brachte zwischen 1948 und 1953 nochmals rund 962 Millionen Dollar in Form von direkter und indirekter Hilfe.11

2. Das Wirtschaftswunder Ab den frühen 1950er Jahren begann sich die äußerst angespannte Lage im Land allmählich zu normalisieren. So wurden die staatlichen Lenkungsmaßnahmen im Jahr 1952 endgültig beendet und auch die zahlreichen Bombenruinen in den Städten zählten ab diesem Zeitpunkt immer mehr zu den „seltenen Relikten ei- ner überwundenen Epoche,“ wie dies ein Zeitzeuge formulierte.12 Mit der allmählichen Normalisierung setzte ab der Mitte der 1950er Jahre ein bislang ungekanntes Wirtschaftswachstum ein. Die Wachstumsbeschleuni- gung zeigte sich anhand verschiedener Indikatoren, wie etwa dem Bruttoin- landsprodukt, dem Bruttoenergieverbrauch, dem Bestand an Kraftfahrzeugen, dem Volumen an Abfällen, sowie der Schadstoffbelastung von Luft, Wasser und Boden.13 Beim Bruttoinlandsprodukt gab es zu dieser Zeit beispielsweise jährli- che Zuwachsraten von 10 bis 15 Prozent, die Industrieproduktion stieg sogar noch schneller. Einen großen Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilisierung leistete die Währungsreform vom Dezember 1947. Im Mai 1953 konnte schließlich ein einheitlicher Wechselkurs zur damaligen Leitwährung Dollar festgelegt werden, der eine Einordnung in das internationale Handels- und Wettbewerbssystem er- möglichte.14

 10 Für mehr Informationen zu diesem Thema, siehe das Kapitel: „Von der Knappheit zum Wohlstand“ in diesem Band. 11 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 145; für weitere Informationen zum Marshallplan, siehe das Kapitel: „Der wirtschaftliche, politische, moralische Wiederaufbau Österreichs nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs“ in diesem Band. 12 Josef Riedmann, Geschichte des Landes Tirol: Band 4/3 (Innsbruck 1988), S. 1332. 13 Christian Pfister et al., „Das 1950er Syndrom“: Zusammenfassung und Synthese, in: Chris- tian Pfister (Hg.), Das 1950er Syndrom: Der Weg in die Konsumgesellschaft (Bern 1996) 21-49, S. 22. 14 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 146. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 39  Eine weitere Sonderentwicklung in Österreich war die Entstehung eines großen verstaatlichten industriellen Sektors. So verstaatlichte die Republik Ös- terreich im Jahr 1946 zahlreiche industrielle Schlüsselbetriebe, die vormals im deutschen Eigentum standen, um diese so vor alliierten Reparationsansprüchen zu sichern.15 Alles in allem entstand auf diese Art ein staatliches Industrie- konglomerat von großer Bedeutung. Im Jahr 1970 waren beispielsweise 20 Pro- zent aller österreichischen Industriebeschäftigten in verstaatlichten Unternehmen tätig. Diese erwirtschafteten etwa 25 Prozent der Exporterlöse Österreichs. Auch politisch kam es zu einer zunehmenden Stabilisierung. Zwischen 1948 und 1957 wurden schrittweise alle Sanktionen gegen ehemalige NSDAP- Angehörige aufgelassen. Neben wirtschaftlichen und politisch-strategischen Gründen (ca. 500.000 potentielle Wähler), passte eine große Gruppe ehemaliger NS-Kollaborateure natürlich nicht in das damals propagierte und auch von den Alliierten akzeptierte Bild Österreichs als „erstes Opfer Hitlers.“16 Aus demsel- ben Grund lässt sich auch erklären, warum die Republik hinsichtlich der Ent- schädigung von NS-Opfern sehr zurückhaltend agierte.17 Nach der Zulassung von 500.000 ehemaligen Mitgliedern der NSDAP zu den Nationalratswahlen des Jahres 1949 wurde die politische Landschaft um eine dritte, national-liberale Partei erweitert, die Wahlpartei der Unabhängigen des Verbandes der Unabhängigen (VdU). Die Partei erreichte 16 Mandate, ge- genüber 77 der ÖVP, 67 der SPÖ und fünf der KPÖ.18 Es kam in der Folge zu einem weiteren Zusammenrücken der großen Koalition unter den beiden Groß- parteien ÖVP und SPÖ und zur Etablierung eines Proporzsystems, das Öster- reichs politische Kultur in der Zweiten Republik prägen sollte: Stellen im öffent- lichen Bereich bis zur Ebene der Gemeinden, in den staatlichen Betrieben, den Medien wurden mit Kandidaten einer der beiden Großparteien besetzt.19 Ebenso wurden die mächtigen Interessensvertretungen (Arbeiterkammer, Wirtschafts- kammer, Gewerkschaftsbund, Landwirtschaftskammer an den beiden Lagern ausgerichtet und politisch eingefärbt. Im Laufe der Zeit erfasste diese Praxis weite Teile der Bevölkerung, so dass allmählich ein Beziehungsgeflecht von Partnern entstand, die strittige Fragen durch Ausgleich und Kompromiss durch  15 Franz Mathis, Unter den Reichsten der Welt - Verdienst oder Zufall? Österreichs Wirtschaft vom Mittelalter bis heute (Innsbruck 2007), S. 116. 16 Niederstätter, Österreich, S. 243. 17 Niederstätter, Österreich, S. 243. 18 Wagner, Geschichte Österreichs, S. 324. 19 Tony Judt, Geschichte Europas: Von 1945 bis zur Gegenwart (Frankfurt 2010), S. 296. 40 Philipp Strobl

„Einbeziehung der Gegenseite in das übergreifende System von Vorteilen und Privilegien.“ lösten20 Was ursprünglich als Instrument zur Sicherung des sozia- len und politischen Friedens im Land gedacht war, förderte im Laufe der Jahr- zehnte allerdings immer stärker Korruption und Nepotismus („Freunderlwirt- schaft“). So wurde in einer Studie festgestellt, dass sogar noch im Jahr 2012 bei jedem zweiten Top-Job in staatsnahen Betrieben das Parteibuch eine entschei- dende Rolle spielte.21 Als Instrument des Interessensausgleichs zwischen den Vertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber entstand die „Sozialpartner- schaft,“ die den sozialen Frieden im Land über Jahrzehnte sicherte.22 In ihrem Rahmen wurde zunächst über Löhne sowie über das Arbeits- und Sozialrecht, später auch über weitere wirtschafts- und sozialpolitische Angelegenheiten ver- handelt. Seit den Jahren 1946/47 führte Österreich Verhandlungen mit den Alliier- ten Besatzungsmächten über die Herstellung der Souveränität. Diese gestalteten sich jedoch schwieriger als gedacht23 und die Unabhängigkeit Österreichs sollte sich noch bis zum 15. Mai 1955 hinziehen. Mit dem Staatsvertrag wurde Öster- reich als souveräner Staat endgültig wiederhergestellt. Das Land verpflichtete sich im Gegenzug zum Verbot der politischen und wirtschaftlichen Wiederver- einigung mit Deutschland, zur Anerkennung der Menschen-, sowie Minderhei- tenrechte, zur Auflösung nazistischer und faschistischer Organisationen und zur Unterbindung nationalsozialistischer Wiederbetätigung.24 Ebenso musste der Sowjetunion das bislang verwaltete deutsche Eigentum finanziell abgegolten werden.25 Am 26.10. 1955 verließ der letzte alliierte Soldat offiziell das Land. An diesem Tag wurde im Nationalrat die immerwährende Neutralität beschlos- sen. Noch im selben Jahr wurde Österreich Mitglied der UNO und ein Jahr da- rauf Mitglied des Europarates. Der Staatsvertrag und der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre trugen entschieden zum Aufbau eines national verstandenen Österreichbildes

 20 Judt, Europa, S. 296; Für ausführliche Informationen zum Thema, siehe den Beitrag: Kor- ruptionsfälle in der Zweiten Republik – gesellschaftliche Veränderung und (straf)rechtliche Reaktion. 21 Christian Höller, Das Parteibuch als wichtigste Qualifikation, Die Presse, 28.01.2013. 22 Niederstätter, Österreich, S. 243. 23 für ausführliche Informationen zum österreichischen Staatsvertrag, siehe das Kapitel: „Der wirtschaftliche, politische, moralische Wiederaufbau Österreichs nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs“ in diesem Band. 24 Niederstätter, Österreich, S. 246. 25 Vocelka, Österreich, S. 117. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 41  bei. So war ein Anschluss an Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kein Thema mehr für die meisten Österreicher, die das Land noch wenige Jahre zuvor als nicht lebensfähig erachtet hatten. Insgesamt stieg die Zahl derer, die einen eigenen, unabhängigen Staat Österreich befürworteten von Jahr zu Jahr an. Die Akzeptanz des Staates Österreich ging also Hand in Hand mit einer Distanzie- rung vom „großen Nachbarn“ Deutschland.

3. Österreich von 1955 bis 1970 Als im Herbst 1956 sowjetische Truppen den ungarischen Volksaufstand nieder- schlugen, musste sich das neu geschaffene Bundesheer erstmals in einem Gren- zeinsatz bewähren. Zu dieser Zeit flohen etwa zwei Prozent der ungarischen Be- völkerung (ca. 200.000 Personen) aus ihrem Land26 - die meisten davon über Österreich. Die junge Republik gewährte allen Flüchtlingen kollektiv, unbüro- kratisch und schnell Asyl.27 Insgesamt verblieben rund 10 Prozent der Flüchtlin- ge schließlich dauerhaft in Österreich und wurden somit zu einem Teil der öster- reichischen Gesellschaft. In diesem ersten Jahr des Bestehens der neutralen Re- publik Österreich begann also auch bereits deren Geschichte als Einwanderungs- land. Da sich Österreich nun nicht mehr in der Mitte Europas befand, sondern am Rand des Eisernen Vorhanges, musste es auch seine traditionell an den Nach- barn orientierte wirtschaftliche Ausrichtung ändern. So waren noch 1929 über 30 Prozent aller österreichischen Exporte zu den östlichen Nachbarn geflossen und der Anteil Deutschlands hatte mit 15,9 Prozent kaum jenen der Tschecho- slowakei von 13,5 Prozent übertroffen.28 Die Zweite Republik suchte von An- fang an eine verstärkte Anbindung an Westeuropa. Im Jahr 1960 trat Österreich, beispielsweise der EFTA (European Free Trade Association) bei, einer aus sie- ben Ländern bestehenden Freihandelszone. Ein Beitritt zur Europäischen Wirt- schaftsgemeinschaft (EWG) scheiterte an der Ablehnung der Sowjetunion, die diesen als nicht mit der Neutralität vereinbar erachtete, sowie am Veto Italiens, mit dem sich Österreich zu dieser Zeit wegen des an Italien abgetretenen Lan- desteils Südtirol in einer politischen Eiszeit befand .29  26 Judt, Europa, S. 355. 27 Für weitere Informationen zur Einwanderung nach Österreich, siehe den Beitrag: Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“. Österreichische Zuwan- derungsgeschichte seit 1955 aus identitätspolitischer Perspektive“ in diesem Band. 28 Burtschek, Nachzügler, S. 56. 29 Niederstätter, Österreich, S. 249. 42 Philipp Strobl

Mit den Nationalratswahlen des Jahres 1966 endete erstmals die große Ko- alition zwischen ÖVP und SPÖ. Die Volkspartei entschloss sich unter Josef Klaus, eine Alleinregierung zu bilden. Diese war zugleich auch die erste öster- reichische Regierung, die mit Grete Rehor einen weiblichen Minister hatte. In diese Zeit fällt die nächste Krise in einem österreichischen Nachbarland, bei der sich das österreichische Bundesheer im Grenzeinsatz bewähren musste. Ebenso führte die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 zu einer weiteren Flüchtlingswelle nach Österreich. So flohen in den Jahren 1968/69 mehr als 160.000 Menschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei nach Österreich, ca. 15 Prozent davon stellten in Österreich schließlich auch Asylanträge.30 Seit den 1950er Jahren erlebte Österreich, sowie weite Teile Westeuropas einen rapiden Mentalitätswandel, verursacht durch Wirtschaftswunder, Kon- sumgesellschaft, Amerikanisierung und den raschen technologischen Fort- schritt.31 Innerhalb der Bevölkerung kam es zu einem zunehmenden Bruch. So wurden die patriarchisch-autoritären Strukturen der Nachkriegspolitik, ihr Ob- rigkeitsdenken, sowie das schwerfällige, intransparente Proporzsystem als ge- nauso überholt empfunden, wie die ideologisch noch in den 30er Jahren verwur- zelte Lagermentalität der Parteien, mit welcher sich die aufstiegsorientierten neuen Mittelschichten nicht mehr identifizieren konnten.32 In diesem Zusam- menhang entstanden verschiedene Bürgerrechts-, Friedens-, und Frauenbewe- gungen, die Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs im Land nahmen. Be- sonders die jüngere Nachkriegsgeneration begann sich nun immer mehr von tra- ditionellen Denkmustern zu distanzieren. Besonders deutlich wurde dies im kul- turellen Schaffen jener Jahre. So entwickelte sich durch Tabubruch und die Ab- lehnung traditioneller Ästhetik der so genannten Wiener Aktionismus bei dem eine Gruppe Wiener Künstler um Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler das Konzept der amerikanischen Happening- und Fluxus-Kunst aufgriff und auf äußerst provokante Weise umsetzte. Die Ausei- nandersetzung mit der Vätergeneration und dem Nationalsozialismus waren zentrale Themen der Kunst jener Jahre. Die Kabarettisten Carl Merz und Helmut Qualtinger versinnbildlichten beispielsweise die Abrechnung mit dem österrei-

 30 Für weitere Informationen zur Einwanderung nach Österreich, siehe den Beitrag: „Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“. Österreichische Zuwan- derungsgeschichte seit 1955 aus identitätspolitischer Perspektive“ in diesem Band. 31 Niederstätter, Österreich, S. 249. 32 Niederstätter, Österreich, S. 249. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 43  chischen Selbstverständnis, als sie mit dem „Herrn Karl“ ihre Version des Proto- typen des opportunistischen Österreichers auf die Bühne brachten. Ab den späten 1950er Jahren wurde in Österreich erstmals ein Arbeitskräf- temangel bemerkbar. Dieser Mangel wurde durch den Umstand weiter verstärkt, dass viele Österreicher zu diesem Zeitpunkt zum Arbeiten in die Schweiz oder nach Deutschland gingen.33 Ab dem 1960er Jahren begann der Staat daher ver- stärkt Gastarbeiter aus anderen Staaten anzuwerben.34 So wurden Anwerbeab- kommen mit Spanien, Jugoslawien, und der Türkei geschlossen, die den zeitlich begrenzten Aufenthalt von Gastarbeitern ermöglichen sollten.35 Im Jahr 1973 arbeiteten etwa 230.000 Ausländer in Österreich. Der erste Ölpreisschock (1973) und die damit verbundene Rückkehr vieler österreichischer „Gastarbei- ter“ aus Deutschland und der Schweiz führten zu einem Wendepunkt in der Einwanderungspolitik. Bereits im Jahr 1974 ging man dazu über, die Zahl der Gastarbeiter durch einen Anwerbestopp zu reduzieren. Daraufhin wurden ver- schiedene Gesetze erlassen, welche österreichischen Staatsbürgern grundsätzlich einen Vorrang am Arbeitsmarkt einräumten.36 In der Folge verließen schließlich wieder etwa 40 Prozent der ehemaligen Gastarbeiter das Land. Ab diesem Zeit- punkt setzte jedoch auch ein Nachzug der Familienangehörigen ein, welche die Zahl der Rückkehrer kompensierten.37

4. 1970-1983 – Die Ära Kreisky Der rasche wirtschaftliche und technologische Aufschwung hatte das Land in vielerlei Hinsicht verändert - nicht nur wirtschaftlich. Bereits in den 1960er Jah- ren wurden Rufe nach weitreichenden Reformen immer lauter. Vielfach galten immer noch wenig zeitgemäße Gesetze aus früheren Epochen. Vor der Famili- enrechtsreform (1972) ging das Familienrecht beispielsweise noch auf das All- gemeine Bürgerliche Gesetzbuch des Jahres 1811 zurück. Darin wurde der Mann als das “Haupt der Familie” definiert. Frau und Kinder waren seinem Füh- rungsanspruch unterstellt. Bei den Nationalratswahlen des Jahres 1970 ging schließlich die SPÖ unter Bruno Kreisky als Sieger hervor und bildete zunächst

 33 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 170. 34 Für ausführliche Informationen zur Arbeitsmigration nach Österreich, siehe den Beitrag: „Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“. Österreichische Zuwan- derungsgeschichte seit 1955 aus identitätspolitischer Perspektive“ in diesem Band. 35 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 170. 36 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 170. 37 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 170. 44 Philipp Strobl eine von der FPÖ38 geduldete Minderheitsregierung. Bei Neuwahlen im Jahr 1971 konnte die SPÖ schließlich die absolute Mehrheit erringen, die sie bis 1983 behielt und sogar ausbauen konnte.39 Das Kabinett Kreisky begann einen liberalen Reformkurs, der die Modernisierung des Landes rasch in Angriff nahm. So kam es zu gravierenden Änderungen beim Strafrecht. Unter anderem wurden die Homosexualität unter Erwachsenen sowie der Schwangerschaftsab- bruch während der ersten drei Monate straffrei gestellt, oder Tatbestände wie die Amtsehrenbeleidigung gänzlich gestrichen.40 Dazu kamen längst fällige Refor- men bei den Rechten von Frauen und beim Familienrecht, sowie eine Demokra- tisierung von Universitäten und Schulen.41 Außenpolitisch wuchs der neutrale Kleinstaat Österreich in der Kreisky- Ära „ein gutes Stück weit über seine reale Größe hinaus.“42 So griff die Außen- politik des am internationalen Parkett äußerst erfahrenen Bundeskanzlers weit über den mitteleuropäischen Rahmen aus. Schwerpunkte lagen insbesondere auf den Entwicklungsländern. Kreiskys persönlich verantwortete Nahostpolitik und sein aktives Engagement im Rahmen der Sozialistischen Internationalen, ge- meinsam mit Willy Brandt und Olav Palme, führten schließlich zu Verstimmun- gen mit Israel begründeten aber auch Österreichs guten Ruf in der arabischen Welt.43 Zu dieser Zeit wurde Wien zudem Sitz bedeutender internationaler Or- ganisationen, allen voran der UNO, die dort im Jahr 1979 einen ihrer inzwischen vier Amtssitze eröffnete. In den 1970er und frühen 1980er Jahren kam es allerdings auch zu einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums. So setzten mit dem ersten und zwei- ten Erdölschock (1973 und 1979/80) Phasen der Rezession und Stagnation der österreichischen Wirtschaft ein. Die Expansion des öffentlichen Sektors, der massive Ausbau des Sozialsystems (Kindergeld, Heiratsprämien, Erhöhung der Pensionen, etc.) sowie das Bestreben, die Arbeitslosenrate weiterhin gering zu halten, waren Erfolge der Regierung Kreisky, die jedoch - auf Kosten späterer Generationen - teuer erkauft wurden. So führte die, von Kreiskys Erfahrungen

 38 Freiheitliche Partei Österreichs: diese war die Nachfolgerin der VdU 39 Vocelka, Österreich, S. 119. 40 Niederstätter, Österreich, S. 250. 41 Vocelka, Österreich, S. 119. 42 Für eine umfangreiche Darstellung der Österreichischen Außenpolitik, siehe den Beitrag „Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik in der Zweiten Republik“ in diesem Band. 43 Niederstätter, Österreich, S. 252. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 45  aus der Zwischenkriegszeit geprägte, Devise „ein paar Milliarden Schilling Schulden mehr machen mir weniger schlaflose Nächte, als ein paar tausend Ar- beitslose“ zu Budgetdefiziten sowie einem rapiden Anstieg der Staatsverschul- dung.44 Erste Auswirkungen der hohen Verschuldung wurden bereits ab dem Jahr 1980 sichtbar. Wirtschaftliche Strukturkrisen, sinkende Wachstumsraten und steigende Arbeitslosigkeit setzten dem bis dahin erfolgsverwöhntem wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen „Modell Österreich“ auch augenscheinlich erheblich zu.45 Gegenmaßnahmen, wie neue Steuern und Abgaben belasteten die Bevölkerung zunehmend. Innerparteilich kam es zu Streitigkeiten zwischen Kreisky und dessen politischen Ziehsohn , der eine Hartwäh- rungspolitik vertrat.46 Ein steigendes Umweltbewusstsein innerhalb der Bevöl- kerung schuf zudem zusätzlichen Gegenwind für die Politik. So stieß die Regie- rung bei dem geplanten Atomkraftwerk Zwentendorf auf massiven Widerstand, der die Nichtinbetriebnahme des bereits errichteten Reaktors zur Folge hatte. Bei den Nationalratswahlen verlor die SPÖ schließlich die absolute Mehrheit und Kreisky zog sich damit, wie angekündigt, aus der Politik zurück.

5. Stagnation, Krise und neue Herausforderungen - Österreich bis zum EU-Beitritt Mit den 1980er Jahren änderte sich also die Ausgangslage für die erfolgsver- wöhnte junge Republik zunehmend. So waren die Energiepreise dank zwei Erd- ölkrisen stark gestiegen. Wirtschaftlich machte sich eine immer stärker werden- de Konkurrenz aus Asien bemerkbar. Die Österreichische Wirtschaft hatte mit Strukturkrisen, sinkenden Wachstumsraten und einer steigenden Arbeitslosigkeit zu kämpfen. In dieser Zeit wurde der Ruf nach einem EU-Beitritt immer lauter, besonders von Seiten der Industrie.47 Die schwer bewegliche verstaatliche Industrie hatte außerdem mit struktu- rellen Problemen zu kämpfen und musste vom Staat mit hohen Zuschüssen über Wasser gehalten werden.48 Die SPÖ, die nunmehr von geführt wurde bildete zunächst eine Koalitionsregierung mit der FPÖ, unter dem liberalen . Diese  44 Niederstätter, Österreich, S. 252; Vocelka, Österreich, S. 119. 45 siehe den Beitrag „Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik in der Zweiten Re- publik“ in diesem Band. 46 Niederstätter, Österreich, S. 252. 47 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 181. 48 Niederstätter, Österreich, S. 253. 46 Philipp Strobl hatte aber von Anfang an Schwierigkeiten, die mit der deficit-spending-Politik der vorangegangenen Jahre zusammenhingen.49 Wirtschaftliche Krisen, politi- sche Affären und der Kampf um den Bau eines Donaukraftwerkes bei Hainburg, in dessen Verlauf im Jahr 1985 die Donauauen von Aktivisten besetzt wurden, destabilisierten die Regierung.50 Umweltschäden (Waldsterben) und die Affäre um das geplante Hainburger Donaukraftwerk führten zur Entstehung eines ver- stärkten Umweltbewusstseins. In diesem Zusammenhang kann man auch das Auftreten der Grünen als neue umweltorientierte Partei sehen. Das Jahr 1986 brachte der österreichischen Politik gleich zwei bedeutende Veränderungen. Die ÖVP nominierte mit Kurt Waldheim, den außenpolitisch erfahrenen ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen (1971-1981) als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Die SPÖ schickte den ehemaligen Gesundheitsminister Kurt Steyrer ins Rennen. Der Wahlkampf geriet bald zur Schlammschlacht, in der Waldheim vorgeworfen wurde, als Offizier der deut- schen Wehrmacht in Kriegsverbrechen verstrickt gewesen zu sein und dies in späteren biographischen Angaben verschwiegen zu haben. Waldheims „unge- schickter Umgang mit der Wahrheit“51 führte zu einer zunehmenden Polarisie- rung der Bevölkerung. So „gab er immer nur zu, was man ihm beweisen konnte und fand selten Worte des Bedauerns für das, was vorgefallen war.“52 Am 8. Ju- ni 1986 gewann Waldheim mit 54 Prozent der Stimmen die Wahl. Außenpoli- tisch blieb der neu gewählte Präsident weitgehend isoliert. So wurde Waldheim als Bundespräsident von keinem westlichen Staat eingeladen und nur von weni- gen Staatsoberhäuptern besucht. Die Schweiz wies sogar den traditionellen An- trittsbesuch des österreichischen Staatsoberhaupts zurück.53 Weitere Staaten, darunter Finnland, Irland, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland, gaben ihm auf Anfrage keine Besuchstermine.54 Diese Isolation verstärkte sich, als ihn die USA auf die sogenannte watch list setzten, und ihm als Privatperson die Einreise verwehrten. Nach Ablauf seiner sechsjährigen Amtszeit verzichtete der isolierte Präsident auf eine neuerliche Kandidatur. Eine, von der Regierung

 49 Niederstätter, Österreich, S. 253; Vocelka, Österreich, S. 120. 50 Vocelka, Österreich, S. 120. 51 Vocelka, Österreich, S. 120. 52 Vocelka, Österreich, S. 120. 53 Österreich: Wie ein Bittsteller. In: Der Spiegel. Nr. 41, 1986, S. 170-171 (6. Oktober 1986). 54 Österreich: Vernichtendes Urteil. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1987, S. 116-118 (14. Dezember 1987). Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 47  beauftragte Untersuchungskommission fand keine Hinweise auf eine Beteili- gung an Kriegsverbrechen. Es wurde allerdings festgehalten, dass seine früheren Angaben lückenhaft und teilweise falsch waren und ein ein „grundsächliches Vergessen“55 attestiert Die Waldheim-Affaire führte schließlich aber auch zum Ende des „staats- tragenden, sorgsam gepflegten politischen Konsens von der Opferrolle Öster- reichs und dem Ausblenden der Jahre 1938 bis 1945 aus der österreichischen Geschichte.“56 Nach 1986 begann sich das Land allmählich mit seiner national- sozialistischen Vergangenheit zu beschäftigen und sich auch immer mehr von seiner Opferrolle zu lösen. Ab 1992 beispielsweise – knapp 50 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs – beschloss der Nationalrat die Entschädigung vertriebe- ner Juden. Ein weiteres Jahrzehnt später erfolgte allmählich eine Restitution. Nach der Wahl Waldheims trat Bundeskanzler Sinowatz (SPÖ) zurück. Sein Nachfolger wurde der liberale Banker und ehemalige Finanzminister Franz Vranitzky. Nach einem Machtwechsel in der FPÖ, bei dem der rechtspopulisti- sche Jörg Haider durch einen Putsch an die Parteispitze kam, kündigte Vranitzky die Koalition auf und ebnete so den Weg für Neuwahlen im November 1986. Diese brachten Österreich wieder eine große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP. Vranitzky blieb, trotz Stimmenverlust, Kanzler. Vizekanzler wurde (ÖVP). Die wirtschaftlichen Probleme des Landes stellten die Regierung vor große Herausforderungen. So befand sich das Land in der zweiten Hälfte der 1980 und den frühen 1990er Jahren wirtschaftlich auf der „Kriechspur Europas“ und ein Beitritt zur Europäischen Union wurde immer mehr zu einer Art „All- heilmittel für alle wirtschaftlichen und politischen Übel.“57 Zudem war zu dieser Zeit nahezu ein Drittel der Bevölkerung beim Staat beschäftigt.58 Als dringlichs- te wirtschaftspolitische Aufgabe stand die Sanierung und Privatisierung der an- geschlagenen Verstaatlichten Industrie an. Zu diesem Zweck entstanden ab 1986 neue Branchenholdings, die über die Börse privatisiert werden sollten.59 Bemer- kenswert war auch die offizielle Abkehr von Österreichs Rolle als erstes Opfer des Nationalsozialismus. 1991 erklärte Vranitzky beispielsweise im Nationalrat,

 55 Niederstätter, Österreich, S. 255. 56 Niederstätter, Österreich, S. 255. 57 siehe den Beitrag „Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik in der Zweiten Re- publik“ in diesem Band. 58 Judt, Europa, S. 635. 59 Niederstätter, Österreich, S. 256. 48 Philipp Strobl dass Österreichs Bevölkerung eine Mitschuld an den Nationalsozialistischen Verbrechen zu tragen und dass es sich dafür zu entschuldigen habe.60 Die 1990er Jahre brachten in vielerlei Hinsicht bahnbrechende Verände- rungen. So setzte eine breite Digitalisierung ein. Innerhalb weniger Jahre wur- den Computer alltagstauglich und hielten Einzug in Österreichs Haushalte und Geschäfte. Bis zum Jahr 2002 verfügte beispielsweise bereits die Hälfte aller österreichischen Haushalte über einen eigenen PC. Weitere 10 Jahre später stieg der Anteil sogar auf nahezu 80 Prozent.61 Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges rückte Österreich plötzlich wieder in die Mitte Europas, mit allen damit verbun- denen Chancen aber auch Herausforderungen. Triebfeder des österreichischen Engagements in den neuen Nachbarländern war jedoch mehr die Privatwirt- schaft denn der Staat. Die aufbrechenden nationalen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien brachten den Krieg an die Grenze Österreichs und es setzte eine weitere Zuwanderungswelle ein. Alleine zwischen 1980 und 1995 verdoppelte sich der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit von rund vier auf acht Prozent. Die FPÖ begann sich in dieser Zeit unter ihrem neuen rechtspopulistischen Obmann Jörg Haider zunehmend mit dem „Ausländerthe- ma“ zu profilieren,62 was zu einer Radikalisierung der Bevölkerung beitrug. So begann sich das traditionell für Flüchtlinge offene Land nach 1989 immer mehr zu verschließen.63

6. EU-Beitritt und Strukturwandel Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhan- ges, rückte der von Österreich gewünschte EU-Beitritt in greifbare Nähe. Die österreichische Regierung hatte bereits 1989 einen Mitgliedsantrag gestellt. Nach einer Volksabstimmung im Jahr 1994, in der sich 66,6 Prozent der Wähler für den EU-Beitritt entschieden hatten, trat das Land am 1.Jänner 1995 als voll- wertiges Mitglied der EU bei. Die weitere Integration in Richtung Europa er- folgte dann sehr rasch. 1997 endeten die Grenzkontrollen zu den anderen Mit- gliedern des Schengen Raumes und im Jahr 2002 war Österreich unter den ers- ten Ländern, die den Euro einführten.  60 Manfred Jochum, 80 Jahre Republik (Wien 1998), S. 165. 61 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 195. 62 Für ausführliche Informationen zur Migration nach Österreich, siehe den Beitrag: „Flücht- ling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“. Österreichische Zuwander- ungsgeschichte seit 1955 aus identitätspolitischer Perspektive“ in diesem Band. 63 Vocelka, Österreich, S. 123. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 49  Trotz EU-Beitritt und Reformprogrammen sank die Zufriedenheit in der Bevölkerung mit den traditionellen Großparteien weiter. Wirtschaftliche Krisen in der Industrie (bedingt durch strukturelle Probleme sowie die Anpassung an einen größeren überregionalen europäischen Markt), eine steigende Zuwande- rung und ungelöste Integrationsprobleme schürten diese Unzufriedenheit weiter. Die Wahlen des Jahres 1999 brachten dramatische Veränderungen in der politischen Landschaft des Landes. Die SPÖ blieb zwar stärkste Partei, hatte aber einige Stimmen eingebüßt, Zweitstärkste Partei war nun die rechstpopulis- tische FPÖ, die im Wahlkampf auf die „Ausländerkarte“ gesetzt hatten. Die ÖVP folgte schließlich als nur mehr drittstärkste Partei mit ein paar hundert Stimmen Abstand. Den Wahlen folgte die Bildung einer ÖVP-FPÖ- Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, obwohl zunächst Viktor Klima (SPÖ) als Vorsitzender der stimmenstärksten Partei beauftragt wurde, Koalitionsgespräche zu führen. Die Gespräche zwischen SPÖ und ÖVP scheiterten jedoch aus verschiedenen Gründen (Gerüchte über Parallel- Verhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ, Widerstände der SP-Gewerkschaften, die Forderung der ÖVP nach Übernahme des Finanzressorts).64 FPÖ und ÖVP beschlossen schließlich eigenmächtig, Verhandlungen über eine Regierungsbil- dung aufzunehmen, die zu einem positiven Ergebnis führten. Am 4. Februar wurde schließlich die neue ÖVP-FPÖ Regierung unter Wolfgang Schüssel ange- lobt. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ führte zu heftigen Protesten im In- und Ausland. Unter anderem gingen ab Februar 2000 wöchentlich hunderte De- monstranten in den so genannten Donnerstagsdemonstrationen auf die Straße. Auf Initiative Frankreichs und Belgiens folgten außerdem Sanktionen der übri- gen EU-Länder, oftmals fälschlicherweise als EU-Sanktionen bezeichnet, bei denen für einige Monate die bilateralen Beziehungen zu Österreich reduziert wurden. Im Land selbst wurden die Sanktionen als ungerechtfertigte Einmi- schung in die inneren Angelegenheiten gesehen und hatten sogar einen gegentei- ligen Erfolg. So stärkten sie die Solidarität weiter Teile der Bevölkerung mit der neuen Regierung und riefen eine erste EU-Skepsis hervor. Die Regierung be- gann rasch mit ambitionierten aber teilweise auch als übereilt und unsozial emp- fundenen, Reformvorhaben, wie der Sanierung des Staatshaushaltes, der Priva-

 64 Demokratiezentrum Wien, Zur Nationalratswahl vom 3.Oktober 1999, In: Demokratiezent- rum Wien, online unter (12. Mai 2014). 50 Philipp Strobl tisierung von Staatsbetrieben, sowie Reformen in den Bereichen Verwaltung, Bildung, Altersvorsorge.65 Internationale Beachtung fand das Versöhnungs- fondsgesetz sowie die Einrichtung des Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus.66 Eine innere Krise der FPÖ brachte die Regie- rung zwei Jahre nach ihrer Angelobung in ernste Schwierigkeiten. Nach dem Rücktritt der Vizekanzlerin -Passer (FPÖ) und des Wirtschaftsmi- nisters Karl-Heinz Grasser (FPÖ) kam es 2002 zu Neuwahlen, aus denen die ÖVP unter Wolfgang Schüssel enorm gestärkt hervorging (42,3 Prozent der Wählerstimmen) und die FPÖ wieder auf den Status der vormaligen Kleinpartei absank.67 Nach zähen Verhandlungen bildete Schüssel wieder eine Koalition mit der von ständigen Turbulenzen gebeutelten FPÖ und später dem BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich), einer Abspaltung Haiders, der sich im Jahr 2005 die meis- ten freiheitlichen Spitzenpolitiker anschlossen. Die Wahlen des Jahres 2006 beendeten die turbulenten Jahre der Schwarz- Blau-Orangen-Koalitionen. Im Vorfeld war es zu einem überaus emotional ge- führten Wahlkampf gekommen, der sich insbesondere durch die sogenannte BAWAG-Affaire dramatisch zuspitzte. So war in diesem Jahr bekannt gewor- den, dass die viertgrößte Bank Österreichs (BAWAG), die im Eigentum des SPÖ nahen Gewerkschaftsbundes stand, enorme Verluste bei Kreditvergaben an das US-Finanzhaus Refco sowie bei Hochrisikoveranlagungen auf den „steuer- schonenden“ Karibikinseln gemacht hatte. Da im Zuge des BAWAG-Skandals aber eine Verschuldung des österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) von über 2 Milliarden Euro verursacht wurde, musste die BAWAG zur Gänze an den US-Fonds Cerberus Capital Management verkauft werden, um so eine Insolvenz des ÖGB zu vermeiden. Bei den Wahlen erzielten die SPÖ und die ÖVP annähernd gleich viele Stimmen (35,3 Prozent gegenüber 34,3 Prozent). Drittstärkste Partei waren die Grünen, welche die FPÖ knapp überholen konnten. Nach zähen Verhandlungen, die sich bis Jänner 2007 hinzogen, einigten sich SPÖ und ÖVP auf die Bildung einer großen Koalition unter Alfred Gusenbauer (SPÖ). Die gemeinsame Regie- rungsarbeit wurde jedoch zunehmend von Gegensätzen erschüttert und so kam es bereits im Herbst 2008 zu Neuwahlen. Diese brachten den beiden Großpartei- en herbe Stimmverluste (SPÖ -6 Prozent, ÖVP -8,3 Prozent im Vergleich zu

 65 Niederstätter, Österreich, S. 259. 66 Niederstätter, Österreich, S. 259. 67 Vocelka, Österreich, S. 122. Österreich in der Zweiten Republik – Ein kurzer historischer Abriss 51  2006). Wahlgewinner waren die beiden rechtspopulistischen Parteien FPÖ und BZÖ, die beide jeweils etwa 6 Prozent der Wählerstimmen dazu gewinnen konnten.68 Nach der Wahl einigten sich ÖVP und SPÖ jeweils unter neuer Füh- rung auf eine weitere Zusammenarbeit. Kanzler wurde Werner Faymann (SPÖ). Die große Koalition hielt sich in der Folge nicht nur über die gesamte Legisla- turperiode sondern wurde mit den Nationalratswahlen 2013 (mit weiteren Stimmverlusten) erneuert. Wirtschaftlich gelang dem Land seit den 2000er Jahren die strukturelle Er- neuerung. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten hatte sich die österreichische Industrie als konkurrenz- und anpassungsfähig erwiesen. So gelang es, die standortbedingte Abwanderung vieler Unternehmen aufgrund niedrigerer Löhne zu bremsen und es kam zu einem Ausbau des innovativen, technologieorientier- ten Sektors mit einem hohen Anteil an Forschung und Entwicklung. Beispiele dafür sind der Bereich Medizintechnologie, der in diesem Zeitraum eine enorme Bedeutungssteigerung durchlebte, sowie der Bereich Erneuerbare Energien. Hier waren im Jahr 2011 bereits über 71.000 Österreicher beschäftigt.69 Gleichzeitig kam es zu einem massiven Ausbau der Dienstleistungsberufe. So stieg die Be- deutung der öffentlichen und privaten sozialen Dienste, sowie der unterneh- mensbezogenen Wirtschaftsdienste ab den 2000er Jahren stark an. Dies ist vor allem mit der Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft verbunden.70 Viele Dienstleistungsbetriebe nutzten die Chancen eines gemeinsamen europäi- schen Marktes. Die EU-Osterweiterung des Jahres 2004 führte zudem zu einem vermehrten Engagement österreichischer Unternehmen in den östlichen Nach- barstaaten, nachdem bereits der Fall des Eisernen Vorhanges zu einer „förmli- chen Explosion der Außenhandelsbeziehungen“ mit den Nachbarstaaten geführt hatte.71 Die negativen Seiten einer weltweiten Verflechtung wurden jedoch durch die globale Finanzkrise (ab 2007) sichtbar, in deren Folge massive staatliche Inves- titionen zur Unterstützung und Rettung diverser Finanzinstitutionen aufgebracht wurden, welche die Staatsverschuldung rapide ansteigen ließen.

 68 BM.I, Nationalratswahl 2008, In: bmi.gv.at, online unter (12. Mai 2014). 69 Ministerium für ein lebenswertes Österreich, greenjobs in Österreich, In: Ministerium für ein lebenswertes Österreich, online unter (12. Mai 2014). 70 Strobl, Wirtschaftsgeschichte, S. 215. 71 Burtschek, Nachzügler, S. 56. 52 Philipp Strobl

7. Fazit In den vergangenen 70 Jahren durchlebte die Zweite Republik unterschiedliche Entwicklungen. So musste sie sich als eigenständiger Staat erst etablieren. Eben- so wichtig war der Aufbau des zerstörten Landes. Ab den 1950er Jahren erlebte das Land mit den so genannten Wirtschaftswunderjahren eine nie zuvor dagewe- sene Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs. Dieser folgten ab den 1980er Jahren Rezession und Krisen, die mit einer verstärkten (freiwilligen und unfrei- willigen) Vernetzung der Welt zusammenhingen. Mit dem EU-Beitritt reagierte Österreich auf die Herausforderungen der Globalisierung. Die vergangenen 7 Jahrzehnte brachten aber auch eine Wohlstandszunahme ungekannten Ausma- ßes. Politisch schlug Österreich einen Sonderweg ein. So wurde das Land die meiste Zeit über von großen Koalitionen regiert, die zusammen eine Mehrheit der Wählerstimmen unter sich vereinigen konnten. Dies sicherte zunächst den sozialen Frieden in einem Land, das in seiner Vorkriegsvergangenheit von Bür- gerkrieg und unüberwindbar scheinenden ideologischen Gegensätzen geplagt wurde. Die politische Allmachtstellung führte im Laufe der Jahre aber auch zu Nepotismus, Korruption und einer Aufteilung wichtiger Schlüsselpositionen in nahezu allen Bereichen des Lebens unter den Vertretern zweier Parteien. Im Großen und Ganzen erlebte die Zweite Republik also bis zum Jahr 2014 eine wahrhafte Erfolgsgeschichte. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser erfolgreiche Weg auch in Zeiten weltweiter Finanzkrisen und zunehmender globaler Konkur- renz weitergeführt werden kann. Von der Knappheit zum Wohlstand Wirtschaftliche Entwicklung in der Zweiten Republik am Beispiel Tirols Josef Nussbaumer

1. Zum Einstieg Anfang Mai 1945 endete endlich auch in Tirol – so wie in vielen Regionen Mit- teleuropas – der Zweite Weltkrieg. Damit war das Leid der Tiroler Bevölkerung aber nicht schlagartig beseitigt, denn auch in der Folgezeit gab es noch sehr kar- ge Jahre. Mit dem Kriegsende war aber ein Grundstein für neue Hoffnung ge- legt. Vorher war Tirol – wie ganz Österreich – von vielen Schicksalsschlägen heimgesucht worden. Es begann mit dem Ersten Weltkrieg, der die politische Trennung des Landes brachte. Die triste soziale Lage nach dem 1. Weltkrieg war zudem geprägt von Hunger und Elend, zu guter Letzt kam es noch zum Verfall des Geldes (Hyperinflationsjahre 1922/23). Nachdem die Währung wieder stabi- lisiert war, folgte 1929 mit der Weltwirtschaftkrise der nächste Keulenschlag. Noch ehe diese Krise überwunden war, traf die Tausendmarksperre 1933 den Nerv des schon damals wirtschaftlich als Devisenbringer wichtigen Tourismus. Zuletzt folgte ab 1939 der Zweite Weltkrieg, dessen Folgen mindestens bis An- fang der 1950er Jahre nachwirkten. An wenigen Beispielen, der Ernährungslage, der Wohnsituation und sonstiger Knappheitsphänomene sei die Ausgangslage in Österreich am Beispiel Tirols nach dem Ende dieser Jahrzehnte der Krisen und Katastrophen kurz verdeutlicht.

2. Von der Kargheit der unmittelbaren Nachkriegszeit (Essens-, Wohnungs- und sonstige Knappheiten) 2.1. Ernährung1 Die Versorgung der Tiroler Bevölkerung mit den notwendigen Nahrungsmitteln war in den ersten Nachkriegsjahren ein riesiges Problem, vor allem in Inns- bruck. Die vielleicht größte strukturelle Schwierigkeit dabei war, dass Tirol sich

 1 Vgl. Josef Nussbaumer, Vergessene Zeiten in Tirol. Lesebuch zur Hungergeschichte einer europäischen Region (Innsbruck 2000) v. a. 123–136. 54 Josef Nussbaumer von der eigenen landwirtschaftlichen Produktion in keinster Weise ernähren konnte. Während die ländliche, bäuerliche Bevölkerung zumindest noch einiger- maßen auf Eigenproduktion zurückgreifen konnte, waren die Folgen für die städtische Bevölkerung besorgniserregend bis katastrophal. So konnten etwa den Menschen in Innsbruck in den Sommermonaten 1945 nicht einmal 1.000 Kcal pro Tag und Kopf zugewiesen werden. Es dauerte bis zum August 1948, bis endlich einmal die Zuteilungsmarke von 2.000 Kcal (pro Kopf/Tag) erreicht werden und damit eine in etwa ausreichende Versorgung wieder gewährleistet werden konnte. Graphik 1: Butterknappheit in der Tiroler Karikatur

Karikatur aus der Tiroler Tageszeitung, Faschingsausgabe (23. 02. 1952) 8. Betitelung: „Tiroler auf seine Butterzuteilung zeigend“ Die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln in Tirol nach 1945 zeigt auch ein für Nachkriegszeiten generell typisches sozialgeschichtliches Phäno- men: „Der Krieg geht, der Hunger bleibt!“ Mit anderen Worten: selbst Jahre nach Kriegsende bleiben die Folgen eines Krieges für die Bevölkerung bei der Ernährungslage noch sehr schmerzlich spürbar. Noch Anfang der 1950er Jahre (1951/1952) gab es in Tirol wegen Fleisch- mangels „fleischlose“ Tage, das heißt, es gab Tage während der Woche, an de- nen die Metzgereien gewisse Fleischsorten nicht verkaufen durften und auch in den Gasthäusern nur sehr eingeschränkt Fleisch konsumiert werden konnte. Dies war allerdings das letztmalige Aufflackern des Ernährungsmangels, der seither bislang verschwunden ist. 2.2. Wohnen2 Neben dem Ernährungsproblem galt es in den ersten Nachkriegsjahren ein wei- teres ganz wichtiges soziales Problem zu bewältigen: das Wohnungsproblem.

 2 Vgl. Josef Nussbaumer, Sozial- & Wirtschaftsgeschichte von Tirol 1945 – 1985 (Innsbruck 1992) 20 – 29. Von der Knappheit zum Wohlstand 55  Die Wohnsituation war geprägt von großen Zerstörungen, vor allem den Bom- benschäden in Innsbruck und an jenen Orten, die in der Nähe von Eisenbahnan- lagen gelegen waren (Brennerbahn, Inntal, aber auch Mittenwaldbahn, …). „Slumartige“ Wohnverhältnisse waren in den ersten Nachkriegsjahren ge- rade in Innsbruck keine Seltenheit, die Reparatur und der Neubau von Wohnun- gen zählte damals zu den „brennendsten Gegenwartsfragen“. Wie schwer es ge- rade in der unmittelbaren Nachkriegszeit war, das Problem einigermaßen in den Griff zu bekommen, sei nur am Beispiel der Glasknappheit angedeutet. Allein an Innsbrucker Wohnungen wurden durch den Krieg rund 250.000 m² Glasschä- den verursacht. Für das gesamte Jahr 1946 standen aber nur 21.600 m² Wirt- schaftsglas zur Verfügung, also nicht einmal 10 % des tatsächlichen Bedarfs zur Behebung der Kriegsschäden. Die anderen 90 % der Antragsteller musste man auf spätere Zeit vertrösten. Zum Teil half man sich damit (Not macht bekannt- lich erfinderisch), dass man Glas aus den Bilderrahmen in den Wohnzimmern herausnahm und in die Fensterscheiben setzte. Noch 1947 bekam man Glas zum Teil nur über ärztliche (!) Gutachten, um zumindest Schwerkranke oder Neuge- borene vor allzu großer Kälte – und die kann in Innsbruck bekanntermaßen sehr unangenehm sein – zu schützen. Ähnliche Beispiele, die heute geradezu skurril anmuten, könnten beliebig angeführt werden. Trotz aller Probleme gelang es bis um 1950 in Innsbruck ei- nen Großteil der weniger beschädigten Wohnungen wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Ab den 1950er Jahren begann dann ein Bauboom, der im Prinzip – natürlich mit wechselndem Niveau – bis heute anhält. 2.3. Eine Knappheitsgesellschaft am Existenzminimum Knapp waren damals aber nicht nur die Nahrungsmittel und die Wohnungen, sondern praktisch ALLES, was man zum täglichen Leben und Wirtschaften brauchte, ja man kann die Tiroler Nachkriegsgesellschaft als eine Knappheitsge- sellschaft par excellence bezeichnen. Tirol war v.a. in der unmittelbaren Nach- kriegszeit zu einem beinahe autarken Wirtschaftsgebiet geworden und es dauerte geraume Zeit, bis diese Einschränkungen und Entbehrungen wieder beseitigt werden konnten. Der Handel war in manchen Bereichen zum Tauschhandel de- gradiert. Weil etwa Holz zum Heizen ein sehr knappes Gut darstellte, findet sich im Dezember 1945 in der Tiroler Tageszeitung folgende Anzeige: „Tausche 56 Josef Nussbaumer schönen Hausaltar, elektrische Beleuchtung, 120 cm breit, 130 cm hoch, gegen Brennholz“3. Dass in solchen Zeiten sich auch die Kriminalität und Illegalität zu neuen Blüten entwickeln, darf nicht verwundern. Gestohlen wurde praktisch alles, was nicht niet- und nagelfest war, selbst das Leder an den Sport- und Turngeräten war nicht sicher und wurde heruntergeschnitten. Man darf dabei auch nicht ver- gessen, dass etwa aus Strom und Laternenmangel die Stadt Innsbruck nachts kaum beleuchtet war. Dass man, ob der wenigen Güter und der großen Nachfrage sich viele Pro- dukte im wahrsten Sinne des Wortes „erstehen“ (Stichwort: „Schlangenstehge- sellschaft“) musste, ist auch aus heutiger Perspektive meist vergessen. Summa summarum kann man so mit Sicherheit festhalten, dass die damaligen Zeitge- nossen sich in keinster Weise vorstellen konnten, in welche Dimensionen – vor allem auch in welche Konsumdimensionen – sich die Tiroler Wirtschaft und Ge- sellschaft in den nächsten Jahrzehnten entwickeln würde. Gerade dieser Tatbe- stand soll auf den nächsten Seiten in aller Kürze ein wenig skizziert werden.

3. Vom 1950er Syndrom in Tirol: Ausgewählte Kapitel Um 1950 und in der Folgezeit änderte sich in vielen Regionen Europas die wirt- schaftliche und soziale Lage still und leise auf eine Art und Weise, die man viel- fach auch als „1950er-SYDROM“ oder RADIKALEN Wandel bezeichnet hat und zu Recht auch so bezeichnen kann. Auch Tirol war von diesem Wandel be- troffen. Viele wirtschaftliche, gesellschaftliche und auch soziale Belange began- nen sich dabei radikal zu verändern, eine „alte“ Welt ging vielfach verloren. Auf den folgenden Seiten soll dies an einigen Beispielen skizzenhaft nachgezeichnet werden. 3.1. Der Agrarsektor schrumpft zur „Nebensache“ Um 1950 war die Landwirtschaft – nicht nur in Tirol – noch ein wichtiger Wirt- schaftszweig. Dies änderte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte gravierend. Im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechung etwa ist der Anteil der Land- und Forstwirtschaft im Laufe der letzten Jahrzehnte auf ein Minimum ge- sunken. Nicht einmal mehr ein Prozent beträgt der Anteil der Tiroler Land- und

 3 Vgl. dazu Nussbaumer, Sozial- & Wirtschaftgeschichte, 76 ff. daselbst finden sich noch eine ganze Fülle von Tauschinseraten der damaligen Zeit. Von der Knappheit zum Wohlstand 57  Forstwirtschaft an der Bruttowertschöpfung des Landes.4 Oder anders formu- liert: Im Sinne von volkswirtschaftlichen Kennzahlen ist der Beitrag der Land- wirtschaft zu einer (fast) vernachlässigbaren Größe zusammengeschrumpft.5 Auf diesen Schrumpfungsprozess – wenn auch nicht in diesem Ausmaß – weisen auch die Zahlen in Tab. 1 hin. So ist etwa die Anzahl der Vollerwerbsbauern von knapp 18.000 auf rund 4.000 gesunken (vgl. Graphik 2). Graphik 2: Verschwinden die Bauern?

Die Anzahl der in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Menschen ist von über 100.000 im Jahr 1951 auf unter 40.000 im Jahr 2010 gesunken. Was die landwirtschaftliche Tierhaltung in Tirol betrifft, so ist festzuhalten, dass fast bei allen Tierarten seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein Rückgang zu ver- zeichnen ist, der mit Abstand größte bei den Schweinen.

 4 Vgl. Stefan Garbislander, Marlene Hopfgartner, Tiroler Wirtschaft in Zahlen 2012 (Inns- bruck 2012) 18. 5 Dass sich dieser massive Rückgang im Bereich der politischen Funktionäre des Landes noch nicht in dieser Form manifestierte, sei hier nur als kleine Fußnote angeführt. 58 Josef Nussbaumer

Tab. 1: Statistische Chiffren zur Landwirtschaft seit 1950 Bereich um 1950 um 2010 Vollerwerbsbauern ca.18.000 um 4.000 In der Land- und Forstwirtschaft tätige Personen 104.988 (51) 38.488 Unerschlossene Bauernhöfe 7.300 430 (08) Viehbestand: Rinder 190.365 183.825 Milchkühe 99.075 56.000 (11) Schafe 70.017 80.356 Schweine 80.010 15.110 Ziegen 31.318 14.001 Anbau von Feldfrüchten Mais (in ha) 673 (49) 2.500 Getreide (in ha) 9.432 (49) 400 Kartoffel (in ha) 4.025 (49) 400 Quelle: Zahlen aus: Josef Nussbaumer, Stefan Neuner, Die Graphen von Tirol (Innsbruck 2012) 48 ff. und der STATISTIK AUSTRIA, https://www.statistik.at/web_de/statistiken/land_und_forstwirtschaft/viehbestand_tierische_ erzeugung/tierbestand/index.htm. Die Zahlen in Klammer weisen auf das exakte Jahr hin, dies wird auch bei den anderen Tabellen so praktiziert. Was die Anbaufläche wichtiger Feldfrüchte betrifft, so kam es ebenfalls – mit Ausnahme von Silomais – in den letzten Jahrzehnten zu erheblichen Rückgän- gen. Die Getreideanbauflächen (Weizen, Roggen, Gerste und Hafer) sanken seit 1949 von über 9.000 ha auf gar nur mehr 400 ha (2010). Mit anderen Worten: Tirol ist – was den eigenen Anbau betrifft – (fast) getreidelos geworden. Der Brotgetreideanbau betrug 2012 nur mehr 173 ha und beträgt damit nur mehr ei- nen Bruchteil der Bundshauptstadt Wien, die mit 1.892 ha rund 11 Mal soviel (!) Brotgetreidefläche verzeichnen kann wie das „Agrarland“ Tirol.6 Mittlerweile sind die Golfflächen in Tirol schon um das drei- bis vierfache größer als die Flächen für Brotgetreideanbau. Welch enorme Folgen dieser Tat- bestand für die Ernährung in Tirol haben würde, wenn auch nur annähernd ähn- liche Zustände wie in den 1940er Jahren (Krieg und Nachkriegszeit) eintreten würden, kann sich heute niemand mehr – auch nicht in Ansätzen – ausmalen. Tirol ist auf Lebensmittelimport angewiesen. Tab. 2 nennt Zahlen aus den 1980er Jahren und aus der Gegenwart. Man sieht dabei, dass sich bei all den ge-  6 Vgl. dazu die Zahlen von der STATISTIK AUSTRIA, https://www.statistik.at/web_de/statistiken/land_und_forstwirtschaft/agrarstruktur_flaechen _ertraege/bodennutzung/index.html Von der Knappheit zum Wohlstand 59  nannten Lebensmitteln die Versorgungslage erheblich verschlechtert hat. Etwa nur jedes 5. bis 6. Ei, das in Tirol verzehrt wird, stammt aus heimischer Produk- tion. Ja, müsste der bekannte heimische Speckproduzent Handl (Pians) mit hei- mischen Schweinen auskommen, könnte er nur ca. 4 bis 5 Tage im Jahr (!) pro- duzieren. Tab. 2: Ausgewählte Selbstversorgungsgrade in % Lebensmittel Mitte der 1980er Jahre Gegenwart (um 2012) Milch 128 80 (09) Kalbfleisch 103 46 Äpfel ? 20 Kartoffel 75 19 Eier 49 14 Schweinefleisch 31 4,6 Getreide 2 1 (!) Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen 230f. und Tiroler Tageszeitung (24. 02. 13) 20. Ganz zu schweigen von den Bäckern: sollten diese nur mit Tiroler Brotgetreide versorgt werden, binnen kürzester Zeit stünden die Backstuben still. Mit anderen Worten: AUTARKIE würde in TIROL binnen Kürze zu extremer Hungersnot, ja zum Hungertod führen. 3.2. Skizzen zur Veränderung am Arbeitsmarkt Das oben beschriebene Schrumpfen des Agrarsektors – verbunden auch mit dem Verlust an Arbeitsplätzen in diesem Sektor – wurde durch das Wachsen in ande- ren Wirtschaftszweigen mehr als wett gemacht. Insgesamt kam es seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Verdreifachung der Anzahl der unselbständig Beschäf- tigten, bei den Frauen sogar zu mehr als einer Vervierfachung (vgl. Tab.3). Hin- ter dieser spröden statistischen Angabe verbirgt sich ein weiterer struktureller Wandel, der in seiner Bedeutung – vor allem auch was die Stellung der Frau in der Gesellschaft betrifft – kaum unterschätzt werden kann. Bei aller Problematik der Doppel- und Dreifachbelastung vieler Frauen (Hausfrau, Mutter, Beruf), er- laubte die vermehrte Frauenbeschäftigung auch in Tirol ein ökonomisches „Em- powerment“ von Frauen, d.h. die Kontrolle über eigene materielle Ressourcen und eine verstärkte selbst bestimmte soziale Einbindung. Generell sind Zeiten, in denen die Anzahl der beschäftigten Personen in einer Region schneller wachsen als die Gesamtbevölkerung, jene Phasen, die man mit dem Terminus „ökonomische Wirtschaftswunderjahre“ umschreiben kann. Solche Phasen sind bekanntlich eher selten. 60 Josef Nussbaumer

Tab. 3: Statistische Chiffren zum Arbeitsmarkt: Bereich um 1950 um 2010 Unselbständig Beschäftigte gesamt 103.281 305.887 (12) Unselbständig beschäftigte Frauen 33.649 140.960 (11) Unselbständig beschäftigte Männer 69.632 160.131 (11) Gastarbeiter keine 52.396 (12) Arbeitslose absolut (gemeldet) 4.841 18.713 (11) Arbeitslose relativ (gemeldet) = Arbeitslosenquote in % 4,5 5,9 (11) Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen, 35 ff.; Tirols Wirtschaft in Zahlen 2012, 14 und 17 und http://wko.at/statistik/bundesland/Besch_Tir.pdf. Wenn eine immer größere Anzahl von Menschen sich mit ihrer Arbeitsleistung ins ökonomische Geschehen einklinken kann, bedeutet dies – zumindest tenden- ziell – auch mehr Einkommen und damit mehr Konsummöglichkeiten. Wie sehr sich der Arbeitsmarkt in Tirol in den letzten Jahrzehnten verän- dert hat, kann man auch daran ersehen, dass heute bereits über 50.000 so ge- nannte „Gastarbeiter“ (ausländische Arbeitnehmer) verzeichnet werden können. In den 1950er Jahren gab es diese Form der Arbeitskräfte noch überhaupt nicht, als aber dann Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre der Arbeitsmarkt völlig „auszutrocknen“ begann, griff man auf dieses Potenzial zurück. Heute würden viele Tiroler Wirtschaftsbereiche zusammenbrechen, könnte man nicht auf diese Arbeitskräfte zurückgreifen. Graphik 3: Unselbständig Beschäftigte Von der Knappheit zum Wohlstand 61  Insbesondere in der jüngsten Vergangenheit taucht auch auf dem Tiroler Ar- beitsmarkt wieder ein Gespenst auf, das für Jahrzehnte aus den Tälern vertrieben schien: die Arbeitslosigkeit. Zwar ist verglichen mit andern europäischen Regi- onen die Arbeitslosigkeit in Tirol noch sehr moderat, sie hat aber gerade in jüngster Zeit wieder eine Dimension angenommen, die alles andere als ein Ru- hekissen darstellt. 3.3. Zum Wandel in der Energieversorgung Energie ist ein zentraler Schlüssel für Sicherheit und Wohlstand. Was extremer Energiemangel bedeutet, wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit schmerzlich erfahren. In den 60 Jahren seit 1950 hat sich aber der Tiroler Energieverbrauch rund verzehnfacht. Diese radikale Zunahme ist dem Durchschnittsbürger kaum bekannt und bewusst. Eines soll aber hier klar festgehalten werden: dieser enor- me Zugriff auf Energie, erleichterte die Lebensweise erheblich, ja ein Rück- schritt auf das Energieniveau der 1950er Jahre scheint heute schlicht unmöglich. 1950 war Tirol energetisch noch eine klassische Kohle- und Holzgesell- schaft. Über vier Fünftel des Energieverbrauches wurden mit diesen beiden Energieformen abgedeckt. Bis 1954 hatte man übrigens (der Not der Zeit ent- sprechend) im eigenen Land noch Kohle abgebaut. Schon ab den 1960er Jahren kam es aber zu einer völligen strukturellen Verschiebung der Energieträger. Seit dieser Zeit begann das Erdöl zu dominieren. Dazu kam ein immer größerer An- teil der elektrischen Energie (Wasserkraft), in absoluten Zahlen hat sich der Verbrauch von elektrischer Energie zwischen 1950 und 2010 knapp veracht- facht. Die Kohle wurde immer bedeutungsloser, dafür deckte Erdöl immer mehr die Energieversorgung ab. Dementsprechend kostspielig waren die beiden Erd- öl-Krisen der Jahre 1973/74 und 1979/80. Auch heute noch ist Erdöl der Hauptenergieträger Tirols. Der Großteil der Energie wird somit importiert. Weitgehend autark ist Tirol nur bei den beiden Energieformen Holz und elektrische Energie (Wasserkraft). Insgesamt decken diese beiden regenerierbaren Energiearten etwa 30 Prozent des Endenergiever- brauches ab. Die restlichen 70 Prozent müssen zugekauft werden. Ein weiterer Trend ist der steigende Anteil elektrischer Energie (in Tirol heißt das in der Re- gel Wasserkraft) bis herauf in die Gegenwart. Neuerdings gibt es Pläne, dass Tirol bis 2050 energieautonom werden soll, wie dies allerdings in die Realität umgesetzt werden kann, scheint noch alles andere als klar zu sein. 62 Josef Nussbaumer

Tab. 4: Statistische Chiffren zur Energiesituation Bereich um 1950 um 2010 Gesamtenergieverbrauch in Peta Joule (z.T. geschätzt) 10 97 bis 100 Kohleverbrauch (gesamt) in t 246.200 (51) 49.084 (06) davon: Koks in t 82.400 (51) 16.233 (06) Verbrauch flüssiger Brennstoffe in 1.000 t (sehr grobe Schätzung) 21(51) 1.191 (06) Verbrauch an Erdgas in Mio. m³ 0 288 (07) Brennholzeinschlag in 1.000 fm 293 300 Verbrauch v. elektr. Energie in GWh 810 6.179 (06) Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen, 101 f. Graphik 4: Ein „1950er Syndrom“

3.4. Von der autolosen Zeit zum Transitproblem7 In den ersten Nachkriegsjahren gab es für den „Normalverbraucher“ in Tirol nur drei Verkehrsmittel, nämlich den öffentlichen Verkehr (Eisenbahn und Postbus), das Fahrrad und die eigenen Füße. De facto war Tirol um 1950 noch eine auto- und flugzeugfreie Gesellschaft. Wie schnell und radikal sich dies änderte, sei nur an einem Beispiel dokumentiert, einer Stellungnahme der Tiroler Handelskammer aus deren Jahresbericht von 1958: „Der Ausbau der Europastraße (Brennerautobahn) ist unerlässlich und duldet keinen Aufschub mehr, sollen nicht durch Umfahrung [sic!] Österreich

 7 Vgl. Nussbaumer, Sozial- & Wirtschaftsgeschichte, 140-157. Von der Knappheit zum Wohlstand 63  und nicht minder Bayern, Südtirol und Norditalien unabsehbaren Schaden erlei- den.“8 Aus heutiger Sicht kann man dazu nur mehr schmunzeln. Kurz nach Kriegsende war eine Fahrt mit dem Auto noch eine Rarität. Benzin war einer der teuersten und rarsten „Säfte“ im Land, während der Holz- vergaser (!), eine Vorrichtung zur Verwertung von Holz als Antriebsmittel, wei- te Verbreitung fand. Die dominierende Verkehrsform war generell der öffentli- che Verkehr. „Individualverkehr“ gab es hingegen praktisch nur mit dem Fahr- rad. Auch regional war der Verkehr zum Teil noch recht eingeschränkt. So gab es nach dem Krieg noch keine Gelegenheit, mit dem Auto in die Nähe eines Gletschers zu kommen. Während des Winters gab es etwa auch keine Möglich- keit, mit dem Auto von Tirol nach Vorarlberg zu gelangen (und umgekehrt). Auch die ersten Ampeln wurden in der Landeshauptstadt Innsbruck erst im Jahr 1949 errichtet. Ganze vier Stück wurden installiert, um den „berauschenden“ Stadtverkehr (so die damalige Diktion) zu regeln. Graphik 5: Kraftfahrzeugbestand

Wie falsch damals selbst „Profis“ die Entwicklung beim Individualverkehr prognostizierten, zeigt eine Stellungnahme aus dem Staatsvertragsjahr 1955, wo es im Jahresbericht der Tiroler Handelskammer heißt: „Die Hochkonjunktur auf dem Autosektor ist allmählich abgeflaut, da offenbar eine gewisse Sättigung eingetreten ist.“9 Ein halbes Jahrhundert später – die folgende Entwicklung ken-  8 Jahresbericht der Tiroler Handelskammer 1958, (Innsbruck 1958) 9. 9 Jahresbericht der Tiroler Handelskammer 1955, (Innsbruck 1955) 207. 64 Josef Nussbaumer nend – veranlassen solche Statements ebenfalls nur mehr zum Schmunzeln, hat- te sich bis zum Jahr 2010 der Pkw-Bestand mehr als verachtunddreissigfacht und noch immer ist keine absolute „Sättigung“ des individuellen Mobilitätsbe- dürfnisses erreicht. Tab. 5: Statistische Chiffren zum Verkehrswesen: Bereich um 1950 um 2010 PKW (+ Kombi) Bestand 2.789 342.613 (09) LKW Bestand 2.140 32.705 (09) Zulassung fabriksneuer Motorräder 136 2.188 Zulassung fabriksneuer PKW (+ Kombi) 236 25.609 Zulassung fabriksneuer Kfz gesamt 918 34.872 Über den Brenner transportierte Güter in Mio. Nettotonnen gesamt 1,2 43,4 davon: auf der Straße +/-0 28,3 Flugverkehr: Passagiere in Innsbruck in 1.000 4 1.030 Straßenverkehrstote 39 (49) 39 Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen, 77 ff. Graphik 6: Entwicklung des Güterverkehrs über den Brenner

Ein mit dem Verkehr in Tirol eng verknüpftes Thema ist das Transitproblem. 1950, lange bevor die Brennerautobahn errichtet war, stellte es sich noch gänz- lich anders dar. Damals betrug das Volumen des Straßengüterverkehrs über den Brenner noch ein Prozent (!) der mit der Bahn transportierten Gütermenge. Ver- Von der Knappheit zum Wohlstand 65  glichen mit heute gab es damals „keinen“ Güterverkehr auf der Straße über den Brenner. Summa summarum zeigen auch die Ausführungen zum Tiroler Verkehrs- wesen, dass sich seit 1950 ein Strukturwandel vollzogen hat, der zu Beginn des Untersuchungszeitraums wohl nicht einmal in den kühnsten Köpfen vorausge- ahnt wurde. 3.5. Fremdenverkehr: Vom Sommertourismus zum Zweisaisonentourismus10 Auch was die Entwicklung des Fremdenverkehrs betrifft, überflügelte die öko- nomische Realität sehr schnell die Erwartungen nach Kriegsende. Der Zweite Weltkrieg hatte dem Fremdenverkehr einen schweren Schlag versetzt und es war ungewiss, wie lange es dauern würde, bis das Niveau der Zwischenkriegszeit wieder erreicht werden würde, Teile der Bevölkerung waren der Meinung, dass dafür Jahrzehnte nötig sein würden. Allerdings wurden bereits 1950 wieder 570.000 Gästeankünfte mit 2,3 Mil- lionen Nächtigungen registriert. Damit war man zwar noch nicht ganz bei den Spitzenwerten der Zwischenkriegszeit angelangt, erreichte aber schon das Ni- veau der späten 1920er Jahre. Erstmals kamen im April 1950 auch wieder deutsche Gäste nach Tirol. Ge- rade diese sollten sich in der Folgezeit zu einer der Säulen des Tiroler Touris- mus entwickeln. Noch im Dezember 1949 ist allerdings in der Tiroler Tageszei- tung auch folgende Stellungnahme zu finden: „Manche Hausfrau hat das Ende der Fremdenverkehrssaison herbeigesehnt. Wurde sie doch vertröstet, dass dann nicht nur genügend Butter, sondern auch mehr Mehl sein werde.“11 Noch immer war also das Bild vom „Fremden“, der den Einheimischen notwendige Lebens- mittel „wegschnappt“, Realität in den Köpfen vieler. Dieses Bild sollte sich aber in der Folgezeit schnell verflüchtigen, und der Aufstieg des Fremdenverkehrs in bisher ungeahnte Dimensionen konnte begin- nen. Bereits 1954 hatte die Zahl der Betten in Tirol den Vorkriegsstand um 25 % überschritten. Ermöglicht wurde dieser rasche Aufschwung nicht zuletzt deswe- gen, weil der Tiroler Fremdenverkehr über 30 % der für den Tourismus ausge- gebenen ERP-Kredite Österreichs zugewiesen bekam. Die Marshallplan-Hilfe, die nach den Richtlinien jener Zeit im Tourismus ausdrücklich für Investitionen

 10 Vgl. Nussbaumer, Sozial- & Wirtschaftsgeschichte, 133 ff. 11 Tiroler Tageszeitung (10. 12. 49) 6. 66 Josef Nussbaumer mit hoher „Devisenrentabilität“ Verwendung finden musste, floss daher zu- nächst in jene Bundesländer, deren Tourismus eher international geprägt war, wie etwa Tirol. 1955 betrug die Gesamtzahl der Nächtigungen bereits 6 Millio- nen, von denen etwa ein Viertel in der Wintersaison verzeichnet wurde. Graphik 7: Fremdenverkehr in der Zweiten Republik

Generell begann um die Mitte der 1950er Jahre ein Tourismusboom, der wohl die kühnsten Träume übertraf. Anfang der 1990er Jahre konnten schließlich über 45 Millionen Nächtigungen gezählt werden, fast zwanzigmal so viele wie 1950. Zurzeit „stagniert“ die Zahl auf hohem Niveau von etwa 40 bis 44 Millionen. Im Laufe der Jahrzehnte fand zudem ein entscheidender Strukturwandel statt. Tirol wurde ein klassisches Zwei-Saisonen Tourismusland, wobei in den letzten Jahrzehnten der Wintertourismus den Sommertourismus bei weitem an Bedeutung übertraf. Tab. 6: Statistische Chiffren zum Fremdenverkehr: Bereich um 1950 um 2010 Nächtigungen im Winter in Mio. 0,6 25,2 Nächtigungen im Sommern in Mio. 1,7 17,8 Nächtigungen gesamt in Mio. 2,3 43,0 FV-Betten gesamt in 1.000 63 (53) 336,6 Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen, 59 ff. Dazu nur noch eine letzte Anmerkung: Es steht außer Zweifel, dass der Frem- denverkehr für Tirol ein sehr wichtiges ökonomisches Standbein darstellt, das Von der Knappheit zum Wohlstand 67  vielen Bewohnern des Landes geholfen hat, ihre Einkommensmöglichkeiten zu erhöhen. Tirol mit einem schrumpfenden Tourismussektor würde dem Land er- hebliche Probleme bereiten. Es ist zu hoffen, dass Tirol dieses hohe Niveau an Gästen erhalten kann und die durch den Klimawandel zu erwartenden Verände- rungen sich nicht zu massiv bemerkbar machen. 3.6. Skizzen zur Konsumveränderung: Eine kleine Auswahl Es dauerte etwa fünf Jahre, bis die schlimmsten Folgen des Zweiten Weltkrieges in Tirol beseitigt waren. Immerhin konnte im Herbst 1949 die Lebensmittelbe- wirtschaftung weitgehend ad acta gelegt werden. Dennoch ernährte man sich in den 1950er Jahren noch ganz anders als heute. 1953 z.B. lag der durchschnittli- che monatliche Verbrauch von Brot und Gebäck in Tirol bei ca. 7 Kilogramm pro Person, der Kartoffelverbrauch befand sich auf ähnlichem Niveau, dagegen wurden an Fleisch und Wurstwaren nicht einmal drei Kilogramm pro Kopf und Monat verbraucht. Dreißig Jahre später – Mitte der 1980er Jahre – war der mo- natliche Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch und Wurstwaren mit 4,6 kg schon we- sentlich höher als der von Brot (ca. 3 kg) und Kartoffeln (knapp 4 kg). Die „Vercholesterinisierung“ der Gesellschaft hatte somit begonnen. Tab. 7: Chiffren zur Entwicklung einiger Alltagsgüter Bereich um 1950 um 2010 Häuserbestand 58.193 (51) 166.910 (06) Wohnungsbestand 113.650 (51) 343.931 (06) Radiobestand 67.700 287.383 Fernseherbewilligungen 0 266.025 (09) Anzahl der Geschirrspüler pro 100 Haushalte 0 73 Anteil der Wohnungen mit Bad oder Dusche in % Wohnungen 15 99,9 Ausgaben für Ernährung in % der ges. Haushaltsausgaben (Arbeitnehmer-HH) 50-60 12,5 Quelle: Zahlen aus Nussbaumer, Neuner, Graphen, 176 ff. und 218 ff. Mit diesen erheblichen Veränderungen begann, wenn man so will, der Aufstieg in eine andere ökonomische und soziale Realität. Ein anderes kleines Detail sei diesbezüglich noch erwähnt. Schon wenige Jahre nach Ende des Krieges dachte der Innsbrucker Gemeinderat an ein damals (noch) utopisch klingendes Ziel: die Ausrichtung von Olympischen Winterspie- len. Dafür wurde bereits im Dezember 1951 einstimmig – allerdings „nach einer lebhaften Debatte“ – ein Nachtragskredit von damals 45.000 (!) Schilling für die 68 Josef Nussbaumer

Vorbereitung der Olympischen Winterspiele 1960 beschlossen.12 Offiziell be- warb man sich dann im Staatsvertragsjahr 1955 um die Ausrichtung der Spiele. Der erste Versuch blieb zwar ohne Erfolg, im zweiten Anlauf wurden die Spiele aber nach Innsbruck vergeben und hier 1964 auch ausgetragen. 1976 fanden die Spiele zum zweiten Mal in Innsbruck statt und 2012 folgten dann noch die erstmals ausgetragenen olympischen Jugendspiele. Versucht man, die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Ver- änderungen, die in den 1950er Jahren vergleichsweise still und leise stattfanden, kurz zusammenzufassen, dann bietet sich das Schlagwort vom „1950er Syn- drom“ auch hier zweifellos an. Gemeint ist damit der Beginn eines Konsummus- ters, das bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur in den USA anzutreffen war. So war in Tirol etwa 1952 ein Kühlschrank – wie es in der Tiroler Tageszeitung vom November 1952 hieß – noch ein „Traum jeder Hausfrau“.13 Von den Ge- schirrspülmaschinen hieß es zur selben Zeit, dass sie jene „praktischen Haus- haltsgeräte, die den amerikanischen [sic!] Hausfrauen ihre Arbeit erleichterten“, seien.14 Implizit schwingt dabei immer mit, dass man damals der festen Meinung war, dass Tiroler Hausfrauen noch lange auf solche Hauhaltserleichterungen à la USA warten müssten. Heute sind all diese ehemaligen US-Träume auch in Tirol so selbstverständlich, dass man darüber gar nicht mehr redet. Fernsehen wurde Anfang der 1950er Jahre in Tiroler Zeitungen noch als „Ti-Wi“ bezeichnet. So heißt es etwa in einem Beitrag in der Tiroler Tageszei- tung vom Oktober 1950 mit der Überschrift: „Ein Tiroler lernt Fernsehen. ‚Ti- Wi’“, dass ein junger Rundfunkmechaniker aus dem Innsbrucker Stadtteil Höt- ting sich nach England begeben habe, um „als erster Tiroler“ an Ort und Stelle diese „große Mode in den Vereinigten Staaten und in England“ zu studieren. Man war damals bei der Tiroler Tageszeitung der Meinung, dass jener Radio- techniker der Zeit um Längen voraus sei, und man sich in Tirol „noch lange mit dem weniger kostspieligen Programm (des Radio) zufrieden geben müsse“.15 Letztlich aber dauerte es in der Tat nur bis zum Staatsvertragsjahr 1955, bis die ersten Fernsehgeräte auch nach Tirol kamen, und spätestens zu Beginn der 1980er Jahre zählte der Fernseher zur Standardausstattung jedes Haushalts.

 12 Vgl. Tiroler Tageszeitung (21. 12. 51) 3. 13 Tiroler Tageszeitung (8. 11. 52) 18. 14 Tiroler Tageszeitung (27. 09. 52) 9. 15 Tiroler Tageszeitung (14. 10. 50) 3. Von der Knappheit zum Wohlstand 69  Solche und ähnliche Beispiele wären noch beliebig und in größerer Zahl anführbar. Sie alle haben eines gemeinsam: in den 1950er Jahren begann sich die ökonomische, soziale und gesellschaftliche Welt auch in Tirol in einer Art und Weise zu ändern, wie sie vorher kaum denkbar war. Heute freilich hat man diese rasante Entwicklung fast vergessen. Es sei nur daran erinnert, dass noch um 1950 eine Tiroler Arbeitnehmerfamilie im Durchschnitt 50 bis 60 % der Haushaltsausgaben alleine für Nahrungs- und Genussmittel ausgeben musste. Für anderen Konsum oder gar Urlaub bleibt bei solchen Zwängen nicht mehr sehr viel übrig. Gerade dies aber änderte sich in der Folge radikal.

4. Eine kurze Conclusio Das Leben in Österreich zu Beginn der 1950er Jahre, wie hier am Beispiel Tirol gezeigt wurde, ist über weite Strecken mit dem Leben anno 2010 kaum mehr vergleichbar. Vieles war damals entweder noch überhaupt nicht vorhanden und viele Güter waren verglichen mit 2010 extreme Mangelware. So gab es um 1955 noch keine Waschmaschine, praktisch noch keinen Kühlschrank, Elektroherde oder Heißwasserspeicher (Boiler) waren noch eine Rarität. 1951 waren erst 15% der Wohnungen in Tirol – also nicht einmal jede sechste – auch nur mit einer Dusche oder einem Bad ausgestattet. War in der unmittelbaren Nachkriegszeit Untergewicht ein zum Teil erheb- licher die Gesundheit gefährdender Faktor (Personen mit einem Untergewicht von 20 bis 30 kg waren keine seltene Erscheinung), so trifft heute vielmehr das Gegenteil zu: Übergewicht und Fettleibigkeit stellen das bei weitem größere Ge- sundheitsrisiko dar. Nie in der langen Geschichte Tirols – und dies gilt sicher auch für die ande- ren österreichischen Bundesländer – hatte sich das Land so schnell und so gra- vierend verändert wie in den letzten sechs Jahrzehnten. Ermöglicht wurde dies durch einen Wirtschaftsboom, der das ganze Land ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erfasst hatte und der in der Folge einige Jahr- zehnte anhalten sollte. Die wirtschaftliche und soziale „Welt“ Tirols vor rund sechs Jahrzehnten ist in vielen Belangen mit heute praktisch nicht mehr ver- gleichbar oder anders formuliert: Zwischen 1950 und 2010 fand in Tirol in vie- len Bereichen ein einmaliger Quantensprung in die Gegenwart statt. Ein Großteil der heute im Lande lebenden Bevölkerung wurde in dieser Zeit „sozialisiert“ und hat im Hinterkopf nur mehr die Erfahrungsmuster dieser Prägungen. Die große Gefahr dabei: Die Jahrzehnte seit 1950 waren KEINE 70 Josef Nussbaumer

„normale“ Periode, ganz im Gegenteil, sie waren in der langen Phase der Wirt- schafts- und Sozialgeschichte eine höchst ungewöhnliche und untypische Perio- de. Zu glauben, dass auch die nächsten Jahrzehnte so weiter gehen würden, ja es noch einen weiteren Wirtschaftsaufstieg geben würde, könnte ein Trugschluss sein. Realistischer wäre es wohl, zu versuchen, zumindest den Status quo zu hal- ten. Vermutlich wird das schwer genug werden. Tabelle 8: Überblick über verschiedene Veränderungen in Tirol 1950 bis 2010 Gegenstandsbereich um 1950 um 2010 Bevölkerung 427.465 (51) 710.048 Gestorbene Säuglinge (im 1. LJ) 396 17 Lebenserwartung Männer (in Jahren) 67,1 (61) 79,1 Lebenserwartung Frauen (in Jahren) 73,1 (61) 84,0 Anzahl der Ärzte (gesamt) 902 3.480 davon: Fachärzte 127 1.806 Zahnärzte 71 456 Berufstätige in der LFW (geschätzt) 104.988 (51) 38.488 Energieverbrauch gesamt in Peta Joule 10 97 bis 100 Verbrauch von elektrischer Energie in GWh 810 6.179 Pkw-Bestand 2.789 342.613 (09) Über den Brenner transportierte Güter in Mio. Tonnen 1,2 43,4 davon auf der Straße 0 28,3 Tourismus: Übernachtungen in Mio. 2,3 43,0 Fluggäste am Innsbrucker Flughafen (in 1.000) 4 (52) 1.030 Fernsehgeräte (Bewilligungen) 0 266.025 (09) Fernsehdichte (Geräte pro 100 HH) 0 98 Eigene Zusammenstellung aus den Tabellen 1-7 und STATISTIK AUSTRIA. Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik Otmar Höll

1. Einleitung Aus der Perspektive zu Mitte der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wird dem aufmerksamen Betrachter nahezu täglich vor Augen geführt, in welch tiefgrei- fender politischer Umgestaltung sich das globale internationale System seit dem Ende des Kalten Kriegs befindet. Österreich ist nun seit etwa 20 Jahren Mitglied der Europäischen Union und damit Teil eines der wohlhabenden, politisch, wirt- schaftlich und gesellschaftlich sicheren, großen geopolitischen Akteure der In- ternationalen Politik. Umso mehr macht es Sinn, bevor im Folgenden vor allem auf die Haltung Österreichs in außen- und sicherheitspolitischen Fragen in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart eingegangen wird, nur einige wenige Augenblicke auch auf jene Ereignisse vor dem Zweiten Weltkrieg zurückzublicken, die als epochale historische Brüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz Europa erschüttert haben, und die, meist aus unterschiedlichen Gründen, für Österreich und seine außen- und sicherheitspoli- tische Performanz bis heute relevant geblieben sind. Relevant insbesondere des- halb, weil bestimmte historische Transformationsprozesse bis heute zum Teil im Identität stiftenden „nationalen Narrativ“ ihre Wirkung teils unbewusst entfal- ten, oder wohl erinnert werden, und so wirksam werden. Zum einen ist dies die politisch andere politische „Gestalt“, aber auch die Erinnerung – inner- und au- ßerhalb – an das alte imperiale Österreich, die schon instabil gewordene Habs- burg-Monarchie und deren global-politische, imperiale Rolle in der Vergangen- heit. Ihr Untergang als multinationales Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Ende des Ersten Weltkriegs machte es zu einer der größten Verlierer- Mächte des beginnenden 20. Jahrhunderts. Als die Republik „Deutsch- Österreich“ 1918 als kleinstaatlicher „Rest“ der Monarchie1 in der Diktion des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau wieder erstand, konnte sich keine der im Land damals politisch wirkenden Kräfte ein Überleben in einer von tiefen Krisen geschüttelten Weltwirtschaft ohne Anschluss an das damalige Deutschland vorstellen. Noch im Februar 1919 hatte der Sozialdemokrat Otto Bauer, damals Leiter des Amtes für Äußeres, dem Deutschen Volksbeauftragen  1 Bei den Friedensverhandlungen im Pariser Vorort St. Germain konstatierte Clemenceau: „L'Autriche, c'est ce qui reste“ – Österreich ist, was übrig bleibt. 72 Otmar Höll den Anschlussgedanken vorgelegt. Aber schon im Friedensvertrag von Versai- lles, den Deutschlands Regierung im Juni 1919 unterzeichnete, wurde von den Siegermächten die „Unabhängigkeit Deutsch-Österreichs“ festgeschrieben. Im Vertrag von St. Germain vom September desselben Jahres für Österreich wurde der Name in „Republik Österreich“ geändert und der Anschlussartikel (Art.2) der vorangehenden österreichischen Verfassung außer Kraft gesetzt. Dennoch waren damit die Anschlussbestrebungen und auch die Zweifel an der Überle- bensfähigkeit Österreichs zumindest in Teilen der politischen Öffentlichkeit noch lange nicht ausgeräumt. Die Außenpolitik der Zwischenkriegszeit, die sich vorrangig mit guten Be- ziehungen zu den Nachbarstaaten begnügte und möglichst rasch die Aufnahme in den Völkerbund anstrebte, der im Dezember 1920 auch tatsächlich erfolgte und damit Österreichs Grenzen garantieren sollte, kann man als eine Art de- fac- to Neutralität oder Nicht-Paktgebundenheit umschreiben. Die dennoch vorhan- denen Unklarheiten betreffend den internationalen Status machten jedoch Öster- reich zum „Spielball der Mächte“, wie das Bundeskanzler Bruno Kreisky einmal sehr treffend charakterisiert hat. Umso verständlicher, dass nach dem verhäng- nisvollen und gewaltsamen Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 und nach weiteren sieben Jahren Krieg das Streben der politischen Parteien und der Be- völkerung im 1945 neu erstandenen Österreich nach politischer Unabhängigkeit, nationaler und wirtschaftlicher Eigenständigkeit und Souveränität umso konse- quenter, und letztendlich im „annus mirabilis“ 1955 erfolgreich umgesetzt wer- den konnte. Zum anderen sind es eben auch diese Erinnerungen, dass Österreich 1938 zwar nicht freiwillig an das nationalsozialistische Deutschland angeschlossen wurde, aber sich nicht wenige Österreicher allzu bald und völlig mit diesem Dritten Deutschen Reich identifizierten. Ja sich auch dann noch loyal zeigten, als deren nationalsozialistische Führung den schrecklichsten Krieg der Ge- schichte der Menschheit begann und Millionen von Juden und andere „minder- wertige“ Menschen der organisierten Ausrottung und Vernichtung überantwor- tete. Beides, die imperiale Vergangenheit und die verhängnisvolle Rolle als Teil des Dritten Reiches und damit Partner eines historisch unvergleichbaren Terror- regimes, wird bis heute von vielen Staaten, Politikern und Menschen im Aus- land nahezu reflexartig, mit „Österreich“ verbunden: einerseits wird damit Res- pekt- und erwartungsvoll die imperiale Vergangenheit und seine damit teils ver- bundene kulturelle Tradition und Leistung verbunden, oder mit Abscheu dann, Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 73  wenn die Vergangenheit vieler ÖsterreicherInnen als Teil des nationalsozialisti- schen Regimes assoziiert wird. Österreich ist, so kann man wohl feststellen, bis zur Gegenwart kein „normaler“ Kleinstaat wie andere hinsichtlich Größe, Wirt- schaftskraft oder anderer Indikatoren vergleichbarer Staaten im Westen oder Norden Europas, sondern ein Kleinstaat mit einer vielschichtigen und mehrdeu- tigen „Vergangenheit“. Und diese „schwierige“ Vergangenheit wirkt auch im Innenverhältnis, zwischen den politischen Parteien oder Lagern, und auch in der politischen Kultur der Gesellschaft bis heute nach2. Aber es gibt auch noch andere, darüber hinausgehende Reminiszenzen der politischen Vergangenheit, die bis zur Gegenwart wirksam sind, wie etwa die austro-faschistische Regierungsphase von 1934-1938, und die am Beginn ste- henden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den paramilitärischen Vereinigungen („Heimwehr“ und „Schutzbund“) der beiden großen politischen „Lager“, dem christlich-sozialen und dem sozialdemokratischen, im Februar 1934. So war zwar die später viel zitierte „Aussöhnung“ zwischen den politi- schen Führungspersönlichkeiten der verfeindeten beiden großen politischen „Lager“, in den in der öffentlichen Erinnerung der Nachkriegszeit nahezu my- thisch überhöhten Lagerstraßen der nationalsozialistischen Konzentrationslager sicherlich ein wesentlicher Grundstein für den späteren sozialen Frieden und für wirtschaftlichen, politischen und sozialen Erfolg Österreichs in den Jahren von 1950 bis heute. Diese historische „Aussöhnung“ hat aber an der Basis von SPÖ und ÖVP bei weitem nicht jene Wirkung gezeitigt, wie dies wohl tatsächlich zumindest in einigen Fällen auf die Parteieliten „der ersten Stunde“ zutraf. Mit anderen bin auch ich im Übrigen der Meinung, dass bis heute auch das Bürgerkriegsjahr 1934 und das damit verbundene tiefe Misstrauen, das auf bei- den Seiten nach dem Krieg nicht glaubhaft bekämpft wurde, nicht wirklich ver- gessen, und die Wunden, die dieses Ereignis geschlagen haben, nicht vollständig geheilt und nicht vergessen sind. Diese „Schatten der Vergangenheit“3 haben die Entwicklung der Zweiten Republik nahezu ebenso geprägt wie die zweifellos beachtlichen Erfolge im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich. Und auch bei vielen Menschen im nahen oder fernen Ausland sind jene Schatten noch lange nicht vergessen, sind viele Wunden (noch) nicht verheilt, dies gilt  2 Zur politischen Kultur Österreichs und den „Legacies of the past“ vgl. Schowanec, Gerald (2008) Politische Kultur und Demokratie in Österreich nach 1945,Diplomarbeit an der Universität Wien. 3 Vgl dazu Otmar Höll, Die langen Schatten der Vergangenheit. In: International, 3-4/2005, S.16-21. 74 Otmar Höll insbesondere für Personen aus der vor dem Zeiten Weltkrieg großen jüdisch- österreichischen Minderheit.

2. Staatsvertrag und Wirtschaftswunder Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das einhellige und vorrangige Ziel der beiden Großparteien ÖVP und SPÖ, die bis 1966 wiederholt gemeinsam die Regierung stellten4, die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Des- halb wurde auch das Jahr 1955, das „annus mirabilis“ des Staatsvertrags (vom 15. Mai) und des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutrali- tät (vom 26. Oktober) zum Symbol für einen geglückten Start in eine bessere Zukunft. In beiden Gesetzen wurden die „dauernde Behauptung der Unabhän- gigkeit nach außen“, die „Unverletzlichkeit des Gebietes“ und die „demokrati- sche Staatsform“ – und damit die Zugehörigkeit zu den westlichen Demokratien – als Staatsziele und als Grundlage der künftigen Außenpolitik festgeschrieben. Die relativ engen Grenzen ihres Handlungsspielraums, die Kleinstaaten generell in ihrem wirtschaftlichen und politischen Umfeld gesetzt sind, und die sich für Österreich als faktische wirtschaftliche Abhängigkeit von einigen wenigen Nachbarstaaten und aufgrund seiner spezifischen geopolitischen Lage gleichsam zwingend ergaben, wurden bald durch eine aktiv interpretierte Neutralitätspoli- tik, die sich nicht, wie im Moskauer Memorandum festgehalten, an das „Schweizer Muster“ hielt, sondern eher dem schwedischen Modell nachgebaut wurde, diese gemeinhin engen kleinstaatlichen Grenzen wurden durch eine akti- ve Außenpolitik schon bald erheblich erweitert. Bereits ein Jahr später konnte oder musste Österreich seine „neutrale“ Eigenständigkeit und Unabhängigkeit im Zuge des Aufstandes der ungarischen Bevölkerung gegen die kommunisti- sche Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht unter Beweis stellen. Dieser Status der immerwährenden Neutralität, auch wenn man aus heuti- ger Sicht berechtigt von einer gewissen „Mythologisierung“ seiner Funktion sprechen kann5, bildete zumindest in der Perzeption der österreichischen Bevöl- kerung die politische Grundlage für wirtschaftlichen Aufschwung, sozialen

 4 Die „Große Koalition“ verfügte in dieser Zeit über etwa 90% der Stimmen, die ziemlich gleichmäßig zwischen ÖVP und SPÖ verteilt waren. Proporz und Lagerdenken im öffen- tlichen und in verwandten Bereichen war das Ergebnis dieser Mehrheitsverhältnisse. 5 So der österreichische Journalist Andreas Unterberger in der Tageszeitung Die Presse vom 27.01.1996, S.3. Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 75  Frieden und schließlich von „nationaler“ Identität6. Österreich konnte aufgrund seiner aktiv verstandenen Neutralität, die sich im Angebot „Guter Dienste“ in internationalen Konfliktfällen oder als Ort der Begegnung für weltpolitisch rele- vante Treffen zu fungieren und tatsächlich v.a. in den 1960er und 1970er Jahren einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Friedensordnung leisten. Einerseits fungierte es gemeinsam mit Jugoslawien und der Schweiz als Puffer zwischen den Militärallianzen von NATO und Warschauer Pakt, anderseits als Brücke zwischen Ost und West. Als kleiner Staat, der es aber verstand, seine guten Dienste durch geschickte Konferenzdiplomatie oder als Standort für internatio- nale Organisationen zur Verfügung zu stellen, oder durch internationale lancier- te Initiativen sich als „Mediator“ für die Lösung internationaler Konflikte anzu- bieten. Damit gewann Österreich rasch an innerer Stabilität und v.a. an interna- tionaler Reputation. Diese Politik nach außen ruhte auf drei „Säulen“, einer ak- tiven Außenwirtschafts-, einer sehr erfolgreichen Auslandskulturpolitik und ei- ner aktiven Rolle v.a. in Menschenrechtsfragen und im Nord-Süd-Konflikt. Zu- sammen haben diese internationalen Maßnahmen Österreich in einer Zeit der wechselnden Spannungen zwischen Ost und West ein unverkennbares Profil in der internationalen Staatengemeinschaft verschafft. Gleichzeitig lag diese welt- offene Politik im wohlverstandenen Eigeninteresse Österreichs, da ein Klein- staat stets an einem Mehr an Sicherheit, an einer allgemein hohen Wertschät- zung internationaler Normen in der Staatengemeinschaft und letztlich an Stabili- tät und Konfliktfreiheit interessiert sein muss. Im kommenden Jahr 2015 blickt Österreich nicht nur auf siebzig Jahre Kriegsende, sechzig Jahre Staatsvertrag, Neutralität und UN-Mitgliedschaft so- wie zwanzig Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union zurück, sondern aus heutiger Sicht wird auch deutlich, dass in den letzten 50 Jahren kaum ein österreichischer Politiker der 2. Republik die Außen- und Sicherheitspolitik und die internationale Stellung Österreichs stärker geprägt hat als Bruno Kreisky (1911 bis 1990). Auch wenn aufgrund der gegenwärtig tiefgreifenden und ra- schen Veränderungen in der internationale Politik diese oft beschriebene „Ära Kreisky“ immer mehr zu verblassen scheint, ist die Behauptung nicht übertrie- ben, dass Kreisky vom Ende der 50er Jahre bis 1983, zuerst als Außenminister, dann als führender Oppositionspolitiker und ab 1970 als Bundeskanzler ein her- ausragender Repräsentant Österreichs in der Welt gewesen ist, der bei allen Sei-  6 Dazu vgl. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaft- lich-politische Prozesse.In: Studien zu Politik und Verwaltung 4, Wien/Köln/Graz 1996. 76 Otmar Höll ten als hochgeschätzter Gesprächspartner willkommen war, und der aber auch als Analytiker und Vordenker der Weltpolitik bis heute unvergessen geblieben ist. Österreich genoss durch ihn in dieser Zeit, wie es der US-amerikanische Au- ßenminister Henry Kissinger einmal treffend ausdrückte, ein größeres Ansehen in der Welt, als seiner realen nationalen Größe entsprach. Gleichzeitig wird aus heutiger Sicht aber auch deutlich, dass Österreich längst in eine neue historische Epoche eingetreten ist, in der sich nicht nur die äußeren, die europäischen und die weltpolitischen Rahmenbedingungen grund- legend gewandelt haben, sondern in dem auch die Innenpolitik und ihre Ent- scheidungsstrukturen tief greifender verändert wurden bzw. werden als in den Jahrzehnten davor. Und gleiches gilt für die Internationale Politik seit dem Ende der Bipolarität. So sind für die Außenpolitik in Österreich längst nicht nur einige wenige Bundesorgane zuständig, staatliche Außenpolitik wird heute neben den grenzüberschreitenden Kontakten aller Fachministerien auch durch auswärtige Beziehungen auf substaatlicher Ebene (Bundesländer, Städte), aber auch durch privatwirtschaftliche und nichtstaatliche Institutionen (NGOs, Parteien, Kirchen, Forschungsinstitute, etc.) ergänzt7.

3. Zeitliche Periodisierung der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik Die österreichische Außenpolitik der Zweiten Republik lässt sich, nach Kriterien der differenzierten politischen Entscheidungsfindung und -verantwortung unter- teilt, ohne große Probleme in sechs Phasen unterteilen. Die erste, um zwei Jahre erweiterte Phase bildet die Zeit der „Großen Koalition“ von 1955 bis 1966/68, die zweite, geprägt von der ÖVP-Alleinregierung von 1966/68 bis 1970, die dritte Phase ist bestimmt durch die mehr als zehn Jahre dauernde Phase der SPÖ-Alleinregierung von 1970 bis 1983/84, es folgten die Jahre bis zur Überrei- chung des Ansuchens um die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft im Juli 1989, die nächste Periode endet mit der definitiven Mitgliedschaft im Jahre 1995, und die letzte, die sechste Periode, welche bis heute andauert, um- fasst die beiden ersten Dekaden als Mitglied der Europäischen Union. Diese zwei Dekaden könnten ebenfalls unterteilt werden, und zwar in die Jahre 1995- 1999, in der wiederum eine – nun mandatsmäßig viel kleinere – „Große Koaliti- on“ (von SPÖ und ÖVP) und eine Periode der teils heftigen Auseinandersetzung  7 Vgl. zum umfassenderen Verständnis heutiger Außen- und Sicherheitspolitik (u.a.) Ernst Otto Czempiel, Kluge Macht: Außenpolitik für das 21. Jahrhundert (München 1999). Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 77  um Neutralität und/oder NATO-Mitgliedschaft im Zentrum der Debatte standen. Diese Phase wurde relativ abrupt durch die international in der Kritik stehenden ÖVP-FPÖ- (2000 bis 2006) bzw. BZÖ-Regierungen (bis 2008) abgelöst, und seit diesem Jahr bis heute wird die Regierung wieder von SPÖ und ÖVP, unter sozialdemokratischer Führung, gestellt. In den Jahren von 1955 bis 1966/68 waren die Ziele der damaligen Großen Koalition von ÖVP und SPÖ insbesondere auf die Anerkennung Österreichs als souveräner Staat durch die internationale Staatengemeinschaft gerichtet. Wäh- rend Österreich bereits vor 1955 einigen wichtigen internationalen Organisatio- nen beigetreten war, erfolgte die Aufnahme in die UNO, die schon seit 1947 an- gestrebt wurde, erst im Dezember 1955. Anders als die Schweiz, die sich in der Frage der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen viel zurückhaltender verhielt8, trat Österreich auch bereits 1956 dem Europarat und gleichzeitig auch der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Es war auch ein Vorreiter so- wohl bei der Gründung der EFTA 1960, als auch in den folgenden 1960er Jah- ren als Aspirant einer Annäherung an die damaligen EGn. In dieser Zeit wurden Verhandlungen um eine Assoziierung mit der EWG begonnen, die vorerst zwar nicht erfolgreich verliefen, Österreich war aber dann auch aktiv an den erfolg- reichen Bemühungen um den Abschluss von Freihandelsabkommen zwischen den „Rest-EFTA-Staaten“ und den Europäischen Gemeinschaften (EGn) im Jahr 1972 dabei. Die Außenpolitik war in dieser Phase weitgehend vom – schwieri- gen – Konsens der Parteien, insbesondere SPÖ und ÖVP, getragen, in dem aber gewöhnlich auch die damalige FPÖ meist eingebunden war. Dieser Konsens wurde in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung (1966-1970) zwar nicht mehr in allen Sachfragen erzielt. So wurde etwa eine Annäherung unter dem Status der Vollmitgliedschaft an die EGn damals, wie auch später in den 1980er Jahren in den beiden größeren Parteien durchaus unterschiedlich ge- sehen, allerdings wurden Meinungsverschiedenheiten typischer Weise nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen, da die Außenpolitik aus der öffentlichen Ausei- nandersetzung herausgehalten werden sollte. Dies verhinderte einerseits den Eindruck unterschiedlicher Standpunkte in der medialen Öffentlichkeit, anderer- seits blieben aber Wissen, Interesse, Verständnis und Diskussion über Außenpo- litik in der österreichischen Bevölkerung weitgehend unterbelichtet. Lediglich über den Status der „immerwährenden Neutralität“ über den „jedes Kind“ be-  8 So trat die Schweiz aus neutralitätspolitischen Bedenken erst 2002 den Vereinten Nationen bei. 78 Otmar Höll reits in der Schule hinreichend informiert wurde – es war über lange Zeit die einzige Sachinformation, die an österreichischen Schulen als „Politische Bil- dung“, oder besser „Staatsbürgerkunde“ vermittelt wurde – herrscht bis heute ein überwiegend positiver Konsens in der Bevölkerung9. Zu neuen Weichenstellungen in dieser Zeit kam es dann ab 1968, insofern eine weltoffenere, die aktive Neutralitätskonzeption der folgenden „Ära Kreis- ky“ bereits vorweg nehmenden Neukonzeption der Außenpolitik langsam be- gonnen wurde. Andererseits wurde das nicht allzu klare Bild, das die Außenpoli- tik der ÖVP-Alleinregierung in der „zweiten großen Herausforderung an die Neutralität“ (nach dem „Ungarnaufstand“ von 1956), nämlich der Einmarsch der Warschau-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei im Jahr des sogenannten Pra- ger Frühlings1968 vermittelte, von der Opposition, bestehend aus SPÖ und FPÖ, heftig kritisiert. Die Stellung des „neutralen Österreich“ in Europa war aber bereits recht solide etabliert. Die dritte Phase der Außenpolitik, die so genannte „Ära Kreisky“ wurde eben von der Persönlichkeit des damaligen Bundeskanzlers in einer Art domi- niert, die einerseits auf große Zustimmung im In- und Ausland, aber doch zu- nehmend auf innerösterreichischen politischen Widerspruch stieß. Parteilose Außenminister, durchaus mit Weitblick und mit großer Loyalität gegenüber Kreisky selbst administrierten eine Außenpolitik, die in wichtigen Teilen von Kreisky in den großen Zügen konzipiert worden war. So wurde in dieser Periode (1972) das Freihandelsabkommen mit den EGn im gewerblich-industriellen Be- reich abgeschlossen, da eine Vollmitgliedschaft damals aus neutralitätsrechtli- chen wie neutralitätspolitischen Gründen nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden konnte10. Die, nun mit dem Markenzeichen „aktive Außen- und Neutra- litätspolitik“ bezeichnete Politik der Bundesregierung setzte deutliche Markie- rungen in der West-Ostpolitik, indem sie sehr früh das von der Sowjetunion for- cierte europäische Projekt einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) unterstützte, welche später in Form einer Konferenz-Serie die Grundla- ge für den friedlichen Übergang von der Ost-West-Konfrontation bis hin zur Charter von Paris vom November 1990 bildete. In der Charta bekannten sich alle europäischen Staaten, einschließlich der damals noch bestehenden Sowjet- union, den USA und Kanada zu Demokratie und freier Marktwirtschaft und so-

 9 Auch noch gegenwärtig befürworten mehr als zwei Drittel der österreichischen Bevölker- ung den neutralen Status. 10 Vgl. dazu Paul Luif: On the Road to Brussels (Wien1995). Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 79  mit war das gewaltlose Ende des Kalten Kriegs besiegelt worden. Diese Ära war auch gekennzeichnet durch ein Zurückstellen der militärischen Komponente in der Außen- und Sicherheitspolitik. Im Sinne der damaligen Bundesregierung schien die Sicherheit eher durch eine aktive und erfolgreiche Außenpolitik be- gründet zu sein. Es erfolgte auch eine deutliche Hinwendung zu den Entwick- lungsländern, nicht zuletzt im Rahmen der Vereinten Nationen, die dann bald darauf Österreich bei der erstmaligen Bewerbung um einen der Sitze eines nicht ständigen Mitglieds im Sicherheitsrat der UNO und schließlich auch die Kandi- datur des ehemaligen Außenministers der ÖVP-Alleinregierung Kurt Wald- heims zum UN-Generalsekretär unterstützten, und dadurch beide Kandidaturen erst ermöglichten11. Oppositionelle Kritik an dieser überaus erfolgreichen und weitsichtigen Außen- und Sicherheitspolitik wurde im Lauf der 1970er Jahre v.a. auch hin- sichtlich der von Bruno Kreisky sehr persönlich verantworteten Nahostpolitik und seinem aktiven Engagement im Rahmen der Sozialistischen Internationale, gemeinsam mit Willy Brandt und Olav Palme geäußert. Erstmals wurden von Seiten der ÖVP und in der Folge auch durch die SPÖ im Herbst 1978 unter- schiedliche außenpolitische Grundsatzpapiere eingebracht, in der unterschiedli- che Prioritätensetzungen deutlich wurden. Während im ÖVP-Papier die Prioritä- ten in „konzentrischen Kreisen“ gezeichnet wurden, von der Politik der guten Nachbarschaft, zur Europapolitik und dann zur Rolle der UNO (und der Dritten Welt), stellte die SPÖ ihre Prioritäten eher von der globalen Politik her gesehen nach innen dar: Der Schwerpunkt der SPÖ-Vorlage war stärker auf das aktive Engagement in globalen Fragen gelegt, Europa- und Nachbarschaftspolitik ran- gierten erst danach. Ein auf dem parlamentarischen Weg ausgearbeitetes ge- meinsames Grundsatzpapier konnte in der Folge wegen der zu großen ideolo- gisch-politischen Differenzen nicht beschlossen werden. Auch der bereits 1976 eingerichtete Rat für auswärtige Angelegenheiten konnte seine ihm zugedachte Funktion, zum Konsens zwischen der Regierung und der Opposition wieder zu- rück zu kehren, nicht erfolgreich erfüllen. Aber wenn auch die innenpolitische Legitimationsbasis der Außenpolitik der „Ära Kreisky“ zunehmend schmäler geworden war, ist die bedeutsame Außenwirkung dieser Politik bis heute unbe- stritten, in so fern das prononcierte Auftreten des damaligen Bundeskanzlers die

 11 Siehe Silvia Michal-Misak/Fanz Quendler, Österreich in internationalen Organisationen. In: Politik in Österreich. Das Handbuch (Wien 2006), S. 905-924, S. 913. 80 Otmar Höll

Reputation und weltpolitische Rolle Österreichs ein gutes Stück weit über seine reale Größe hinaus hob. Nach dem Ende der SPÖ-Alleinregierung12 und schon während der folgen- den mehr als dreijährigen Koalitionsregierung von SPÖ und FPÖ erfolgte eine langsame aber doch erkennbare Hinwendung der Außenpolitik einerseits ver- stärkt auf (West-)Europa, eine wiederum stärkere Betonung der militärischen Komponente der Neutralität und ein verstärkter Fokus auf die engere, „kulturel- le“ Nachbarschaft Österreichs, womit die Länder der ehemaligen Habsburg- Monarchie gemeint war. Es erfolgte also der Rückgriff auf eine mehr regional ausgerichtete als globale Außenpolitik. Die von der ÖVP damals seit längerem eingeforderte Verstärkung einer an den Europa, den „Eigeninteressen“, an „Be- standsicherung“ und „natürlicher Selbstbescheidung“ (so der damalige ÖVP- Parteichef Alois Mock) orientierten Politik trat verstärkt in den Mittelpunkt der Außenpolitik. Der Wechsel im Außenamt von Peter Jankowitsch (SPÖ-1986) zu Alois Mock (ÖVP 1987-1995), der im Dezember 1986 erfolgte, wurde daher, so einige Kommentatoren, nicht mehr als Wende, sondern als „ein Stabwechsel“ gesehen, auch wenn dieser fraktionelle Wechsel von Bruno Kreisky und vielen anderen Sozialdemokraten als „nationale Katastrophe“ empfunden wurde. Wirtschaftliche Strukturkrisen, sinkende Wachstumsraten und steigende Arbeitslosigkeit setzten dem bis dahin europaweit erfolgsverwöhntem wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen „Modell Österreich“ der 1970er Jahre erheb- lich zu. Österreich befand sich seit der 2. Hälfte der 1980er Jahre auf der „Kriechspur Europas“ (Erwin Lanc, SPÖ), und so wurde ein möglichst rascher Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft bereits nach wenigen Monaten der SPÖ- ÖVP-Regierung unter Bundeskanzler Franz Vranitzky zu einer Art „Allheilmit- tel für alle wirtschaftlichen und politischen Übel“ (NZZ vom 31.8.1988). In der gemeinsamen Regierungserklärung vom Jänner 1987 von SPÖ und ÖVP wurden in der Außenpolitik „auf bewährte Grundlagen“, das heißt auf Prioritäten der Nachbarschaftspolitik, auf das europäische Umfeld, besonders auf die Stärkung der Beziehungen zu den EGn, der KSZE und auf Abrüstung und Entspannung in Europa zurück gegriffen. Auf Drängen v.a. von Seiten der Vereinigung Öster- reichischer Industrieller (VÖI) wurde schließlich im Frühsommer 1989 – also

 12 Nachdem bei den Nationalratswahlen die SPÖ die absolute Stimmenmehrheit nicht mehr erreichen konnte (sie lag bei 47,7%), trat Bruno Kreisky als Bundekanzler zurück und übergab die Regierungsführung an Fred Sinowatz, der eine „klein“ Koalition mit der da- maligen FPÖ Norbert Stegers (bis 1986) einging.. Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 81  noch vor dem tatsächlich erfolgten Ende des Kalten Krieges, und vor den ande- ren neutralen Staaten und Norwegen – das Beitrittsansuchen an die EGn an den damaligen französischen Ratsvorsitz überreicht. In diesem Brief, in dem noch auf die positive Rolle der Neutralität für die europäische Friedensordnung ver- wiesen wurde und darauf, dass Österreich an der immerwährenden Neutralität auch als EU-Mitglied festhalten wolle – im Vertrag mit der EU vom Jahr 1994 unterblieb wird dann jede Erwähnung der Neutralität – bekennt sich Österreich zur Übernahme aller rechte und Pflichten eines Vollmitglieds. Die Phase ab etwa Mitte der 1980er Jahre war zudem von zwei strukturell wichtigen Ereignissen geprägt, die schließlich Symbol und Ausdruck von tiefer Verunsicherung bzw. einer Image- und Identitätskrise Österreichs nach außen wurden. Einerseits betraf dies die schon erwähnten wirtschaftlichen Schwierig- keiten, die u.a. vom Niedergang großer Teile der Verstaatlichten Industrie und der SPÖ-nahen Handelskette „Konsum“, nebst einigen wirtschaftspolitischen Skandalen (diese betrafen die Weinproduktin, illegale Waffenexporte, die „Re- der-Affäre“) begleitet waren. Andererseits löste die international geführte De- batte um die Kriegsvergangenheit des damaligen Bundespräsident Kurt Wald- heim, insbesondere die Verhängung eines Einreiseverbots in die USA, ernsthafte Beeinträchtigungen des Handlungsspielraums der österreichischen Außenpolitik aus. Die „Schatten der Vergangenheit“ hatten einmal mehr Österreich, Identität und Selbstverständnis der Österreicher, und nicht zuletzt das Bild Österreichs im Ausland „eingeholt“ und nachhaltig beschädigt. Man hatte als Österreicher er- wartet, als ein vollwertiges, akzeptiertes und willkommenes Mitglied in der Ge- meinschaft westeuropäischer Staaten gesehen zu werden. Plötzlich waren aber selbst die österreichischen Vertreter bei den Verhandlungen mit der EG/EU zum Teil mit offen gezeigtem Misstrauen, ja mit Ablehnung konfrontiert. Bundes- kanzler Franz Vranitzky hat als erster österreichischer Politiker und nach einer Verspätung eines halben Jahrhunderts (sic!) sich mit klaren Stellungnahmen zur Rolle Österreichs und Verantwortung vieler Österreicher in der Zeit des An- schlusses an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr1991 im Österreichi- schen Parlament und 1993 an der israelischen Hebrew Universität die histori- sche Verantwortung für vergangenes Verbrechen angesprochen und damit eine wichtige, längst fällige Handlung gegenüber den Opfern des Nationalsozialis- mus in Österreich und drüber hinaus gesetzt. Bundespräsident Thomas Klestil folgte ihm ein Jahr darauf in der israelischen Knesset, erst Jahre später sind wei- 82 Otmar Höll tere, längst überfällige Maßnahmen der finanziellen Wiedergutmachung für Op- fer des Nationalsozialismus eingeleitet worden13. Der zweite Schwerpunkt der außenpolitischen Maßnahmen Österreichs in den 1990 er Jahren lag bei den tiefgreifenden Veränderungsprozessen in Ost- und Südosteuropa. Während die österreichische Wirtschaft rasch und aktiv die Chancen nutzten, die sich aus der politisch-wirtschaftlichen Öffnung dieser Länder ergaben und die Verflechtung mit den Transitionsstaaten von Jahr zu Jahr zunahm – Einnahmenverluste im Wirtschaftsverkehr mit dem durch „Wie- dervereinigung“ wirtschaftlich über die Maßen geforderten Deutschland konnten auf diesem Wege kompensiert werden – war die Außen- und Sicherheitspolitik von BMfaA und BMLV besonders mit der Krise in Jugoslawien gefordert. Au- ßenminister Alois Mock, der sich am Beginn seiner Amtszeit explizit von der „aktionistischen Politik“ Bruno Kreisky’s distanziert hatte („realistische Neutra- litätspolitik“), näherte sich in seinem Wunsch, Anwalt der bedrängten Völker Jugoslawiens zu sein, geradezu dem interventionistischen Stil Kreisky’s an, auch wenn seine Hoffnungen, eine möglichst rasche staatliche Anerkennung der abspaltungswilligen Republiken durch die internationale Staatengemeinschaft würden Kampfhandlungen unmöglich machen, sich offensichtlich nicht erfüll- te14. Die österreichische Bevölkerung hat sich in diesem blutigen Konflikt, den in Form und Ausmaß in Europa niemand mehr für möglich gehalten hatte, mit direkter Hilfe an die Zivilbevölkerung und Unterstützung von Flüchtlingen ein- mal mehr ihre Bereitschaft zur Solidarität über die Grenzen hinweg bewiesen.

4. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union Nachdem sich im Juni 1994 Zweidrittel der österreichischen Bevölkerung für die Mitgliedschaft ausgesprochen haben, ist Österreich seit Jänner 1995 Mitglied der Europäischen Union. Damit war für die österreichische Außenpolitik die Pe- riode der Nachkriegszeit endgültig abgeschlossen und ein neues Kapitel öster- reichischer (außen-)sicherheitspolitischer Geschichte hatte begonnen. Österreich

 13 Vgl das Restitutionsgesetz aus dem Jahr 1998 (novelliert 2009), mit dem wertvolle Kun- stgegenstände, die in der nationalsozialistischen Zeit entzogen wurden, relativ formlos und fair restituiert werden. Zuvor waren bereits in sieben Gesetzen aus den Jahren 1946, 1947 und 1949 gewisse Rückstellungsansprüche jüdischer Bürger erfüllt worden. 14 Zur Würdigung der Rolle von Alois Mock als Außenminister vgl. etwa eine Diplomarbeit an der Universität Wien, erarbeitet von Magdalena Brottrager vom Jahr 2012, „Austrian foreign policy under Alois Mock“. Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 83  hat als Mitglied eines – in vielen Belangen nur potentiellen - „global Players“15 seinen Handlungsspielraum und seiner internationale Bedeutung erheblich er- weitern können. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, dass durch die Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, so sehr diese auch noch nach dem Reformvertrag von Lissabon 2009 unvollendet geblieben ist, eine vorrangig auf „eigenständige nationale“ Interessen hin ausgerichtete Außenpolitik mehr und mehr an Gestalt- und Durchsetzbarkeit verliert. Öster- reichs Interessenvertretung wird zunehmend zur Durchsetzung nationaler Inte- ressen im Prozess der internen EU-Entscheidungsfindung, und insofern stehen Lobbying und Koalitionsbildung mit anderen Mitgliedstaaten im Vordergrund, und „nationale Alleingänge“ zumal eines Kleinstaates sind in der EU nicht er- wünscht. Andererseits benötigt Österreich gerade als kleines Mitglied auch ein eigenständiges, möglichst unverwechselbares Profil in außenpolitischen Fragen. Dass dieses Profil durch das was an „differentieller“ (Rest-)Neutralität übrig ge- blieben ist16, nicht mehr ausreicht, liegt auf der Hand: zu ambivalent und wider- sprüchlich wurden die unterschiedlichen Aussagen österreichischer Politiker al- ler Parteien in den letzten Jahrzehnten im Ausland wahrgenommen, als dass Ös- terreich als „Neutraler“ v.a. im Westen noch ausreichende Glaubwürdigkeit ge- nießen könnte. Aber in vielen Teilen der restlichen Welt, nicht zuletzt in den Ländern der Dritten Welt, scheint diese, für westliche Experten mehr als wider- sprüchliche Mischung aus „Neutralität“ und EU-Mitgliedschaft plus Kleinstaat- lichkeit eine durchaus attraktive Konstellation zu sein, das Land oder dessen Vertreter im Unionsrahmen für Vermittlung und Mediation nützen zu wollen. Die seit dem Beginn der Mitgliedschaft vergangenen knapp zwanzig Jahre sind durch politische Hochs und Tiefs geprägt, die in Österreich selbst deutliche Spuren hinterlassen haben. Zu den Positiva zählt sicherlich u.a. die Tatsache, dass österreichische Beamte, Experten und Politiker in den vergangenen Jahren wichtige Positionen und Funktionen (v.a. auf dem Balkan als Mitglieder Brüsse- ler Institutionen, etc.) übernommen haben und sehr beachtliche Leistungen er-

 15Zum globalen Akteursstatus der Union vgl. u.a. die Arbeiten von Andrew Moravcsik. The Choice for Europe: A Guide to the Tombs and and Temples of Ancient Luxor: Social Pur- pose and State Power from Messina to Maastricht (New York 1998), Parag Khanna. The Second World: How Emerging Powers Are Redefining Global Competition in the Twenty- first Century (New York 2008). 16 Zum besseren Verständnis der inhaltlichen Veränderungen des Neutralitätsstatus des Landes und zur wiederholt ad acta gelegten innenpolitischen Debatte über die Beibe- haltung der Neutralität vgl. den Artikel von Manfred Rotter aus dem Jahr 1991. 84 Otmar Höll bracht haben. So kommt es, dass Österreich ein weithin akzeptiertes Mitglied (und Nettozahler) der Union geworden ist. Weiters zählt zu den positiven Punk- ten die schon nach drei Jahren Mitgliedschaft anstehende Absolvierung der Prä- sidentschaft im Rat, die Österreich doch vorrangig Wertschätzung einbrachte, und auch die Absovierung der zweiten Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 2006 ist sehr erfolgreich verlaufen. Jedoch in vielen anderen Bereichen ist „Österreich noch nicht in Brüssel angekommen“, wie der vormalige Leiter des Stabilitäts- paktes für den Balkan, Erhard Busek, des Öfteren dies recht deutlich ausdrückte. Wenig Freude – wenn auch nachträglich einiges an auswärtiger Betroffenheit und „schlechtem Gewissen“ bei den vierzehn anderen Mitgliedern – haben die „Maßnahmen der IVX“ restlichen EU-Staaten gegen die Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ im Februar 2000 gebracht. Auch wenn man, gleichsam ex post, feststellen kann, dass die Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider aus heutiger Sicht zum damals bestmöglichen Ergebnis geführt hat – vermutlich hätte jede andere Regierungskonstellation in dieser Lage über kurz oder lang einen FPÖ-Bundeskanzler ermöglicht – waren die Begleitumstände sowohl im inneren als auch im äußeren nur wenig erfreulich und imagebildend. Bis heute halten allerdings die juristischen Nachwirkungen dieser Regierungen die öster- reichische Strafgerichtsbarkeit noch immer in Atem. Ein weiteres negatives Element im politischen Kontext der EU, in dem österreichischerseits „Lernpro- zesse“ notwendig wären, ist die Dimension der noch ungenügenden EU-weiten Vernetzung, des „Coalition-building“, nicht nur im regionalen oder „kleinstaat- lichen“ Kontext, sondern Interessen- und Anlass bezogen. Eine auf solche Weise verbesserte Interessenwahrnehmung innerhalb der Union würde aber das sinn- volle eigenständige Engagement Österreichs im regionalen Kontext (Südosteu- ropa, Donauraum, Naher Osten, etc.) aber auf jeden Fall nicht unnütz oder unnö- tig machen. Österreich hat in den letzten Jahrzehnten wiederholt den Eindruck erweckt, es agiere wie ein großer Staat, in dem es die oft kontrovers verlaufen- den innenpolitischen Debatten über die Außenpolitik stellte (Stichworte: „Stra- tegische Partnerschaft“, Benes-Dekrete, aber auch in der – von mir so wichtig gehaltenen Anti-Atomkraft-Politik) und nicht ausreichend unter Priorität außen- politischer Überlegungen entscheidet. Als Kleinstaat – mit all seinen historischen und aktuellen Singularitäten – ist Österreich aber wie jeder andere Kleinstaat v.a. angewiesen, längerfristig und verlässlich klare, eindeutige Botschaften nach außen, auch in die EU, zu proji- zieren. Außenpolitik bedarf – natürlich – der innenpolitisch pointierten und auch Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 85  leidenschaftlich geführten breiten Auseinandersetzung über Werte, Ziele und Schwerpunkte; sie braucht aber immer wieder auch nach dem Ende der Debatte den verbindlichen Konsens, das gemeinsame und abgestimmte Vorgehen dann, wenn es gilt, den erzielten Konsens zumindest in grundsätzlichen Fragen auch im internationalen Feld umzusetzen. Hier fehlt es seit längerer Zeit am ausrei- chenden politischen Willen einiger Beteiligter, hier bedarf es des Aufeinander- zugehens, des Austausches und des Kompromisses, mehr denn je. Eine beson- nene, verbindliche und weit über die österreichischen Grenzen hinaus geschätz- te Außen- und Sicherheitspolitik wäre ein angemessener Beitrag eines zwar kleinen aber relativ wohlhabenden und im Verlauf der Zweiten Republik erfolg- reichen Landes, das der internationalen Politik ein wenig von dem zurückgeben könnte, was es in den letzten sechs Jahrzehnten an Respekt, Zuwendung und Wertschätzung erhalten hat.

5. Perspektiven unter den veränderten internationalen Rahmen- bedingungen des 21. Jahrhunderts Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die zentralen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen des internationalen Systems rasch und tiefgrei- fend verändert. Der Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion und Osteuropa hat nicht nur die „real existierende“ kommunistisch-sozialistische gesellschaftliche Alternative zu Liberalismus und freier Marktwirtschaft, son- dern auch „den Staat“ im allgemeinen Verständnis als Motor gesellschaftlicher Entwicklung tief diskreditiert; diese Zäsur hat letztlich auch einen weiteren An- stoß zur Beschleunigung der Globalisierung gegeben, weil der Weltmarkt der frühen 1990er Jahre durch diese spontane Erweiterung um Hunderte Millionen von Konsumenten und Produzenten in kürzester Zeit eine enorme Beschleuni- gung erfahren hat17. Der Zerfall der UdSSR und des früheren Jugoslawien, die Auflösung des Warschauer Pakts sowie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, der rasante wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas und anderer „upcoming Powers“ markieren die Eckpfeiler dieser wohl folgenreichsten Struk- turveränderungen des internationalen Systems seit Ende des Zweiten Welt- kriegs, ja seit hundert Jahren. Im Gefolge dieser tektonischen Veränderungen, die auch eine geopolitische Machtverschiebung von West nach Ost bedeuten, sind auch zahlreiche Staaten in Europa neu entstanden, traditionelle Bedro-

 17 Dazu kamen in etwa dieser Zeit auch noch China und Indien am Weltmarkt „an“. 86 Otmar Höll hungsszenarien und -bilder sowie Bedrohungsperzeptionen wurden grundlegend und nachhaltig verändert. Neue Sicherheitsstrukturen sind entweder im Entste- hen oder bereits neu entwickelt worden, und traditionelle theoretische wie prak- tische Orientierungsrahmen und ideologische Erklärungsmodelle wurden seither obsolet18. Das Ende des Kalten Krieges hatte bereits in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einem grundlegenden Überdenken konkreter Gefährdungs- und Bedrohungsszenarien Anlass gegeben und auch zu dramatisch veränderten theo- retischen Debatten. V.a. aber auch zu veränderten außen- und sicherheitspoliti- schen Einschätzungen und Maßnahmen von Staaten und Bündnissen geführt19. Gleichzeitig haben Globalisierung und neue Bedrohungen – und das ist die an- dere Seite der Globalisierung – zu verstärkter wechselseitiger Abhängigkeit zwi- schen den Staaten und zu deren größerer Verwundbarkeit geführt, die nicht mit noch so effektiven neuen Technologien alleine bekämpft werden können. Die meisten der aus dieser wachsenden Interdependenz zum Teil neu resultierenden Probleme sind grundsätzlich transnationaler Natur und können nach weitgehend einhelliger Expertenmeinung von einzelnen „nationalen“ Staaten nicht mehr zu- friedenstellend gelöst werden – auch nicht von den verbliebenen großen Staaten. Dazu bedarf es der verstärkten administrativen und politischen Zusammenarbeit über verschiedenste nationale, kulturelle wie mentale Grenzen hinweg. Die An- schläge vom 11. September 2001 in New York und Washington, 2004 in Madrid und Istanbul mit ihrem breiten Spektrum an Ursachen („root causes“) und mit ihren unabsehbaren Konsequenzen haben der Veränderungsdynamik der interna- tionalen Politik einen weiteren bemerkenswerten Aspekt hinzugefügt. Massen- vernichtungswaffen in den Händen von Terroristen ist längst kein Szenario mehr aus dem Drehbuch eines Science-fiction-Films entnommen, sondern lässt sich über „graue“, aber hoch-effiziente internationale Märkte relativ leicht realisie- ren. Insgesamt wurden so zentrale Determinanten der internationalen Politik innerhalb zweier Jahrzehnte anhaltender und tiefgreifender verändert, als das in den mehr als vierzig Jahren Bipolarität und des Kalten Krieges davor der Fall  18 Ein Beleg für diese Einschätzung liefern auch neue sicherheitspolitische Doktrinen und Strategien von USA, EU, NATO und vieler Staaten, die alle von derartigen Veränder- ungsszenarien ausgehen. 19 So vgl. etwa die diesbezüglichen Reden des gegenwärtigen Präsidenten der USA, der selbst die Vereinigten Staaten nicht mehr in Lage sieht, Sicherheit allein für ihr Land sicher zu stellen. Die Österreichische Außen- und Sicherheitspolitik der 2. Republik 87  gewesen war. Alle Staaten, Allianzen, Internationale Organisationen und auch Europa stehen wie Österreich vor völlig neuen außen- und sicherheitspolitischen Voraussetzungen und Anforderungen. Und diese Veränderungen sind noch nicht an ihrem Ende angekommen. Was für Österreich in dieser Situation zu tun bleibt, ist die Notwendigkeit zur nationalen Neuorientierung, zur transnationalen Zusammenarbeit, vorrangig im supranationalen Rahmen der Europäischen Uni- on. Aber auch darüber hinaus muss Österreich sich für eine Stärkung der Rolle internationaler Institutionen und des Völkerrechts, der global ordnungspoliti- schen Neuorientierung sowie die Notwendigkeit des verstärkten Dialogs mit ei- ner den Europäern in den letzten Jahren befremdlich gewordenen hegemonialen Politik des traditionellen transatlantischen Partners USA einerseits, und nicht zuletzt auch mit den neuen regionalen Mächten China, Indien, Brasilien und dem großen „Rest der Welt“ andererseits intensiv auseinandersetzen. Als Klein- staat mit seiner zentralen europäischen Lage sollte es Österreich ein Anliegen sein, v.a. in seiner nahen und nächsten Nachbarschaft verstärkt Begleitung und Verantwortung zu übernehmen. Und es sollte sich auch an allen Maßnahmen beteiligen, die eine intensivierte und organisierte Zusammenarbeit im multilate- ralen Rahmen, in der UNO schon seit längerer Zeit als „global governance“ be- zeichnet, vorantreiben wollen. Die hin und wieder unübersehbar auftauchenden „Schatten der Vergangenheit“, so sie noch Wirkung entfalten, sind angesichts der Herausforderungen für die Zukunft zwar nicht unerheblich und sollten – können – nicht vergessen werden. An ihrer Aufarbeitung sollte jedenfalls ziel- strebig gearbeitet werden, um den Weg für Neues in einer ungewissen Zukunft frei zu machen.

Österreich in der Europäischen Union Jun Saito

1. Einleitung In den letzten 20 Jahren wird die Europäische Union (EU) in allen Aspekten der Politik (polity, politics und policy) tiefer in die Analyse der österreichischen Po- litik mit einbezogen.1 Theoretisch sind die Mitwirkung an der EU wie auch de- ren Konsequenzen auf die nationale Politik („Europäisierung“) vor allem als die rationale Interessenverfolgung, die gesellschaftliche Einwicklung nationaler und europäischer Identitäten und/oder ein pfadabhängiger Prozess zu verstehen.2 In diesem Beitrag werden die Beziehungen Österreichs mit der EU am Bei- spiel der Erweiterung der EU und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo- litik (GASP) einer rationalistischen und soziologischen Analyse unterzogen. Davor wird ein Überblick über die österreichische Europapolitik vor dem Bei- tritt gegeben, um ihre Kontinuität darzustellen. Für die Analyse werden Primär- quellen (z.B. Berichte und Presseaussendungen der Bundesregierung) und Se- kundärliteratur verwendet.

2. Österreich mit der EU, in die EU Seit den 1950er Jahren zielte Österreich wegen seiner „starken wirtschaftlichen Verflechtung“3 mit den Mitgliedern der damaligen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und für die Liberalisierung seiner Wirtschaft stets auf die Teilnahme an

 1 Herbert Dachs, Peter Gerlich, Herbert Gottweis, Helmut Kramer, Volkmar Lauber, Wolf- gang C. Müller, Emmerich Tálos (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch (Wien 2006); Heinrich Neisser, Sonja Puntscher Riekmann (Hg.), Europäisierung der österreichischen Politik. Konsequenzen der EU-Mitgliedschaft (Wien 2002); Roman Pfefferle, Nadja Schmidt, Gerd Valchars (Hg.), Europa als Prozess. 15 Jahre Europäische Union und Öster- reich, Festschrift für Peter Gerlich (Austria: Forschung und Wissenschaft. Politikwissen- schaft, Band 7 Wien 2009). 2 Nicole Alecu de Flers, EU Foreign Policy and the Europeanization of Neutral States. Comparing Irish and Austrian Foreign Policy (Routledge Advancing in European Politics 78, London/New York 2011); Thomas Risse, Maria Green Cowles, James Caporaso, Eu- ropeanization and Domestic Change, Introduction. In: Maria Green Cowles, James Capo- raso, Thomas Risse (Hg.), Transforming Europe. Europeanization and Domestic Change (Cornell Studies in Political Economy, Ithaca 2001) 1-20; Antje Wiener, Thomas Diez (Hg.), European Integration Theory (Oxford/New York 2004). 3 Paul Luif, Neutrale in die EG? Die westeuropäische Imtegration und die neutralen Staaten, (Informationen zur Weltpolitik 11, Wien 1998) 101. 90 Jun Saito der durch die heutige EU betriebenen europäischen Integration ab.4 Die Annäh- rung wurde jedoch etwa von den Bedenken über den Anpassungsdruck auf die Wirtschaft und die Neutralität behindert. Sowohl die damalige Sowjetunion als auch heimische Juristen hielten die EWG-Mitgliedschaft für neutralitätswidrig.5 In den 1960er Jahren strebte Österreich die Assoziierung mit der EWG zuerst gemeinsam mit Schweden und der Schweiz, dann im „Alleingang“6 an. Schließ- lich schloss Österreich als Mitglied (und Gründer) der Europäischen Freihan- delsassoziation (EFTA) das Freihandelsabkommen jeweils mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) (Januar 1973) sowie der EGKS (Januar 1974) ab.7 Am Ende der 1980er Jahre stellte Österreich jedoch vor dem Hintergrund einer ernsthaften Wirtschaftskrise (vor allem in den verstaatlichten Sektoren) und der, durch das Weißbuch der damaligen Europäischen Kommission gegebe- nen Dynamik zur Vollendung des Binnenmarkts, trotz eines befürchteten An- passungsdrucks auf die heimische Wirtschaft die Weichen für einen EG-Beitritt, um sich voll in den Binnenmarkt zu integrieren.8 Zudem wurde die EG- Mitgliedschaft als Ausweg aus der von Skandalen (wie der Vergangenheit des ehemaligen UNO-Gereralsekretärs und damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim) verursachten Identitätskrise betrachtet.9 In völkerrechtlicher und weltpolitischer (d.h. die von Perestroika in der Sowjetunion eingeleitete spürba- re Entspannung des Ost-West-Konflikt) Hinsicht schien die Neutralität trotz der noch verbliebenen Bedenken kein Hindernis für eine EG-Mitgliedschaft mehr zu sein.10 Am 17. Juli 1989 (noch vor dem Fall der Berliner Mauer) stellte Öster- reich den Beitrittsantrag mit Neutralitätsvorbehalt.11 Die Beitrittsverhandlungen mit Österreich begannen zusammen mit Finn- land, Norwegen und Schweden erst im Februar 1993, da die EU damals auf die Vertiefung der Integration ihre Priorität legte.12 Die Verhandlungen wurden dennoch (wegen der in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschafts-  4 Luif, Neutrale, 99-103. 5 Luif, Neutrale, 95, 111-116 6 z. B. Luif, Neutrale, 102 7 Luif, Neutrale, 35, 100- 102. 8 Paul Luif, On the Road to Brussels. The Political Dimension of Austria’s, Finland’s and Sweden’s Accession to the European Union (The Laxenburg Papers 11, Wien 1995) 189- 198. 9 Helmut Kramer, Strukturentwicklung der Außenpolitik (1945-2005). In: Dachs, Gerlich, Gottweis, Kramer, Lauber, Müller, Tálos, Das Handbuch, 807-837, hier 823. 10 Luif, On the Road, 191-192, 199. 11 Luif, On the Road, 198 12 Luif, On the Road, 173. Österreich in der Europäischen Union 91  raum (EWR) erfolgten Anpassung) schon im März 1994 abgeschlossen.13 Knackpunkte waren die Agrarproduktpreise, der Transitverkehr und die GASP. Um die ersten zwei Fragen vorläufig zu lösen, wurden Übergangsregeln festge- legt.14 Zur GASP versicherte Österreich schließlich eine vorbehaltlose Ver- pflichtung, während sich seine Neutralität auf deren militärischen Kern reduzie- ren ließ.15 Angesichts des Golfkriegs und des Jugoslawienkonflikts erwartete Österreich von der EU eine wirksame Außen- und Sicherheitspolitik und war zugleich bereit zur solidarischen Mitwirkung.16 Nach der im Juni 1994 abgehal- tenen und positiv ausgegangenen Volksabstimmung (66,6%) trat Österreich am 1. Januar 1995 der EU bei.17 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beziehungen mit der EU und deren Vorgängerorganisationen wesentlich vom rationalistischen Kalkül des wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Nutzens geprägt sind. Zudem erteilte der EU-Beitritt der österreichischen Identität eine neue, „EU-ropäische“ 18 Di- mension.

3. Österreich als EU-Mitglied 3.1. Erweiterungspolitik Nach dem Beitritt Österreichs zur EU erweiterte sich diese, abgesehen von Mal- ta und Zypern in Richtung Mitteleuropa und Südosteuropa. Derzeit sind die Westbalkanstaaten und die Türkei im Beitrittsprozess. Die positive Einstellung Österreichs zur EU-Mitgliedschaft mitteleuropäischer Staaten wurde auch mit deren europäischer und mitteleuropäischer Identität begründet. Für Österreich bedeuteten deren Beitritte die Rückkehr des gesamten Mitteleuropas nach Euro- pa.19 Sie sind die eigentlich wie Österreich mitteleuropäisch, waren aber in der jüngeren Vergangenheit hinter dem Eisernen Vorhang gefangen. Nach der Er-  13 Paul Luif, Österreich und die europäische Union. In: Dachs, Gerlich, Gottweis, Kramer, Lauber, Müller, Tálos, Das Handbuch, 862-883, hier 873. 14 Luif, Europäische Union, 873f. 15 Luif, On the Road, 309f. 16 Alois Mock, Vortrag im Rahmen des Alpbacher Politischen Gesprächs 1991, Alpbach, 27. August 1991. In: Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten (BMaA) (Hg.). Öster- reichische außenpolitische Dokumentation, Nr. 11, November 1991 (Wien 1991) 68-77, hier 74-76. 17 Luif, On the Load, 320. 18 vgl. Peter Filzmaier, Leonore Gewessler, Otmar Höll, Gerhard Mangott, Internationale Politik (Wien 2006) 17. 19 vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, EU-Osterweiterung, o.J., online unter (27. Februar 2014). 92 Jun Saito weiterung zielten Österreich und seine mitteleuropäischen Partner darauf ab, in der EU am „europäischen Projekt“ partnerschaftlich zusammenzuarbeiten (zur Regionalen Partnerschaft siehe unten).20 Die Erweiterung in Richtung Mittel- und Südosteuropa ist ein unveränder- tes Ziel der österreichischen EU-Politik. Schon im Vorfeld seines Beitritts inte- ressierte sich Österreich für den Export eines „großes europäisches Friedens-, Freiheits- und Wohlstandsprojektes“.21 Die Integration in die EU sollte die ehe- mals kommunistischen Länder einerseits durch die Verstärkung der Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und andererseits durch die wirtschaftli- che Entwicklung politisch stabilisieren.22 Die wirtschaftlichen Interessen an der Erweiterung haben aufgrund der aktiven Investitionen österreichischer Firmen noch mehr an Bedeutung gewonnen.23 Bei der Westbalkanerweiterung stehen die Sicherheitsinteressen, d.h. die politische Stabilisierung, Kriminalitätbekämp- fung und Zuwanderungskontrolle im Vordergrund.24 Die zügige Weiterführung des Beitrittsprozesses war ein Schwerpunkt der zweimaligen österreichischen Ratspräsidentschaft.25 Während der ersten Rats- präsidentschaft (Juli - Dezember 1998) leitete die EU die „substantiellen“ Bei- trittsverhandlungen mit den fünf mitteleuropäischen Beitrittskandidaten (Est- land, Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn) ein 26 und arbeitete intensiv an

 20 vgl. Benita Ferrero-Waldner, Europa der 25 – Neue Perspektive für regionale Partner- schaften, Europa Forum Wachau, Stift Göttweig, 05.06.2004, online unter (19. Februar 2014). 21 BMaA, Außenpolitischer Bericht 2000 (Wien 2001) 41; Weißbuch der Bundesregierung (Ausschnitt), Wien, im Dezember (Ausschnitte). in: BMaA (Hg.). Österreichische außen- politische Dokumentation, Nr. 6/94, Dezember 1994 (Wien 1994) 58-85, hier 66. 22 Weißbuch, 64, 66f. 23 BMaA, Ferrero-Waldner: Momentum der Erweiterungsverhandlungen in der Endphase bewahren, 07.10.2002, online unter (20. Februar 2014). 24 Bundesminsiterium für europäische und internationale Angelegeheiten (BMeiA), Spin- delegger: „Keine Warteraum-Politik gegenüber dem Westbalkan“, 12.05.2010, online un- ter (12. Mai 2010). 25 BMaA, Außenpolitischer Bericht 1998. Bericht des Bundesministers für auswärtige Angel- egenheiten (Wien 1999) 12; BMeiA, Außenpolitischer Bericht 2006. Jahrbuch der Öster- reichischen Außenpolitik (Wien 2007) 3. 26 BMaA, Bericht 1998, 14. Österreich in der Europäischen Union 93  der „Agenda 2000“ zum planmäßigen Beschluss.27 Während der zweiten Rats- präsidentschaft (Januar - Juni 2006) ließ sich die „Thessaloniki Agenda“, die Garantie für die künftige Mitgliedschaft aller Westbalkanstaaten, trotz der ver- breiteten Erweiterungsskepsis nach den negativ ausgegangenen französischen und niederländischen Referenden über den Verfassungsvertrag wieder beleben.28 Österreich setzte sich trotz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der zahlreichen Belastungen der Konfliktvergangenheit für die Westbalkanerweite- rung konsequent ein, um das Momentum der wirtschaftlichen und politischen Reformen auf nationaler Ebene, wie auch der guten Nachbarschaftsbeziehungen auf regionaler Ebene beizubehalten.29 Zudem leistete Österreich, durch seine Beteiligung an zahlreichen Twinningsprojekten, die technische Unterstützung bei Verwaltungreformen.30 Österreich betrachtet die mittel- und südosteuropäischen Staaten im EU- Kontext als Partner. In den 2000er Jahren fand die Zusammenarbeit mit Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn im Rahmen der Regionalen Part- nerschaft statt. Aufgrund der negativen Erfahrungen bei den, wegen der Regie- rungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) verhängten Sankti- onen der EU-14 (4. Februar – 12. September 2000) war eine dauerhafte Koaliti- on mit bestimmten (künftigen) Mitgliedern ein österreichisches Anliegen.31  27 BMaA, Bericht 1998, 13. 28 BMaA, Plassnik: „Salzburg zeigt: Die Europäische Union macht am Balkan einen Unter- schied“, 15.03.2006, online unter (21. Juni 2009); Erwan Fouréré, Thessaloniki ten Years on, Injecting Momentum into the Enlargement Process for the Western Balkans, CEPS Commentary, 16.05.2013, 1, online unter (28. November 2013); Helmut Hetzel, Reinhard Smonig, EU-Erweiterung: Front gegen Neue. In: Die Presse, 14.03.2006, online unter ( 24. Fe- bruar 2014); Salzburger Erklärung, 11.03.2006, online unter (21. Juni 2009). 29 BMeiA, Keine Warteraum-Politik; BMeiA, Lopatka: „EU-Erweiterungsprozess am West- balkan entscheidend für Österreich“, 31.10.2013, online unter (31. Oktober 2013); BMeiA, Außen- und europapolitischer Bericht 2012. Bericht des Bundesministers für europäische und internationale Angelegenheiten (Wien 2013), 69; Interview des Au- tors im BMeiA, Minoritenplatz 8 Wien, 23.07.2009; Interview des Autors mit einer/m Mit- arbeiterIn des BMeiA per E-Mail, 22.09.2009. 30 BMaA, Bericht 2000, 10; BMeiA, Bericht 2012, 73, 420. 31 Luif, Paul, Die Zusammenarbeit in Mitteleuropa als Element der österreichischen EU- Politik (Wien 2007) 25f. 94 Jun Saito

Nach der ersten Osterweiterung vertraten die Partnerstaaten gemeinsame Inte- ressen, vor allem in Fragen des Westbalkan.32 Die Partnerschaft funktionierte jedoch etwa wegen der institutionellen Konkurrenz mit der aus Polen, Slowakei, Tschechien, und Ungarn bestehenden Visegrád Gruppe seit langem nicht mehr.33 Im Bereich der inneren Sicherheit wird die Kooperation im Rahmen des Salz- burg Forums bis heute fortgesetzt. Die „Sicherheitspartnerschaften“ umfassen die Angleichung der Institutionen der Beitrittskandidaten bzw. der neuen Mit- glieder an EU-Standards und die operative Zusammenarbeit für die Bekämpfung der Kriminalität und der illegalen Zuwanderung etwa durch die Polizeikoopera- tion und gemeinsame Grenzkontrollen.34 Das Salzburg Forum erweiterte sich auf Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Seine Aufgabe umfasst heute auch die gemeinsame Interessenvertretung in EU-Gremien, sowie die Kooperation mit und die Unterstützung für Drittstaaten, vor allem am Westbalkan umd im Rah- men der EU-Donauraumstrategie.35 Um aus der Erweiterung sicherheitspoltische und wirtschaftliche Nutzen zu ziehen, kümmert sich Österreich besonders um Vorkehrungen gegen die unter- schiedlichen Begleitsrisiken der Erweiterung, wie die steigende Kriminalität

 32 Benita Ferreeo-Waldner, Die Regionale Partnerschaft, Österreichs Nachnarschaftspolitik als Baustein der Europäischen Integration. In: Andreas Khol, Günther Ofner, Günther Bur- kett-Dottolo, Stefan Karner (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2004 (Wien/München 2005) 477-492, hier 488; Kai-Olaf Lang, Anatomie einer Zurückhaltung, Deutschland und die Visegrád-Gruppe. In: Osteuropa 10 (2006) 5-13, hier 8. 33 Luif, Mitteleuropa, 31-33; Koukal, Jan, Die Tschechische Republik als europäischer Part- ner und mitteleuropäischer Nachbar, Vortrag an der Diplomatischen Akademie Wien, 29.01.2007, online unter (27. November 2009); Christian Ultsch, Martonyi „Wir müssen ganz Ungarn reanimieren“. In: Die Presse, 23.04.2010, online unter (23. Februar 2014). 34 Bundesministerium für Inneres (BMI), Forum Salzburg. Sicherheit und Erweiterung, Dia- log der Innenminister (Wien 2001) 8-9, online unter (26. Dezem- ber 2006); Joint Declaration, Salzburg Forum Ministrial Conference, 10-11 October 2012, Mátraháza/Hungary, 5f, online unter (14. Februar 2014). 35 EU Strategy Declaration of the Salzburg Forum, Göttweig, 28 July 2006. In: Federal Min- istry of the Interior (Hg.), Salzburg Forum 2008. Information Brochure (Vienna 2008) 19- 21; Schlussfolgerungen der Forum Salzburg Staaten anlässlich der Westbalkan- Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Juli 2008 in Wien, 17. Juli 2008, online unter (21. Juli 2009). Österreich in der Europäischen Union 95  einschließlich der illegalen Zuwanderung und den Druck auf den heimischen Arbeitsmarkt. Bei der Erweiterung des Schengen-Raumes riskiert Österreich zusätzliche Unsicherheiten, wenn die Schengen-Acquis nicht ausreichend im- plementiert werden.36 Um dieses Risiko zu minimieren, beteiligt sich Österreich an Twinning Projekten (z.B. bei Grenzkontrollen nach EU-Standards).37 Die Grenzöffnung zu Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn wurde von der verstärkten Kooperation für Grenzkontrollen38 und polizeiliche Ausgleichsmaß- nahmen („gezielte polizeiliche Kontrolle und Fahndungsaktionen“) 39 begleitet. Zudem wurde der Assistenzeinsatz des Bundesheeres, der seit 1990 an den ös- terreichisch-ungarischen und -slowakischen Grenzen stattgefunden hatte,40 für die Unterstützung der Sicherheitsbehörden bei der „Feststellung sicherheits- und fremdpolizeilich relevanter Ereignisse“41 und unter Berücksichtigung des sub- jektiven Sicherheitsgefühls der Bevölkerung bis Dezember 2011 im Grenzraum weitergeführt.42 Das Problem bei der Arbeitsmarktöffnung war die Konkurrenz durch billi- gere Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsländern (Lohndumping).43 Deswegen ergriff Österreich in den Beitrittsverhandlungen mit Erfolg die Initiative für die

 36 BMeiA, Außenpolitischer Bericht 2007. Jahrbuch der Österreichischen Außenpolitik (Wien 2009) 21. 37 BMI, Bundesministerium für Justiz (BMJ), Sicherheitsbericht 1997: Kriminalität 1997: Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege, Bericht der Bundesregierung über die in- nere Sicherheit in Österreich (Wien 1998) 266; BMI, BMJ, Sicherheitsbericht 2000: Krim- inalität 2000: Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege, Bericht der Bundesregierung über die innere Sicherheit in Österreich (Wien 2001) 360; BMI, BMJ, Sicherheitsbericht 2001: Kriminalität 2001: Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege, Bericht der Bun- desregierung über die innere Sicherheit in Österreich (Wien 2002) 386, 389f. 38 BMI, Sicherheitsbericht 2011. Bericht des Bundesministeriums für Inneres über die innere Sicherheit in Österreich (Wien 2012) 277. 39 BMI, BMJ, Sicherheitsbericht 2007: Kriminalität 2007: Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege, Bericht der Bundesregierung über die innere Sicherheit in Österreich (Wien 2009) 402. 40 BMI, BMJ, Sicherheitsbericht 2007, 344 . 41 BMI, BMJ, Sicherheitsbericht 2008. Kriminalität 2008. Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege. Bericht der Bundesregierung über die innere Sicherheit in Österreich (Wien 2010) 239. 42 Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Symposium zum Assistenzeinsatz des Bundesheeres, Pröll „Wichtig, dass der Assistenzeinsatz weitergeführt wird“, OTS0026, 20.11.2009, online unter (19. Februar 2014); BMI, Sicherheitsbericht 2011, 276. 43 Paul Luif, Österreich. In: Werner Weidenfeld, Wolfgang Wessels (Hg.), Jahrbuch der eu- ropäischen Integration 1997/1998 (Bonn 1998) 361-366, hier 364. 96 Jun Saito

Einführung von Übergangsregelungen für die Arbeitsmarktöffnung.44 Der öster- reichische Arbeitsmarkt wurde nach Ablauf der maximalen Übergangsfrist von sieben Jahren gegenüber StaatsbürgerInnen der neuen Mitgliedstaaten nachei- nander geöffnet. Hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft der Türkei wird in der österreichi- schen EU-Politik – seit dem 11.9.2001 –45 überwiegend deren Kostenseite be- leuchtet. Das Türkische wird, Sabine Strasser zufolge, in kultureller Hinsicht nicht mit dem Europäischen identifiziert.46 Zum Beginn der „Bei- tritts“verhandlungen setzte Österreich die konsequente Berücksichtigung der finanziellen, institutionellen und gesellschaftlichen Aufnahmefähigkeit der EU und einen offenen Verhandlungsausgang durch: Eine türkische Mitgliedschaft soll nicht nur von ihrer finanziellen und institutionellen Verkraftbarkeit sondern auch von der Akzeptanz der EU-BürgerInnen abhängen. Außerdem muss ein Endergebnis der Verhandlungen nicht die Mitgliedschaft sein.47 Was die gesell- schaftliche Akzeptanz betrifft, wurde im Dezember 2004 eine Entschließung für eine rechtlich verbindliche Volksabstimmung über einen EU-Beitritt der Türkei durch den Nationalrat verabschiedet.48 Die Haltung der Bundesregierung zur EU-Beitrittsperspektive der Türkei bleibt vor allem wegen der mangelhaften po- litischen und menschenrechtlichen Verpflichtungen negativ.49 In der parlamenta-

 44 BMaA, Außenpolitischer Bericht 2001. Bericht der Bundesministerin für auswärtige An- gelegenheiten (Wien 2002) 7f. 45 vgl. Sabine Strasser, Europe’s Other, Nationalism, Transnationals and Contested Images of Turkey in Austria. In: European Societies 2 (2008) 177-195, hier 184. Als der Türkei im Dezember 1999 den Status des Beitrittskandidaten verliehen wurde, erhob Österreich keinen Einspruch. siehe BMaA, Außenpolitischer Bericht 1999. Bericht der Bundesminis- terin für auswärtige Angelegenheiten (Wien 2000) 9. 46 Strasser, Europe’s Other, 179-186. 47 BMaA, Außenpolitischer Bericht 2005. Jahrbuch der Österreichischen Außenpolitik (Wien 2006) 3; BMaA, Außenministerin Ursula Plassnik zur Verhandlungsaufnahme der EU mit der Türkei und Kroatien, Pressefoyer Ministerrat, 04.10.2005, online unter (21. Februar 2014). 48 Stenographisches Protokoll, 92. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXII. Gesetzgebungsperiode, 22.12.2004, 14f, 23f. 49 Austrian Presse Agentur, Sebastian Kurz will von Serbien eine „ordentliche Lösung für den Kosovo“. In: Wirtschaftsblatt, 21.01.2014, online unter (21. Februar 2014). Österreich in der Europäischen Union 97  rischen Opposition bringt die FPÖ auch kulturelle und religiöse Gegenargumen- te ein.50 Mit der Erweiterung hatte sich Österreich auch indirekt mit der Mitwirkung an der institutionellen Reform der EU zu beschäftigen. Die Verträge von Nizza und Lissabon (ebenso wie der gescheiterte Verfassungsvertrag) zielten haupt- sächlich auf die institutionelle Anpassung an künftige Erweiterungen ab.51 Ös- terreich wollte sowohl die Handlungsfähigkeit der EU als auch seinen Einfluss und Präsenz in der EU bewahren. Auf der Zwischenregierungskonferenz für den Vertrag von Nizza unterstützte es deswegen grundsätzlich die Ausdehnung der mehrheitlichen Beschlussfassung, hielt aber am Einstimmigkeitsvotum in be- sonders sensiblen Fragen wie Wasserressourcen fest.52 In den Verhandlungen über den Verfassungsvertrag trat es gemeinsam mit den anderen kleineren und mittleren Mitgliedstaaten für die güngstigere doppelte Mehrheit, die Beibehal- tung der turnusmäßigen Vorsitzführung im Europäischen Rat und, wie beim Vertrag von Nizza, die Gleichbehandlung der kleineren und größeren Mitglieder bei der Zusammensetzung der Europäischen Kommission ein.53 Eine/r Kommis- sarIn vertritt zwar Interessen der gesamten EU. Das Amt macht dennoch, ebenso wie die Ratspräsidentschaft, die Präsenz ihres/seines Herkunftsland in der EU sichtbar.54

 50 FPÖ, Handbuch freiheitlicher Politik, Ein Leidfaden für Führungsfunktionäre und Man- datsträger der Freiheitlichen Partei Österreichs, 4. Auflage (Wien 2013) 278f, online unter (21. Februar 2014). 51 BMaA, Bericht 1999, 7; BMaA, Bericht 2001, 5. 52 BMaA, Bericht 2000, 9. 53 Ursula Plassnik, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa: Österreichische vielfältige Mitwrkung an der Neufassung der EU-Spielregeln. In: Khol, Ofner, Burkert-Dottolo, Kar- ner (Hg.), Jahrbuch 2004, 463-492, hier 470-474; Paul Luif, Österreich. In: Werner Wei- denfeld, Wolfgang Wessels (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1999/2000 (Bonn 2000) 365-372, hier 371. 54 Benita Ferrero-Waldner, Kurs setzen in einer veränderten Welt (Wien 2002) 203; Benita Ferrero-Waldner, Kurs halten in einer sich veränderten Welt, Vortrag im Haus der Indus- trie, 20.05.2003, online unter (21. Februar 2014). 98 Jun Saito

3.2. GASP Die solidarische Mitwirkung an der GASP ist ein Hauptziel der österreichischen Sicherheitspolitik, die von der Untrennbarkeit der österreichischen und der eu- ropäischen Sicherheit ausgeht.55 Dabei ist die Vereinbarkeit mit der Neutralität eine wichtige politische wie auch juristische Frage.56 Bisher sind die Neutralität und die Beteiligungen an der GASP einschließlich der Europäischen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik (ESVP, heute GSVP wie „Gemeinsame“) kei- nesfalls miteinander in Konflikt geraten. Österreich beteiligt sich an zahlreichen militärischen Operationen wie auch zivilen Missionen für die Krisenbewältigung (Petersberg-Aufgaben), vor allem am Westbalkan.57 Trotzdem könnte die Beteiligung an einer EU-Militäroperation gegen die österreichische Neutralität verstoßen, wenn sie ohne UNO-Mandat durchgeführt würde. Einerseits kann Österreich verfassungsmäßig (Art. 23j (früher 23f) B- VG) an allen Aspekten der GASP mitwirken, andererseits bleibt das verfas- sungsrechtliche „Neutralitätsgesetz“ bis heute unverändert gültig. Die frühere „integrale“ Neutralität Österreichs hat sich durch die Mitwirkung an den Zwangsmaßnahmen der UNO beim Golfkrieg und im Prozess der Integration in die EU zur „differentiellen“ Neutralität gewandelt.58 Bis Mitte der 2000er Jahre gab es einen nationalen Konsens darüber, dass UNO-mandatierte Operationen keine Kriege sondern internationale Polizeiaktionen und deswegen kein Neutra- litätsfall sind.59 In der Frage, inwieweit sich die Neutralität in Folge der Ver-

 55 Bundeskanzleramt (Hg.), Österreichische Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin (Wien 2002) 7, 12; Österreichische Sicherheitsstrategie. Sicherheit in einer neuen Dekade – Sicherheit gestalten. III-218 der Beilagen XXIV GP., 03.07.2013, 5, 11. online unter (23. Februar 2014). Die Sicherheitspolitik der EU umfasst auch etwa die Politik für innere Sicherheit, die Entwicklungszusammenarbeit und – wie oben ausführlich diskutiert – die Erweiterung und lässt sich kaum auf die GASP reduzieren. Und die EU ist der „zentrale“ Bezugrahmen der österreichischen Sicherheitspolitik. siehe: Sicherheitsstrategie, 2f, 10f. 56 Waldemar Hummer (Hg.), Staatsvertrag und immerwährende Neutralität Österreichs. Eine juristische Analyse (Wien 2007). 57 BMeiA, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), o.J., online unter (23. Februar 2014). 58 Otmar Höll, Außen- und Sicherheitspolitik. In: Neisser, Puntscher Riekmann, Europäisie- rung, 369-395, hier 383; Manfred Rotter, Von der integralen zur differentiellen Neutralität. Eine disktrete Metamorphose im Schatten des Zweiten Golfkrieges. In: Europäisches Rundschau 3 (1991) 25-36, hier 30-35. 59 Jun Saito, Die neue österreichische Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin: Im Spannungs- feld der immerwährenden Neutralität und der europäischen Solidarität. In: The Komaba Österreich in der Europäischen Union 99  pflichtung zur GASP beschränkt, wird jedoch bis heute keine eindeutige Ant- wort gegeben. In der im Juli 2013 verabschiedeten neuen Sicherheitsstrategie gehört ein UNO-Mandat nicht zu den Beteiligungskriterien.60 In den 2000er Jah- ren vertrat die ÖVP die These „Neutral nach außen, solidarisch in und mit der Europäischen Union“ innerhalb der EU, Neutralität außerhalb der EU“. Die FPÖ stellte die Aushohlung des Neutralitätsgesetztes durch den damaligen Art 23f B- VG fest, während die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und die Grünen die Verpflichtung zur GASP grundsätzlich – auch bei ihren Vorschlägen für eine „Vergemeinschaftung“ der Sicherheits- bzw. Verteidigungspolitik – im Rahmen der österreichischen Neutralität interpretierten.61 Auch der Grundkon- sens über die UNO-mandatierte Operation ist seit langem wacklig. Bei der Be- teiligung an der UNO-mandatierten EUFOR Tschad stellten die Oppositionspar- teien die Vereinbarkeit mit der Neutralität nicht in juristischer sondern in politi- scher Hinsicht in Frage. Die Kritik lag dabei an einer Parteinahme im Konflikt zu Gunsten der französischen Interessen.62 Auch die Debatte über die Reform der GASP machte die Spannung der eu- ropäischen Solidarität und österreichischen Neutralität63 deutlich. Die ÖVP-FPÖ (später Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ))-Koalitionsregierung zielte auf eine bündnismäßige militärische Beistandspflicht ab und trat auf der Zwischenregie- rungskonferenz für den Vertrag von Nizza (vergeblich) dafür ein.64 Nachdem die

 Journal of Area Studies, The University of Tokyo (2005, Erscheinungsjahr 2006) 46-69, hier 50-59. 60 Sicherheitsstrategie, 13. 61 Caspar Einem, Eine neue Sicherheitsdoktrin für Österreich. In: Andreas Khol, Günther Ofner, Günther Burkert-Dottolo, Stefan Karner (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Poli- tik 2001 (Wien/München 2002) 179-210, hier 193, 200. Die Grünen, Grundsatzprogramm der Grünen, beschlossen vom 20. Bundeskongress am 7./8. Juli 2001, 112; ÖVP, Sicher.Leben: Perspektive für ein sicheres Österreich, Materialien für Zukunftgespräch 2006, Jänner 2006, 21; Peter Pilz, Die Grünen Erklärung zur Sicherheitspolitik: Sicher in Europa – Der sicherheitspolitische Beitrag zu Menschenrechten, Demokratie und globalem Rechtsstaat (letzte Fassung 15. November 2001) 7. 62 BZÖ, Tschad: Westenthaler: Unsere Soldaten sofort nach Hause holen!, 04.02.2008, online unter (4. Februar 2008); FPÖ, Tschad: Ein Zivildiener schießt unsere Neutralität ab, 22.11.2007, online unter (22. November 2007); Die Grünen, Tschad Einsatz: Plassnik und Darabos säumig, 07.12.2007, online un- ter (23. Februar 2014) 63 vgl. Saito, Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin, 59-61. 64 Paul Luif, »Die alten Schablonen ... ob das Mozartkugeln, Lipizzaner oder Neutralität sind – greifen in der komplexen Wirklichkeit des beginneden 21. Jahrhundert nicht mehr.«. Die Diskussion über die Neutralität. In: Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger (Hg.), Die 100 Jun Saito

Debatte über einen NATO-Beitritt ausgesetzt wurde, begrüßten die ÖVP und die FPÖ (bis kurz nach der Parteiabspaltung) lange die Beistandsklausel im Verfas- sungsvertrag.65 Die Grünen und – grundsätzlich – auch die SPÖ hingegen lehn- ten den militärischen Beistand ab und traten stattdessen für die vergemeinschaf- tete Verteidigung ein (siehe oben).66 Anscheinend hat sich auch die ÖVP im Laufe der Debatte über den Wehr- bzw. Zivildienst (2011-2013) für die Neutra- lität entschieden.67 Nicht zuletzt ist die Neutralität mit dem nationalen Aspekt der österreichi- schen Identität eng verbunden und dementsprechend unter der Bevölkerung so populär, dass die Politik die öffentliche Meinung kaum vernachlässigen darf.68 Der Umfrage des Market-Instituts vom Februar 2011 zufolge befürworten 70% der ÖsterreicherInnen die Neutralität.69 Schließlich ist der Nationalfeiertag, der 26. Oktober, der Tag, an dem der Nationalrat im Jahr 1955 das Bundesverfas- sungsgesetz über die Neutralität Österreichs verabschiedete.70

 umstrittene Wende. Österreich 2000-2006 (Wien/Köln/Weimar 2013) 551-584, hier 566; Österreich neu regieren, 04.02.2000, online unter (7. Januar 2011) 96. 65 FPÖ, Das Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei Österreichs, mit Berücksichtigung der beschlossenen Änderungen vom 27. ordentlichen Bundesparteitag der FPÖ am 23. April 2005 in Salzburg, 10; FPÖ, Strache am Nationalfeiertag: Ein klares Ja zur Neutralität!, 26.10.2005, online unter http://www.fpoe.at/index.php?id=477&backPID=390&tt_news=5253 (27. Oktober 2005); Paul Luif, Die Neutralität. Taugliche sicherheitspolitische Maxime? In: Hummer, Staats- vertrag, 363-389, hier 370f; ÖVP, Sicher.Leben, 12; Luif, Die alten Schablonen, 573f. 66 Die Grünen, Neutralität ist wichtiges Instrument zur Mitbestimmung, 10.12.2003, online unter (10. Dezember 2003); SPÖ, ÖVP-Kurs zur Beistandspflicht und Neutralität abenteuerlich, 10.12.2003, online unter (10. Dezember 2013). 67 ÖVP, Wenn die Wehrpflicht bleibt, 18.01.2013, online unter (21. Januar 2013). 68 Karin Liebhart, Austrian Neutrality. Historical Development and Semantic Change. In: András Kovács, Ruth Wodak (Hg.), NATO, Neutrality and National Identity. The Case of Austria and Hungary (Wien/Köln/Weimar 2003) 23-49, hier 31f; Luif, Neutralität, 383. 69 Mehrheit glaubt nicht an Fortbestand der Neutralität, In: Der Standard, 20.02.2011, online unter (23. Februar 2014). 70 Rotter, Neutralität, 25. Österreich in der Europäischen Union 101  4. Fazit Die Beziehungen Österreichs mit EU sind, sei es als Drittstaat, sei es als Bei- trittskandidat oder sei es als Mitglied, einerseits eine ökonomische Frage: Durch den EU-Beitritt und die damit verbundene aktive Mitwirkung an der Erweite- rung und der GASP verfolgt die österreichische EU-Politik Sicherheits- wie auch Wirtschaftsinteressen, auch mit dem Zweck, die Begleitkosten möglichst niedrig zu halten. Andererseits beschäftigte sich Österreich stets mit seiner Iden- tität im nationalen und europäischen Aspekt.

Rechtspopulismus in Österreich Systemsturz oder einfach nur Populismus? Manfred Kohler

1. Einleitung Der österreichische Populismus, der lange Zeit vor allem ein besonders rechts- gerichteter war und ist, bedient sich unterschiedlichster Dualismen. Wie in ande- ren Ländern hat er aber seine ganz besondere sozial- und polithistorische Prä- gung. Das Ziel dieses Beitrages ist es, sich mit diesen Eigenheiten zu beschäfti- gen, um dann Schlüsse über die Natur und das Wesen, die Akteure und Instru- mente und die politischen Auswirkungen des österreichischen Populismus mit besonderem Augenmerk auf die Entwicklungen in der Zweiten Republik zu zie- hen. Der österreichische Populismus hat sich mit der Entstehung neuer parteipo- litischer Alternativen neben der FPÖ vervielfältigt und ist nicht nur Bedrohung, sondern auch eine Chance, politische Fehlentwicklungen aufzuzeigen und zu korrigieren.

2. Was bedeutet Populismus? Populismus ist der Appell an das Volk zur Verfolgung eigener politischer Zwe- cke. Diese können sich positiv oder unter Verschleierung der Tatsachen und der wahren Absichten negativ auf das Volk auswirken. Populismus hängt eng mit dem Begriff des Politischen, welcher wiederum eng mit Herrschaftsverhältnis- sen verbunden ist, zusammen. Herrschaft bezeichnet jegliches autoritäres Ver- hältnis: jenes zwischen Vater, Mutter und Kinder oder jenes zwischen Staat, Po- litiker und Volk. Egal von welcher Staatsform die Rede ist und unabhängig von den Mitteln der politischen Machtausübung (die Kraft des Wortes oder des Schwertes), ohne einen Appell an das Volk ist es noch keinem Herrschenden langfristig gelungen, seine oder ihre Legitimität zu untermauern. Schon Tiberius und Julius Cäsar versuchten den römischen Senat in einem direkten Appell an das „Volk“ zu umgehen. In der Demokratie hat das Volk aber eine ganz andere Legitimationskraft erlangt, weil es in freien Wahlen über die Einsetzung der Herrschenden bestimmen kann. Seit dem Entstehen der Massenparteien im letz- ten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa – in den USA noch etwas früher – ist die politische Strategie des Populismus jedoch noch wichtiger geworden, zumal im Zuge der Demokratisierung politische Führer erstmalig die Möglichkeit hat- 104 Manfred Kohler ten, alle Menschen zu erreichen. Wenn jedoch alle erreicht werden können, so gibt es mannigfaltige Interessenskonstellationen, die es für “moderne“ Politiker noch schwieriger machen, sich auf klassische linke oder rechte Positionen zu versteifen. Mit der zunehmenden Individualisierung im Rahmen einer globali- sierten Gesellschaft kann argumentiert werden, dass der Populismus einer De- mokratie inhärent ist. Insofern haben sich auch die Populismen vervielfältigt und sind nur mehr schwierig einzuordnen und zu verstehen. Gewöhnlicherweise beschreibt die Populismusliteratur populistische Par- teien als neue Parteien oder Bewegungen.1 Andere stellen das Aufkommen eines neuen Typus von populistischen Parteien in den Raum, insbesondere in Westeu- ropa. Dick Pels klassifiziert diese als einen neuartigen „nationalen Individualis- mus“2, wie er beispielsweise in den Niederlanden (Pim Fortuyn und Gert Wil- ders) und Belgien (Bart de Wevers Neu-Flämische Allianz) aufgetreten ist. Die- ser neue Typ ist von der Vorstellung einer einheitlichen und homogenen Volks- gemeinschaft abgekommen, welche durchaus noch von populistischen Parteien der ersten Generation vertreten wird, wie zum Beispiel der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Die zwei österreichischen populistischen Parteien (mittler- weile gibt es mit dem Team Stronach eine dritte seit den Nationalratswahlen 2013 im Parlament vertretene Partei, welche als „Ein-Mann-Partei“ bezeichnet werden kann und vom austro-kanadischen Milliardär, Frank Stronach, gegründet wurde), die FPÖ und ihre mittlerweile aus dem Nationalrat ausgeschiedene und von Jörg Haider gegründete Abspaltung, das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), sind nur sehr schwer in der Populismusforschung zu verorten. Ein Grund dafür ist, dass beide ihre Wurzeln im Dritten Lager, den öster- reichischen Deutschnationalen, haben.3 Ein weiterer Grund ist, dass sie mehr oder weniger schon vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichen Formen existierten, wobei ihre nationalsozialistischen Wurzeln in ihrer Genea- logie am meisten hervorstechen. Trotzdem gerieren sie sich als Bewegungen oder „Anti-Parteien Parteien“.4 Ein dritter Grund ist, dass beide schon Bestand-  1 Frank Decker, Populismus in Europa (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006). 2 Dick Pels, The New National Individualism. In: Meijers (Hg.) Populism in Europe. (o.O. 2011). 3 Gerhard Steininger, Das Dritte Lager. Aufstieg nach dem Fall? (Edition Steinbauer, Wien 2007). 4 Günther Pallaver, Reinhold Gärtner, Populistische Parteien an der Regierung – zum Scheitern verdammt? Italien und Österreich im Vergleich. In: Frank Decker (Hg.) Popu- lismus in Europa (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006) 99-120.; Susanne Frölich-Steffen, Rechtspopulistische Herausforderer in Konkordanzdemokratien. Erfah- Rechtspopulismus in Österreich 105  teile von Regierungskoalitionen waren, obgleich jeweils als Juniorpartner. Wäh- rend sich die FPÖ oft erfolgreich als nicht traditionelle Partei und Stimme des Volkes vermarktet hat, so unterscheidet sie sich in ihrem Verhalten doch nicht bedeutend von den traditionellen Parteien, den Sozialdemokraten (SPÖ) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Dies traf vor allem dann zu, wenn die FPÖ Regierungsverantwortung übernehmen musste. Als Regierungspartei fiel es der FPÖ immer schwer, ihr modernes Image als Stimme des Volkes aufrechtzuer- halten. Die Regierungsbeteiligung führte zu innerparteilichen Konflikten, einer Abspaltung (BZÖ) im Jahr 2005 und schlechteren Wahlergebnissen.

3. Merkmale populistischer Parteien in Österreich Während viele Beiträge auf die Geschichte, Entwicklung und Manifestierungen von populistischen Parteien in Österreich fokussieren,5 konzentriert sich dieser Beitrag auf die Charakteristika und Werkzeuge von den hier bevorzugt nicht so sehr als populistische, sondern als österreichische „Anti-Parteien Parteien“ be- zeichneten Akteure. Denn der Autor befindet, dass die evolutionäre Realität der österreichischen Politik sehr stark von der FPÖ geprägt und mitgestaltet wurde, welche sich ja schon seit den 1950er Jahren als eine Partei vermarktet hat, die erfolgreich von populistischen rhetorischen Stilmitteln und Werkzeugen Ge- brauch gemacht hat, um ihren anti-systemischen Charakter zu betonen, obwohl sie nach 1945 sogar in Regierungsphasen niemals an den verfassungsmäßigen Fundamenten der Zweiten Republik gerüttelt hat. Dieser Beitrag geht von der allgemeinen Annahme aus, dass es sich beim Populismus um ein politisches In- strument und stilistisches Mittel handelt, um einen Dualismus zwischen „wir“ und „ihnen“, bspw. den Muslimen oder der Europäischen Union, zu erzeugen. Populismus wird demzufolge als Mittel zur Freisetzung multipler Ideolo- gien verstanden, jedoch nicht als Ideologie an sich – ganz im Gegensatz zu den Befunden von Albertazzi und McDonnell.6 Wenn man von diesem Verständnis von Populismus ausgeht, wird es allerdings schwieriger, die FPÖ - auf die hier

 rungen aus Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. In: Frank Decker (Hg.), Popu- lismus in Europa (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006) 144-164. 5 Pallaver, Gärtner, Populistische Parteien an der Regierung – zum Scheitern verdammt?, 99-120; Karima Aziz, Populist parties in Austria. In: Szymon Bachrynowski (Hg.), Popu- lism in Central and Eastern Europe – Challenge for the Future? Documentation of an Ex- pert Workshop (Green European Foundation, Brussels 2013) 30-33. 6 Daniele Albertazzi, Duncan McDonnell, Twenty-First Century Populism: The Spectre of Western European Democracy (Palgrave Macmillan, Basingstoke/New York 2008). 106 Manfred Kohler als klassisch populistische Partei verstärkt eingegangen werden soll - einzuord- nen. Das hat damit zu tun, dass Letztere tatsächlich mit einer klar definierten Ideologie ausgestattet ist: die des Ethno-Nationalismus7 und der Idee einer „rei- nen“ Volksgemeinschaft der Österreicher. Im Gegensatz zu anderen europäi- schen populistischen Parteien, die sich auf den Weg in Richtung eines „indivi- duellen Nationalismus“8 gemacht haben, ist die dominierende Anti-Parteien Par- tei Österreichs, die FPÖ, nicht frei vom Gedanken einer einheitlichen germani- schen (österreichischen) Volksgemeinschaft, obwohl letztere vor dem Hinter- grund der Herausforderung der Eurokrise weniger betont wird. Nichtsdestotrotz kann man festhalten, dass die FPÖ dieselben Dualismen anwendet wie der kon- ventionelle Populismus. Sie verkauft sich zweifellos als moderne Bewegung o- der neue Partei, Stimme des Volkes, Gegner des heimischen und europäischen politischen Establishments, Beschützer des Einheimischen und der (österreichi- schen, weniger deutschen) Volkssouveränität vor der korrupten und “verunrei- nigten“ Elite auf nationaler und europäischer Ebene.

4. Populistische Instrumentarien in Österreich Zuallererst sind die österreichischen populistischen Parteien meist rechts oder weit rechts im politischen Spektrum anzusiedeln. Die FPÖ, die seit dem Auf- stieg Jörg Haiders 1986 immer das Potential hatte, zwischen 15 und 30% der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen, bedient sich folgender populistischer Instrumente, um in regionalen, nationalen und europäischen Wahlen zu reüssie- ren: Erstens attackiert sie das politische Establishment und das damit einherge- hende konkordanzdemokratische Demokratiemodell Österreichs,9 welches auch „Proporz“ genannt wird und auf dem Konsens zwischen der SPÖ und der ÖVP beruht, miteinander die Regierungs- und Staatsgewalt untereinander aufzutei- len.10 Die zweite populistische Strategie besteht in der Konzentration auf einen charismatischen Führer, der als Vertreter des „kleinen Mannes“ verkauft wird – quasi ein politischer Messias. Heinz-Christian Strache, der Parteiführer der FPÖ, plädiert stetig für die Notwendigkeit der Stärkung der direkten Demokratie, was  7 Smith, Anthony D. (1998) Nationalism and Modernism, London-New York: Routledge. 8 Pels, The New National Individualism. 9 Arend Lijphart, Comment, Consociational Democracy. In: Comparative Politics 14, H. 2 (1981) 355-360. 10 Anton Pelinka, Gesetzgebung im politischen System Österreichs. In: Wolfgang Ismayr (Hg.) Gesetzgebung in Westeuropa (VS-Verlag, Wiesbaden 2008) 431-461. Rechtspopulismus in Österreich 107  bei der Bevölkerung, wie aus dem repräsentativen Sample unten hervorgeht, sehr gut ankommt:

Erwartungshalten gegenüber österreichischen Politikern

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Quelle: Eigene Darstellung. Umfrage, online unter (11. Dezember 2012)

Einer der Gründe, warum das BZÖ weniger erfolgreich als sein großer Bruder, die FPÖ, gewesen ist, ist vor allem beim uncharismatischen ex-Parteichef des BZÖ, Josef Bucher, zu suchen, der zudem nicht sehr bekannt ist. Dies hat bei den Nationalratswahlen 2013 sogar zum Ausscheiden des BZÖ aus dem Parla- ment geführt. Der Ruf des charismatischen FPÖ-Parteichefs nach mehr direkter Demo- kratie erzeugt eine unmittelbare Verbindung zwischen Volk und “Führer“. Diese Verbindung zwecks Etablierung einer “echten Volksherrschaft“ wird durch das Zusammenwirken mit lokalen und österreichweiten Klatschblättern und Zeitun- gen wie der Kronen Zeitung noch verstärkt. Eine weitere populistische Strategie besteht darin, den Parteiführer als Befreier und Beschützer der österreichischen Kultur vor der Invasion von Immigranten und Asylanten darzustellen (Wahlpla- katslogan: „Daham statt Islam“). 108 Manfred Kohler

Ein anderer Grund für die Popularität der FPÖ liegt im Versuch, klassische Wählerbruchlinien durch die Übernahme von linken („Sozialpopulismus“) und rechten Positionen entlang des Ideologiespektrums zu überwinden, sodass die Partei bei einer breiteren Wählerschaft Zuspruch findet, nicht nur bei sogenann- ten „Modernisierungsverlierern“.11 Die Strategien und populistischen Instrumen- te der Agitation, der Berufung auf den Hausverstand, radikale Lösungen, der Polarisierung zwischen den Eliten und dem Volk, zwischen „wir“ und „ihnen“ (Muslime), der Erfindung von Verschwörungstheorien, das bewusste Hinneh- men von Tabubrüchen, der bewussten Provokation und gewalttätigen Meta- phern, biologistische Rhetorik und Angstmache sind allesamt „Opium für das Volk“ in einer doch langweiligen und rigiden politischen Landschaft.

5. Die Auswirkungen populistischer Strategie in Österreich Eine der Hauptauswirkungen populistischer Rhetorik und Strategie last sich an den Wahlergebnissen der Traditionsparteien, SPÖ und ÖVP, ablesen. Diese ha- ben mit wenigen Ausnahmen unter den FPÖ-Vorsitzen Haiders und Straches ab 1986 stetig an Wählerzuspruch verloren. Nationalratswahlen seit 1945

Quelle: Online unter (3. März 2014)  11 Anton, Pelinka, Ruth Wodak (Hg.), The Haider Phenomenon in Austria (Transaction Pub- lishers, 2002). Rechtspopulismus in Österreich 109  Eine weitere Auswirkung des österreichischen Populismus ist eine sehr weit verbreitete EU-Skepsis unter den Bürgern. Die Österreicher gehören zu den EU- kritischsten Europäern unter den mittlerweile 28 Mitgliedstaaten.12 Die Staats- schuldenkrise hat diesen Trend noch verstärkt, während die anti-europäische FPÖ die Krise nützt, um Kanzler Faymann und Vize-Kanzler Spindelegger als Verräter der österreichischen Neutralität, dem Fundament der österreichischen Identität nach dem Zweiten Weltkrieg, darzustellen. Die Regierung setze sich gar für die Errichtung eines europäischen Bundesstaates ein. Die Rhetorik kon- zentrierte sich bei den Nationalratswahlen 2013 auch auf Krisenmaßnahmen der österreichischen Regierung, die Millionen von österreichischen Steuergeldern (eigentlich Haftungen) in den Europäischen Stabilitätsmechanismus speiste, um den “faulen“ Griechen auf die Beine zu helfen. Diese Strategie der Herstellung interner (Österreicher versus Muslime) und externer Dualismen (Österreicher versus Griechen) hat nicht nur den Wählerzuspruch der FPÖ erhöht, sondern sie rüttelt auch potentiell an den Grundfesten der europäischen Integration, die zu- mindest prinzipiell auf dem Grundsatz des langsamen Zusammenwachsens eu- ropäischer Staaten als “Gleiche unter Gleichen“ beruht. Letztendlich hat der österreichische Populismus bewirkt, dass die Anti- Einwanderungsstimmung unter den Österreichern nicht nur die Regel ist, son- dern diese auf absehbare Zeit unumkehrbar ist. Dies manifestiert sich insbeson- dere in der immer noch strengeren Einwanderungs- und Asylgesetzgebung der letzten zehn Jahre, die ja nicht nur von den in den Regierungen zwischen 2000 und 2006 vertretenen österreichischen Rechtsparteien, dem BZÖ und der FPÖ, getragen wurde, sondern von SPÖ und ÖVP auch in der Opposition zumindest noch unterstützt und in späteren Regierungskoalitionen noch ausgebaut wurde. Anstatt negative Stereotypen über Ausländer, Migranten und Griechen im Fall der Eurokrise abgebaut wurden, haben sich SPÖ und ÖVP dem von den Rechts- parteien initiierten Trend und somit der weit verbreiteten öffentlichen Meinung angeschlossen. Die Unterstützung dieses Trends wird wohl auf das sozio- kulturelle, öffentliche und politische Leben in Österreich langfristige Auswir- kungen haben. Aber sind der Populismus und seine Stilmittel aus normativer oder moralischer Perspektive notwendigerweise negativ zu beurteilen? Oder weisen sie auch auf Probleme hin, die langfristig nicht ignoriert werden können?

 12 European Commission (Hg.), Public Opinion in the European Union. Standard Euroba- rometer, Nr. 77 (Brüssel 2012). 110 Manfred Kohler

6. Ist Populismus nur destruktiv? Im Falle Österreichs muss die Frage, ob Populismus nun destruktiv ist, mit ei- nem “Jein” beantwortet werden. Ja, weil die Instrumente des österreichischen Populismus zu einer Vergrö- ßerung der Kluft zwischen “wir” und “ihnen”, seien es Muslime, Immigranten an sich, das politische Establishment oder die Europäische Union, geführt ha- ben. Das ist ein riesen Erfolg für die österreichischen Anti-Parteien Parteien, insbesondere die FPÖ. Aber wenn es beispielsweise um die negative Haltung unter den Österreichern gegenüber der EU geht, so wird auch die Tatsache un- terstrichen, dass das politische System der Europäischen Union für seine Bürger nicht greifbar und verständlich ist. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass das Repräsentationsprinzip auf europäischer Ebene sehr schwach ausgeprägt ist, zumal das von den Völkern Europas direkt gewählte Europäische Parlament den übermächtigen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat gegenüber- steht.13 Andere negative Auswirkungen populistischer Strategie manifestieren sich in einem intoleranten Klima gegenüber Ausländern und der Infragestellung von Errungenschaften der repräsentativen Demokratie zugunsten einer “echten Volksherrschaft“, welche ja schon in sich potentiell den Keim für Autoritaris- mus trägt. Der Vorteil der Politik der Anti-Parteien-Parteien mit ihren populistischen Elementen liegt im Aufzeigen der Tatsache, dass sich die österreichische Gesell- schaft modernisiert und individualisiert hat. Es entspricht nicht mehr der gesell- schaftlichen Realität, „von der Wiege bis zur Bahre“ Parteimitglied zu sein, so- wie auch die althergebrachten Lagermentalitäten weitgehend der Vergangenheit angehören. Die Kluft zwischen Säkularismus und Religion oder zwischen Kapi- tal und Arbeit wurde aufgrund des konkordanz-demokratischen Demokratiemo- dells der Nachkriegszeit,14 welches auf eine Machtaufteilung zwischen ÖVP und SPÖ abzielte, weitgehend überwunden. Dieses erfolgreiche Demokratiemodell der Konkordanz wird gegenwärtig von vielen Österreichern in Frage gestellt und erweckt bei ihnen ein Gefühl der Alternativlosigkeit und des Parteienverdrusses  13 Manfred Kohler, Transnational Governance and the European Parliament: From Talking Shop to Legislative Powerhouse. In: Journal of Common Market Studies. doi: 10.1111/jcms.12095 (2013) 1-16. 14 Anton, Pelinka, Österreich: Konkordanzdemokratie und Sozialpartnerschaft. In: H. Mi- chalsky (Hg.), Politischer Wandel in konkordanz-demokratischen Systemen (Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 15, Vaduz 1991) 29-44. Rechtspopulismus in Österreich 111  – ein Trend der auch schon in Deutschland15 von vielen festgestellt wurde und sich in entwickelten Demokratien fast überall beobachten lässt.

7. Die Nationalratswahl 2013: Fazit und Ausblicke Die Nationalratswahlen 2013 haben neuwertige Trends in der österreichischen Parteienlandschaft in Richtung zunehmender Fragmentierung gezeitigt. Der Trend in Richtung gesellschaftlicher Individualisierung scheint sich ebenfalls bei den Urnengängen niederzuschlagen, denn die österreichischen Wähler sind noch mobiler und ungebundener geworden.16 Wechselwähler entscheiden sich heute tendenziell eher nicht mehr für eine der Regierungsparteien.

Wahlverhalten der Wechselverwähler

Quelle: Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013).

In den 1970er Jahren identifizierten sich noch zwei Drittel der Wähler mit einer Partei. Dieser Anteil verringerte sich in den 1990ern auf etwa 50 Prozent, um im Jahr 2013 einen Tiefstand von 41 Prozent zu erreichen. Dieser Trend ist bei den Stammwählern noch drastischer verlaufen, wobei der Anteil letzterer von den 1970ern von zwei Drittel auf ein Fünftel geschrumpft ist. Die Parteibindung ist heute schwach und zudem gibt es immer mehr Wechselwähler (von 3 Prozent 1975 auf 28 Prozent 2013) und sogenannte „Late Deciders“ (von 9 Prozent auf

 15 Ursula Feist, Niedrige Wahlbeteiligung – Normalisierung oder Krisensymptom der Demo- kratie in Deutschland? In: Karl Starzacher (Hg.), Protestwähler und Wahlverweigerer: Kri- se der Demokratie? (Köln 1992) 40-57; Ursula Feist, Die Macht der Nichtwähler. Wie die Wähler den Volksparteien davonlaufen (München 1994). 16 Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND. Analyse der Nationalratswahlen 2013 (ECOQUEST, Wien 2013); Peter A. Ulram, Hegemonie und Erosion. Politische Kultur und politischer Wandel in Österreich (Wien 1990). 112 Manfred Kohler

38 Prozent). Der Parteimitgliederanteil erodiert ebenfalls zunehmend von 23 Prozent 1975 auf gerade einmal 9 Prozent im Jahr 2013.17

Schwindende Parteibindungen und ihre Indikatoren

Quelle: Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013).

Es hat sich nach der Nationalratswahl 2013 die Anzahl der Parteien um gleich zwei erweitert – das NEOS-LIF und das Team Stronach, welches mittlerweile ohne Stronach als “Team ohne Stronach“ bezeichnet werden könnte. Das BZÖ konnte seine parlamentarische Existenz nicht mehr sichern und ist ausgeschie- den. Der klassisch österreichische rechtspopulistische Hang, der vor allem von der Anti-Parteien Partei, FPÖ, als ausländerfeindliche und Anti-Establishment- Partei verkörpert wird, wurde durch neue populistische Herausforderer ergänzt. Das Team Stronach und das Neos - LIF erweitern das populistische Spektrum mit neuen Elementen. Ersteres trat als „Ein-Mann-Partei“ bei den Nationalrats-  17 Fritz Plasser, Gilg Seeber, Wahlentscheidung in der Boulevard-Demokratie. Die Kronen Zeitung, Nes Bias und Medieneffekte. In: Fritz Plasser (Hg.), Politik in der Medienarena. Praxis politischer Kommunikation in Österreich (Wien 2010). Rechtspopulismus in Österreich 113  wahlen 2013 an, schaffte mit knapp über 6 Prozent zwar den Einzug ins Parla- ment, aber blieb weit hinter den prognostizierten Erwartungen zurück. Das Team Stronach stellte sich durchaus in klassisch populistischer Weise als Fun- damentalopposition zu den regierenden Parteien dar. Frank Stronach, der “popu- listische Oligarch“, versprach im Wahlkampf 2013 eine sauberere, ehrlichere und wirtschaftsorientiertere Politik, die er mit seinem unternehmerischen Know- How durchaus glaubwürdig vertreten können hätte, wenn er sich nicht durch regelmäßige Fauxpas, rhetorische Mängel und einem unzureichenden Verständ- nis für die politisch-rechtlichen Verhältnisse des politischen System Österreichs selbst ins Abseits gedrängt hätte. Seine inhaltsleere Wertepropagierung und sei- ne durch parteiinterne Absetzungen geprägte Parteiführung ließen den erfolgrei- chen Unternehmer, Frank Stronach, tatsächlich als “undemokratischen und poli- tisch unerfahrenen Oligarchen“ erscheinen. Er konnte letztendlich vom extrem hohen Protestwählerpotential nicht hinreichend profitieren und schaffte den Par- lamentseinzug nur relativ knapp. Ganz anders ist die Situation bei der Liste NEOS-LIF unter der Führung vom PR-Experten, Matthias Strolz. Sie schaffte überhaupt als erste Partei mit 5% der Wählerstimmen auf Anhieb den Einzug in den Nationalrat. Seine neu gegründete Partei kann nur sehr schwer als genuin populistische Partei einge- stuft werden, wenngleich sie sich durchaus als „Protestpartei“, die sich gegen den Reformstau der in der Regierung vertretenen Traditionsparteien, SPÖ und ÖVP, gestemmt hat. Obwohl die Partei beim Wahlkampf und auch danach ge- genüber der Regierung nicht verbal ausfällig, sondern eher konstruktiv aufgetre- ten ist, versammelt diese neue Partei, die auch ein Sammelbecken für ehemalige Wähler des Liberalen Forums ist, die meisten Protestwähler auf sich.

Wahlverhalten und starker Ärger

Quelle: Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013). 114 Manfred Kohler

87 Prozent der Neos-Wähler waren zumindest über die Politik einer oder mehre- rer Parteien in Österreich verärgert. Dies ist eines der interessantesten Phänome- ne der Nationalratswahl 2013. Eine Partei, die zwar die Trägheit der Regierung kritisiert, sich aber eher auf inhaltliche Vorschläge für Struktur-, Bildungs- und Demokratiereformen konzentriert, ohne dabei extrem polemisch zu werden. Was sie sehr vom österreichischen Rechtspopulismus unterscheidet, ist eine Rhetorik der Ein- und nicht der Ausgrenzung, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf politischer Ebene, wo sie ja die Politik „als Ort, wo wir uns treffen“ verstehen. Sie kann also nicht als populistische Partei in Reinform bezeichnet werden, denn alle Parteien – auch die Regierungsparteien – bedienen sich in der Demokratie eines gewissen Populismus. Populismus ist nicht nur Bedrohung, sondern auch Korrektiv. Das überhaupt Erstaunlichste an dieser neuen Partei ist ihr pro- europäischer Kurs, der sich bei den EU-Einstellungen der NEOS-Wählerschaft niederschlägt.

Wählereinstellungen zur EU-Mitgliedschaft

Quelle: Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013).

Ganze 74 Prozent der NEOS-Wähler sehen die Vorteile der österreichischen EU-Mitgliedschaft. Hier zeigt sich ein ganz neuer Trend: eine pro-europäische Partei, die verärgerte „Protestwähler“ anzieht. Dies deutet auch daraufhin, dass sich frustrierte Wähler in Österreich nicht nur von Rechtspopulisten angespro- chen fühlen, sondern auch einfach nur von Alternativen. Dies ist ein beruhigen- des Zeichen für die österreichische Demokratie, die sich durch eine zunehmende Fragmentierung auszeichnet und auch für die Zukunft Wahlalternativen jenseits eines mit Ausgrenzungen arbeitenden Rechtspopulismus zuzulassen scheint. Ganz anders sieht es bei der extrem populistisch-polemisch auftretenden FPÖ aus. Wie oben erwähnt, geriert sich diese Partei immer in populistischer Art und Weise als die Stimme des Volkes für direkte Demokratie und tritt als Anti-Establishment Partei auf, ist aber tatsächlich eine alte System-Partei, die Rechtspopulismus in Österreich 115  sich bei Regierungsbeteiligungen immer sehr schwer getan hat, weil die populis- tische Strategie nur in Opposition greifen kann. Die Wirtschafts- und Wäh- rungskrise der Europäischen Union hat entgegen der medialen Berichterstattung nicht zu einem massenhaften Wählerzufluss zugunsten der FPÖ geführt, sondern hat tendenziell die extrem knappe absolute Mehrheit für die Regierungsparteien gesichert, denen mehr Krisenkompetenz zugebilligt wurde.18 Die populistische und programmatische Polemik schlug sich bei den Natio- nalratswahlen 2013 auch spiegelbildhaft in den Wählermotiven nieder. Das zweitwichtigste Motiv für die Wahl der FPÖ war bei 31 Prozent ihrer elektora- len Unterstützer die Ausländerpolitik und ihr Kampf gegen “Asylbetrug“. Für 35 Prozent der FPÖ-Wähler war es der Protest gegen die regierenden Traditionspar- teien. Die FPÖ ist mit ihrer populistischen Tradition der Opposition gegen das politische Establishment und gegen eine offene Ausländerpolitik bei den Wäh- lern durchaus noch erfolgreich und bedient sich daher nach wie vor klassischer rechtspopulistischer Instrumente der Ausgrenzung und Abgrenzung, obwohl sie eigentlich als alte System-Partei mehr Anti-Parteien-Partei mit ethnonationalisti- scher Ideologie ist. Sie bedient sich lediglich der Mittel des Rechtspopulismus.

Motive der FPÖ-Wähler

Quelle: Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013).

 18 Peter A. Ulram, DIE ZEICHEN AN DER WAND (Wien 2013). 116 Manfred Kohler

Gegenwärtig befindet sich auch die FPÖ wieder in einem Umfragehoch. Eine aktuelle Market-Umfrage (Erhebungszeitraum zwischen 4. Und 6. März 2014) für derStandard.at sähe die FPÖ mit 27 Prozent auf dem ersten Platz, wenn Na- tionalratswahl stattfänden, gefolgt von der SPÖ mit 22 Prozent, der ÖVP mit 19 Prozent und den NEOS-LIF und Grünen gleichauf mit 13 Prozent.19 Es wird spannend im österreichischen Parteiensystem. Der Rechtspopulis- mus scheint nach der Krise, trotz der von dem Rechtspopulisten Haider verur- sachten Hypo-Krise in Kärnten, wieder im Vormarsch. Er trifft aber auf Heraus- forderer, die ebenfalls im Protestwählerbecken fischen. Die FPÖ ist nicht mehr die einzige Alternative zu den Traditionsparteien. Es wird enger und spannender in der elektoralen Arena Österreichs. Der Populismus ist dabei nicht nur Bedro- hung, sondern auch Korrektiv.

 19 Conrad Seidl, Neos sind gleichauf mit den Grünen. In: derStandard.at, online unter (12. März 2014). Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ Österreichische Zuwanderungsgeschichte seit 1955 aus identitäts- politischer Perspektive Ingrid Blasge

Bei der Entwicklung eines Staates, eines grundsätzlich aus- und einschließenden politischen Gebildes, werden durch die Auseinandersetzung mit den Anderen1 Fragen der eigenen Identität und des Selbstbildes verhandelt, wie z.B. die Gren- zen und Allianzen nach außen mit anderen Staaten, die Durchlässigkeit bei der Ein- und Ausreise, die Frage der Zugehörigkeit sowie die soziale Differenzie- rung. Die Funktion der Anderen bei der Herausbildung der Identität der Zweiten Republik wird in diesem Beitrag exemplarisch an drei markanten Eckpfeilern der Migrationsgeschichte festgemacht: an der Hilfe für die Ungarnflüchtlinge 1956/7, der Anwerbung von GastarbeiterInnen in den 1960er- bis 80er-Jahren sowie der Politisierung des Migrationsthemas um die Jahrtausendwende. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den sprachlichen Ein- und Umkleidungen (Diskursen) der drei korrespondierenden sozialen Figuren liegen, des politischen Flüchtlings, des Gastarbeiters sowie der Person mit „Migrationshintergrund“. Mit Zierer2 wird die Funktion des politischen Flüchtlings für das Selbstver- ständnis Österreichs als neutrale, westliche Demokratie nachgezeichnet, mit Perchinig3 die Rolle der GastarbeiterInnen für die Institutionalisierung der Sozi- alpartnerschaft als österreichischer Form des Korporatismus und auf Žižeks4 Di- agnose aufbauend wird gezeigt, wie die Politisierung des Themas Zuwanderung eine grundlegendere Entpolitisierung verschleiert und sozioökonomische Belan- ge kulturalisiert.

 1 Die Anderen ist hier als antithetischer Begriff zu ÖsterreicherInnen zu lesen, mit einem historisch und situativ je unterschiedlichen rechtlichen Status und diskursiven Zuschreibungen. 2 Brigitta Zierer, Politische Flüchtlinge in österreichischen Printmedien (Abhandlungen zu Flüchtlingsfrage 23, Wien 1998). 3 Bernhard Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration? (Arbeits)migrations- und Inte- grationspolitik in der Zweiten Republik. In: Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie) 53 (2009) 228-246. 4 Slavoj Žižek, Ein Plädoyer für die Intoleranz (Passagen Forum, Wien 1998). 118 Ingrid Blasge

(Abb.1:) Grenzmarkierung zu Ungarn, 1956. Foto: Bundesheer

1. Die Ungarnflüchtlinge als Bewährungsprobe für die österreichische Neutralität In Ungarn kam es im Oktober 1956 nach bewaffneten Auseinandersetzungen in Folge einer Demonstration, die den Austritt aus dem Warschauer-Pakt zum Ziel hatte, zum Sturz der prosowjetischen Regierung. Der Systemwechsel währte al- lerdings nur einige Tage. Unterstützt von einmarschierenden sowjetischen Trup- pen wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen zu Fall gebracht und die alte Ordnung durch eine Gegenregierung wieder hergestellt. Rund 180.000 Menschen flüchteten binnen weniger Wochen über die Grü- ne Grenze im Burgenland nach Österreich. Der Übergang war nach dem soge- nannten „Tauwetter“ im Mai 1956 bis in den Februar 1957 noch relativ einfach möglich, weil die Grenze erst danach mit Zäunen versperrt war.5 Österreich ge- währte allen Ungarnflüchtlingen kollektiv unbürokratisch und schnell Asyl und ermöglichte in kürzester Zeit die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlin- ge, letztendlich blieben aber nur etwa zehn Prozent davon dauerhaft im Land,

 5 Béla Rásky, „Flüchtlinge haben auch Pflichten“. Österreich und die Ungarnflüchtlinge 1956. In: Verein Kakanien revisited // cenex, www.kakanien.ac.at, 1.10.2001, online unter (16.2.2014) 3. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 119  der überwiegende Teil wurde von nordamerikanischen sowie westeuropäischen Staaten aufgenommen.6 Brigitta Zierer analysierte die Berichterstattung über die Ungarnflüchtlinge in den wichtigsten österreichischen Tageszeitungen und arbeitete anhand der sich verändernden Darstellungen und Meinungsmache das Zusammenspiel aus zeitgeschichtlichen Ereignissen, politischem Kalkül und Stimmungsverlauf überzeugend heraus.7 Das Selbstbild Österreichs laut Medienanalyse war das eines jungen, neutralen, demokratischen Staates, der darum bemüht war, sich im westlichen Bündnis zu positionieren. Die österreichische Regierung bezog gleich zu Beginn der Revolution klar Stellung als Hüterin der Demokratie und Beschützerin der Flüchtlinge. Obwohl durchaus nicht klar war, ob und inwieweit die Neutralität mit der Aufnahme der Flüchtlinge vereinbar war, wagte es Öster- reich, an die Sowjetunion zu appellieren, die Kampfhandlungen einzustellen und dem ungarischen Volk Freiheit im Sinne der Menschenrechte zu gewähren, was auch prompt zu scharfer Kritik von Seiten der Sowjetunion führte. Damit ver- suchte Österreich seine Position als neutraler Staat zwischen West und Ost aus- zuloten, zu Beginn der Revolution offensiv, im Laufe des Herbst 1956 zuneh- mend vorsichtiger. Die noch ungefestigte außenpolitische Position und die in Österreich erst im Aufbau befindlichen eigenen militärischen Strukturen ließen im Hinblick auf eine mögliche Kompromittierung der eben erst erklärten immerwährenden Neut- ralität äußerste Vorsicht angebracht erscheinen.8 Die mögliche Gefahr eines Angriffes aus dem Osten wurde auch immer wieder als Grund für die Notwendigkeit eines funktionsfähigen, starken Bun- desheeres ins Feld geführt. Als Österreich 1957 weitere, über Jugoslawien kommende Flüchtlinge aufnehmen sollte, sich aber aufgrund der Überforderung (schleppende Aufnahme durch andere europäische Länder, fehlende finanzielle Mittel) kritische und abwertende Töne gegenüber Flüchtlingen in der Zeitungs- berichterstattung breit machten, blieb die außenpolitische Haltung Flüchtlingen

 6 Heinz Fassmann und Rainer Münz, Österreich – Einwanderungsland wider Willen. In: Heinz Fassmann, Rainer Münz (Hg.), Migration in Europa: historische Entwicklung, ak- tuelle Trends und politische Reaktionen (Frankfurt/Main/New York 1996) 212; 7 Zierer, Der politische Flüchtling, 136-156. 8 Peter Haslinger, Hundert Jahre Nachbarschaft. Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn 1895-1994 (Frankfurt/Main 1996) 242 zit. nach Béla Rásky, Flüchtlinge, 3. 120 Ingrid Blasge gegenüber freundlich, um das gewonnene Image als Flüchtlingsland aufrechtzu- erhalten.9 Dass die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge als Identitätsmarker für das neutrale „Flüchtlingsland Österreich“10 fungiert, wird klar, wenn man sie zah- lenmäßig anderen Flüchtlingsströmen gegenüberstellt: Von den rund 160.000 über Österreich fliehenden Tschechoslowaken (1968/69) und den ca. 130.000 Polen (1981/82) stellten zwar insgesamt nur rund 15% Asylanträge, die Größe der Fluchtbewegung ist aber mit der aus Ungarn (180.000) vergleichbar. Und gemessen an den ungefähr 18.000 im Lande verbliebenen Ungarn nahm Öster- reich 1992 fast fünfmal so viele De-Facto-Flüchtlinge aus Bosnien auf (ca. 90.000).11 Überdies darf nicht vergessen werden, dass die Hilfe für die Ungarnflücht- linge auf Strukturen sowie Einrichtungen aus dem Nachkriegsjahrzehnt aufbau- en konnte, die auf weit mehr migrierende Menschen ausgerichtet waren: Fass- mann/Münz gehen 1945 von rund 1,6 Mio. Displaced Persons (Zwangsarbeiter, KZ-Entlassene und Kriegsgefangene) aus, die allerdings nicht lange im Land blieben, und von zusätzlich rund 1 Mio. vertriebener sogenannter „Volksdeut- schen“ zwischen 1945 und 1950, von denen sich nur gut die Hälfte längere Zeit in Österreich aufhielt. Ab 1954 konnten sich letztere unkompliziert einbürgern lassen, was bis 1961 ca. 250.000 „Heimatvertriebene“ in Anspruch nahmen.12 Das verdeutlicht, dass die Hilfe für die Ungarnflüchtlinge über die tatsächlich geleistete Unterstützung hinaus in Verbindung mit der erfolgreichen Erprobung der Neutralität einen willkommenen Referenzpunkt für das österreichische Selbstverständnis als Asylland abgab. Ein weiterer Grund mag darin zu finden sein, dass sich die Hilfe für Un- garnflüchtlinge in aktuellen Debatten um die österreichische Asylpolitik als Rechtfertigungsdiskurs13 für diametral entgegengesetzte Haltungen eignet: Für das rechte, nationale Lager liefert er den Beweis, dass Österreich bei tatsächlich vorliegenden Fluchtgründen sehr wohl zu helfen bereit ist, womit es eine restrik- tivere Asylpolitik moralisch rechtfertigt, die sich vor allem gegen sogenannten „Asylmissbrauch“ richtet. Das linke, in Asylfragen liberalere Lager fordert mit  9 vgl. Béla Rásky, Flüchtlinge, 6. 10 Flüchtlingsland Österreich, unhcr.at, 2001-2014, online unter http://www.unhcr.at/unhcr/in-oesterreich/fluechtlingsland-oesterreich.html?L=0, 1.3.2014). 11 Fassmann, Münz, Einwanderungsland wider Willen, 212. 12 Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 228. 13 Vgl. Béla Rásky, Flüchtlinge, 1. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 121  dem Hinweis auf die damalige (trotz der wirtschaftlich sehr schwierigen Situati- on nach dem Krieg) beeindruckende Hilfsbereitschaft angesichts des aktuellen Wohlstands eine umso großzügigere Haltung gegenüber Hilfesuchenden. Nach Bekanntgabe des beschämend niedrigen und einseitigen österreichi- schen Kontingents für Syrienflüchtlinge von 500 Frauen, Kindern und Christen im Herbst 2013 variierte der amtierende Generalsekretär von Amnesty Internati- onal in Österreich, Heinz Patzelt, den Rechtfertigungsdiskurs folgendermaßen: Österreich sei bei den Ungarnflüchtlingen von anderen aufnehmenden Staaten entlastet worden. Es gebe daher jetzt auch eine Verpflichtung von österreichi- scher Seite Jordanien, das seine Aufgaben als Nachbar- und Erstaufnahmeland (wie Österreich damals) bisher vorbildlich erfüllt habe, aber nun an seine Gren- zen gestoßen sei, beizustehen.14 Der politische Flüchtling an sich prangert mit seiner Flucht nicht nur das politische System im Herkunftsland an, gleichzeitig bestätigt er die rechtliche und demokratische Weiterentwicklung des asylgewährenden Staates. Die politi- schen Flüchtlinge aus dem Osten waren also auch in dieser Hinsicht sehr will- kommen, um anzuerkennen, auf der besseren Seite des Eisernen Vorhanges ge- landet zu sein. Bis 1989 verdeutlichten jene Ost-Mittel-Europäer, die es schafften, den Ei- sernen Vorhang zu überwinden, die Attraktivität des Westens; sie wurden gerne aufgenommen. Die Logik des Kalten Krieges unterstellte jenen, die ein kommu- nistisch regiertes Land verließen oder von dort freigekauft wurden, edle Motive. Folglich wurden die meisten Zuwanderer aus Osteuropa im Westen gemäß Gen- fer Konvention als Flüchtlinge anerkannt.15 Im Zusammenhang mit dem NSA-Abhörskandal und der innerdeutschen Debatte, ob man Edward Snowden im Gegenzug zu Aussagen Asyl gewähren könne, meinte der Vorsitzenden der Partei „Die Linke“ gegenüber dem ZDF, dass Snowden, wäre er Chinese oder Russe, „längst politisches Asyl bekommen hätte“.16 Neben der Rücksichtnahme auf die bestehenden internationalen Verträ- ge und diplomatischen Beziehungen mit den USA lag eine Schwierigkeit wohl auch darin, dass Snowden, aus einem Staat mit ähnlichem Selbstverständnis  14 Paul Kraker,? Patzelt: Jordanien nicht im Stich lassen. Ö1 Mittagsjournal, 31.10.2013, online unter http://oe1.orf.at/artikel/356534 (18.2.2014). 15 Zierer, Der politische Flüchtling, 5. 16 Friedel Taube, Asyl für Snowden in Deutschland? Deutsche Welle, Peter Limbourg (In- tendant), 3.11.2013, online unter http://www.dw.de/asyl-für-snowden-in-deutschland/a- 17201476, (18.2.2014). 122 Ingrid Blasge kommend, mit dem Asylantrag gleichzeitig auch die politische Verfasstheit Deutschlands in Frage stellte. Wie sehr die Einschätzung und Beurteilung der Anderen von der eigenen Situation abhängig ist, zeichnet Zierer in ihrer Leitartikelanalyse nach: Paarte sich zu Beginn der Revolution ein von Mitleid geprägter Diskurs mit der Hoch- stilisierung des heldenhaften Freiheitskampfes des leidenden, unterdrückten un- garischen Volkes, änderten sich Ton und Haltung mit zunehmender Erschöpfung und Überforderung der hilfestellenden Menschen und Institutionen in Öster- reich, sodass „in weiterer Folge oft nur mehr von Emigranten statt von Flücht- lingen die Rede war“, oder von „'sogenannten' Flüchtlingen“, was den Flüchten- den klar andere Motive unterstellte und ihnen einen anderen rechtlichen Status zusprach.17

2. Die Anwerbung von GastarbeiterInnen Die österreichische Migrationsforschung und die offiziellen Migrationsstatisti- ken setzen meist mit den Anwerbeabkommen für GastarbeiterInnen im Jahr 1961 ein,18 die Kontinuitäten bzw. Brüche zu Erfahrung und Umgang mit den verschiedenen Flüchtlingsgruppen von 1945 bis Mitte der 60er-Jahre werden seltener behandelt.19 Die Arbeitsmigration ist quantitativ ausschlaggebender für den Wanderungssaldo als die Flüchtlingsbewegungen, wobei aber nicht die be- achtliche Abwanderung von Österreichern in den 1950er-Jahren in die Schweiz, nach Deutschland und Übersee vergessen werden darf.20 Der Wirtschaftsaufschwung setzte in Österreich später als in Deutschland ein, erst Mitte bis Ende der 1960er-Jahre. In den ersten Jahren konnte der ge- stiegene Bedarf an Arbeitskräften durch Binnenmigration (Arbeitskräfte aus den südlichen, strukturschwachen Bundesländern) sowie durch deutschsprachige Vertriebene gedeckt werden.21 Als der Bedarf und die Nachfrage durch die Be- triebe vor allem in den untersten Arbeitsmarktsegmenten dramatisch anstiegen,

 17 Zierer, Der politische Flüchtling, 156. 18 migration & integrAtion. zahlen. daten. indikatoren 2013. Erstellt von Statistik Austria, Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2013, online unter http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/bmeia/media/Integration/Integrationsberich t_2013/Statistische_Jahrbuch_2013.pdf (1.3.2014) 24f. 19 Andreas Weigl, Migration – ein interdisziplinäres Forschungsfeld. In: Österreich in Ges- chichte und Literatur (mit Geographie) 53 (2009) 211f. 20 Fassmann, Münz, Einwanderungsland wider Willen, 216. 21 vgl. Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 231f. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 123  übernahm Österreich von anderen zentraleuropäischen Staaten das Modell der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Mittelmeerraum (vor allem aus Jugo- slawien und der Türkei). Dazu wurden ein Anwerbezentrum in Wien sowie An- werbekommissionen in den Entsendeländern eingerichtet, teilweise nutzte Öster- reich bereits bestehende Strukturen Deutschlands. Die Entsendeländer hatten das Monopol auf die Arbeitsvermittlung und wollten die Kontrolle über ihre Ar- beitskräfte behalten (vor allem Jugoslawien). Die Anwerbezentren, die mit der österreichischen Bundeswirtschaftskammer die sozialrechtlichen Bestimmungen regelten, verloren aber sehr rasch an Einfluss, weil immer mehr Arbeitnehmer über den informellen Weg angeworben wurden – über Vermittlung Verwandter und Bekannter von bereits arbeitstätigen Personen. Außerdem legalisierte Öster- reich, zum Missfallen von Jugoslawien, Arbeitsverträge, die erst nach der Ein- reise mit einem Touristenvisum geschlossen wurden.22 Die Zuwanderung von Arbeitskräften entwickelte somit sehr früh eine Eigendynamik, die weniger kon- trollierbar war als von den internationalen Vertragspartnern intendiert. Im Unterschied zu Deutschland gingen in Österreich die gutbezahlten Stel- len für Arbeiter in der verstaatlichten Industrie an Inländer, nur die Jobs, die von der Tätigkeit, der Entlohnung sowie vom Prestige her unattraktiv waren, blieben vakant. So waren schätzungsweise 80% der Gastarbeiterstellen Hilfsarbeiten: im Bau- und Gastgewerbe, Fremdenverkehr sowie im Bereich der persönlichen Dienstleistungen. Damit zog man vor allem niedrig bis gering qualifizierte Ar- beitnehmer an. Die Gastarbeiter sollten, so der Plan, kurzfristig und flexibel ein- setzbar, anpassungsbereit, und vor allem spätestens nach einem Jahr wieder kündbar sein. Sie waren eine „Manövriermasse betrieblicher Strategien und staatlicher Politik“.23 Diese Konzeption stand ganz in der Tradition einer Ar- beitsmarktregelung aus dem 19. Jahrhundert (die bis in die 1990er-Jahre gültig sein sollte), bei welcher der Status der betroffenen Person nicht über den Zugang zum Arbeitsmarkt entschied, sondern darüber, ob sie im Falle von Arbeitslosig- keit das Recht auf Aufenthalt behielt oder verlor. Verfügte die Person über kein

 22 vgl. Eveline Wollner, Maßnahmen Jugoslawiens und der Türkei. In: Viel Glück! Migration heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul. Ein Projekt der Initiative Minderheiten. Herausgegeben von Vida Bakondy, Simonetta Ferfoglia, Jasmina Jankoviü, Cornelia Kogoj, Gamze Ongan, Heinrich Pichler, Ruby Sircar und Renée Winter (Wien 2010) 80 – 87. 23 Fassmann, Münz, Einwanderungsland wider Willen, 222. 124 Ingrid Blasge

Heimatrecht bzw. ab 1945 über keine Staatsbürgerschaft, war sie gezwungen den Ort bzw. das Land zu verlassen.24

Das sogenannte „Rotationsmodell“ ging aber nicht auf: Die Arbeitskräfte blieben, ganz im Sinne der Arbeitgeber, die weder jedes Jahr neue Arbeitnehmer einschulen noch höhere Lohnkosten haben wollten. Während der Wirtschaftskri- se Mitte der 70er-Jahre wurden zwar rund 50.000 Arbeitsgenehmigungen entzo- gen, das führte aber nur dazu, dass sich viele der GastarbeiterInnen dazu ent- schlossen, hierzubleiben und ihre Familien nachzuholen, da die Einreise zu ei- nem späteren Zeitpunkt rechtlich ungewiss war.25

 24 August Gächter, Der Integrationserfolg des Arbeitsmarktes, 143. In: Herbert Langthaler (Hrsg.), Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde (Innsbruck/Wien/Bozen 2010). 25 Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 233. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 125  2.1. Die Rolle der GastarbeiterInnen für die Institutionalisierung der Sozi- alpartnerschaft Wie groß der Arbeitskräftemangel in den 1960er- und 70er-Jahren war, verdeut- licht die folgende Aussage: „GastarbeiterInnen konnten bei anderen Fabriken gar nicht vorbeigehen, weil sie gleich gefragt wurden, ob sie nicht dort arbeiten wollten.“26 Durch den steigenden Druck auf den Niedriglohnsektor kam die be- reits bestehende informelle Kooperation der Interessenvertreter von Arbeitge- bern (Bundeswirtschaftskammer) und Arbeitnehmern (Gewerkschaft) in eine Krise. Erstere forderten einen raschen und einfachen Zugang ausländischer Ar- beitskräfte zum Arbeitsmarkt, der ÖGB, der zuerst überhaupt gegen die Auslän- derbeschäftigung war, schlug schließlich ein Rotationsmodell nach Schweizer Vorbild vor. 1961 konnten sich die beiden Seiten auf ein Ausländerbeschäfti- gungsgesetz einigen, das einem Kontingent von 47.000 ausländischen Arbeits- kräften befristet Arbeitserlaubnis erteilte, die im Bedarfsfall aber vor den Inlän- dern entlassen werden müssten (Inländerprimat). Bernhard Perchinig zeichnet die Interessenabwägungen der Akteure detailreich nach und arbeitet heraus, wie durch gegenseitige Zugeständnisse die Sozialpartnerschaft als spezifisch öster- reichische Form des Korporatismus institutionell verankert wurde: Die Arbeit- nehmerseite akzeptierte ausländische Arbeitskräfte, im Gegenzug erkannte die Bundeswirtschaftskammer die paritätische Kommission an.27 Die österreichische Sozialpartnerschaft entstand also durch die Aushandlung, wie man mit fremden ArbeitnehmerInnen verfahren sollte; die innere Verflochtenheit des Landes wur- de durch das korporatistische Modell unter gezielter Ausnutzung ausländischer Arbeitskräfte gestärkt. 1975 wurde die Sozialpartnerschaft um Vertreter der Landwirtschaftskam- mern erweitert und der Einfluss des ÖGB entsprechend angepasst - wieder im Zuge eines Ausländerbeschäftigungsgesetzes, was den strukturellen Zusammen- hang zwischen Arbeitsmarktregelungen und Zuwanderungspolitik unter- streicht.28 Perchinig sieht sowohl das Inländerprimat wie auch das Paradigma des „Arbeitsmarktes als öffentliches Gut der Staatsbürger“ u.a. in der Betriebs- gesetzgebung von 1934 begründet. Thomas M. Marshall (Soziologie der Staats- bürgerschaft) spricht überhaupt von einem parallelen, ergänzenden System

 26 Alicia Allgäuer, Mary Kreutzer, Thomas Schmidinger (Hg.), ZusammenReden. Debatten über Integration in österreichischen Kommunen (Wiener Neustadt 2010) 26. 27 Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 229 – 232. 28 Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 234. 126 Ingrid Blasge

„wirtschaftlicher Staatsbürgerrechte“, das durch die Gewerkschaften erkämpft wurde.29 Der Zusammenhang bestand bis ins Jahr 1990, als das Innenministeri- um die Migrationsagenden übernahm. „Dieses verabschiedete sich von der Mig- rationsregelung durch Arbeitsmarktpolitik und implementierte eine direkte Ein- wanderungssteuerung, indem die Höchstzahl der zu vergebenden Aufenthaltsti- tel gedeckelt wurde.“30 Das Betriebsratsgesetz von 1947 schloss ausländische Staatsbürger vom aktiven und passiven Wahlrecht aus. Seit dem Jahr 1975 dürfen sie wählen und erst seit 2006 (sic!) auch gewählt werden.31 Das Sozialprestige der Gastarbeiter war in den ersten Jahrzehnten entsprechend der rechtlichen Rahmenbedingun- gen, ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung des Systems sowie der fehlenden In- teressenvertretungen besonders niedrig. Das förderte auf der sprachlichen Ebene bedenkliche Kontinuitäten zu Tage. Einerseits wurden die GastarbeiterInnen verdinglicht und damit gleichzeitig entmenschlicht. Die grundsätzliche Tendenz, Migrant/innen zu verobjektivieren, findet ih- ren Ausdruck im generellen 'Sprechen über'. Dieses Sprechen ist einerseits Re- sultat der bürokratischen Anwerbeverläufe, in denen gewünschte Arbeiter/innen wie eine zu importierende Ware gehandelt werden. 'Lieferscheine' und 'Trans- portbescheinigungen' dokumentieren die Reise einer Arbeiterin; 'Rest' oder 'Restbestände' bezeichnen noch nicht angekommene Arbeiter, der Begriff 'Stück' dient als Mengenangabe für Personen.32 Das Verdinglichen öffnete andererseits einer vom Opfermythos und feh- lender Aufarbeitung geprägten latenten nationalsozialistischen Haltung und Terminologie Tür und Tor. Bei Anwerbeuntersuchungen ist von 'Selektion' die Rede. Im Schriftver- kehr kursieren Listen von 'Transporten' mit den Namen der Arbeiter/innen, de- ren Reisen nach Österreich in Phasen starker Nachfrage in 'Sonderzügen' organi- siert wurden. Auch die als Bezeichnung für Arbeitsmigrant/innen gängigen Be-

 29 vgl. Jürgen Mackert, Staatsbürgerschaft. Eine Einführung, (Wiesbaden 2006) 34. 30 Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 236. 31 Allgäuer, Kreutzer, Schmidinger (Hg.), ZusammenReden, 20f. 32 Vida Bakondy, Bitte um 4 bis 5 türkische Maurer. Eine Analyse von Anwerbeakten der österreichischen Wirtschaftskammer. In: Viel Glück! Migration heute. Wien, Belgrad, Za- greb, Istanbul. Ein Projekt der Initiative Minderheiten. Herausgegeben von Vida Bakondy, Simonetta Ferfoglia, Jasmina Jankoviü, Cornelia Kogoj, Gamze Ongan, Heinrich Pichler, Ruby Sircar und Renée Winter (Wien 2010) 77. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 127  griffe 'Fremdarbeiter' und 'Gastarbeiter' fungierten bereits im NS-Regime als Bezeichnungspraxen.33

3. Mensch mit „Migrationshintergrund“ - Der politisch korrekte Umgang mit den Anderen

(Abb. 3) Cartoon: © johannmayr

3.1. Repolitisierung über das Ausländerthema Mit dem langfristigen, jahrzehntelangen Aufenthalt stellte sich immer mehr die Frage nach einer gleichberechtigten Teilhabe: GastarbeiterInnen trugen zum Wohlstand bei, zahlten Steuern, schickten ihre Kinder in die Schule, hatten aber trotzdem weniger Rechte und schlechtere Chancen. In den 1980er-Jahren kam es zu einem Diskurswechsel, in Vereinen von Migranten wurden nicht mehr Arbei- ter-, sondern Ausländerrechte diskutiert,34 Soziales wurde zunehmend kulturali- siert. Zwischen 1980 und 1995 verdoppelte sich der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit von ca. vier auf acht Prozent.35 Die rechtspo-  33 Bakondy, Anwerbeakten der Wirtschaftskammer, 78. 34 Allgäuer, Kreutzer, Schmidinger (Hg.), ZusammenReden, 26. 35 Statistik Austria, migration & integrAtion 2013, 25. 128 Ingrid Blasge pulistische FPÖ profilierte sich mit dem „Ausländerthema“, damit ließ sich wie- der Politik machen und es konnten hohe Wahlergebnisse erreicht werden.36 Ne- ben wiederholten fremdenfeindlichen Kampagnen sind das Volksbegehren „Ös- terreich zuerst“ 1993 (besser bekannt als „Ausländervolksbegehren“) sowie die Regierungsbeteiligung der FPÖ mit angedrohten Maßnahmen der übrigen EU- Mitgliedsstaaten im Jahr 2000 (den sogenannten „EU-Sanktionen“) die markan- testen Ereignisse ihrer „Ausländerpolitik“. Žižek diagnostiziert, dass der Kapita- lismus als etablierte Wirtschaftsform mit seiner Macht, alle vor dem Markt gleichzumachen, auch zu einer Entpolitisierung geführt habe. Die kritischen Kräfte würden sich nicht um die Eindämmung der ebenfalls vom Kapitalismus erzeugten sozioökonomischen Ungleichheiten bemühen, sondern hätten „in ih- rem Kampf für die kulturellen Differenzen nun ein Ersatzventil gefunden [...], das die basale Homogenität des kapitalistischen Weltsystems intakt läßt.“37 Symptomatisch dafür sei auch der Begriff der „Mittelschicht“ als der einzigen übriggebliebenen Klasse, die sich als eine Klasse verstehe (und somit eine lo- gisch unmögliche Klasse ist), „die sich selbst als den neutralen gemeinsamen Grund der Gesellschaft präsentiert“.38 Sie weise den antagonistischen gesell- schaftlich Kräften extreme Randposition zu und verschleiere damit die divergie- renden Interessen. Dieses Vakuum wurde in Österreich von der FPÖ gefüllt, die durch eine offen ausländerfeindlicher Politik das Land repolitisierte. Folgt man Žižeks Argumentation, so verpufft die Repolitisierung, solange sich die gemä- ßigten politischen Kräfte bloß an dem gemeinsamen Feindbild einer rechtspopu- listischen Partei festbeißen und die politischen Diskurse sich in kulturellen Un- terschieden verlaufen, anstatt sozioökonomische Ungerechtigkeiten politisch zu behandeln.39 3.2. Institutionalisierung der Migrationsagenden MigrantInnen organisieren sich ab den späten 70er-Jahren selbst, oft nach Her- kunftsregion oder Sprache in kulturellen, religiösen, politischen oder sozialen Vereinen. In Wien versuchte der aus einer Initiative der Stadt hervorgegangene, aber 2004 neu konstituierte Verein „Wiener Integrationskonferenz – Vernet- zungsbüro“ die Vielzahl an Gruppen in einer Dachorganisation zusammenzu- schließen, um den eigenen Forderungen stärkeres politisches Gewicht zu verlei-

 36 vgl. Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration?, 235. 37 Žižek, Plädoyer für Intoleranz, 77. 38 Žižek, Plädoyer für Intoleranz, 28. 39 Žižek, Plädoyer für Intoleranz, 97f. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 129  hen und sie mit einer Stimme zu vertreten, was jedoch bald an den (nationalisti- schen) Partikularinteressen scheiterte.40 Im öffentlichen Sektor wurde die Migrationsmaterie schrittweise institutio- nalisiert, wenn auch mit unterschiedlicher Ausrichtung: auf den bürgernahen Ebenen wie Gemeinden und Bezirken (und teilweise den Ländern) dominierten der Integrations- und Diversitätsaspekt unter starker Einbeziehung von zivilge- sellschaftlichen Organisationen, die Bundesebene gestaltete den gesetzlichen Rahmen für Migration schwerpunktmäßig unter dem Blickwinkel von Sicher- heitsfragen und Aufenthaltsrecht.41 In Wien beispielsweise wurde 1992 der Wiener Integrationsfonds eingerichtet, der anfänglich vor allem die Bereiche Sprache, berufliche Qualifikation und Jugendarbeit förderte, als Magistratsabtei- lung 17 ab 2004 einen festen Platz in der Stadtpolitik zugewiesen bekam und dort seither zusätzlich Maßnahmen setzt, um „integrationsorientierte Diversi- tätspolitik“ als Querschnittsmaterie in allen anderen magistratischen Abteilun- gen zu verankern.42 Auf Bundesebene sind die Migrationsagenden 1990 von den Sozialpartnern ins Innenministerium gewandert, was immer wieder zu der Kritik führte, dass das Migrationsthema damit vorrangig als Sicherheitsproblem anstatt als soziale Frage verortet war. Eine politische Anerkennung und Aufwertung fand der Be- reich durch die Gründung eines Integrations-Staatssekretariats 2011, womit sich eine Regierung auch erstmals klarer zum Thema positionierte („Integration durch Leistung“). Mit 1. März 2014 gingen die Integrationsagenden ins neube- nannte „Ministerium für Europa, Integration und Äußeres“ (vormals Bundesmi- nisterium für europäische und internationale Angelegenheiten). Ob diese Ver- schiebung bloß der Person des ehemaligen Staatssekretärs für Integration (im Innenministerium) und jetzigen Außenministers Sebastian Kurz geschuldet ist,

 40 Hikmet Kayahan, Die 5. Wiener Integrationskonferenz hat getagt, In: Initiative Minder- heiten (Hg.), STIMME von und für Minderheiten. Identitätspolitik oder Machtkritik (52, 2004), online unter http://minderheiten.at/stat/stimme/stimme52g.htm (1.3.2014) 41 vgl. Andrea Götzelmann, Die Rolle staatlicher AkteurInnen in der österreichischen Integra- tionspolitik. In: Herbert Langthaler (Hg.), Integration in Österreich. Sozialwissenschaft- liche Befunde (Innsbruck/Wien/Bozen 2010) 205f. 42 Eugen Antalovsky, Herbert Bartik, Alexander Wolffhardt, Monitoring Diversität Wien. Gesamtfassung des ersten Wiener Diversitätsmonitors 2009 unter Heranziehung von Ergebnissen des Integrationsmonitors der Stadt Wien. In: Magistratsabteilung 17, Goran Novakovic, 2010 online unter http://www.wien.gv.at/menschen/integration/pdf/monitoring-diversitaet.pdf 5f. [1.3.2014] 130 Ingrid Blasge oder doch auch einer inhaltlichen Neuorientierung – abgekoppelt von Asyl- und Aufenthaltsfragen – bleibt abzuwarten. Das seit Jahren von ExpertInnen geforderte Bekenntnis zu Österreich als einem Einwanderungsland ist von den höchsten politischen Ebenen noch ausständig. Aber die Sichtweise auf das Phänomen hat sich mit zunehmender „Migrationser- fahrung Österreichs“ gewandelt. So wird Integration als beidseitiger Prozess, sowohl der Aufnahmegesellschaft als auch der Zuwanderer gesehen („Integrati- on geht uns alle an!“), Vielfalt als Chance und Herausforderung verstanden und man ist um eine sachliche, entemotionalisierte Debatte bemüht.43 3.3. Das politisch korrekte Sprechen über die Anderen – die Phase des Aushandelns Die ehemaligen GastarbeiterInnen und ihre Familien sind in der Mitte der Ge- sellschaft angekommen, Flüchtlinge wurden aufgenommen, EU-Bürger und Drittstaatsangehörige sind zugezogen, mit ca. 20%44, also mit jeder fünften in Österreich wohnhaften Person sind Zuwanderer und ihre Nachkommen ein nicht mehr zu leugnender Teil der Bevölkerung. Die fortschreitende strukturelle Differenzierung und Institutionalisierung der Migrationsagenden wurde von öffentlichen Diskursen vorangetrieben oder begleitet, die sich anhand zweier Begriffsreihen grob nachzeichnen lassen. Die Reihe „Anpassung, Integration, Diversität, Inklusion“ zeigt die Entwicklung so- zialer und politischer Modelle des Zusammenlebens, welche zunehmend von der Unterscheidung zwischen innerem und äußeren Anderen absieht und die Bring- schuld vom Anderen auf das Eigene verschiebt. Die Reihe „Ausländer, Gastar- beiter, Migrant, Person mit 'Migrationshintergrund'“ nennt Bezeichnungen für den Anderen, die das Fremd-Sein graduieren, die Differenz minimieren, die zu- gewanderten Menschen den Einheimischen näher rücken. Der politische Kampf um die Deutungshoheit von Begriffen, um die sym- bolische Führerschaft in Diskursen spielt sich in Europa seit den 1980er-Jahren u.a. auf dem Feld der politischen Korrektheit ab. Mit der Frage, wie man den Anderen bezeichnen soll, wurde und wird der politische Grundkonsens im Be- zug auf die Rechte und die Stellung der Zugewanderten verhandelt - mit dem Anspruch auf Gleichheit und Gerechtigkeit.

 43 Statistik Austria, migration & integrAtion 2013, 3. 44 Statistik Austria, migration & integrAtion 2013, 22. Flüchtling, Gastarbeiter, Mensch mit „Migrationshintergrund“ 131  Bei der politischen Korrektheit handelt es sich „um eine in Demokratien übliche Mischform aus Sprachkritik und semantischem Kampf“45, wo Politik mit Worten gemacht wird. Dabei steht meist nicht der konkrete Sachverhalt im Vordergrund, sondern es wird darum gerungen, wie sich Äußerungen in die ei- gene politische Norm fügen. In den überwiegenden Fällen geht die Auseinan- dersetzung von politisch links nach rechts und dann wieder nach links.46 Poli- tisch korrekte Diskussionen pendeln zwischen der Anschuldigung von Sprach- zensur (die Sprachkritik sei übertrieben, sie unterdrücke die Wahrheit, werde von „Gutmenschen“ betrieben, die, indem sie sich gutmeinend als Beschützer der Minderheiten aufspielen, diese zu Opfern machten, und einen „Rassismus betreiben, „der Abstand hält“47) und der Forderung nach einem Schutz von Min- derheiten (gegenüber Denkfaulen, Diskriminierenden). Ein Indikator dafür, dass verhandelt wird, ob ein Begriff politisch korrekt ist, sind die getippten oder in die Luft gezeichneten Gänsefüßchen. Mit ihnen kann man „eine reflexive, aber nicht pauschal polemisierende Distanz zur Äuße- rung zum Ausdruck zu bringen.“48 Der Begriff Migrationshintergrund wird häufig in Anführungszeichen ge- setzt. Von einer Person mit „Migrationshintergrund“ spricht das statistische Jahrbuch für Migration und Integration, wenn beide Elternteile im Ausland ge- boren wurden. Damit haben also auch Personen einen „Migrationshintergrund“, die in Österreich geboren sind, deren Eltern in Österreich leben oder lebten, aber irgendwann zugewandert sind. Synonym wird auch die Bezeichnung erste und zweite Generation von Zuwanderern verwendet.49 „Migrationshintergrund“ hat eine Person also unabhängig davon, ob er oder sie im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft ist oder nicht. Die Frage ist nun, wofür braucht man diese Differenzierung, warum ist der Rechtsstatus nicht ausreichend? Für die Erfas- sung des Migrationshintergrundes spricht, dass dadurch negative Folgen bzw. ungleiche Chancen aufgrund von Migration erfass- und nachweisbar sind. Ande-

 45 Arne Hoffmann, Political Correctness. Zwischen Sprachzensur und Minderheitenschutz (Marburg 1996) 87. 46 vgl. Lucian Hölscher (Hg.), Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die na- tionalsozialistischen Verbrechen (Göttingen 2008) 13. 47 Žižek, Plädoyer für Intoleranz, 73. 48 Matthias Dusini, Thomas Edlinger, In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness (Berlin 2012) 261f. 49 Statistik Austria, migration & integrAtion 2013, 22 und 113. 132 Ingrid Blasge rerseits besteht die Gefahr, damit soziale Schieflagen bloß zu kulturalisieren und von notwendigen Reformen abzulenken. Heute, wo die Unions-Bürgerschaft und andere Statusarten die Zugewan- derten den Staatsbürgern rechtlich beinahe gleichstellen, hat die Staatsbürger- schaft ihre klassische Funktion als soziales und sakrales Integrationsinstrument der Gesellschaft verloren. Da Inklusion immer Exklusion bedingt, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Exklusion von den Rändern ins Innere verscho- ben hat: Ab- und Ausgrenzung findet nun innerhalb der Gesellschaft durch die Zuschreibung von Abstammung statt.50 Der „Migrationshintergrund“ lässt damit das alte staatstragende Konzept einer Nation von Bürgern gleicher Herkunft, Kultur und Sprache zumindest in zwei Generationen unberührt.

 50 Was nach Talcott Parsons als typisches Kennzeichen vormoderner Gesellschaften gewertet werden kann. Vgl. Mackert, Staatsbürgerschaft, 53f. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung Daniel Holzer

1. Zum Thema Immer mehr Regelungen wirken direkt auf die politischen Parteien. Die Politik verändert sich dadurch entsprechend und kann aus heutiger Sicht nicht mehr mit der der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik verglichen werden. Dieser Beitrag soll einen Überblick über prägende rechtliche Entwicklun- gen der zweiten Republik betreffend die Parteienlandschaft geben. Die verschie- denen Bereiche werden in chronologischer und lexikarischer Art und Weise auf- gearbeitet, um einerseits einen guten Überblick gewähren und andererseits auch die Begrifflichkeiten verständlich transportieren zu können. Beginnend mit der Demokratie als Meilenstein in der Entwicklung und zu- gleich direktem Anknüpfungspunkt für die politischen Parteien, werden weitere entscheidende Regelwerke erläutert. Das Wahlrecht als direkte Verbindung zwi- schen Bevölkerung und politischen Parteien muss in diesem Zusammenhang Behandlung finden. Aber auch die grundsätzliche rechtliche Entwicklung und Anerkennung der politischen Parteien hat Erläuterungsbedarf. Vieles spielt hier hinein. Das Staatsgrundgesetz, die Unabhängigkeitserklärung, das Vereinsgesetz und das Parteiengesetz, um nur einige Punkte zu nennen. Abschließend muss natürlich auch das dominierende Thema der letzten Jahrzehnte, die Finanzierung und Förderung von Parteien näher betrachtet wer- den. In direktem Zusammenhang damit steht natürlich die Transparenzfrage, die uns in Zukunft noch öfter beschäftigen wird.

2. Demokratie und Politik „Österreich ist eine Demokratie. Ihr Recht geht vom Volk aus.“1 Mit diesen Worten ist das demokratische Prinzip im österreichischen Bundes- verfassungsgesetz (B-VG) aus dem Jahre 1920 verankert. Die politischen Parteien ergänzen dieses System entsprechend. Die Tatsa- che, dass Parteien ursprünglich positivrechtlich kaum Erwähnung fanden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine ungemein wichtige Rolle im Staats- gefüge spielen. Gerade in der Zweiten Republik haben sich die politischen Par-

 1 Vgl Art 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 134 Daniel Holzer teien zu enormen Machtzentralen entwickelt, allen voran die sogenannten „Großparteien“2 der vergangenen Jahrzehnte. Man kann auch von einem „aus- geprägten parteienstaatlichen Charakters des gesamten Systems“3 sprechen. Bei den verschiedenen Wahlgängen ist dann aber doch das angesprochene Volk, die Bevölkerung, am Zug, eben diese Parteien und die dahinter stehenden Politiker zu ihren Repräsentanten zu küren. Das Recht geht also nur indirekt vom Volke aus.

3. Demokratie Unter Demokratie, deren Ursprünge in das antike Griechenland zurückgehen, wird die Herrschaft des Volkes verstanden. Abraham Lincoln4 definierte die Demokratie idealistisch als „Herrschaft des Volkes über das Volk für das Volk“. Winston Churchill5 betrachtete diese hingegen wesentlich realistischer, indem er sinngemäß meinte, dass Demokratie von allen naturgemäß problematischen Herrschaftsformen die verhältnismäßig Beste sei.6 Die Demokratie erlaubt einigen Spielraum hinsichtlich Auslegung und Umsetzung. Österreich ist eine repräsentative bzw parlamentarische Demokratie. Dies ergibt sich aus dem Gesamttext der Bundesverfassung. Die Voraussetzung hie- für ist, dass den Bürgern die Möglichkeit eingeräumt werden muss, sich zu Volksvertretungen, zu Parlamenten zusammenzuschließen.7 Die dortige Reprä- sentation wird in der Regel von politischen Parteien übernommen. Diese wiede- rum werden von der Bevölkerung gewählt. Die Bevölkerung nimmt wie erwähnt nicht selbst und direkt die Staatswil- lensbildung wahr, sondern die von ihr gewählten Vertreter. Für die politischen Parteien stellt das Parlament8 die wichtigste Möglichkeit dar, sich zusammen- finden und dem Wählerwillen durch ihr Handeln Rechnung zu tragen.

 2 SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs), ÖVP (Österreichische Volkspartei) 3 Vgl Anton Pelinka, Struktur und Funktion der politischen Parteien, in Heinz Fischer (Hg), Das politische System Österreichs (Wien 1974) 31. 4 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von 1861 bis 1865 5 Premierminister von Großbritannien von 1940 bis 1945 bzw von 1951 bis 1955 6 Vgl Michael Hinterauer, Das demokratische Prinzip der Bundesverfassung der Republik Österreich, in Funk/Holzinger/Klecatsky/Korinek/Mantl/Pernthaler (Hg), Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen (Wien 2002), 181. 7 Vgl Theo Öhlinger/Harald Eberhard, Verfassungsrecht (Wien 2012), 171. 8 Das Parlament besteht aus zwei Kammern, nämlich dem Nationalrat (1. Kammer) und dem Bundesrat (2. Kammer). Diese sind allgemeine Vertretungskörper. Der Nationalrat vertritt Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 135  Nur in einem überschaubaren Ausmaß erfolgt die Staatswillensbildung unmittelbar durch das Volk, nämlich bei Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen.9 Aber auch bei diesen Elementen der direkten Demokra- tie liegt die Letztentscheidung beim Parlament.10 Hans Kelsen, zentrale Figur der Ausarbeitung und Formulierung des B-VG, stellte bereits vor einem knappen Jahrhundert fest: „Nur Selbsttäuschung oder Heuchelei kann vermeinen, daß Demokratie ohne politische Parteien möglich sei. Die Demokratie ist notwendig, und unvermeidlich ein Parteienstaat“11 Das B-VG an sich ließ diese Klarheit jedoch eine Zeit lang vermissen. Die Verfassung setzt die Existenz der politischen Parteien zwar voraus, die tatsächli- che Bedeutung ließ sich dadurch allerdings nicht immer erahnen.12

4. Politische Partei – Wahlwerbende Partei – Klub Auch wenn politisch eine weitgehende Identität besteht, ist zwischen politischer Partei, wahlwerbender Partei und Klub zu unterscheiden.13 Diese Unterschei- dung sieht auch das B-VG vor.14 4.1. Wahlwerbende Partei (Wahlpartei) Die Wahlpartei ist jene Partei, die man im Zuge eines Wahlvorganges wählen kann. Sie ist zwar meist ident mit der politischen Partei, dies ist aber kein Muss. Unter wahlwerbender Partei wird im rechtswissenschaftlichen Bereich eine Wählergruppe verstanden, die sich unter Führung einer unterschiedlichen Par- teibezeichnung und Erstattung eines Wahlvorschlages an der Wahlwerbung be- teiligt.15 Nicht weit davon entfernt ist auch die Einschätzung, dass eine Gruppe

 die Interessen des gesamten Bundesstaates, der Bundesrat die Interessen der einzelnen Bundesländer. 9 Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang natürlich auch die Laiengerichtsbarkeit. 10 Vgl Harald Eberhard/Petra Pani, Grundzüge des Verfassungsrechts (Wien 2008) 165. 11 Vgl Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, (2. Auflage, 1929, Neudruck Aalen 1963) 20. 12 Vgl Anton Pelinka, Parteien und Verbände, in Anton Pelinka/Manfried Welan (Hg), Dem- okratie und Verfassung in Österreich (Wien 1971) 265. 13 Vgl Theo Öhlinger, Der Klub des liberalen Forums (JRP 1993) 77. 14 Politische Partei (PartG), Wahlwerbende Partei (NR-WO), Klub (KlubfinanzierungsG) 15 Vgl Robert Walter/Heinz Mayer/Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Grundzüge des Bundesver- fassungsrechts (Wien 2007) 184. 136 Daniel Holzer gleichgesinnter Menschen zur Wahlpartei wird, indem sie sich entschließt, zu kandidieren, und diesen Beschluss in der Folge auch verwirklicht.16 4.2. Klub Das Wort „Klub“ wird vor allem in Österreich für die politischen Gliederungen in den Vertretungskörpern verwendet.17 Die politischen Parteien schließen sich im Parlament zu Klubs zusammen, ebenso im Landtag. Teilweise werden sie auch als Fraktionen bezeichnet.18

5. Zweite Republik – Die politischen Parteien Die politischen Parteien und ihre Parlamentsklubs waren 1919 bis 1920, und auch 1945, die bewegenden und tragenden Kräfte der Staatsgründung.19 Ab dem Jahre 1945 dominierten zwei Großparteien die politische Land- schaft Österreichs. Dies war zum einen die SPÖ, zum anderen die ÖVP. Interes- sant ist auch die Tatsache, dass zeitweise sogar mehr als 30 Prozent ihrer Wähler auch Parteimitglieder waren.20 Dies entspricht aber in keinem Verhältnis mehr den heutigen Gegebenheiten. Die KPÖ21 war nur von 1945 bis 1959 als Klein- partei im Nationalrat vertreten.22 Die FPÖ23 schaffte dafür 1959 den Einzug in den Nationalrat. Die Grünen konnten sich ab 1986 dauerhaft als vierte Partei etablieren. Im selben Jahr er- starkte die FPÖ (als nun rechtspopulistische Partei) zunehmend. Weitere Partei- en konnten sich nicht dauerhaft durchsetzen (ua Liberales Forum, BZÖ).24 In den vergangenen Jahren ist allerdings zunehmend Farbe in die politische Land- schaft Österreichs gekommen. Durch den Verlust der Großparteien konnten ei-  16 Vgl Michael Graff, Was ist eine wahlwerbende Partei (JRP 1993) 83. 17 Vgl Ilse M. Pogatschnigg, Die Klubbildung im österreichischen Parlament (Frankfurt a. M. 2006) 18. 18 Positivrechtlich steht Klub nur für den Nationalrat und den Landtag, im Bundesrat wird das Wort „Fraktion“ verwendet, ebenso im weiteren deutschen Sprachraum, Vgl Pogatschnigg, Die Klubbildung im österreichischen Parlament, 18. 19 Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (Tübingen 1923) S. 77; Die Unabhäng- igkeitserklärung wurde 1945 von den Vertretern des Vorstandes von ÖVP, SPÖ und KPÖ unterzeichnet; StGBl 1945/1. 20 Sogar noch 1980 hatten SPÖ und ÖVP gemeinsam fast eineinhalb Millionen Mitglieder. Dies entspricht mehr als einem Viertel aller wahlberechtigten Österreicher. Vgl Hubert Sickinger, Politisches Geld - Parteienfinanzierung und öffentliche Kontrolle in Österreich (Wien 2013) 16. 21 KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) 22 Vgl Sickinger, Politisches Geld, 15f. 23 FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) 24 Vgl Sickinger, Politisches Geld, 15f. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 137  nige andere Parteien Fuß fassen. Nachhaltig zu erwähnen sind hier aus heutiger Sicht wohl besonders die NEOS25, die sich 2013 erstmals der Nationalratswahl stellten und prompt den Einzug in den Nationalrat schafften.26 5.1. Staatsgrundgesetz 1867 „Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, sich zu versammeln und Vereine zu bilden.“27 Art 12 Satz 1 des Staatsgrundgesetzes (StGG) aus dem Jahre 1867 legt einen formalen Grundstein für die Existenz politischer Parteien im weitesten Sinne.28 Die Freiheit einzelner Menschen und Menschengruppen, sich in einem gewissen öffentlichen Rahmen vereinigt zu artikulieren, wird rechtlich abgesichert. Das Grundrecht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit ist ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht. Seit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechts- konvention (EMRK) durch Österreich im Jahre 1958 wird dieses auch durch den dortigen Art 11 gestützt und so zum Jedermannsrecht29. Weiters wird in Art 1 Satz 2 StGG ausgeführt: „Die Ausübung dieser Rechte wird durch besondere Gesetze geregelt.“30 Diese besonderen Gesetze sind das Vereinsgesetz, das unter anderem in Bezug auf „politische Vereine“ 1947 grundlegend reformiert wurde, und das Versamm- lungsgesetz aus dem Jahre 1953. Manche Parteien leiteten ihre Daseinsberechti- gung und Rechtspersönlichkeit aber auch von der Unabhängigkeitserklärung31 ab. 5.2. Unabhängigkeitserklärung 1945, im Jahre der Gründung der Zweiten Republik, waren drei relevante politi- sche Parteien in Österreich präsent. Dies waren die SPÖ, die ÖVP, und die KPÖ, die sich aber jeweils nicht nach dem Vereinsgesetz oder sonstigen Vorga-  25 NEOS (Das Neue Österreich und Liberales Forum) 26 Auch das Team Stronach (TS) stellte sich 2013 erstmals der Wahl, war jedoch auf Grund einer “außerordentlichen” Klubbildung bereits vorher ein Jahr lang im Nationalrat ver- treten. Detailliert dazu: Daniel Holzer, §7 GOG-NR. Das Problem der Bildung eines Na- tionalratsklubs während der Legislaturperiode (Diplomarbeit Universität Innsbruck 2013). 27 Art12 Satz1 StGG 1867 28 Oft stellte sich die Frage, in welchem rechtlichen Rahmen sich politische Parteien bewegen. Diesbezüglich hat sich die Entwicklung in mehreren Etappen vollzogen. 29 Nach älterer Terminologie „Menschenrechte“; Das Grundrecht steht nicht nur den Staats- bürgern zu, sondern allen Menschen, Vgl Öhlinger, Verfassungsrecht, 309. 30 Art12 Satz2 StGG 1867 31 Siehe Punkt 5.2. Unabhängigkeitserklärung 138 Daniel Holzer ben gegründet hatten. Vertreter dieser Parteien unterzeichneten am 27.04.1945 die sogenannte Unabhängigkeitserklärung32 Österreichs. Diese Parteien traten auch in weiterer Folge im Rechtsverkehr auf, führten ihre Rechtsfähigkeit auf die Unabhängigkeitserklärung zurück und stützten sich entsprechend darauf. Das Thema der Rechtspersönlichkeit spielte damals eine wichtige Rolle. Im Vereinsgesetz33 und dem folgenden Parteiengesetz ist es verankert, im Gegen- satz zu früheren Zeiten. Im Allgemeinen wird unter Rechtspersönlichkeit oder auch Rechtsfähigkeit die Fähigkeit verstanden, Träger von Rechten und Pflich- ten zu sein. Dies war teilweise bei politischen Parteien umstritten. Auch heute noch wird dieses Thema bei Gerichtsverhandlungen vorgebracht.34 Wirklich ent- scheidend ist es aber nicht mehr. Denn eigentlich hatte der OGH35 bereits 1947 in einer Entscheidung36 diese Unsicherheiten aus dem Weg geräumt. Er bejahte die Rechtsfähigkeit einer poli- tischen Partei, im konkreten Fall der SPÖ und ihrer Zweigorganisationen auf Grund der Mitwirkung an der Unabhängigkeitserklärung37. Diese Entscheidung fand somit auch für ÖVP und KPÖ Anwendung. Die politischen Parteien konnten bereits damals in dieser Form nicht mehr wirklich aus dem politischen Leben und Staatsgefüge weggedacht werden. Die drei Parteien konnten sich nun also rechtmäßig in Bezug auf ihre Rechtspersön- lichkeit auf diese Entscheidung berufen. Ab Wiedererlangung der vollen Souveränität Österreichs 1955 (vorher ließ der Alliierte Kontrollrat nur die Bildung von ÖVP, SPÖ und KPÖ zu38) mussten sich neue politische Parteien nach dem Vereinsgesetz anmelden, wie zB die FPÖ.39 5.3. Vereinsgesetz Von 1947 bis 1975 konnten Parteien ausschließlich als Verein und somit nach Vereinsgesetz gebildet werden. Im Gegensatz zum entsprechenden Gesetz dieser

 32 Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs vom 27. April 1945, StGBl Nr. 1/1945 33 Siehe Punkt 5.3. Vereinsgesetz 34 Vgl LG Innsbruck, 15.5.2013, GZ 17Cg47/13y 35 Oberster Gerichtshof 36 Vgl OGH, 8.3.1947, GZ 1Ob122/47 37 Vgl Hubert Sickinger, Die politische Partei im österreichischen Recht (Dissertation Uni- versität Innsbruck 1990) 13. 38 Vgl Beschluss des Alliierten Rats vom 11.9.1945 39 Vgl Sickinger, Partei, 12f. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 139  Zeit definiert heute das 2002 novellierte Vereinsgesetz40 den Begriff Verein fol- gendermaßen: „Ein Verein im Sinne dieses Bundesgesetzes ist ein freiwilliger, auf Dauer angelegter, auf Grund von Statuten organisierter Zusammenschluss mindestens zweier Personen zur Verfolgung eines bestimmten, gemeinsamen, ideellen Zwecks. Der Verein genießt Rechtspersönlichkeit…“. Vorher war der Begriff zwar nicht gesetzlich definiert, der Verfassungsgerichts- hof (VfGH) analysierte diesen aber bereits sehr früh, mit dem Ergebnis, dass unter Verein „eine freiwillige, für eine gewisse Dauer bestimmte, organisierte Ver- bindung mehrerer Personen zur Erreichung eines bestimmten erlaubten, gemein- schaftlichen Zwecks durch fortgesetzte gemeinschaftliche Tätigkeit zu verstehen“41 ist. Man erkennt die Gemeinsamkeiten. Vereine in diesem Sinne konnten jedoch eigentlich erst in der Zweiten Re- publik, ab 1947 gebildet werden. Zuvor war der „politische Verein“ noch zu vie- len Schikanen ausgesetzt. 5.4. Parteiengesetz Die heutige Rechtsgrundlage der politischen Parteien bildet das Parteiengesetz42. Dieses befasst sich mit dem Parteienrecht43, also den Bestimmungen über die Gründung von politischen Parteien und deren Gliederung. Es verleiht den politi- schen Parteien dadurch eine eindeutige Rechtsgrundlage und wurde im Jahre 1975 auf Initiative von SPÖ, ÖVP und FPÖ erstmals erlassen.44 Als wesentlichen Grund für die damalige Gesetzesverabschiedung können lange Streitigkeiten betreffend das Ziel einer direkten staatlichen Parteiförde- rung genannt werden.45 Im Jahre 2012 wurde das Gesetz grundlegend refor- miert, die Bestimmungen über die Parteienförderung entfernt und hiefür ein neues Gesetz geschaffen.46 Somit bestehen nun ein Parteiengesetz und ein sepa-

 40 Bundesgesetz über Vereine (Vereinsgesetz 2002 - VerG) 41 Vgl VfSlg 1397/1931 42 Bundesgesetz über die Finanzierung politischer Parteien (Parteiengesetz 2012 – PartG) 43 Vgl Christian Eisner/Michael R. Kogler/Andreas Ulrich, Recht der politischen Parteien, Kommentar (Wien 2012) 1. 44 Nach wie vor stellt sich allerdings in erster Linie bei manchen Landesorganisationen die Frage der Rechtsfähigkeit/Rechtspersönlichkeit, da keine entsprechende Statutenhinter- legung beim BMI (Bundesministerium für Inneres) erfolgte. Von größerer Relevanz war dies jedoch auch nie mehr, da eine entsprechende Abhängigkeit von der Bundespartei kon- struiert wurde, Vgl ua LG Innsbruck, 15.5.2013, GZ 17Cg47/13y. 45 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 172. 46 Vgl Eisner/Kogler/Ulrich, Recht, 129. 140 Daniel Holzer rates Parteienförderungsgesetz47, auf das in weiterer Folge noch eingegangen wird. Gleich § 1 Abs 1 Parteiengesetz (PartG) ist als Verfassungsbestimmung konzipiert und schreibt den „Parteienstaat“ nun auch in dieser Form nieder. So- mit war auch diese noch offene Nichtberücksichtigung der politischen Parteien behoben. Der Verfassungsgesetzgeber sieht in den politischen Parteien eine sehr wichtige Kraft im Zusammenhang mit der demokratischen Ordnung der Repub- lik Österreich.48 „(Verfassungsbestimmung) (1) Die Existenz und die Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung der Republik Österreich (Art. 1 B-VG, BGBl. Nr. 1/1930).“ Der Schritt zur Verankerung in der Verfassung war somit getan. Im darauf fol- genden § 1 Abs 2 PartG definiert das neue Gesetz nun auch den Begriff „politi- sche Partei“. Bisher war dies in keinem Gesetz explizit geregelt, sondern nur aus Ziel, Organisation und Aufbau konkludent ableitbar und wissenschaftlich unter- sucht. „Eine politische Partei ist eine dauernd organisierte Verbindung, die durch gemein- same Tätigkeit auf eine umfassende Beeinflussung der staatlichen Willensbildung, ins- besondere durch die Teilnahme an Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern und dem Europäischen Parlament, abzielt und deren Satzung beim Bundesministerium für Inneres hinterlegt ist.“49

6. Parteifinanzierung Die Finanzierung von Parteien spielt sich auf sehr vielen verschiedenen Ebenen ab. Diese sind oft nicht zu durchblicken, und nur die wenigsten von ihnen wirk- lich unproblematisch. Hubert Sickinger, ein ausgewiesener Experte im Bereich der Parteifinanzie- rung, fand eine aussagekräftige Einteilung der Geldflüsse50. Die Schwierigkeit, für all diese Bereiche einheitliche und nachvollziehbare Regelungen zu finden, liegt auf der Hand.

 47 Bundesgesetz über Förderungen des Bundes für politische Parteien (Parteien- Förderungsgesetz 2012 – PartFörG) 48 Vgl Eisner/Kogler/Ulrich, Recht, 1. 49 Vgl § 1 Abs 2 PartG 2012 50 Siehe Punkte 6.1. bis 6.11., dementsprechend in Sickinger, Politisches Geld, 68. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 141  6.1. Mitgliedsbeiträge und Kleinspenden Diese Finanzierungsform kann im Allgemeinen als die am wenigsten problema- tische angesehen werden. Parteimitglieder zahlen kleine Beiträge ein und Sym- pathisanten spenden geringe Summen. Einschränkungen in diese durchaus posi- tive Sichtweise sind aber insoweit geboten, da vor allen die Großparteien durch ihre entsprechend hohen Mitgliederzahlen eine „Parteibuchwirtschaft“ (in Form von beruflichen Vorteilen und vielem anderen mehr) mitverursacht haben.51 6.2. Individuelle Großspenden, Unternehmensspenden In diesem Bereich ist die mögliche Beeinflussung von politische Entscheidungs- trägern und somit die etwaige Steuerung dieser zu eigenen Gunsten problema- tisch.52 Das neue Parteiengesetz 2012 hat hier mit der Erweiterung der Offenle- gungspflicht sehr viel dazu beigetragen, früher übliche Formen der direkten oder indirekten Parteispendenpraxis zu unterbinden. Inserate und Sponsorings fallen nun unter den weiter gefassten Spendenbegriff. Ein erster, großer Schritt zu mehr Transparenz in diesem Bereich ist somit getan. Aber auch im Bereich der Finanzierung durch Interessensverbände be- steht durchaus noch Aufholbedarf.53 6.3. Parteispenden und Klubfinanzierung von Interessenverbänden Die Zuwendungen von Interessensverbänden spielen in der politischen Land- schaft Österreichs traditionell eine wichtige Rolle. Darunter fallen verschiedene Vertretungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, wie zum Beispiel die Industriellenvereinigung, die Kammern, der ÖGB (Österreichische Gewerk- schaftsbund).54 6.4. Parteiunternehmen Unter Parteiunternehmen sind solche zu verstehen, die auf direktem oder indi- rektem Wege (zB Treuhandschaft, Verein, Stiftung) im Eigentum einer Partei stehen. Hier sind in erster Linie Medienbeteiligungen oder Druckereien veran- kert. Unternehmen, die lediglich in einem politischen Naheverhältnis zu einer Partei stehen, sind allerdings in der politischen Realität Österreichs auf Grund der historischen Entwicklung der Großparteien viel wichtiger. In diesem Zu-

 51 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 68. 52 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 79. 53 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 78. 54 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 89. 142 Daniel Holzer sammenhang sind vor allem Banken oder Versicherungen zu nennen, wie zum Beispiel Raiffeisen.55 6.5. Kreditaufnahmen Bankkredite und Privatdarlehen sollen bei Liquiditätsengpässen weiterhelfen. Diese Situation trifft in erster Linie im Zuge von Wahlkämpfen ein. Was auf den ersten Blick normal und unproblematisch erscheint, kann jedoch einen wichtigen politischen Hebel darstellen. Änderungen in der staatlichen Parteifinanzierung, die die Regierung gegenüber der Opposition meist im Alleingang durchsetzen kann, können diesen wirtschaftlich zuzusetzen. Aber auch eine potenzielle Ab- hängigkeit von Großspendern ist ein nicht zu verachtender Spielball der Poli- tik.56 6.6. Staatliche Politikerbezüge als Teil der Politikfinanzierung Die staatliche Bezahlung von politischen Funktionsträgern wie Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern ermöglichen es diesen, Politik als Hauptberuf aus- zuüben. Für Regierungsmitglieder ist die gleichzeitige Ausübung eines zivilen Berufs unvereinbar.57 Für Abgeordnete und andere Funktionsträger sind jedoch Nebenbeschäftigungen nichts Ungewöhnliches. Diese müssen jedoch im Sinne der Transparenz offengelegt werden.58 6.7. Parteisteuern und sonstige mandatsbezogene Ausgaben von Politikern Personen verdanken ihre politische Funktion in erster Linie einer Partei. Dieser haben sie dafür im Gegenzug einen bestimmten Anteil ihres Gehaltes abzulie- fern. Dies ist meist in den Parteistatuten geregelt und variiert von Partei zu Par- tei, kann aber bis zu zwölf Prozent des Bruttobezuges ausmachen. Auch von Seiten der Bevölkerung werden teilweise finanzielle Beiträge erwartet, wie beispielsweise Spenden für Vereine und Ähnliches.59 6.8. Staatliche Parteienfinanzierung: Bund Seit dem Jahre 1975 ist die direkte staatliche Parteienfinanzierung des Bundes gesetzlich geregelt.60 Bis 2012 war dies neben den verfassungsrechtlichen Best-

 55 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 103. 56 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 100f. 57 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 114; Vgl im Besonderen auch: Bundesgesetz über die Transparenz und Unvereinbarkeiten für oberste Organe und sonstige öffentliche Funk- tionäre (Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetz (Unv-Transparenz-G)) aus dem Jahre 1983 58 Entwicklungen im Zuge des Transparenzpakets 2012 59 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 130f. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 143  immungen und den Transparenzvorschriften im Parteiengesetz zusammenge- fasst. Seit diesem Zeitpunkt regelt nun das angesprochene separate Parteienför- derungsgesetz die staatliche Parteifinanzierung. Bis zum Jahre 2015 liegen die Zuwendungen bei 4,6 EUR pro Wahlberechtig- tem.61 6.9. Kosten des Parlamentarismus auf Bundesebene Die „parlamentarische Infrastruktur“ auf Bundesebene, also Nationalrat und Bundesrat einschließlich Parlamentsdirektion, Bezüge der National- und Bun- desräte samt Pensionen nicht mehr aktiver Abgeordneter, Klubfinanzierung und parlamentarische Mitarbeiter der Abgeordneten), verursacht Kosten in der Höhe von knapp 140 Mio EUR jährlich.62 6.10. Staatliche Parteifinanzierung: Landes- und Gemeindeebene Bis in die 1990er Jahre zeichnete sich die Politikfinanzierung auf Landes- und Gemeindeebene durch starke Intransparenz aus. Erst nach und nach fand dieser Bereich mehr Beachtung. Im Parteiengesetz wurde dann auch eine Regelung in Form einer Korridorlösung gefunden. Die Bundesländer können an direkter Par- teienfinanzierung bis zu 22 EUR pro Wahlberechtigtem beschließen. Weiters wurde auch auf Landesebene eine strikte Trennung zwischen Partei und Land- tagsklub vollzogen. Dadurch konnten Spenden von den Klubs an die Partei un- terbunden werden.63 6.11. Indirekte Formen der staatlichen Parteienfinanzierung Zu diesen indirekten Formen kann die staatliche Durchführung von Wahlen und Volksbegehren und die Bereitstellung von Wählerdaten für die Parteien gezählt werden. Weiters ist die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, die Mitarbeiterstäbe der Regierungsmitglieder und Subventionen an Vorfeldorganisationen zu nen- nen.64

 60 Siehe Punkt 5.4. Parteiengesetz 61 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 139f. 62 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 158. 63 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 294f. 64 Vgl Sickinger, Politischen Geld, 209ff. 144 Daniel Holzer

7. Wahlrecht Das eigentliche Bindeglied zwischen den politischen Parteien und dem Volk stellt das Wahlrecht65 dar. Im Zuge eines Wahlvorganges wählt die Bevölkerung ihre Repräsentanten, die diese in weiterer Folge über einen bestimmten Zeitraum vertreten. Diese sorgen für Recht. Recht soll Freiheit und Gleichheit sichern. Die Funktion besteht einmal in der Einräumung dieser Ansprüche durch das Recht, weiters aber auch in ihrer Einschränkung, wo Eingriffe erforderlich und zulässig sind, und zuletzt auch in der Durchsetzung der Ansprüche, indem entsprechende Rechtsschutzinstrumen- te zur Verfügung gestellt werden. Auf der Basis von Freiheit und Gerechtigkeit steht auch jedermann die Teilhabe an der Gesellschaft und damit am Staat und seinen Institutionen zu. Diese muss wiederum mit rechtlichen Mitteln sicherge- stellt werden. Das ist eine wesentliche Grundlage der Demokratie. Politisch be- deutet das, dass jedermann die Möglichkeit haben muss, an politischen Prozes- sen teilzunehmen und den Staat in seinem Wesen zu beeinflussen.66 Dies spiegelt unter anderem gerade das Wahlrecht wider, mit der Möglich- keit für den Bürger, sich aktiv oder passiv an Wahlgängen zu beteiligen. Art 26 Abs 1 B-VG normiert die allgemeinen Grundsätze des Wahlrechts in Be- zug auf die Nationalratswahl. „Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, per- sönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl ge- wählt.“ Das Verhältniswahlrecht ist somit verfassungsrechtlich festgeschrieben. Der Vorteil zum an sich einfacheren und übersichtlicheren Mehrheitswahlrecht be- steht darin, dass allen bedeutenderen politischen Kräften eine Vertretung im Par- lament entsprechend ihrem Wahlergebnis gesichert wird.67 7.1. Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht 7.1.1. Verhältniswahlrecht Bereits seit dem Inkrafttreten der Verfassung im Jahre 1920 besteht in Öster- reich ein Verhältniswahlrecht. Den wahlwerbenden Parteien soll dadurch eine  65 Seit gut 100 Jahren gilt das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer in Österreich. Seit knapp 100 Jahren sind auch Frauen wahlberechtigt. 66 Michael Ganner, Rechtstheorie und Methodenlehre, (Skript Innsbruck 2013), 12. 67 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 183ff. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 145  möglichst dem Verhältnis der abgegebenen Stimmen entsprechende Stärke im Nationalrat gesichert werden.68 Dieses Wahlrecht ist auch auf dem europäischen Kontinent klar dominierend, während weltweit das Mehrheitswahlrecht stärker verbreitet ist.69 Es lässt sich trefflich darüber diskutieren, welches dieser zwei Wahlrechte in seinen Grundsätzen und Auswirkungen dem demokratischen Prinzip besser entspricht. 7.1.2. Mehrheitswahlrecht Das am stärksten mit dem Verhältniswahlrecht konkurrierende und an sich ein- fachere und übersichtlichere Mehrheitswahlrecht konnte in Österreich nicht Fuß fassen. Nach dem Motto „The winner takes it all“ wird lediglich die absolute oder wie zB in Großbritannien die relative Mehrheit der in einem Wahlkreis ab- gegebenen Stimmen gezählt.70 7.1.3. Minderheitenwahlrecht Das Minderheitenwahlrecht sei an dieser Stelle noch als Besonderheit erwähnt, da bei dieser Methode nicht nur die absolute oder relative Mehrheit entspre- chend dem Mehrheitswahlrecht gezählt wird, sondern auch eine weitere, näm- lich die relativ stärkste Minderheit zur Vertretung zugelassen wird.71 7.2. Reformbestrebungen Beim Mehrheitswahlrecht sind grundsätzlich auch Mehrpersonenwahlkreise möglich, meist sieht das System aber einen Einpersonenwahlkreis vor. In Ein- personenwahlkreisen wird nur ein Mandat vergeben. Dieses System basiert auf anderen Konkurrenzbedingungen als das Verhältniswahlrecht. Der Einfluss der politischen Parteien ist jedoch ebenso groß. Allerdings spielt die Persönlichkeit der einzelnen Kandidaten in diesem Fall eine viel größere Rolle. Das Mehr- heitswahlrecht kann daher für sich als eine Art Persönlichkeitswahlrecht be- zeichnet werden. Die politische Partei spielt eine geringere Rolle. Auch in wei- terer Folge reißt der persönliche Bezug zum Wähler nicht ab. Der einzelne Mandatar muss sich diesem gegenüber persönlich rechtfertigen und kann sich nicht hinter einer Partei und deren vorgegebener Meinung verstecken. Um einen zu radikalen Schnitt im Übergang von Verhältnis- zu Mehrheitswahlrecht zu vermeiden, können auch beispielhaft Systeme von Wahlrechtsordnungen heran-  68 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 183ff. 69 Vgl Heinrich Neisser, Initiative Mehrheitswahlrecht, in Klaus Poier (Hg), Demokratie im Umbruch - Perspektiven einer Wahlrechtsreform (Wien/Köln/Graz 2009) 187. 70 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 181. 71 Vgl Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundzüge, 182. 146 Daniel Holzer gezogen werden, in denen Einpersonenwahlkreise mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts kombiniert werden. In vielen Ländern besteht ein solcher Trend. Als Modell muss in diesem Zusammenhang auch das deutsche System einer personalisierten Verhältniswahl erwähnt werden. Etwa die Hälfte der Ab- geordneten zum deutschen Bundestag wird in Einpersonenwahlkreisen gewählt, die andere Hälfte auf einer Liste nach den Grundsätzen der Verhältniswahl, wo- bei die in Einpersonenwahlkreisen gewählten Mandatare einer Partei auf deren Liste angerechnet werden. Ein Schritt in Richtung Personalisierung wäre dadurch gesetzt.72 Zwar entbrennt sowohl im europäischen Bereich in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament als auch auf nationaler Ebene vor jeder Wahl die Diskussion über ein stärker personalisiertes Wahlrecht wieder auf ein Neues, die bisherigen Wahlrechtsreformen waren allerdings schlussendlich verschwindend gering. Auf Österreich und die Zweite Republik gesehen allemal. Man änderte zwar das Wahlalter, verbesserte für ältere und gebrechliche Menschen die Wahl- teilnahme und dergleichen mehr, von einer tiefgreifenden Reform kann aller- dings keine Rede sein. Dies wird wohl auch daran liegen, dass besonders in den vergangenen Jahrzehnten die Risiken für die politischen Eliten zu groß waren.73 Die momentane „Politikverdrossenheit“ und ehemalige Großparteien ohne Kon- turen könnten allerdings eine Folge dieser Vorgangsweise sein. Ob die politischen Parteien und ihre Funktionäre neben reinen Absichtser- klärungen hier aber wirklich einmal einen Schwerpunkt setzen und auf diesem Wege Schritte zur „Verlebendigung der Demokratie“ setzen bzw unterstützen, bleibt abzuwarten. Ein persönlichkeitsorientiertes Wahlrecht verlangt nicht nur ein erhöhtes politischen Interesse der Bürger, sondern im Besonderen auch ein neues Selbstverständnis der Parlamentarier. Das Parlament könnte aufgewertet werden.

8. Das freie Mandat Momentan sind die Mandatare nur Handlanger ihrer Parteien, denen sie den Par- lamentssitz verdanken.74 Das verfassungsmäßig festgeschriebene freie Mandat als Teil des demokratischen Grundprinzips der Verfassung würde jedoch etwas

 72 Vgl Neisser, Initiative, 187f. 73 Vgl Neisser, Initiative, 189. 74 Vgl Neisser, Initiative, 190. Die politischen Parteien und ihre rechtliche Entwicklung 147  anderes vorsehen, nämlich die vollkommene Unabhängigkeit eines jeden einzel- nen Abgeordneten.75 „Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.“76 Die Nationalratsabgeordneten sind gegenüber der Bevölkerung, Wählergruppen, Wahlkreisen, Parteien und Klubs verfassungsrechtlich unabhängig gestellt.77 Die Wirklichkeit sieht jedoch, wie erwähnt, anders aus. Die Partei ist tonangebend, der Mandatar führt aus. Ein Abstimmungsverhalten entgegen der Parteilinie, ei- ner etwaigen eigenen divergierenden Meinung folgend, wird kaum toleriert. Spätestens bei der nächsten Wahl wird sich dieser Mandatar nicht mehr auf ei- nem wählbaren Platz auf der Wahlliste seiner Partei wiederfinden. Beispiele da- für sind wohl vorhanden. Grundsätzlich muss für den Wähler eine gewisse Vorhersehbarkeit des po- litischen Handelns der gewählten Abgeordneten erhalten, abgesichert, aber auch ausgebaut werden. Ansonsten wäre man von der Verwirklichung der Ansichten von Jean-Jacques Rousseau nicht mehr weit entfernt. Bereits die Wahl von Ver- tretern bedeutete für ihn den Übergang zur Aristokratie. Er meinte sinngemäß, dass eine Souveränität nicht repräsentiert werden kann. Und zwar aus dem ein- fachen Grund, da sie entfremdet werden kann. Sie besteht wesentlich aus dem Allgemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht repräsentieren. Entweder, er ist derselbe, oder er ist ein anderer. In Bezug auf die Bevölkerung von England meinte er, wenn diese glaubt, frei zu sein, dann täuscht sie sich. Sie ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder. Sobald die Wahlen vorbei sind, ist sie Sklave, sie ist nichts.78

9. Rechtsphilosophisches Beispiel Die soeben genannten problematischen realpolitischen Entwicklungen lassen sich mit ein wenig Abstand auch wie folgt durchspielen. Grundsätzlich basiert die Demokratie auf einer Identität zwischen Regierenden und Regierten. Die Träger politischer Ämter sind sowohl Staatsorgane, und somit Regierung im weitesten Sinn, als auch Staatsbürger, und somit Teil des Volkes. Die Ausgangs-

 75 Vgl Friedrich Koja, Das freie Mandat des Abgeordneten (Salzburg/München 1971) 33. 76 Art 56 B-VG 77 Vgl Koja, Mandat, 5. 78 Vgl Ferdinand A. Hermens, Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht (München 1949) 11. 148 Daniel Holzer situation gestaltet sich wie folgt. Die politischen Eliten verstehen sich zwar als Demokraten, misstrauen jedoch grundsätzlich Entscheidungen des Volkes. Re- gelmäßige Wahlen sind trotzdem selbstverständlich. Jedoch muss man dem Volk ja nicht die ganze Wahrheit sagen. Man muss gegenteilig dem Volk durch geschickte Einflussnahme zum Glück verhelfen. Nur die politischen Eliten ken- nen die ganze Wahrheit. Diese wird dem Volk mit der Konsequenz vorenthalten, dass sich diese Eliten nicht mehr als Teil des Volkes sehen. Die Identität von Regierenden und Regierten fällt in diesem Moment auseinander. Es gibt keine Mittlerstellung mehr zwischen dem politischen Zentrum und der Bevölkerung. Das Grundprinzip der Demokratie hat aufgehört zu existieren.79 Dies ist als rechtsphilosophischer Thematisierungsansatz der Auseinan- derentwicklung von Politik, Recht und Realität zu verstehen.

10. Transparenz Diesem Zustand soll in der Praxis vor allem mit Transparenz entgegengewirkt werden. Hiezu gibt es heutzutage auch reichhaltige Ansätze, so zB das Unver- einbarkeits- und Transparenzgesetz80, die Transparenzdatenbank betreffend die Parteifinanzen oder aber auch das neue Lobbying- und Interessenvertretungs- Transparenz-Gesetz81. Dass diese Bemühungen alleine jedoch noch nicht den durchschlagenden Erfolg garantieren und entsprechend forciert werden müssen, zeigen plakativ einige aktuelle internationale Vergleichsdaten zu den Bereichen Transparenz und Korruption, wie zum Beispiel das „Gobal Right to Information Rating“82 bzw der „Corruption Perceptions Index 2013“83. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sämtliche politische Vorgänge nachvollziehbar gemacht werden müssen und dies wohl auch als ein großer Schritt in Richtung Annährung an den Bürger bzw Beendigung der „Politikver- drossenheit“ zu sehen wäre. Die Entwicklung kann umgekehrt werden. Denn nicht umsonst lautet Art 1 der österreichischen Bundesverfassung: „Österreich ist eine Demokratie. Ihr Recht geht vom Volk aus.“84  79 Vgl Michael Thaler, Rechtsphilosophie (Wien 2013) Folie 220. 80 Unv-Transparenz-G 1983 81 LobbyG 2012 82 Vgl Access Info Europe (Spanien), Centre for Law and Democracy (Kanada), http://www.rti-rating.org 83 Vgl Transparency International (Deutschland), http://cpi.transparency.org/cpi2013/results 84 Vgl Art 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) Korruptionsfälle in der Zweiten Republik Gesellschaftliche Veränderung und (straf)rechtliche Reaktion Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy

1. Vorbemerkungen Österreich erlebte in der Zweiten Republik eine Reihe von Korruptionsskanda- len, die exemplarisch für ihre jeweilige Epoche Problemfelder aufzeigten und in weiterer Folge zu rechtlichen Reaktionen führten. In diesem Beitrag soll diesen Korruptionsfällen nachgegangen und auf die jeweilige staatliche Reaktion durch (straf)rechtliche Maßnahmen eingegangen werden. Der Beitrag folgt einem chronologischen Aufbau: nach einer Beschreibung der gesellschaftlich- politischen Situation in einem Zeitabschnitt und der aufgetretenen, wesentlichen Korruptionsaffären, wird die (straf)rechtliche Reaktion bzw. die folgenden Dis- kussionen im Wechselspiel zwischen Recht und Gesellschaft dargestellt. Die methodische Vorgehensweise besteht einerseits aus der Analyse geschichtswis- senschaftlicher, politologischer und soziologischer Literatur sowie andererseits aus der Auswertung der Materialien der jeweiligen Gesetzgebungsprozesse.

2. Österreich in der Nachkriegszeit Nach dem Kriegsende 1945 herrschte in Österreich Chaos: politisch, wie wirt- schaftlich. Die Hauptaufgabe der Regierung bestand darin, möglichst rasch eine wirtschaftliche Grundordnung herzustellen, um einen Zusammenbruch der Wirt- schaft zu verhindern. Das hieß vor allem die vielfach unklaren Eigentumsver- hältnisse von Industrieunternehmen und -anlagen zu klären und deren Weiterbe- trieb zu gewährleisten.1 Beträchtliche Besitztümer waren jüdischen Eigentümern geraubt oder arisiert worden, andere Vermögenswerte hatten Menschen gehört, die aus anderen Gründen das Land verlassen mussten oder im Krieg umgekom- men waren. So kam es in Österreich zu einer Um- und Neuverteilung enormer Vermögenswerte, in deren Zentrum ein neues – eigens für diese Aufgabe ge- schaffenes – „Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung“ stand.

 1 Julia Kopetzky, Die Affäre Krauland – oder: Die Aufteilung der Republik. In: Ernst Bruckmüller (Hg.), Korruption in Österreich. Historische Streiflichter (Wien/Köln/Graz 2011) 131-164, hier 132. 150 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy

Zu dessen Aufgaben zählte nicht nur die namensgebende Vermögenssiche- rung und Wirtschaftsplanung, sondern auch die Verwaltung des Deutschen Ei- gentums und der verstaatlichten Industrie, die Koordination und Verteilung der Gelder des European Recovery Program (ERP, besser bekannt als Marshall- Plan), sowie die politisch sensible Materie der Restitution geraubter jüdischer Eigentumswerte. Die zwei großen Parteien, Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) und Österreichische Volkspartei (ÖVP) versuchten jeweils die Interessen ihres Lagers durchzusetzen und Entscheidungen des Ministeriums zu beeinflus- sen. Das Ministerium und der Minister standen daher unter besonders großem politischen Druck. Daher ist es wenig verwunderlich, dass die erste große (bekanntgewordene) Korruptionsaffäre der Zweiten Republik dieses Ministerium und dessen Minister Peter Krauland betraf. Der zentrale Vorwurf lautete illegale Parteienfinanzie- rung der ÖVP. Krauland und andere Beamte des Ministeriums sollen Verpach- tungen und Verkäufe von Betrieben, die mit Kriegsende an die Republik verfal- len waren, von Spenden an die ÖVP abhängig gemacht haben.2 Es folgte ein Prozess bei dem mehrere Mitglieder der Parteispitze der ÖVP als Zeugen vorge- laden wurden. Darunter waren Leopold Figl (Parteiobmann und zum Zeitpunkt des Auffliegens der Affäre Bundeskanzler), Julius Raab (zum Zeitpunkt des Prozesses amtierender Bundeskanzler), Felix Hurdes (Mitbegründer der ÖVP und Unterrichtsminister) und Ferdinand Graf (Nationalratsabgeordneter und ehemals Staatssekretär im Innenministerium). Auch hohe Funktionäre der SPÖ waren geladen. Hintergrund der Affäre waren geheime Abkommen zwischen den Parteien, in denen sie sich die wichtigsten Druckereien und Papierfabriken aufgeteilt hatten. So sollte für beide Parteien der Zugang zur Herstellung von Werbematerial gesichert werden.3 Waren es anfangs noch Dreierabkommen mit den Kommunisten, wurden bald nur noch Abkommen zwischen SPÖ und ÖVP getroffen. Kopetzky kommt nach Analyse des Falls zum Schluss, dass Krauland ver- mutlich nicht – wie bisher angenommen – der uneingeschränkte Kopf der Affäre war, sondern, dass viele wesentliche Aktionen von mittleren Beamten der Mini- sterien und mittleren Funktionären der Partei ausgingen und dass er letztlich Op-

 2 Kopetzky, Die Affäre Krauland, 131. 3 Kopetzky, Die Affäre Krauland, 148. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 151  fer eines politischen Systems wurde, an das gerade er sich, aufgrund seiner un- konventionellen Art, oftmals nicht hielt.4 Die Affäre Krauland ist untrennbar mit der wirtschaftlichen und politischen Situation der Nachkriegszeit verbunden und dem sich etablierenden System der Großen Koalition. Sie dient als konkretes und anschauliches Beispiel für die Aufteilung der Republik durch die beiden dominierenden Parteien ÖVP und SPÖ.5 Die Parteien, die sich als Gründer der Ersten und der Zweiten Republik sahen, bestimmten die Regeln im Staat – nicht nur die formellen, sondern auch die informellen.6 Aber sie teilten sich ihre Macht nicht nur im politischen Be- reich, sondern auch in der Wirtschaft, die aufgrund der Verstaatlichungsgesetze von 1946 und 1947 zum Großteil nationalisiert worden war. Die Führungsper- sonen der verstaatlichten Betriebe kamen jeweils aus der roten oder schwarzen Einflusssphäre. Die enge Verflechtung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf Basis zweier politischer Parteien führte daher nicht nur zu ideologischer und gesellschaftspolitischer Zugehörigkeit, sondern auch zu materieller Abhängig- keit großer Teile der Bevölkerung. Die Parteien, deren Vorfeldorganisationen und Interessenverbände errichteten ein Netz an Klientelbeziehungen, welches durch die gesamte Gesellschaft ging.7 Die zweite große und folgenreiche Causa der Nachkriegszeit war der Aus- fuhrprämienskandal (auch bekannt als Exportprämienskandal, Zollskandal oder Fall Zorko). Ausfuhrprämien sind ein wirtschaftlicher Lenkungsmechanismus, um den Export bestimmter Waren zu fördern und einheimischen Unternehmen

 4 Kopetzky, Die Affäre Krauland, 164. 5 Werner Beninger weist auf die Parallelen der damaligen Situation mit der Zeit des ökonomischen Umbruchs in Russland nach dem Ende der Sowjetunion hin. In einer Zeit des politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt rechtlichen Umbruchs konnten findige Geschäftsleute, wenn sie gute Kontakte in die Politik hatten, Unternehmen sehr günstig, unter Marktwert, erwerben. In Russland bildete sich eine Oligarchie. In Österreich wurden damals die Betriebe an parteinahe Unternehmer, an die Parteien selbst oder deren Vorfeldorganisationen (Kammern und Gewerkschaft) verkauft. Quelle: Werner Beninger, Korruption in der Zweiten Republik. Einige Fälle und deren mediale Aufarbeitung. In: Ernst Bruckmüller (Hg.), Korruption. Historische Streiflichter auf Österreich (Wien/Köln/Graz 2011). Eine weitere Parallele findet sich mit dem politischen Führung- swechsel, der mit dem Ende der Großen Koalition und dem Beginn der Schwarz-Blauen Regierung 1999 eintrat. 6 Anton Pelinka, Abstieg des Parteienstaates – Aufstieg des Parlamentarismus. In: Anton Pelinka, Fritz Plasser (Hg.), Das österreichische Parteiensystem (Graz/Wien/Köln 1988), 27. 7 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Wien 1994), 443-451. 152 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy dadurch Vorteile am Markt zu verschaffen. Der Geschäftsmann Stanko Zorko kassierte damals solche Exportrückvergütungen für vermeintliche Waren, die von ihm ins Ausland exportiert wurden. Tatsächlich handelte es sich bei den als technische Geräte verzollten Waren um Steine und Glasscherben. Hohe Beamte und Zöllner waren in diesen Abgabenbetrug verwickelt. Als der Schwindel schließlich aufflog, wurden 65 Personen verhaftet. Zorko weilte zu dieser Zeit aber zufällig im Ausland und entging damit seiner Verhaftung. Als er 1954 doch in Frankreich festgenommen wurde, intervenierte Außenminister Leopold Figl und verhinderte so seine Auslieferung an Österreich. Zorko hatte Figl während seiner Inhaftierung im KZ Dachau kennengelernt und dieser war ihm nun zu Hilfe gekommen. Als er bei einem späteren Österreichbesuch gesehen und an- gezeigt wurde, reagierten die Behörden nicht. Als es nach Jahren in dieser Causa doch noch zu Ermittlungen kam, wurde der zuständige Untersuchungsrichter verhaftet und später erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Ende der 1960er Jahre kam es doch zu einem Prozess, der mit einer Verurteilung endete. Allerdings blieb Zorko bis heute verschwunden (und wurde 1986 zum 40. Geburtstag der Republik Österreich begnadigt).8 Die beiden großen genannten Skandalfälle der Nachkriegszeit zeitigten Auswirkungen auf den politischen Diskurs und mündeten 1959 in eine Regie- rungsvorlage für ein Antikorruptionsgesetz.9 Dieses wurde intensiv diskutiert und oftmals abgeändert. Schlussendlich wurde 1963 ein nach den Diskussionen stark modifizierter Entwurf vorgelegt, der 1964 als „Erstes Antikorruptionsge- setz“ den Justizausschuss passierte und vom Parlament verabschiedet wurde.10 Damit war das Wort „Korruption“ das erste Mal in einem österreichischen Ge- setz gefallen. Der Gesetzgeber erkannte schon damals, dass es zwar „unmöglich sein [mag], mit den Mitteln des Strafrechtes allein die Sauberkeit des öffentlichen Lebens zu garantieren, […] doch auch die Strafgesetze [müssen] im Kampf ge- gen die wegen ihrer in der Regel schweren, die Allgemeinheit oder weite Bevöl- kerungskreise treffenden Folgen und wegen ihres üblen Beispiels gefährliche und daher strafwürdige Korruption […] einen wirkungsvollen Beitrag leisten.“11

 8 Hans Weiss, Krista Federspiel, Wer? (Wien 1988), 222. 9 EBRV 643 BlgNR VII. GP. 10 BGBl 1964/116. 11 EBRV 384 BlgNR X. GP 2. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 153  Eine Novellierung der Strafbestimmungen schien geboten, weil „eine Anzahl von Korruptionsfällen in der Öffentlichkeit allgemeinen und berechtigten Un- willen hervorgerufen [hat], und zwar nicht nur deshalb, weil es sich um grobe und in ihren Auswirkungen bedeutsame Verstöße gegen die Sauberkeit des öf- fentlichen Lebens gehandelt hat, sondern auch, weil viele dieser Verstöße nicht geahndet werden konnten, [weil] Strafdrohungen sowohl gegen die Bestechung von Personen, die, ohne Beamte zu sein, wichtige Funktionen im öffentlichen Leben, vor allem in der Wirtschaft, ausüben, als auch gegen Personen, die ihren Einfluss im Wege einer Intervention gegen Entgelt dazu missbrauchen, um eine Rechtshandlung zu erwirken oder zu verhindern, [fehlen].“12 Obschon man sich bereits in Verhandlungen über ein neues Strafgesetzbuch befand, wurde es als sinnvoll erachtet, schon vorher spezielle strafrechtliche Bestimmungen einzu- führen, damit „Korruption und Interventionsunwesen nicht wie jetzt weitgehend straflos bleiben und vielleicht noch um sich greifen.“13 Das „Erste Antikorruptionsgesetz“ umfasste vier Artikel. Artikel I schärfte den Tatbestand der Untreue (damals § 205c StG) dahingehend, dass das Tatbe- standsmerkmal der „gewinnsüchtigen Absicht“ entfernt wurde. Ab nun konnten Befugnisträger auch dann wegen Untreue verurteilt werden, wenn sie sich per- sönlich nicht bereichert hatten (wie z.B. Krauland, der sich nach Ansicht des Gerichts nicht selbst bereichert, sondern für die Partei gehandelt hatte)14. Artikel II erweiterte das strafrechtlich sanktionierte Geschenkannahmeverbot auf leiten- de Angestellte von Unternehmen, die von Gebietskörperschaften betrieben wur- den oder an denen solche beteiligt waren. Schließlich könne es keinen sachli- chen Unterschied machen, „ob Aufgaben der öffentlichen Wirtschaftsverwal- tung von der Verwaltung einer Gebietskörperschaft selbst oder durch selbstän- dige Wirtschaftskörper einer Gebietskörperschaft wahrgenommen werden.“15 Denn „wer das Vermögen des Staates zu verwalten hat, ist zur besonderen Kor- rektheit verpflichtet. Schädigt er durch pflichtwidrige Handlungen die öffentli- che Hand oder dritte Personen, so haftet er nach den allgemeinen Strafbestim- mungen, insbesondere wegen Untreue. Aber auch wenn er seine Stellung dazu missbraucht, sich oder Dritten unberechtigte Vorteile zu verschaffen, verdient er, nicht anders als ein Beamter der Wirtschaftsverwaltung der Gebietskörper-

 12 EBRV 384 BlgNR X. GP 2. 13 EBRV 384 BlgNR X. GP 3. 14 Kopetzky, Die Affäre Krauland, 160. 15 EBRV 384 BlgNR X. GP 4. 154 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy schaft selbst bestraft zu werden. Denn die Strafwürdigkeit der passiven Beste- chung beruht nicht auf der Verletzung einer besonderen Standespflicht des Be- amten, sondern eben auf der Besonderheit einer Funktion, die, wie die Entwick- lung zeigt, nicht nur von Beamten ausgeübt wird.“16 Dadurch wurde Rücksicht auf die immer häufiger werdende Erledigung von öffentlichen Aufgaben durch Private Bezug genommen, ein Trend, der sich im Laufe der folgenden Jahrzehn- te noch weiter verstärken sollte. Artikel III stellte die aktive Handlung des Be- stechens eines leitenden Angestellten iSd Artikel II unter Strafe. Artikel IV schließlich normierte strafrechtliche Sanktionen für verbotene Interventionen. Dies wurde notwendig, da „die Korruption […] nicht nur in der Form einer Be- stechung von Beamten der Hoheitsverwaltung und von bestimmten Funktionä- ren öffentlicher Unternehmen begangen [wird], sondern – wie die Erfahrung zeigt – auch durch bestimmte Formen einer Einflussnahme auf solche Beamte und Funktionäre gefördert.“17 Somit wurde, ohne den damals noch unbekannten Begriff „Lobbyismus“ zu kennen, eine strafrechtliche Sanktionierung für unzu- lässige Interessensvertretung eingeführt. Das erste Korruptionsgesetz war für seine Zeit sehr vorausblickend und auch die zitierten Überlegungen der erläuternden Bemerkungen zeigen eine rea- litätsnahe Sicht auf korruptive Vorgänge. Nichtsdestotrotz wurde keine Bestim- mung des Antikorruptionsgesetzes bis zur Übernahme in das StGB 1975 je an- gewendet.18

3. Österreich in den 1960er und 1970er Jahren Die Roaring Sixties und die Swinging Seventies brachten weltweit tiefgreifende Veränderungen. Die Bürgerrechts-, die Friedens-, die Frauen- und die Studen- tenbewegung hatten großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs im Wes- ten. Diesen Entwicklungen konnte sich auch Österreich letztendlich nicht ent- ziehen. Und so kam es Ende der 1960er Jahren auch in Österreich zu obrig- keitskritischen Aktionen, wie etwa der sogenannten Uni-Ferkelei von Günter Brus oder den Studentenprotesten gegen den Geschichtsprofessor Taras Boro- dajkewycz.

 16 EBRV 384 BlgNR X. GP 4. 17 EBRV 384 BlgNR X. GP 5. 18 Vgl. Wolfgang Stangl, Die Entstehung des Antikorruptionsgesetzes – Ein Stück öster- reichischer Koalitionsfolklore? In: Kriminalsoziologische Bibliographie, Bd. 34, Ludwig Boltzmann Institut für Kriminalsoziologie (Wien 1982), 49-62. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 155  Aufgrund dieser späten gesellschaftlichen Zäsur Ende der 1960er Jahre wird die Periode davor, also die unmittelbaren Nachkriegsjahre, das Jahrzehnt der 1950er Jahre und die frühen 1960er Jahre in der österreichischen Gesell- schaftsgeschichte auch als „lange Fünfziger Jahre“ bezeichnet. Die große sozio- ökonomische und gesellschaftliche Klammer, die diesen Zeitraum überspannte, war das starke Wirtschaftswachstum, das sich Ende der 1960er Jahre ab- schwächte.19 Ein markantes Merkmal dieser „langen Fünfziger Jahre“ in Österreich war weitverbreiteter Klientelismus und Parteienpatronage. Kennzeichnend waren teils familialistische, vormoderne Züge, wie paternalistische Einstellungen und eine damit einhergehende große Bedeutung von persönlichen Beziehungen.20 Die Wurzeln von Parteienpatronage liegen in der Zeit der feudalen Agrargesell- schaft. Nach der Industriellen Revolution und der Bauernbefreiung knüpften bäuerliche Agrar- und Kreditgenossenschaften, also gemeinschaftliche Selbsthil- feorganisationen, lang vor dem modernen Sozialstaat ein dichtes soziales Netz über das Land, das ebenso als Klientelismus bezeichnet werden kann. Neben diesem ländlichen Phänomen, kann als urbanes Gegenstück dieser Art gemein- schaftlicher Organisation das „Rote Wien“ und sein sozialer Wohnbau als Bei- spiel gesehen werden.21 Diese unterschiedlichen Systeme wurden schließlich in der Nachkriegszeit zur schon genannten umfassenden Patronage, einhergehend mit der Aufteilung der Republik in rote und schwarze Reichshälfte, parteipoliti- scher Ämtervergabe in der Verwaltung und einer verstaatlichten bzw. staatsna- hen Wirtschaft. Viele politik- und wirtschaftswissenschaftliche Autoren vertreten die (wirt- schafts)liberale These,22 dass eine stark ausgeprägte parteipolitische Ämterpat- ronage, eine starke Verbändestruktur (Neokorporatismus) und ein großer staatli- cher Wirtschaftssektor ein hohes Ausmaß an Korruption bedingen müssten. Der

 19 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 426. 20 Hubert Sickinger, Starker Klientelismus – mäßige Korruption. Ein österreichisches Para- doxon? In: Verena von Nell, Friedrich Schwitzgebel, Matthias Vollet (Hg.), Korruption im öffentlichen Raum. Wahrnehmungen, Interpretationen, Reaktionen (Wiesbaden 2006), 27- 58, hier 29 sowie Hubert Sickinger, Politische Korruption. In: Herbert Dachs, Peter Ger- lich, Herbert Gottweis, Helmut Kramer, Volkmar Lauber, Wolfgang C. Müller, Emmerich Tálos (Hg.), Politik in Österreich. Das Handbuch. (Wien 2006), 561-576, hier 565. 21 Sickinger, Politische Korruption, 566. 22 Vgl dazu näher mit weiteren Nachweisen den bedeutenden deutschen Sammelband von Hans Herbert von Arnim (Hg.), Korruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft (München 2003). 156 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy

Politikwissenschafter Hubert Sickinger stellt diese These zumindest für Öster- reich in Frage: Österreich litt trotz dem Auftreten dieser drei Faktoren nämlich an vergleichsweise geringer Korruption.23 Denn dank der österreichischen Form des strukturierten Interessensausgleichs zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh- mern (der Sozialpartnerschaft), standen bei der Aushandlung politischer Vorha- ben nicht Partikularinteressen, sondern gesellschaftsübergreifende Interessen (Wirtschaftswachstum und sozialer Frieden) im Vordergrund. Auf beiden Seiten der Sozialpartnerschaft mussten außerdem schon vor der Kompromissfindung auf Ebene Arbeitgeber-Arbeitnehmer die jeweiligen Mitgliederinteressen der Kammern auf der einen und des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB) auf der anderen Seite innerhalb der Organisationen abgestimmt werden. So konnten selbst die Partikularinteressen der Teilorganisationen schon im Vorfeld abgeschwächt werden, was sich indirekt korruptionshemmend auswirkte.24 Der parteipolitische Einfluss auf die staatliche Industrie in Österreich stellte nur deshalb keinen Nährboden für grassierende Korruption dar, weil sich die beiden Großparteien gegenseitig neutralisierten. Es kam nicht, wie in anderen Ländern, zum Austausch von konkreten politischen Wünschen gegen Geld, son- dern die beiden Großparteien ließen – meist über Inserate – kontinuierlich Geld in die Parteien fließen, ohne aber konkret politisch Einfluss zu nehmen.25 Gesellschaftlich-politisch war das Leben im Österreich der späten 1960er Jahre und des beginnenden Jahrzehnts der 1970er Jahre geprägt durch einen Ab- schwung des raschen Wirtschaftswachstums der 1950er Jahre, eine sanfte kultu- relle und sexuelle Revolution, die beginnende Mobilität der Wählerschaft und Bemühungen sachliche und wissenschaftliche Gesichtspunkte in die Politik ein- zubringen.26 Dies führte u.a. zu einer Reform des Strafrechts, die auch die recht- lichen Bestimmungen zur Korruption maßgeblich beeinflussten. Zunächst fand eine Nachschärfung des Antikorruptionsgesetzes 1964 durch das Strafrechtsän- derungsgesetz 1971 statt. Mit der Zäsur durch das neue StGB27, das zum größten

 23 Sickinger, Starker Klientelismus – mäßige Korruption, 28, sowie Sickinger, Politische Kor- ruption, 567. 24 Sickinger, Politische Korruption, 567. 25 Hubert Sickinger, Von der “Insel der Seligen” zur “Skandalrepublik”? In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim (Thaur/Wien/München 2007), 698-743, hier 713 bzw. Sickinger, Politische Korruption 567. 26 Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 426 27 BGBl 1974/60. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 157  Teil bis heute unverändert in Kraft ist, trat ein von Reformdenken geprägtes Strafrecht in Kraft. Aus korruptionsstrafrechtlicher Sicht war zunächst das Strafrechtsände- rungsgesetz 197128 von großer Relevanz. 1971 war man sich der anstehenden Strafrechtsreform schon bewusst, aber – so die erläuternden Bemerkungen zum StrRÄG 1971 – „es gibt Reformen, die nicht mehr aufgeschoben werden dür- fen.“29 Dies insbesondere, da „Erfahrungen der letzten Jahren […] es angezeigt scheinen [lassen], die Bestimmungen der Strafgesetzentwürfe gegen passive und aktive Beamtenbestechung schon jetzt in Kraft zu setzen.“30 Wichtig schien es vor allem „dadurch, dass gemäß Abs. 4 als Amtshandlung jede namens der dort genannten öffentlich-rechtlichen Personen von deren Organen vorgenommene Rechtshandlung anzusehen ist, [klarzustellen], dass tatbildmäßig sowohl Hand- lungen im Rahmen der Hoheitsverwaltung als auch Handlungen im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung sein können. Diese Klarstellung entspricht der Notwendigkeit, der Ausübung der verschiedensten privatwirtschaftlichen Tätig- keiten durch Organe der Personen des öffentlichen Rechtes durch eine Weiter- wicklung der Strafgesetze Rechnung zu tragen.“31 Ebenfalls finden sich erste Überlegungen zur Frage der Grenzziehung zwi- schen verbotenen und erlaubten Zuwendungen an Beamte: „Wenn der Gesetz- geber die Bestimmungen über die Geschenkannahme durch einen Beamten strenger fasst, so darf er doch den Bogen des Strafrechts nicht überspannen. Zwar werden bloße Gefälligkeiten, wie etwa die gelegentliche unentgeltliche Mitbeförderung eines Beamten in einem Privatkraftwagen, oder die Überrei- chung von Taschenkalendern und ähnlichen geringwertigen Aufmerksamkeiten aus Anlass des Jahreswechsels bei einem pflichtgetreuen Amtsorgan schon des- halb nicht tatbildmäßig sein, weil diese Vermögensvorteile nicht für die Amts- führung, sondern aus Rücksichtnahme auf allgemeine gesellschaftliche Gepflo- genheiten zugewendet werden. Um jedoch zu verhindern, dass auch Fälle, in denen die Verhältnisse nicht so klar liegen wie in den gegebenen Beispielen, für die aber andererseits eine allfällige disziplinäre Ahndung als ausreichend ange- sehen werden muss, gerichtlich geahndet werden müssen, bedarf es einer weite- ren Einschränkung der Strafdrohung. Hat der Täter für die pflichtgemäße Vor-

 28 BGBl 1971/273. 29 EBRV 39 BlgNR XII. GP 8. 30 EBRV 39 BlgNR XII. GP 9. 31 EBRV 39 BlgNR XII. GP 10. 158 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy nahme oder Unterlassung einer Amtshandlung nur einen geringfügigen Vermö- gensvorteil angenommen oder sich versprechen lassen, so soll die Strafbarkeit davon abhängen, ob eine Bestrafung geboten ist, um den Täter von künftigen Verfehlungen abzuhalten.“32 Das StGB, das am 1. Jänner 1975 in Kraft trat, stellte eine große Zäsur in der österreichischen Strafrechtsgeschichte dar, war es doch nach dem StG 180333 und dem überarbeiteten StG 185234 (das nach dem Zweiten Weltkrieg als StG 194535 wiederverlautbart wurde) eine völlige Neukodifikation, die Bewähr- tes übernahm, aber auch den gesellschaftlichen Änderungen Rechnung trug. Aus korruptionsstrafrechtlicher Sicht ist seither insbesondere der 22. Abschnitt des Besonderen Teils des StGB relevant, in dem die Delikte gegen Verletzungen der Amtspflicht und verwandte strafbare Handlungen zusammengefasst wurden. Für diesen Abschnitt wurde festgehalten, dass „im allgemeinen der Grundsatz ent- scheidend sein wird, dass nur solche Verletzungen der amtlichen Pflicht dem Strafgesetz unterworfen werden sollen, die das öffentliche Interesse an der pflichtgemäßen Verwaltung des Amtes berühren, während Pflichtwidrigkeiten, die bloß das Dienstverhältnis des Beamten zum Staat betreffen, dem Disziplinar- recht vorzubehalten sind.“36 Weiters wurde festgehalten, dass „das Strafgesetz hinter den Anforderun- gen der Zeit insofern zurück [geblieben war], als danach selbst grobe und in ih- ren Auswirkungen bedeutsame Verstöße gegen die Sauberkeit des öffentlichen Lebens vielfach nicht geahndet werden konnten. Denn es fehlten Strafdrohungen gegen die Bestechung von Personen, die, ohne Beamte zu sein, wichtige Funkti- onen in der öffentlichen Wirtschaft ausüben, ebenso wie gegen Personen, die ihren Einfluss im Weg einer Intervention gegen Entgelt missbrauchen. Der Be- kämpfung dieser Missstände dienen die Strafbestimmungen des Antikorrupti- onsgesetzes [dessen] Strafbestimmungen […] nunmehr in den Entwurf [zum neuen Strafgesetzbuch] aufgenommen werden.“ 37 Bei den einzelnen Bestimmungen wurde der Missbrauch der Amtsgewalt stärker konturiert. So wird nur „der wissentliche Missbrauch der Amtsgewalt […] zu dem mit gerichtlicher Strafe bedrohten Delikt durch den Vorsatz des Tä-  32 EBRV 39 BlgNR XII. GP 12. 33 JGS 1803/626 (Patent vom 03.09.1803). 34 RGBl 1852/117 (Kaiserliches Patent vom 27.05.1852). 35 StGBl 1945/25. 36 EBRV 30 BlgNR XIII. GP 453. 37 EBRV 30 BlgNR XIII. GP 454. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 159  ters, durch den Missbrauch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen. In Übereinstimmung mit der in Lehre und Rechtsprechung herrschenden Ausle- gung des geltenden Rechtes soll insoweit auch in Zukunft Eventualvorsatz ge- nügen.“38 Dabei kann ein Missbrauch nur dann vorliegen, wenn dieser im Rah- men der Hoheitsverwaltung stattfindet: „Die Wendung ‚in Vollziehung der Ge- setze‘ bringt dabei […] zum Ausdruck, dass Gegenstand eines Missbrauchs der Amtsgewalt nur Rechtshandlungen im Rahmen der Gerichtsbarkeit oder der Hoheitsverwaltung sein können.“39 Bei den anderen Bestimmungen wurden die Änderungen des StrRÄG 1971 nahezu wortgleich übernommen, interessant sind jedoch die Überlegungen zur Strafdrohung bei der Bestechung: „Da dieses Delikt aber nachdem vorliegenden Entwurf in keinem Fall ein Verbrechen, sondern bloß ein Vergehen und nach dem im Strafrechtsänderungsgesetz 1971 zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers auch mit keiner strengeren Strafe als einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht sein soll, entfällt die Notwendigkeit der auch in den Vorent- würfen vorgesehenen, wegen der Schwierigkeit der Abgrenzung ohnedies prob- lematischen Zweiteilung der Strafdrohung. Der vorliegende Entwurf kennt für dieses Vergehen sohin nur eine einheitliche Strafdrohung: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr.“40

4. Österreich in den 1980er Jahren Die Bindung der Bevölkerung an eine der beiden Großparteien schwand in den 1980er Jahren rasant und die Politik erfuhr eine Parlamentarisierung. Die Kon- trollfunktion der stärker werdenden Opposition und der Einsatz parlamentari- scher Untersuchungsausschüsse gewann an Bedeutung. Medien, Justiz und Op- position gewannen ein neues Selbstbewusstsein und traten mit unterschiedlichen Mitteln vermehrt gegen den Proporz und die Aufteilung des Staates unter Rot- Schwarz auf. Die zwei wesentlichen Oppositionsparteien waren die neu gegrün- deten Grünen und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die unter Jörg Hai- der gerade ihren fulminanten Aufstieg begann. Der politische Populismus und

 38 EBRV 30 BlgNR XIII. GP 456. 39 EBRV 30 BlgNR XIII. GP 455. 40 EBRV 30 BlgNR XIII. GP 459. 160 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy die öffentliche Auseinandersetzung mit Korruptionsskandalen traten in den 1980er Jahren gemeinsam auf.41 Insbesondere staatliche Betriebe gerieten in finanzielle Schieflage oder sorgten durch Korruption für Skandale, die erstmals medial kritisch beleuchtet wurden. Während in den Jahren davor die Bürger hauptsächlich Informationen aus Parteizeitungen erhielten, entstanden in den 1980er Jahren neue parteiunab- hängige Medien wie Profil, News und Basta. Zusätzlich wurde der neu auf- kommende Investigativjournalismus zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit. Das Wort Skandal wurde immer häufiger in den Medien gebraucht und für politische Auseinandersetzungen eingesetzt.42 Neben dem Fall AKH, erfuhren insbesonde- re der Lucona-, der Noricum-Skandal, sowie der Bauringskandal anhaltende Medienkarrieren. International geriet der etwas anders gelagerte Fall des Wald- heim-Skandals in die Schlagzeilen. Die Wurzeln des AKH-Skandal reichten bis in die 1950er Jahre zurück. Der Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses wurde schon 1955 beschlos- sen mit einem Volumen von einer Milliarde Schilling und einer Bauzeit von zehn Jahren. Der Beginn des Baus fand erst Anfang der 1970er Jahre statt. Schlussendlich kostete das AKH ca. 45 Milliarden Schilling (heute 3,3 Milliar- den Euro) und wurde erst 1994 vollständig in Betrieb genommen. Im Laufe des Baues erhielten verschiedene Proponenten Schmiergeldzahlungen von Firmen.43 Maßgeblich verantwortlich für die Aufdeckung des Skandals waren die vorher genannten Faktoren des Investigativjournalismus (hier machte sich besonders Alfred Worm einen Namen), einer erstarkenden Opposition (die das AKH auch im Wahlkampf thematisierte) und einer selbstbewussten Justiz (die Richterin Partik-Pablé führte das Verfahren entgegen einer Weisung fort). Pelinka sieht den AKH-Skandal als Indikator für drei wesentliche Verände- rungen in der politischen Kultur der Zweiten Republik:44 1. Die Verselbstständi- gung der Medien. In der Nachkriegszeit standen die Medien zuerst unter direk- tem Einfluss der alliierten Besatzungsmächte, danach dominierten Parteizeitun-  41 Anton Pelinka, “Wanzenjournalismus” und “Zerfall der Geschlossenheit”. In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. (Thaur/Wien/München 2007), 532-545, hier 532. 42 Vgl. zum politischen Skandal Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim (Thaur/Wien/München 2007) und Rolf Ebbighausen, Sighard Neckel, Anatomie des politischen Skandals (Frankfurt am Main 1989). 43 Pelinka, Wanzenjournalismus, 533. 44 Pelinka, Wanzenjournalismus, 536. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 161  gen und später zumindest politisch zuordenbare Publikationen die Medienland- schaft. 2. Die Säkularisierung der Politik. Die zentrale Rolle von Ideologien, die bis dahin das Lagerdenken geprägt hatten, verloren an Bedeutung. Dass im sozi- aldemokratisch regierten Wien – in der Ersten Republik Ort einer Kommunalpo- litik, die sich als Gesellschaftsreform verstand – Korruption in den Reihen der Sozialdemokratie stattfinden konnte, kann auch als Normalisierung im Sinne einer Entideologisierung der Politik verstanden werden. 3. Der Zerfall der nach außen hin monolithisch dargestellten Geschlossenheit der Parteien. Die Konflik- te rund um den AKH-Skandal, die zwischen dem Bundeskanzler und Parteivor- sitzenden Bruno Kreisky und dem Vizekanzler und stellvertretenden Parteivor- sitzenden Hannes Androsch ausgetragen wurden, hatten dahingehend eine neue Qualität, die vorangegangene parteiinterne Konflikte, die an die Öffentlichkeit gerieten (Krauland, Olah), nicht hatten. Als Folge des Skandals versuchten sich die drei Parlamentsparteien mit Forderungen nach rechtlichen Reformen zu übertreffen: die SPÖ wollte ver- schärfte Strafbestimmungen zur Bekämpfung von Untreue und Bestechlichkeit und eine Änderung des Parteienfinanzierungsgesetzes, die ÖVP eine Verschär- fung des Amtshaftungsgesetzes und eine Verbesserung des Organhaftungsgge- setzes, die FPÖ ein eigenes Vergabegesetz und eine systematische Erfassung von Wirtschaftsdelikten.45 Die Parteien geriehten miteinander in einen Wettbe- werb um die besten politischen Vorschläge. Diese neue Dynamik hatte sich durch den AKH-Skandal und die öffentliche-mediale Auseinandersetzung aller- dings nur verstärkt. Grundlage war eine schon seit Ende der 1960er Jahre an- dauernde Erosion der ideologischen Lage.46 Der Skandal wirkte politisch und gesellschaftlich als Beschleuniger einer fort- schreitenden Modernisierung im Sinne einer Entideologisierung und Entmytho- logisierung der Politik bzw. einer „Verwestlichung“, wie es Pelinka be- schreibt.47 Die Möglichkeiten, die gesamte Gesellschaft in ihren Einzelheiten zu kontrollieren, wurden weniger. Die Eliten, die die Zweite Republik aufgebaut hatten, verloren an Glaubwürdigkeit. Hohe ideologische Ziele waren bzw. wur-

 45 Pelinka, Wanzenjournalismus, 538 nach Gottfried Feuerstein, Politische Korruption und Ethik. In: Andreas Kohl, Alfred Stirnemann (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik (München/Wien 1981), 271. 46 Pelinka, Wanzenjournalismus, 539. 47 Pelinka, Wanzenjournalismus, 544 162 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy den oft nur Fassade für persönliche Bereicherung. Die Politiker wurden „in ihrer Normalität 'entlarvt', sie waren zur 'politischen Klasse' geworden“.48 Die genannten Skandale führten letztendlich zu konkreten korruptionsstraf- rechtlichen Änderungen: Zu erwähnen sind hierbei insbesondere das „Zweite Antikorruptionsgesetz“49 1982 sowie das Strafrechtsänderungsgesetz 198750. Das „Zweite Antikorruptionsgesetz“ stand ganz im Zeichen des AKH-Skandals. So sprechen die Erläuterungen dezidiert von „den in den letzten Monaten im Zusammenhang mit großen öffentlichen Bauvorhaben in Erscheinung getretenen Missständen“, die es „erneut erforderlich gemacht [haben], die bestehenden Rechtsgrundlagen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und Möglichkeiten einer effizienteren Bekämpfung krimineller Praktiken bei Vergabe und Durch- führung öffentlicher Aufträge zu erwägen.“51 Ebenfalls erkannte der Gesetzgeber auch die Schwierigkeiten und Beson- derheiten in Zusammenhang mit wirtschaftsstrafrechtlichen Causen: „Es handelt sich bei der Wirtschaftskriminalität um eine Erscheinungsform der Kriminalität, die vielfach schwer in den Griff zu bekommen ist, da sich der Täter meist durch überdurchschnittliche Intelligenz auszeichnet und im sozialen und politischen Leben – sei es etwa als beamteter Funktionär oder als leitender Angestellter ei- nes im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden Wirtschaftsunternehmens – viel- fach eine anerkannte Rolle einnimmt, die ihm überdies zu einem gewissen Ver- trauensvorschuss verhilft. Vielfach zeigt sich auch, dass der Täter eines Wirt- schaftsdelikts zunächst durchaus im Rahmen des Legalen agiert, bis er schließ- lich den Verlockungen, die die mit seiner Funktion verbundene Machtagglome- ration mit sich bringt, nicht mehr standhält und sich mehr und mehr zu sozial- schädlichen und schließlich sogar zu strafgesetzwidrigen Verhaltensweisen hin- reißen lässt. Vielfach ist es auch ein Mangel an Kontrolle, der den Ausschlag für diese Entwicklung gibt. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass Korruptionserschei- nungen in Verwaltung und Wirtschaft besonders in jenen Zeiten an Boden ge- winnen, in denen die maßgeblichen Organe durch andere Aufgaben stark in An- spruch genommen sind, und an die Stelle der Kontrolle mitunter ein unkontrol- liertes Vertrauen tritt.“52

 48 Pelinka, Wanzenjournalismus, 545. 49 BGBl 1982/205. 50 BGBl 1987/605. 51 EBRV 724 BlgNR XV. GP 5. 52 EBRV 724 BlgNR XV. GP 4. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 163  Zentrales Anliegen der Regierungsvorlage war es, ein Delikt zu implemen- tieren, das „dem Missbrauch bei der Vergabe und Durchführung öffentlicher Aufträge entgegengewirkt und damit auch ein verbesserter Schutz für den Ein- zelnen erreicht werden kann.“53 Dieses Delikt sollte als „Vergabemissbrauch“ in § 302a StGB eingefügt werden und hätte sicherlich auch wirkungsvoll korrupti- ve Akte in der Bauwirtschaft verhindern können. Allerdings lehnte der Justiz- ausschuss diese Norm schlussendlich ab, denn aus gewissen Gründen meinte der Ausschuss, „dass die Bestimmung über den Vergabemissbrauch vorläufig zu- rückgestellt und zugleich mit [einem zu schaffenden] Vergabegesetz selbst in geeigneter Weise in Beratung gezogen werden soll. Der Ausschuss möchte je- doch ausdrücklich feststellen, dass er dem Gedanken einer spezifischen Straf- drohung für schwere Verstöße gegen Vergabevorschriften positiv gegenüber- steht.“54 Diese vorgeblich positive Grundhaltung scheint zumindest fragwürdig, da die Schaffung einer solchen Strafnorm erst 20 Jahre später, nämlich als § 168b StGB im Jahr 200255 verwirklicht wurde. Das Strafrechtsänderungsge- setz 1987 führte die „Geschenkannahme durch Machthaber“ in § 153a StGB ein und „zugleich [wurde] eine Neufassung der zum Teil bereits durch das II. An- tikorruptionsG in ihrem Umfang beträchtlich erweiterten und dadurch unüber- sichtlich gewordenen Bestimmungen vorgeschlagen [und beschlossen]. Es [han- delte] sich hiebei lediglich um Neuformulierungen ohne reformatorischen Ge- halt.“56

5. Österreich in den 1990er Jahren Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs veränderte sich Österreichs Position in Eu- ropa drastisch. Das Land öffnete sich stärker Richtung Osten und spätestens mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (EU) profitierte die Wirtschaft enorm. Die Beitrittsverhandlungen zur EU begannen 1993 und nach der erfolg- reichen Volksabstimmung 1994 wurde Österreich mit 1. Jänner 1995 Mitglied der EU.57 Durch den Beitritt zur EU hatte Österreich nicht nur erweiterte Rechte, sondern auch neue Pflichten, so etwa die Übernahme europäischer Bestimmun- gen und die Harmonisierung des österreichischen mit EU-Recht. Österreich  53 EBRV 724 BlgNR XV. GP 5. 54 JAB 1033 BlgNR XV. GP 4. 55 BGBl I 2002/62. 56 JAB 359 BlgNR XVII. GP 25. 57 Vgl. u.a. Karl Vocelka, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik (Graz/Wien/Köln 2000). 164 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy konnte daher auch nicht länger an manchen korruptionsfördernden Bestimmun- gen festhalten. Exemplarisch sei der sogenannte „Schmiergelderlass“ erwähnt. Erst durch das Abgabenänderungsgesetz 199858 wurde der § 20 Abs 1 Z 5 EStG 1988 insoweit geändert, dass Geld- und Sachzuwendungen, deren Gewäh- rung oder Annahme mit gerichtlicher Strafe bedroht ist, nicht mehr abzugsfähig waren, auch wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit Ausfuhrumsätzen standen, da die OECD ihre Mitgliedsstaaten verpflichtete, illegale Aufwendun- gen zur Bestechung ausländischer Beamter vom Abzug als Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten generell auszuschließen. In Umsetzung der (damals) gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben erging das Strafrechtsänderungsgesetz 199859. Aus korruptionsstrafrechtlicher Sicht gab es einen klaren Schwerpunkt: „[Die Regierungsvorlage soll] insbesondere die EU- Übereinkommen und Protokolle zum Schutz der finanziellen Interessen der Ge- meinschaften und gegen Bestechung sowie das OECD Bestechungsüberein- kommen innerstaatlich umsetzen und damit deren Ratifizierung ermöglichen.“60 Zur Umsetzung des ersten Übereinkommens wurde insbesondere der „Förde- rungsmissbrauch“ in § 153b StGB geschaffen: „Wenn auch Anlass für die Schaffung des Tatbestandes die Umsetzung des EU-Übereinkommens ist, so sieht doch der Entwurf vor, die Anwendbarkeit des Tatbestandes nicht auf Zu- wendungen aus dem Gemeinschaftshaushalt […] zu beschränken, sondern auch Zuwendungen aus österreichischen öffentlichen Mitteln zu erfassen.“61 Kurz zusammengefasst, handelt nach dieser Bestimmung tatbestandsmäßig „wer eine ihm gewährte Förderung zu anderen Zwecken als zu jenen verwendet, zu denen sie gewährt wurde.“ 62 Zur Umsetzung des zweiten Übereinkommens wurde § 74 Z 4a bis 4c StGB eingeführt, der die mittlerweile für das österreichische Straf- recht wichtigen Begriffe des „Beamten eines anderen Mitgliedstaates der Euro- päischen Union“, des „Gemeinschaftsbeamten“ und des „ausländischen Beam- ten“ legaldefinierte. Weiters wurde die Strafdrohung für Bestechung von bis zu einem Jahr auf bis zu zwei Jahre angehoben.

 58 BGBl I 1999/28. 59 BGBl I 1998/153. 60 EBRV 1230 BlgNR XX. GP 6. 61 EBRV 1230 BlgNR XX. GP 18. 62 EBRV 1230 BlgNR XX. GP 18. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 165  6. Österreich in den 2000er und 2010er Jahren Mit dem Jahr 1999 endete eine lange Phase der Großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP, denn 2000 beginnt eine neue Regierung zwischen ÖVP und FPÖ. Die Koalition hält bis zum Jahr 2006, ab dem Jahr 2002 mit dem Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), das sich von der FPÖ abgespaltet hatte. Der Regierungswech- sel zur Jahrtausendwende hatte eine unmittelbare Verhärtung der politischen Fronten in Österreich zur Folge. Der Eintritt der rechtspopulistischen FPÖ Jörg Haiders führte zu heftigen Protesten, vor allem von Seiten der Opposition. Die neue Regierung führte verschiedene Reformmaßnahmen (unter dem Motto „Speed kills“) durch. Außerdem kam es zu einer Reihe von Privatisierungen, die nicht zuletzt ideologisch wichtige Projekte der Regierung darstellten. Privatisiert wurden insbesondere die Telekom Austria und die Post, wobei bei diesen beiden Verkäufen der Staat jeweils die Mehrheit der Anteile über die ÖIAG behielt. Die Postsparkasse (P.S.K) und der Postbus wurden hingegen gänzlich verkauft. Wei- tere Privatisierungen betrafen die voestalpine, die VA Tech, Böhler-Uddeholm, den steirischen Erzberg, die Austria Tabak, das Dorotheum, die Staatsdruckerei, die Bundeswohngesellschaften (BUWOG, WAG, EBS und ESG), die Wiener WBG und die Wohnungen der BIG. Der Flughafen Wien wurde von der Repub- lik an die Bundesländer Wien und Niederösterreich verkauft.63 Es gab hier je- weils große mediale Debatten um den Verkaufserlös, wirtschaftspolitische As- pekte, sowie Gerüchte über Absprachen, Bestechung und Parteienfinanzierung. Weiteres Charakteristikum dieser neuen Regierungsperiode waren rasche personelle Umwälzungen und teils schnelle Ministerwechsel, die meist von der Unerfahrenheit des Personals der FPÖ bzw. auch später des BZÖ herrührten. Dafür erschienen immer wieder persönliche Berater und Consultants auf der po- litischen Bühne und bestimmten die Politik dieser Jahre zu einem beträchtlichen, aber bisher nicht näher quantifizierbaren Teil mit. In solchen Rollen traten etwa die PR- und Medienberater Peter Hochegger und Walter Meischberger sowie der ehemalige Kabinettschef von Ernst Strasser im Innenministerium Christoph Ul- mer auf.64 Durch die Auseinandersetzung mit den 2000er und 2010er Jahren gelangt der Versuch eines Überblicks über die Korruption in der Zweiten Republik end- gültig in die Jetztzeit. Daher hat dieses Kapitel auch einen anderen Charakter als  63 Für einen Überblick über die bisher erfolgten Privatisierungen siehe ORF.at, 10.12.2013, http://orf.at/stories/2209813/2209823/ (06.05.2014). 64 ORF.at, 22.06.2012, http://orf.at/stories/2127083/2127076/ (06.05.2014). 166 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy die vorhergehenden, da es keine zeithistorische Sicht auf die Ereignisse einneh- men kann, sondern einen zeitgenössischen Blick auf aktuelle Ereignisse richtet. In einigen angesprochenen Fällen sind anhängige Gerichtsverfahren noch nicht beendet oder befinden sich im Instanzenzug und haben deshalb noch keine Rechtskraft, in anderen wiederum sind noch nicht einmal die Ermittlungen end- gültig abgeschlossen, weshalb jederzeit neue Erkenntnisse hinzukommen könn- ten. Die ersten Korruptionsvorwürfe gegen die schwarz-blaue Regierung Regie- rung datieren aus dem Jahr 2003. Damals tauchte der Vorwurf auf, dass Fi- nanzminister Karl-Heinz Grasser 175.000 Euro (wie sich später herausstellte waren es knapp 300.000 Euro) als Spende der österreichischen Industriellenver- einigung für die Erstellung einer Website, die großteils der Darstellung seiner Person galt, erhalten, aber nicht versteuert habe. In Folge stellte sich heraus, dass die Spende nicht an ihn persönlich ging, sondern an einen „Verein zur För- derung der New Economy“, dessen Vereinsobmann allerdings Grassers Kabi- nettschef Matthias Winkler war. Zu einer großen Affäre entwickelte sich die Privatisierung der BUWOG. Der Verdacht lautet, dass Karl-Heinz Grasser beim Verkauf der vier Wohnungs- gesellschaften BUWOG, WAG, EBS und ESG in den Jahren 2003 und 2004 dem Chef des siegreichen Bieterkonsortiums rund um die Immofinanz, Karl Pet- rikovics, entscheidende Informationen über den Preis zukommen haben lassen soll. Der geheime Tipp über den Angebotspreis des konkurrierenden Konsorti- ums soll zunächst von Karl-Heinz Grasser an seinen Parteifreund und Trauzeu- gen Walter Meischberger, von diesem an den PR-Berater Peter Hochegger und schließlich von diesem weiter an Karl Petrikovics gegangen sein. Eine geheim vereinbarte Provision von knapp 10 Millionen Euro (ca. 1% des Kaufpreises) floss nach dem Zuschlag auf ein zypriotisches Konto und von dort über eine Briefkastenfirma im US-Bundesstaat Delaware nach Liechtenstein. Dort wurde die Provision auf drei Konten verteilt, deren Zuordnung noch immer Gegenstand der Ermittlungen ist. Die Justiz vermutet hinter zwei der drei Konten den ehe- maligen Finanzminister sowie den Immobilienmakler und BUWOG- Aufsichtsratspräsidenten Ernst Karl Plech, die aber jegliche Verbindung bestrei- ten.65

 65 DerStandard.at, 16.04.2012, http://derstandard.at/1334530832484/Hintergrund-Grasser- und-die-Causa-Buwog sowie DiePresse.com, 24.03.2013, Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 167  Eine weitere große Korruptionscausa betrifft die Telekom Austria. Neben einer Affäre um eine Aktienkursmanipulation und einer Immobilienaffäre be- treffen die Vorwürfe im Wesentlichen illegale Parteienfinanzierung, insbesonde- re von FPÖ und BZÖ. In kleinerem Ausmaß sollen auch ÖVP und SPÖ betrof- fen sein. Einige Strafverfahren wurden bereits abgeschlossen, andere befinden sich im Rechtsmittelverfahren oder sind noch nicht abgeschlossen. Im Verfahren Telekom IV ging es um den Vorwurf der illegalen Parteienfinanzierung an das BZÖ für den Wahlkampf im Jahr 2006. Für die Abwicklung des BZÖ- Wahlkampfs soll die Telekom Austria in etwa 940.000 Euro an zwei Werbe- agenturen und die BZÖ-Agentur Organge gezahlt haben. Laut Justiz sollen ein Prokurist und der damalige Controlling-Chef der Telekom, Gernot Schieszler, der sich im Verfahren als Kronzeuge zur Verfügung stellte, ohne Wissen der Aktionäre und entsprechende Gegenleistungen Scheinrechnungen bezahlt ha- ben.66 Es steht der Verdacht im Raum, dass die Zahlungen mit der Novelle der Universaldienstverordnung 2006 in Zusammenhang stehen. Das Verfahren en- dete in erster Instanz mit Verurteilungen wegen Untreue und des Beitrags zur Untreue gegen den Lobbyisten Peter Hochegger (30 Monate Haft), den ehemali- gen BZÖ-Abgeordneten Klaus Wittauer (2 Jahre, davon 3 Monate unbedingt; rechtskräftig), den Werber Kurt Schmied (30 Monate, davon 5 Monate unbe- dingt) und Christoph Pöchinger, der Pressesprecher der BZÖ-Justizministerin (2 Jahre, davon 8 Monate unbedingt).67 Im Jahr 2011 wird die Strasser-Affäre zu einem brisanten innenpolitischen Thema. Journalisten der britischen Wochenzeitung „The Sunday Times“ hatten ab 2010 als Lobbyisten getarnt dem ehemaligen Innenminister und damaligen Europaparlamentarier (sowie ÖVP-EU-Delegationsleiter) Ernst Strasser 100.000 Euro angeboten, wenn er in ihrem Sinne Änderungen bei geplanten Richtlinien im Finanzsektor und einen Änderungsantrag zum Anlegerschutz einbringen würde. Ernst Strasser leitete die Änderungswünsche an die zuständigen Abge- ordneten in der ÖVP-Delegation weiter und urgierte mehrmals die Einbringung  http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1379897/Buwog_Moser-gelingt-Etappen sieg-gegen-Grasser (jeweils 06.05.2014). 66 Gernot Schieszler war der erste Kronzeuge gemäß der 2011 geschaffenen „großen Kron- zeugenregelung“. 67 WienerZeitung.at, 18.09.2013, http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/aktuell/575728_Endgueltiger-Freispruch-fuer-Ex- Vorstand-Fischer-in-Causa-BZOe.html, Der Standard.at, 16.09.2013, http://derstandard.at/1379290979759/Wittauer-akzeptiert-Strafe-uebrige-Verurteilte-nich und ORF.at, 21.01.2013, http://www.orf.at/stories/2162439/ (jeweils 06.05.2014). 168 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy der Änderungen in den zuständigen Ausschüssen, was aber nicht geschah. Nach den ersten Veröffentlichungen in „The Sunday Times“ erklärte Ernst Strasser, er habe die Änderungswünsche bloß weitergeleitet und seinen Kollegen nichts über den Hintergrund verraten, weil er vermutete, ein Geheimdienst stehe hinter den ihm „dubios“ erscheinenden Lobbyisten.68 Daraufhin veröffentlichte „The Sunday Times“ mehrere Videos, die die Journalisten bei den Treffen mit Stras- ser zeigten. Darin erklärte er, dass er seine Position in Brüssel verwende, um ein Netzwerk aufzubauen, das er für seine eigene Lobbyingfirma nutzen könne.69 2013 wurde Ernst Strasser wegen Bestechlichkeit zu vier Jahren unbedingter Haft verurteilt. Dieses Urteil wurde durch den Obersten Gerichtshof aufgeho- ben. Strasser wurde mittlerweile in einem neuen erstinstanzlichen Verfahren verurteilt.70 Aus rechtlicher Sicht standen die frühen 2000er Jahre in erster Linie unter dem Eindruck der Umsetzung internationaler Vorgaben. In diesem Zeitraum wurde eine Reihe an internationalen Abkommen unterzeichnet. Das Strafrechts- übereinkommen des Europarats unterzeichnete Österreich im Jahr 2000, das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (UNCAC) wurde von Österreich 2003 unterzeichnet und 2006 ratifiziert, der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) trat man 2006 bei. Die internationalen Verträge sind nicht zuletzt das Ergebnis langjähriger Aktivitäten auf internationaler Ebene, sowohl von internationalen Organisationen wie der Weltbank, als auch von Seiten der Zivilgesellschaft wie der NGO Transparency International, Korruption seit Mitte der 1990er Jahre weltweit zu thematisieren. Noch im Jahr 2006 merkte die da- malige Justizministerin Karin Gastinger an: „Es ist meines Erachtens keine Schönfärberei, wenn wir darauf verweisen können, dass es derzeit keine ver- gleichbaren nationalen Aufhänger gibt, die uns zum Handeln zwingen.“71 Nur wenig später sollten solche „nationalen Aufhänger“ folgen.

 68 DerStandard.at, 12.03.2011, http://derstandard.at/1297820230578/Strasser-soll-auf-falsche-Lobbyisten-hereingefallen- sein (06.05.2014). 69 The Sunday Times, 20.03.2011, http://blog.the-webring.at/wp-content/uploads/2011/03/‘I- must-be-careful_-there-is-a-_br_smell-to-lobbying’__br_-_-The-Sunday-Times.pdf (06.05.2014). 70 ORF.at, 13.03.2014, http://www.orf.at/stories/2221959/2221962/ (06.05.2014). 71 Karin Gastinger, Strafrecht als Mittel gegen Korruption. In: Martin Kreutner (Hg.), The Corruption Monster. Ethik, Politik und Korruption (Wien 2006), 145-155, hier 146. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 169  Aus korruptionsstrafrechtlicher Sicht ergaben sich die wichtigsten Ände- rungen aus dem Strafrechtsänderungsgesetz 200872 sowie dem Korruptionsstraf- rechtsänderungsgesetz 200973. 2008 wurden weitreichende Änderungen durch- gesetzt: Insbesondere sollte die Regierungsvorlage „die im Rahmen der beiden Antikorruptionsgesetze sowie des Strafrechtsänderungsgesetzes 1998 vorge- nommene Aus- und Neugestaltung der Kriminalisierung von Bestechlichkeit und Bestechung im öffentlichen und privaten Sektor fortsetzen und damit auch der (weiteren) Annäherung an internationale Vorgaben bzw. Verpflichtungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung mit den Mitteln des Strafrechts dienen.“74 Hierbei wurde auch allgemein auf die negativen Auswirkungen von korruptiven Akten hingewiesen: „Korruption belastet nicht nur das Vertrauen der Bevölke- rung in die staatlichen Organe, sondern schädigt in vielfacher Hinsicht die Volkswirtschaft. So sinkt bei vermehrter Wahrnehmung von Korruption in den Bereichen des Vergabewesens oder bei den behördlichen Entscheidungen auf kommunaler Ebene das Interesse am Wirtschaftsstandort Österreich. Eine wirk- same Verfolgung und Sanktionierung wirtschaftlicher, behördlicher und politi- scher Korruption ist schließlich nötig, um den Staat, benachteiligte Unterneh- men wie auch den Einzelnen vor Verlusten durch organisierte Kriminalität zu bewahren.“75 Die wesentlichen Änderungen waren die Einführung des Amtsträgerbegriffes (wenngleich unter Ausklammerung der inländischen Abgeordneten, „da verein- bart wurde, deren Einbeziehung dem Parlament selbst vorzubehalten“76), die „Einrichtung einer zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Korruption, strafbaren Verletzungen der Amtspflicht und verwandten Straftaten unter der Bezeichnung ‚Korruptionsstaatsanwaltschaft‘ (KStA)“77, die Einführung der später sehr umstrittenen Tatbestände „gegen das so genannte ‚Anfüttern‘ oder – wie es auch heißt – die ‚Klimapflege‘“78 und schließlich der Anhebung der Strafdrohung für Bestechung von zwei auf drei Jahre. 2009 wurden ebenfalls wieder große korruptionsstrafrechtliche Änderun- gen durchgeführt, deren Auslöser ein – für österreichische Verhältnisse untypi-

 72 BGBl I 2007/109. 73 BGBl I 2009/98. 74 EBRV 285 BlgNR XXIII. GP 1. 75 EBRV 285 BlgNR XXIII. GP 1. 76 EBRV 285 BlgNR XXIII. GP 4. 77 EBRV 285 BlgNR XXIII. GP 4. 78 EBRV 285 BlgNR XXIII. GP 6. 170 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy scher – Initiativantrag anstatt einer Regierungsvorlage war. In diesem wurde bemängelt, dass „die mit 1. Jänner 2008 in Kraft getretenen Bestimmungen des Strafrechtsänderungsgesetzes 2008 […] im Bereich der Antikorruptionsbestim- mungen für den öffentlichen Sektor (§§ 304 ff StGB) eine weit verbreitete Rechtsunsicherheit hervorgerufen [haben].“79 Daher „sollen bestehende Rechts- unsicherheiten beseitigt und klargestellt werden, dass im Rahmen der im Zuge der Amtsführung stattfindenden menschlichen Interaktion adäquate Sozialkon- takte zulässig sind.“80 Konkret wird damit auf die Bestimmungen zur Sanktionierung des soge- nannten „Anfütterns“ Bezug genommen, die für großen Unmut in Teilen der österreichischen Wirtschaft sowie der Sport- und Kulturszene gesorgt hatten. Darauf nimmt der Initiativantrag auch direkten Bezug: „Gerade im Bereich des ‚Anfütterns‘ bestand bislang große Unsicherheit unter den von dieser Norm Be- troffenen, die so weit ging, dass Amtsträger den – auch für eine effiziente und informierte staatliche Tätigkeit notwendigen – Kontakt zu anderen, manchmal sogar zu anderen Amtsträgern mieden oder aber die normale soziale Interaktion durch überschießende, aber oft verständliche Vorsicht allzu stark reduzierten. Beispiele hiefür waren die Absage der Teilnahme an Fachveranstaltungen, sogar als Vortragender, Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von öffentlichen Auf- tritten anlässlich von Kultur-, Sport-, wirtschaftlichen und Brauchtumsveranstal- tungen sowie sogar die Mitnahme von Thermoskannen mit Getränken zu Au- ßenterminen, um dort nicht Kaffee oder Wasser anzunehmen. Mag ein guter Teil dieser Überreaktionen auch letztlich nicht zwingend erforderlich gewesen sein, zeigen diese Verhaltensmuster doch eine große Unsicherheit unter den Betroffe- nen. Der Tatbestand des ,Anfütterns‘ ist daher im Sinne einer bestimmteren und konziseren Regelung neu zu fassen. Damit soll auch ein weiteres maßgebliches Anliegen der Neuregelung im Sinne des Regierungsübereinkommens für die XXIV. Gesetzgebungsperiode umgesetzt werden. Die Diskussion um die Straf- barkeit des sog. ‚Anfütterns‘ zeigt, dass gerade diese Strafbarkeit Auslegungs- schwierigkeiten verursacht. Es soll daher mit der Neuformulierung eine Präzisie- rung im Sinne einer besseren Anwendbarkeit erfolgen, ohne dass das Grundan- liegen geändert werden soll.“81

 79 IA 671/A BlgNR XXIV. GP 7. 80 IA 671/A BlgNR XXIV. GP 7. 81 IA 671/A BlgNR XXIV. GP 14 f. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 171  Die angestrebte „Neuformulierung“ führte aber schließlich zu einer fakti- schen Außerkraftsetzung der gegenständlichen Normen, die dem intendierten Zweck der Pönalisierung der „Klimapflege“ ein Ende bereitete. Dies führte wie- der zu einem breiten Diskurs, die zu einer „Wiederbelebung“ der Normen durch das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz 2012 beitrug. Angehoben wurde abermals die Strafdrohung für Bestechung, die in der höchsten Wertqualifikation auf ein bis zu zehn Jahre erhöht wurde (nachdem das StGB 1975 für das gleiche Delikt noch eine Höchststrafdrohung von einem Jahr vorgesehen hatte). Eben- falls wurden Mitglieder inländischer verfassungsmäßiger Vertretungskörper vom Amtsträgerbegriff erstmals erfasst, aber nur soweit dies die Stimmabgabe bei einer Wahl oder Abstimmung betraf oder die Ausübung der in den Vor- schriften über dessen Geschäftsordnung festgelegten Pflichten. Aufgrund des öffentlichen Drucks im Zusammenhang mit der erwähnten Strasser-Affäre wur- de durch das Korruptionsstrafrechtsänderungsgesetz 201282 schließlich auch die- ses strafrechtliche Schlupfloch für Parlamentarier geschlossen. Mit dieser jüngsten korruptionsstrafrechtlichen Novelle wurde außerdem eine weitere – aus Sicht der Korruptionsprävention – erfreuliche Änderung ein- geführt: die Strafbestimmungen zur Bekämpfung des „Anfütterns“ wurden näm- lich reanimiert: „In der letzten Zeit wurde verstärkt die Forderung nach einer Wiedereinführung der gerichtlichen Strafbarkeit des ,Anfütterns‘ erhoben. […] Um diesen Anliegen Rechnung zu tragen, muss im Sinne der vorstehenden Aus- führungen beim Erfordernis des konkreten Amtsgeschäftes angesetzt werden. Der Entwurf will diese Zielrichtung durch das Abstellen auf die ,Beeinflussung der Tätigkeit des Amtsträgers‘ zum Ausdruck bringen. Es soll zunächst bloß er- forderlich sein, dass es der Amtsträger ernsthaft für möglich hält, dass er inner- halb seines Zuständigkeitsbereichs in irgendeiner Form für denjenigen, von dem er den Vorteil fordert, annimmt oder sich diesen versprechen lässt, in Wahrneh- mung seiner Aufgaben tätig werden könnte, sich damit abfindet und dennoch einen Vorteil fordert oder einen nicht gebührenden Vorteil annimmt oder sich versprechen lässt. Der Nachweis, ob sich der Amtsträger auf Grund der Vor- teilszuwendung pflichtwidrig oder pflichtgemäß verhalten wird, soll nicht ent- scheidend sein, vielmehr soll das Kriterium für die Strafbarkeit des Anfütterns (bzw. Sich-Anfüttern-Lassens) das Abstellen auf eine wohlwollende Behand- lung, sei es inhaltlicher Natur, sei es proceduraler Natur, das heißt iW im Sinne

 82 BGBl I 2012/61. 172 Markus Höcher / Matthias Reiter-Pázmándy einer rascheren Erledigung sein.“83 Ebenfalls angepasst wurde das Delikt der Verbotenen Intervention (§ 308 StGB), das nunmehr einem logischen Aufbau und einer klaren Struktur folgt.

7. Schlussfolgerungen Im vorliegenden Beitrag wurde der Versuch einer Chronologie der Korruptions- fälle der Zweiten Republik und deren Auswirkungen auf das Strafrecht vorge- nommen. Der Versuch ist strukturiert durch die jeweiligen gesetzlichen Ände- rungen und ihnen vorhergehenden bzw. sie auslösenden Fälle. Diese Struktur lässt sich weitestgehend in Jahrzehnte einteilen, weshalb diese Unterteilung auch für den Beitrag gewählt wurde. Die strafrechtliche Reaktion erfolgte nicht im- mer als direkte, kausale, lineare Folge bestimmter Causen, sondern es handelte sich oftmals um verzögerte und vielschichtige Einflüsse, die auf den Gesetzge- bungsprozess ihre Wirkung entfaltet hatten. Dieser Beitrag soll daher nur ein erster Schritt sein, zu versuchen, verschiedene Phasen auf politischer, gesell- schaftlicher und juristischer Ebene herauszuarbeiten. Die Dialektik eines sol- chen Wechselwirkung Geschichte-Strafrecht soll in der folgenden Grafik ange- deutet werden: Tab. 1

Nachkriegszeit 1960er und 1970er 1980er 1990er 2000er und 2010er

Wichtigste Erstes Einführung Zweites Strafrechts- Strafrechts- Änderungen im Antikorruptions- des StGB Antikorruptions- änderungsgesetz änderungsgesetz Korruptions- gesetz 1964 gesetz 1982; 1998 2008; Korruptions- strafrecht Strafrechts- strafrechts- änderungsgesetz änderungsgesetz 1987 2009;

Korruptions- strafrechts- änderungsgesetz 2012

Beeinflussung Ausfuhrprämien- Auslagerung AKH-Affäre Umsetzung der Verpflichtungen durch äußere skandal (Zorko) staatlicher Tätigkeiten EU-Vorgaben aufgrund Faktoren in private internationaler Unternehmen Abkommen, Strasser- (Beleihungen) Affäre

Die tabellarische Darstellung dient als Anstoß zu einer interdisziplinären Betrachtungsweise von Korruption im Wandel der Zeit. Es können daher – vor allem chronologisch – Überschneidungen zwischen den Kategorien auftreten,

 83 IA 1950 BlgNR XXIV. GP 11. Korruptionsfälle in der Zweiten Republik 173  was besonders auf die unterschiedlichen Zeitpunkte von Ablauf und Aufde- ckung einer Affäre zutrifft. Es zeigt sich, dass bis zu den 1980er Jahren vergleichsweise wenige Affä- ren öffentlich bekannt und medial thematisiert wurden. Im Österreich des 20. Jahrhunderts und der Zweiten Republik war Korruption als Topos, über den in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, daher nicht von besonderer Relevanz. Welche Wendungen die österreichische Geschichte im 21. Jahrhundert diesbe- züglich nehmen wird, wissen wir noch nicht. Fest steht aber, dass Korruption als historisches Phänomen schon in den ersten Jahrzehnten dieses jungen Jahrhun- derts mit Sicherheit Eingang in die Geschichtsbücher finden wird.

Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen Oksana Havryliv

Die Sprache als Teil der gesellschaftlichen Realität spiegelt die Beziehungen des Menschen zur Welt wider: „die Seele eines Landes offenbart sich ja nicht zuletzt darin, wofür man Worte findet und worüber man sie verliert“1. In meinem Bei- trag wird es deshalb mittelbar um das Wienerische als ostmittelbairischen Dia- lekt, der in Wien und Umgebung gesprochen wird und sich vom Hochdeutschen in Wortschatz, Grammatik und Aussprache unterscheidet, handeln; den Haupt- akzent lege ich darauf, zu zeigen, wie sich im Wiener Dialekt die Realien, die Besonderheiten des täglichen Wiener Lebens und die Mentalität seiner Bewoh- nerinnen und Bewohner widerspiegeln. Als Erstes ziehen wir aber in Betracht, dass die Funktionsbereiche des Dia- lekts in erster Linie landwirtschaftlich-handwerkliche und häuslich-private sind (Vgl. Löffler2, Nabrings3, Wesche4). Deshalb beobachten wir in allen Dialekten ein ähnliches Bild: differenzierte Lexik aus den Bereichen des täglichen Lebens wie Kulinarie, Handwerk, regionales Obst und Gemüse, einheimische Tiere, Gegenstände des Alltags (Möbel, Geschirr, Kleidung etc.), psychische und phy- sische Abweichungen, das Benehmen/der Charakter, das Aussehen der Mitmen- schen.

1. Sinnesempfindung, Emotionalität und „Wiener Wut“5 Der eingeschränkte Wortschatz des Dialekts bei den Abstrakta, Generalia und Kollektiva gleicht sich durch „/…/ eine größere Wortbreite im Bereich der sinn- lichen Wahrnehmung, der Gefühle und der konkreten Welt“6 aus. Dank der dif- ferenzierten lexikalischen und syntaktischen „Ausstattung“ bietet der Dialekt oft bessere Möglichkeiten für treffende Bezeichnungen im Bereich der Sinne. So ist es mit Hilfe des für das Wienerische typischen Suffixes –(e)ln möglich, eine

 1 Astrid Wintersberger, H.C. Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch (Salz- burg/Wien 1995) 5. 2 Heinrich Löffler, Germanistische Soziolinguistik (Berlin 2005) 145. 3 Kirsten Nabrings, Sprachliche Varietäten (Tübingen 1981) 67. 4 Heinrich Wesche, Deutscher Sprachatlas, Fragebogen, Tonband, moderne Mundart. In: Werner Simon, Wolfgang Bachofer, Wolfgang Dittmann (Hg.), Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag (Berlin 1963) 355 – 368, hier 368. 5 Richard Weihs, Wiener Wut. Das Schimpfwörterbuch (Wien 2000). 6 Löffler, Germanistische Soziolinguistik, 457. 176 Oksana Havryliv

Reihe von Zeitwörtern zu bilden, die sich auf Sinnesempfindung, besonders Gerüche beziehen, indem an das mit dem Geruch verbundene Hauptwort das Verbalsuffix –(e)ln hinzugefügt wird. Diese Wörter lassen sich hochsprachlich nur durch umschreibende syntaktische Konstruktionen wiedergeben (der Dialekt erscheint in diesem Fall im Vergleich zur Hochsprache als sparsamer – „Öko- nomiegesetz der Sprache“): hund´ln (nach Hunden riechen), schweiß´ln (nach Schweiß riechen), zwiefeln (nach Zwiebeln riechen), kasl´n (nach Käse riechen), mausl´n (nach Mäusen rie- chen), fisch´ln (nach Fisch riechen), kindl´n (nach kleinen Kindern riechen), altl´n (nach altem gutem Wein riechen), miacht´ln (muffig riechen), schmirkl’n, grawerln (nicht gut riechen). Im Bereich des Fühlens ermöglicht das Ökonomiegesetz ebenfalls, ins Detail zu gehen: ɜremasln – ein Gefühl auf der Haut zwischen dem Kribbeln und dem Ju- cken, als würde darauf ein Insekt krabbeln (mhd. breme – Insekt), togerzen – das Fühlen des eigenen Pulses in der Wunde (mhd. tocketzen – stoßen). Das Wienerische bietet auch breite Möglichkeiten für die Wiedergabe ge- schmacklicher Besonderheiten (in erster Linie betrifft es die Eigenschaften des Weines): Kern – „eine Komponente des Weingeschmacks, kaum zu verbalisie- ren, Verständnis ist nur durch praktische Übungen unter sachkundiger Leitung zu erwerben“7, stoppeln – nach Kork riechen und schmecken, schmeckad – ein Wein mit starkem Beigeschmack. Es gibt eine Reihe von Bezeichnungen eines sehr sauren (Krautwosser, Darmreiser, Saur´ampfer, Ruab´nwosser) oder gezu- ckerten Weines (Rabiatperle). Bildhafte dialektale Wörter bezeichnen das schlechte Essens (Saufuada, Schlanganfroß) und Getränke (Beid’lwossa, Off’nbrunzlert’s). Bei den romantischen Gefühlen erlaubt der Dialekt diejenigen feinen Nu- ancen mit einem Wort zu bezeichnen, die in der Hochsprache nur durch längere Beschreibungen möglich sind: winnich – der Zustand zwischen platonischer Verliebtheit und dem physischen Begehren (mhd. winnec). Peter Wehle, österreichischer Kabarettist, Autor populärwissenschaftlicher Bücher über das Wienerische, stellt den „bunten Dialekt“ der „schwarz-weißen Hochsprache“ gegenüber und bezeichnet ihn als „das beste Transportmittel für unsere Emotionalität“8. Diese Meinung bestätigen auch die Sprachwissenschaft-

 7 Peter Wehle, Sprechen Sie Wienerisch? (Wien 1980) 177. 8 Wehle, Sprechen Sie Wienerisch, 286f. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 177  ler9. Wie auch andere Dialekte, ist das Wienerische eine unerschöpfliche „Schatztruhe“ was Schimpfwörter, Flüche und andere Wörter und Wendungen zur Äußerung negativer Emotionen anbetrifft. Allein zur Bezeichnungen von negativen Emotionen habe ich in Wörterbüchern des Wienerischen10 19 Lexeme mit der Bedeutung „zornig, wütend sein“ und 9 Lexeme mit der Bedeutung „Är- ger“, „Wut“ gezählt. 15 Lexeme haben im Wienerischen die Bedeutung „schimpfen, streiten“. Diese Vielfalt bietet die Möglichkeiten, je nach der Be- sonderheit des Schimpfens zu unterscheiden: z.B. keppeln (fortwährend schimp- fen), mugerzen (leise schimpfen), motschgern (vor sich hin schimpfen). Der Dialekt ist für die Sprachträger näher als die Hochsprache, ist für sie ihr „sprachliches Zuhause“11, folgend eignet er sich ideal zur Äußerung von Emotionen: Ergebnisse der von mir durchgeführten schriftlichen und mündli- chen Umfragen zeigen, dass vorwiegend im Dialekt geschimpft wird. Diese Tat- sache spiegelt sich in der Lexikographie wider: Dialektwörterbücher bieten ein reiches Material für Schimpfwortforscher, und umgekehrt beruhen Schimpfwör- terbücher oft auf einzelnen Dialekten. Bezüglich der Intensität dialektaler Pejorativa, so wurden von insgesamt 36 Personen, mit denen ich mündliche Intensivinterviews durchgeführt habe, öster- reichische (bzw. Wiener) Schimpfwörter von 22 Personen als stärker im Ver- gleich zu den hochdeutschen empfunden. Die Interviewten erklären dies dadurch, dass sie „emotioneller“, „authentischer“, „unmittelbarer Emotionsaus- druck“ sind. 6 Personen empfinden Dialektschimpfwörter und gesamtdeutsche Schimpfwörter als gleich stark, schreiben aber dem Dialekt mehr Originalität zu; und für 8 Personen sind Dialektschimpfwörter schwächer als die hochdeutschen (weil „lustiger“, „vertrauter“ und daher „harmloser“)12. Von der „Gutmütigkeit“ sogar vulgärer Wiener Wörter und Wendungen ist auch Mayr13 überzeugt: „So grob und beleidigend auch manche (Wiener Redensart – O.H.) klingen mag, sie  9 Hans Joachim Gernentz, Sprachschichten im heutigen Deutsch. In: Jezyki obce w szkolie 5 (1964) 257 – 268, hier 259; Löffler, Germanistische Soziolinguistik, 145; Nabrings, Spra- chliche Varietäten, 67; 10 Günter Jontes, Das große österreichische Schimpfwörterbuch (Fohnsdorf 1987); Walter Karl Daniel, Das nicht immer so goldene Wienerherz. Das besondere Schimpfwörterlex- ikon mit ausgewählten 1300 Spitzenausdrücken (Wien 2006); Max Mayr, Das Wiener- ische. Art und Redensart (Wien/München 1980); Wehle, Sprechen Sie Wienerisch? Win- tersberger, H.C. Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch; Weihs, Wiener Wut. 11 Wehle, Sprechen Sie Wienerisch, 286. 12 Oksana Havryliv, Verbale Aggression. Formen und Funktionen am Beispiel des Wiener- ischen (FaM/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2009) 21f. 13 Mayr, Das Wienerische, 189. 178 Oksana Havryliv verraten trotzdem eine herzliche Gutmütigkeit, dabei eine Neigung zur Bildlich- keit, zu merkwürdigen Umschreibungen und stellen oft die Ausbrüche einer süd- lichen, zu geradezu widersinniger Übertreibung führenden Einbildungskraft vor“. Jörg Mauthe14 dagegen denkt beim Wienerischen in erster Linie an Wiener Schmäh als spezifischen Kommunikationsstil und behauptet: „Das Wienerische ist gar nicht so herzig und gemütlich – es ist ein ironischer, sarkastischer und manchmal geradezu bösartiger Dialekt“. Zur Häufigkeit des Gebrauchs einzelner Schimpfwörter und anderer ag- gressiver Sprechakte möchte ich die Ergebnisse schriftlicher und mündlicher Umfragen, die ich 2006 – 2008 in Wien im Rahmen des Lise Meitner- Forschungsstipendiums (FWF) durchgeführt habe, anführen. Es wurden 360 Wienerinnen und Wiener aus verschiedenen Alters- und sozialen Gruppen be- fragt. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind im Buch „Verbale Aggressi- on“15 dargestellt. Die 5 häufigsten Schimpfwörter der Wienerinnen und Wiener: 1. Trottel (166 – hier und weiter steht die Zahl der Personen, die dieses Wort/diese Wendung angeführt haben) 2. Oaschloch (153) 3. Idiot/en (103) 4. Sau, Drecksau (86) 5. Koffer, Vollkoffer (78) Die 5 häufigsten Flüche: 1. Scheiße (183) 2. Verdammt (64) 3. Shit (61) 4. Fuck (42) 5. Mist (29) Die 5 häufigsten aggressiven Aufforderungen: 1. Schleich di/dich (50) 2. Geh scheißen (42) 3. Leck mi/mich (am Oarsch) (40) 4. Fick dich (26) 5. Gusch (18)  14 Zit. nach: Daniel, Das nicht immer so goldene Wienerherz, 4. 15 Havryliv, Verbale Aggression. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 179  Generell überwiegt pejorative Lexik über der meliorativen in allen (europäi- schen) Sprachen16. Die Erklärung dafür ist die menschliche Psychologie: das Gute, Positive wird als Norm verstanden und nicht näher thematisiert, das Negative, Unange- nehme – alles, worüber wir uns ärgern, spielt dagegen eine große Rolle in der Kommunikation und äußert sich folglich in starker lexikalischer Differenzie- rung. Außerdem sind Äußerungen negativer Emotionen durch höhere Bildhaf- tigkeit und Kreativität gekennzeichnet als Äußerungen positiver Emotionen: „Wirklich neu und bildkräftig im Ausdruck wurde der Mensch nur, wenn er schimpfte. Wie ewig gleichmäßig waren die Ausdrücke der Liebe, — und wie wechselvoll dagegen die Skala der Flüche!“17 Kennzeichnende Besonderheit des Gebrauchs aggressiver Sprechakte im Wiene- rischen, die uns Tabelle 1 veranschaulicht, ist ihr häufiger scherzhafter bzw. laudativer oder kosender Gebrauch: Die Interviewten wurden gebeten, die Inten- tionen, die ihrer verbalen Aggression zugrunde liegen, prozentuell abzubilden, so dass sie in der Gesamtsumme 100% ergeben.

Tabelle 1. Funktionen verbaler Aggression Abreagieren negativer Beleidigung der/des Adressa- Scherzhaft, kosend Emotionen tin/Adressaten 64% 11% 25%

Der Gebrauch aggressiver Sprechakte zur Äußerung positiver Emotionen gibt uns den Grund für die Aussonderung der „fiktiven verbalen Aggression“. Den scherzhaften Aspekt des Schimpfens zeigt auch die Etymologie des Wortes: es stammt vom ahd. scimphen und dem mhd. schimphen, die „scherzen“, „spielen“ und erst dann „verspotten“ bedeuteten18. Laut Ergebnissen meiner Umfrage19 kann jeder aggressive Sprechakt mit scherzhafter Absicht gebraucht werden: beim Sprechakt Beschimpfung handelt

 16 Laure Wyss, Vorwort In: Luise Frei, Die Frau. Scherz-, Schimpf- und Spottnamen (Stuttgart 1981) 7 – 11, hier 9; Jontes, Das große österreichische Schimpfwörterbuch ; Ilo- na Opelt, Die lateinischen Schimpfwörter und verwandte sprachliche Erscheinungen (Hei- delberg 1965); Mayr, Das Wienerische; Andreas Lötscher, Lappi, Lööli, blööde Siech! Schimpfen und Fluchen im Schweizerdeutschen (Frauenfeld 1980). 17 Erich Maria Remarque, Drei Kameraden (Moskau 1963) 255. 18 DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch (Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 52003) 1375. 19 Havryliv, Verbale Aggression, 135 f. 180 Oksana Havryliv es sich um Schimpfwörter in der Rolle von Kosewörtern (z.B. den Kindern ge- genüber: Mei Scheißerl! Mein kleiner Stinker! oder in der Kommunikation der Liebespaare: Servas, mei süße Hure! Hallo, mein Lieblingsmacho!) sowie um laudativen und scherzhaften Gebrauch von Schimpfwörtern im Freundeskreis (vor allem in männlichen Gruppen: Seavas, du Koffer/Oasch/Wappler! Hey, du Sack!) Laut Angaben der befragten Wienerinnen und Wienern werden im Freun- deskreis scherzhaft sogar die starken Nationalschelten gebraucht: stinkender Kanack, Itaker, Hurentschusch, Katzelmacher, Piefke, die der Adressat auch nicht beleidigend wahrnimmt, weil er die scherzhafte Intention dahinter erkennt. Voraussetzung für den Erfolg fiktiver Beschimpfungen sowie den scherzhaften Gebrauch anderer aggressiver Sprechakte sind enge freundschaftliche Bezie- hungen zwischen den Kommunikanten, ihre gegenseitigen Kenntnisse über Wertesysteme, Lebenserfahrungen, Charaktereigenschaften, Humor, Verhal- tensweisen und Reaktionen. Der Sprechakt „Drohung“ wird im Wienerischen, so Ergebnisse schriftli- cher und mündlicher Umfragen, vorwiegend scherzhaft gebraucht (im Freundes- und Familienkreis, zu den nahe stehenden Kolleginnen und Kollegen): Ich skalpier dich gleich! Ich bring dich um! I reiß da a Beuschel auße! I reiß da den Oarsch auf! I dreh dir den Schäd´l um! Nicht selten bekommen scherzhafte Drohungen die Kinder zu hören: Ich beiß dir ins Ohr/in Popo/in den Hintern! Ich reiß dɿr die Ohren/den Kopf ab! Mit dem Sprechakt „Verwünschung“ wird dem Adressaten verschiedenes Unglück gewünscht. Generell ist dieser aggressive Sprechakt im Deutschen sel- ten (im Gegensatz zu den slawischen Sprachen), typisch wienerisch sind aller- dings Verwünschungen Du sollst Krätze am Oasch bekommen und zu kurze Hände zum Kratzen! und Alle Zähne sollen dir ausfallen bis auf einen fürs Zahnweh! die von Personen, welche sie angegeben haben, ausschließlich scherzhaft gebraucht werden. Bei diesen Verwünschungen handelt es sich um Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 181  Entlehnungen aus dem Jiddischen, das auf diesem Gebiet eine „geradezu dichte- rische Fluchkultur entwickelt hat“20 . Scherzhaft gemeint sind oft auch aggressive Aufforderungen – der Sprech- akt, der von befragten Wienerinnen und Wienern generell häufig erwähnt wird: Hupf in Gatsch und schlage Wellen! Rutsch mir den Buckel runter und brems mit der Zunge! Geh in Oasch wann in Hümme kummst eh net/da hast du’s nicht weit! Moch dir ein Loch im Knie und schieb a Gurkerl rein! Oder euphemisti- sche Aufforderung Hab mi gern!/Du kannst mi gern haben!

2. Physische Aggression Andere Aggressionsform – die physische Aggression – ist im Wienerischen mit langen synonymischen Reihen zur Bezeichnung einzelner physischer aggressi- ver Handlungen vertreten: In Wörterbüchern des Wienerischen habe ich 17 Le- xeme, die „schlagen“ bedeuten und 6 Lexeme mit der Bedeutung „Schlägerei“, „Schlag“ gezählt. Darunter Lexeme zur Bezeichnung eines konkreten Schlags: Tatsch – Schlag mit der flachen Hand, Tätschen – Schlag, Ohrfeige, Spitz – Tritt mit dem Knie ins Gesäß, Arschknödel (Knödelreiter), Gsöchts – Stoß mit dem Knie in den Hintern, Mag´nbeugel 2) Stoß in die Magengegend. Anbandln bezeichnet „Kontktaufnahme zwecks Einleitung eines Liebes- verhältnisses oder einer Schlägerei“21 und Hengl/Henkl hat neben „Zorn“ auch die Bedeutung „die Lust, sich mit jemandem anzubinden“22. Es findet sich im Wienerischen beeindruckende Vielfalt von Wörtern und Wendungen, die Synonyma von „Ohrfeige“ und „ohrfeigen“ sind: 18 Ausdrücke mit der Bedeutung „j-m eine Ohrfeige geben“ und 15 Lexeme zur Bezeichnung der Ohrfeige selbst: von der leichten (Dachtel) bis zur kräftigen Ohrfeige (Pa- tentwatschen) und den spezifischen Techniken, diese zu erteilen: datschkern (mhd. datschen – mit der flachen Hand schlagen), nussen – mit dem Fingerknö- chel ohrfeigen (eine „Nuss“ geben). Der Ausdruck ɚm Watschenbaum rütteln bezeichnet ein nerviges Verhalten, das eine Ohrfeige provoziert; es gibt sogar Wörter für das Geräusch einer Ohrfeige (Klescher) und des Antlitzes, „/…/ das zur Verabreichung von Watschen einlädt“ (Watsch´ng´sicht)23.Häufig sind eu- phemistische Konstruktionen, in denen das Wort „Ohrfeige“ bzw. andere seine  20 Franz Kiener, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression (Göttingen 1983) 288. 21 Wintersberger, Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch, 8. 22 Wehle, Sprechen Sie Wienerisch? 160. 23 Wintersberger, Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch, 89. 182 Oksana Havryliv

Synonyme ausgelassen werden und nur der unbestimmte Artikel (ane/eine) ge- braucht wird: I flack/dusch/tusch/klesch/pick/wisch/schmier da ane. Diese lexi- kalische Vielfalt spiegelt die Rolle der Ohrfeige als Erziehungsmethode in den österreichischen Familien bis in die 80er Jahre hinein (a g´sunde Watsch´n). Zum Vergleich: in der Ukraine wurde mit diesem Zweck der Gürtel eingesetzt: er hing an einem sichtbaren Platz und entschärfte so manche Konfliktsituation im voraus. Die Warnung in Form der reduzierten syntaktischen Konstruktion „Kinder – Gürtel!“ ersparte oftmals dessen Einsatz in der Praxis. Im Gegensatz zum Wienerischen ist aber im Ukrainischen keine vergleichbare lexikalische Vielfalt zu beobachten.

3. Diminutiva und bildhafte Nominierungen Das Wienerische hat nicht nur eine besondere Vorliebe für Diminutiva (Mäderl, Sackerl, Gackerl, Busserl), sondern bietet die Möglichkeit der Wahl zwischen zwei Verkleinerungsstufen (was die Hochsprache nicht hat): mit Hilfe des Suffi- xes –l und (weitere Verkleinerungsstufe) – mit Hilfe des Suffixes – erl: Haus – Häus’l – Häuserl, Dach – Dach’l – Dacherl, Rad – Radl – Raderl. Zur Bezeichnung unangenehmer Sachen/Erscheinungen bietet das Wieneri- schen eine Reihe bildhafter umschreibender Bezeichnungen: Engelmacherin – Assistentin bei illegalen Schwangerschaftsabbrüchen, Privatdozentin – Callgirl, Reitschule – Bordell, Pflostahirsch – Prostituierte, Hemadhusar – Floh, Hof- trauer – Schmutz unter den Fingernägeln, Winterkirsch’n – Hämorroiden u.a.). Bruno Kreisky gilt, so Georg Vogl, als „großer Meister der verschleiernden Sprachbildern“: „Als die Konjunktur als Folge des ersten Erdölschocks in den 70er Jahren einbrach, sprach er vom Nullwachstum. Und die Journalisten rap- portierten es unkritisch. Als wenn eine Null ein Wachstum bedeuten könnte. Als es wirtschaftlich noch schlechter wurde, sprach Kreisky gar vom Minuswachs- tum“24. In den meisten Fällen aber liegt den bildhaften Nominierungen nicht ein Wunsch, etwas zu verschönern, sondern das Streben, sich originell, kreativ, hu- morvoll zu äußern. Eine wichtige stilistische Funktion des Dialekts besteht im Erzeugen des komischen Effektes (Vgl. Wehle „ /…/er (Dialekt – O.H.) eignet sich besonders gut für komische Rollen im Spiel des Lebens“25). Was im Dialekt

 24 Gerhard Vogl, Wort-Gefechte. Sprachliche Gemeinheiten aus Politik, Kunst, Wirtschaft & Sport (Wien 2013) 194. 25 Wehle, Sprechen Sie Wienerisch, 77. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 183  witzig und tiefsinnig klingt, erscheint, hochsprachlich wiedergegeben, platt und trivial. Man denke hier an die vielen im Dialekt verfassten Werke der Mundart- schriftsteller oder Kabarett-Stücke. Bei dem Großteil der bildhaften Nominie- rungen handelt es sich um solche, die alltägliche Dinge und Realien im Blick- winkel des Komischen darstellen: Patschenkino – Fernsehgerät, Chrisbambredln – besonders große Füße, Eier- cognac – Sperma, Cognacpumpe – Herz, Bauplotz, Eislaufplotz – Glatze, Lausallee – Scheitel, Kned´lakademie, Nockerlaquarium – Mädchenschule, Erdöpfequetschmaschin – Mund, Gummiadler – zähes Huhn, Fangeis´n – Ehe- ring, Eh’standslokomotiv – Kinderwagen, Giftnud’l – Zigarette, Stinkowitz, Beusch´lreiser – billige Zigaretten von schlechter Qualität. Am Beispiel anderer Nominierungen beobachten wir eine ironische Aufwertung des so bezeichneten Gegenstands/Lebensmittels/Lebewesens dank dem Ver- gleich mit dem wertvolleren: Bauernkaviar – Sellerie (der metaphorische Ver- gleich beruht auf der den beiden Produkten zugeschriebenen aphrodisierenden Wirkung), Beamtenforön/Beamtenforelle – Würstchen, Kanäuant’n Kanäuforön/Kanalforelle, Oisabochfuarön/Alserbachforelle – Ratte. In die Bahnen des Lustigen gerät auch ein tragisches Ereignis wie der Tod. Einige Wissenschaftler beziehen sich auf die große Zahl der Wörter in den sy- nonymischen Reihen „Tod“ und „sterben“, seine Präsenz in den Wienerliedern („Der Tod, das muss a Weaner sein“ (Liedtext nach Georg Kreisler)) und die Parallelen Wien – Tod (Vgl. Bezeichnungen von Alfred Polgar –„das fidele Grab an der Donau“ oder „Versuchsstation des Weltuntergang“ – von Karl Kraus26) und sprechen von der typischen Wiener Faszination über den Tod. Ich habe an Hand dialektaler Wörterbücher über 50 Wörter und Wendungen aus dem betreffenden Bereich gezählt, trotzdem kann ich diese Meinung nicht tei- len. Denn es ist eine allgemein-menschliche Art, die Angst vor dem Tode so- wohl hinter den Euphemismen wie auch Vulgarismen, die das Tragische dieses unvermeidlichen Prozesses relativieren, zu verstecken: sterben – hopsgehen, hamgehen, die Ecke machen, einen Abgang machen, sich den Oasch auskegeln, fareckn, einen Holzpyjama anziehen, in die Kiste/Grube hüpfen, die Erdäp- fel/das Gras von unten wachsen sehen, den Löffel abgeben, die Batsch’n stre- cken, ɚ Bretz´n mochn/reißen (von der Form einer Bretzel, die an gefaltete Hän- de des Verstorbenen erinnert), Brotrean – Krematorim, Klapperhans/Klapperl –  26 Vogl, Wortgefechte, 187. 184 Oksana Havryliv der Tod. Assoziationen mit dem Friedhof liegen auch in den bildhaften Bezeich- nungen der Zigaretten/Zigarren (Friedhofsspargel, Soagnog’l) und der typi- schen Begleiterscheinung des langen Rauchens – dem Raucherhusten (Friedhofsjodler). Der oben erwähnte Euphemismus einen Holzpyjama anziehen ist bekannt, die Redewendung einen Holzpyjama anziehen und eine Erdkur ma- chen, die auf einer realen Geschichte27 beruht, ist dagegen im engeren Kreis der Wiener Künstler verbreitet: Friedrich Torberg und André Heller haben eine Wette um Franz Grillparzers Begräbnisstätte geschlossen und gingen als erstes zum Hietzinger Friedhof; mit von der Partie war auch der nicht gerade nüchterne Helmut Qualtinger, der sich spaßhalber in ein offenes Grab legte und nicht mehr raus konnte. Auf die Frage des herbeigeeilten Friedhofsgärtners was er denn da mache, antwortete Qualtinger: Eine Erdkur. Die Erweiterung der Redewendung einen Holzpyjama anziehen durch Zusatz und eine Erdkur machen hat das Po- tenzial, sich vom okkasionellen Gebrauch in einer Gruppe zum allgemeinen phraseologischen Sprachgut zu entwickeln – der Weg, den viele Phraseologis- men durchgemacht haben. Bei einer Gruppe bildhafter Nominierungen haben wir es, ganz im Gegen- satz zu den euphemistischen, mit den dysphemistischen Bezeichnungen zu tun: Schasvagoder – Ventilator, Hurendiesel – billiges Parfüm, Brunzodrom – Pis- soir, Beutelsteuer – Alimenten. Zu den Dysphemismen zählen auch vulgäre Körperbezeichnungen (z.B. Be- zeichnungen der Geschlechtsorgane: Futraspel – Penis, Futwarz’n – Klitoris, Tutteln/Dutt’l – Busen, Kniasɫhußduttln – Hängebusen, Eierspeisduttl´n – fla- che, weiche Brüste, Göss’ndipp’ln/Gelsenstichbeulen, Müchwarz’ n/Milchwarzen, Zitzerln, G’schpaßlaberl – kleine Brüste, Moikerei – große Brüste), des Ge- schlechtsverkehrs (von den über 20 gezählten Lexemen führe ich einige an: braten, bixn, buserieren, pudern, schnacksen, schustern, stampern, titschkerln, wetzen, drauffahren, an Fohra machen), Bezeichnungen der Ausscheidungsvor- gänge (z.B. des Darmwinds je nach Beschaffenheit: Schas, Butterschas (leise aber gehaltvoll), Eierschas (sehr stinkig), Schleicher (lautlos)). Durch den bildhaften Vergleich mit einem Beruf, der weniger prestige ist, werden im Wienerischen auch bildhafte pejorative Berufsbezeichnungen gebil- det: Papp´nschlosser (Zahnarzt), Fleischhauer (Chirurg).

 27 Vogl, Wortgefechte, 187f. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 185  4. Widerspiegelung im Wienerischen Typisch Wiener Besonderheiten Im Wienerischen spiegeln sich auch Bereiche wider, die in anderen Dialekten nicht oder zumindest nicht durch solche lexikalische Vielfalt vertreten sind. Die Stadt Wien ist eine weltbekannte Musikstadt, deshalb wundert es nicht, dass die Wörter und Wendungen aus dem musikalischen Bereich auch im Wie- nerischen zahlreich vertreten sind: Jaummerkost’n, Klimperkost’n – verstimmtes (altes) Klavier, Tast’njauker, Klaviertippler, Klaviertiger – Klavierspieler, Kist’nschinder – schlechter Klavierspieler, Wimmerlkosten – Drehorgel, Winsl, Wins’nbischkot’n – Geige, Krawatt´ltenor (knedlerter) – schlechter Sänger (mit gicksender Stimme), Hadern oida – altes Musikstück, Kling’lflitzer – schlechter Musiker u.a. Die Bezeichnungen musikalischer Instrumente können im Wieneri- schen auch scherzhaft in übertragener Bedeutung verwendet werden: Klaviatur – künstliches Gebiss, Zahnreihe. Die Wienerinnen und Wiener sind Tierfreunde, wobei sich bei ihnen besonderer Sympathie Hunde und Pferde erfreuen. Das Wienerische bietet zahlreiche Wör- ter zur Bezeichnung eines Hundes je nach der Größe, dem Aussehen oder dem Benehmen des Tiers. Allein die Beilage im Wörterbuch von Walter Karl Da- niel28 zählt 25 Lexeme: Diwanwoizn, Sofarolln – (dickes) Sofa-Schoßhündchen, Gulasch – dicker Hund, Flohdackerl, Krepieral, Verreckal – kleiner, schwächli- cher Hund, Fludriwusch, Schipsel – winziges Hündchen, Kaibl (Kalb) – großer Hund, Staubwedl – Hund mit langem Fell, Zaußerl – zerzauster Hund; Wadlbei- ßer – bissiger Hund, Schleckse – Hund, der alle abschleckt. Ebenfalls gibt es Bezeichnungen für Hunde, die infolge der Kreuzung von Hunderassen entstan- den sind: Pinschpudeldackel – Kreuzung des Pinchers, Pudels und Dackels, Promenadenmischling, Straßenpotpourri). Schimpfwörter für die Hunde wären Hundsvieh, Hundsvieh mit Hax’n. Im Wienerischen gibt es auch spezifische Hundebefehle: Putzweg! – Hun- dezuruf; Gss, gss – Laut zum Anhetzen eines Hundes sowie Bezeichnungen für Hundegeruch (hundeln). Neben dem Ausdruck Gassi gehen wird für das Aus- führen eines Hundes auch äußerln/äußerln gehen gebraucht. Mit dem Euphemismus Hundstrümmerl werden Hundefekalien verschö- nert, die in Wien, trotz charmanter Aufforderungen auf den Plakaten Nimm ein Sackerl für mein Gackerl leider immer noch häufig sind.  28 Daniel, Das nicht immer so goldene Wienerherz, 116f. 186 Oksana Havryliv

Nicht weniger Wörter gibt es im Wienerischen zur Bezeichnung der Pferde (32 Lexeme)29. Darunter sind sowohl allgemeine Bezeichnungen (Pflasterhirsch, Gigerer, Wallach), als auch Bezeichnungen je nach der Größe, dem Alter und dem Temperament des Pferdes (Fliega – schnelles Pferd, Beißa – bissiges Pferd, Bulla – dickes Pferd, Hirschhalsiger – Pferd mit einem Hirsch- hals, Schwanenhalsiger – Pferd mit einem Hals wie beim Schwan, Schlöga – böses, bissiges, nervöses Pferd, Dummkolla – nervenkrankes Pferd, Sprinta – Rennpferd, Steha – ausdauerndes Pferd), seiner Farbe (Roppn – schwarzes Pferd), Bezeichnungen des alten und/oder kranken Pferdes bzw. des Pferdes mit bestimmten Behinderungen (Dampfiger – astmakrankes Pferd, Koppa, Kripp- verschmutzer – krankes Pferd, das nach Luft schnappt, Strohhalsiger – Pferd mit großem Bauch, Würschtl – Pferd zum Schlachten). Nicht weniger poetisch als Hundsrümmerl lautet euphemistische Bezeich- nung für Pferdeexkremente – Roßknödel: Wannst no amal in de Näh kummst, schiaß i dir mi an Roßknödl a Aug aus!30 Ein Wiener Eissalon, der durch seine ausgefallenen Eispezialitäten bekannt ist, hat sogar eine saisonale Eissorte Pfer- deroßknödel kreiert, die vom Aussehen her Konkurrenz der bekannten Wiener Eisspezialität – den Eismarillenknödeln – macht. Typisch Wiener gastronomische Institutionen spiegeln sich ebenfalls im Wortschatz des Wienerischen wider: Wiener Kaffeehaus — weltbekannte Wiener gastronomisch-gesellschaftliche Institution, ein Bestandteil der Wiener Tradition, die seit dem 10 November 2011 zum immateriellen kulturellen Erbe von UNESCO gehört. Wiener Kaffee- haus ist der Inbegriff von Wiener Gemütlichkeit, das ist ein Ort, wo mensch sich zu Hause fühlt, deshalb wird in Wien, wenn etwas nicht passt, gesagt: Dees is kaan Kaffeehaus für mi! Ober bedeutet im Wienerischen „(Zahl)kellner“, seine Anrede seitens Stammgäste erfolgt mit dem Vornamen: „Hier im Hawelka be- grüßt der Chef des Hauses seine Stammkunden noch mit Handschlag, herrscht der Ober, Herr Fritz, souverän wie ein Britischer Oberst, über sein Revier /…/“.31 Friedrich Torberg schreibt in seinem bekannten Werk «Die Tante Jole- sch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten»32, dass am Anfang der  29 Daniel, Das nicht immer so goldene Wienerherz, 118f. 30 Günther Fritsch, Erich Kein, Heiteres Bezirksgericht. weana schbrüch (Wien 1994) 37. 31 H.C. Artmann, Im Schatten der Burenwurst (Salzburg/Wien 2003) 13. 32 Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten (München 1975). Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 187  Existenz von Kaffehäusern die Getränke keine Namen hatten, sondern die Kell- ner den Besuchern Tabellen mit verschiedenen Schattierungen des Getränks vom Schwarzen zum Milchigen anboten. Insgesamt wurden in Wiener Kaffee- häusern über 50 Kaffeegetränke kreiert (mit oder ohne Milch bzw. Alkohol, mit Schalobers/Zucker oder ohne, geschichtet oder homogen). Diese Vielfalt zeigt sich in den vielen Namen: Meláusch/Melange, Kaisermelange, Einspänner, Mɚzagran/Massagran, Brauner (großer Brauner, kleiner Brauner, verlängerter Brauner), Schwarzer (großer Schwarzer, kleiner Schwarzer), Kaffee verkehrt, Kapuziner, Obermayer. Eine Reihe von Wörtern bezeichnet einen schlechten, schwachen Kaffee (G´schlader, Fensterschwitz, Lawutschibria, Ziguriwossa). Es gibt auch kosende Bezeichnung des Kaffees – Keffeedscherl. Das laufende Kaffeegetränk im Wiener Kaffeehausbetrieb heißt Lauf – mit diesem Begriff ist eine Anekdote verbunden: Vier Damen kommen in ein Kaffeehaus. Die eine be- stellt den „kleinen Braunen“, die andere – den „Melange“, die Dritte – den „Kapuziner“ und die Vierte – den „Kaffee verkehrt“. Der Ober notiert alles sorgfältig, kommt in die Küche und ruft „Vier Lauf!“ Würstelstände sind untrennbarer Bestandteil der wiener kulinarischen städti- schen Kultur. Die Kommunikation am Würstelstand erfolgt nicht nur auf Wiene- risch, sondern es existiert sogar der spezielle Jargon, den zu verstehen es einem Fremden (auch aus einem deutschsprachigen Land) schwer fällt. In der Literatur zum Thema findet sich oft dieselbe typische Bestellung am Würstelstand: Ⱥ Eitrige mit an Schoafn und an Bugl, und a Hüs’n dazua (Eitrige – Käsek- rainer, Schoafa – Senf, Bugl – ein Stück Brot, Hüs’n – Bierdose). Diese Jargon- terminologie kann sich auch je nach dem Wiener Bezirk unterscheiden. Die Wiener sind Fleischliebhaber (Fleischmader wie es auf Wienerisch heißt), des- halb wundert es nicht, dass es viele Bezeichnungen für verschiedene Fleischsor- ten/Teile gibt (ich habe über 20 gezählt – in erster Linie handelt es sich um Rind- und Kalbsfleisch). Es existiert auch eine bildhafte Bezeichnung des Flei- sches, das sich während des Zubereitens stark verkleinert – Häf’ndiab. Eine weitere typisch Wiener Institution sind die Heurigen. Das Wort Heuriger wird in zwei Bedeutungen verwendet: 1) Wein aus letzter Ernte und 2) Gaststät- te, in der der junge (heurige) Wein eingeschenkt wird. Grundlage für heutige Heuriger-Kultur hat Kaiser Josef der II geschaffen, indem er mit einem Dekret vom 17.8.1784 den Weinbauern erlaubt hat, ohne spezielle Lizenz den Wein aus ihren eigenen Weingärten und einfache selbst zubereitete Speisen zu verkaufen. 188 Oksana Havryliv

Wien ist die einzige Großstadt weltweit mit Weinanbau innerhalb der Stadtgrenzen, deshalb ist es natürlich, dass dieser Bereich sich im Wiener Dia- lekt widerspiegelt: von den Bezeichnungen des Weinbauern (Hauer), des Wein- Liebhabers bzw. –kenners (Weinbeißer), des Kranzes an den Heuriger-Toren (Buschen) und dem Eröffnen des Heurigen (ɚusstecken, der hat ausgesteckt), spezieller Gefäße für den jungen Wein (Bitsche), geschmacklicher Besonderhei- ten des Weines (darüber war bereits am Anfang des Beitrages die Rede) bis zur Bezeichnung des letzten Glases, das beim Heurigen am Ende des Abends ge- trunken wird (Drüberstrahrer, Abschieds/Fluchtachterl, Pfüat-di-Gott-Achterl). Der Buschen, der am Heurigen-Tor hängt, wird von einer Laterne beleuchtet, daher kommt auch die Bezeichnung Laterndler – j-d, der erst nach Hause ging, als die Laterne gelöscht und der Heurige geschlossen wurde. Laterndeln bedeu- tet entsprechend „lang beim Heurigen gewesen“. Natürlich existiert im Wieneri- schen eine lange synonymische Reihe zur Bezeichnung einer trinklustigen Per- son und des entsprechenden Zustands, aber das ist dann Thema des nächsten Abschnitts: Charaktereigenschaften, Benehmen, Aussehen und Alter des Menschen – das sind die Zielscheiben, auf die in jedem Dialekt eine Vielfalt von (pejorati- ven) Bezeichnungen gerichtet sind. Die Sprachwissenschaftler33 sind der Mei- nung, dass Erscheinungen/Realien/Benehmensarten, die für eine Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen bzw. ihre Problemzone sind, auf dem Niveau der Sprache mit langen synonymischen Reihen vertreten sind, weil „selbst geringfü- gige Unterschiede wichtig genommen und deshalb lexikalisiert werden“34. Oft erwähnte Beispiele ausgeprägter Lexikalisierung sind die verschiedenen Wörter für Schneearten in den Eskimo-Sprachen bzw. für verschiedene Arten von Ka- melen in den arabischen Sprachen. In der österreichischen Sprachvariante zeigt

 33 Reinhold Aman, Die klügsten Beschimpfungen findet man im Jiddischen. In: Psychologie heute 23, H. 11 (1996) 32 - 35, hier 35; Claudia Berger, Beschimpfte Geschlechter. Eine geschlechterlinguistische und malediktologische Betrachtung der Lexik und Pragmatik im europäischen Vergleich. Großbritanien – Italien – Österreich. Dissertation (Salzburg 2003) 161; Ingeborg Breiner, Die Frau im deutschen Lexikon. Eine sprachpragmatische Unter- suchung (Wien 1996) 55f; Michael Hausherr-Mälzer, Die Sprache des Patriarchats. Spra- che als Abbild und Werkzeug der Männergesellschaft (FaM/Berlin/Bern/Bruxelles/ NewYork/Oxford/Wien1990) 109. 34 Karsta Frank, Sprachgewalt: die sprachliche Reproduktion der Geschlechterhierarchie (Tübingen 1992) 139. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 189  sich die Lexikalisierung35 außer den angesprochenen Bezeichnungen für Wein- qualität oder. die Ohrfeige z.B. auch bei den Bezeichnungen für Bergformen (Pichl – Hügel, Abhang, Kofel, Kogel – Bergform, Gupf – Erhebung, Häufchen, Pofel – steiler, mit Gebüsch bewachsener Hang (vbg.) u.a.) oder für Regen und Folgen des im Gebirge häufigen Regenwetters (dächlo – das Geräusch der aufs Dach fallenden Regentropfen (vbg.); Wascher – Wolkenbruch, Gseich 2) starker Regen, pfnozgen – lautmalendes Geräusch beim Ausziehen des Fußes aus zähem Schlamm oder aus einem nassen Schuh bzw. beim Gehen in nassen Schuhen, suppetzen – in Stiefeln gehen, die mit Wasser gefüllt sind). Hinsichtlich des pejorativen Vokabulars, so erlaubt uns seine Analyse in jeder Sprache tiefe Einblicke in das Wertesystem, Normvortsellungen und „schwache Stellen“ in der jeweiligen Gesellschaft, denn beschimpft wird, was von den Erwartungen, von der Norm abweicht. Gerade auf der Ebene der pejora- tiven Lexik gibt es aber gleichzeitig Sphären, die in vielen Sprachen Impulse zur Bildung langer synonymischen Reihen geben. Deshalb kann ich den Autoren des „Wörterbuchs Österreichisch-Deutsch“36 nicht zustimmen, die, nach dem sie im Wienerischen viele Schimpfwörter zur Bezeichnung eines Dummkopfs, eines Säufers und einer widerlichen Frau gezählt haben, zur Schlussfolgerung kom- men, dies seien die Bereiche, welche Österreicherinnen und Österreicher am stärksten beschäftigen. Negative Eigenschaften wie Alkoholismus (im modernen Europa mehr oder weniger überall vertreten), Blödheit, Schmeichlerei, Feigheit, Faulheit, Gefräßigkeit oder Unsauberkeit (im direkten und übertragenen, morali- schen Sinnen), regen zur Bildung vieler Schimpfwörter zur Bezeichnung eines solchen Menschen an. Deshalb treffen wir in jeder Sprache und ganz besonders in Dialekten, dessen Funktionsbereiche alltäglich-private Sphäre ist, lange syno- nymische Reihen mit Bezeichnungen für Personen, die diese Eigenschaften be- sitzen. 39 Lexeme habe ich den Wörterbüchern entnommen, die einen Betrun- kenen bezeichnen. Aus räumlichen Gründen nenne ich nur einige: das Spektrum reicht von Bezeichnungen des Menschen im leichten Rausch (Auntritschter) zu den Bezeichnungen des stark Betrunkenen (Bledgsoffana) und des chronischen Alkoholikers (ɚ Lump, Bsuf), von Wörtern, die einen Kenner und Feinschme- cker starker Getränke (Süffler) oder den heimlichen Trinker (heimliche Schluck’n) meinen.

 35 Alle Beispiele und Definitionen aus: Wintersberger, Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch. 36 Wintersberger, Artmann, Wörterbuch Österreichisch – Deutsch, 5. 190 Oksana Havryliv

Eine Reihe von Zeitwörtern bezeichnet den Trinkvorgang (blo´sn, piperln, tschechern, sich andippeln, sich ɟintrankeln, sich anflasch’ln). Ebenfalls man- nigfaltig sind Adjektive und Partizipien: ich habe insgesamt 20 gezählt, wobei wiederum verschiedene Stufen des Betrunkenseins differenziert werden: vom leichten Zustand der Trunkenheit (angstochen, anblosn, veigerlblau) zum star- ken (fett, fett wie Emmentaler, im Öl, ang´flaschelt, blun´znfett, vollfett, schicker, rauschig) und schließlich das letzte Stadium, das mit Hilfe bildhafter Vergleiche wiedergegeben wird (ang’soff’n wia ra Badschwamm, ɚng’soff’n wiɚ ra Häusltschick). Weiter habe ich in Schimpfwörterbüchern des Wienerischen über 30 Be- zeichnungen für einen schmutzigen, ungepflegten Menschen gezählt. Dies zeugt aber, meines Erachtens, nicht davon, dass die Wienerinnen und Wiener schmut- zig und ungepflegt sind, sondern umgekehrt – dass die Hygiene eine wichtige Rolle spielt und das Abweichen von der Norm beschimpft wird. So beim öster- reichischen Schriftsteller Thomas Bernhard, der für seine kritischen Eskapaden in Form von „literarischem Schimpfen“37 berühmt ist: wir finden in seinen Tex- ten nur selten starke, obszöne Pejorativa, wobei viel geschimpft wird (im breiten Sinne des Begriffs „Schimpfen“, der auch monologische Formen des Nörgelns, des Kritisierens, allgemeine Äußerungen der Unzufriedenheit umfasst): Überhaupt, sagte Reger, sind die Wiener schmutzig, es gibt keine europäischen Großstädter, die schmutziger sind, wie es ja bekannt ist, daß die schmutzigsten europäischen Wohnungen die Wiener Wohnungen sind, die Wiener Wohnungen sind noch viel schmutziger als die Wiener Toiletten /…/. Tatsächlich sind die Wiener die schmutzigsten Leute in Europa und es ist wissenschaftlich festge- stellt, daß der Wiener nur einmal in der Woche ein Stück Seife verwendet, wie es ebenso wissenschaftlich festgestellt ist, daß er seine Unterhosen nur einmal wö- chentlich wechselt, wie er seine Hemden auch höchstens zweimal in der Woche wechselt und die meisten Wiener wechseln ihre Bettwäsche nur monatlich ein- mal, so Reger. Die Socken oder Strümpfe hat der Wiener im Durchschnitt gar zwölf Tage hintereinander an, sagte Reger. /…/ Und es ist natürlich konsequent,

 37 Ɍɢɦɨɮɿɣ Ƚɚɜɪɢɥɿɜ, Ʌɚɣɤɚ ɹɤ ɠɢɬɬɽɜɢɣ ɿ ɬɜɨɪɱɨ-ɮɿɥɨɫɨɮɫɶɤɢɣ ɿɦɩɟɪɚɬɢɜ Ɍɨɦɚɫɚ Ȼɟɪɧɝɚɪɞɚ. In: Ɉɤɫɚɧɚ Ƚɚɜɪɢɥɿɜ (Hg.), ȼɟɪɛɚɥɶɧɚ ɚɝɪɟɫɿɹ (Ʌɶɜɿɜɫɶɤɢɣ ɧɚɰɿɨɧɚɥɶɧɢɣ ɭɧɿɜɟɪɫɢɬɟɬ ɿɦɟɧɿ ȱɜɚɧɚ Ɏɪɚɧɤɚ, ɋɟɪɿɹ ɦɿɠɧɚɪɨɞɧɿ ɜɿɞɧɨɫɢɧɢ, Ʌɶɜɿɜ 2006) 68 – 79, hier 69. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 191  von dem äußeren Schmutz der Wiener, auf ihren inneren Schmutz zu schließen, so Reger /…/.38. Was die deutsche Sprache generell anbetrifft, dominieren in ihrem Schimpfvo- kabular Wörter und Wendungen aus dem fäkal-analen Bereich (Scheiße, Oasch/Arsch, Oaschloch/Arschloch, Leck mich (am Oasch), j-n verarschen, ich fühle mich beschissen usw.). Das gibt Reinhold Aman39 den Grund, die deutsche Sprache zur fäkalen Schimpfkultur („shit-kultur“) zu zählen. Wenn wir dabei noch in Betracht ziehen, dass die Deutschen weltweit als eine Nation gelten, bei der Sauberkeit und Ordnung großgeschrieben sind, haben wir die Erklärung da- für. Auch das Schimpfverhalten der Österreicher ist stark fäkal-anal geprägt. Eine wichtige Rolle bei der Bildung zahlreicher synonymischer Reihen spielen die gesellschaftlichen Stereotype. Dass es z.B. nicht nur im Wieneri- schen, sondern auch in anderen Sprachen und Dialekten viele Pejorativa zur Be- zeichnung einer hässlichen Frau gibt, bedeutet nicht, dass in dem jeweiligen Land die Frauen ausgeprägt unansehnlich sind, sondern es hängt damit zusam- men, dass dem Aussehen einer Frau eine wichtigere Rolle als dem des Mannes zukommt. In den Wörterbüchern des Wienerischen habe ich 30 universale pejo- rative Bezeichnungen einer hässlichen Frau (Gramml, schiache Fotz’n, Eun/Eule, Morastl, (schiache) Ogrossl, schiache Bazün, Kraxen, Henn zernepfte, Hex schiache, Gred’l grauperte, Hoizkuckkuck, räudiche Katz, Raß- kach’l, Umurk’n, Ziag’l schiacha u.a.) und nur eine – zur Bezeichnung eines hässlichen Mannes gefunden – schiachɚ Uhu, andere beziehen sich eher auf die konkreten Mängel des Aussehens (kleiner, dicker Mann: Knurz, Kurutz, Kritsch, Bierfaß´l, Stöps´l, Spuln, Wast`l, Wamstl u.a.). Wenn es aber zur Bezeichnung einzelner Eigenschaften/Erscheinungen in einer Sprache wesentlich mehr Wörter, als in den anderen gibt, können wir auf dieser Grundlage die Hypothese über für diese Gesellschaft charakteristischen Eigenschaften bzw. Probleme formulieren. So existiert im Deutschen eine syno- nymische Reihe mit bildhaften Bezeichnungen eines pedantischen Menschen (Haarspalter, Mäusemelker, Nudeldrücker, Krümelkacker; im Wienerischen sind es solche bildhaften Wörter wie I-Tüpferl-Reiter, Griaßkörnd’launnogler, Pitzler), im Ukrainischen dagegen gibt außer dem neutralen Wort „Pedant“ kei- ne anderen Wörter. Diese sprachliche Tatsache steht mit der stereotypen Vor-  38 Thomas Bernhard, Alte Meister In: Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.) Bd 8 (FaM 2008) 102 – 105. 39 Aman, Die klügsten Beschimpfungen findet man im Jiddischen. 192 Oksana Havryliv stellung von Menschen aus den deutschsprachigen Ländern als besonders kor- rekt, genau, pedantisch im Einklang. Gleichzeitig ist im Ukrainischen die syno- nymische Reihe zur Bezeichnung einer korrupten Person länger als im Deut- schen (ɯɚɛɚɪɧɢɤ, ɯɚɩɤɨ, ɯɚɩɭɝɚ, ɞɟɪɿɣ, ɡɞɢɪɧɢɤ), was darauf hinweist, dass die Korruption in der Ukraine ein ernsthafteres Problem als in den deutschsprachi- gen Ländern darstellt und ihr mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

5. Leise rieselt der Schmäh… Wenn wir vom Wienerischen sprechen, genügt es nicht, seine phonetischen, le- xikalischen, syntaktischen Unterschiede im Vergleich zum Hochdeutschen zu betonen ohne dabei den Wiener Schmäh als spezifischen Kommunikationsstil zu erwähnen. Wiener Schmäh hat nichts mit dem „schmähen“ (j-n verachten, beleidigen) zu tun, sondern kommt vom „schemá“ – auf Jiddisch „Erzählung“. „Schmäh“ wird in vielen Bedeutungen gebraucht: Improvisation/lustiger Trick; humoristische Lügengeschichte; Angeberei/Lüge; typisch Wiener Witz; humo- ristische nicht wörtlich zu nehmende Konversation; spezifischer Wiener Humor. Schmäh ist eine positive Philosophie und daher notwendiger Bestandteil des österreichischen Lebens40. Dies alles sind einzelne enge Bedeutungen, die breite Bedeutung von Wie- ner Schmäh – ist „/…/ eine den Bewohnern Wiens zugesprochene Mentalität, die sich durch Humor oder den damit verbundenen Gemütszustand auszeichnet: oft etwas melancholisch, sarkastisch oder morbid, humoristisch-verharmlosend, mitunter leicht arglistig und boshaft, oft grantelnd (misanthropisch), meist freundlich und durch ein Lächeln begleitet“.41 Als Träger dieses Kommunikationsstils, in dem Charme und ein gewisser Grad der Unhöflichkeit verbunden sind, treten z.B. die Kellner in Wiener Kaffeehäu- sern auf; auch der typische Wiener erscheint in Literaturwerken und Kabarett- stücken (die die Übertreibung als stilistisches Mittel einsetzen) unfreundlich, mürrisch, ständig unzufrieden. Die synonymische Reihe zur Bezeichnung eines mürrischen, unzufriedenen Menschen ist im Wienerischen entsprechend lang – ich habe 26 Lexeme gezählt: Meckara, Megerzer, Miesmocher, Motschkara, Grantscherm, Kepp’loasch, Raunzer, Z’widerwurzn u.a. Entsprechend lang ist auch die synonymische Reihe „jammern, unzufrieden sein“ – 10 Lexeme.

 40 Fritz Muliar, zit. nach Walter Karl Daniel, Das nicht immer so goldene Wienerherz, 4. 41 URL to article: http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_ Schmäh. Wien und die Wiener_innen im Spiegelbild des Wienerischen 193  Österreichische Intellektuelle weisen ebenfalls auf diese Charaktereigenschaft/ Benehmensart hin42 : Die Deutschen wollen die Welt verbessern. Die Österreicher begnügen sich da- mit, sie mies zu finden (Ernst Stankovski) Der Wiener: ein mit sich selbst unglücklicher Mensch, der den Wiener haßt, aber ohne den Wiener nicht leben kann (Hermann Bahr) Na, weil hier in Wien die bösartigsten Leut’ sind, die auf der Welt existieren, nicht? (Thomas Bernhard). Im breiten Sinne stellt der Wiener Schmäh somit einen spezifischen Kommuni- kationsstil dar, für den Doppelsinnigkeit, indirekte Formulierungen, versteckte Anspielungen, (Selbst)ironie, verschwommene Grenze zwischen Ernst und Witz kennzeichnend sind. Je nach Umständen kann z.B. die Wiener Redensart mir san mir entweder ernst oder als Selbstironie verwendet werden: „Im allgemeinen neigt der Wiener zur Bescheidenheit und Zurückhaltung, aber unter Umständen kann doch auch ein gewisses Selbstbewußtsein zutage treten, ein gewisses Sich – auf-sich-selbst-Besinnen das, mit der meistens selbstironisch gebrauchter Re- densart Mir san mir ausgedrückt wird: so sagen die Wiener, wenn sie sich ihrer positiven Eigenschaften bewußt sind und den anderen deutlich machen wollen, dass sie seinen Wert kennen und dass man mit ihnen rechnen muss.“43 Zwar hängt die Etymologie des Wiener Schmähs nicht mit „schmähen“ zu- sammen, doch die Doppelsinnigkeit dieses Kommunikationsstils bietet die Grundlage für die laut von mir durchgeführten Umfragen häufige Verwendung aggressiver Sprechakte im Freundeskreis zur Äußerung positiver, freundschaft- licher Gefühle (als Witz, Anerkennung oder Streben nach Originalität). Die unkomplizierte Lebenseinstellung der Wienerinnen und Wiener kommt in idiomatischen Redewendungen zum Vorschein, welche (wie in jeder Sprache) die im Laufe von Jahrhunderten gewonnene Lebensweisheit spiegeln. So weist die Redewendung A jed’s Mandl hat sei’ Brandl darauf hin, dass jeder Mensch seine Besonderheiten und Eigenarten hat, die es zu tolerieren gilt. Die Leichtig- keit der Wahrnehmung prägt auch die gebräuchliche Redewendung Da kamma nix machen, die ruhige Hinnahme einer Situation, die wir nicht verändern kön- nen, bedeutet. Ähnliche Lebensposition steht auch hinter den Wendungen

 42 alle Zitate aus: Georg Pichler, Schimpfen in Österreich. Saftige Gemeinheiten von Grill- parzer bis Jelinek (Wien 2004) 16, 21, 25. 43 Mayr, Das Wienerische, 231. 194 Oksana Havryliv

G’schegn is g’schegn und Nutzts nix, so schadts nix. Einige Wendungen existie- ren in zwei Varianten: so die Wendung, die sich auf finanzielle Möglichkeiten bezieht: Hätt’n ma’s net, so tät’n ma’s net und Hätt’n ma’s, so tät’n ma’s. Meinen Beitrag möchte ich mit einer etwas widersprüchlich klingenden und heutzutage nicht so häufig verwendeten Wiener Redensart beenden, die be- nutzt wird, „um das Ende einer Unterhaltung oder überhaupt eines Beisammen- seins anzukündigen“44: Sama lusti, geh ma schlaf`n!

 44 Mayr, Das Wienerische, 263. Autorenliste

Günter Bischof hat in Innsbruck, Wien und New Orleans Geschichte und Eng- lisch/Amerikanistik studiert und an der Harvard Universität in amerikanischer Geschichte promoviert. Er ist Marshall Plan Professor of History und Direktor des Center Austria an der Universität von New Orleans, wo er seit 25 Jahren un- terrichtet. Er war Gastprofessor an den Universitäten München, Innsbruck, Salz- burg, Wien und den Wirtschaftsuniversität in Wien und Prag.

Ingrid Blasge; Studium der Philosophie, Germanistik, Sozialanthropologie und Geschichte in Wien und Lausanne; Projektentwicklung und -leitung im interkul- turellen Bildungs-, Kultur- und Sozialbereich bei Station Wien; Trainerin für Deutsch als Zweitsprache; redaktionelle Mitarbeit bei polylog (Okto-TV) zu Migrationsthemen; seit 2011 ÖAD-Lektorin an der Comenius-Universität in Bratislava.

Oksana Havryliv, 1988 - 1993 = Studium der Germanistik an der Lviver Nati- onalen Ivan-Franko-Universität. 2001 Promotion an derselben Universität über die pejorative Lexik am Beispiel deutschsprachiger moderner Literaturen. Der- zeit Leiterin des Forschungsprojektes "Verbale Aggression und soziale Variab- len Geschlecht - Alster - sozialer Status" am Institut für Germanistik der Univer- sität Wien (Elise-Richter Programm, FWF).

Daniel Holzer arbeitet am Landesverwaltungsgericht Tirol. Zuvor leitete er die Abteilung Wirtschaft und Finanz an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Tirol. Er studierte Rechtswissenschaften an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Öffentlichen Rechts, der Staats- und Verwaltungslehre.

Markus Höcher ist Universitätsassistent am Institut für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht der Wirtschaftsuniversität Wien mit For- schungsschwerpunkt im Bereich der Korruptionsprävention und -bekämpfung.

196 Autorenliste

Othmar Höll ist habilitierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Internati- onale Beziehungen und Konfliktforschung. Von 1979 bis 2012 arbeitete er, mit einigen Unterbrechungen durch Gastprofessuren im In- und Ausland, als For- scher am Österreichischen Institut für Internationale Politik-oiip, das er von 1996-2012 bis zur Pensionierung auch als dessen Direktor leitete.

Manfred Kohler arbeitet im diplomatischen Dienst des österreichischen Au- ßenministeriums. Er studierte Politikwissenschaften und Translationswissen- schaften an der Universität Innsbruck und hat unlängst an der University of Kent unterrichtet.

Josef Nussbaumer, A.Univ. Prof., lehrt „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ an der Universität Innsbruck (SoWi-Fakultät). Diverse Publikationen, zuletzt er- schienen: „Die Graphen von Tirol“ (gemeinsam mit Stefan Neuner) und „Unser kleines Dorf: Eine Welt mit 100 Menschen“ (gemeinsam mit Andreas Exenber- ger und Stefan Neuner).

Matthias Reiter-Pázmándy. Studium der Soziologie an der Universität Wien und der Université catholique de Louvain. Arbeitete in der Markt- und Mei- nungsforschung, engagiert sich zum Thema Anti-Korruption und ist aktuell im Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften tätig.

Jun Saito ist Doktorand an der Universität Wien (Doktoratsstudium der Philo- sophie, Dissertationsgebiet: Politikwissenschaft). Forschungsschwerpunkte sind die österreichische Sicherheitspolitik, die europäische Security Governance und die subregionale Kooperation in Mittel- und Südosteuropa. Als externer Lehrbe- auftragter hat er in mehreren Semestern im Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien unterrichtet.

Philipp Strobl ist Lektor des Österreichischen Austauschdienstes an der Wirt- schaftsuniversität in Bratislava. Er studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck und an der University of New Orleans und ist Au- tor mehrerer Bücher und Aufsätze zum Thema Wirtschaftsgeschichte, Stadtge- schichte, Migrationsgeschichte und zur Geschichte der Globalisierung.

Aus unserem Verlagsprogramm:

Neli Hristova Peycheva Akzeptanz englischen Wortgutes in Lifestyle-Magazinen Eine Untersuchung der Motivierbarkeit der Übernahme von Anglizismen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wertewandels – am Beispiel des österreichischen „Wiener“ und des bulgarischen „Egoist“ Hamburg 2014 / 368 Seiten / ISBN 978-3-8300-7925-5

Peter Speckamp Soziale Grundrechte im Rechtsvergleich zwischen Deutschland und Österreich Hamburg 2013 / 248 Seiten / ISBN 978-3-8300-7018-4

Dennis Geissler Aktuelle Rechtsfragen zu Parteispenden in Österreich – ein systematischer Vergleich mit Deutschland

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Armin Brück Die Konjunktur- und Krisentheorien der Österreichischen Nationalökonomie und der jüngeren Historischen Schule Vor dem Hintergrund der deutschen Wirtschaftslage zwischen 1918 und 1933 Hamburg 2009 / 278 Seiten / ISBN 978-3-8300-4557-1

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Dalibor Zeman Überlegungen zur deutschen Sprache in Österreich Linguistische, sprachpolitische und soziolinguistische Aspekte der österreichischen Varietät Hamburg 2009 / 270 Seiten / ISBN 978-3-8300-4173-3

Rudolf Logothetti Auf dem Weg zu einer Europäischen Wehrrechtsordnung Betrachtungen anhand eines Vergleichs der Wehrrechtssysteme der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland Hamburg 2005 / 252 Seiten / ISBN 978-3-8300-1611-3

Thomas Schröcksnadl Die Entstehung des Österreichischen Kartellgesetzes von 1972 Hamburg 1994 / 240 Seiten / ISBN 978-3-86064-158-3