Wissenschaft O T O F R E T N I

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G N U L M M A S Historische Ansicht von und Cölln (Stich um 1500): Man war sich in wechselseitigem Misstrauen zugetan

STADTGESCHICHTE vergessene Hälfte Einst bildete die Siedlung Cölln den Kern der Spreemetropole. Doch die Ortschaft verschwand spurlos im Stadtbild. Nun rekonstruieren Archäologen die frühe Geschichte des Hüttendorfs anhand spektakulärer Funde.

ine fast menschenleere Gegend, ein Tatsächlich waren es sogar zwei Städte: Oder die Sache mit der Pest: 1576 brach sandiger Flecken Erde, drum herum Berlin hieß die eine, Cölln die andere; ge - die Seuche in Cölln aus. Berlin versuchte EMorast und undurchdringlicher trennt wurden sie durch die Spree, ver - sich zu schützen und sperrte den Müh - Wald sowie ein Markgraf, der sich mit ei - bunden waren sie durch eine Brücke, lendamm – Zutritt für Cöllner verboten. nem Slawenfürsten um diese wenig reiz - über die bis heute der Mühlendamm Doch dann bemerkte eine Berlinerin auf volle Landschaft keilt – es gibt wahrlich führt. der anderen Seite des Zauns eine tote einladendere Orte. Das Verhältnis beider Ortschaften war Cöllnerin. Flugs kletterte sie über die Ab - Verkehrswege waren kaum vorhanden, durchaus angespannt. Man setzte auf Ei - sperrung, um die Jacke der Verstorbenen aber auch das schreckte offenbar jene Un - genständigkeit, hatte jeweils ein eigenes zu rauben – und das Unheil nahm auch entwegten nicht, die sich vor mehr als Rathaus und eigene Bürgermeister – und in Berlin seinen Lauf. Fast 4000 Menschen 800 Jahren auf dem Gebiet zwischen dem war sich in wechselseitigem Misstrauen starben damals in beiden Städten an der Teltow und Barnim niederließen. zugetan. Seuche. Es wirkt „kaum glaublich, dass dieser Im Jahr 1378 legte ein Brand große Tei - Das Ende der Geschichte ist wohlbe - fast abenteuerlich anmutende Plan gelin - le Cöllns in Schutt und Asche; die Berli - kannt: Berlin an der Spree erblühte zur gen konnte“, resümierte einst der Histo - ner aber versagten hochmütig ihre Hilfe. Weltstadt; das einst stolze Cölln versank riker Wolfgang Fritze, „die Gründung ei - Das hielt sie freilich nicht davon ab, die in der Vergessenheit. ner Stadt in einem heftig umkämpften, Cöllner anzubetteln, als Berlin zwei Jahre Die frühe Geschichte beider Städte gilt kaum besiedelten Grenzgebiet.“ später seinerseits in Flammen aufging. Historikern als schwarzes Loch. Der über -

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N E H C O J Metropole Berlin: „Hier sieht es heutzutage aus, als hätte es Cölln nie gegeben“ wiegende Teil der Stadturkunden und Melisch, die im Bezirk Prenzlauer Berg Für die Archäologen erweist sich als Dokumente wurde während der Stadt - lebt, hat schon in Pompeji gegraben, in Glücksfall, dass die Stadtoberen in DDR- brände von 1378 und 1380 vernichtet. Ge - Rom und auch in Griechenland. Nun aber Zeiten an dieser Stelle einen Parkplatz sicherte Erkenntnisse über den Beginn fiel ihr dieses Großprojekt praktisch vor anlegen ließen: Unter der Betondecke der verwegenen Kolonie an der Spree la - der eigenen Haustür zu – auf jenem Platz, wurden die menschlichen Überreste und gen deshalb bisher kaum vor. auf dem sich für Hunderte Jahre die Cöll - historischen Fundamente im Boden of - Spektakuläre archäologische Funde im ner zum Kirchenbesuch trafen oder auf fenbar hervorragend bewahrt. Die Ske - alten Zentrum der Hauptstadt könnten dem Fischmarkt einkauften. lette einiger Frauen sind so gut erhalten, das nun ändern. Wahrscheinlich, so zeigt dass Melisch und ihr Team in ihnen Föten sich jetzt, ist Cölln die ältere der beiden entdeckten. Schwestersiedlungen. Und mehr noch: „Diese Personen verkörpern die Ge - Die Keimzelle der späteren Metropole schichte der Stadt Cölln“, sagt Melisch. existierte vermutlich schon mehr als ein In den Katakomben der Parochialkirche halbes Jahrhundert früher als bislang an - hat sie die sterblichen Überreste der Cöll - genommen. ner gelagert – sorgfältig katalogisiert, Zentrum von Cölln war der südlich des nummeriert und verpackt in Kartons. heutigen Schlossplatzes liegende Petri - Nun können die forensischen und bio - platz. Hier fanden sich Kirche, Friedhof, logischen Untersuchungen beginnen. Fischmarkt und Rathaus. Wenn sich aus den Gebeinen zum Bei - An dieser Stelle stießen die Ausgräber spiel brauchbares DNA-Material gewin - um die Archäologin Claudia Melisch in nen lässt, werden die Experten eingren - gut drei Meter Tiefe auf alte Fundamente zen können, ob die ersten Cöllner aus der Petrikirche, Überreste des Cöllni - West- oder Osteuropa einwanderten.

schen Rathauses und einer alten Latein - L Lange wurde vermutet, dass die slawi - E G E schule, die 1730 abgebrannt war. I schen Sprewanen erste Runddörfer auf P S

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Vor allem aber bargen die Forscher im E dem Platz der späteren Großstadt anleg - D

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Erdreich beinahe 4000 Skelette – die Ge - E ten. Nur 16 Kilometer südöstlich hatte die - K L A

beine der ersten Spreesiedler. H ser Volksstamm recht erfolgreich den Ort C I M

Zudem förderten die Grabungen rund Copnic samt Burgfeste errichtet – später T R E

220 000 archäologische Objekte aus dem B ging daraus das heutige Köpenick hervor. R O

Erdreich hervor: Tierknochen, Münzen, N Doch auf dem historischen Grund von Schmuck, Vasen, Geschirr und eine Maul - Archäologin Melisch Berlin/Cölln sind Spuren solcher Sied - trommel aus alter Zeit. Großprojekt vor der Haustür lungen bislang nicht auszumachen. Als

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BERLIN Kartenausschnitt of ptbahnh Hau

Spree Alexander- S platz p a n d a u e Kanzler- r S t Alt-Berlin amt r. Reichs- Schloss- tag Nikolai- S platz kirche tra B m la re m ue i a r Str. te d S n t le r. h Tiergarten ü Petri- M platz l Cölln ana k 2 ee 1 r 0

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E L G O O G Satellitenbild von Berlin mit den beiden alten Siedlungskernen: Die eine erblühte zur Weltstadt, die andere versank in Vergessenheit

Hinweis auf slawischen Einfluss wurden lage für diese Zeitrechnung ist eine Ur - ihn nicht erkennen!“, sagt Melisch. Denn aber die Namen der Städte gewertet. kunde aus dem Jahr 1237, auf der erstmals so gut die von den Archäologen gebor - Demnach entwickelte sich Berlin aus dem die Ortschaft Cölln erwähnt wird. genen Gebeine auch erhalten sind, so Knurrlaut br’lo, dem urslawischen Wort Einer der neueren Funde deutet jedoch fehlt doch jeder Hinweis auf die Namen für Sumpf und Morast. Der Name Cölln darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt be - der Bestatteten. ging dieser Theorie zufolge auf den sla - reits mindestens zwei Generationen von Dafür aber lässt sich jetzt an den Ske - wischen Begriff Kol’no („Ort mit Pfahl - Cöllnern unter der Erde waren: Für eine letten vom Petriplatz exemplarisch das werk“) zurück. im Boden geborgene Holzbohle errech - Befinden einer mittelalterlichen Popula - Inzwischen geht die Forschung aller - neten die Experten ein Fälldatum um das tion nachzeichnen. Etliche Krankheiten dings davon aus, dass deutsche Kaufleute Jahr 1170. der Cöllner sind an den Gebeinen ebenso aus dem Westen beide Städte gründeten; Namentlich werden die Ur-Cöllner frei - abzulesen wie das Niveau der medizini - womöglich benannten sentimentale Zu - lich schwerlich zu identifizieren sein. So schen Versorgung. Auch nach krisenbe - zügler aus Köln am Rhein den Spreeort wird ein gewisser Symeon, Pfarrer von dingten Veränderungen im Lebensrhyth - nach ihrer alten Heimatstadt. mus der Ur-Berliner wollen die Forscher Noch immer sind die Historiker ver - fahnden. wirrt über das enge Nebeneinander der Vermutlich leben Zwar wurden die meisten Erwachsenen Städte Berlin und Cölln. Zwar ist den im heutigen Berlin noch kaum älter als 40 Jahre. Doch deuten Wissenschaftlern das mittelalterliche Phä - Stichproben darauf hin, dass sich die Cöll - nomen der Doppelstadt bekannt: Auch immer die Nachfahren ner gerade in der Zeit der Stadtgründung in Brandenburg oder Frankfurt an der guter Gesundheit erfreuten. „Sie waren Oder durchschnitt ein Fluss die Stadt geo - der ersten Spreepionie re. groß und besaßen allesamt strahlend wei - grafisch in zwei Hälften. Doch warum ße Zähne“, berichtet Melisch. Erst ab dem zwei unabhängige und gleichberechtigte Cölln, der in dem frühen Schriftdoku - 15. Jahrhundert setzte Karies ein. Bürgerschaften in unmittelbarer Nach - ment auftritt, vorerst der erste leibhaftige Das Zahnleiden gehörte aber noch zu barschaft koexistierten, darauf können Cöllner bleiben. Das Papier nennt ihn als den geringeren Sorgen. Vermutlich plag - sich auch die Experten bislang keinen Zeugen eines Streits um den Kirchen - ten die Bürger der Spreesiedlung zwi - Reim machen. zehnt zwischen dem Markgrafen und schenzeitlich ernste Hungerkrisen. In ei - Historiker Fritze spekulierte, dass dem Bischof von Brandenburg. nem der Gräber entdeckten die Archäo - „zwei miteinander konkurrierende, viel - Sieben Jahre später, 1244, taucht der - logen das Skelett eines etwa zehnjährigen leicht auch aus verschiedenen Gebieten selbe Symeon in einem Schriftstück als Kindes, das zwischen 1407 und 1431 ge - Altdeutschlands kommende Kaufmanns - Propst von Berlin auf. Ob der Urberliner lebt hat und auf gerade mal 1,14 Meter gruppen“ auf den gegenüberliegenden ein machtlüsterner Kirchenfürst in einer herangewachsen war. Die Knochenana - Spreeufern ein neues Zuhause fanden. aufstrebenden Metropole war oder der lyse im Labor ergab Zeichen schwerer Auch wann die ersten Siedler eintrafen tröstende Gemeindevater einer unter Unterernährung. und ob sie ihr Lager auf Cöllner oder auf dem Überlebenskampf ächzenden Sied - Ins Bild passt, dass die Ausgräber Reste Berliner Grund aufschlugen, blieb bislang lergemeinschaft, darüber weiß man von Kiefernsamen und Roggenspelzen im im Dunkeln. Zwar feiert Berlin in diesem nichts. Boden fanden – für die Experten ein Hin - Jahr sein 775-jähriges Bestehen – doch „Nun kann es durchaus sein, dass wir weis darauf, dass die Kohldampf schieben - auf äußerst dünner Faktenbasis. Grund - Symeon gefunden haben – nur dass wir den Cöllner mitten im Zentrum der Stadt

114 # $" 13/2012 durch bescheidenen Garten- oder Acker - Vieles, was die Archäologen in den Ohnehin bleibt vorerst geheimnisvoll, bau ihre Essensrationen aufbesserten. Gruften entdeckten, ist rätselhaft. Warum nach welchen Regeln die Cöllner Gruften Keinerlei Beleg fanden die Forscher da - beispielsweise legten die frühen Cöllner mit mehreren Toten belegt sind. Einer gegen für die sich hartnäckig haltende ihre Verstorbenen mit weit geöffnetem etwa 50- bis 60-jährigen Frau wurde bei Legende, die frühen Cöllner hätten Mund ins Grab? Sollte auf diese Weise ihrer Beisetzung um das Jahr 1200 bei - hauptsächlich vom Fischfang gelebt: „Wir ihre Seele aus dem leblosen Körper ent - spielsweise ein Neugeborenes mit ins haben nicht einen einzigen Angelhaken weichen können? Grab gelegt. gefunden“, berichtet Melisch. Neugier wecken auch jene beiden Heute sind alle Spuren Cöllns im Stadt - Tatsächlich waren die Gründer Cöllns Männer, die zusammen bestattet wurden bild verschwunden. Bis zum Zweiten und auch Berlins in der Mehrzahl wohl und die am Hals jeweils einen Ledersack Weltkrieg wurde die Gegend noch von Kaufleute. Erfolgreichstes Exportgut war mit einem Seeigel darin trugen. Womög - Fußgängern bevölkert. Danach blieb neben Roggen das im Umland reichlich lich waren die Begrabenen Schwurbrü - kaum ein Stein auf dem anderen. vorhandene Holz. der – eine enge Männerbeziehung, die Längst liegt der Petriplatz im toten Der Aufschwung beider Städte lässt von der Kirche des Mittelalters aner - Winkel der Hauptstadt. Berlins vergesse - sich am ehesten an den Kirchen ablesen. kannt wurde. ne Hälfte ist inzwischen eine ungemütli - Cölln etwa leistete sich ab 1379 che Ecke, durchschnitten von den Umbau der Petrikirche, der der achtspurigen Trasse, die in einem Backsteinbau von und Potsdamer überaus stattlichem Ausmaß Platz miteinander verbindet. mündete. Umstellt wird der historische Die gotische Kirche muss in Flecken von schäbigen Neubau - der überschaubaren Ortschaft ten. Dem Besucher scheint es als alles überragender Dom kaum glaubhaft, dass dieses weithin sichtbar gewesen sein; Areal im Mittelalter die Keim - der mit Schieferschindeln ge - zelle der Metropole bildete. Me - deckte Bau war 64 Meter lang lisch: „Auf der Fischerinsel sieht und 17 Meter breit. Melisch ver - es heutzutage aus, als hätte es O R A C

mutet Methode hinter der Gi - Cölln nie gegeben.“ /

S gantomanie: „Die Einwohner H Alt-Berlin war zwar etwa U M

wollten damit vermutlich aus - S doppelt so groß wie die Nach - A E drücken: ,Hey, wir sind eine R barin, aber nicht unbedingt dop - D N prosperierende Stadt.‘“ A pelt so mächtig; auf der kleinen Völlig unklar ist, wer zu die - Spreeinsel Cölln residierte vor ser Zeit die bestimmenden Fi - allem die wohlhabende Elite. guren in der Gemeinde waren, „Gut möglich, dass die Cöllner wer Geld, Macht und Einfluss froh waren, unter ihresgleichen besaß. „Man muss sich bewusst zu sein“, sagt Melisch. machen, dass sich unter den von Im Mittelalter wird die ge - uns geborgenen Skeletten die - schützte Insellage zwischen jenigen vieler ehrenwerter und Spree und Spreekanal deutliche verdienstvoller Cöllner Bürger Vorteile geboten haben, zumal befinden“, sagt Melisch. die Cöllner zunächst auch über Schriftlich ist deren Leben je - mehr fruchtbare Bodenfläche doch äußerst schlecht doku - verfügten als die Nachbarn aus mentiert. Erst ab 1594 liegen Berlin. Später jedoch hemmten überhaupt dürre Daten über die die Fließgewässer offenbar die Petrigemeinde vor. Zusammen - Ausbreitung des Ortes. Wäh - getragen wurden sie aus alten rend Berlin wachsen konnte, Kirchenbüchern von Johann Pe - verharrte Cölln in der mittelal - ter Süßmilch, Probst der Petri - terlichen Dimension. kirche ab 1742, der heute als Erst 1662 kam ein schmaler Erfinder der deutschen Bevöl - Streifen hinzu: Neu-Cölln am kerungsstatistik gilt. Wasser, das mit dem heutigen Doch vermutlich leben im Problembezirk lediglich seinen heutigen Berlin noch immer Namen teilt. Nachfahren der ersten Spreepio - 1709 vereinte Friedrich I. N I niere; um das nachzuweisen, L schließlich, was längst zusam - R E B

müssten sie freilich Speichelpro - T mengehörte: Aus Cölln, dem in - M A ben abgeben, die dann mit dem L zwischen weit größeren Berlin A M DNA-Material der Skelettfunde K und drei weiteren Städten wur - N E D abgeglichen werden könnten. S de die Königliche Residenzstadt E D N

Einstweilen tragen die am Pe - A Berlin. L

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triplatz geborgenen Individuen H Der Name Cölln blieb noch C S I

Nummern. Fund 343 etwa hat L bis 1920 als Bezeichnung für das E M

den Untersuchungen zufolge A Stadtviertel erhalten. Ab dann I R A

zwischen 1163 und 1218 gelebt M bekam die historische Gegend

A I und war einer der Ersten, die D ganz offiziell einen neuen Na - U A L auf dem Friedhof der Petrikir - C men: Berlin-. che begraben wurden. Ausgräber am Petriplatz, Funde: Gebeine der ersten Siedler F#! T%$&

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