ANLIEGEN NATUR Heft 1 2007 31. Jahrgang

Zeitschrift für Naturschutz,

Pflege der Kulturlandschaft Schwerpunkte: und Nachhaltige Entwicklung Agrikultur und Kulturlandschaft/ Almwirtschaft

Agrikultur und Kulturlandschaft Kulturlandschaft und knappe Kassen / Biodiversität im Ländlichen Raum / Plädoyer für einen agrikulturellen Naturschutz / Landbau als Kulturkritik

Almwirtschaft und „Höhenkulturlandschaft“ Almzukunft und Almförderung alpenweit / Almwirtschaft in Oberbayern / Der Naturschutzplan auf der Alm (im Land Salzburg)

Risiken des Klimawandels Naturschutzgebiete im Klimawandel

Kurzbeiträge „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert / Thesen zur Kulturlandschaft / Umfrageergebnisse zur Naturschutzwacht

Rubriken /ANL - Nachrichten Meinungen und Stellungnahmen / Seminarergebnisse / ANL-intern / Personalien / Buchbesprechungen / Publikationen der ANL

vormals Berichte der ANL ANLIEGEN NATUR Zeitschrift für Naturschutz, Pflege der Kulturlandschaft und Nachhaltige Entwicklung

Heft 31/1 (2007) ISSN 1864-0729 ISBN 3-931175-80-4

Herausgeber: Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) Inhalt · 31. Jahrgang/2007 · Heft 1

Aufsätze/Original-Beiträge · Original Papers

Agrikultur und Kulturlandschaft

Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE 3-12 Traditional countryside and empty purses – is there a way out? Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft Ludwig SOTHMANN 13-19 Biodiversity in Rural Areas – Insuring the Future of our Society Unruhe und Ordnung im Prozeß des Lebens – Klaus M. MEYER-ABICH 20-27 Plädoyer für einen agrikulturellen Naturschutz Order and disorder in the process of life. A plea for agri-cultural nature conservation Landbau als Kulturkritik Johannes PAIN 28-33 „Boden“ als Kristallisationspunkt gesellschaftsreformerischer Bestrebungen in den Landbaukonzepten von Hans-Peter Rusch und Ewald Könemann Agriculture as culture criticism. „Soil“ as fundamental idea of the efforts of the farming concepts of Hans-Peter Rusch and Ewald Koenemann to reform society

Almwirtschaft und „Höhenkulturlandschaft“

Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER 34-51 Ökologische Perspektiven im Klima- und Politikwandel (Teil 1) Future and support policy of mountain pastures at alpine scale Ecological perspectives due to climate and political change (1st part) Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven Michael HINTERSTOISSER 52-56 Alpine farming in Upper – Situations and Perspectives Der Naturschutzplan auf der Alm Susanne AIGNER, Gregory EGGER 57-59 Nature conservation plan for alpine pastures und Günter JARITZ

Risiken des Klimawandels

Naturschutzgebiete im Klimawandel – Risiken für Schutzziele und Handlungsoptionen. Katrin VOHLAND 60-67 Bericht über ein laufendes Forschungsprojekt am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung Protected areas under climate change – risks and policy options Report on an ongoing research project at the Potsdam Institute for Climate Impact Research

Kurz-Beiträge · Short Articles

„Macht Euch die Erde untertan“ im 21.Jahrhundert – weniger ist mehr! Gerhard MONNINGER 68-73 Fill the earth and subdue it! Less is more in the 21st century Thesen zur Kulturlandschaft Stefan KÖRNER 73-76 Naturschutzwacht in Bayern – Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung Christoph MUSIK 77-79

Rubriken/ANL-Nachrichten · Back Matter

Meinungen und Stellungnahmen 80

ANL-Seminarergebnisse

Grundkurs Amphibienschutz 81

ANL-Intern/Personalien 82-86

Buchbesprechungen

Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hrsg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit. Band 1 87 Gerhard Brunner: Die Aktuelle Vegetation des Nürnberger Reichswaldes 88

Publikationen – Neuerscheinungen – Publikationsliste 89-92

Hinweise für Autoren – Manuskripthinweise – Impressum hintere Umschlag-Innenseite

2 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege?

Ulrich HAMPICKE Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Traditional countryside and empty purses – is there a way out?1)

Abbildung 1: Verunkrauteter Acker mit hoher Attraktivität für Städter Figure 1: Weed-covered cropland – an attraction for townspeople

Zusammenfassung sind diese Mittel verstärkt landschaftspflegerischen Zielen Der Erhalt der mitteleuropäischen Kulturlandschaft ist teuer, zu widmen. Darüber hinaus sind private Mittel zu erschließen. weil ihre Pflege arbeitsintensiv ist und ihre marktfähigen Pro- Vermögende Privatleute können dem Naturschutz gegenü- dukte schlecht entlohnt werden. Dies wird an Beispielen aus ber sehr aufgeschlossen sein. der Tierhaltung gezeigt. Am wenigsten kostenintensiv ist ex- Eine wirkliche Lösung des Problems ist dann zu erwarten, tensiver Ackerbau. wenn die historische rurale Umwelt (die Kulturlandschaft) in In der Ökonomik der Kulturlandschaft sind zwei Problemstel- der breiten öffentlichen Meinung die Wertschätzung erhält, lungen zu unterscheiden: die die historische urbane Umwelt (das gebaute Kulturerbe) 1. Wie werden gegebene, wenn auch knappe Mittel optimal derzeit schon genießt. eingesetzt? Summary 2. Wie können größere Mittel akquiriert werden? The preservation of the traditional Central European country- Hinsichtlich des ersten Problems ist eine Qualitätskontrolle side is an expensive task due to its labour-intensity and low aller durchgeführten Maßnahmen anzuraten, insbesondere commodity prices. This is shown by examples from animal bei Agrarumweltprogrammen und Kompensationsmaßnah- husbandry. Low-input cropping is less expensive. men. Ferner sind, soweit Wahlmöglichkeiten bestehen, kos- Two problems have to be distinguished: tengünstige Verfahren und Ziele in der Landschaftspflege den 1. how to allocate given financial means most efficiently, and besonders aufwändigen vorzuziehen. 2. how to obtain additional means. Hinsichtlich des zweiten Problems ist hervorzuheben, dass Concerning the first problem, a screening of existing measu- trotz der vielbeschworenen Mittelknappheit des Staates un- res as to their quality is recommended, especially agri-environ- vermindert sehr hohe Summen in die Agrarförderung fließen. mental measures and compensation measures according to Ohne deren Empfänger in der Landwirtschaft zu schädigen, German law. Furthermore, low-cost measures and planning

1) Vortrag am 26. Oktober 2006 bei den 29. Bayerischen Naturschutztagen in Grafenau

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 3 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE

Tabelle 1: Zwei Vollkostenkalkulationen für Schafhütungen auf schemes should be preferred to more expensive ones in all Kalkmagerrasen, 2 pro Hektar und Jahr cases where choices can be made. As to the second problem it has to be underlined that high public funding continues to be transferred to the agricultu- ral sector despite the state’s well-known financial problems. Without impairing farmers’ interests, these funds should be used in a way that fosters the countryside to a higher degree. Additionally, it is recommended to raise funds on the part of well-to-do private persons and institutions. The problem is solved once the historic rural environment receives the same appreciation on the part of the public as does the historic urban environment, that is scenic towns and villages.

Jahr und weniger erzielt (ebenda, S. 157) – hinsichtlich des Gliederung Arbeitseinsatzes müsste eher diese Wirtschaftsweise „exten- 1. Kulturlandschaft hat ihren Preis siv“ genannt werden. 2. Größtmöglicher Erfolg bei gegebenen Mitteln 2.1 Qualitätsprüfung und -erhöhung durchgeführter Maßnahmen Zweites Beispiel: Die Tabelle 2 zeigt, dass es nicht an der 2.2 Auswahl kostengünstiger Maßnahmen Tierart liegt. Auch Fleischrinder-Weidesysteme sind unter 2.3 Zusätzliche Einzelmaßnahmen und -gesichtspunkte gleichen Bedingungen (im Mittelgebirge) teuer und aus dem- 3. Aquisition größerer Mittel selben Grund wie die Schafe. Wie auch bei den anderen Ta- 3.1 Direkte finanzielle Stärkung des Naturschutzes bellen finden sich die detaillierten Kalkulationen in den an- 3.1.1 Mehr Geld vom Staat 3.1.2 Mehr Geld von Privaten gegebenen Quellen. Jeder, der ein Tier besitzt, weiß, dass Tie- 3.2 Indirekte Stärkung des Naturschutzes: Ansehensgewinn re Zeitzuwendung brauchen. Und wenn diese Zeitzuwendung Literatur bezahlt werden will, wird es eben teuer. Die Aufstellung deu- tet jedoch bereits an, dass es Unterschiede in den Kosten gibt. 1. Kulturlandschaft hat ihren Preis Auf diese werden wir unten zurückkommen, wenn nicht mehr landwirtschaftliche Standardverfahren, wie in den Tabellen 1 Um die Antwort vorwegzunehmen: Es gibt Auswege, zumin- und 2, sondern neuartige Haltungsformen betrachtet werden. dest Abmilderungen des Problems, jedoch sehr verschiedener Art, und ich sehe den Hauptzweck meiner Ausführungen dar- Tabelle 2: Zwei Vollkostenkalkulationen für Mutterkuhhaltungen, in, diese zu systematisieren, gegebenenfalls Rangfolgen der 2 pro Hektar und Jahr Eignung zu erkennen und etwas über die zeitliche Wirksam- keit zu sagen (wie schnell wirkt etwas?). Eines ist unzweifelhaft klar: Die Kulturlandschaft ist teuer. Kostspieligkeit ist zwar kein Grund, sie nicht zu erhalten, aber die Tatsache muss anerkannt werden. Das Folgende beschränkt sich auf die offene, das heißt landwirtschaftlich geprägte Kul- tur- und Halbkulturlandschaft. Betrachten wir als erstes Beispiel einen Kalkmagerrasen. Stel- len wir uns eine Schafhutung auf der Fränkischen Alb vor mit ihrem Reichtum an Pflanzen- und Tierarten. In Tabelle 1 ist zu erkennen, dass, korrekt gerechnet, also mit ordentlichen Lohn- Drittes Beispiel: Wir hatten in Greifswald das Privileg, über stundensätzen und ohne die Fixkosten zu vergessen, ein Defi- vier Jahre ein Forschungsprojekt bearbeiten zu können (ge- zit zwischen Markterlösen und Vollkosten von bis zu 2 500 fördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung), pro Hektar und Jahr aufläuft. Das muss aus irgendeiner Kasse in welchem es um den Naturschutz auf schwach produktiven oder aus mehreren zugeschossen werden, um diese Form der Ackerflächen ging. Wie allgemein bekannt, steht es um die Landschaftspflege zu betreiben. Ein Grund ist der hohe Arbeits- Ackerwildkräuter in Deutschland ganz besonders schlecht. einsatz in Verbindung mit niedrigen Preisen für das erzeugte Ein Ergebnis des Vorhabens findet sich komprimiert in der Produkt, das Lammfleisch. Im Alltagssprachgebrauch wird Tabelle 3. Es ist festzustellen, dass extensiver Ackerbau – diese Wirtschaftsweise „extensive Weidewirtschaft“ genannt. hier ist die Bezeichnung bei unter 3 Arbeitskraftstunden pro Korrekt heißt extensive Wirtschaft jedoch, dass pro Hektar we- nig Produktivkräfte oder Produktionsfaktoren eingesetzt wer- Hektar und Jahr einmal korrekt – eine vergleichsweise kosten- den, auch wenig Arbeit. Das Gegenteil ist hier der Fall. Rech- günstige Naturschutzmaßnahme sein kann. nen wir acht Arbeitskraftstunden pro Mutterschaf (KTBL Leider gibt es bisher keine gründlichen Untersuchungen über 2004, S. 419/420) und etwa 3 Mutterschafe pro Hektar, dann die Naturschutzkosten in hochproduktiven Ackerlandschaften. ergibt sich eine Arbeitsbelastung von etwa 25 Stunden pro Überschlagsrechnungen deuten aber darauf hin, dass es hier Hektar und Jahr. In Sachsen-Anhalt werden in Großbetrieben teuer wird, wenn auch aus anderen Gründen als bei der Tier- Weizen-Höchsterträge mit 7 Arbeitsstunden pro Hektar und haltung. Nicht hoher Arbeitseinsatz ist hier das Problem, son-

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Tabelle 3: Extensiver Ackerbau auf ertragsschwachem Standort als Naturschutzmaßnahme, 2 pro Hektar und Jahr

dern die Verdrängung finanziell einträglicher Nutzungen. Wir Abbildung 3: Hoher Arbeitskräftebesatz in vorindustrieller Kul- sprechen in der Ökonomie von Nutzungs- oder Opportunitäts- turlandschaft in Kirgisien kosten, wenn der Naturschutz verlangt, dass auf einer Fläche Figure 3: High manpower per unit of area in Kyrgyzstan’s tra- Zuckerrüben oder Weizen einmal weichen sollen, zum Bei- ditional countryside spiel für Strukturelemente. Es besteht dasselbe Problem wie in einer Stadt, in der nicht jede Fläche rentierlich bebaut wird, geringen Erträge und die oft niedrigen Produktpreise, die die sondern Parks und Plätze belassen werden. Landschaftspflege, wenn allein auf das Marktergebnis geblickt wird, zu einer hochdefizitären Angelegenheit machen. Wir Na- turschützer sollten auch dazu stehen. Wir produzieren Qualität, und Qualität hat ihren Preis. Woanders erkennt man inzwi- schen, dass „Geiz ist geil“, dass die Sucht nach Billigkeit ein Irrweg war. Ebenso sollte es im Naturschutz erkannt werden. Gelegentlich findet man Berechnungen, nach denen der Kul- turlandschaftserhalt, etwa durch Schafbeweidung, deutlich kos- tengünstiger als in der vorliegenden Publikation dargestellt wird. In sehr seltenen Fällen trifft das zu, zum Beispiel wenn die Produkte zu sehr hohen Premiumpreisen abgesetzt wer- den können. Meistens liegt der „Haken“ solcher Berechnungen jedoch darin, dass entweder Kostenbestandteile ignoriert oder Entlohnungen zu gering angesetzt werden. Die vorliegenden Kalkulationen (bzw. die detaillierten Berechnungen in den Abbildung 2: Artenreiche Buckelwiesen bei Mittenwald verlan- angegebenen Quellen) rechnen mit Vollkosten, berücksichti- gen teure Pflege gen als auch Fixkosten. Wenn manchmal angenommen wird, Figure 2: Species-rich „hump-meadows“ near Mittenwald (Ba- varia) demand expensive care Stallkosten fielen nicht an, weil der vorhandene Stall noch recht gut sei, so wird übersehen, dass er ganz bestimmt nicht Der knappe Raum verbietet, mehr Details zu präsentieren. Be- für die Ewigkeit gebaut ist, sondern irgendwann ersetzt werden kanntlich sind auch traditionelle Mähnutzungen von Biotopen, muss. Das gelingt nur, wenn rechtzeitig Rücklagen für die hier die schönen Buckelwiesen bei Mittenwald (Abbildung 2), Erneuerung gebildet werden, also Abschreibungen und Zinsen teuer. Der Überblick sollte schon gezeigt haben, dass die korrekt verbucht werden. Oder Stallkosten werden ignoriert, traditionelle vorindustrielle Flächennutzung mit ihrem hohen weil man damit rechnet, dass irgendwer, etwa die Gemeinde, Naturschutzwert aufwandsintensiv ist. Das ist keineswegs ihn rechtzeitig erneuern werde. In diesem Fall besteht die überraschend. Alle Dokumente belegen, dass die historische „Billigkeit“ darin, dass andere bezahlen, was in einer wissen- schaftlichen Analyse natürlich nicht übersehen werden darf. Kulturlandschaft sehr intensiv genutzt wurde. Auf alten Bil- Die hier vorgelegten Kalkulationen sind auch insofern „Soll- dern betrachtet man die heutigen „Wacholderheiden“ der Werte“, als sie mit akzeptablen Entlohnungen der Arbeitskraft Schwäbischen Alb als restlos kahl gefressene Flächen. In man- rechnen. Es wird billiger, wenn Schäfer auch zum halben Lohn chen Weltgegenden, wie in Abbildung 3 in Kirgizstan in Inner- arbeiten, wie es dokumentiert ist. Niemand kann dies jedoch asien, ist das heute noch ähnlich; man sieht die Familien, das wünschen. ganze Dorf, bei der Luzerneernte. Im Hintergrund begrenzt der See Issyk-Kul und der 4.000 m hohe Tien-Schan die Traum- 2. Größtmöglicher Erfolg bei gegebenen Mitteln landschaft. Nun ist aber auf die Diskrepanz zwischen teuren Aufgaben Wenn wir die traditionelle artenreiche Kulturlandschaft in hin- und geringen Mitteln zu blicken. Wir müssen die denkbaren reichendem Maße erhalten und wiederherstellen wollen, dann Abhilfemaßnahmen gliedern (Übersicht 1). Das erste Bündel müssen wir tendenziell – nicht exakt, aber tendenziell – auch sei unter die Überschrift gesetzt: Wie kann mit dem vorhan- die alten Methoden verwenden, die oft arbeitsintensiv sind. denen, geringen Geld der größten Erfolg bewirkt werden? Anders als früher ist Arbeit heute teuer, hinzu kommen die Bei der Diskussion der prinzipiellen Möglichkeiten sei zu-

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 5 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE

abzuschließen. Die befassten Behörden haben auch ein Inter- esse, das Geld auf einmal auszugeben und die Akte dann zu schließen. Das führt dazu, dass die Gelder in aller Regel inves- tiv verwendet werden, zum Beispiel wird eine Hecke angelegt. Dass dabei Folgekosten ignoriert werden können, ist auch zu erwähnen. Noch wichtiger ist jedoch, dass in zahlreichen Fäl- len eine nicht-investive Verwendung, zum Beispiel ein Pflege- programm über 20 Jahre, viel größeren Nutzen für den Natur- schutz stiften würde. Das gibt es bisher fast gar nicht. Neben einem Modellversuch des Deutschen Bauernverbandes im Raum Köln, gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (vgl. www.rheinische-kulturlandschaft…), haben wir in Vorpommern erstmals erwirken können, dass eine Ersatz- zahlung der Energiewerke Nord, des ehemaligen DDR-Kern- Übersicht 1: Gliederung von Kosteneinsparungsmaßnahmen kraftwerkes in Lubmin, in ein 20-jähriges Programm zur ex- tensiven Ackernutzung auf Sandboden fließt. Damit wird die nächst von allen institutionellen Hemmnissen, Organisations- hier regional vorherschende Sandmohngesellschaft geschützt schwierigkeiten und Ähnlichem abgesehen. Denken wir uns (Abbildung 4). diese einmal weg und fragen wir, was prinzipiell getan wer- den könnte. 2.1 Qualitätsprüfung und -erhöhung durchgeführter Maßnahmen Zu empfehlen ist eine kritische Durchforstung aller durchge- führten Maßnahmen im Hinblick auf ihren naturschutzfach- lichen Wert. Dabei ist zu unterscheiden nach den Trägern von Maßnahmen. Gewiss sind Vertragsnaturschutzprogramme in Bayern und in anderen Bundesländern, die in der Regie der Naturschutzbehörden unternommen werden – zum Beispiel die Mahd der gezeigten Buckelwiesen – sinnvoll und sind die dort eingesetzten Mittel zu rechtfertigen. Das gilt aber nicht gene- rell für die finanziell viel umfangreicheren Agrarumweltmaß- nahmen, früher im Rahmen der VO 2078 und 1257, jetzt im Rahmen der ELER-Verordnung. Die leider nur vereinzelten Abbildung 4: In Nordostdeutschland vorrangig schutzwürdige Sandmohn-Ackerwildkrautgesellschaft Erfolgsprüfungen in der Literatur (MARGGRAF 2003, KLEIJN Figure 4: The weed society dominated by prickly poppy (Pa- and SUTHERLAND 2003, HERZOG 2005) kommen zu kei- paver argemone) is worth of protection in Northeast nem besonders positiven Ergebnis. In Mecklenburg-Vorpom- 2 mern bekommt jeder Betrieb 200 pro Hektar und Jahr, wenn Soll das Modell in größerem Stil Anwendung finden, so sind er völlig artenarmes Niedermoorgrünland ohne zu düngen Institutionen zu entwickeln, die die Finanzierung übernehmen. mäht und die Ballen am Waldrand verkommen lässt. Für die Es muss ein Einmalbetrag in einen Zahlungsstrom über viele Perlen, zum Beispiel Sandäcker mit Lämmersalat (Arnoseris Jahre umgewandelt werden. Woanders sind solche Treuhand- minima) und Bauernsenf (Teesdalia nudicaulis), gibt es dage- oder Anderkonten Alltag, nur nicht im Naturschutz. Fast alle gen keinen Cent. Zahlreiche weitere Beispiele belegen, dass Bundesländer haben inzwischen Landesstiftungen. Das wä- selbst im Rahmen der knappen Mittel eine Qualitätssiebung ren die richtigen Organe, sie müssten allerdings lernen, mit der Agrarumweltmaßnahmen zu gewaltigen Effizienzsteige- Geld zu rechnen, zum Beispiel wie man ein Kapital in eine rungen führen würde. Annuität umrechnet. Dies gilt nicht minder für eine Qualitätssiebung der Kompen- Ein Letztes zu diesem Punkt. So wichtig die Flexibilisierung sationsmaßnahmen nach der Eingriffsregelung des Bundes- des Kompensationswesens ist, dürfen auch gewisse Gefahren Naturschutzgesetzes. Hier fließt sehr viel Geld! Nicht nur nicht übersehen werden. Es gehen Gerüchte, wonach manche geht seit Jahren notorisch die Klage über wenig sinnvolle Bundesländer, um Geld zu sparen, überlegten, ob sie nicht den Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen, etwa einfallslose Möblie- gesamten Naturschutz aus Kompensationen finanzieren kön- rungen der Landschaft mit Gehölzen. Auch häufen sich in nen. Dann wäre er für sie fiskalisch umsonst, kein Euro aus gewissen Gegenden Gelder aus Kompensationszahlungen an, Steuern brauchte mehr zu fließen. Eine ähnliche Lösung wä- mit denen man nichts Sinnvolles anzufangen weiß, weil die re, das gesamte Schulwesen aus Bußgeldern von Verkehrssün- Regeln, nach denen dies zu geschehen hat, zu unflexibel sind. dern, aus Knöllchen, zu finanzieren. In beiden Fällen würde Glücklicherweise haben wir hier ein Gebiet, auf dem sich Fort- sich der Staat um die Finanzierung einer fundamentalen da- schritte anbahnen. seinsvorsorgenden Pflicht drücken. Er würde sich darum Ersatzzahlungspflichtige haben das nachvollziehbare Interesse, drücken, das zu finanzieren, wozu er überhaupt da ist. Das ihr Geld auf einmal loszuwerden und damit den Fall für sich wäre natürlich nicht zu akzeptieren.

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2.2 Auswahl kostengünstiger Maßnahmen Wie eingangs festgestellt, ist das Kostenniveau beim Kultur- landschaftserhalt grundsätzlich hoch. Dennoch gibt es teure, noch teurere, aber auch billigere Biotope und Vorhaben. Mit Recht fragt man, ob nicht bei Mittelknappheit eine Konzen- tration auf die kostengünstigeren erfolgen sollte. Freilich leben in den „billigen“ Biotopen andere Arten und Gemeinschaften als in den „teuren“ und kann nicht alles Geld von den „teu- ren“ abgezogen werden, wenn deren Arten auch überleben sollen. Trotz diese Restriktion gibt es durchaus Wahlmöglich- keiten, die Mittel einsparen helfen. Ein Beispiel wieder von den Kalkstandorten: Dort gibt es neben großen, zusammenhängenden Hutungen, die sich rein technisch für die Beweidung eignen, auch zahl- Abbildung 5: Caucalis platycarpos, ein winziges, stark gefähr- reiche kleine Flächen, wo Schafe gar nicht oder nur mit un- detes Wildkraut der Kalkäcker, dessen Schönheit ein genaues Hinsehen erfordert verhältnismäßig hohen Kosten hinkommen, es gibt Randbe- reiche und ähnlich ungeeignete Flächen. Die Tabellen 1 und 3 Figure 5: Small Bur-parsley (Caucalis platycarpos), a tiny, threa- tened weed of cropland on calcareous soil. Its beauty is appre- oben zeigten, dass Schafhutung sehr teuer, extensiver Acker- ciated only upon careful observation bau auf Sandboden aber billig ist. Der Zuschussbedarf liegt bei ersterer bei 2 400 bis 500, bei letzterem bei 2 100 bis In den Tabellen 4 und 5 sind Tierhaltungsverfahren dargestellt, 200 pro Hektar und Jahr. Nun bedarf die Übertragbarkeit der die erheblich ökonomischer sind als die in den Tabellen 1 und Werte für den Sandacker auf Kalkscherbenstandorte zwar 2. „Ökonomischer“ heißt hier, dass ihre Defizite und damit der noch der Überprüfung, dennoch ist es sehr wahrscheinlich, Zuschussbedarf geringer sind. Dies resultiert in beiden Tabel- dass der Kalkscherbenacker billiger ist als die Schafweide. len überwiegend daher, dass die Tierdichte, die Besatzstärke Natürlich ist letztere deswegen nicht abzuschaffen, aber es geringer ist. Wenn zum Beispiel eine Mutterkuh einen Zu- ist vorzuschlagen, in viel größerem Maße Randbereiche, klei- schussbedarf von 2 500 im Jahr hat und die Besatzstärke bei ne und auch ortsnahe Fläche auf Kalkstandorten in extensive einer Kuh pro Hektar liegt, dann kostet der Hektar auch 2 500. herbizidfreie Äcker umzuwandeln. Mit interessierten Land- Beweidet aber eine Kuh zwei Hektare, dann kostet der Hektar wirten sollten diesbezügliche Verträge geschlossen werden. nur 2 250. Diesen Effekt geben die Tabellen 4 und 5 wieder. Die Ackerwildkräuter des Verbandes Caucalidion gehören zu den stärkst gefährdeten Pflanzenarten in Deutschland (HILBIG Tabelle 4: Kostengünstige Tierhaltungsverfahren auf ehemali- 2005). Daneben sind sie ein ästhetischer Genuss, etliche sind gen Truppenübungsplätzen, 2 pro Hektar und Jahr potenzielle Zierpflanzen und damit ökonomische Ressourcen (Abbildung 5). Ihr Schutz ist in den vergangenen 20 Jahren arg vernachlässigt worden. In der DDR gab es bis zur Wende eine stattliche Anzahl gut geführter Ackerwildkrautreservate, die fast alle nicht mehr existieren (ILLIG 1990). In Deutschland gibt es heute wenige Lichtblicke – in Thüringen (REISIN- GER et al. 2005), Franken und in der Eifel – sonst nur Ver- Solange die Weideführung so betrieben wird, dass die Tiere luste. Vor zwei Jahren verfassten besorgte Naturschützer in den gesamten Aufwuchs abfressen sollen, liegt somit die Karlstadt am ein Manifest, welches hoffentlich Wir- scheinbar paradoxe Situation vor, dass die Landschaftspflege- kung zeigt (Karlstadter Positionspapier 2004). kosten pro Hektar umso höher sind, je wüchsiger der Standort Wir haben hier also einen Fall vorliegen, bei dem der teilwei- ist, denn dann braucht jedes Tier wenig Fläche. Je karger der se Ersatz einer teuren Maßnahme, der Schafweide, durch eine Standort, umso billiger wird es pro Hektar, Extremfälle sind billigere, den Acker, nicht nur Geld spart, sondern gleichzeitig ehemalige Truppenübungsplätze in Nordostdeutschland auf die Naturschutzqualität hebt, weil noch stärker gefährdeten Ar- Sand (Tabelle 4) oder die Hochfläche des Alvar auf der schö- ten Lebensraum gegeben wird. Ähnliche Beispiele dieser Art nen schwedischen Insel Öland, wo sich die Tiere ihr Futter sollten systematisch gesammelt werden. mühsam zusammensuchen müssen (Abbildung 6). Hier ist Auch im Bereich der Tierhaltung gibt es Kostenunterschiede; Naturschutz auch mit Tieren sehr kostengünstig. oben wurde angekündigt, auf sie zurückzukommen. Diese Un- Ein neuartiges Konzept im Naturschutz wird viel diskutiert: terschiede bei verschiedenen Weideverfahren resultieren über- die halboffene Weidelandschaft. (REDECKER et al. 2002) wiegend aus dem nachfolgenden Umstand. Die Kosten pro Tier Es handelt sich um eine immer noch landwirtschaftliche Tier- sind nämlich, solange landwirtschaftliche Haltungen vorliegen, haltung, bei der aber die Besatzstärke so reduziert wird, dass meist nicht sehr verschieden. Zumindest gibt es Kostenunter- die Tiere während der Vegetationsperiode nicht den gesamten grenzen, die nicht unterschreitbar sind und aus tierschutzrecht- Aufwuchs abfressen. Im Winter sind sie auch auf der Fläche. lichen, veterinärhygienischen und anderen Vorgaben stammen. Auf diese Weise kommt man auch auf wüchsigeren Flächen zu Die Tiere sind keine Wildtiere, also brauchen sie Pflege, Ohr- den Kostenvorteilen, die, wie eben erläutert, sonst nur auf ex- marken usw., und das kostet Zeit und Geld. trem mageren Standorten genossen werden können (Tabelle 5).

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 7 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE

• Technische Innovationen: Die 2003 beschlossenen Elemen- te der EU-Agrarpolitik und ihre Umsetzung in Deutschland können dazu führen, dass landschaftspflegende landwirt- schaftliche Tierhaltung in bestimmten Regionen unattraktiv wird. Das ist an sich nicht im Sinne des Naturschutzes. Wenn wir aber schon nichts gegen die künftige Mulchland- schaft in Grünlandgebieten tun können, sollte diese doch möglichst optimiert werden. Langjährige Versuche zeigen, dass gemulchte Flächen hinsichtlich der Flora nicht unbe- dingt artenärmer werden (BRIEMLE et al. 1991, S. 23 f.). Man sollte frühzeitig mit der Landmaschinenindustrie Kon- takt aufnehmen, um die Entwicklung von Mulchgeräten zu fördern, die einerseits naturschutzfachlich akzeptabel sind, also nicht wie bisher Insekten pulverisieren (vgl. OPPER- Abbildung 6: Das artenreiche Kalkplateau „Alvar“ auf der MANN und KRISMANN 2003), und die andererseits eine schwedischen Insel Öland. Die schüttere Vegetation erzwingt niedrige Besatzstärken der Tiere kostengünstige Pflege gewährleisten. Figure 6: The species-rich limestone plateau „Alvar“ in the • Vertragsgestaltung: Bisherige Verträge mit Landwirten, Swedish island Öland. Sparse vegetation requires low stocking insbesondere bei Agrarumweltmaßnahmen beinhalten in der rate Regel gewisse Auflagen (Tätigkeiten, Unterlassungen, Ter- minsetzungen usw.). Werden sie erfüllt, so erfolgt eine Ho- Tabelle 5: Kostengünstige Tierhaltungsverfahren in halboffenen norierung. Diese ist unabhängig davon, ob die Maßnahmen Weidelandschaften, 2 pro Hektar und Jahr erfolgreich waren. In der Schweiz und in einigen Bundeslän- dern, insbesondere in Baden-Württemberg, liegen dagegen Erfahrungen mit erfolgsorientierter Honorierung vor: ein Landwirt erhält Geld, wenn gewisse Pflanzen auf seiner Wie- se sind. Wie er das bewerkstelligt, ist seine Sache. Das The- ma ist zu umfangreich, um hier vertieft werden zu können; zu verweisen ist auf OPPERMANN und BRIEMLE (2002), OPPERMANN und GUJER (2003) sowie BfN (2006). Die erfolgsorientierte Honorierung besitzt zahlreiche weitere Vor- teile über den Anreiz zur Effizienzsteigerung beim Mittel- einsatz hinaus. Das hat den Planungsausschuss der Gemein- schaftsaufgabe „Förderung der Agrarstruktur und des Kü- Die bisherigen naturschutzfachlichen Erfahrungen sind posi- stenschutzes“ bewogen, dieses Modell zu fördern. Mehrere tiv bis sehr positiv. Durch die Selektion der Tiere entsteht eine weitere Bundesländer, unter anderen Niedersachsen, sind hohe Standortvielfalt, die auch die Artenvielfalt schnell heben dazu übergegangen (vgl. KLEIENBURG et al. 2006). • Kostendrückung: So nenne ich etwas respektlos Maßnah- kann (vgl. REISINGER und LANGE 2005). Allerdings sind men, die uns von volkswirtschaftlich orientierten Kollegen zur endgültigen Beurteilung des Konzeptes längere Zeiträu- empfohlen werden. Man empfiehlt, landschaftspflegende me erforderlich. Einige Verfahren in der Tabelle 5 werden auf Leistungen auszuschreiben und dann den billigsten Anbieter wüchsigen Standorten durchgeführt, wo rein rechnerisch die zu beauftragen (z.B. LATACZ-LOHMANN und VAN DER Besatzstärke von 0,25 bis 0,6 Großvieheinheiten pro Hektar HAMSVOORT 1989). Die Bauern, in Gelddingen immer zur Verwertung des gesamten Aufwuchses zu gering ist. Was sehr klug, durchschauen das natürlich sofort. Eine Studentin passiert mit der nicht abgefressenen Biomasse? Wird sich ein aus Greifswald unternahm vor einigen Jahren eine Befragung Gleichgewicht zwischen offenen Flächen und Gehölz einstel- von Betrieben in Vorpommern (HÖFT 2003). Die meisten len? Das kann ich nicht beurteilen – wenn aber auch die länger- waren Naturschutzmaßnahmen gegenüber aufgeschlossen, fristigen Erfahrungen positiv verlaufen sollten, dann ist die wenn sie ordentlich bezahlt werden, beim Thema Ausschrei- halboffene Weidelandschaft – zwar eher eine Halbkultur- als bung, wo sie sich gegenseitig unterbieten sollen, verflog die eine Kulturlandschaft – ökonomisch sehr attraktiv. Zustimmung allerdings prompt. Für eine Naturschutzbehör- de, die finanziell selbst von oben unterdrückt wird, besitzt 2.3 Zusätzliche Einzelmaßnahmen und die Ausschreibung natürlich einen gewissen Charme, weil sie -gesichtspunkte die Unterdrückung nach unten weitergeben kann. Auch sei Die beiden diskutierten Ansätze werden durch eine Reihe nicht zu pauschal gegen das Instrument argumentiert, ob- schwieriger zu systematisierender Einzelaspekte ergänzt: wohl ein Qualitätsabfall fast vorprogrammiert zu sein scheint. • Art der Durchführung von Maßnahmen: Auf Sandboden Das Thema ist aus einem anderen Grund wichtig: Natur- erfordert der Erhalt von Ackerwildkräutern nicht eine Be- schutz kann für die Gesamtgesellschaft kostengünstig betrie- ackerung in jedem Jahr. Sie halten sich auch auf jungen ben werden, wenn alle dazu erforderlichen Maßnahmen klug Brachen. Durch deren Einstreuung in die Landschaft kann getroffen werden. Dann ist er gesamtwirtschaftlich effizient. man viel Geld sparen. Zu vermuten ist freilich, dass Poten- Naturschutz kann aber auch für eine Behörde kostengünstig ziale dieses Typs unter dem Druck der schon lange vorhan- sein, zum Beispiel wenn andere die Kosten übernehmen, um- denen Mittelknappheit bereits weitgehend ausgeschöpft sind. sonst oder zu geringem Lohn arbeiten usw.. Dabei muss die

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Ausführung gar nicht effizient im obigen Sinne sein. Volks- Strukturmaßnahmen, kommt nicht voran. Ein Grund ist die wirtschaftliche Effizienz und behördliche Kostengünstigkeit Kofinanzierungsnot der Bundesländer in der zweiten Säule. sind also zwei verschiedene Dinge. Man versteht, wenn die Obwohl es schlecht läuft, muss aus zwei Gründen hier wei- Behörde unter Druck zuerst an ihre Perspektive denkt, aber tergekämpft werden: langfristig ist die volkswirtschaftliche Effizienz das Wich- • Der erste ist die schiere Masse des Geldes, in Deutschland um tigere. 6 Mrd. Euro pro Jahr oder 350 Euro für jeden landwirt- • Landkäufe: In der Vergangenheit sind von Staat und Ver- schaftlichen Hektar pro Jahr allein aus der „ersten“ Säule bänden hohe Summen für den Ankauf landwirtschaftlicher (Übersicht 2). Dagegen ist alles Naturschutzgeld, mit Her- Flächen für den Naturschutz ausgegeben worden. Es gibt zwei- mann Löns gesprochen, „Pritzelkram“. Naturschutzetats fellos Fälle, in denen das Naturschutz-Ziel das Eigentum über waren immer Etats der Mangelverwaltung und Agraretats eine Fläche verlangt, dann muss man auch kaufen. Das ist waren immer Etats der Fülle. Gelingt es, die Subventionen aber keineswegs immer der Fall. Außerdem können andere auch nur teilweise in Honorierungen für ökologische Lei- Sicherungsformen, wie die Pacht, institutionell verbessert stungen umzufunktioneren – womit natürlich die Bauern die werden, damit auch sie Naturschutzziele sicher erreichen las- Empfänger bleiben –, dann hat der Naturschutz so viel Geld, sen. Landwirtschaftliche Liegenschaften sind insbesondere in Süd- und Westdeutschland aus verschiedenen Gründen wie er noch nie hatte. gemessen an ihrer objektiven wirtschaftlichen Ertragskraft • Der zweite Grund ist die Systemwidrigkeit der Agrarsub- gewaltig überteuert. In diesen Fällen führen Landkäufe zu ventionen in einer Marktwirtschaft, wo sonst die meisten einem inakzeptablen Geldfluss an die Verkäufer auf Kosten knapp gehalten werden. Man erkennt aus der Diktion die- des Steuerzahlers. ses Beitrags, dass er in keiner Weise „landwirtschaftsfeind- lich“ argumentiert, im Gegenteil. Die Landwirte brauchen 3. Akquisition größerer Mittel das Geld vom Staat – nicht jeder einzelne Betrieb, aber im Schnitt. Es sei ihnen vergönnt, aber nicht als Geschenk, son- Nachdem nun das etwas trockene Thema „Geld sparen bei dern mit ökologischer Gegenleistung. Reine Subventionen knappen Mitteln“ abgearbeitet worden ist, kommen wir zu dem ohne Gegenleistung sind ordnungspolitisch nicht zu recht- ungleich dramatischeren Thema: „Wie kommt der Naturschutz fertigen, schon gar nicht in dieser Höhe. Es ist erstaunlich, an mehr Geld?“ Von vornherein ist klar, dass das nicht schnell wie zäh sie sich halten, aber irgendwann werden ihre Tage gehen wird. Während manche der obigen Vorschläge schnell gezählt sein. Wer einen Hektar Acker bewirtschaftet, be- umgesetzt werden könnten, geht es nun um Längerfristiges. kommt dafür, abgesehen von allen seinen Kosten und Erlö- Aber es ist ähnlich wie im Forst: Wer nicht langfristig denkt sen, etwa 2 300 vom Staat auf sein Konto überwiesen, so- und Geduld besitzt, ist ohnehin kein guter Naturschützer. zusagen eine negative Steuer. Wer einen Privatwald bewirt- Es ist zu unterscheiden zwischen Maßnahmen, die, wenn sie schaftet, bekommt fast nichts. Ein Handwerker, ein Tischler- gelingen, direkt zu Geldzuflüssen führen, und solchen, die sich meister, dem es nicht besser geht als dem Landwirt, fragt, mehr indirekt auswirken und daher auch schwer messbar sind. warum er nicht 2 300 pro Quadratmeter Werkstattfläche Bei den zweiten handelt es sich um atmosphärische Dinge, die erhält, bevor er mit der Arbeit beginnt. In England machte aber zu einer Besserung der Finanzlage im Naturschutz bei- im Jahre 2006 die Nachricht Furore, dass die Queen, die tragen können. Zuerst zu den direkten Maßnahmen. reichste Frau der Welt, in ihrer Eigenschaft als Landlady, al- 3.1 Direkte finanzielle Stärkung des so Eigentümerin von Gütern, auch noch vier Millionen Euro Naturschutzes oder Pfund pro Jahr an Landwirtschaftssubventionen von den 3.1.1 Mehr Geld vom Staat Steuerzahlern einnimmt. Die Akzeptanz des Systems brö- In der offenen Kulturlandschaft sind ohne jeden Zweifel die ckelt, und die Naturschützer sollten sich wieder stärker in die Agrarsubventionen der EU der Schatz, den der Naturschutz Debatte einschalten. Sie sind viel zu still und anscheinend heben muss. Wir sollten uns auch durch Rückschläge nicht ent- teilweise mit sich selbst beschäftigt. mutigen lassen. Bis 2013 ist schon wieder das meiste festge- 3.1.2 Mehr Geld von Privaten klopft, wenig zu Gunsten des Naturschutzes. Die angekündig- Andere als der Staat haben auch Geld, es gibt viele reiche te Verschiebung von Mitteln aus der „ersten“ in die „zweite“ Privatleute. Wie die Spenden- und Mitgliedsbudgets der Ver- Säule der Europäischen Agrarpolitik (näheres in BMVEL bände zeigen, sind auch zahlreiche weniger Wohlhabende be- 2005), also aus bloßer gegenleistungsloser Subvention in reit, für den Naturschutz etwas zu zahlen. Im weltweiten Ver- gleich ist es eine Sache der politischen Kultur, inwieweit von Wohlhabenden erwartet wird, sich finanziell für Dinge des Gemeinwohls zu engagieren. In den USA wird erwartet, dass, wer durch gute Ausbildung zu Wohlstand gekommen ist, einen deutlich sichtbaren Anteil an seine Bildungsstätte zurückzahlt, sprich seine Universität sponsort (obwohl er schon Studienge- bühren gezahlt hat). In Deutschland wird nur darüber geredet, dass die Studenten Gebühren zahlen sollen. Aber ein wenig dreht sich auch hier der Wind. Erfolgreiche Unternehmer en- gagieren sich für den Naturschutz, man darf durchaus Namen Übersicht 2: Größenordnung der Agrarausgaben der EU nennen: Herr Fielmann aus Hamburg besitzt mehrere ökolo-

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 9 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE gische Landgüter, eine Akademie in Plön und sponsort den vielleicht sogar der größere Teil, wird nach einem ganz ande- Naturschutz an der Kieler Universität. Herr Otto finanziert ei- ren Prinzip verteilt: Wer laut verlangt, bekommt, wen man nen erheblichen Anteil des Naturschutzes an der Elbe. Herrr nicht hört, bekommt nichts. Das Prinzip zeigt sich in der Um- Rethwisch betreibt in den Brohmer Bergen in Vorpommern ein kehrung noch drastischer: Wo nimmt man etwas weg – Geld größeres ökologisches Anwesen, wo er einige unserer Absol- oder Stellen –, wenn es für alle nicht mehr reicht? Bei denen, ventinnen beschäftigt. die am ehesten entbehren könnten? Nein, sondern bei denen, wo man meint, dass sie sich am wenigsten wehren. In meiner Mein lieber Kollege Michael Succow besitzt das unnachahm- Universität in Greifswald mussten jüngst Stellen gespart und liche Talent, Privatvermögen für den Naturschutz zu interessie- Institute geschlossen werden. Wen traf es? Lehrerausbildung, ren. Er hat völlig recht, wenn er sagt: „Wer Geld bekommen baltische Sprachen, Philosophie – die unorganisierten Kleinen. will, muss dahin gehen, wo welches ist.“ Beherzigt man diesen Der Naturschutz teilt dieses Schicksal. Der Politik erscheinen Ratschlag, so geht man nicht unbedingt als erstes zum Staat. Einsparungen dort leicht durchsetzbar, das ist der einzige Ge- Private Leistungen im Naturschutz gibt es auch auf zahlreichen sichtspunkt. Woanders wären viel größere Einsparungen mög- anderen Gebieten, nicht nur von Millionären und teilweise lich, aber eben nicht „durchsetzbar“. schon lange und traditionell: Der Naturschutz wäre schlecht beraten, einfach nur lauter zu • Es gibt berühmte private Forstbetriebe, die seit langem den schreien. Manche tun es ja, wie wichtigtuerische Funktionäre Dauerwaldbetrieb pflegen, also eine Nutzung, die dem Na- von Verbänden. Sie werden als Lobbyisten behandelt, wie alle turschutz sehr entgegenkommt. anderen Lobbyisten auch, das heißt wie Vertreter von Partiku- • In einigen Gebieten ist es das traditionelle Brauchtum, wel- larinteressen – wie Briefmarkensammler, Eisenbahnfreunde, ches naturschutzgerechte Flächennutzungen erhält, die sich Kleingärtner und Hechtangler. Die Politik macht hier keinen kommerziell niemals rechnen würden. Ein Beispiel sind die Unterschied. Lobbyisten wollen etwas von der Politik, das wird Hauberge im Siegerland, auf denen, jahrzehntelangem Druck als einziges wahrgenommen. Der Naturschutz vertritt aber kei- der Forstverwaltungen zum Trotz, nach wie vor die Nieder- ne egoistischen Partikularinteressen gegen andere gleichran- waldwirtschaft betrieben wird. Das Holz wird in volksfest- gige Partikularinteressen. Der Naturschutz vertritt Werte: artigen Aktionen gewonnen und konsumtiv als Brennholz Nachhaltigkeit, Rücksicht auf künftige, heute nicht durchset- genutzt. Ein weiteres Beispiel aus Franken sind die Holz- zungsfähige Menschen, Rücksicht auf die Natur als solche rechtlergemeinschaften, die Nieder- und Mittelwälder im bis hin zu dem Kleinen, Wehrlosen, Unscheinbaren, Verletz- südlichen Steigerwald (bei Iphofen) bewirtschaften. lichen. Dementsprechend sollte auch sein Auftreten sein. • Ein höchst interessantes und nicht wiederholbares ökonomi- Wenn sich der Naturschutz der traditionellen Kulturland- sches Experiment war und ist die Veräußerung von Wäldern schaft annimmt, trifft er auf sehr viel Sympathie in der brei- in den neuen Bundesländern durch die BVVG, die dafür zu- ten Bevölkerung. Das ist nicht bei allen seinen Zielen so, wie ständige Privatisierungsbehörde. Wälder, von denen man mehrere Untersuchungen gezeigt haben. Die breite Bevölke- weiß, dass sie auf Jahrzehnte hinaus eher ein finanzielles rung ist zum Beispiel nicht sehr empfänglich für die Ideen Fass ohne Boden sein werden, anstatt Gewinn abzuwerfen, von Wildnis und Prozessschutz – da kommen die Ängste vor fanden auch guten Absatz, was rein holzwirtschaftlich nicht Mücken, vor Wölfen, vor umstürzenden Bäumen und so wei- zu erklären ist. Die Waldkäufer haben zwar meist nicht aus ter (KATZENBERGER 2000, MÜLLER 2001, VON SCHIL- Naturschutzgründen gekauft, aber aus nicht-kommerziellen LING 2003). Gegen die traditionelle Kulturlandschaft ist aber Gründen. Wir müssen uns meiner Meinung nach darauf niemand, ja sie wird sogar in der Werbung bis zum Kitsch ent- einstellen, dass künftig auch im Offenland die konsumtive, stellt, offenbar mit Erfolg. nicht-kommerzielle Nutzung eine zunehmende Rolle spielen wird. Man sieht es heute schon: Pferdeweiden, Hobby-Land- Überall wo Elemente der traditionellen Kulturlandschaft noch wirtschaften usw. Die Nutzer sind keineswegs alle geborene vorhanden sind oder entdeckt werden, werden sie begeistert Naturschützer, manche sind das Gegenteil, die wenigsten ha- genossen. Jedes Jahr Anfang Juli findet sich auf der Titelsei- ben solide Kenntnisse. Aber der Naturschutz muss auf die te der Ostsee-Zeitung ein ähnliches Foto wie Abbildung 1 mit nicht-kommerzielle Nutzungsklientel zugehen und prüfen, stolzem Kommentar über die Schönheit des Landes. Setzt man unter welchen Voraussetzungen hier ein Potenzial für kosten- sich neben so ein Feld, so gewahrt man binnen kurzem Autos entlastende Mitarbeit entsteht. aus Berlin, die mit quietschenden Reifen anhalten, um ein Foto zu machen. Für den Landwirt ist das Bild ein Gräuel – natür- 3.2 Indirekte Stärkung des Naturschutzes: lich darf es nicht überall so aussehen, blicken wir lieber auf die Ansehensgewinn Abbildung 7: Die zauberhafte Erholungslandschaft im Bio- Dieser letzte Punkt könnte auch „Ansehensbeschaffung“ oder sphärenreservat Südost-Rügen, dem Mönchgut, dem Land Cas- „Steigerung der Durchsetzungsfähigkeit“ des Naturschutzes par David Friedrichs, mit schütterem, extensivem, aber blumen- genannt werden. Er ist naturgemäß weniger konkret als die bunten Acker auf Sandboden. Ein Diplomand führte vor ei- vorderen, liegt mir jedoch auch auf dem Herzen. nigen Jahren eine Befragung der Besucher durch (KARKOW Wir wissen, wie im demokratischen Staat, wo voraussetzungs- 2003). Die meisten hatten so etwas noch nie gesehen und gaben gemäß alle mitreden dürfen, Geld verteilt wird: Teilweise, aber sogar an, dafür bezahlen zu wollen, wenn es das bei ihnen zu leider nur teilweise durch allgemein anerkannte und damit ob- Hause auch gäbe. jektivierte Ansprüche. Dass Eltern Geld für ihre Kinder erhalten, Vor 40 Jahren war man in DDR und BRD in genau gleicher dass Alte mindestens zum Leben genug haben, das beruht ge- Weise modern. Im urbanen Bereich, in Stadt und Dorf: Funktio- wiss auf weitestgehendem inhaltlichen Konsens. Alles andere, nalität, Autogerechtigkeit, Glattheit, Modernität war gefragt.

10 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Ulrich HAMPICKE Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege?

Abbildung 7: Erholungslandschaft im Biosphärenreservat Süd- Abbildung 8: Traditionelle Bausubstanz als Stolz einer Stadt, ost-Rügen (Mönchgut) hier Quedlinburg Figure 7: Countryside suitable for recreation in the Biosphere Figure 8: Scenic towns are proud of their traditional buildings, Reserve Southeast Rügen (island of Rügen, Baltic Sea) such as Quedlinburg (Central Germany)

In den Dörfern wurde Fachwerk mit Eternit- oder Plastplat- be ehrende Landschaft herbeisehnen, eine strategische Allianz ten verkleidet. Auf dem Lande dasselbe: Flurbereinigung, eingehen. Wir werden mit ihnen viel mehr und viel einfluss- Entwässerung, Komplexmelioration, Produktionsfunktiona- reicher sein als heute. Wir erreichen dann mehr als mit agil- lität der Landschaft standen über allem anderen. Von Arten- stem Lobbyismus und natürlich erst recht mehr als mit unse- vielfalt redeten einige wenige. Heute gibt es die DDR nicht ren Klageliedern. mehr, welche sind die Werte in ganz Deutschland? Von Aa- chen bis Görlitz und übrigens in ganz Europa achtet, ehrt und genießt man historische urbane Umwelten (Abbildung Literatur 8). Wenn es im Jahre 2007 auch mit dem Denkmalschutz fi- BfN (Bundesamt für Naturschutz) (2006): nanziell nicht zum Besten steht, darf doch nicht vergessen Naturschutz und Ökonomie I: Anreiz. Ökonomie der Honorierung werden, dass über Jahrzehnte hinweg sehr viel privates und ökologischer Leistungen. Projektleitung U. Hampicke und Arbeits- gruppe Landschaftsökonomie Greifswald. BfN-Skripten 179, Bonn- öffentliches Geld geflossen ist. Es ist selbstverständlich, dass Bad Godesberg, 175 S. eine Stadt oder ein Dorf, die oder das sich als jahrhunder- tealtes Kulturerbe präsentieren kann, als angenehm und le- BMVEL (Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft) (2005): benswert empfunden wird. Niemand, der Fachwerkhäuser Meilensteine der Agrarpolitik. Umsetzung der Europäischen Agrar- liebt, wird als nostalgischer Gestriger abgetan, obwohl diese reform in Deutschland. Berlin. Häuser hohe Kosten verursachen. BMVEL (Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung In der Landschaft ist es bei uns aber oft noch so wie vor 40 und Landwirtschaft) (2005a): Jahren: Wer eine bunte Wiese wünscht, ist ein Nostalgiker. Agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung 2005. Berlin. Ihm wird zugerufen: Wer soll denn so einen Luxus bezahlen, BRIEMLE, G., D. EICKHOFF & R. WOLF (1991). das können wir uns nicht leisten! Obwohl die Mindestpflege und Mindestnutzung unterschiedlicher Grünlandtypen volkswirtschaftlichen Kosten einer das historische Erbe ach- aus landschaftsökologischer und landeskultureller Sicht. Beih. Ver- tenden Kulturlandschaft gegenüber der Parallele im urbanen öff. Naturschutz Landschaftspflege BadenWürttemberg 60: 1-160, Karlsruhe. Bereich eher gering sind. Das urbane Kulturerbe zu erhalten ist viel teurer als das rurale. HAMPICKE, U. (1999): „Von der Bedeutung der spontanen Aktivität der Natur“– John Stuart Es ist meine Hypothese und Hoffnung, dass die Umorientie- Mill und der Umgang mit der Wildnis. – Laufener Seminarbeiträge rung des Bewusstseins, die im urbanen Bereich in den letz- 2/99, S. 85-92 ten Jahrzehnten stattgefunden hat, sich mit einer gewissen HAMPICKE, U. & D. ROTH (2000): Zeitverzögerung auch im ruralen Bereich Bahn bricht. Die Costs of land use for conservation in Central Europe and future agri- europäische Landschaft ist ein Kulturgut von gleichen Rang cultural policy. International Journal of Agricultural Resources, Go- wie die europäische Stadt, beide gehören zusammen. Ich be- vernance and Ecology 1: 95-108. obachte in der Bevölkerung eine wenn auch noch latente, HAMPICKE, U., J. HOLZHAUSEN, B. LITTERSKI & W. WICHT- aber doch unter der Oberfläche starke Zustimmung zu dieser MANN (2004): These. Noch lehnen wir Nur-Produktionsfunktionalität im ur- Kosten des Naturschutzes in offenen Ackerlandschaften Nordost- Deutschlands. Berichte über Landwirtschaft 82: 225-254 banen Bereich ab, nehmen sie aber im ruralen Bereich hin. Das ist ein Widerspruch, und irgendwann wird er auch als HAMPICKE, U., B. LITTERSKI & W. WICHTMANN (2005): solcher erkannt werden. Ackerlandschaften – Nachhaltigkeit und Naturschutz auf ertrags- schwachen Standorten. Berlin (Springer), 311 S. Auch wenn durchaus nicht in allen Punkten Deckungsgleich- HERZOG, F. (2005): heit der Interessen besteht, sollten wir Naturschützer mit den Agri-environmental schemes as landscape experiments. Agricultu- zahlreichen Menschen, die eine ästhetische und das Kulturer- re, Ecosystems & Environment 108: 175-177.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 11 Kulturlandschaft und knappe Kassen – gibt es Auswege? Ulrich HAMPICKE

HILBIG, W. (2005): OPPERMANN, R. & A. KRISMANN (2003): Möglichkeiten zur Erhaltung bestandsgefährdeter Ackerwildpflan- Schonende Bewirtschaftungstechnik für artenreiches Grünland. In zen und ihrer Pflanzengesellschaften durch extensive Ackernutzung. Oppermann, R. & H.U. Gujer (Hrsg.) Artenreiches Grünland. Stutt- In U. Hampicke, H. Litterski & W. Wichtmann (Hrsg.) Ackerland- gart (Ulmer), S. 110-116. schaften – Nachhaltigkeit und Naturschutz auf ertragsschwachen Standorten. Berlin (Springer): 173-190. PROCHNOW, A. & R SCHLAUDERER (2002): Verfahren der Landnutzung zur Offenhaltung ehemaliger Truppen- HÖFT, A. (2003): übungsplätze. Agrartechnische Forschung 8: 47-54. Akzeptanz von Förderprogrammen zur naturschutzgerechten Grün- landnutzung im Landkreis Rügen. Diplomarbeit Universität Greifs- REDECKER, B., P. FINCK, W. HÄRDTLE, U. RIECKEN & E. wald. SCHRÖDER (Eds.) (2002): Pasture Landscapes and Nature Conservation. Berlin u.a. (Springer), ILLIG, H. (1990): 435 S. Feldflora-Reservate als neue Form von Naturschutzgebieten. Abhand- lungen und Berichte des Naturkundemuseums Görlitz 64: 99-101. REISINGER, E. & R. LANGE (2005): KAPHENGST, T., A. PROCHNOW & U. HAMPICKE (2005): Großflächige Beweidung – ein Praxisbericht aus dem Thüringer Ökonomische Analyse der Rinderhaltung in halboffenen Weideland- Wald. Landschaftspflege und Naturschutz in Thüringen 42: 142-148 schaften. Naturschutz und Landschaftsplanung 37:369-375. (Sonderheft 4/42: Vertragsnaturschutz in Thüringen). KARKOW, K. (2003): REISINGER, E., J. PUSCH & T. VAN ELSEN (2005): Wertschätzung von Besuchern der Erholungslandschaft Groß Zicker Schutz der Ackerwildkräuter in Thüringen – eine Erfolgsgeschichte auf Rügen für naturschutzgerecht genutzte Ackerstandorte in Deutsch- des Naturschutzes. Landschaftspflege und Naturschutz in Thüringen land. Diplomarbeit Greifswald. 42: 130-136 (Sonderheft 4/42: Vertragsnaturschutz in Thüringen). Karlstadter Positionspapier zum Schutz der Ackerwildkräuter (2004): ROTH, D. & W. BERGER (1999): Erarbeitet von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der „Tagung Kosten der Landschaftspflege im Agrarraum. In W. Konold, R. Bö- zum Schutz der Ackerwildkrautflora“ am 25./26.6.2004 in Karlstadt cker & U. Hampicke (Hrsg.) Handbuch Naturschutz und Land- am Main, Manuskript, 6 S. schaftspflege. Kapitel VIII-6, 18. S. ecomed, Landsberg a.L., Lose- KATZENBERGER, M. (2000): blattsammlung. Akzeptanzprobleme des Naturschutzes im Nationalpark Vorpommer- RÜHS, M., U. HAMPICKE & R. SCHLAUDERER (2005): sche Boddenlandschaft. Diplomarbeit Universität Greifswald. Die Ökonomie tiergebundener Verfahren der Offenhaltung. Natur- KLEIENBURG, T., A. MOST & J. PRÜTER (Hrsg.) (2006): schutz und Landschaftsplanung 37: 325-335. Entwicklung und Erprobung von Methoden für die ergebnisorien- tierte Honorierung ökologischer Leistungen im Grünland Nordwest- SCHILLING, A. Baron von (2003): deutschlands. NNA-Berichte 19, H. 1. Schneverdingen. Akzeptanz von Ökosystementwicklung nach natürlicher Wiederver- nässung einer Moorlandschaft am Beispiel des Anklamer Stadtbru- KLEIJN, D & W.J. SUTHERLAND (2003): ches. Diplomarbeit Universität Greifswald. How effective are agri-environmental schemes in conserving and promoting biodiversity? Journal of Applied Ecology 40: 947-969. TAMPE. K. & U. HAMPICKE (1995): Ökonomik der Erhaltung bzw. Restitution der Kalkmagerrasen und KTBL (Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft) des mageren Wirtschaftsgrünlandes durch naturschutzkonforme Nut- (2004): zung. In B. Beinlich & H. Plachter (Hrsg.) Schutz und Entwicklung Betriebsplanung Landwirtschaft 2004/2005. Münster, 573 S. der Kalkmagerrasen der Schwäbischen Alb. Beih. Veröff. Natur- LATACZ-LOHMANN, U & C.P.C.M. VAN DER HAMSVOORT schutz Landschaftspflege Baden-Württemberg 83: 361-389. (1998): Auctions as a means of creating a market for public goods from www.rheinische-kulturlandschaft.de/projekte/Boerdeprojekt/boer- agriculture. Journal of Agricultural Economics 49: 334-345. deprojekt.html MARGGRAF, R. (2003): Comparative assessment of agri-environmental programmes in fe- deral . Agriculture, Ecosystems & Environment 98: 507-516. MÜLLER, U. (2001): Anschrift des Verfassers: Erfassen der Konfliktsituation im Internationalpark „Unteres Oder- Prof. Dr. Ulrich Hampicke tal“. Diplomarbeit Universität Greifswald. Lehrstuhl für Landschaftsökonomie Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät OPPERMANN, R. & G. BRIEMLE (2002): Ernst-Moritz-Arndt-Universität Blumenwiesen in der Landwirtschaftlichen Förderung. Erste Erfah- Postanschrift: rungen mit der ergebnisorientierten Förderung im Baden-Württem- Botanisches Institut bergischen Agrarumweltprogramm MEKA LL. Naturschutz und Grimmer Str. 88 Landschaftsplanung 34: 203-209. 17487 Greifswald Tel.: 0 38 34/86 4122 OPPERMANN, R. & H.U. GUJER (Hrsg.) (2003): e-mail: [email protected] Artenreiches Grünland bewerten und fördern. MEKA und ÖQV in der Praxis. Stuttgart (Ulmer).

12 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft

Ludwig SOTHMANN Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft1) Biodiversity in Rural Areas – Insuring the Future of our Society

Gliederung Summary Zusammenfassung/Summary Our society faces a shortage of classical resources such as water, soil and mineral resources as well as a dramatic loss 1. Verluste als Hauptprobleme of biodiversity and a continuing decline of landscape beauty. 2. Warum ist Biodiversität so wichtig? Climate change and the increasing cultivation of energy crops 3. Ressource ästhetische Kulturlandschaft erhalten can have substantial effects on both biodiversity and sce- 4. Klimaveränderung und Ländlicher Raum nery. 4.1. Klimaveränderung und Nachwachsende Rohstoffe The value of biodiversity is shown, among other things, in the 4.2. Auswirkung der Klimaveränderung auf die Arten importance of natural resources for the development and 5. Was ist zu tun? production of modern medicines. The open landscape has 5.1 Wanderkorridore schaffen numerous positive effects on the common welfare. The re- 5.2 Stärkung der Zweiten Säule der Agrarförderung 5.3 Gute fachliche Praxis zu NaWaRos entwickeln source, the cultural landscape with a diverse structure, clear- ly needs to be better recognised and developed for its non- 6. Zwei positive Beispiele material value and as a substantial factor for the develop- 6.1 Rotviehprojekt in Tännesberg 6.2 Wiesenweihenschutz auf der Mainfränkischen Platte ment of rural areas and sustainable tourism. 7. Resümee One needs to safeguard this value by taking appropriate precautions (such as guarantying common welfare effects Literaturhinweise provided by the forest with the aid of the forest law). In this respect, the Codes of Good Agricultural Practice need to be Zusammenfassung put in concrete terms, defined and made obligatory in order Unsere Gesellschaft sieht sich der Verknappung klassischer to achieve this goal. Ressourcen wie beispielsweise Wasser, Boden, Bodenschät- In principle, a change in the agricultural policy needs to be ze sowie der dramatischen Abnahme der Biodiversität und urgently put through in order to ensure the development of dem Fortschreiten des Verlustes landschaftlicher Schönheit rural areas in a manner that actually protects diversity in the ausgesetzt. long run. This transformation must be flanked by clearly re- Die Klimaveränderung und der wachsende Anbau von Bio- deploying EU payments from the first to the second pillar. energiestoffen können erhebliche Auswirkungen auf Biodi- One needs to further develop the sustainability strategy in versität und Landschaftsbild haben. which rural areas play a leading role. Das Wertpotential der Biodiversität zeigt sich u.a. an der Be- In this context, two practical examples from projects of the deutung von Naturstoffen für die Entwicklung und Herstel- LBV (Landesbund für Vogelschutz, Association for the Pro- lung moderner Arzneien. Das Offenland ist für eine Vielzahl tection of Birds) are described. von Gemeinwohlwirkungen verantwortlich. Die Ressource „reich strukturierter Kulturlandschaft“ muss deutlich stärker als ideeller Wert, wie auch als wesentlicher Faktor für die 1. Verluste als Hauptprobleme Entwicklung des ländlichen Raumes und des Sanften Tou- Drei Hauptprobleme, denen sich unsere Gesellschaft am Be- rismus erkannt und entwickelt werden. ginn des 21. Jahrhunderts stellen muss, sind Verlustphänome- Es gilt diesen Wert durch entsprechende Leitplanken zu si- chern (ähnlich der Sicherung der Gemeinwohlwirkungen des ne. Es sind menschlich verursachte Entwicklungen, bei denen Waldes im Waldgesetz). Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine bislang reichlich vorhandene Gemeingüter teils dramatisch in Konkretisierung der guten fachlichen Praxis in diesem Sinne ihrer Verfügbarkeit für uns Menschen abnehmen. Dadurch wer- zu formulieren und verbindlich zu machen. den Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten kommender Grundsätzlich muss für eine Entwicklung des ländlichen Rau- Generationen beschränkt. Es ist dies einmal die Verknappung mes, die auch wirklich die Vielfalt nachhaltig sichert, dringend klassischer Ressourcen, wie beispielsweise Wasser, Boden, Erd- ein Wandel in der Agrarpolitik durchgesetzt werden, der flan- öl und andere Bodenschätze; es sind zweitens die dynamisch kiert werden muss von einer deutlichen Umschichtung der EU-Fördermittel von der ersten in die zweite Säule. Es gilt zunehmenden Verluste an Biodiversität und drittens ist es das die Strategie der Nachhaltigkeit fortzuentwickeln, wobei der fortschreitende Verschwinden landschaftlicher Schönheit, also ländliche Raum eine zentrale Rolle einnimmt. der Verlust der Ressource ästhetische Kulturlandschaft. Dazu werden zwei Beispiele aus der Projektpraxis des LBV Das alles wird überlagert von einer zunehmenden Klimaver- geschildert. änderung, die verstärkend bis auslösend auf die drei geschil-

1) Vortrag bei der Veranstaltung der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege zum Thema „Ländliche Räume im Aufwind?“ am 24. Januar 2007 in Miesbach

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 13 Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft Ludwig SOTHMANN derten Problemfelder wirkt. Der Sturm Kyrill (am 18.1.2007) 2. Warum ist Biodiversität so wichtig? hat als Indiz dieser Klimaveränderung vor 6 Tagen wieder ein- mal gezeigt, wie diese von uns bewirkten Veränderungen uns Ganz einfach: Weil wir sie brauchen, weil unser Wohlstand alle treffen oder betreffen können. Das können schlimme per- und unsere Entwicklung von ihr abhängig sind. sönliche Schicksale sein, volkswirtschaftliche Großschadens- Der Standpunkt, was machen denn ein paar Tiere oder Blumen ereignisse sind diese sich häufenden Orkane, Überschwem- mehr oder weniger schon aus, ist längst als arrogante Dumm- mungen, Bergrutsche usw. allemal. heit enttarnt. Die genetischen Informationen, die die einzelnen Dieser Entwicklung mit einer Reparaturgesinnung zu begeg- Arten für uns bereithalten, sind die entscheidende Ressource nen, reicht nicht. Der Ansatz, Dämme erhöhen, Luftfilter ver- für die Menschheit. Die Artenvielfalt ist das Grüne Gold der bessern, greift zu kurz. Gene und das ist etwas ganz anderes, als uns z.Zt. Syngenta, Du Pont, Monsanto und andere mit allen Tricks und wirtschaft- Wir müssen, wenn wir die Zukunft für uns und kommende lichem Druck aufdrängen wollen. Generationen gewinnen wollen, dringend akzeptieren, dass wir die Entwicklung unserer Zivilisation innerhalb der ökologi- Das Grüne Gold der Gene sind vielmehr die Chancen und Mög- schen Belastungsgrenzen dieses Planeten organisieren müssen. lichkeiten, die uns die Evolution schenkt. Dazu gehört auch die Dazu gibt es keine Alternative. durch klassische Züchtung entstandene Rassen- und Sorten- vielfalt bei pflanzlichen und tierischen Nutzarten. Wir sind Die Strategie der Nachhaltigkeit muss also fortentwickelt dabei, fehlgeleitet von einigen Global Players, auch dieses Ka- werden, es sind neue Ansätze zu wagen. pital leichtfertig zu verspielen. Bäuerliche Intelligenz hat uns Der Ländliche Raum nimmt hierbei eine zentrale Rolle ein. an die jeweiligen Naturräume optimal angepasste Züchtungen, Wir haben im Rahmen der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft z.B. ca. 3000 Weizensorten, 5000 Sorten Reis und noch mehr und der 2008 folgenden Weltbiodiversitätskonferenz die ein- Maissorten geschenkt. Heute liefern dagegen weltweit weniger malige Gelegenheit, diese notwendige Entwicklung zu einer als 30 Arten 95% der pflanzlichen Nahrungsmittel. qualifizierten Nachhaltigkeit durch konzeptionelle Ideenvielfalt Es ist kein Naturgesetz, dass Einfalt Vielfalt schlagen muss. und teils auch durch bereits erfolgreich erprobte Verfahren im Es sind vielmehr die rücksichtslos gewollten und Abhängig- Sinne von „best practice“ zu fördern. keiten erzeugenden Marktstrategien großer Trusts. Wenn wir Das Thema Ländlicher Raum lässt sich nicht alleine mit Ag- nicht kurzfristig vehement gegensteuern, geht eine Säule des rar-, Infrastruktur- und Wirtschaftsförderungen abarbeiten. Es Reichtums des Ländlichen Raumes unwiederbringlich verloren. ist originär auch nicht nur ein Landwirtschaftsthema, sondern Theoretisch gibt es 3 250 Apfelsorten. Überlegen Sie einmal, eine Vielzahl anderer gesellschaftlicher Felder hängen vom wie viele davon Sie selbst in einem gut sortierten Fachge- Zustand des Ländlichen Raumes ab und von der Richtung, in schäft noch finden. In den Bauerngärten sieht es noch etwas der die Gesellschaft und die Politik diesen entwickeln. besser aus. Aber auch hier mit der Tendenz: abnehmende Viel- Der zentrale Parameter für qualifizierte Nachhaltigkeit ist die falt. Entwicklung der Biodiversität. Diese umfasst sowohl die Viel- Reichtum ist Biodiversität falt der Arten und Lebensräume als auch die genetische Viel- Die Qualität des Ländlichen Raumes und der Reichtum an Bio- falt innerhalb der einzelnen Tier- und Pflanzenarten. Unser Ziel diversität hängen direkt zusammen. Artenvielfalt leitet sich muss sein, diese Vielfalt an Naturräumen und Arten zu erhalten von Biotopvielfalt ab. Wo anders ließe sich diese erhalten oder und gleichzeitig deren angemessene Nutzung zu organisieren. neu realisieren als im Ländlichen Raum? Weil die Bedeutung Dies gilt auch für alte Kulturpflanzensorten und Nutztierras- der Biodiversität geradezu chronisch verkannt wird, lassen sen, deren Vielfalt auch gegen die Interessen der Saatgutmul- Sie mich aus meinem beruflichen Alltag als Apotheker und tis im Rahmen einer nachhaltigen Nutzung erhalten werden Ernährungsberater ein paar Beispiele aufführen, die den Wert müssen. und das Potential der Biodiversität deutlich machen. Mit der Zukunftsressource Biodiversität steht es nicht zum Bes- Ganz allgemein gilt, dass in Deutschland, dem Pharma-Export- ten. Wenn keine Trendwende gelingt, wird die Entwicklung land Nummer 1, rund 50% der gebräuchlichen Arzneimittel katastrophal werden. Durch menschliches Handeln sterben mit auf Heilpflanzen bzw. deren Inhaltsstoffen beruhen. In den sich beschleunigender Tendenz Arten aus. Das Dramatische Entwicklungsländern reicht dieser Anteil oft über 90% hin- an der Situation ist, dass die Geschwindigkeit des Artenster- aus. Der weltweite Umsatz von Arzneimitteln pflanzlichen bens in hundert- bis tausendfach höherem Tempo geschieht, Ursprunges liegt bei rund 20 Milliarden US-Dollar jährlich. als die natürlichen Prozesse des Werdens und Vergehens. Der pflanzliche Ursprung bei Arzneimitteln bedeutet weit mehr In Deutschland sind 3% der Tierarten bereits ausgestorben. als die uns bekannte Heilkraft der Kamille, die krampflösen- Weitere 40% sind in ihrem Bestand bedroht oder regional ver- de Wirkung der Pfefferminze oder die Entzündungshemmung schwunden. Trotz der völkerrechtlich verbindlichen interna- von Arnika und Beinwell. tionalen Übereinkommen wie der Biodiversitätskonvention von Ungefähr jeder 10. bis 15. Erwachsene hat bei uns in Mitteleuropa er- 1992 und trotz der vor 6 Jahren in Göteborg von der Europä- höhte Cholesterinwerte bzw. ein ungutes HDL-LDL-Verhältnis. Vor 20 ischen Union ausgerufenen Nachhaltigkeitsstrategie, die das Ziel Jahren war dies der Freifahrtschein zu schweren Herz- und Kreislaufer- hat, den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen. krankungen, möglicherweise mit Schlaganfall und Herzinfarkt. Heute hat die Krankheit viel von ihrem Schrecken verloren, weil wir sie mit Sta- Beide Vereinbarungen sind bislang eher konsequenzlose Wil- tinen effektiv behandeln können, einer Wirkstoffklasse, die aus einem lenserklärung geblieben. unscheinbaren Pilz entwickelt wurde. Das gleiche gilt für hocheffiziente

14 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Ludwig SOTHMANN Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft

Krebsmittel wie die Taxole beim Mamakarzinom aus der pazifischen sen und sollen alles tun, den Ast nicht abzusägen, auf dem ei- Eibe oder für die beiden meist verordneten Mittel gegen Leukämie bei ne ganze Reihe von uns sich relativ erfolgreich niedergelassen Kindern, Vinblastin und Vincristin, beide aus dem madagassischen Im- hat. Zahlreiche Existenzen im Ländlichen Raum hängen von mergrün gewonnen oder Mittel gegen die Abstoßung transplantierter Organe, die wiederum aus einem unscheinbaren Pilz entwickelt wurden. der Ressource ästhetische Kulturlandschaft ab. Dass viele Antibiotika, besonders die Penicilline und Folgeentwicklungen Deshalb muss uns stutzig machen, dass Städtereisen zu La- aus Pilzen isoliert wurden, ist spätestens seit Orson Welles Kultthriller sten der Ferien auf dem Land in den letzten Jahren zugenom- „Der Dritte Mann“ bekannt. Daneben faszinieren neue viel versprechen- men haben. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass kaum de Entwicklungen, die allerdings die Forschungslabors noch nicht ver- jemand große Freude empfindet, zwischen teils kilometerlan- lassen haben. So wird derzeit aus dem Speichel eines Andenfrosches ein gen monotonen Raps- oder Maisschlägen spazieren zu gehen Analgeticum gebaut, das 200mal stärker als Morphium wirken soll, ohne mit dessen negativen Nebenwirkungen belastet zu sein, oder man hat aus und das möglicherweise noch eingehüllt in Güllewolken. Es ist einer Grubenotter ein Enzym isoliert, das Blutgerinnsel hochwirksam eminent wichtig, dass wir den Gemeinwohlwert unserer Land- auflösen soll und damit der Soforttherapie des akuten Schlaganfalls eine schaft und nicht irgendeine Ertragslinie erhöhen müssen. neue Dimension geben könnte. Wenn wir uns dazu entschließen, entwickeln wir den Ländli- Diese Beispiele sollen genügen um klarzumachen, dass die chen Raum zu einem Identität stiftenden Lebensumfeld, in dem Sicherung der Biodiversität, also der Erhalt der Artenvielfalt, Modernität, Arten- und Biotopreichtum, Sanfter Tourismus und eine für uns alle herausragende Bedeutung hat und alles an- die Produktion gesunder Lebensmittel nebeneinander und mit- dere ist als eine den Fortschritt verhindernde Ökospinnerei. einander erfolgreich sind. Genauso wichtig ist die biologische Vielfalt für die Wachs- 4. Die Klimaveränderung trifft den Ländlichen tumsbranche Bionik, in der sie für zahlreiche technische In- Raum besonders stark novationen verantwortlich ist. Die überragende Bedeutung der 4.1 Klimaveränderung und nachwachsende Biodiversität gilt natürlich auch für die Landwirtschaft, wo die- Rohstoffe ser genetischen Ressource eine Schlüsselstellung dabei zu- kommt, unsere Kulturarten an die sich dramatisch verändern- Die emissionsbedingte Klimaveränderung ist ein hochkom- den Klimaverhältnisse anzupassen. Ganz allgemein gilt für plexer Prozess, vom Menschen verursacht und mit einem sehr die natürlichen Systeme, dass ein Verlust an Vielfalt die An- langen Bremsweg. Die Menschheit steht heute am Scheide- passungsfähigkeit an Umweltveränderungen verringert. Das weg: Entweder die Klimagase drastisch verringern oder nicht Postulat aus dem neuesten Umweltbericht der Bundesregie- verantwortbare Risiken und Hypotheken für kommende Gene- rationen in Kauf nehmen. Das heißt zu allererst, wir müssen rung ist also wichtig: Biologische Vielfalt erhalten und nach- unseren Energiehunger zügeln. Vor allem die Industriestaaten haltig nutzen. müssen weit mehr tun als bisher. Das Kyoto-Protokoll ist die 3. Ressource ästhetische Kulturlandschaft allerunterste Zielmarke des Notwendigen. Wir müssen lernen, erhalten sparsamer, energieeffizienter, nachhaltiger und enkelverant- wortlicher zu leben. Nachwachsende Rohstoffe, Bioenergie- Der Verlust an landschaftlicher Schönheit schreitet fort. Dieser pflanzen heißt ein alternativer Lösungsansatz. Vorgang ist nicht ohne Auswirkungen auf unsere Lebensquali- tät, unsere Empfindungen, er hat letztlich auch wirtschaftliche Und so rollt ein weiteres Problem mit Macht auf den Ländli- Bedeutung. Natürlich können wir Lebensmittel nicht museal chen Raum zu. produzieren, aber es ist genauso wenig sinnig, in einem extre- Energiepflanzen und nachwachsende Rohstoffe sind nicht oh- men Hochlohnland wie der Bundesrepublik eine Primärpro- ne Probleme für Vielfalt und Landschaftsbild. Was mit Rapsöl duktion wie die Landwirtschaft schwerpunktmäßig an Welt- und Rapsmethylester vor Jahren ganz klein begann, wird jetzt marktpreisen auszurichten. Dabei muss Strukturvielfalt genau- allenthalben als rosiger Zukunftshorizont für den Ländlichen so auf der Strecke bleiben, wie Arbeitsplätze im Ländlichen Raum gepriesen. Biogasanlagen boomen. 1300 Anlagen allei- Raum. Also der falsche Weg. ne in Bayern müssen gefüttert werden. Aus Rentabilitätsgrün- den sind standortnah produzierte Bio-Energiepflanzen nötig. In Kulturlandschaft steckt das Wort Kultur ja nicht von un- Nach einer Studie der Sparkassen erfordert eine Anlage je nach gefähr. Die reich strukturierte Kulturlandschaft ist eine ästhe- Größe 100 bis 300 Hektar produktionsnahe Anbaufläche. Das tische Ressource von hohem Rang. bedeutet Monotonie statt Vielfalt, mit dem ganzen Katalog an Wir Menschen brauchen positive Naturerfahrungen, um psy- Nebenwirkungen, die gegen die Gemeinwohlpflichtigkeit der chisch gesund zu bleiben, unsere soziale und kreative Kom- Landschaft stehen. petenz zu stärken und um Aggressionen abzubauen. Wir müs- Der Strom der Zukunft kommt von Bauern, titelte die Süd- sen in der Landschaft regionale Identität erleben können, um deutsche Zeitung vor 14 Tagen. Ganz in diesem Sinne hat die Heimatgefühl und Verbundenheit mit Natur und Landschaft EU ihre Ziele in der Richtlinie 2003/30 EU formuliert, 2005 zu entwickeln, aus der wiederum Verantwortung für die uns hat das Bayerische Landwirtschaftsministerium diese in sei- anvertraute Schöpfung erwächst. nem „Gesamtkonzept nachwachsende Rohstoffe“ auf Bayern Daneben ist diese Ressource Kulturlandschaft eine entschei- zugeschnitten. Das Ergebnis: Bis 2010 müssen 5,75% aller dende Voraussetzung für naturnahen, nachhaltigen Tourismus. Kraftstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen stammen. Auf die- Der Tourismus ist mit einem jährlichen Umsatz von 24 Milliar- sem Weg sind 2006 in Deutschland zwei Anlagen in Betrieb den Euro ein ganz wesentlicher Wirtschaftsfaktor im Freistaat. gegangen, die jährlich 460 000 Tonnen Getreide in Benzin Wir sind Tourismusland Nummer 1 in der Republik und müs- verwandeln.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 15 Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft Ludwig SOTHMANN

Nun hat das Konzept, nachwachsende Rohstoffe zu Biokraft- Diese Migrationsbewegungen werden auch behindert und teil- stoffen oder Biogas zu verarbeiten unter der zunehmenden weise verhindert, weil es für die Arten an geeigneten Wander- CO2-Last schon seinen Reiz, aber diese Strategie wirft zahl- korridoren in unserer Landschaft fehlt. Da rächt sich, dass reiche Fragen in Richtung Gemeinwohlwirkung und Zukunfts- beispielsweise große Raps- und Maisschläge für Laufkäfer, fähigkeit des Ländlichen Raumes auf. Schmetterlinge und andere Arten klassische Barrieren dar- Es gilt nämlich zu bedenken, dass hier Lebensmittel zu Indus- stellen, die Inselsituationen provozieren. trierohstoffen werden. Das bedeutet, Preisdumping bei den Die Arten reagieren unterschiedlich auf die klimabedingten Rohstoffen, übermächtige Marktpartner für die Landwirte Veränderungen. Mobile Arten sind vorläufig die Gewinner die- und es scharren schon die Lobbyisten mit den Hufen, die hier ser Entwicklung. Sie haben einen klaren Wettbewerbsvorteil. den großen Einstiegsmarkt für gentechnisch-veränderte Pro- Spezialisierte Arten – das sind die unter dem Gesichtspunkt dukte sehen. des Ressourcenschutzes meist besonders wichtigen – zeichnen Beim großflächigen Anbau traditioneller Feldfrüchte als Ener- sich häufig durch größere Standorttreue aus. Sie sind schon giepflanzen kommt es zu gravierenden Veränderungen im jetzt durch die Belastungen und Fragmentierungen der Land- biologischen System der Kulturlandschaft. Es kommt zudem schaft erheblich beeinträchtigt. Sie werden durch klimabeding- zu einer deutlichen Flächenkonkurrenz zwischen Biokraftstoff- te Veränderungen ihrer Standortparameter besonders betroffen. produktion und naturverträglicher Lebens- und Futtermittel Das Ergebnis wird also eine deutliche Änderung der Artenzu- produzierender Landwirtschaft. Der Trend, das Maximum aus sammensetzung sein mit starker Dominanz mobiler Genera- Boden und Pflanze herauszuholen, wird sich mit allen Folgen listen. in dieser Sparte der Landwirtschaft, die dann Energiezuliefer- 5. Was ist zu tun? Was können wir tun? industrie wird, deutlich verstärken. Meine Damen und Herren, unser energieverschwendendes, unsoziales Ego ist dabei, die Wie soll der Ländliche Raum der Zukunft aussehen? Landschaft aus Eigennutz umzukrempeln. Wie müssen wir der Klimaveränderung begegnen? Es kommt hinzu, dass schon heute 20% des Futtermittelbe- 5.1 Wanderkorridore darfes der deutschen Landwirtschaft aus Importen, z.B. aus Wir müssen in der Landschaft Wanderkorridore für Arten Brasilien und den USA, gedeckt werden. Geht mehr von den schaffen, d.h. die Segmentierungen auflösen und Barrieren im eigenen Land produzierten Futtermitteln in die Energie- agrartechnischer und anderer Art beseitigen. Dazu braucht es umwandlung, induzieren wird damit indirekt einen weiteren entsprechende Planungsinstrumente und Umsetzungsstrate- Verlust tropischer Regenwälder, zumal auch Palmöl als Treib- gien. Eine Herausforderung für alle, besonders für die Land- stoff eine große Zukunft vorausgesagt wird. schaftsökologie und die Direktion für ländliche Entwicklung. Gleichzeitig wird mit so genannten Energiewäldern experi- Das Problem der klimabedingten Desynchronisation natürli- mentiert. Das sind schnell wachsende Balsampappeln und cher Funktionszusammenhänge kann durch eine solche Ver- Aspensorten, die eine enorme Wachstumsleistung zeigen und netzunginitiative zwar nicht behoben, aber vermutlich deutlich in Stockausschlägen genutzt werden können. Sie erzielen ver- entschärft werden. Desynchronisation klingt abstrakt, kann wertbare Energie, die pro Jahr und Hektar 5 000 Litern Heiz- aber massive Auswirkungen auf den Ländlichen Raum haben. öl entsprechen. Das ist sicher ein interessantes Ergebnis, aber Beispielsweise muss das Blühen von Blumen und Bäumen das Landschaftsbild bereichern solche Wälder nicht, Arten- und die größte Aktivität bestäubender Insekten etwa zeit- vielfalt hat in diesen Monokulturen keine Chance. gleich sein. Oder: Das Massenauftreten bestimmter Mücken- 4.2 Die direkten Auswirkungen der larven muss zeitlich mit dem höchsten Nahrungsbedarf von Klimaveränderung auf die Arten Vögeln in der Jungenaufzucht übereinstimmen. Die Evolution Arten haben bestimmte Ansprüche an den Lebensraum. Die hat diese Abstimmung in einer langen Entwicklung hervorge- wichtigsten sind Nahrung, Wärme und Wasser. Nachdem sich bracht. Durch die Klimaveränderung verschiebt sich auch der mindestens die Faktoren Wärme und Wasser gegenwärtig Zeitplan der Natur und zwar von Art zu Art unterschiedlich. verändern, haben die Arten zwei Möglichkeiten, auf die neue Stellen Sie sich vor, unsere Nutzpflanzen werden nicht mehr Situation zu reagieren: oder nur noch teilweise bestäubt. Die Folgen wären eine Ka- a) Sie weichen aus z.B. durch Besiedlung neu entstandener tastrophe. Habitate, die ihren Ansprüchen genügen oder Auch um solchen Problemen zu entgehen, brauchen wir b) sie müssen sich evolutiv anpassen. Wanderkorridore, die ein Netz des Lebens und der Vorsorge Für beide Strategien gilt, dass das rasante Tempo der anthro- im Ländlichen Raum sein werden. Natura 2000 und Bayern- pogen bedingten Veränderungen dieser drei Parameter in der NetzNatur wirken in die richtige Richtung. Evolution nicht vorgesehen ist. 5.2 Stärkung der Zweiten Säule der Durch die Erwärmung zeigen schon jetzt bei uns viele Arten Agrarförderung eine deutliche Wanderbewegung nach Norden oder im Berg- Ich gehe davon aus, dass der Prozess, der durch die Biodiver- land in die Höhe. Diese Lebensraumverschiebung läuft 50 bis sitätskonvention angestoßen wurde, sich langsam durchsetzen 100 Mal schneller ab als nach der letzten Eiszeit. Besonders und unserem Umgang mit dem Ländlichen Raum neue Ziele Pflanzen werden dieses enorme Tempo nicht immer schaf- und Perspektiven geben wird. Die Vorbereitungen zur neuen fen, mit der Gefahr, dann auszusterben. ELER-Verordnung 2006 und die Bemühungen um deren na-

16 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Ludwig SOTHMANN Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft

Abbildung 1: Geographische Lage des LBV-Rotviehprojektes Tännesberg Figure 1: Geographical location of the German Red cattle (Rothvieh) project Tännesberg by LBV tionale Umsetzung haben bereits in diese Richtung gezeigt 2), Aus der Sicht der Gesamtgesellschaft gibt es zu einer höchst wenngleich sich diesmal noch die Großagrarier mit Welt- ökoeffizienten Entwicklung für den Ländlichen Raum keine marktorientierung durchgesetzt haben. Gestützt wurden diese Alternative. Der Königsweg dorthin ist ein ganzheitlicher An- Sonnleitners durch die kurzsichtige Haltung der vorigen Bun- satz, der eine win-win-Situation für Landwirte und Gesell- desregierung, die erste Säule der gemeinsamen Agrarpolitik, schaft schafft und Biodiversität sichert und erhält. die Direktzahlung, unangetastet zu lassen und die unausweich- Da das Ziel einer ökoeffizienten Entwicklung im Ländlichen lichen Sparmaßnahmen durch Kürzungen der zweiten Säule Raum nicht von heute auf morgen realisiert werden kann, muss zu realisieren. Die zweite Säule ist bekanntlich das zentrale schon jetzt im Rahmen dieser Leitlinie möglichst viel auf den Förderinstrument für den Ländlichen Raum, mit der Natur- Weg gebracht werden. schutzmaßnahmen durch die Landwirtschaft realisiert, die Wasserqualität im Rahmen der Wasserrahmenrichtlinie, die 5.3 Gute fachliche Praxis zu NaWaRos Dorferneuerung und vieles mehr finanziert werden sollen. Nachdem Energiehunger und politischer Wille nachwachsen- Diese Mittel wurden für die jetzt begonnene 7-jährige Förder- de Rohstoffe fordern und fördern, müssen wir also dringend periode um 430 Millionen Euro gekürzt und zwar deswegen, einschränkende Kriterien aufstellen, unter denen eine solche weil die deutsche Agrarpolitik das so gewollt hat, weil von Neuausrichtung der Landwirtschaft allenfalls möglich sein deutscher Seite die von der EU gewünschte fakultative Mo- kann. Maximale Flächengröße, zwingend vorgeschriebene dulation zu Lasten der Gesellschaft nicht gewollt wurde. Fruchtfolgen, konkrete Kriterien der guten fachlichen Praxis Für Bayern heißt dies, dass 103 Großagrarier genauso viele und verlässliche Anteile an Schutzflächen und Wanderachsen, Fördermittel bekommen wie die restlichen 27 000 landwirt- raumnah und korrespondierend zu solchen Produktionsberei- schaftlichen Betriebe. Die vier größten kassieren jährlich zwi- chen. schen 300000 bis 500 000 2. Südzucker gehört beispielswei- Die Meldungen sind nicht neu. Die Gefährdung gerade der Ar- se dazu. Geld, das vermutlich auch dazu investiert werden wird, ten des Offenlandes, der Feldflur also, nimmt kontinuierlich, um Arbeitsplätze wegzurationalisieren. Sozial ist dies nicht, teils sogar dramatisch zu. Allerweltsarten wie Goldammer nachhaltig ist dies nicht und ökologisch sinnstiftend ist dies und Feldlerche sind genauso betroffen wie Ortolan oder Kie- auch nicht, es schadet dem Ländlichen Raum. bitz. Vor allem die fortlaufende Intensivierung der Landwirt- Ich bleibe Optimist; der Wandel zu qualitativer Nachhaltig- schaft, aber auch das Brachfallen traditionell genutzter Flä- keit im Ländlichen Raum wird kommen, die Gemeinwohlwir- chen, der Rückzug der Landwirtschaft aus peripheren Räumen, kungen im Agrarbereich werden die gleiche Bedeutung be- all dies setzt dem Lebensraum „Feldflur“ erheblich zu. kommen wie im Forst. Der Weg dorthin ist sicher nicht leicht. Es muss also unser Ziel sein, eine zentrale Qualität des Länd- Er muss mit den Landwirten bestritten werden, er muss ihnen lichen Raumes, nämlich die Bewohnbarkeit der offenen Land- eine wirtschaftlich sichere berufliche Zukunft garantieren. schaft für Pflanzen und Tiere wieder ins Lot zu bringen. Eine

2) ELER-Verordnung: Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 17 Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft Ludwig SOTHMANN nachhaltige, naturverträgliche, multifunktionale bäuerliche verlässliches Einkommen erschlossen worden. Die regelmäßig Landwirtschaft ist der sicherste Weg dazu. Er muss von allen von uns veranstalteten Tännesberger Rotviehwochen sind ein Akteuren gewollt sein. Wir Verbraucher können auf diese besonderes, regionales Erlebnis. Von der heimischen Gastro- Entscheidung einen erheblichen Einfluss nehmen. nomie werden Rotviehspezialitäten angeboten. Neben einem Natur betonten Unterhaltungsprogramm für alle, vor allem auch Touristen, finden wissenschaftliche Vorträge sowie bäu- erlicher Gedankenaustausch statt. Wir haben hier eine nachhal- tige regionale Lösung realisiert, die sich auch rechnet. Natur- schutz der schmeckt, der Freude macht und Freunde gewinnt.

Abbildung 4: Feldlerchen-Fenster, ein schon in England erprob- tes Verfahren zum Schutz der Feldlerche Abbildung 2 u. 3: Rotes Höhenvieh, vulgo Rotvieh, eine vor dem Figure 4: A window for field larks, a technique for the protec- Aussterben zu bewahrende Rinderrasse tion of the field lark (Alauda arvensis), already tested in England Figure 2 and 3: Red mountain cattle, commonly German Red, a cattle breed to be protected from extinction 6.2 Der Wiesenweihenschutz auf der Mainfränkischen Platte 6. Zwei positive Beispiele: Er ist in Kooperation mit den dortigen Landwirten fachlich ei- 6.1 Das Rotviehprojekt in Tännesberg ne kaum vorstellbare Erfolgsstory geworden. Von ehemals zwei Paaren 1994 dieser hoch bedrohten Greifvögel ist der Bestand Ein ganzheitlicher Ansatz zur Aufwertung des Ländlichen innerhalb von 10 Jahren deutlich über 100 Brutpaare angestie- Raumes wurde vom LBV und Partner mit dem Rotviehprojekt gen. Möglich wurde dies durch Vogelkundler, die die Brutplät- beschritten (Abb.1). Es wurde aus Mitteln der Glücksspirale ze feststellten, unbürokratisch agierende Naturschutzbehörden, und des Bayerischen Naturschutzfonds gefördert und hat die den Landwirten den Nutzungsausfall erstattet haben und standortgerechte Landschaftspflege von ökologisch wertvol- eben vor allem den Landwirten, die bereit waren, das Horstum- len Flächen mit einer in Bayern ausgestorbenen Rinderrasse, dem Roten Höhenvieh, vulgo Rotvieh (Abb. 2 u. 3), reali- feld bis zum Ausfliegen der Jungen nicht zu bewirtschaften. siert. Die Qualität dieses Projektes liegt u.a. darin, dass es für Diese Kooperation steht auf so soliden Füßen, dass wir sie gelebte Kooperation der verschiedenen Akteure im Ländlichen auf den Schutz der Feldlerche erweitern konnten. Mit diesem Raum steht, es also als Modell konsensualer Problemlösung schon in England erprobten Lerchen-Fenster-Verfahren gelten kann. Es ist von der lokalen Bevölkerung akzeptiert und (Abb.4) konnten wir zeigen, dass Raumqualität für die stark wird als Bereicherung ihrer Region verstanden. Die Landschaft unter Druck geratenen Tiere der Feldflur mit einfachen Mit- im Projektgebiet ist kein gesellschaftlicher Pflegefall mehr, teln zurückgeholt werden kann. Der Landwirt schaltet ledig- den beteiligten landwirtschaftlichen Familienbetrieben ist ein lich die Sämaschine beim Säen für ein paar Meter aus, sodass

18 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Ludwig SOTHMANN Biodiversität im Ländlichen Raum – Zukunftssicherung unserer Gesellschaft

Abbildung 5: Wiesenweihe (Circus pygargus) (Foto: LBV) eine Fehlstelle im Getreideacker entsteht. Wenn das Winterge- Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit treide für die Bodenbrüter zu dicht und zu hoch wird, haben (2006): Feldlerchen eine Landebahn und Futterplatz in einem, aber Umweltbericht 2006 – Umwelt-Innovation-Beschäftigung, Stand Ok- tober 2006 auch Rebhuhn, Hase und andere profitieren davon. Leben kehrt in den Acker zurück. Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Ver- braucherschutz (2002): 7. Resümee Nachhaltige Entwicklung Bayern 2002 – Aktionsprogramm und Bi- lanz 1992-2002 Von LEADER über BayernNetzNatur bis zu Agroforst-Kon- Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung (2000): zepten, die mit Vielfalt erfolgreich Biomasse produzieren, gibt Globale Umweltveränderungen. Jahresgutachten 1999 – Welt im es zahlreiche Projekte, die den Ländlichen Raum ökologisch Wandel: Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Biosphäre aufwerten. Wir haben also ausreichend Auswahlmöglichkeiten Bundesregierung (2002): für Einzelvorhaben. Perspektiven für Deutschland. Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung Es ist für unser aller Zukunft entscheidend, dass wir zu einer Entwicklung kommen, in der die Gemeinwohlwirkungen ein- Bayerisches Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten (2005): schließlich der Biodiversitätssicherung in der grundsätzlich Gesamtkonzept Nachwachsende Rohstoffe nachhaltig und damit ökoeffizient genutzten Landschaft als verbindliche und gesellschaftliche Ziele fachlich und wirt- schaftlich abgesichert werden. Wir brauchen umgehend eine praxisnahe Nachhaltigkeitsstrategie für den Ländlichen Raum. In ein solches Konzept müssen Systeme wie Natura 2000, die zu planenden Wanderkorridore und andere Naturschutz be- tonte Strukturen ausreichend dimensioniert werden. Denn der Ländliche Raum ist das Herz, die Lunge, er ist die Zukunft unserer Gesellschaft. Anschrift des Verfassers: Literaturhinweise Ludwig Sothmann BURGER F., J. HAHN & F. ZORMAIR (2006): LBV- Landesgeschäftsstelle Energie aus Holz AFZ – Der Wald 18/2006 Eisvogelweg 1 91161 Hilpoltstein Bundesregierung (2006): [email protected] Entwurf (Stand 30.05.2006): Nationaler Strategieplan der Bundes- republik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 19 Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens

Klaus Michael MEYER-ABICH Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens – Plädoyer für einen agrikulturellen Naturschutz Order and disorder in the cultural landscape A plea for agri-cultural nature conservation1)

Gliederung …umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich’s nicht zum Starren waffne, 1. Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens Wirkt ewiges lebendiges Tun. 2. Unruhe und Ordnung in der Landschaftsgeschichte (Goethe, Eins und Alles, HA I 368f.) Mitteleuropas 3. Einbettung der Landwirtschaft in den Naturzusammenhang Wenn der Gegensatz zwischen Landwirtschaft und Naturschutz 4. Literatur sich allmählich auflösen würde, wofür es Chancen zu geben scheint, könnte dies beiden Seiten zugutekommen. Denn für Zusammenfassung die Landwirtschaft bewährt es sich letztlich auch wirtschaft- Die frühere Artenvielfalt in Mitteleuropa war eine Folge der lich nicht, durch die zunehmende Intensivierung Tiere und Landwirtschaft, als sie noch Agri-Kultur war. Statt der indus- Pflanzen in der Massen-Produktion nur noch als Ressourcen triellen Landwirtschaft wieder überzugehen zu einem kultivier- zu behandeln, und ein angemessener Umgang mit Lebewesen teren Umgang mit Tieren und Pflanzen, Böden und Gewässern kann dies allemal nicht sein. Im Naturschutz wiederum zeigt bietet deshalb die besten Chancen nicht nur für die artge- rechte Tier- und Pflanzenhaltung, sondern auch für den Na- sich immer mehr, dass man die ausgegrenzten wie die land- turschutz. Dieser Verbindung von Landwirtschaft und Natur- wirtschaftlich aufgegebenen Gebiete nicht einfach der Ver- schutz dient z.B. eine halboffene Weidelandschaft, in der wilderung nach der ,natürlichen Sukzession‘ überlassen darf, Nutztiere als Landschaftspfleger weiden. Der Zweite Haupt- denn dadurch entsteht keine Artenvielfalt, wie man sie doch satz der Thermodynamik und Beispiele wie die Analyse des eigentlich wiedergewinnen möchte. Die mitteleuropäische Herzschlags bestätigen, dass Beständigkeit mit etwas Chaos Kulturlandschaft ist in ihrem Artenreichtum ja auch nicht da- eine Grundform des Lebens ist. durch entstanden, dass man nichts getan hat, sondern dadurch, Ein Rückblick in die Landschaftsgeschichte Mitteleuropas dass in einer kultivierten Weise Landwirtschaft – als Agri-Kul- zeigt, dass es mit der Holzverknappung im 18. Jahrhundert tur – betrieben worden ist. sowie mit den ‚Verkoppelungen‘ und den vielen Trockenle- gungen zu einer Ordnungsoffensive gekommen ist, in der das In der Landwirtschaft wieder zu einem kultivierten Umgang Ende der Agri-Kultur schon vor der Industrialisierung einge- mit Tieren und Pflanzen, Böden und Gewässern überzugehen setzt hat. Wenn die Landwirte ein Bewußtsein davon gewän- bietet nach diesem historischen Vorbild auch für den Natur- nen, dass offene Ordnungen ein Kennzeichen des Lebens schutz bessere Chancen als die bloße Restriktion der Intensi- sind, könnten sogar Niedermoore wie das Donaumoos und vwirtschaft. Dadurch werden zwar die Kosten nicht gesenkt, andere Feuchtgebiete noch gerettet werden. aber durch die ,Kuppelproduktion‘ von Land- bzw. Waldwirt- Summary schaft und Naturschutz können erheblich weitergehende Zie- The former species diversity in Central Europe was a result le als in der Aufgabentrennung erreicht werden. Soweit die of agriculture which used to be „agri-culture“ at the time. Landwirtschaft in der Landschaftspflege gemeinnützige Auf- Therefore, moving from recent industrial agriculture back to gaben wahrnimmt, wird dies auch derzeit schon durch öffent- a cultivated attitude towards animals and plants, soils and waters is the best chance not only for keeping plants and liche Mittel honoriert. Entsprechende Prämien sollten in Zu- animals appropriate to their species but also for nature con- kunft allerdings nicht mehr für die Nichtbewirtschaftung, servation. A semi-open pasture land with grazing livestock sondern für die kultivierte Bewirtschaftung des Lands gezahlt shaping the landscape is a good example for combining the werden. interests of agriculture and nature conservation. The second Einer extensivierten Form der Landwirtschaft in der Tradition theorem of thermodynamics and examples such as the ana- lysis of the heartbeat confirm that stability mixed with some der früheren Agri-Kultur dient beispielsweise eine halboffene chaos is a basic feature of life. Weidelandschaft, in der Nutztiere – je nach Pflanzengemein- A review of the landscape history of Central Europe shows schaften insbesondere Schafe und Rinder – als ,Landschafts- that fuel wood scarcity in the 18th century as well as fencing pfleger‘ weiden. Der Reiz einer Gegend kann dadurch auch für pastures and drainage represent examples of an order cam- Touristen gesteigert werden. Es gibt inzwischen in Deutsch- paign, in which the end of „agri-culture“ has started already land schon eine ganze Reihe von Projekten dieser Art, einige before industrialisation. If farmers become more aware of the davon auf früheren Truppenübungsplätzen. Wichtige Vorar- fact that open orders are a feature of life, even mires such beiten sind in den Studien der Bayerischen Akademie für Na- as the „Donaumoos“ and other wetlands could be saved. turschutz und Landschaftspflege (ANL) dokumentiert. Be-

1) Vortrag auf der ANL-Tagung „Extensive Beweidung – eine Zukunftsperspektive für Landwirtschaft und Naturschutz“ am 23.-24. November 2006 in Karlshuld (HAUS im MOOS)

20 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Klaus Michael MEYER-ABICH Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens sonders bekannt geworden ist das Biosphärenreservat Rhön. schen – eine Erneuerung stattfindet. Wenn die Dinge ihrer Es besteht sogar die Chance, durch die allmähliche Umwid- umschaffenden Anverwandlung widerstehen, so dass sie der mung von Äckern zu extensiv genutzten Weideflächen noch menschlichen Erneuerung nicht folgen, scheinen sie sich da- Niedermoore wie z.B. das bayerische Donaumoos oder viel- gegen zum Starren zu waffnen. Der Mensch kommt nicht leicht auch das schwäbische Donauried zu retten, wenn die schon dadurch zur Welt, dass er einen eigenen Leib gewinnt, weitere Entwässerung in absehbarer Zeit beendet wird. sondern er braucht das darüber hinausgehende Wachstum in Eine rekultivierte Landwirtschaft, vor der man die übrige Na- die Welt hinein. Dies ist sein ,lebendiges Tun‘, das in der Ge- tur nicht mehr zu schützen braucht, sondern die ihrerseits zur nerationenfolge ein ,ewiges‘ wird. Schönheit und Artenvielfalt der Landschaft beiträgt, beginnt Wenn wir diese Antwort akzeptieren, ist damit etwas über die freilich in den Köpfen aller Beteiligten. Meinem Eindruck menschliche Identität im Mitsein mit den Dingen gesagt. Die nach sind es insbesondere tiefverwurzelte Vorstellungen von Dinge haben teil am Menschenleben und dem immer wieder Ordnung oder Ruhe und Ordnung bzw. Ordentlichkeit, die neuen Lebenssinn der einander folgenden Individuen. Deswe- einer Verbindung von Landwirtschaft und Naturschutz ent- gen sollten alle Ordnungen wandelbar oder elastisch bleiben. gegenstehen. Was beispielsweise die dadurch noch zu retten- Ein schöner Roman von Franz Hohler (Der neue Berg, 1989) den Niedermoore angeht, so meinen handelt davon, wie sich in dem ordentlichsten Land der Welt, • die Einen, zu einer ,ordentlichen‘ Landschaft gehöre es, dass also in der Schweiz, unter dem Zentrum dieser Ordnung – sie auf Äckern und Weiden auch ,ordentlich‘ genutzt werden Zürich – ein Vulkan bildet, so als gehe dieses Maß von Ordent- kann, und dazu dürfe sie nicht unnötig nass sein; lichkeit sogar der Natur zu weit. Wo eine Ordnung allzu lange • die Andern, es müsse nicht überall dieselbe Ordnung herr- nicht erschüttert wird, bleibt davon ja manchmal auch nur noch schen und für das Zusammenleben mit unserer natürlichen eine undurchlässige Fassade, hinter der sich die Dämonen Mitwelt solle je nach Art der Landschaft auch eine je beson- tummeln und gegen die ein Erdbeben vielleicht noch am be- dere Phantasie erlaubt sein; den Tieren genügten allemal ein sten hilft. Irgendwo habe ich einmal gelesen, sogar Gott sel- paar trockene Bereiche. ber schlage immer mal wieder alles kurz und klein, damit die Die Frage ist also, wie wir es in einer gemeinnützigen Land- Schöpfung die Chance des Neuanfangs bekomme. Eine Art wirtschaft lebendigerweise mit der Ordnung halten sollten. heilsame oder schöpferische Unruhe hat vielleicht auch Hera- klit gemeint, als er sagte: Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Ich schildere im folgenden (1.) wie zu einer lebendigen Ord- nung immer auch Spielräume von Unruhe gehören, in denen Die schöpferische Unruhe scheint eine Grundbedingung jeder nichts geregelt wird, damit sich – im Sinn des Goethe-Mottos lebendigen Entwicklung zu sein, damit das jeweils Bestehen- – „das Geschaffne … nicht zum Starren waffne.“ Ein Rück- de sich ,nicht zum Starren waffne‘. Joseph Schumpeter hat in blick auf die Kultur- bzw. Zivilisationsgeschichte der mittel- ähnlichem Sinn die „schöpferische Zerstörung“ als den Le- europäischen Landschaft zeigt (2.), wie Landwirtschaft und benskern der Wirtschaft verstanden. Ein Bild dafür ist, dass Naturschutz erst dadurch in einen Gegensatz zueinander ge- unsichtbare Kräfte ,wirklich‘ werden, wenn man ihnen durch raten sind, dass das Gleichgewicht zwischen Unruhe und Ord- eine leichte Unruhe die Chance zu wirken gibt, so wie sich Ei- nung in neuerer Zeit zu sehr zur Seite der letzteren hin ver- senspäne in einem Magnetfeld ordnen, wenn man sie auf einer schoben worden ist. Dieses Fazit verbindet sich (3.) mit dem Platte vibrieren lässt. Vorschlag, auch sonst so zu wirtschaften, dass Nutzungen in Unruhe und Ordnung sind gleichermaßen Charaktere der Evo- die Naturzusammenhänge eingebettet werden, so dass es des lution der Arten. Üblicherweise spricht man statt dessen von Umwelt-Schutzes vor den Wirtschaftsprozessen möglichst Mutation und Selektion in dem Sinn, dass sich durch die er- gar nicht erst bedarf. stere zufällige Variationen in der Artenentwicklung bilden, aus denen dann durch Selektion die Tauglichsten erhalten bleiben. 1. Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens Diese Entwicklung ist aber vor allem normbildend und erheb- Jede neue Generation wünscht sich und findet ihren Lebens- lich weniger durch Zufall geprägt als gewöhnlich angenommen sinn darin, die Welt nicht einfach wieder so zu verlassen, als wird. Denn durch Zufall entsteht lediglich eine Auswahl ge- sei sie gar nicht da gewesen. Warum eigentlich? Es hat immer ringfügiger Variationen dessen, was schon da ist. Welcher von mal wieder Generationen von Menschen gegeben, die mit dem ihnen aber in der weiteren Entwicklung Raum gegeben wird, Zustand der Welt, in dem sie sich eingerichtet hatten, so zu- richtet sich danach, welche am ehesten in die Welt passt. Es ist frieden waren, dass sie für ihre Kinder keinerlei Grund sahen, die jeweilige Beschaffenheit der Welt, (durch) die (sich) ent- daran noch irgend etwas zu verändern. In unserer Zeit ist dies scheidet, welche Veränderungen für die weitere Entwicklung im allgemeinen nicht der Fall, aber auch die Kinder der Zu- tauglicher sind als andere. Um die naturgeschichtlich sozusa- friedenen haben sich nicht damit begnügt, einfach so weiter- gen ausgesuchten und weiterführenden Variationen nicht als zuleben wie ihre Eltern. gut oder besser gegenüber dem vorangegangenen Zustand zu Das Goethewort, das ich diesem Aufsatz vorangestellt habe, bewerten, nehme ich Goethes Ausdruck der Steigerung auf, nennt einen Grund, warum alles immer wieder umgeschaffen der zumindest die historisch unbestreitbare Zunahme der Kom- werden muss: Weil sich’s sonst zum Starren waffnet. Es ist so, plexität unverfänglich bezeichnet. Die schöpferische Unruhe als wenn mit den immer wieder neu nachwachsenden Genera- dient dann der Steigerung von Ordnung. tionen jeweils auch ihre Beziehungen zu den Dingen erneuert Der Zustand der Biosphäre also ist vielleicht erstrebenswert, werden müssten, und dazu genügt es offenbar nicht, dass nur jedenfalls aber durch eine normative Kraft des Faktischen er- an dem einen Ende dieser Relation – durch die neuen Men- strebt worden. Welches die normierende Kraft der Entwicklung

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 21 Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens Klaus Michael MEYER-ABICH ist, durch die eine oder mehrere Variationen des jeweils Be- eine sinnvolle Bestimmung sein, zumal für die Bewegung des stehenden als weiterführend sozusagen ausgewählt und ande- Herzens, wenn es das Gefühlszentrum ist. re verworfen werden, kann hier offen bleiben. Wichtig ist vor Beständigkeit mit etwas Chaos scheint also die Grundform allem die Tatsache, dass eine solche Auswahl faktisch statt- des Lebens zu sein. Es sind nicht Ruhe und Ordnung, die sich findet. Verallgemeinert man den Begriff Wertung so über die im Lebendigen verbinden, sondern Unruhe und Ordnung. menschliche Subjektivität hinaus, dass unter mehreren mög- Dies hat Konsequenzen für die Bewertung der menschlichen lichen Wegen einer eingeschlagen wird und andere nicht, so Wirtschaftstätigkeit in der Natur. Einerseits ist unbestreitbar, handelt es sich sozusagen um eine naturgeschichtlich werten- dass die industrielle Wirtschaft im jetzigen Ausmaß nicht na- de Auswahl. Zwischen oder mit den Dingen also gibt es – so turverträglich ist. Andererseits aber können wir nicht ohne wie die Entelechie in ihnen – auch noch so etwas wie ein In- weiteres ausschließen, dass es des Guten zu viel ist, wenn der teresse in der Welt, Steigerungen hervorzubringen. Dieses In- natürlichen Mitwelt z.B. in Naturschutzgebieten umgekehrt teresse wirkt nicht selber weltverändernd, sondern dadurch, jegliche Wirtschaftstätigkeit erspart wird. Denn es könnte ja dass es aus zufälligen Variationen denjenigen – vermöge des sein, dass die Herausforderung durch den Menschen in ge- jeweiligen Zustands der Welt – die besten Chancen gibt, die wissen Grenzen der natürlichen Entwicklung dient. Ich gehe ihm am ehesten gerecht werden, so dass sie sich gegenüber den dieser Vermutung unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses anderen Variationen durchsetzen. von Unruhe und Ordnung für die Geschichte der mitteleuro- Der Zufall spielt in der Evolution also nur eine sehr geringe päischen Kulturlandschaft nach. Rolle, ist aber doch als die Unruhe, ohne die die neue Ord- nung keine Chance hätte, eine entscheidende Bedingung der 2. Unruhe und Ordnung in der naturgeschichtlichen Entwicklung. Auch hier ist es durch die Landschaftsgeschichte Mitteleuropas Zufallsschwankungen im Bestehenden eine Art ,Schütteln‘ Während der letzten Eiszeit herrschte in Mitteleuropa eine oder Oszillieren, durch das die verborgenen Kräfte sich aus- beinahe absolute Ruhe und Ordnung. Das Land war von Eis drücken können. bedeckt, und fast alle Lebewesen, die hier heimisch waren, Unruhe und Ordnung verbinden sich auch in der Gesundheit überwinterten am Mittelmeer. Die Geschichte der heutigen des menschlichen Leibs. Dies gilt sogar für das Allerbestän- Landschaft in Mitteleuropa hat damit begonnen, dass nach digste in unserem Leben, den Herzschlag. Ist er nicht über- der Eiszeit zuerst die Pflanzen und dann die Tiere allmählich haupt das Regelmäßigste von allem: puk, puk, puk – ein Schlag – östlich und westlich um die Alpen herum – zurückkehrten. wie der andere? Keineswegs, denn bei genauerer Analyse stellt Um 8.000 v. Chr. herrschten ungefähr wieder die klimatischen sich heraus, dass in Wahrheit kein Schlag wie der andere ist. Verhältnisse des 20. Jahrhunderts. Das entsprechende Schmel- Beschreibt man nämlich den jeweiligen Bewegungszustand zen der Gletscher dauerte allerdings noch mehr als weitere fünf des Herzens – d.h. die Orts- und Impulsgrößen – durch die Jahrtausende, so dass der Meeresspiegel damals etwa einhun- nötige Anzahl von Koordinaten, also jeden Zustand durch ei- dert Meter tiefer lag als jetzt und England noch keine Insel war. nen Punkt in einem entsprechend vieldimensionalen Phasen- Mit den Pflanzen kamen die Bäume, jedoch wuchsen nur die- raum, so zeigt sich, dass das Herz niemals in einen Zustand jenigen heran, die sich unter den Steppenpflanzen behaupteten zurückkehrt, in dem es schon einmal gewesen ist. Mathema- und nicht von Tieren abgefressen wurden. Dies gelang zuerst tisch kann man die Bewegung nur chaostheoretisch beschrei- den Birken und den Kiefern, zumal dank ihrer geflügelten Sa- ben. Die Pulse gleichen sich, aber in ihre Beständigkeit mischt men, dann von Westen her den Haselnussbäumen und von Os- sich sozusagen etwas Chaos (vgl. MORFILL/SCHEINGRA- ten her den Fichten sowie schließlich den Eichen, Bergulmen, BER 1991). Und noch mehr: Wenn dieses bisschen Chaos aus- Linden, Eschen und dem Bergahorn. Als letzte folgten die Tan- bleibt und der Herzschlag streng periodisch wird, steht die nen, Buchen und Hainbuchen. Um 5.000 v. Chr. könnte ganz Katastrophe – dass das Herz stehen bleibt – kurz bevor (bzw. Mitteleuropa von endlosen Wäldern bedeckt gewesen sein, bei Epileptikern ein neuer Anfall). auf den nordwestdeutschen Sandböden vor allem von Birken Der Gedanke, dass das Chaos der Ursprung ist, der allem Wei- und Eichen, in Brandenburg von Eichen und Kiefern. Buchen teren Raum gibt, gehört übrigens zu den ältesten, die in der und Hainbuchen gab es nur an wenigen Standorten im Süden. Geistesgeschichte der Menschheit überliefert sind. Hesiod Waldfrei oder lichter bewaldet waren jedenfalls nur die Moo- (um 700 v. Chr.) – der erste Philosoph, von dem wir wissen re und die Salzböden am Meer sowie die Lössböden, insoweit – stellte es an den Anfang seiner Götter- und Weltgeschichte sich durch ihre Fruchtbarkeit andere Pflanzen gegenüber den und war möglicherweise auch derjenige, der den Begriff ge- Bäumen behaupten konnten. Ich orientiere mich bei diesen bildet hat (GIGON 1945, 28). Das Verb „cháo“ bedeutet ei- Angaben an der Monographie von Hansjörg KÜSTER (1995). gentlich offen sein, klaffen, so wie ein Abgrund. Das Neutrum Natürlich gab es keine scharfen Grenzen zwischen den Wäl- Chaos also ist ein unbestimmtes Auseinander, wobei noch dern und den nicht oder weniger bewaldeten Gebieten. ganz ,offen‘ ist, welchem Männlichen und Weiblichen Raum An die Stelle des Eises also war bis ca. 5.000 v. Chr. eine weit- gegeben wird. Bei Hesiod sind es zunächst Gaia, Mutter Er- gehende Be- bzw. Verwaldung Mitteleuropas getreten. In den de, und Eros, danach der männliche Himmel, die andern Göt- Wäldern lebten Bären und Hirsche, Füchse und Hasen. Die ter und die ganze Welt (Theogonie 166ff.). Chaos also war Rentiere hatten sich in die offeneren Landschaften weiter nörd- bei Hesiod so etwas wie die ursprüngliche Unruhe, die in der lich zurückgezogen. Soweit es Menschen gab, lebten sie als liebenden Begegnung von Himmel und Erde zwischen den Jäger und Früchtesammler in den Bereichen, die nicht ganz Geschlechtern fruchtbar wird. Dies könnte auch für uns noch zugewachsen waren.

22 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Klaus Michael MEYER-ABICH Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens

Zur gleichen Zeit aber, als Mitteleuropa zumindest zum nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit überwunden. Zunächst großen Teil unter dem Wald versank, hatten Menschen im aber war es paradoxerweise ausgerechnet das Jagdprivileg des Vorderen Orient entdeckt, dass man auch sesshaft leben kann. Adels, das die mitteleuropäischen Wälder vor dem völligen Sie bauten Häuser, züchteten Haustiere und kultivierten Grä- Kahlschlag rettete, indem Forstgebiete abgegrenzt wurden, ser zu Getreidepflanzen, die planmäßig angebaut wurden. die dem Wild vorbehalten blieben und sonst nur beschränkt Diese Entdeckung verbreitete sich im 5. Jahrtausend v. Chr. genutzt wurden. auch unter den Hinterwäldlern in Mitteleuropa. Die Besiedlung Nachdem es jahrtausendelang in der Regel keine Grenzen, erfolgte von den Flüssen aus in der Regel etwa auf halber Höhe sondern nur fließende Übergänge zwischen Waldgebieten und der Täler, wo es Lössböden gab und der Wald noch nicht so dem mehr oder weniger offenen Land gegeben hatte, wurden dicht war, dass man viel roden musste. Küster nimmt an, dass durch die Forstgebiete Unterschiede in der Landschaft gesetzt, in diesen neolithischen Siedlungen etwa 100 Einwohner für die zuvor nicht dagewesen waren. Und dies war nur der Anfang sich und gegebenenfalls für ihre Tiere die Erträge von ca. 30 einer Ordnungsoffensive, die zu noch viel weiterreichenden Hektar Ackerland brauchten (1995, 76f.). Der Flächenbedarf Veränderungen im mitteleuropäischen Landschaftsbild führ- hätte also ca. 3.000 m2/Person betragen und wäre damit deut- te. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Norddeutschland, lich kleiner gewesen als der durchschnittliche Anteil eines das ich am besten kenne und das dem Ordnungswillen wohl heutigen Einwohners an der Gesamtfläche Deutschlands, der am meisten ausgesetzt gewesen ist. ja bei ca. 4.500 m2 liegt, natürlich nicht nur an besonders Etwa gleichzeitig mit der Abgrenzung der Wälder im 18. fruchtbaren Böden. Die Tiere – Rinder, Schafe, Ziegen und Jahrhundert brachte vor allem die „Verkoppelung“ kleiner bäu- Pferde – weideten von den offenen Rändern aus in die Wälder erlicher Anwesen zu größeren Gütern in Westfalen, Schleswig- hinein, die ja damals noch niemand gehörten. Zu fressen gab Holstein und Mecklenburg ganz neue Strukturen mit sich. Die es Eicheln und das jeweils junge Blattgrün, so dass die Bäume, Landbevölkerung zog es in die Städte und den Adel aufs Land, soweit der Weidewald reichte, unten eine Fresskante bekamen, aber das Vieh weidete nun auf Koppeln, die durch Knicks wie sie noch auf den Bildern von Caspar David Friedrich zu oder Wallhecken eingefriedet waren. An die Stelle der exten- sehen ist. Da die Tiere von Hirten beaufsichtigt wurden, nann- siven Beweidung der Hudewälder war damit eine intensive te man diese Wälder auch Hüte- oder Hudewälder. Auf den Grünlandwirtschaft getreten. Die damit vollzogene Einteilung Feldern wuchsen Einkorn und Emmer – beide dem Weizen der Landschaft in Ackerland, Weideland und Wald hatte es bis verwandt – sowie Erbsen, Linsen und Lein. vor etwa 200 Jahren in Mitteleuropa nicht gegeben. Obwohl die Wälder durch die Beweidung allmählich lichter Vermutlich war die neue Ordnung keine so lebendige Ordnung wurden – junge Bäume entgingen den Tieren ja allenfalls dann, mehr wie die des offenen Lands zu Beginn der Neuzeit. Denn wenn sie z.B. in einem Dornengestrüpp hoch wuchsen – war der Artenreichtum auf dem Grünland ist nicht sonderlich groß, die bäuerliche Landwirtschaft in Mitteleuropa bemerkenswert auf den Äckern gab es Monokulturen, und dasselbe galt für stabil. Unklar ist allerdings, warum doch immer wieder Sied- die meisten Aufforstungen der ersten Zeit. Die Nachteile der lungen aufgegeben worden sind. Wirklich sesshaft geworden Nadelholz-Monokulturen zeigten sich bald, aber die Böden sind wir aber ja bis heute nicht, denn auch wir wirtschaften waren verarmt, und man war an raschen Erträgen interessiert. noch lange nicht so, dass wir eine permanente Adresse behal- Eichen und Buchen hätten überdies durch Zäune vor dem Wild ten könnten. Der Lernprozess, wie man nachhaltig wirtschaf- geschützt werden müssen (soweit Rotwild noch als Wild gel- ten und somit sesshaft leben kann, ist also noch immer nicht ten darf). Einen großen Artenreichtum bewahrten freilich die abgeschlossen. Küster nimmt an, dass den anfänglichen Fehl- Knicks zwischen den Koppeln bzw. Äckern, und die Engli- schlägen beim Sesshaftwerden die mitteleuropäischen Buchen- schen Gärten oder Parks erinnerten an die Schönheit der Hu- wälder zu verdanken sind, indem Bucheckern durch Tiere in dewälder, nach deren Vorbild sie angelegt wurden. die aufgegebenen Siedlungen getragen wurden und sich dort Unter den Forstwirten gab es von Anfang an Widerstand dage- dadurch gegenüber andern Bäumen behauptet hätten, dass Bu- gen, das – hier erstmals eingeführte – Nachhaltigkeitsprinzip chen unter diesen aufwachsen können, die andern Bäume aber nur auf die Erhaltung der Holzerträge und nicht auf die der Le- nicht unter Buchen (aaO 81f.). Nach dieser Erklärung wären bensgemeinschaft Wald zu beziehen (vgl. GAYER 1886/MÖL- also die Buchenwälder als erste bereits anthropogen bedingt. LER 1923). Der Gedanke einer „naturnahen Waldwirtschaft“ Die land- und viehwirtschaftliche Symbiose von Mensch und scheint sich aber erst in neuester Zeit allmählich durchzuset- Wald hat jahrtausendelang bis in die mitteleuropäische Neu- zen (vgl. HATZFELDT 1994). Bei den ersten Aufforstungen zeit im wesentlichen krisenfrei bestanden. Zwar nahmen die ging die Ordnungsoffensive so weit, dass die Nadelwaldplan- Anteile des besiedelten und des landwirtschaftlich genutzten tagen von möglichst geraden und befestigten Fahrwegen durch- Lands zu Lasten der Waldfläche zu, und die Wälder wurden zogen wurden, neben denen Gräben entlangliefen, um die durch die Beweidung allmählich lichter. In seinem Bestand aber Wege trocken zu halten und damit die Fuhrwerke den vorge- war der Wald nicht gefährdet, bis in der Neuzeit der Holzbe- schriebenen Weg nicht seitlich ausfransten. Im 20. Jahrhundert darf so zunahm, dass mehr geschlagen wurde, als nachwuchs. war es für den Umwelt- und Naturschutz ein besonders irri- Hauptgründe waren der wirtschaftliche Aufschwung in den tierender Befund, dass ausgerechnet die sich ganz ungeordnet Städten, die Bevölkerungszunahme und die Kleine Eiszeit vom überlagernden Fahrspuren auf Truppenübungsplätzen zu den 16.-18. Jahrhundert. Die Krise wurde letztlich durch den Über- Herausforderungen gehören, auf welche die Natur mit einer gang zur Nutzung der Kohle als einem „unterirdischen Wald“ besonderen Artenvielfalt reagiert. Selbst diese lebendige Un- (SIEFERLE 1982) und durch eine planmäßige Waldwirtschaft ruhe also blieb den sterilen Nadelwäldern durch die allzu or-

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 23 Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens Klaus Michael MEYER-ABICH dentliche Wegführung erspart. Trotzdem war es eine weitsich- lebendig und kaum zu kontrollieren, zumal wegen der wech- tige Leistung, der sich im 18. Jahrhundert abzeichnenden selnden Überschwemmungen. Malaria gab es auch. So etwas Entwaldung Mitteleuropas überhaupt planmäßig zu begegnen. passte einfach nicht nach Preußen. Friedrich der Große eröff- Andere Länder haben dies nicht getan, so dass der deutschen nete in den größeren Städten Westdeutschlands sogar Ein- Seele vielleicht doch ein besonderes Verhältnis zum Wald wanderungsbüros, die Kolonisten für Preußen statt für Nord- nachzusagen ist. amerika anwarben. Wer sich an dem neuen Ordnungswerk beteiligte, erhielt bestimmte Privilegien und bekam oben- Die Ordnungsoffensive der letzten zwei bis drei Jahrhunder- drein die Reisekosten bezahlt. So entstand statt der abgrün- te ging aber noch erheblich weiter. Man denkt heute meistens dig fruchtbaren, Hesiodisch dunklen Wildnis eine Schöne Neue nicht mehr daran, dass Norddeutschland bis zur Mitte des 18. Welt mit Deichen, Gräben, Mühlen, Wiesen und Feldern nach Jahrhunderts ein ganz unregelmäßig von Gewässern, Sümpfen niederländischem Vorbild. Ertragreichere Getreidesorten wur- und Mooren durchzogenes Gebiet war. Durch das Abschmelzen den angebaut und neue Züchtungen besonders leistungsfähi- der Gletscher – und die säkulare Absenkung der norddeutschen ger Nutztiere aus England importiert. Nach dieser Erschlie- Tiefebene – war der Meeresspiegel etwa auf das heutige Ni- ßungsoffensive entdeckten zuerst die Künstler, wie schön auch veau angestiegen, so dass z.B. die Elbe von der Havel bis zur Sümpfe, Moore und ungeregelte Flussgebiete sein können. So Mündung nicht mehr 120 m abwärts floss wie ca. 8.000 v. Chr., entstand die Künstlerkolonie Worpswede. Theodor Fontanes sondern nur noch etwa 20 m wie jetzt. Die Flüsse gingen da- Wanderungen durch die Mark (Brandenburg) belegen, dass durch mehr in die Breite und flossen durch weitverzweigte auch die dortigen Seen nach der Kultivierung des Lands noch Nebenarme zwischen Sumpfgebieten. In Hochwasserzeiten einigen Reiz behalten hatten. wurde auch das benachbarte Flachland – die Flussauen – weitgehend überschwemmt. Die Eindeichung der Nordsee- 3. Einbettung der Landwirtschaft in küste war bis zum 13. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen, den Naturzusammenhang aber bei Sturmfluten kam es auch hier immer wieder zu Ein- Dass die Artenvielfalt in Mitteleuropa seit etwa drei Jahrhun- brüchen des Wassers. So ist 1362 der Jadebusen entstanden. derten stark und im 20. Jahrhundert dramatisch abgenommen Trotz der Deiche blieb beispielsweise Ostfriesland ein nasses, hat, ist in der geschilderten Weise nicht nur eine Folge der In- regelmäßig zu entwässerndes Land. Dort könnte der Mythos dustrialisierung, sondern auch der Raumordnungsoffensive, entstanden sein, dass die Erde eine auf dem Wasser schwim- die schon vorher eingesetzt hatte. Sowohl die strikte Trennung mende Scheibe sei, denn man braucht oft nur einen Spaten- und weitgehend monokulturelle Nutzung von Acker-, Weide- stich tief zu graben, um schon auf das Wasser zu stoßen. Vom und Waldland als auch die Trockenlegung der Feuchtgebiete übrigen Deutschland war Ostfriesland überdies durch Torf- haben der früheren Kulturlandschaft nicht gut getan. Wesent- moore abgeschnitten. lich größer als diese Verluste sind vermutlich die durch indus- In Norddeutschland herrschte also noch vor etwas mehr als trielle bzw. konsumtive Emissionen und Rückstände. Die Lo- zwei Jahrhunderten bei weitem nicht die Ordnung des fast ckerung der allzu strikten Ordentlichkeit in den landwirtschaft- durchgängig bewirtschafteten Landes, die wir heute kennen. lich genutzten Gebieten könnte zur Erneuerung der Artenviel- Seitdem aber sind falt beitragen. • Marschgebiete, Sümpfe und Moore planmäßig und in gro- Beispielsweise entwickelt sich eine lebendige Vielfalt am ehes- ßem Umfang trocken gelegt worden; ten, wo fließende und durchlässige, ausgefranste und nicht zu • in den Mittelgebirgen Dörfer hinter Talsperren ertrunken und scharfe Grenzen sind. Dies zeigt sich in den Uferzonen von • Straßen befestigt worden. Bächen, wenn sie nicht betoniert sind und der Bach mäandern All dies hatte es früher schon lokal gegeben, jetzt aber wurde kann, das Wasser also nur langsam fließt. Solche lebendigen es zum politischen Programm. Hinzukamen die Insignien der Grenzen entstehen auch durch herabgefallene Äste oder an- neuen Zeit: Fabrikschornsteine, Eisenbahnen, ausufernde Städ- dere Hindernisse, um die das Wasser herumfließen muss und te, schiffbare Flüsse und Kanäle, Wasserwerke und Kanalisa- in deren Schatten sich Ruhezonen bilden. Es versteht sich, dass tion etc. (vgl. SIEFERLE 1984). die beiderseitigen Uferstreifen von landwirtschaftlicher Nut- zung freigehalten werden sollten. Durch ein Projekt des Otter- Nach den Recherchen von David BLACKBOURN, der ein zentrums Hankensbüttel zur Wiedereinbürgerung des Fisch- schönes Buch über die Wasser-Geschichte in Deutschland ge- otters wird beispielsweise das Flüsschen Ise in dieser Weise schrieben hat (2006), sind unter der Regierung Friedrichs des rekultiviert. Großen in Preußen mehr Marschen und Sümpfe trockengelegt Ein Element von Unruhe wird auch dadurch der allzu großen worden als irgendwo sonst zu dieser Zeit. Über den trocken- Ordnung beigegeben, dass die Randstreifen der Felder wie gelegten Oderbruch, sein erstes großes Projekt dieser Art, der Bäche nicht bewirtschaftet, sondern für Wildpflanzen oder soll er gesagt haben, anders als andere habe er diese Provinz ,Unkrautgesellschaften‘ – wie sie nun einmal heißen – frei- ,friedlich‘ erobert (aaO 4). Oft genug verschränkten sich diese gehalten werden, deren Artenschwund ja am größten gewesen sozusagen friedlichen Eroberungen allerdings mit militärischen ist. Die allzu große Ordnung durch etwas mehr Unruhe und Interessen. Beispielsweise konnte das ,kultivierte‘ (trocken- die damit einhergehenden Überraschungen abzupuffern würde gelegte) Land nicht mehr Deserteuren als Versteck dienen und vielen städtischen Gärten gleichermaßen guttun. Dabei hat sich war von der Armee leicht zu durchqueren. übrigens herausgestellt, dass diejenigen Gartenfreunde, die es Überhaupt waren die vielen Feuchtgebiete in Norddeutsch- verstehen, ihren Garten sich entwickeln zu lassen, also auch land dunkel, in einer unordentlichen Weise wild, chaotisch Ungeplantes zulassen können, an ihren Pflanzen mehr Freude

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© www.johannes-mueller-photo.de haben als diejenigen, die immer alles möglichst unter ihrer die Liebe zu jenem ein, der ,die Blume des Feldes‘ und ,die Li- Kontrolle haben und behalten wollen, also z.B. viel Kunstdün- lie der Täler‘ heißt. Ja, er wünschte vom Bruder Gärtner, er ger etc. verwenden (KAPLAN/KAPLAN 1989, 171). solle stets einen Teil des Gartens für ein schönes Beet frei- Was wir hier wiederentdecken, sind eigentlich alte Weishei- lassen, auf dem er allerlei duftende Kräuter und Pflanzen mit ten, die nur vergessen worden sind, seitdem die außer- schönen Blumen anlege, damit jeweils die Menschen durch den menschliche Natur nicht mehr als unsere natürliche Mitwelt, Anblick dieser Blumen und Kräuter zum Lobe Gottes gestimmt sondern nur noch als Umwelt oder als ein Ensemble von Res- würden“ (entst. 1246, 272). sourcen für menschliche Bedürfnisse – oder was wir dafür Es spricht für die Weisheit der klassischen – noch nicht neo- halten – wahrgenommen wird. Eine schöne Regel, um sich klassischen – Ökonomie, dass auch John Stuart MILL der in- zumindest in einem Teil des Gartens ausdrücklich jeglicher Kontrolle zu enthalten, stammt von Franz von Assisi. Er soll dustriellen Wirtschaft eine ähnlich lautende Regel mit auf den nämlich den Bruder Gärtner gebeten haben, Weg gegeben hat, um den Übergang in den stationären Zu- „er möge nie das ganze Erdreich bloß mit essbaren Kräutern stand, also in eine nachhaltige Wirtschaft nicht zu verpassen. bepflanzen, sondern auch einen Teil des Bodens freilassen, Es ist nicht gut für den Menschen, erklärte Mill, wenn er sich dass da auch Gras Platz habe, damit zu jeder Jahreszeit un- die ganze übrige Welt anverwandelt und sich so nur noch auf sere Schwestern, die Blumen, gedeihen könnten. So gab es ihm seinesgleichen bezieht.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 25 Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens Klaus Michael MEYER-ABICH

„Nor is there much satisfaction in contemplating the world Es gibt ja grundsätzlich zwei Möglichkeiten, im wirtschaftli- with nothing left to the spontaneous activity of nature; with chen Handeln Rücksicht auf unsere natürliche Mitwelt zu neh- every rood of land brought into cultivation, which is capable of men. Die eine ist der Umwelt-Schutz im wörtlichen Sinn, d.h. growing food for human beings; every flowery waste or natu- dafür zu sorgen, dass die übrige Welt vor den Folgen unseres ral pasture ploughed up, all quadrupeds or birds which are not Tuns geschützt wird, soweit sie ihr schaden würden. Die zwei- domesticated for man's use exterminated as his rivals for food, te ist, unser wirtschaftliches Handeln grundsätzlich so einzu- every hedgerow or superfluous tree rooted out, and scarcely richten, dass es dieses Schutzes gar nicht eigens bedarf. Der a place left where a wild shrub or flower could grow without Idealfall des Umweltschutzes erster Art ist eine saubere Kreis- being eradicated as a weed in the name of improved agricul- laufwirtschaft, in der also alle Prozesse – und seien sie noch ture“ (J.S. MILL, 1848, IV.6, § 2, S. 750). so giftig – in geschlossenen oder zumindest möglichst emis- „Es liegt auch nicht viel Befriedigendes darin, wenn man sich die Welt sionsfreien Kreisläufen geführt werden. So ist eigentlich auch so denkt, dass für die freie Tätigkeit der Natur nichts übrig bliebe, dass die industrielle Landwirtschaft gedacht. Der Idealfall des jeder Streifen Landes, welcher fähig ist, Nahrungsmittel für den Men- Umweltschutzes zweiter Art ist eine offene Wirtschaft im schen hervorzubringen, auch in Kultur genommen sei, dass jedes blu- mige Feld und jeder natürliche Wiesengrund beackert werde, dass alle Stil der traditionellen Landwirtschaft, als sie noch Agri-Kultur Vierfüßler oder Vögel, welche sich nicht zum Nutzen des Menschen war. So wie es in der außermenschlichen Natur keine Abfälle zähmen lassen, als seine Nahrungskonkurrenten getilgt, jede Baum- gibt, weil alles, was irgendwo übrig bleibt, irgendwelchen Le- hecke und jeder überflüssige Baum ausgerottet werde und dass kaum ein Platz übrig sei, wo ein wilder Strauch oder eine Blume wachsen bewesen zur Nahrung dient und dadurch wieder aufgewertet ()könnte, ohne sofort im Namen der vervollkommneten Landwirtschaft oder ,gesteigert‘ wird, könnten auch die Residuen unseres als Unkraut ausgerissen zu werden“ (J.S. Mill, 1848, IV.6, § 2, S. 750). wirtschaftlichen Handelns wieder in die Naturkreisläufe ein- gehen, wenn wir uns damit eine entsprechende Mühe gäben. Ähnlich steht es mit den Mehrtages- und Mehrjahresrhythmen Beispielsweise ließen sich Möbelstoffe, Teppiche, Schuhsoh- des Alten Testaments. Dem Sabbatgebot, dem auch unsere len etc. aus Materialien herstellen, die nach der Abnutzung Wocheneinteilung noch folgt, ist als Drittem unter den Zehn kompostierbar sind (BRAUNGART/MCDONOUGH 2003). Geboten ein erstaunlich hoher Rang gegeben. Es hat sicherlich Wenn dann auf diesem Kompost Pflanzen wüchsen und Tieren den persönlichen Sinn, in regelmäßigen Besinnungspausen zu zur Nahrung dienten, könnten etwa Schuhsohlenabfälle wie- sich zu kommen und sich zu erinnern, dass wir niemals nur der zu Leder gesteigert werden, wohingegen die Wiederver- aus eigener Kraft auf einem guten Weg sind. Dazu gehört aber wertungsprozesse beim Umweltschutz erster Art immer nur gerade auch, das geschehen lassen zu können, was nicht um oder für uns da ist und was nicht wir veranlasst haben. Eben- abwärts führen und bei Boden- oder Straßenbelägen enden. so steht es mit dem Sabbat für das Land, dass es in jedem sieb- Soweit man sich bisher Mühe gegeben hat, in den Wirt- ten Jahr nicht bewirtschaftet werden und mit dem, was es von schaftsprozessen Rücksicht auf die natürliche Mitwelt zu neh- alleine hervorbringt, für alle Menschen und Tiere da sein soll. men, ist dabei meistens nur bestenfalls ein Umweltschutz erster Paul Valery hat einmal von dem köstlichen Augenblick zwi- Art angestrebt worden und herausgekommen, d.h. unser Han- schen Ordnung und Unordnung gesprochen, in dem die Kultur deln bleibt grundsätzlich schädlich, aber wir versuchen, die auflebt. Er meinte damit die Phasen des politischen Nieder- übrige Welt dagegen abzuschirmen. Gerade so sind – als ein gangs, so wie das geistige Aufleben Athens nach der Katastro- Pendant der industriellen Landwirtschaft – auch die bisherigen phe des Peloponnesischen Kriegs. In einem umfassenderen Naturschutzgebiete angelegt worden, d.h. als Reservate, in de- Sinn aber geht es dabei um die Muße, die wir regelmäßig brau- nen wir ausnahmsweise keinen Schaden anrichten – was dann chen, um nicht vor uns selbst davonzulaufen und um gesche- aber doch nur dazu führt, dass wieder die natürlichen Sukzes- hen zu lassen, was nicht wir gewollt haben. Wenn wir nun in sionen ablaufen und letztlich alles mehr oder weniger verbuscht der industriellen Wirtschaft allmählich den „Zeitwohlstand“ und verwaldet. Eine besondere Artenvielfalt entsteht dadurch wiederentdecken (RINDERSPACHER 1985/SCHERHORN nicht. Wäre es also nicht besser, statt dessen so zu wirtschaf- 1995), gehört dazu auch die Erneuerung des Gleichgewichts ten, dass es dieser Ausgrenzungen möglichst gar nicht bedarf? von Unruhe und Ordnung im Umgang mit der außermensch- Ein Übungsfeld dafür ist einerseits die Verbindung von Wirt- lichen Natur. Vielleicht könnte die Erinnerung an die Sabbat- schaft und Naturschutz durch die Zulassung von mehr Unruhe gebote, den franziskanischen Gärtner, die Millsche Enthalt- als Pendant zur wirtschaftlichen Ordnung, so wie ich sie zuvor samkeit etc. den zaghaften Rekultivierungsversuchen in der in Beispielen und durch das Sabbatprinzip geschildert habe. Landwirtschaft den Schwung und Nachdruck geben, der ihnen Dieselben Gründe sprechen aber umgekehrt dafür, in den be- noch fehlt. stehenden Naturschutzgebieten ein höheres Maß an Ordnung, Geht es nun darum, die allzuweit gegangene Ordnungsoffen- also von Bewirtschaftung zuzulassen. Beispielsweise könnte ei- sive zur Nutzung der Natur als Ressource wieder etwas zurück- ne extensive Beweidung in den dafür geeigneten Gebieten dem zunehmen, so könnte die Landwirtschaft der übrigen Wirtschaft Naturschutz nicht nur nicht schaden, sondern sogar seine be- in einem Sinn zum Vorbild werden, wie dies schon lange nicht ste Form sein. Ich denke an die traditionelle Beweidung der mehr für möglich gehalten worden ist. Bisher hat man sich in Almen, der Heide oder der Hudewälder, so wie sie wohl auch der Landwirtschaft ja gerade umgekehrt die Industrie zum Vor- im restlichen Donaumoos wieder möglich wäre. Wenn sich bild genommen und zwar so radikal, bis jegliche Tugenden der Wirtschaft und Naturschutz in der Landnutzung zu einer neu- traditionellen Agri-Kultur ihr ausgetrieben worden waren. en Agri-Kultur verbänden, wäre dies ein Vorbild an Nachhal- Hier wäre nun ein Umschwung denkbar. tigkeit, dem auch die übrige Wirtschaft folgen könnte.

26 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Klaus Michael MEYER-ABICH Unruhe und Ordnung im Prozess des Lebens

In den vergangenen zehntausend Jahren ist die „überwiegen- HESIOD: de Zahl an Tier- und Pflanzenarten … bei uns nur deswegen Theogonie. Werke und Tage. Griechisch-deutsch. Hrsg. und über- setzt von Albert von Schirnding. Düsseldorf/Zürich (Artemis & heimisch [geworden], weil menschliche Kultur sie begünstigt Winkler: Sammlung Tusculum) 21997, 255 S. hat“ (KÜSTER 1995, 370; vgl. aaO 330). Diese Kultur aber ist nicht erst durch die Industrialisierung zu Ende gegangen, KAPLAN, Rachel/KAPLAN, Stephen (1995): The Experience of Nature. A Psychological Perspective [1989]. Ann sondern schon dadurch, dass der Landschaft allzu viel Ruhe Arbor (Ulrich's Bookstore), XII, 340 S. und Ordnung zugemutet worden ist. Sollte es uns also ei- KÜSTER, Hansjörg (1995): gentlich darauf ankommen, dass die Artenvielfalt wieder zu- Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur nimmt, gälte es statt des Naturschutzes „Kulturschutz“ (KÜ- Gegenwart. München (Verlag C.H. Beck), 423 S. STER aaO) zu betreiben. Dazu müssten wir vor allem in der MILL, John Stuart (1848): Landwirtschaft in dem zuvor beschriebenen Sinn wieder mehr Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Unruhe und Ordnung zulassen. Das aber hieße statt der indus- Social Philosophy. Ed. with introduction by William Ashley. Fair- triellen Intensivwirtschaft zumindest dort, wo es noch nicht field (Augustus M. Kelly Publishers) 1976, liii, 1.013 S. allzu ordentlich zugeht und sozusagen noch etwas Unruhe zu MÖLLER, Alfred (1923): retten ist, wieder zu einer kultivierten Extensivwirtschaft über- Der Dauerwaldgedanke. Sein Sinn und seine Bedeutung, mit einer zugehen. So zu leben und zu wirtschaften, dass das Vorge- Einführung von Wilhelm Bode. ND Oberteuringen (Erich Degreif Verlag) o.J. [1992], 134 S. fundene durch Kultur gesteigert wird, ist wohl das Beste, was Menschen zur Naturgeschichte beitragen können. MORFILL, Gregor/SCHEINGRABER, Herbert (1991): Chaos ist überall … und es funktioniert doch. Eine neue Weltsicht. Frankfurt am Main/Berlin (Ullstein), 301 S. 4. Literatur RINDERSPACHER, Jürgen P. (1985): Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Or- Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege ganisation der Arbeit. Frankfurt am Main/New York (Campus: Schrif- (ANL) (Hrsg.) (2000): ten des Wissenschaftszentrums Berlin, Internationales Institut für Bukolien. Weidelandschaft als Natur- und Kulturerbe. Bewahrung vergleichende Gesellschaftsforschung/Arbeitspolitik), 327 S. und Entwicklung. Laufen (ANL: LSB 4/00), 216 S. SCHERHORN, Gerhard (1995): ––––– (2002): Güterwohlstand versus Zeitwohlstand. Über die Unvereinbarkeit des Beweidung in Feuchtgebieten. Stand der Forschung, Erfahrungen materiellen und des immateriellen Produktivitätsbegriffs. In: Zeit in aus der Praxis, naturschutzfachliche Anforderungen. Laufen (ANL: der Ökonomik. Hrsg. von Bernd Biervert und Martin Held. Frank- LSB 1/02), 88 S. furt am Main (Campus), S. 147 168. ––––– (2005): SIEFERLE, Rolf Peter (1982): Bewahren durch Dynamik: Landschaftspflege, Prozessschutz, Bewei- Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution. dung – Praxisschwerpunkt Pferdebeweidung. Laufen (ANL: LSB München (Verlag C.H. Beck: Beck’sche Schwarze Reihe, Bd. 266), 1/05), 175 S. 282 S. BLACKBOURN, David (2006): ––––– (1984): The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Mo- Forschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der dern Germany. London (Jonathan Cape), XIII, 497 S. Romantik bis zur Gegenwart. München (Verlag C.H. Beck), 301 S BRAUNGART, Michael/MCDONOUGH, William (2003): Einfach intelligent produzieren: Cradle to cradle: Die Natur zeigt, wie wir die Dinge besser machen können. Berlin (Berliner Taschenbuch- Verlag: Gebrauchsanweisungen für das 21. Jahrhundert), 236 S. FRANZ von ASSISI: Legenden und Laude. Hrsg., eingeleitet und übersetzt von Otto KAR- RER. Zürich (Manesse Verlag) 1975, 557 S.; darin; Bruder Leo und Gefährten erzählen (1246 und 1266 71), S.139 288. GAYER, Karl (1886): Der gemischte Wald: seine Begründung und Pflege, insbesondere durch Horst- und Gruppenwirtschaft. [Berlin], III, 168 S. Anschrift des Verfassers: GIGON, Olof (1968): Prof. em. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Par- Charitas-Bischoff-Treppe 9 menides [1945]. 2. Aufl. /Stuttgart (Schwabe), 295 S. 22587 Hamburg HATZFELDT, Hermann Graf (Hrsg.) (1994): Tel./Fax: ++49 (0) 40/86 62 43 86 Ökologische Waldwirtschaft. Grundlagen, Aspekte, Beispiele. Hei- [email protected] delberg (Verlag C.F. Müller: Buchreihe der Stiftung Ökologie & Landbau. Alternative Konzepte, Bd. 88), 310 S.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 27 Landbau als Kulturkritik

Johannes PAIN Landbau als Kulturkritik „Boden“ als Kristallisationspunkt gesellschaftsreformerischer Bestrebungen in den Landbaukonzepten von Hans-Peter Rusch und Ewald Könemann1) Agriculture as culture criticism „Soil“ as fundamental idea of the efforts of the farming concepts of Hans-Peter Rusch and Ewald Koenemann to reform society

Dies kann beispielhaft an zwei Protagonisten des frühen Bio- Zusammenfassung Die Boden-Konzepte von Hans-Peter Rusch und Ewald Kö- logischen Landbaus gezeigt werden: An Hans-Peter Rusch nemann zeigen exemplarisch, dass sich das Selbstverständ- (1906-1977), dem Mitbegründer des Organisch-biologischen nis des frühen Biologischen Landbaus, im Gegensatz zum Landbaus in der Schweiz und an Ewald Könemann (1899- Ökologischen Landbau der Gegenwart, vor allem auf eine 1976), einem Exponenten des aus der Lebensreform hervor- kulturkritische Haltung gegenüber dem Reduktionismus des gegangenen Natürlichen Landbaus in Deutschland. Industriesystems gründete. Während Rusch versuchte, eine vitalistische Theorie über den „Kreislauf der lebendigen Sub- Beiden gemeinsam war eine kritische Haltung gegenüber dem stanz“ in praktischen Landbau umzusetzen, stützte sich das naturwissenschaftlichtechnischen Weltbild als grundlegendem Landbaukonzept Könemanns vor allem auf bodenbiologi- Prinzip der modernen Gesellschaft. Die daraus entstehende me- sche Erkenntnisse. Diese versuchte er durch eine intensive chanistische Betrachtung von Boden, Pflanzen und Tieren in Kompostwirtschaft landbaulich nutzbar zu machen. Beide einer zunehmend durch die Agrartechnik und die agrochemi- entwickelten parallel zu ihren Landbau-Konzepten Ideen zur sche Industrie beeinflussten Landwirtschaft wurde als ernste Reform der Industriegesellschaft, die von der Vorstellung Bedrohung der Lebensmittelqualität und der Gesundheit von eines grundlegenden Zusammenhangs zwischen der quali- Individuum und Gesellschaft angesehen. tativen Beschaffenheit des Bodens und der Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Mensch geprägt waren. Ruschs und Könemanns Motivation zur Entwicklung biologi- Summary scher Landbaukonzepte entstand aus ganz unterschiedlichen The concepts of soil of Hans-Peter Rusch und Ewald Koe- Grundhaltungen. Hans-Peter Rusch vertrat ein ganzheitliches, nemann show, that, the self-conception of early organic far- vitalistisch inspiriertes Konzept der Biologie, das er gegen die ming is predominantly founded on a culture-critical attitude vorherrschende mechanistische Auffassung des Organismus zu towards the reductionism of the industrial system. This dif- begründen suchte. Seine Theorie von der Erhaltung und vom fers from present organic farming which is mainly based on Kreislauf der lebendigen Substanz versuchte er mit einem the idea of sustainability. While Rusch tried to implement realise his vitalistic theory of the “cycle of living matter” in Landbaukonzept in eine gesellschaftlich wirksame Praxis um- practical agriculture, Koenemann founded his concept par- zusetzen. Ewald Könemanns geistiger Hintergrund war die ticularly on results of soil biology. For the implementation of Lebensreformbewegung und der Vegetarismus. Das Motiv der his theory he fostered the application of compost and orga- Gesundheit im Sinne einer gesunden Lebensweise und Ernäh- nic manure in farming. In addition to their concepts of prac- rung war sein zentraler Wertmaßstab. Er suchte nach Möglich- tical agriculture both of them developed ideas for the refor- keiten, diesen bei der landwirtschaftlichen Erzeugung von Nah- mation of the industrial society. They assumed that the health rungsmitteln anzuwenden und dem für ihn offensichtlichen Ver- of plants, animals and human beings depends on good con- fall der inneren Qualität der Lebensmittel entgegenzuwirken. ditions of the soil and, vice versa, prospering organisms po- sitively affect the soil. Im Folgenden soll auf die zwei Pioniere und ihre biologischen Landbaukonzepte eingegangen werden. Dabei soll gezeigt wer- den, welche Standpunkte sie hinsichtlich der anfangs aufge- worfenen Fragen nach der Kritik an der modernen Industrie- 1. Einführung kultur und der Agrikulturchemie einnahmen und wie sich ihre Das Selbstverständnis des frühen Biologischen Landbaus er- Idee des „Bodens“ formulieren lässt. schließt sich nicht in erster Linie aus produktionstechnischen Abweichungen von der „konventionellen“ Landwirtschaft, 2. „Boden“ im Kreislauf der lebendigen Substanz sondern vor allem aus einer kulturkritischen Haltung ge- bei Hans-Peter Rusch genüber dem Reduktionismus des Industriesystems, wie er Hans-Peter Rusch war Mediziner und arbeitete nach dem 2. sich zum Beispiel in der Agrikulturchemie zeigte, und aus Weltkrieg an neuen Heilmitteln auf der Grundlage symbion- der zentralen Idee des gesunden Bodens. tischer Bakterien. Er versuchte nachzuweisen, dass makro-

1) Die vorgestellten Ergebnisse sind Teil einer – noch nicht abgeschlossenen – Dissertation über die Geschichte alternativer Landbaubewegungen an der Technischen Universität München, Department für Ökologie, Lehrstuhl für Landschaftsökologie. Die Arbeit wurde von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (www.dbu.de) mit einem Stipendium gefördert.

28 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Johannes PAIN Landbau als Kulturkritik

Humusforschung als widerlegt gelten konnte.4) Die qualitati- ve Beschaffenheit der lebenden Substanz bestimme außerdem den Grad der Fruchtbarkeit des Bodens und der Gesundheit der Organismen im Naturkreislauf. Den Humus des Bodens sah Rusch als Vorratskörper der lebenden Substanz an. Seine Pflege und qualitative Aufwertung waren daher in seinem Kon- zept die wichtigsten Maßnahmen zur Förderung der Frucht- barkeit des gesamten Naturkreislaufes.5) Ruschs Konzept schien geeignet, die in den biologischen Land- baubewegungen paradigmatische Idee eines grundlegenden Zusammenhangs zwischen der qualitativen Beschaffenheit des Bodens und der Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Mensch 6) wissenschaftlich nachzuweisen. Die seit 1951 einsetzende in- tensive Zusammenarbeit mit Hans Müller (1891-1988) in der Schweiz kann in diesem Kontext verstanden werden. Müller war in den 1930er und 40er Jahren als Politiker aktiv und verfolg- te mit der „Bauernheimatbewegung“ eine Politik zur Siche- rung der traditionellen bäuerlichen Lebensweise – vor allem gegen das wirtschaftsfreundliche politische Establishment. Er kritisierte vehement die Marginalisierung der bäuerlichen Bevölkerung in der modernen Industriegesellschaft, die, vom Konkurrenzkampf geprägt, das „bäuerliche Wesen“ zerstöre und generell die liberale Gesellschaftsordnung, „in der jeder rücksichtslos nur mehr für sich allein hat denken lernen“.7) Von seiner Grundhaltung konservativ und anfangs in der po- litisch rechten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei aktiv, versuchte er nach internen Zerwürfnissen Anfang der 1930er Jahre durch eine Koalition mit den Gewerkschaften eine Mehr- heit links von der Mitte zu etablieren und für Bauern und Ar- beiter eine materielle und kulturelle Besserstellung gegenüber der Industrie zu erkämpfen.8) Da er politisch zunehmend iso- Abbildung 1: Hans-Peter Ruschs programmatisches Werk liert wurde, gründete er 1946 eine bäuerliche Vermarktungs- „Bodenfruchtbarkeit“ in der 2. Auflage von 1974 (die 1. Auflage erschien 1968). genossenschaft. Er hoffte, mit einer Weiterentwicklung des biologisch-dynamischen Landbaus für die Bauern einen Aus- molekulare Erbsubstanzen von Organismus zu Organismus weg aus den Zwängen der kapitalistischen Modernisierung zu weitergegeben werden. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse finden. Die drohende Abhängigkeit von Agrarindustrie und mündeten in seine Theorie von der „Erhaltung und dem Kreis- großen Vermarktungsgesellschaften sollte verhindert werden9). lauf der lebendigen Substanz“. Seine Vorstellung war, dass Mit ihrer Betonung des Organischen stellten sich Rusch und unterhalb der Ebene der Zellen große Moleküle mit den Ei- Müller explizit gegen die Mechanisierung und Materialisierung genschaften lebender Materie existieren 2), die nicht abgebaut des Landbaus, wie sie in den Lehren der Agrikulturchemie werden und im Naturhaushalt zwischen Boden, Pflanze, Tier verwirklicht seien und propagierten eine Renaissance des ganz- und Mensch zirkulieren 3), wobei dieser zentrale Bestandteil heitlichen Denkens.10) Vor allem in der von Müller 1946 ge- seiner Theorie allerdings bereits durch die zeitgenössische gründeten Zeitschrift „Kultur und Politik“ wurden bis in die

2) RUSCH (1955, 94f.) 3) RUSCH (1980, 15) 4) In seinem Überblick über die Humusforschung führt WAKSMAN (1938, 18 f.) verschiedene Beispiele für die Aufnahme organischer Moleküle durch Pflanzen an, konstatiert aber: „The specific effects of certain organic substances upon plant growth cannot be interpreted as proving that organic complexes in general are directly assimilated by plants and that, therefore, the addition of such substances to the soil is highly desirable in plant production. There is no doubt that organic matter is of great importance in the soil, but this is not because some of the con- stituent complexes may be directly assimilated by the plants, but principally because humus exerts important effects upon the physical and chemical properties of the soil, because it contains an considerable quantity of plant nutrients, and because it offers a favorable medium for microbial activities. All attempts, therefore, to introduce into practical agriculture the use of organic fertilizers on a large scale, with claims based entirely upon the possible feeding capacity of the plants upon some of the organic constituents, or upon some other mysterious action of these complexes upon plant growth, have so far completely failed.” (Ebd., 19) 5) Ebd., 84ff. 6) Vgl. SIMONS (1911), FRANCÉ (1923), RUDOLPH (1925), STEINER (1985), BALFOUR (1947), SEIFERT (1957) und KÖNEMANN (1976) 7) MOSER (1995, 274) 8) Vgl. die ausführliche Darstellung von MOSER (1994, 116ff; 1995, 273ff.) 9) Zur Geschichte des frühen Organisch-biologischen Landbaus vgl. SIMON (1991), MOSER (1994, 327 ff.) und VOGT (2000, 197ff.) 10) Vgl. Ruschs Vortrag „Quo vadis, homo sapiens?“ (RUSCH 1955, 13 ff.)

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 29 Landbau als Kulturkritik Johannes PAIN

1980er Jahre regelmäßig Artikel zu verschiedenen Aspekten tuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse unter ande- des Landbaus und zu gesellschaftlichen Fragen veröffent- rem aus dem Bereich der Bodenbiologie13) entwickelte er in licht. Während Müller die gesellschaftspolitischen Ziele des den folgenden Jahren das Konzept für eine Landbaumethode, Organischbiologischen Landbaus vertrat, äußerte sich Rusch das vor allem die Dünger-, Kompost- und Humuswirtschaft in vorwiegend zu wissenschaftlichen und methodischen Fragen. das Zentrum ihrer Bestrebungen stellte.14) Damit sollte, zumin- Rusch griff die mechanistische Auffassung des Lebenden in dest anfangs, als zentrales Anliegen des Vegetarismus eine 15) der Biologie und den Agrarwissenschaften an. Dies bedeutet viehlose Landwirtschaft ermöglicht werden und die Sied- jedoch nicht, dass er das reformerische Potential seiner Ideen lungsbewegung der Landreform mit praktischen Anleitungen lediglich in einer neuen Forschungsmethodik gesehen hätte. unterstützt werden. Wirksam wurden seine Ideen vor allem In einem Vortrag in Bonn 1953 spricht er über die Krankheit durch seine zahlreichen Veröffentlichungen, zum einen in der der modernen, mechanistischen menschlichen Lebensordnung: Zeitschrift „Bebauet die Erde“, deren Schriftleiter und Her- „Gesundheit und Krankheit sind Erscheinungen lebendiger ausgeber er ab 1928 war und zum anderen durch die sich vor Vorgänge, nicht nur beim einzelnen Menschen, sondern auch allem an Selbstversorger wendenden Bücher über Dünger- und bei menschlichen Gemeinschaften, Dörfern, Städten, Völkern Kompostwirtschaft und biologischen Gemüse und Obstbau.16) und Kulturkreisen. Die Gesellschaftsordnung des vielzelligen In seinen zehn Grundsätzen zur Durchführung des Biologi- Organismus tierischer Lebewesen ist keine andere, als die schen Landbaus „im Sinne einer organischen Lebens- und Ordnung der einzelligen Lebewesen in der lebenden Erdrinde, Wirtschaftsordnung“17) stellt er das zentrale Anliegen seiner und auch die Lebensordnung des Menschen kann keine an- Landbauidee folgendermaßen dar: Es soll die optimale Ge- dere sein. Eine jede bleibt während ihres Lebens auf Gedeih sundheit und Leistungsfähigkeit des Bodens und des Boden- und Verderb mit jedem, aber auch jedem Lebensvorgang auf lebens zum Zwecke der Erzeugung von Qualitätserzeugnissen der Erde verbunden. Eine Zivilisation, die das vergisst, muss gewährleistet werden, mit dem Ziel, die Gesundheit von Pflan- ‚krank‘ werden. Eine Naturwissenschaft, die sich im Materi- ze, Tier und Mensch vom Boden her zu sichern. Als grund- ellen verliert, kann nur eine Gesellschaftsordnung schaffen, legend betrachtet er dabei die Erkenntnisse der Biologie18),die die den Keim ihres Untergangs schon in der Wiege trägt“.11) Berücksichtigung einer organischen Lebens- und Wirtschafts- Da es Rusch nicht gelang, das Konzept von der Erhaltung der ordnung, die er als Bionomik bezeichnete, und Erkenntnisse lebendigen Substanz im Naturkreislauf wissenschaftlich zu be- über die Bodendynamik als gestaltende Kraft zwischen Klima, legen, vollzog er in seinen späteren Schriften eine grundlegen- Pflanzen, Tieren und Boden. In der Praxis sollten vor allem ei- de Wendung, indem er die lebende Substanz nunmehr als gei- ne konsequente Düngewirtschaft auf Kompostbasis, Mischkul- stiges Prinzip von Fruchtbarkeit und Gesundheit interpretier- tur zur Förderung der Bodenaktivität, Ersatz der entzogenen te.12) Stoffe durch Humus und Mineraldünger und eine das Boden- leben schonende Bodenbearbeitung durchgeführt werden. 3. „Boden“ in der organischen Lebens- und Beachtenswert ist neben der zentralen Rolle des Bodenlebens Wirtschaftsordnung bei Ewald Könemann auch, dass kein prinzipielles Verbot der „Kunstdünger“ ver- Ewald Könemann war in den 1920er Jahren in der Obstbau- treten wird, solange sie Bestandteil einer „harmonischen 19) kolonie Eden bei Oranienburg (nordwestlich von Berlin) Düngung“ sind. tätig. Ausgehend von seinen praktischen Erfahrungen im Obwohl er eine überragende Bedeutung des Humus für den Land- und Gartenbau und seinen Studien über die damals ak- Boden sah, kritisierte er eine lediglich am Organischen orien-

11) Ebd., 227f. 12) Vgl. die Darstellung von VOGT (2000, 214ff.) 13) Vgl. WAKSMAN (1930) 14) Ebd., 86ff. 15) Ebd., 84 16) Beispielsweise „Gartenbau-Fibel. Praktische Regeln für den Obst- und Gemüsebau auf biologischer Grundlage“ (KÖNEMANN 1940a), „Dün- gung und Düngerbeschaffung leicht gemacht“ (KÖNEMANN 1940b), „Neuzeitliche Kompostbereitung. Mehr und besserer Humus- und Eigen- dünger nach neuesten Erfahrungen“ (KÖNEMANN 1941) und „Biologische Düngung im Gemüsebau, Obst- und Beerenbau. Praktische Anlei- tung für den Gartenbesitzer und Kleingärtner, Obst- und Gemüsebauer“ (KÖNEMANN 1956). 17) KÖNEMANN (1976, 182f.). Das von ihm auch als „natürlichen Ordnung“ bezeichnete Prinzip soll sich aus „der Natur des Daseins des Men- schen“ ableiten (Ebd., 16f.). Bezogen auf die Wirtschaft bedeute dies beispielsweise, „zwischen den modernen Extremen der sogenannten freien Marktwirtschaft und dem Kollektivismus des Sozialismus ein freie Wirtschaft auf einen festen Grund zu setzen, den Menschen selbst zu befreien aus der mordenden Zentralisation und Anonymität der wirtschaftlichen und staatlichen Einrichtungen und eine Dezentralisation zu be- treiben, die die Selbstverantwortlichkeit, die schöpferische Kraft des Einzelnen und sein Einstehen für sich und die Seinen ermöglicht.“ (Ebd., 19; Hervorh. d. A.). Könemann vertritt damit, abweichend von den traditionellen konservativen Ideen einer organischer Gesellschaftsordnung, wie sie zum Beispiel von Adam Müller Anfang des 19. Jahrhunderts exemplarisch formuliert wurden (vgl. MÜLLER 1809), einen konservativ-indi- vidualistischen Ansatz, wie er in den Kreisen der Lebensreformbewegung verbreitet war. 18) Im Gegensatz zu Rusch, der aus prinzipiellen Erwägungen die Erkenntnisse einer lediglich auf kausal-analytischen Methoden basierenden Bio- logie ablehnt (RUSCH, 1955, 228ff.; 1968, 32ff.), hält Könemann sie für eine Grundlage des Biologischen Landbaus (KÖNEMANN 1976, 19). 19) KÖNEMANN (1976, 183). Schon in seinem Hauptwerk „Die neue biologische Düngewirtschaft“ beurteilt Könemann gerade die Stickstoffdün- ger zwar als „überschätzt“, glaubt aber, dass sie in bestimmten Fällen notwendig sind: „Dennoch wird es in der Übergangswirtschaft zur bio- logischen Düngewirtschaft und in der Folge durch Ausgleich bei bestimmten Böden und Kulturen notwendig sein, Stickstoffdünger mehr oder weniger als Zusatzdünger zu verwenden.“ (KÖNEMANN 1931, 73).

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Abbildung 2: Anleitungen zum biologischen Gartenbau von Ewald Könemann aus den Jahren 1940 und 1956. tierte Sicht des Bodens, wie er sie von Albert Howard vertreten Alle wesentlichen Kriterien des Ökologischen Landbaus hin- glaubt 20) und wie sie auch bei Rusch zu finden ist, als „Humus- sichtlich einer nachhaltigen Bodenbewirtschaftung sind zu- Biologismus“.21) Es gebe auch keine eindeutigen Analogien mindest sinngemäß schon in den Schriften Könemanns zu zwischen der Ernährung der Pflanzen und der Tiere und Men- finden.23) schen, wie es die Forderung nach einer ausschließlich organi- Der kulturkritische, gesellschaftsreformerische Aspekt des schen Düngung der Kulturpflanzen durch viele Vertreter der Konzeptes äußerte sich vor allem in der Vorbildfunktion, die Biologischen Landbaubewegungen nahe legt. Die Pflanze sei Könemann in einem der „natürlichen, lebensgesetzlichen Ord- im Unterschied zum Tier ein Organismus, der das Anorgani- nung“ entsprechenden Landbau für die Gesellschaft sieht. Da sche ins Organische überführt. Deswegen seien alle Betrach- jede menschliche Gemeinschaft dem Grundsatz der Ganzheit tungen über einen grundsätzlich höheren Wert des Organischen unterstehe, könne es nicht gleichgültig sein, welcher Wirt- gegenüber dem Mineralischen fehl am Platz.22) schaftsform sich die Gesellschaft und der Einzelne bedient.24) In der Landwirtschaft liege daher die Quelle für die Gesund- Im Vergleich zum Konzept von Rusch ist der „naturgemäße heit und Kraft eines Volkes. Da der Landwirtschaft der „Le- Landbau“ Könemanns stark an naturwissenschaftlichen For- benskreis“ von Boden, Pflanze, Tier und Mensch unterstehe schungsergebnissen, vor allem der Bodenbiologie, orientiert. und sie keine Subsistenzwirtschaft mehr betreibe, wirke sie Seine Grundthesen entsprechen im wesentlichen dem Haupt- sowohl über die Qualität ihrer Produkte wie auch durch ihr strom der Biologie. Daher wird er aus heutiger Sicht durchaus wirtschaftliches Verhalten auf die Mitmenschen ein. Daher wür- nicht zu Unrecht als bedeutender Vorläufer des modernen Öko- de sich an der Landwirtschaft erweisen, ob auch ökonomische logischen Landbaus im deutschsprachigen Raum angesehen. Fragen im Sinne einer „lebensgesetzlichen“ Ordnung gelöst

20) Vgl. Howards „An Agricultural Testament“ (HOWARD 1943), das als eines der wichtigsten programmatischen Werke der angelsächsischen „orga- nic movement“ angesehen werden kann. 21) „Auf dem Gebiete des Landbaues hatte sich ein Humus-Biologismus herausgebildet, der (…) im Indore-Verfahren [von Howard entwickeltes Kompostierverfahren] seine Spitze erreicht, indem z.B. jegliche Form der mineralischen Düngung übersehen wird und der Biologie des Bodens und dem Humus allein eine überdimensionale Bedeutung zugemessen wird.“ (KÖNEMANN 1976, 6) 22) Ebd., 7 23) Vgl. VOGT (2000, 86) 24) KÖNEMANN (1976, 15)

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 31 Landbau als Kulturkritik Johannes PAIN werden können.25) Mit dem Ziel der Produktion biologisch neraldünger („Kunstdünger“) wird weiterhin festgehalten.31) hochwertiger Nahrungsmittel für die Allgemeinheit, die zu- Angesichts der Ökologisierungstendenzen in der „konventio- gleich ökonomisch tragfähig sein soll, verweist Könemann nellen“ Landwirtschaft macht dies heute vielfach den Kern auf das Grundanliegen der Lebensreform zurück, mit einer dessen aus, was den Ökologischen Landbau noch von umwelt- gesunden Ernährung die Zivilisationskrankheiten der Indu- schonenden konventionellen Landbausystemen unterscheidet. striegesellschaft zu heilen.26) Eine Diskussion über die Weiterentwicklung des Ökologischen Landbaus wurde lange Zeit meist nur noch auf der Ebene der 4. Diskussion und Ausblick Produktionstechnik und der Vermarktungsstrategie geführt.32) An den Konzepten von Rusch und Könemann wird deutlich, Wesentliche Zukunftsfragen blieben dagegen unbeantwortet: dass Kulturkritik an den herrschenden Prinzipien der Gesell- Gerade die Frage, ob der moderne Ökologische Landbau die schaft eine wesentliche Motivation war, mit einer ganzheitlich Kriterien der nachhaltigen Entwicklung 33) auch in ökonomi- angelegten Landbaumethode das mechanistische Weltbild der scher und sozialer Hinsicht erfüllt, sollte im Hinblick auf die Industriegesellschaft zu überwinden. Die daraus hervorgegan- Weiterentwicklung der Richtlinien verstärkt betrachtet wer- genen Anbaumethoden, der Organisch-biologische und der den.34) Dabei könnte eine Rückbesinnung auf die reformeri- Natürliche Landbau, betonten die Rolle des Humus für die sche und innovative Grundhaltung der Pioniere dazu beitra- Fruchtbarkeit der Böden und die Qualität der landwirtschaft- gen, die sich abzeichnende administrative Erstarrung des Öko- lichen Erzeugnisse. Die aus der reduktionistischen Sichtweise logischen Landbaus 35) zu überwinden und eine Perspektive der Agrikulturchemie abgeleitete Mineraldüngung wurde mit aus der ökonomischen Krise vieler ökologisch wirtschaftender unterschiedlichen Begründungen von Rusch prinzipiell und von Betriebe zu eröffnen. Könemann im Sinne einer einseitigen Mineraldüngung abge- lehnt.27) Von beiden wurde gleichermaßen das holistische Literatur Motiv vertreten, dass ein Zusammenhang zwischen gesundem BALFOUR, Eve B. (1947): Boden, gesunden Nahrungsmitteln und gesunder Gesellschaft The Living Soil – evidence of the importance to human health of bestehe.28) soil vitality, with special reference to post-war planning. London: Faber and Faber. Das Ziel des frühen Biologischen Landbaus, durch eine ganz- BAUMGARTNER, Judith (1998): heitliche Sichtweise auf den Boden gesellschaftsreformerisch Ernährungsreform. In: Kerbs, Diethart und Jürgen Reulecke (Hrsg.), zu wirken, hat sich seit den 1980er Jahren grundlegend wei- Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, S. 115- terentwickelt. Im Ökologischen Landbau der Gegenwart hat 126. Wup-pertal: Hammer. sich eine Betrachtung des Bodens als „System“ durchgesetzt, DEWES, Thomas und L. SCHMITT (Hrsg.) (1995): Wege zu dauerfähiger, naturgerechter und sozialverträglicher Land- die sich im Wesentlichen auf den Begriff des Ökosystems be- bewirtschaftung. Beiträge zur 3. Wissenschaftstagung zum Ökologi- zieht.29) Die spezifische Auffassung des Bodens im biologischen schen Landbau vom 21. bis 23. Februar 1995 an der Christian-Alb- Landbau wurde damit für die naturwissenschaftliche Forschung rechts-Universität zu Kiel. Gießen: Wissenschaftlicher Fachverlag. zugänglich.30) Der Ökologische Landbau konnte unter anderem FRANCÉ, R.H. (1923): dadurch sowohl hinsichtlich der Forschung als auch hinsicht- Das Leben im Ackerboden. Stuttgart: Kosmos. lich der Vermarktung die Nische der Subkultur verlassen. Le- FREYER, Bernhard (Hrsg.) (2003): Beiträge zur 7. Wissenschaftstagung zum Ökologischen Landbau. Öko- diglich an einigen naturwissenschaftlich nicht begründbaren logischer Landbau der Zukunft, 24.-26. Februar 2003 in Wien. Wien: Dogmen, wie dem prinzipiellen Verzicht auf leichtlösliche Mi- Universität für Bodenkultur, Institut für Ökologischen Landbau.

25) Ebd., 9. „Sündigt der Landwirt am Erzeugnis, so tut er dieses gleichermaßen gegenüber den Erzeugungsfaktoren seiner Wirtschaft, so tut er dies an seinem Boden selbst. Denn nur ein gesunder Boden vermag gesunde Erzeugnisse hervorzubringen, und diese wieder vermögen nur im ge- sunden Zustande dem Tiere und dem Menschen zum Wohle zu gereichen.“ (Ebd.; Hervorh. d. A.) 26) Vgl. BAUMGARTNER (1998, 116ff.) 27) KÖNEMANN (1976, 6) 28) KÖNEMANN (1976, 8), Rusch (1955, 24f.) 29) Sinngemäß deutet sich diese Wendung allerdings schon früher an, zum Beispiel bei SEKERA (1943), der zwar noch ganzheitliche Begriffe wie „Gesundheit“ und „Krankheit“ für die Charakterisierung des Bodens verwendet, damit aber keine offene Kulturkritik mehr verbindet. Sein Ziel ist eine bodenbiologisch optimierte landwirtschaftliche Bodenpflege zum Zweck der Ertragsoptimierung. In ähnlicher Weise findet sich dieser Übergang noch bis in die 1990er Jahre bei PREUSCHEN (1989; 1994) 30) Einen guten Überblick über die Entwicklung der Forschung zu bodenbezogenen Fragen im Biologischen Landbau geben die Wissenschafts- tagungen zum Ökologischen Landbau: Vgl. ZERGER (1993), DEWES und SCHMITT (1995), KÖPKE und EISELE (1997), HOFFMANN und MÜLLER (1999), REENTS (2001), FREYER (2003), und HESS und RAHMANN (2005). Spätestens seit 1997 verschwanden die zuvor noch spo- radisch erscheinenden „ganzheitlich“ orientierten Beiträge zum Boden und wurden durch Detailfragen, vor allem zur Nährstoffdynamik, ersetzt. 31) Die von Könemann vertretene Position, dass ein prinzipieller Verzicht auf Mineraldünger nicht naturgemäß sei (KÖNEMANN 1976, 6ff.), konnte sich nicht durchsetzen. 32) Vgl. KRATOCHVIL et al. (2005) 33) „Der ökologische Landbau nimmt für die nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft eine Vorreiterrolle ein.“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2004, 111). Der Ökologische Landbau war zwischen 1998 und 2005 das Leitbild für die Agrarpolitik der Bundesregierung. Offensichtliche Defizite und Notwendigkeiten der inneren Weiterentwicklung im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsdebatte wurden dadurch jedoch eher verschleiert. 34) Vgl. die Übersicht über diese Diskussion bei SCHÄFER und SHERRIFF (2005) 35) Dies wird, vgl. GÖDERZ (2005) und HACCIUS (2005), vor allem im Zusammenhang mit der Umsetzung der EG-Öko-Verordnung (VERORD- NUNG (EWG) Nr. 2092/91 DES RATES vom 24. Juni 1991 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der land- wirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel kritisiert.

32 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Johannes PAIN Landbau als Kulturkritik

GÖDERZ, Richard (2005): REENTS, Hans Jürgen (Hrsg.) (2001a): Gerät die Kontrolle der Kontrolle außer Kontrolle? Ökologie & Land- Von Leit-Bildern zu Leit-Linien. Beiträge zur 6. Wissenschaftstagung bau 33, Nr. 1/2005, S. 25-26. zum Ökologischen Landbau, 6.-8. März 2001 in Freising-Weihen- HACCIUS, Manon (2005): stephan. Berlin: Köster. Ausufernde Verordnung bindet Sachverstand, Energie und Ideen. ––––– (2001b): Ökologie & Landbau 33, Nr. 2/2005, S. 54-55. Zum Naturverständnis des biologisch-dynamischen Landbaus.– Ber. HESS, Jürgen und Gerold RAHMANN (Hrsg.) (2005): ANL 25, S. 131-135. Ende der Nische. 8. Wissenschaftstagung Ökologischer Landbau in RUDOLPH, Walter (1925): Kassel vom 01. bis 04. März 2005. Kassel: kassel university press. Der natürliche Landbau als Grundlage des natürlichen Lebens. Er- HOFFMANN, Heide und Susann MÜLLER (Hrsg.) (1999): fahrungen und Erkenntnisse; Ein grün-goldener Tatweiser für die Beiträge zur 5. Wissenschaftstagung zum Ökologischen Landbau neue Zeit. Horben-Freiburg: „Fürs Land“. (Landbauers Sammlung „Vom Rand zur Mitte“ – 23.-25. Februar in Berlin. Berlin: Köster. ursprünglicher Natur-Gesetze; Erstes Buch). HOWARD, Albert (1943): RUSCH, Hans-Peter (1955): An Agricultural Testament. London: Oxford University Press. Naturwissenschaft von morgen – Vorlesungen über Erhaltung und KÖNEMANN, Ewald (1931): Kreislauf lebendiger Substanz. Krailling: Hans Georg Müller Verlag. Die neue biologische Düngewirtschaft unter Berücksichtigung der ––––– (1980): Handelsdünger auf Grundlage einer ausgedehnten und differenzier- Bodenfruchtbarkeit – Eine Studie biologischen Denkens. Heidel- ten Gär-, Rottekompost- und Gründüngerwirtschaft. Die natürliche berg: Haug. (4. Aufl.). Ernährung der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kulturpflan- SCHÄFER, Martina und Graeme SHERRIFF (2005): zen. II. Teil Die Praxis der Dünger- und Kompostbereitung. Jena: Von alten Ansprüchen und neuen Anforderungen. Ökologie & Land- Karl Zwing. bau 33, Nr. 135, S. 52-55. ––––– (1940a): SEIFERT, Alwin (1957): Gartenbau-Fibel. Praktische Regeln für den Obst- und Gemüsebau Der Kompost. Eine Fibel für kleine und große Gärtner, für Bauern auf biologischer Grundlage. Berlin: Siebeneicher Verlag. und Landwirte. Krailling bei München: Hanns Georg Müller Verlag. ––––– (1940b): SEKERA, Franz (1943): Düngung und Düngerbeschaffung leicht gemacht. (Einfache Selbst- Der gesunde und kranke Boden. Berlin: Reichsnährstandsverlag. gewinnung aller wichtigen Pflanzennährstoffe und deren richtige, (Schriften der Hochschule für Bodenkultur Wien). neuzeitliche Anwendung) Praktische Anleitung für Landwirte, Gärt- ner, Siedler und Kleingärtner. Berlin: Siebeneicher Verlag. SIMON, Bernhard (1991): Zur Geschichte des organisch-biologischen Landbaus nach Müller- ––––– (1941): Rusch. Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 39, Nr. Neuzeitliche Kompostbereitung. Mehr und besserer Humus- und Ei- 1, S. 69-90. gendünger nach neuesten Erfahrungen. Berlin: Siebeneicher Verlag. SIMONS, Gustav (1911): ––––– (1956): Bodendüngung, Pflanzenwachstum und Menschengesundheit. Ein Biologische Düngung im Gemüsebau, Obst- und Beerenbau. Prak- Ratgeber für denkende Gartenfreunde. Berlin: Verlag Lebenskunst- tische Anleitung für den Gartenbesitzer und Kleingärtner, Obst- und Heilkunst. (Bücher für Lebens und Heilreform; Heft 3). (Zweite Gemüsebauer. Büdingen-Gettenbach: Verlag Welt und Wissen. Auflage). ––––– Ewald (1976): STEINER, Rudolph (1985): Der Mensch im Reich der Ordnung. Lebensgesetze und Lebensord- Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirt- nung. Wien: Braumüller. schaft. Landwirtschaftlicher Kurs, Koberwitz bei Breslau 1924. Dor- KÖPKE, U. und J.-A. EISELE (Hrsg.) (1997): nach: Rudolf Steiner Verlag. (Taschenbuchausgabe der ungekürzten Beiträge zur 4. Wissenschaftstagung zum Ökologischen Landbau Textausgabe nach dem gleichnamigen Band der Rudolf Steiner Ge- 3.-4. März 1997 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univer- samtausgabe (7. Auflage, Dornach 1984)). sität Bonn. Bonn: Köster. (Schriftenreihe Institut für Organischen Landbau Nr. 4). VOGT, Gunter (2000): Entstehung und Entwicklung des ökologischen Landbaus im deutsch- KRATOCHVIL, Ruth, Astrid ENGEL, Ulrich SCHUMACHER und sprachigen Raum. Bad Dürkheim: Stiftung Ökologie & Landbau. Harald ULMER (2005): (Ökologische Konzepte (vormals Alternative Konzepte); 99). Ökologischer Landbau zwischen Vision und Realität. Ökologie & Landbau 33, Nr. 4/2005, S. 48-50. WAKSMAN, Selman A. (1930): Der gegenwärtige Stand der Bodenmikrobiologie und ihre Anwen- MOSER, Peter (1994): dung auf Bodenfruchtbarkeit und Pflanzenwachstum. Berlin: Urban Der Stand der Bauern. Bäuerliche Politik, Wirtschaft und Kultur ge- & Schwarzenberg. stern und heute. Frauenfeld: Huber. ––––– (1938): ––––– (1995): Humus. Origin, chemical composition, and importance in nature. Hans Müller. Aus dem Landwirt wieder einen Bauern machen. In: London: Baillière, Tindall and Cox. Mattioli, Aram (Hrsg.), Intellektuelle von Rechts. Ideologie und Po- litik in der Schweiz 1918-1939, S. 273-286. Zürich: Orell Füssli. ZERGER, Uli (Hrsg.) (1993): Forschung im Ökologischen Landbau. Beiträge zur Zweiten Wis- MÜLLER, Adam (1809): senschaftstagung Ökologischer Landbau. Bad Dürkheim: Stiftung Die Elemente der Staatskunst. Erster Theil. Berlin: J. D. Sander. Ökologie und Landbau. (SÖL-Sonderausgabe (Nr. 42)). Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.) (2004): Fortschrittsbericht 2004. Perspektiven für Deutschland. Unsere Stra- tegie für eine nachhaltige Entwicklung. Ber-lin. PREUSCHEN, Gerhardt (1989): Bodengesundung – Aktiver Bodenschutz durch Wiederbelebung der Anschrift des Verfassers: Böden und Herstellung der natürlichen Bodenfunktionen; Wissen- schaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Kaiserslautern: Dipl.-Ing. Johannes Pain Stiftung Ökologie und Landbau. (SÖL-Sonderausgabe Nr. 18). (3. Bayerische Akademie für Naturschutz überarbeitete und erweiterte Auflage). und Landschaftspflege (ANL) ––––– (1994): Seethalerstraße 6 Ackerbaulehre nach ökologischen Gesetzen. Das Handbuch für die 83410 Laufen neue Landwirtschaft. Karlsruhe: C.F. Müller. (Alternative Konzep- [email protected] te – Schriftenreihe der Stiftung Ökologie und Landbau; 75). (2. Auf- lage).

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 33 Almzukunft und Almförderung

Alfred RINGLER1) Almzukunft und Almförderung Ökologische Perspektiven im Klima- und Politikwandel (Teil 1) Future and support policy of mountain pastures on alpine scale Ecological perspectives due to climate and politics change (1st part)

Gliederung Entgegen optimistischer Beteuerungen der Regionalpolitiker scheint ihre Zukunft überschattet durch Naturkatastrophen, Zusammenfassung/Summary Sparzwänge und Osterweiterung, allgemeine Bergbauernkri- Abkürzungen und Fachbegriffe se und Preisdruck, großräumlich erheblichen Futterüberhang 1. Auslaufmodell im Klimawandel? Halten die Almen bei gleichzeitig sinkenden Viehbeständen, abwandernde Sen- wachsenden Naturgefahren stand? nereien (LAUBER 2006). 2. Lohnt sich Almwirtschaft überhaupt noch? Für die Weidewirtschaft zukunftsbestimmender als der Klima- 2.1 Kosten-Nutzen-Bilanz wandel ist aber die weitere Agrarumweltpolitik („health check“ 2.2 Was verbergen die Kosten-Nutzen-Bilanzen? 2008/2009 für die EU-Programmperiode 2007-2013). Wir ana- 3. Alpine Förderprogramme – Status Quo-Analyse lysieren deshalb ihren Wirkungsgrad und ihre erheblichen 3.1 Vorbemerkung regionalen Disparitäten. Als Folge der gegenwärtigen EU- 3.2 Warum wird gefördert? (Anlass, Bedeutung und Effekt Agrarreform ist eine Stabilisierung des bewirtschafteten Flä- der Förderung) 3.3 Was wird gefördert? (Förderziele, -inhalte und -zonen) chenumfanges, aber auch ein absinkender Pflegegrad alpiner 3.4 Wie wird gefördert? (Vollzugsweise, Umsetzungsprobleme) Kulturlandschaft zu erwarten. 3.4.1 Ökologische Zielgenauigkeit, Förderkonditionen, Als Konsequenz wird eine interregional besser austarierte, Abstufungen ökologisch effizientere Förderpolitik gefordert, die die Zah- 3.4.2 Umsetzungsweise, Förderkulissen (Förderzonen) lungsbereitschaft der EU erhält und die Chancengleichheit 3.4.3 Grenzen der Planbarkeit, Planung versus der Bergbauern verbessert. Regionen sollten voneinander Eigenverantwortung lernen und den vorherrschenden agrarumweltpolitischen Par- 3.5 Wie hoch wird gefördert? (Förderintensität) tikularismus abbauen. Errungenschaften einzelner Regionen 3.5.1 Gesamtförderung Alpen 3.5.2 Förderintensität Alpengrünland nach Ländern werden benannt und zur Nachahmung empfohlen, weitere und Regionen Förderelemente angedacht. Insgesamt ist der „Österreichi- 3.5.3 Förderintensität der Almzone sche Weg“ mit Betonung der Zweiten Säule und der ELER- 4. Perspektiven, Handlungsbedarf (= Teil 2) Achsen 2 und 1, ökologisch modifiziert und kombiniert mit 4.1 Welches Landschaftsleitbild ist realistisch? einigen Schweizer Förderelementen, ein brauchbares Hand- 4.2 Ist Offenhaltung auch ohne Almwirtschaft denkbar? lungsmodell auch für andere Alpen-, Pyrenäen- und Karpa- 4.3 Folgen der Einsparpolitik und der Agrarreform für die tenregionen. Almlandschaft Summary 4.4 Vorschläge für die Almförderpolitik Since they cover one third of the Alpine area, high-altitude 4.4.1 Effiziente Ausgestaltung und Zielgenauigkeit der Programme pastures serve as core areas of mountain tourism and as a 4.4.2 Abgleich der Förderprogramme und -inhalte particular characteristic of the Alps. zwischen Regionen Unlike optimistic affirmations of local politicians, “Almen” are 4.4.3 Minimierung des Verwaltungsaufwandes subject to global change and natural hazards as well as to 4.4.4 Naturschutz hinterm Zaun? (Bewusstseins-)Trennung eastern enlargement of EC, crisis of mountain farms, prices von Biotopen und Nutzflächen? under pressure, surplus of herbage while cattle-stock and 4.4.5 Minimierung von Stoffimporten – Privilegierung der local diaries are diminishing (LAUBER 2006). However, the Milchalmen? greater risk for alpine pasturing will arise from agri-environ- 4.4.6 Ist auch „Produktion“ von Hangstabilität und Schutzleistungen zu entgelten? mental policy than from climate change. We investigate mea- 4.4.7 Einstellung auf große Prädatoren („Raubtiere“) sure efficiencies and will hence derive subsidizing mecha- 4.4.8 Umsetzung der Almforschung in der Praxis und den nisms along ecological and biodiversity principles with regard Programmen to CAP’s “health check” 2008/2009. Interregional disparities 5. Schlussbemerkung are revealed, partly disadvantaging and partly favouring an ecologically sound pastoralism. The present agrarian reform 6. Literatur is still expected to halt the shrinking of managed area, but degree of landscape maintenance will drop. Zusammenfassung Lack of clarity about relationships between natural handicap 2) 1 3) Almen bedecken etwa ⁄3 der alpinen Gebirgsfläche , in eini- and payment level may undermine measure’s efficiencies. gen Regionen sogar mehr als 50%. Als zentrale Plattform des Alpine cohesion of funding principles and schemes must be Gebirgstourismus sind sie aus den Alpen nicht wegzudenken. improved, the predominant separatism of agro-environment

1) Tel.: 0 8122/4 9414; [email protected] 2) Gemeint sind alle Sömmerungsweiden, also Almen, Alpen, alpeggi, malghe, alpages incl. ihrer Vor- und extensiven Heimweiden sowie der Futterergänzungsflächen weit außerhalb des Heimbetriebes (z.B. mayens, Maiensäßen, monti) 3) Hochlagen der Alpen ohne Haupttäler

34 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung

ÖQV Öko-Qualitätsverordnung der Schweiz policies mitigated, particular regional achievements exten- ÖPUL „Österr. Programm für eine umweltgerechte, extensive ded and scope of measures narrowed to sites where ecolo- und den natürlichen Lebensraum schützende Land- gical benefits are most evident and risk of non-use greatest. wirtschaft“ Thus, the payment readiness of EC and competitive equali- PLE/PSR Programm Ländliche Entwicklung Österreich und kor- ty of mountain peasants can be enhanced. respondierend in anderen EU-Staaten; Piano Regiona- Additional concepts are outlined in this contribution prelimi- le di Sviluppo Rurale 2007-2013 (= PLE der oberitalie- narily. The Austrian strong emphasis on Second Pillar and its nischen Regionen). axes 2 and 1, modified by certain Swiss subsidizing proce- SöB Sömmerungsbeiträge (= Alpprämie pro Tiereinheit) dures, should allow other Alpine, Pyrenean and Carpathian SöBV Sömmerungsbeitragsverordung der Schweiz Transhumanz: Wanderschafhaltung mit getrennten Sommereinstands- countries to save and promote their alpine grassland and gebieten (in den Alpen Hochweiden) und Winterein- landscape identity best. standsgebieten (Tieflagen). VNP Vertragsnaturschutzprogramm bzw. naturschutzorien- tierte Zahlungen in anderen Programmen (z.B. WF- Abkürzungen und Fachbegriffe Flächen im ÖPUL) Zweite Säule Nicht produktionsorientierte Förderprogramme der EU A Österreich, BY Bayern, CH Schweiz, D Deutschland, F Frankreich, und der Regionen (= „Ländliche Entwicklung“) FL Liechtenstein, IT Italien, SLO Slowenien, UK United Kingdom. Namen der „Regionen“ (Bundesländer, Kantone, regioni autonomi, re- gions, provincie) meist ausgeschrieben. 1. Auslaufmodell im Klimawandel? Achsen der Ländlichen Entwicklung (ELER): Halten die Almen wachsenden Achse 1:Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des Agrar- und Lebensmittelsektors, Ausbildung Naturgefahren stand? Achse 2: Agrarumwelt, Landmanagement, Biodiversität-Wasser-Kli- Bedrohungsszenarien zum Klimawandel sind in immer kür- mawandel Achse 3:Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft + Verbesserung zeren Abständen mit heftigen Schadereignissen in den Alpen der Lebensqualität im ländlichen Raum, Beschäftigung unterlegt (OECD 2007): Orkan „Kyrill“ Januar 2007, August- Achse 4: Entwickelt Umsetzungsmethoden für Achsen 1-3: Innova- hochwasser 2005, Trockensommer mit stetig wachsenden tion, governance, bottom-up, LEADER Entschädigungen in den Innen- und SW-Alpenalpen, z.B. im AZ Ausgleichszulage (= ICHN Indennite compensatoire de Tessin und Vintschgau (z.B. 2003, 2005, 2007?), Hochwässer- handicaps naturels = indennita compensativa) Alp+Hirt Alpungs- und Behirtungsprämie und Erdrutschkatastrophen im Wallis und in Oberitalien im BfL Bundesamt für Landwirtschaft (Schweiz) Oktober 2000 sowie im April 2002 in den Nordwestalpen (z.B. BUWAL Schweizer Bundesanstalt für Umwelt, Wald und Lawi- Uri), Pfingst-Hochwasser 1999, Wirbelsturm „Lothar“ zu nen Weihnachten 1999, Orkane „Wiebke“ und Vivian“ im Februar CAD Contrat d’agriculture durable (betriebsbezogener Ag- rarumweltvertrag in Frankreich) 1990… CTE Contrat Territorial d’Exploitation (Betriebsvertrag in F) Unwetter der letzten Jahre ließen manche Alphänge durch ELER EU-Verordnung zur Umsetzung der Ländlichen Entwick- lungspolitik 2007-2013 Hangmuren („Saren“) an so zahlreichen Stellen aufplatzen Erschließungs- (= Nicht-Erschließungsausgleich) Entschädigung für feh- oder abrutschen, dass die Nutzung jahrelang gestört war oder abschlag: lenden Fahrzeugweg eingestellt werden musste (z.B. Alpgebiet ob Sachseln/CH, Erste Säule produktionsbezogene EU-Förderung, z.B. Tier- und Milch- Sibratsgfäll/Bregenzer Wald/A, Fälli-Hölli/CH). Immer wieder prämien. Ext tierbezogene Extensivierungsprämien (ab 2005 in ein- werden Almen durch Überschüttung unbenutzbar. Allein im heitliche Betriebs- oder Regionalprämien übergeführt), kleinen Südtirol wurden 2005 872 470 2 für Murenschäden Teil der Ersten Säule ausbezahlt (Jahresbericht Forstassessorat Bozen). Kämen ganze Fördersatz amtlich vorgegebene Obergrenze des Förderanteiles (% Berghänge auf die Almen herunter, gäbe es dort nichts mehr der Investitionssumme; der anrechnungsfähigen Kosten) Förderquote tatsächlich gewährte Hilfen (% der Investitionssumme zu erhalten und zu fördern. bzw. der anrechnungsfähigen Kosten) Dieses worst case-Szenario scheint nicht vollkommen utopisch, GAP (= CAP) Gemeinsame EU-Agrarpolitik, common agrarian policy GVE Großvieheinheit weil ja bereits früher ganze Almgebiete durch Klimaschwan- LN Landwirtschaftliche Nutzfläche kungen verwaisten (so z.B. um 1600 oder nach 1850), was z.B. MAD Mesures Agri-Environnementales Durable (F) in die Mythen von der übergletscherten Alp Eingang gefunden Maiensäß (= frz. mayen): Voralm im alemannisch-walserischen hat. HAUSMANN et al. (2004) zeigten z.B. im Gebiet des Gebiet mit Heugewinnung und oft größeren Gebäuden NSt Normalstoß: 1 GVE in 100 Weidetagen (= Normalkuh- Schweizer Seebergsees (1830 m), dass dort die Alpwirtschaft gras NKG) zur „Kleinen Eiszeit“ nach 1600 völlig eingestellt wurde.

Bild 1: Diese Alp im Arlberggebiet zeigt das für Großalmen auf weichen Schichten typische breite Lebensraumspektrum: Fettweiden und Lägerfluren im Wirtschaftszentrum, bodensaure Magerweiden („Arnikawiesen“), Zwerg- strauchheiden, Grünerlengebüsche, Hangflachmoore, kleinen Quellmoore, Rinn- sale, Tobel- und Alpwälder (Foto: Prof. Dr. H. Liehl) Figure 1: “Alpe” in the Arlberg district representing the comprehensive spec- trum of biotopes on marl and schist bedrocks

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 35 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

Heute allerdings lauten die Prognosen: weitere Erwärmung, Schutzwälder. Anhaltend rasche Waldzuwächse auf alpinen zunehmende Unwetter und ungleichmäßigere Niederschlags- Brachen (im Trentino nach PSR 2007: + 2,3% zwischen verteilung. OECD (2007), der IPCC-Bericht 2001 (BENIS- 1993 und 2003; 775 ha pro Jahr) führen tendenziell zu einer TON 2001) und das europäische ACACIA-Projekt (PARRY et Hangstabilisierung. Insbesondere viele tiefer gelegene Almen al. 2000) rechnen in den kommenden 50-100 Jahren mit einem auf stabilem Gestein, über denen sich keine Steilflanken und generellen Temperaturanstieg im Alpenraum von 3-5 °C, einer hohen Massive auftürmen (z.B. Landalpen auf den Molasse- leichten Niederschlagszunahme im Winter (vor allem Alpen- Vorbergen, südostalpine Silikatmittelgebirge, Karstplateaus), südseite) und Niederschlagsabnahme in der Alpsaison („Me- aber auch Verebnungen in höheren Lagen dürften wenig von diterranisierung des Klimas“) sowie einer weiteren Zunahme zunehmender Abtrags-, Aufschüttungs- und Lawinentätigkeit der Extremereignisse. Sicherlich wird der Räumungsaufwand betroffen sein. nach Vermurungen, Schuttstößen, geworfenen Bäumen und Eine Achillesferse bleibt jedoch: Erschließungswege quer Lawinenmaterial weiter anwachsen. SEBASTIA et al. (2004) über steile Bergflanken, Wildbäche oder Runsen müssen bei registrierten bereits eine Aufwuchsreaktion der subalpinen sinkenden Förderetats gegen zunehmende Hang- und Hoch- Weiden. BUGMANN et al. (2007) und BOTKIN et al. (2007) wasserdynamik verteidigt werden. Ein paar neue Anbrüche prognostizieren erhebliche Artenumschichtungen der Weiden oder Lawinenschäden in der Weidefläche legen selten den und Rasen sowie eine ansteigende Gehölzgrenze. Wärmelieben- ganzen Almbetrieb lahm, sehr wohl aber ein abgerutschter de Arten mit geringerem Futterwert oder sogar Giftpflanzen oder durch Lawinen abrasierter Fahr- und Triebweg. Störun- wie das Jakobskreuzkraut könnten sich ausbreiten (SEBASTIA gen im Bereich alter Hangrunsen, Lawinen, Murgänge und et al. 2004). Zunehmend auftauende Permafrostböden und morscher Gesteinspartien gab es immer schon, neu sind aber abrutschgefährdete Blockgletscher reichen sogar in die Hoch- kilometerweite Trassenzerstörungen durch Hochwasser und weidezone hinein, die in den Zentralalpen 3000 m überschreit- Murgänge, besonders entlang von Wildbächen mit größerem en kann. Mit ansteigender Waldgrenze und vitalerer Bestockung Einzugsgebiet (Beispiel aus Bayern: Sägertalweg bei Linder- heutiger Waldgrenzbereiche steigt auch der Schwendaufwand hof, Rappenalptal/Allgäu, Schwarzentennweg bei Kreuth). (DULLINGER et al. 2004). Die von Natur aus leistungsfähig- Schon in Katastrophenjahren wie 1987, 1999, 2002 und Spät- sten, stark nachliefernden Standorte auf den Karböden und in sommer 2005 waren alpenweit zahlreiche Almen wegen We- Hochtälern könnten am stärksten in Mitleidenschaft gezogen gezerstörung stillgelegt, einige davon auch in Bayern. Immer werden. mehr Dauerbaustellen würden die öffentliche Hand überfor- Diesem Bedrohungspotenzial steht eine immer störanfälligere dern, zumal gleichzeitig der Reparaturaufwand für die öffent- und unflexiblere Berglandwirtschaft gegenüber, die nicht mehr lichen transalpinen Verkehrswege anwächst. Im Katastrophen- wie früher einfach das Vieh in Kahlschläge und Wälder hinein- fall binden kapitale Schäden in Haupttälern und im Alpen- treiben oder einen Triebweg verlegen kann. Flächenwidmungen, vorland die Kräfte, abgelegene Alm- und Forstwege müssten Besitz- und Rechtsverhältnisse sind präziser fixiert als früher. warten (sofern sie nicht gerade als Umleitung für zerstörte Trotzdem dürfte der worst case nicht so leicht eintreten. Auf Talstraßen herhalten müssen, wie z.B. im Paznaun im August/ den Almen sind heute viel höhere Eigentums- und Investiti- September 2005). Dies konnte man z.B. bei den großen ober- onswerte, Zahlungsansprüche und touristische Zusatzeinkom- italienischen Hochwasserschäden im Herbst 2000 und nach dem men zu verteidigen. Dort, wo der Wintertourismus aus topo- Augusthochwasser 2005 beobachten (u.a. Aostatal, Vorarlberg, grafischen Gründen nicht mehr weiter nach oben ausweichen Oberallgäu, Bezirk Landeck). Wäre ein Rückbau kilometer- kann (z.B. in den gesamten Randalpen), könnte der Klimawan- weit durch tiefe Murgräben, Nassschnee- und Schotterlawi- del dem Sommertourismus wieder mehr Schub geben, was nen zerstörter Wege alle paar Jahre erforderlich, könnte das automatisch die Almstufe mehr in den Fokus rückt. Ein mo- volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Alm dern ausgestattetes, noch nicht abbezahltes Alpgebäude wird sehr schnell ungünstig werden. man nicht einfach aufgeben. Gefährdete Standorte wurden Eine Option wäre in solchen Fällen auch das Weitermachen mit bereits früher aufgelassen und dem Wald überlassen. Geblie- Materialseilbahnen oder eine Rückverlegung der Fahrzeuger- ben sind meist relativ stabile, historisch erprobte Nutzflächen schließung bis zu den neuralgischen Rutsch- und Murstellen inmitten der heute viel ausgedehnteren und leistungsfähigeren (von dort aus Fuß- und Viehtriebwege). Der „Auftrieb“ per Hubschrauber wie in einigen Fällen in Oberitalien führte sich dort durch eine hohe Letalität des höhe- Bild 2: Wie auf dieser Hochalp am Flüela-Pass/Graubünden enthalten nungewohnten Jungviehs ad absurdum. zentralalpine Hochalmen oft Glet- Erhöhte Starkregen, Schnee- und Hangschuttmassen schervorfelder, Gletscherbäche, eu- könnten mehr Eigenleistung und Eigenanteil bei der roparechtlich prioritäre subarktische Rieselfluren (Caricion bicoloris) und Wegeunterhaltung erzwingen. Wo das Potenzial dazu Hochlagenmoore. Auch solche na- fehlt, kann der Almbetrieb gefährdet sein. Ob öffent- turnahen Bestände können meist nur liche Zuschüsse diese Defizite auch zukünftig aus- im Zusammenwirken mit der Alm- gleichen werden, ist zumindest fraglich. Die Schwei- wirtschaft geschützt und entwickelt zer Bundes- und Kantonszuschüsse zur Alpstruktur- werden (Foto: A. Ringler) verbesserung einschließlich Wegebau sind mittler- Figure 2: High-altitude pasture near Flüela pass/CH with spring fens and weile auf das Niveau von 1983 zurückgefallen (nach: glacigenous streams „Z’Alp aktuell“/Schweiz, 1.6.2002, online).

36 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung

Viele Almen wurden früher aus Wassermangel aufgelassen. Erschließungswegen im oberen Höhenbereich leichter ver- Zunehmende Trockenschäden in den Innen- und Südalpen schmerzen lässt. (z.B. 2003, 2005) geben einen Vorgeschmack von den mög- • Der Anstieg der Vegetationsgrenze bringt kaum Vorteile, weil lichen zukünftigen Futter- und Wasserengpässen vor allem in an die heutige Hochalm- und Grasheidestufe im Regelfall der späteren Weideperiode. Wo Wasser fehlt, hilft auch Dün- kaum berasungsfähige Fels-, Block- und Schuttfluren an- gung nicht weiter, denn protein- und energiereicher Aufwuchs schließen (Almen sind i.d.R. an „alte“, nicht zu flachgründi- hat einen höheren Wasserbedarf. Schaf- und Ziegenalmen, ge Böden gebunden), und andererseits mehr Schwendarbeit, die im Südwesten der Alpen und in der höchsten Almstufe der stärkere sommerliche Austrocknung und lokale Vermurung Zentralalpen vorherrschen, sind vom Wassermangel weniger und Erodierung auf die Älpler zukommen. betroffen als Rinder-, vor allem Kuhalmen. Hangwasserzügige Almen in Karen und Hochtälern und wasserspeicherfähige 2. Lohnt sich Almwirtschaft überhaupt noch? tiefgründige Weideböden sind natürlich weniger anfällig als 2.1 Kosten-Nutzen-Bilanz Hochplateaus, Sonnhänge, ganz allgemein: flachgründige Zwei- Nach RUDMANN (2004) können die ausgeschütteten Direkt- schichtböden und Karstflächen (z.B. Vercors, Totes Gebirge, zahlungen derzeit noch knapp die sinkenden Erzeugerpreise Gottesacker, Muotathal, Dolomiten). kompensieren. In Zukunft aber würde dies nicht mehr gewähr- Ändern wird sich auch das Verhältnis der Almen zum Winter- leistet sein. Nach PARIZEK & WAGNER (2004) kann man tourismus, der sich bereits jetzt aus Schneemangel aus der Alm- Almwirtschaft ohne Einkommensübertragungen nicht kosten- stufe „nach oben“ zu verabschieden beginnt (Ausbauvorhaben deckend betreiben, „auch produktionsseitig ergibt sich ein in den Zentralalpen). Damit können zahlreiche einträgliche Verzicht (an Fleischzuwachs, Milchleistung), eine bessere Ver- Jausenstationen von Agrargemeinschaften und Alpkorpora- wertung des Raufutters in der Nachperiode und somit eine tionen ins Abseits geraten. Erhöhung der Mastfähigkeit und Milchleistung können den „Verlust“ nicht ausgleichen“. DE ROS (2004), teilweise auch Insgesamt bleibt festzustellen: OBERHAMMER (2006) konstatieren zunehmende Unwirt- • Großflächiger Zusammenbruch der Almwirtschaft durch schaftlichkeit der Kuhalpung und Alm-Milcherzeugung, die Naturgewalten im Klimawandel ist wenig wahrscheinlich, auch durch erhöhte Alpkäsepreise nicht wettgemacht werden schicksalhafter wird eher die agrarumweltpolitische, agrar- könne. Würden 80% des Milchkuhbestandes gesömmert, so soziale und globalökonomische Entwicklung sein. stiegen die Produktionskosten von ca. 40-45 Cent/Liter (reine • Stark betroffen sein werden aber Almgebiete mit langen Er- Tal-Haltung) auf bis zu 80 Cent/Liter. SINNEN et al. (2007) schließungswegen im schwierigen Gelände. Aufwendige stellen die gesamte Alpwirtschaft als unrentablen „Subven- LKW-Wege werden schwerer dauerhaft zu unterhalten sein tionsschlucker“ in Frage und raten zur Aufgabe. als besser geländeeingepaßte Schmalspurtrassen. Höheres Klima-Risiko mahnt zu größerer Vorsicht bei Ausbaumaß- Wie aber sieht eine umfassendere volkswirtschaftliche Ko- nahmen. Die Erhaltung schwieriger Almstandorte wird auf- sten-Nutzen-Rechnung aus? wendiger (z.B. Kare mit hohen Steilflanken). Je fahrzeug- Die Universität Trient/Trento erstellte eine solche Bilanz für unabhängiger eine Alm, desto eher wird sie Klima- und zwei regionaltypische Almen am Monte Pasubio (RAFFAE- Hanglabilitätsänderungen überstehen. Materialseilbahnen LI et al. 2004). Ihre Ergebnisse werden nicht auf ungeteilte bieten höhere Störsicherheit. Zustimmung stoßen, sollen aber trotzdem kurz dargestellt • Zunehmende Störungen könnten zumindest regional die werden. Untersuchungsgebiete waren die beiden Almen weniger infrastrukturgebundene Schafalpung gegenüber der • Malga Campobiso: nicht öffentlich anfahrbar; 62 ha, davon Rinderalpung begünstigen. Die schaftypischen Konflikte 32 ha beweidet; 38 Galtrinder, etwas unter Idealbestoß; könnten sich damit lokal verschärfen. Die transhumante waldumgebene Insel; jährliche Verlosung der Weiden Almwirtschaft der Südwestalpen (Schafherden-Weittrieb) • Malga Bovetal: öffentlich anfahrbar, 130 ha, davon 72 ha dürfte wegen ihrer geringen Infrastrukturabhängigkeit rela- beweidet; 43 Kühe, 18 Galtrinder; 20% unter Idealbestoß. tiv am wenigsten betroffen sein. Die Resultate sind allerdings auch wegen der Besitzstruktur • Die Resistenz gegen Klimawandel und Naturgewalten er- (Gemeindealmgebiete) nicht überallhin übertragbar (erläu- höht man durch relativ talunabhängige Hirten statt Betreu- ternde Daten siehe im kleingedruckten Text und in Tab.1): ung vom Tal aus, Umwandlung von Senn- und Milchal- • Die Verbraucher (überwiegend aus dem Trentino) und Steu- men in Extensivrinder-,Jung- und Kleinviehalmen, Reak- erzahler (in der ganzen EU) tragen auf diesen Almen 93- tivierung des traditionellen Staffelbetriebes (Stafelwech- 95% der Netto-Kosten, die Landbewirtschafter 7-5%. Der sel), Vergrößerung der Weideeinheiten, was den Ausfall von

Bild 3: Die Pessenbacher Alm/Jachenau/Bayern umfasst einen Biotopgradien- ten von der offenen Magerweide über den räumigem Weidewald (Wytweide) bis zum Bergwald, typisch für viele kalkalpine Berechtigungs-/Servituts- und Privatalmen. Scharfe Wald-Weide-Trennung mit fast zwangsläufiger Intensivie- rung der restlichen Lichtweideinsel schmälert den hohen ökologischen Gesamt- wert (Foto A. Ringler) Figure 3: Pessenbacher Alm/Upper Bavaria, includes an extended biotope- gradient. Separation of wood and pasture with intensification of remnant pas- ture would reduce the high ecological value of the mosaic habitat

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 37 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

Transfer erfolgt über die Milchpreisstützung (Verbraucher), Auf Bovetal war vor dem 1.Weltkrieg die Pacht eine Haupteinnahmequel- die Weideprämie und Investitionszuschüsse (Steuerzahler). le der almbesitzenden Gemeinde, welche die Aufwendungen um etwa • „Erhaltung der Almen hat ökonomisch nur Sinn, wenn Nicht- 600 Kronen übertrafen. Heute gibt die Gemeinde für den Almunterhalt (Infrastruktur und Entsorgung) mehr aus, als durch Pacht und Bußgeld Markt-Güter (das ist vor allem Erholung) zu Buche schlagen“ hereinkommt. Für die Almtouristen allerdings liegt der Nutzen (abzüg- (S.15 in RAFFAELI et al. 2004), was bisher kaum der Fall ist. lich Maut und Bußgeld 21 847 2 pro Saison) höher als der agrarische • Gerechter als die derzeitige „anonyme Fernfinanzierung“ Almnutzen für die Almbauern. Auf der nicht öffentlich anfahrbaren Alm durch Steuerzahler wäre eine „Alm-Eintrittsgebühr“ für die Campobiso umfasst der Besuchernutzen dagegen nur 44% des Nutzens Almbesucher, die im Gegensatz zum Steuerzahler diese kon- der Almbewirtschafter. Der geschätzte Erholungsnutzen pro ha Weide krete Alm auch nutzen und ökologisch beanspruchen. Sie ist 320 2 auf Bovetal und 141 auf Campobiso (ohne öffentliche Straße). könne den Zuschuss aus regionalen/europäischen Töpfen Als Parallelbeispiel sei die Betriebsabrechnung der großen Tessiner Alp kompensieren und den allgemeinen Steuerzahler entlasten. Campo la Torba angeführt (nach WICK 1979), die im Jahre 1886 einen nennenswerten agrarwirtschaftlichen Gewinn von 1 397 Sfr. erwirtschaf- • Dieses „Almticket“ wäre aber wohl nur auf Almen mit ho- tete. Vom Gesamtertrag aus Käse-, Ziger-, Kälberverkauf (6 622 + 105 her Attraktivität und erschließungsbedingt hohem Besucher- + 448 = 7 175 Sfr.) waren abzuziehen: Miete gealpte Tiere (Sömme- druck ein geschäftlicher Erfolg. Auf Bovetal kommen 90% rungsgeld für ins Lehen genommene Tiere) 2 957 Sfr., Alppacht 1 483 der trotz Maut 50 000-60 000 Sommergäste mit dem eige- Sfr., Löhne 894 Sfr., Käsetransport 82 Sfr., Esswaren und Salz für Tie- nen PKW direkt auf die Alm (Zufahrt von Veneto) und nur re 116 Sfr. sowie weitere Spesen 245 Sfr. 10% gehen den 6 km langen Trentiner Zufahrtsweg, der ab Tabelle 1: 8.00 Uhr für PKW gesperrt ist. Die Fußgängeralm Camo- Kosten-Nutzen-Bilanz zweier Almbetriebe im Tren- tino (nach RAFFAELI et al. 2004) biso erreichen nur 1 800 Leute pro Almsommer, obwohl je Kenndaten zu den Almen siehe Text. Eingerückte Zahlen sind Teil- nach Route nur 1 oder 3 Stunden zu marschieren ist. mengen der linksbündigen Zahlen darüber. Milchprodukte: Durch- 2 Man könnte daraus den vernichtenden Schluss ziehen (was schnittspreis pro kg 0,35 ; 28 070 l Milch in 100 Tagen; Transport zur 25 km entfernten Molkerei; Flächenprämie bis 72 2/ha; Erho- RAFFAELI et al. 2004 so nicht formulieren), dass die Alm- lungswert: ermittelt über „Contingent Valuation“ (Monetarisierung zukunft bei begrenzten öffentlichen Zuschüssen von der Öff- ideeller Werte durch Besucherbefragungen „Wieviel würden Sie zah- nung der Almwege für den öffentlichen Verkehr, von sehr len für den Besuch von…?“); Hirtenkosten: Lohn, Versicherungs- guten Asphaltstraßen mit vielen Ausweichstellen, von neuen beiträge, Unterkunft, Verpflegung. Gebäudekosten: Abschreibung Personenseilbahnen, Events und dem Ausbau als Märchen- basierend auf Gebäude-Lebensdauer von 30 Jahren. Kronen: im parks, Sommerrodel, Kinderparadiese, etc. abhängt (etwa im damals österreich-ungarischen Trentino gültige k.u.k. Währung. Stile des Teichalmprojekts in Kärnten). Schlechter erschlos- sene, besonders naturschutzbedeutsame und aus Naturschutz- gründen nicht öffentlich anfahrbare Almen wären ohne Na- belschnur zum Tourismus und müssten bei nachlassender öf- fentlicher Förderung aufgeben. Wenn diese radikalen Konsequenzen vermieden werden sollen, das Fördervolumen aber deutlich absinkt, folgt aus der volks- wirtschaftlichen Logik von RAFFAELI et al. (2004) ein Split- ting der Almen bezüglich ihrer Finanzierung: hohe öffent- liche Förderung auf den naturschutzbedeutsamen, meist ruhi- geren Almen („Pflege-Almen“), Zurückfahren der Förderung auf gut erschlossenen Almen mit hohem Besucherdruck, die sich aber durch selbst eingehobene „Almgebühren“ und ga- stronomische Erlöse schadlos halten (Tourismusalmen). Dazu ist anzumerken, dass die Einkommensdisparitäten zwi- schen touristisch privilegierten und traditionellen abgelege- nen Almen auch früher schon den Almfrieden gestört haben. Beispielsweise gibt es in Österreich relativ wenige „Touris- musalmen“, wo das Einkommensverhältnis Tourismus/Land- wirtschaft 9 : 1 erreichen kann (ARNBERGER et al. 2006), und eine Masse an touristisch völlig abgehängten Almen.

Bild 4: Osterglocken (Narcissus pseudonarcissus) auf einer Alp im Schweizer Jura (Kanton Neuchatel) – Beispiel für die generell hohe Verantwortung der Alm- wirtschaft für den botanischen Artenschutz. Solche für den Westalpenrand typische Bestände würden ohne extensive Weidewirtschaft allmählich ver- schwinden (Foto A. Ringler) Figure 4: Narcissus pseudonarcissus flowering on a summer pasture in the Swiss Jura

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2.2 Was verbergen die Kosten-Nutzen-Bilanzen? Volkswirtschaftlicher Wert intakter Rasen Da der größte Teil des Almviehs von Bergbauernbetrieben In extensiver und kontrollierter Form kann Almwirtschaft und nicht aus dem Tiefland stammt (RUDMANN 2004) und dort, wo die Schutzbedürfnisse keine Bewaldung erfordern, diese Betriebe im Tal oft weniger Futterfläche haben als in zu einer relativen Stabilität der Hänge beitragen. In den Aus- der Alpzone, besteht nach wie vor eine beträchtliche einzel- tralischen Alpen wurde der Nutzen eines stabilen, dichten, betriebliche Futterabhängigkeit von den Almen und Sömme- kurzen, mechanisch robusten Rasens für die hydroelektrische rungsbetrieben. Der Heimbetrieb ist in seiner sommerlichen Energiegewinnung in Vergleich gesetzt zu einer durch Über- Tierzahl, Arbeit, Futtermenge, Düngerintensität, Milchkontin- weidung stark erodierten Vegetationsdecke. Dabei spielten gentierung durch die Alpung im Sommer erheblich entlastet. eine Rolle: Höhe und Gleichmäßigkeit der Wasserspende für Ohne die ausgedehnten Sömmerungsweiden würden bei glei- alpine Kraftwerksspeicher, Verringerung des Speicherraumes cher Gesamt-Grünlandproduktivität die Wiesen und Weiden durch Sedimente, Aufwand für die Entfernung überhöhter Sedi- der Talzone noch intensiver bewirtschaftet als derzeit. Auch mentfrachten usw. Man ermittelt den Mehrwert des gepflegten der Trend zu größerflächigen extensiveren Weidebetrieben und dichten Gebirgsrasens mit 150 $/ha/Jahr (KÖRNER 2000). erfordert die Erhaltung großflächiger alpiner Weideflächen. Dieser Wert ist zwar kaum global verallgemeinerbar, zeigt aber doch, dass der Unterschied zwischen einer „nachhaltigen“ und Eine Reihe von Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen werden erst einer landschaftsschädlichen Gebirgsweideform auch volks- weit außer- und unterhalb der Almgebiete sichtbar oder wirk- wirtschaftlich und monetär fassbar ist. KÖRNER (2000) ver- sam und gehen üblicherweise in die Wirtschaftlichkeitsbetrach- kürzte diese Zusammenhänge zu einigen allgemeingültigen tungen nicht ein. Die mehrheitlich „schwarzen Zahlen“ der Leitsätzen für den Umgang des Menschen mit den Gebirgen, von GREIF & RIEMERTH (2006) sowie OBERHAMMER die hier in sehr vereinfachter Form wiedergegeben werden, in (2006) untersuchten Almen beruhen wesentlich auf Non-Food- wesentlichen Punkten natürlich aber auch auf Bewaldung zu- Effekten und der Stützung durch Förderprogramme. Prof. Dr. treffen: G. POSCHACHER (2001) weist der Almwirtschaft pauschal außer Erhaltung und Gestaltung der Kulturlandschaft, Produk- (1) Gebirgsökosysteme und ihre Vorländer sind nur so stabil tion hochwertiger Nahrungsmittel, Schutz der Artenvielfalt wie die Hänge und Böden der Hochlagen. und der Biodiversität auch die Funktion der Gefahrenabwehr (2) Böden an Hängen sind nur unter stabiler Vegetation stabil. (Schutz vor Lawinen, Muren, Steinschlag, Hochwasser), des (3) Vegetationsstabilität ist im Offenland abhängig von tiefwur- Schutzes des Waldes und des Wassers und die Mindestbesie- zelnden Pflanzen, die einen möglichst hohen Deckungsgrad delungsfunktion als Basis des Tourismus zu. Die besonderen entwickeln. Im weidegenutzten Bereich ist dies vor allem Inhaltsstoffe des Almfutters sind inzwischen mit verfeinerten bei extensiver Nutzung und angemessener Weidekontrolle Analysemethoden gut belegbar. Tatsächlich ist die Qualität des gegeben. Unter solchen Umständen kann Weide auch über Alpkäses nicht nur geschmacklich, sondern auch z.B. durch der Waldgrenze ohne negative vegetationsökologische Ef- erhöhte hochwertige omega-3-Fettsäuren (2,05 g/kg) gegen- fekte bleiben. über Tieflagenkäse aus Silage (1,46 g/kg) belegbar (ETHZ- (4) Eher labilitätsfördernd wirkt dagegen unkontrollierte, nicht Untersuchungen von CHRISTA et al., zit. nach „Walliser Bote“ traditionelle, sehr ungleichmäßig verteilte Weide, ein Be- 8.1.2003). ZEPPA et al. (2004) konnten nicht nur Tal- von Alm- satz höher als die Tragfähigkeit des Standortes, zu schwe- käse, sondern sogar die Käse jeder einzelnen Alm durch unter- res Vieh, in einer gewissen Übergangszeit auch das Brach- schiedliche Zusammensetzung an Mono- und Sesquiterpenen fallen. unterscheiden. Nicht umsonst bieten einige Alpenregionen (nicht Nicht ausräumbar ist allerdings der Zielkonflikt zwischen ei- aber Bayern) eine Sonderförderstufe silagefreie Milch an. nem relativ geringen Waldanteil und dem Ziel möglichst aus- Der „externalisierte“ ökologische Nutzen der Almen bei stan- geglichener Abflüsse und gedämpfter Hochwässer. dortsensibler und vorsichtiger Bewirtschaftung mit geringst- Die Naturschutzbilanz der Almwirtschaft ist günstiger als möglichen Stoffimporten lässt sich folgendermaßen zusam- diejenige der Landwirtschaft tieferer Lagen. Biotopvernichtung menfassen: und bewirtschaftungsbedingte Artenverluste sind im Almbe- • energie-extensivster 4), biozid- und düngerärmster Agrar- und reich eher die Ausnahme. Im Allgemeinen hat die Sömme- Nahrungsmittelproduktionsbereich (zusammen mit den neu- rungswirtschaft ihren beträchtlichen Förderanspruch nicht erdings auch im Tiefland zunehmenden Extensivweiden), durch Missbrauch ökologischer Ressourcen verwirkt. So fand • Qualitätssicherung für die Rinderzucht, Erhaltung des Gen- die Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau, Zürich- pools, Refugium für alte Haustierrassen, Reckenholz, in den Alp- und Bergwiesengebieten von Grindel- • betriebsstabilisierender und damit auch Talkulturlandschaf- wald immerhin noch 87 der in den 1940er Jahren registrierten ten erhaltender Faktor, 116 Tagfalter und sogar 24 der damals 26 Heuschreckenarten • fremdenverkehrlich-ästhetischer Effekt („Die Erhaltung ei- nachgewiesen. Die Artenverluste gehen auch teilweise auf Bra- ner gesunden Almwirtschaft, insbesondere der Kuh-Alpung, cheeffekte, Auflassung und Bewaldung zurück. In Tujetsch ist ein Wunschtraum einer Fremdenverkehrsregion“; Hofgas- waren es sogar 80 von 95 Tagfaltern und in Chateau d’Oex/ teiner Vizebürgermeister SENDLHOFER in AuB 37/8/9, Freiburg ist gegenüber damals keine nennenswerte Verringe- 1987) rung der Pflanzenartendiversität eingetreten (LÜSCHER et al. • Sicherung pflegeabhängiger alpiner Lebensgemeinschaften. 2003). Viele andere Beispiele ließen sich anführen.

4) Unter der Voraussetzung, dass nicht der gesamte Sömmerungsbestand in vielen kleinen Dosen rauf- und runtergefahren wird.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 39 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

3. Alpine Förderprogramme – Status-Quo-Analyse HINTERSTOISSER, Miesbach, P. HOLLEIS, Bayer.Landesanstalt für Landwirtschaft; Landwirtschaftsdirektor a.D. W. ZELLER, Immenstadt; 3.1 Vorbemerkung S. ARDUINO, WWF Italia, Milano; Dr.W.DIETL, Zürich-Reckenholz; Außer gebetsmühlenartig wiederholten politischen Bekennt- Dr. T. WOHLGEMUTH, WSL Bern; Dr. H.-R. EGLI, Geographisches Insitut Univ. Bern; Prof. Dr. B. LEHMANN, Institut für Agrarwirtschaft nissen zum Fortbestand der Höhenlandwirtschaft geht es in ETH Zürich; F. DIDIER, C.R.E.N. Conservatoire Rhone-Alpes des Es- almpolitischen Rechenschaftsberichten regionaler Regierun- paces Naturels; Dr.J.-L. BOREL, Université de Grenoble; M. FASEL, gen fast nur noch um Fördersätze und -volumina. Fast nie für Wald, Natur und Landschaft, Vaduz, Dr. H.-P. GRÜNENFEL- fehlt der Hinweis, Einbrüche irgendwie und gerade noch ab- DER, Monitoring Institute Rare Breeds St. Gallen; Tanja MENEGALIJA, gewendet oder zumindest abgefedert zu haben. Triglavski Narodni Park/Slo. Abkürzungen und Fachbegriffe: Siehe Verzeichnis am Anfang des Trotzdem zwingen zunehmende Sparzwänge auch im Zuge Beitrags! der EU-Erweiterung zur besseren Rechtfertigung und Effizi- enzsteigerung der Ausgaben. Es ist an der Zeit, Effizientes 3.2 Warum wird gefördert? (Anlass, Bedeutung aus dem Gefüge und Ideenvorrat der heterogenen Förder- und Effekt der Förderung) landschaft weiterzuverbreiten, vermeintlich „Gutes“ durch Unbestritten benötigen Almen weiter entschiedene Förderung Besseres zu ersetzen. im Gleichklang mit gesellschaftlichen Leitbildern (RESSI & So wie weiland geistliche Herrschaften (Admont, Augsburg, BOGNER 2006). Sie würden sonst ebenso wie die Heimbe- Kempten, Tegernsee, Chiemsee, Berchtesgaden, St.Gallen, triebe, deren Futterfläche oft zum größeren Teil auf den Almen Einsiedeln, Muri, Engelberg, Montasio, Staffardo etc.) ihre liegt, im kalten Anhauch der Weltmarktkräfte rasch erlahmen Untertanen steuerten und damit Kulturlandschaftsunterschie- (PARIZEK & WAGNER 2004). Beispielsweise verfügt ein de generiert hatten, ist Almpolitik auch heute noch stark ter- durchschnittlicher Alm-Bauernbetrieb im Trentino über 30 ha ritorialisiert, wenn auch nicht mehr über feudale Erlasse, son- Alm und nur 5-6 ha Tallandwirtschaft. Stark betroffen wären dern über Modalitäten der Förderprogrammen, die wir ver- auch almmilchabhängige Talmolkereien, die gesamte biologi- gleichend analysieren wollen. sche Landwirtschaft der Alpen, die großenteils auf der Alm- Bezugszeitraum: Da seit der großen EU-Agrarreform 2003 (begonnen wirtschaft beruht, und die zunehmende Zahl biologischer Ver- 2005) die relevanten Daten noch nicht für alle Regionen verfügbar sind, marktungsringe. FLURY et al. (2000) prognostizieren, dass wählen wir als Referenzzeitraum 2002-2004 (die geringfügigen Unter- bei Entfall der Schweizer Flächenbeiträge von 1200 Sfr/ha al- schiede zwischen diesen Jahren sind hier vernachlässigbar). Er spiegelt le Nutzflächen oberhalb 1800 m brachfallen würden, in 1500- auch die Jahre 2005-2007 (z.T. sogar 2007-2013) wider, da die inhaltli- 1800 m alle Flächen > 51% und auch ein Teil der ebeneren chen Programmstrukturen und Förderhöhen der Direktzahlungen zu- nächst in den meisten Alpenregionen wenig verändert wurden und die Flächen (Arbeitskosten > 20 Sfr/h). Durch Almaufgabe Entkoppelung erst Zug um Zug zu greifen beginnt. Die Höhe der ein- beschleunigte Hofaufgabe würde den jetzt schon alarmieren- heitlichen entkoppelten Betriebsprämien entspricht ja den 2000-2002 den Zersiedlungsdruck auf die Talschaften und verbleiben- gezahlten Prämien der Ersten Säule. In Slowenien gelten wahrscheinlich den Heimbetriebe weiter erhöhen. heute höhere Fördersätze und -volumina als die angegebenen. Betrachtungsbereich ist der gesamte Alpenbogen einschließlich der Nicht- Das Betriebseinkommen der Berghöfe kommt heute großen- EU-Staaten Schweiz und Liechtenstein sowie des EU-Neulings Slowe- teils aus öffentlichen Mitteln (in Österreich bei Höfen der Er- nien und der Region Liguria, die schon zum Apennin vermittelt. Unsere schwernisklasse 4 sogar 96%). Österreich gibt pro Hektar na- alpenweiten Gesamtdiagnosen übergehen notgedrungen die oft erhebli- chen regionalen Abweichungen, z.B. in den bayerischen Alpen (zur re- turbedeutsamer Agrarfläche („high nature value farmland“) gionsweisen Analyse siehe RINGLER 2007). 165 2/ha an Agrarumwelt-Förderungen aus (EEA 2004) und Währungsangaben: Ausserhalb des Euro-Bereichs wird nach dem Um- liegt damit – vor allem dank seiner 9 000 Almen – an der rechnungskurs im betreffenden Jahr in Euro umgerechnet. Spitze Europas (weit vor Italien und Deutschland mit 42-45, Datenherkunft, Informanten: Förderdateien, Agrar- und Umweltbe- Frankreich mit 15 2/ha). Der Förderungsanstieg hat die öster- richte der Alpenregionen (zumeist im kleingedruckten Begleittext der reichische Almwirtschaft wesentlich reaktiviert und stabilisiert, Tabellen erwähnt), in vielen Fällen durch (fern)mündliche und elektro- allerdings war der Effekt in der Startphase der Förderung in nische Kontaktaufnahme ergänzt und überprüft. Für ergänzende Hin- den 1980er Jahren bei damals noch viel tieferen Fördersätzen weise und Materialien gebührt herzlicher Dank u.a.: Prof. Dr. H. PENZ, Universität Innsbruck; A. AVOGADRI, Assoziazione per la Valorizzazio- (damals aber mit starker Milchprivilegierung) viel deutlicher ne degli Alpeggi, Gorlago/Bergamo; Dottorosa ALBANO (Ministero als im Förderungsanstieg nach dem EU-Beitritt. dell’Agricoltura, Milano); Dr. Mauro PASCOLINI (Univ. Udine: Almen Förderung als zentraler Faktor: Sie entscheidet über Erhal- von Friuli-Venezia Giulia); E. ROTH, Alporama GmbH/CH; H. ROGGO, CH-Bundesamt für Statistik, Sekt.Allg.Direktzahlungen; G. PLASS- tung oder Aufgabe von Almen, Bestoßveränderungen, Erschlie- MANN, Reseau Alpin des Espaces Proteges, Gap, Almfachberater H. ßungsprojekte und deren Folgen, Schwendung, Wald-Weide-

Bild 5: Alpenapollo (Parnassius apollo) auf der Röthalm oberhalb des König- sees/Bayern symbolisiert den Zusammenhang von Almwirtschaft und zoolo- gischem Artenschutz. Die Habitate dieses attraktiven Großfalters sind zwar nicht überall weidegeprägt, liegen aber gesamtalpin gesehen überwiegend im Verantwortungsbereich der Almwirtschaft (Foto G. Zilker 1959) Figure 5: Parnassius apollo at the site „Röthalm“ above Königssee/Bavaria, in many cases at least indirectly depending on alpine pasturing

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Trennung, Behirtung, Düngungs-, Meliorations-, Unkraut- Das in Zeiten hohen Nutzungsdruckes und zahlreicher Alm- bekämpfungsmaßnahmen und touristische Zusatznutzung, sie leute durch viele kleine Einzelentscheidungen entstandene steuert die ökologische Entwicklung ebenso wie die Natur- kleinteilige Mosaik aus Wald und Weide, Intensiv- und Exten- voraussetzungen, die nachwirkende Kulturgeschichte, Besitz- sivgrünland kann sich durch vereinheitlichte Förderkonditio- und Rechtsform. nen, Mindest- oder Höchstnutzungsgrenzen entmischen. Flä- Außensteuerung gab es in der Almwirtschaft schon immer. Gesamtwirt- chen gleicher Bewirtschaftung(sintensität) und damit etwa glei- schaftliche, grundherrschaftliche und hoheitliche Impulse und Zwänge cher ökologischer Charakteristik werden tendenziell größer. führten z.B. zur Festlegung der Waldweiderechte und des Auftriebes, zu Den Anstoß zur Veränderung gab aber oft nicht schon das Schwand- und Brandrodungsverboten, Schwaigengründungen, zum Aus- bau des Hüttenwesens mit Versorgungszwängen für die zahlreichen Ar- Förderangebot per se, wie es Europas Umweltagentur (siehe beiter, es wurden Schweizer Sennen ins Land geholt usw.. Die Emanzi- EEA 2004) unterstellt, sondern erst eine zusätzliche staatliche pation des Schweizer Bürgertums in der Reformationszeit, die beginnen- Kampagne, z.B. im Rahmen des lombardischen, Kärntner und de Industrialisierung, der Preisverfall der Schafwolle durch das Trans- Trientiner Almrevitalisierungsprogrammes (PRA 2005), des portwesen und die Übersee-Importe im späten 19.Jahrhundert schlugen bayerischen Almen/Alpenprogrammes nach 1971 und des direkt oder indirekt auf die Almwirtschaft durch. österreichischen Programmes AlpAustria. Früher allerdings trotzte man den politischen und Naturgewalten allein aus wirtschaftlicher Not(wendigkeit und eigener Kraft. Die Bergland- Ökologische Konflikte aus der konkreten Förderpraxis seien wirtschaft war damals letztlich doch endogen und nicht exogen gesteu- mit wenigen Beispielen belegt. So kann die Anrechenbarkeit ert. Raufutter von den Almen war in der Subsistenzwirtschaft unent- der Almfläche beim förderfähigen betrieblichen Viehbesatz zur behrlich, da die Tallagen weitgehend dem Ackerbau reserviert waren. Intensivierung der Talflächen führen. In der Schweiz wird bei Auch die Zusatzerlöse aus Almprodukten und Zuchtvieh wurden drin- der Prämie für Rauhfutterverzehrer pro Wintertierbestand die gend gebraucht. Schließlich mussten auch die oft angefochtenen Weide- rechte, eines der wertvollsten Grundkapitalien des Betriebes, verteidigt Alpfläche mit 0,7 RGVE/ha angerechnet. Mit Alpflächen wird werden. außerdem bei 120 Alpweidetagen ein Sömmerungszuschlag Zwar gab es auch schon frühe Anreiz-Prämien, z.B. der k.u.k. Landwirt- von 35% zum anrechenbaren Viehbestand gewährt. Eine Alp schaftskammer für Schwendung, Geröllbeseitigung, ordentliches Dünger- bedeutet also einen Anreiz zur Erhöhung des Wintertierbe- wesen, Stalleinrichtung und Almaufteilung auf Krainer Almen ab 1873 standes (POVSE 1893), diese waren aber keine Existenzvorausetzung für die Alm- 2 wirtschaft. Je Hektar Milchkuhweidefläche werden 157 (für 1 Milch- Erst nach der Almdepression der 1960er Jahre wurde die Berglandwirt- kuh wird 1 ha angerechnet) gewährt, bei Nicht-Rindern ca. schaft immer abhängiger von Einkommensübertragungen und öffentlichen 3,5 2. Unter anderem wegen der lange bestehenden Alpmilch- Zuschüssen. Mit dem Rückzug des Ackerbaues in den Nordalpen wurde privilegierung (die 2007-2013 durch eine auf die Milchsam- Talgrünland als Futterfläche verfügbar. Preis- und Einkommenspolitik melstelle bezogene Entfernungspauschale wiederaufgenom- begannen auseinanderzudriften, Transfer- und Kompensationszahlungen men wurde) bestand ein Interesse an der Ausschöpfung der waren ab 1970 ein Puffer gegen die zunehmende Liberalisierung und Deregulierung der Agrarmärkte (Uruquay- und Doha-Runde; EU-Agrar- Fördergrenzen. Dies eröffnete auf vielen österreichischen Al- reform 1992; Agenda 2000: vgl. RIEDER 2001, Agrarreform 2003/2005). men, die z.B. im Silikatbereich oft Besatzdichten weit unter Ohne diese Zahlungen wäre die Almdepression der 1960er und 1970er 1 GVE/ha (ja bis unter 0,5 GVE/ha) aufweisen, einen be- Jahre zum Absturz geworden. trächtlichen Intensivierungsspielraum und bedeutete auch Förderung wirkt landschaftsumgestaltend. Nur mit der För- vielfach einen Intensivierungsschub, denn die Förderung ent- derschraube konnte der Staat seine Ziele gegen z.T. abwei- fällt erst, wenn Klärschlamm 5) oder andere Dünger als Alm- chende bergbäuerliche Vorstellungen Zug um Zug durchset- dung, Kompost, Kalk, Patentkali, Hyperkorn, Hyperphos- zen. Beispielsweise waren Wald-Weide-Trennung oder Schaf- phat, Biosol und die nach EU-Verordnung 2092/91 nicht zu- fung großflächig zusammengelegter Almeinheiten (F: unites gelassenen Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden. pastorales) erst dadurch möglich. Die oft bedauerte rapide Förderanstöße können bereits unterschwellig schwelende landschafts- Waldzunahme konnte aber durch Bergagrarförderung nicht auf- ökologische Konfliktlagen verstärken. Beispielsweise in Österreich hat gehalten werden. Dort wo heute die Waldzunahme der Hoch- die neue Förderpraxis nach dem EU-Beitritt die Diskussionen um die Waldweide neu angeheizt. Die EU-(Kontroll)Praxis (nur Offenland prä- lagen als vorrangiges Problem beklagt wird (siehe Sitzungs- mienberechtigt) scheint u.a. in den Bayerischen Alpen viele Almbewirt- berichte des Vorarlberger Naturschutzrates), kann die Alpför- schafter zu gründlicherer Schwend- und Abräumungspraxis zu treiben, derung sogar mit am höchsten sein (z.B. Vorarlberg) als weidewirtschaftlich erforderlich. Eine Genossenschaftsalpe im

Bild 6: Verlassenes Sommerdorf am Mont Cenis/F symbolisiert Niedergang der Alm- und Maiensäßwirtschaft in den 1970er bis 1990er Jahren besonders in den Südalpen, was mittlerweile aber durch massive EU-Förderung gebremst wurde (Foto A. Ringler) Figure 6: Abandoned alpine summer settlement at the Mont Cenis – symbo- lizing break-down of alpine pasture management during the period 1970 to 1990 especially in the Southern alps

5) All dies bedeutet natürlich keineswegs einen Verzicht auf deutliche Ertragssteigerung der Pflanzenbestände.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 41 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

Schweizer Jura (referiert nach BALMER 1998) erhielt die Sömme- nen“ entgegenkommen, ist aber nicht ökologisch begründet. rungsbeiträge unter der Voraussetzung, „den Sömmerungs-, Hirten- und Honorierungen für gleiche Leistungen und Auflagen liegen Gemeinschaftsweidebetrieb sowie die Weiden sachgerecht und umwelt- verschieden hoch. Die o.g. Förderkomponenten sind regional schonend zu bewirtschaften und kantonale, kommunale und genossen- schaftliche Vorschriften einzuhalten“ (Art.1 der Sömmerungsbeitrags- unterschiedlich vertreten, weitere Elemente kommen in weni- verordnung SöBV). Der kantonale Inspektor bemängelte eine zu gerin- gen Regionen hinzu. Die Auflagen, Limitierungen und Kon- ge Entbuschung, woraufhin der Alpvogt den Pächter zu entsprechender ditionen ändern sich regional besonders hinsichtlich Weide- Säuberung anwies. Dies veranlaßte den Wildhüter zu einer Anzeige we- führung, Unkrautbekämpfung, Mineraldünger-, Gülle- und gen illegaler Eingriffe in geschützte Landschaftselemente. Die Genos- Herbizideinsatz (vgl. Tab. 2). senschaft bestellte den Landwirtschaftsberater auf den Platz, der zur kantonalen Landwirtschaftsdirektion Kontakt aufnahm. Diese wiederum Beispiele für inkongruente, ja oft geradezu konträre Ziele und Effekte fühlte sich nicht zuständig und verwies auf das Bundesamt für Land- der Regionen: wirtschaft. Dort wußte niemand Rat, man solle sich doch an das kanto- Bestoßregulierende Impulse der Förderung: In der Schweiz ist die Rau- nale Naturschutzinspektorat wenden.“ Darob schüttelte der Beschläger futterfresserprämie bestoßrestriktiv organisiert. Sie wird nur bis 0,8 RGV/ha den Kopf: „Um meinen Betrieb herum verbuschen und verwalden ehe- Futterfläche gewährt. In Österreich dagegen ist nach dem „ÖPUL“ ein malige artenreiche Alpweiden hektarweise und hier wird mir Buße und Almviehbesatz im Extremfall bis zu 2,23 GVE/ha (0,45 ha/GVE) Alm- Haft angedroht, weil ich meine Weide korrekt nach SöBV pflegen und futterfläche agrarumweltförderfähig, das ist das 2,2fache der z.B. in den in der Größe erhalten will“. Bayerischen Alpen lange gültigen Förderbegrenzung von 1 ha/GVE. Auf einer 30 ha großen Almfutterfläche kann ein österreichischer Almbe- 3.3 Was wird gefördert? (Förderziele, -inhalte trieb noch 65 GVE, z.B. 14 Milchkühe und 51 andere über zweijährige und -zonen) Rinder gefördert bekommen (Alpungsprämie + Behirtungsprämie in Almförderung setzt sich grundsätzlich zusammen aus: diesem Beispiel ca. 3 300 2/Alpsommer zuzüglich 20-30% Aufschlag • GVE- und Hektar-bezogenen Auftriebsprämien/Sömme- bei fehlender PKW-Erschließung). Silage: Die Schweizer Sömmerungsbeiträge verbieten die Herstellung, rungsbeiträgen, die regional allerdings inzwischen in eine Zufuhr und Verfütterung von Silagen und anderen vergorenen Futter- flächenbezogene Förderung übergeführt sind mitteln auf der Alp, andere Länder sehen diese strengen Konditionen • Anrechnung der Almfutterflächen in der Ausgleichszulage nicht oder nur als fakultatives Angebot vor (A). bzw. betrieblichen Grundförderung. Die Ausgleichszulage Melioration: In Cantabrien (Spanien) wird stark die Melioration und wird z.B. in Bayern (200 2/ha) nur für „ordnungsgemäß „Düngung der Bergweiden“ (Regionalprogramm Agrarumwelt) geför- bewirtschaftete Lichtweidefläche“, nicht aber für verbu- dert, in CH und D heute jedoch eher das Gegenteil. schende, brachgefallene oder seit Jahren vernachlässigte Milchproduktion: in It und A wird die Milchproduktion in der Alm- 6) region privilegiert, in CH neuerdings eher benachteiligt (Sömmerungs- Almteile gewährt ; die AZ schlägt wegen der Degression beiträge für 1 NSt Milchvieh 60 Sfr. geringer als für 1 NSt Jungvieh; (Abnahme mit zunehmender Fläche) besonders stark durch Sterben der Alpsennereien). bei Betrieben mit geringen Tal- und weitläufigen Alm- Waldweide: In Deutschland wird die Trennung von Weide und Wald flächen. beharrlich vorangetrieben, in Rhone-Alpes, Aquitanien und Midi-Pyre- • Extensivierungsprämien (stückzahl- oder flächenbezogene neés die Wiedereinführung von Waldweiden propagiert (vgl.: Mountain Prämien, deren Höhe wesentlich von zusätzlichen Almflä- Policies: Analysis of mountain areas in EU member states.– Final Re- port, 2003, europa.eu:int/comm/regional_policy/sources/docgener/stu- chen abhängig sein kann), diese Prämien der Ersten Säu- dies/pdf/montagne/mount9.pdf). Die Erhaltung und Etablierung silvo- le werden derzeit „abgeschmolzen“. pastoraler Systeme ist im Fördersystem der Region Alpes-du-Sud (z.T. • Behirtungsförderung bzw. -zuschläge, aus Feuerschutzgründen), der Kantone Jura und Neuchatel fest veran- • Investitionshilfen (Wege, Gebäude, Wasserversorgung, En- kert, relativ tolerant ist dasjenige in Tirol und Slowenien, absolut restrik- ergieversorgung, Spezialgeräte), tiv das bayerische. • Kompensationszahlungen für Erschwernisse und Kosten bei Zielartenbezogene Förderstufen kennen nur bestimmte Regionen (z.B. Alpes-du-Sud). Dazu gehören auch Herdenschutzmaßnahmen gegen Inspektionen und Transporten (Tierarzt, Hubschrauberflü- Prädatoren (z.B. F, IT, SLO). ge, Entfernungszuschläge, Teilerlaß der Schwerverkehrsab- Biotoppflegevarianten: Bestimmte Pflege- und Erhaltungsmaßnahmen gabe in der Schweiz, Kadaverentsorgung usw.), werden nur in einzelnen Regionen bzw. sehr unterschiedlich honoriert • Sonderzahlungen für einzelbetriebliche Schäden z.B. durch (Tab. 3/4; z.B. Pflege magerer Lärchwiesen in Südtirol und Kärnten). Raubtiere und Naturkatastrophen 7), Gewässerpufferzonen: Nur in den französischen Alpen und Pyrenäen • EU-kofinanzierte Sondergroßprojekte in bestimmten bean- gilt ein Düngungsabstand von mind. 35 m zu Gewässern (CTE bzw. tragten Almgebieten PHAE) sowie eine eigene Förderstufe Pufferzone von Gebirgsmooren. • Flankierende Schulung und Beratung, Ausarbeitung von Der Stellenwert investiver Förderung verschiebt sich von Region zu Region ebenso wie der staatliche Anschub für Neuordnung der Alpbe- Nutzungsplänen durch staatliche oder regionale Organe (z.B. triebe und Weideeinheiten (vgl. z.B. F und D) oder die Priorität für Frankreich, Schweiz). milchwirtschaftlichen Ausbau in der Almstufe (IT!). Innerhalb dieses Grundschemas setzen die Regionen auch bei Förderungsziele in den einzelnen Alpenregionen: Nach ähnlicher Almlandschafts- und Biotopstruktur ganz verschie- Wirkungsgrad und Zielrichtung der Förderung lassen sich dene Förderakzente, die sich bereits heute im Landschafts- unterschiedliche Zonen in den Alpen unterscheiden: bild, Vegetationsmuster und Biotopmanagement bemerkbar • Bestandessicherung im Norden: Die massive und geziel- machen. Diese Heterogenität mag dem „Europa der Regio- te Förderung der Almwirtschaft setzte in der grünlanddo-

6) Schon Realitätsabweichungen der Flächenangaben von 3% können Rückforderungen mit 6% Zins bis zu 5 Jahren rückwirkend nach sich ziehen. 7) Das Fehlen der Behirtungsprämien für Schafe und auch von Entschädigungen (z.B. Slowakei und Slowenien) in einigen Ländern macht sich nach Auftauchen von Wolf, Luchs und Bär u.U. kontraproduktiv bemerkbar.

42 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung

Tabelle 2: Ökologisch selektive Förderinstrumente im Almbereich (beispielhafte Gegenüberstellungen)

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 43 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

minierten germanischen Bergbauernregion Bayerns, Öster- • Subzone 2: Frz. Südalpen, provenzalische Voralpen. Akzent reichs und der Schweiz viel früher ein, was schon um 1985 auf extensiver Kleinviehsömmerung (Vaucluse, Drome, zu einer Stabilisierung auf relativ hohem Niveau führte. Haute-Alpes, Alpes Maritimes, Provence-Alpes-Cote d’A- Förderpolitik dient hier der Sicherung des Bestehenden. zur, Teile von Isere, Bois-du-Rhone), geringere Wegebau- Noch weitgehend funktionsfähige Almen oft vieh- und grün- aktivität. Heimat vieler Transhumanzbetriebe. Hoher Stel- landstarker Talbetriebe wurden durch weitere Rationalisie- lenwert der Waldweide und Feuerschutzbeweidung von rung stabilisiert und almwirtschaftliche Interessen druckvoll Wäldern. vertreten. Die Alm-Erschließung ist weitgehend beendet. Zur detaillierten regionalisierte Darstellung der Förderinhal- • Subzone 1: Begünstigung der extensiven Jungviehweide te siehe RINGLER (2007a). (Bayern, Ober-, Niederösterreich), vorwiegend mittlerer 3.4 Wie wird gefördert? Erschließungsstandard (Vollzugsweise, Umsetzungsprobleme) • Subzone 2: Relative Begünstigung der intensiven Milch- 3.4.1 Ökologische Zielgenauigkeit, viehälpung (Tirol, Vorarlberg, früher Schweiz), überwie- Förderkonditionen, Abstufungen gend sehr hoher Erschließungsstandard (LKW), starke Nur wenige Förderkonditionen gelten alpenweit einheitlich, Segregation in intensivierte und extensivierte Almteile. so etwa die Besatzobergrenze 1,4 GVE/ha für Rinder-Exten- • Reaktivierung im Süden: In weiten Teilen der Südalpen sivierungsprämien. Stark regional geprägt sind z.B. die Be- (Piemont, Lombardei, Trentino, Veneto, Friaul, Tessin) hat stoßobergrenzen der Alpungsprämien (Schwankung von 0,4 die Almförderung erst mit der EU-Agrarumweltpolitik ab bis 2,3 GVE/ha). In Österreich sind Zahlungen noch bis 2,23 1992 Fahrt aufgenommen. Aus einer tiefen Depression, ja Weide-GVE/ha Almweide, ein extrem hoher Wert, möglich; einem weitgehenden Zusammenbruch wird eine (manch- die Schweiz dagegen streicht die Prämie bei 15%iger Über- mal überschiessende) Reaktivierung unter agrotouristischer schreitung des traditionellen Bestoßes komplett. Pro Normal- Neuorientierung betrieben. stoß und Alpsaison zahlt die Schweiz 120 Sfr. bei freiem Wei- • Subzone 1: Betonung auf extensiver, personalarmer Galt- degang und 220 Sfr. bei Umtriebsweide, pro Alpschaf sind und Kleinviehweide (z.B. Ligurische Alpen/ltalien) dies 7-9 bzw. 12-16 Sfr. (TROXLER & CHATELAIN 2005). • Subzone 2: Betonung der intensiven Milchviehwirtschaft Bayern beispielsweise verzichtet auf derartige Differenzierun- und Almsennerei, z.B. Friaul, venetische Voralpen, Südti- gen. rol, Trentino. Während in den Nordalpen die Zahl der Al- Erschwernisstufen werden sehr unterschiedlich gehandhabt men etwa stagnierte, wuchs sie im Trentino von 240 (1996) bzw. regional gar nicht angewendet (Nicht-Erschließungszu- über 254 (1999) auf 301 (2007)! (PRL Trentino 2007); in schläge, starke Höhenlagendifferenzierung wie im Aostatal). Veneto wurde zur Almsanierung 2006 ein Zuschuss von 1 Die Abstufung der almwichtigen Ausgleichszulage nach Hö- 2 Mio gewährt. henlage und Sonderfördergebieten erfolgt regional völlig un- • Reaktivierung und Neuorganisation im Südwesten und terschiedlich. Almbauern in derselben klimatischen Höhenstu- Südosten: In den französischen Alpen setzte die Reaktivie- fe mit etwa vergleichbaren Erschwernissen (Mittelwert aller rung bereits in den 1980er Jahren ein und hält bis heute an. seiner Nutzflächen) werden regional ungleich behandelt. Sie ist oft mit der Restrukturierung der Besitz- und Koope- rationsformen bei starker staatlich-regionaler Einflußnahme 3.4.2 Umsetzungsweise, Kulissen und fachtechnisch-wissenschaftlicher Ausrichtung (Weide- Grad der Freiwilligkeit: Vergleichbare Leistungen werden planung, diagnostics pastoral) verbunden. nicht nur verschieden honoriert, sondern alternieren auch zwi- • Subzone 1: Frz. Nordalpen, Slowenien. Akzent auf inten- schen freiwillig/wählbar im Land X und obligatorisch (cross siver Milchviehälpung und Teilflächenintensivierung (Tei- compliance) im Land Y. Die Grundförderung wird z.B. in der le von Isere, Savoie, Haute-Savoie, Slowenien). Stärkere Schweiz als rigides ökologisches Korrektiv eingesetzt und mit Wald-Weide-Trennung. landschaftsökologischen Gestaltungsabsichten verbunden, an- derswo setzt sie nur einen sehr weiten ökologischen Rahmen. Moorschutz durch Weidefreistellung ist in IT, F, A ein regu- läres Prämienangebot, in CH obligatorisch mit der Grund- förderung verbunden und damit generell verpflichtend. Die Schweizer Förderregelungen für die Schafalpung weichen deutlich von anderen Staaten ab. Sie verlangen generell eine Bild 7: Almen sind nicht Abgrenzung nicht beweidbarer Flächen, eine angepasste Wei- nur Nutzniesser, sondern deführung und eine dem Standort und der Weideführung an- oft auch Leidtragende gepaßte Bestoßung mit Festlegung einer Bestoßgrenze. Nach des expansiven Breiten- der Sömmerungsverordnung des Bundesamtes für Landwirt- tourismus. Schnapp- schuss mit Symbolkraft schaft ist bei Alpschafen sogar ein Aufenthalt von maximal 14 auf der Skistation Kühtai/ Tagen pro Koppel vorgeschrieben (TROXLER & CHATE- Sellrain in Tirol (Foto A. LAIN 2005). Ringler) Figure 7: Alpine pastu- Förderkulissen innerhalb der Länder: Auch die Ausrichtung ring frequently will suffer der Förderung, ob nun mehr horizontal (großflächig einheit- from expansive tourism – lich), mehr zonal (nur in bestimmten definierten Zonen und spotlight from skiing sta- Schutzgebieten geltende) oder auch vertikal (auf Betriebe zu- tion Kühtai/Tyrol geschnitten) beeinflusst den Landschaftszustand. CH, D, A

44 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung und SLO fördern großflächig ziemlich einheitlich, IT und F Beispiele aus Italien: Malga Brigolina (Monte Bondone) und Malga stark zonen-, höhen- und standortsdifferenziert, F (und neuer- Serollo (Val Giudicarie): Modellalmen für nachhaltige Bewirtschaftung dings A) auch stärker betriebsdifferenziert. So gilt z.B. die mit agrotouristischem Einschlag; Valle Varaita/Piemont Luigi Dematteis Initiativo Agriturismo, Renovation von Gebäuden, Tiefpunkt der Ab- 2 Höchststufe der Ausgleichszulage (200 /ha) in Bayern gene- wanderung ist überschritten; Rore, Stallneubauten; Spezielle Lärchwie- rell oberhalb 1000 m und in der ganzen Almregion, in Frank- senförderung (pascoli da larice) z.B. Südtiroler Naturpark Truder Horn; reich ist sie stark höhen- und erschwernisgestaffelt (58 bis in 1992-2000 betriebenes LEADER-Projekt für 14 Vintschgauer Almi- 267 2/ha), in A reicht die Spreizung sogar bis maximal nteressentschaften (Graun, Mals, Taufers, Schluderns, Prad, Stilfs, Laas, 867 2/ha, in Südtirol bis 330 2/ha, im Aostatal ist sie nach Laatsch, Kortsch) umfaßte Weidekartierung und -planung, Investitionen Mager- und Fettweiden differenziert. In der Schweiz „klettert“ in Gebäuden, E-Werken und Düngeranlagen, Verbesserung der Milch- verarbeitung, Steuerrechtliche Beratung, Almtouristische Förderung, die Flächenprämie (die allerdings die eigentlichen Alpen aus- u.a. organisierte Almwanderungen, „Alm-Erlebnissommer“ etc.; Förder- spart) nicht berg-, sondern talwärts (unterhalb Sömmerungs- projekt Sambucana-Bergschafe im Valle Maira/Piemont (Okzitanische zone > 1200 Sfr./ha, oberhalb viel weniger). Eine hochgele- Kulturpflege). gene Schafalm ist in F Spitzenreiter beim Flächenzuschuss, Ganzbetriebliche Verträge: Der naturschutzfachlich effizi- in CH dagegen Schlusslicht. ente Weg des Betriebsvertrages oder Naturschutzvertrages Eine Förderzonierung bedeuten auch die Regionalentwicklungs- und (Prämiensteigerung bei betrieblichem Naturschutzplan) wird Sonderförderprojekte wie 5b (abgelaufen), LIFE+, INTERREG, LEA- in F („CAD“, „CTE“), CH, A und UK auch auf Almen bzw. DER, Regio Plus, ProAlp (grenzüberschreitend z.B. Karnische Alpen, Hochlandweiden umgesetzt. Er hat nicht nur den Vorteil hö- Seealpen, Alpe Veglia-Devero/Piemonte, Wallis/Piemonte, Rhone-Al- pes/Provence Alpes-Cote d’Azur, Piemonte/Aosta). Das EU-Projekt herer Prämiensätze, sondern auch einer besseren Ausschöp- „IMALP“ unterstützt die Entwicklung nachhaltiger Berglandwirtschaft fung von Angeboten durch Beratergespräche und systemati- in Testarealen der Französischen, Schweizer, Italienischen und Öster- sche Inaugenscheinnahme aller Betriebsflächen und eines reichischen Alpen (2003 – 2006). einzelbetrieblich maßgeschneiderten ökologischen Leistungs- Beispiele aus Österreich: AlpAustria (koordiniert durch Umweltbüro kataloges. Bei systematischer Anwendung werden mehr För- Klagenfurt), umfasst alle almhaltigen Bundesländer; Vorarlberger Pro- dermittel fließen. jekt „Heugabel“: gemeinsame Schwend- und Hangmähaktionen von Bürgern und Bauern, Kärntner Almrevitalisierungsprogramm (2002: 200 Förderung in Schutz- und Natura 2000-Gebieten: In den Almen); Großes Regionalprojekt Steirisches Almenland (Teichalm-Som- meisten Alpenländern ist die Almförderung in den Großschutz- meralm); Alpschweineaktion Vorarlberg: 2000/2001 580 Alpschweine gebieten deutlich höher als außerhalb davon (RINGLER 2007). durch „Ländle-Metzger“ vermarktet. Erhöhter Preis 26 ATS/kg + MWSt.; Bei der förderpolitischen Behandlung von N 2000-Gebieten KOPRA Vorarlberg (180 Alpbauern nach Bio-Kriterien, 1050 Mitglie- der); Projekt Gailtaler Almsennereien in Kärnten, „Niederösterreichisches fallen 3 Regionskategorien auf: Alm- und Weideland“. a) N 2000-Aufschlag auf vorhandene horizontale Programme Beispiele aus der Schweiz: „Grenzpfad Napfbergland“, Regionalpark (z.B. F, A, IT): z.B. werden im französischen Berggebiet Chasseral (Volumen: 3,04 Mio SFr), Gantrisch (Volumen:2,5 Mio SFr), Extensiv-Grünlandbetriebe nach dem Programm CAD in- Geopark Sarganserland, Gruppe Alpamore: Ziel Reaktivierung aufgelas- sener Alpen, Gründung von Tierhalterverbänden wie z.B. der Associati- nerhalb von FFH-Gebieten 25% höher honoriert als au- on des producteurs de porc d’alpage du Pays-D’Enhaut (1996) oder von ßerhalb. Ziegenkäse, Casalp: Marketingorganisation für Berner Alpkäse, Coope- b) Spezifische Maßnahmen nur in N 2000-Gebieten (z.B. IT), rative de Producteurs de Fromages d’alpages „l’Estivaz“, IG Alpchäs- märcht Muotathal, IG Niedwaldner Alpkäser, IG Obwaldner Alpchäs. so etwa wird im Trentino die Wiederherstellung von Berg- 2 In Deutschland gibt es wegen der geringen Milchkuhquote auf den bay- mähdern nur in N 2000-Gebieten mit maximal 760 /ha erischen Almen nur relativ wenige alpspezifische Regionalvermarktungs- (Hand) bzw. die mechanische Schwendung mit max. initiativen, am ehesten noch im Oberallgäu. Alp- und Weidegenossen- 2 700 2/ha gefördert (Piano di Sviluppo Rurale Trentino schaft Hinterstein und Alpgenossenschaft Hindelang sind Grundsäulen 2007-2013) im „Ökomodell Hindelang“, u.a. ausgezeichnet mit dem Umweltpreis des Lkr. Oberallgäu, vom Bund Naturschutz, „Deutsches Umweltschutz- c) keine N 2000-Zahlungen (z.B. BY). Wenn Bayern seine An- projekt 1990“. Regionalvermarktungsring Priental (Sachrang-Prien/Lkr. kündigung wahrmacht, Naturschutzprogramme auf N 2000- Rosenheim). und Bayern-Netz-Natur-Gebiete (weitgehend identisch) zu Beispiele aus Frankreich: Als regional letzte Sennalpe für den Baufort- beschränken, träte allerdings Fall b) ein. Käse wurde die über zwei Jahrzehnte brachgefallene und verfallene Ri- tord-Gemeindealpe in der Zentralzone des Vanoise-Nationalparkes (Ge- In F erhalten Natura 2000-Gebiete grundsätzlich Ausgleichs- meinde Planay) 1997 mit einem Kostenaufwand von 600.000 Francs wie- zulage. In F und A werden Almentwicklungspläne mit dem derhergestellt, wie auch drei Alpkappellen auf der Termignon-Alpe (www. von der EU geforderten Natura-2000-Gebietsmanagement planay.com/chalet.hat). Kompromiß-Konzepte zwischen transhumanter gekoppelt (z.B. Gibau-Alpe/Verwall: EGGER et al. 2006). Schafhaltung und alpinen Lebensräumen auf den Almen des vallee de l’Ubaye (BARON et al. 1997). Waldweide-Anpassungskonzepte in Süd- Auf Almen der Lombardei beträgt die N 2000-Leistungsprä- ostfrankreich (z.B. BELLON et al. 1996). Revitalisierung von Weide- mie in den ersten 5 Jahren maximal 500 2/ha, später bis zu systemen in zuwachsender Berglandschaften durch Gründung von trans- 200 2/ha. Dort partizipieren regionsweit 4 491 Betriebe auf humanten Schafweidegenossenschaften in Var und Isere (LECOMTE et insgesamt 97 025 ha mit durchschnittlich 350 2/ha am N 2000- al. 1996). Alpwirtschaftliche Direktvermarktungsinitiativen Arvieux im Flächensystem. Queyras, Barcellonette, Jausiers, 12 Bauernmärkte rund um Grenoble und Albertville. Kleingenossenschaften und Selbstvermarktungsinitiati- Die regionale Heterogenität der N 2000-Meldung, abgesegnet ven, regionale Bio-Labels, Konsumenten-Produzenten-Arge. LEADER- durch Approbation der EU-Behörden, und die unterschiedli- Programm «Territoires Ecrins» mit Schwerpunkten in den Alpgebieten che N 2000-Förderpraxis bergen eine bisher oft übersehene Alpages du Villar, A a Villar d’Arene, A. de l’Eychauda a Pelvoux, Jas Lacroix a Vallouise, A. Laurichard, A d la Vielle Selle (alpages de Savi- Sprengkraft (RINGLER 2007b). Die Begünstigung durch N nes), A. de Chenairette (A. de St.Apollinaire), A. communal de Villar- 2000-Aufschläge bzw. -Sonderangebote ist dort eher kritisch Reymond. zu sehen, wo das N 2000-Meldeflächensystem relativ fragmen-

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 45 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER tarisch ist (z.B. Vorarlberg, Tirol, Alpes-du-Nord), weniger Modellhafte Einzelalmkonzepte sind in der Schweiz, Frank- dort, wo ein Großteil der extensiven Weidelandschaft „nach reich und punktuell in Österreich bereits erarbeitet. Beispiele: Europa gemeldet wurde“ (z.B. Veneto, Niederösterreich, Al- Alpwirtschaftliche Nutzungsplanung Alp Naustgel/Wallis, pes-du-Sud). Die Prämienbegünstigung oder -beschränkung Kompromiss-Konzepte zwischen transhumanter Schafhaltung auf N 2000-Gebiete kann in Regionen mit relativ spärlicher und alpinen Lebensräumen im Vallée de l’Ubaye (BARON et Meldung sogar dazu führen, dass zahlreiche erhaltenswürdige, al. 1997), Waldweideentwicklung in Südostfrankreich (z.B. im N 2000-System aber nur unrepräsentativ erfasste maßnah- BELLON et al. 1996), Modellalmen im österreichischen Alm- men- und nutzungsabhängige Habitat- und Vegetationskom- entwicklungsplan „AlpAustria“ (Sulztalalm/Gesäuse, Stap- plexe aus dem Sicherungsnetz herausfallen. Dann hätte sich pitz/Kärntner Seebachtal, Kaunzalm/Tirol, Postalm/Salzburg; N 2000 in gewissem Sinne selbst unterlaufen. Kooperation von Umweltbüro Klagenfurt, Lebensministerium, Daten zur Weidenutzung in Natura 2000-Gebieten: Etwa 430 FFH- Alminspektoraten der Länder). Große Schutzgebiete reichen Gebiete der Alpen sind nach unseren Erhebungen zu mehr als 20% mit für diese Handlungsstrategie nicht aus, da sie nur einen Teil Weiderechts- und Grünlandflächen bedeckt. Größere alpine Meldeflä- der erhaltens- und optimierungswürdigen Lebensräume und chen können ebenso hohe landwirtschaftliche Anteile aufweisen wie der Arten im Alpenraum enthalten. Durchschnitt der N 2000-Gebiete in tieferen Lagen. Dabei treten inner- halb der FFH-Gebiete alle möglichen Weideintensitätsstufen auf (0,75- Segregative kontra integrative Förderung: „Segregativ“ 5,0 ha/GV). In den deutschen Alpen umfasst der FFH-Gebietsanteil ex- nennen wir Angebote für genau definierte Sonderflächen mit tensiver, noch betriebener Bergweiden incl. Waldweiden 10-15%, in den hohem ökologischen Anspruch, „integrativ“ solche für einen französischen Alpen sind insgesamt 40-46% der FFH-Fläche von nut- Großteil der Nutzfläche mit mäßigem ökologischen Anspruch. zungsgeprägten Rasen- und Heideformationen bedeckt (Mercantour: Höhere Auflagen für Spezialflächen (z.B. Naturschutzflä- 46%, Haute-Savoie 45%). Alle großflächigen FFH-Gebiete der Alpen (wie auch der Pyrenäen, Abbruzzen, Dinariden, Karpaten und Skanden) chen) können sich indirekt auf die Bewirtschaftung der übri- sind wesentlich von Halbkulturformationen oder genutzten Naturrasen gen Förderfläche auswirken, u.U. sogar ökologisch negativ. oder Heiden mitgeprägt. Ein Großteil der alpinen Meldegebiete Schwe- Konzentriert man den vielleicht ohnehin schon knappen Vieh- dens und Finnlands sind Rentierweiden, allerdings nicht halbnatürlichen bestand in Koppeln bzw. sauber abgeweideten Umtriebswei- sondern meist natürlichen Charakters. den, kann dies den Restbereich stärker verbrachen lassen bzw. Eine Stichprobenanalyse (RINGLER 2007) zeigt auch in der so „natur- die zu schwendende Fläche einengen. Strikter Düngeraus- nahen“ alpinen Region einen hohen Anteil aktuell genutzter oder nut- schluss auf Teilflächen kann bei gleichbleibender Hofdünger- zungsgeprägter Ökosysteme innerhalb der FFH-Gebiete. Beispiele für stark nutzungsgeprägte große FFH-Gebiete sind: Allgäuer Hochalpen/D menge und strikten Nährstoff-Obergrenzen für den Talbetrieb (21 000 ha), Rotwandgebiet/D (ca. 3 000 ha), Verwall/A (ca. 11000 ha), eine unerwünschte Aufdüngung alpiner Flächen auslösen. Monte Baldo/IT (2.762 ha), Monti Lessini/IT (13.871 ha), Sette Comu- Z.B. beobachtet man im Alpgebiet Sörenberg-Flüehli (Kanton ni/IT (14 987 ha), Col di Lana/IT (2 349 ha), St. Jean-Montagnon/F-Pyre- Luzern) eine Aufdüngung schutzwürdiger Kalkmagerweiden näen (hier sogar 10% relativ intensives Grünland). In den größeren Tiro- durch Hofdünger, seitdem in den Mooren und Moorpuffer- ler FFH-Gebieten herrscht folgende Nutzungsverteilung (nach Standard- zonen ein striktes Düngeverbot herrscht (Kantonsbericht BU- Meldebögen): WAL-Projekt Trockenwiesen und -weiden der Schweiz). Letztlich hat man abzuwägen zwischen • großflächig homogener Förderung, allerdings mit spür- baren Bewirtschaftungsauflagen auf der Gesamtfläche • „Patchwork-Förderung“ mit vielen Sonderflächen und wohl noch höherem Verwaltungs- und Kontrollaufwand. Im ersteren Fall müssen allerdings am gewohnten Pflege- standard bestimmter Biotope Abstriche gemacht werden. 3.4.3 Grenzen der Planbarkeit, Planung versus Eigenverantwortung Komplexe Planungen sind in einem labilen ökologisch-öko- nomischen System schwer zu realisieren. „Der Mensch denkt und Gott lenkt“. Die Almlandschaft ist ganz ungeplant im Ex- istenzkampf der Bevölkerung aus der weitläufigen Almende entstanden, deshalb sind ihr dauerhaft festgefügte Nutzungs (intensitäts)grenzen eigentlich fremd. Erst die Förderung mit ihrer Nachweispflicht für bestimmte Leistungen und Zustände entmischt die ursprünglich „unklar“ gegliederte, vor allem von Übergängen geprägte feinkörnige Höhenkulturlandschaft

Bild 8: Almdorf Fallerschein/Lechtaler Alpen auf dem Weg zur reinen Freizeit- siedlung. In der Umgebung weitgehendes Brachfallen der Hochmähder und teilweise auch der Weiden (Foto A. Ringler) Figure 8: Alpine summer valley Fallerschein/Lechtal mountains on the way to pure tourism – mowing of steep slopes has ended Bild 9: Niederalmlandschaft nahe Rudno Polje/Slowenien: die meisten Hütten zu Wochenendhäusern umgewidmet (Foto A. Ringler) Figure 9: Low-altitude alpine pastures in the Slowenian alps, huts are re-allo- cated to weekend tourism

46 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung zu einem grobkörnigeren Mosaik und „zerlegt“ sie in klar Zwar lässt sich eine italienische oder französische Großalm klassifizierbare Zustandsstufen. im Gemeindeeigentum unter der Fachbetreuung der Forst- Einige Beispiele sollen die engen Grenzen „deterministischer“ Voraus- behörden bzw. -gesetzgebung leichter „beplanen“ und „steu- planung und Präzisionsgestaltung alpiner Kulturlandschaft veranschau- ern“ als eine nordalpine Privatalm im Hofeigentum 8), das lichen: Heil wird aber nicht in räumlich detaillierten Plänen, Konzep- (1) Im Jahre 1972 bestimmte das Programm Almen/Alpen in Bayern in ten und Leitbildern auf möglichst großer Fläche zu suchen apodiktischer Form: „Die Erschließung durch LKW-befahrbare We- sein. Fachlich-ökologischer Sachverstand wird ungern in der ge ist die Grundvoraussetzung für die Erhaltung von Almen in jeder Praxis berücksichtigt, wenn er im Gewand fremdbestimmter, Größenordnung … Insbesondere in Oberbayern wird es notwendig nicht angeforderter Pläne und Konzepte daherkommt. werden, kleine und deshalb unwirtschaftliche Almen zusammenzule- gen, genossenschaftlich zu bewirtschaften und mit Gemeinschafts- Zielführender ist eine Verständigung der verschiedenen (Kon- ställen zu versehen … Steile, erosions- und rutschgefährdete Lagen flikt-) Partner auf eine „gute fachliche Praxis“ für die Almen sind aus der heute meist ungeregelten Beweidung herauszunehmen (die natürlich nicht aus dem Tiefland übernommen werden und nach Möglichkeit aufzuforsten, die verbleibenden Lagen sind zu kann) und eine ständige beratende Partnerschaft vor Ort. meliorieren“. In der Folge wurde eine detaillierte „Agrarleitkartie- rung“ auf den Almen durchgeführt, die in flächendifferenzierte För- Gefragt ist Handeln aus eigener Einsicht, denn im Vegeta- derkonzepte umgesetzt werden sollte. 35 Jahre später sind aus den tionsmosaik einer Almlandschaft lassen sich ökologische Leis- LKW-Straßen relativ schmale Schlepperwege geworden, die Almzu- tungen nicht parzellenweise zuteilen und kontrollieren, ge- sammenlegung ist hier (nicht aber z.B. in Frankreich) auf wenige Ansätze zu Weidegemeinschaften geschrumpft, die Aufforstung der hören aber als „ökologische Eigenleistung“ der Nutzungsbe- „erosionsgefährdeten“ Lichtweiden hat nur in kleinflächigen Aus- rechtigten zur Gesamt-Produktpalette eines Almgebietes. Al- nahmefällen stattgefunden, die „Agrarleitkartierung“ der Almen ist lerdings kann vom Älpler kaum verlangt werden, Fundpunkte bedeutungslos in der Schublade verschwunden. Wahrscheinlich wür- von Artenschutzkartierungen, Flächen von Arten- und Biotop- de es heute allzu forsch aufgestellten Handlungszielen in 30 Jahren schutzprogrammen, Moorschutzareale, kartierte Biotope oder ebenso ergehen. FFH-Flächen vor Beginn oder während der Weidesaison auf (2) Die österreichische Almpflegeplanung startete mit einem hohen De- den Computer zu laden oder die Bergmolchpopulation im taillierungsgrad (z.B. EGGER et al. 1994: http://www.sbg.ac.at/geo/ Weidetümpel zu „monitoren“. Also bedarf es doch der fach- agit/papers94/egger.hat)): gewichtete Zusammenführung konkurrie- render Interessen (Almwirtschaft, Naturschutz, Österreichischer Al- lichen Zuarbeit ortskundiger Fachleute im Rahmen gemein- penverein) nach flächendeckender Geländekartierung von ca. 80 Va- samer Begehungen (z.B. zu Beginn der Weidesaison), sollten riablen; Gewichtung und Beurteilung der Maßnahmenalternativen die Pflanzenbestände mit ihren ökologischen Funktionen, ih- durch Bauern, ÖAV und Fachbeamte der Landesregierung; vierstu- rer Empfindlichkeit und Belastbarkeit den Älplern und Hirten fige Maßnahmeneignungskarten Schwenden und Offenhalten u.a. mit im Gelände nahegebracht und das Weidegebiet schrittweise „freiwilligen Almrauschinseln“ (die Art ist in Kärnten geschützt), die auf nachhaltige Nutzung u n d Naturschutz eingestellt werden. als „Beitrag zum Vermarktungskonzept“ angesehen werden, Pflege- karte Lärchwiesen, Düngungskarte. Ein Jahrzehnt später stellte sich Gute Dienste leistet dabei eine in Abstimmung mit den Alm- das Konzept im österreichweiten Almvitalisierungsprojekt AlpAus- verantwortlichen erstellte Bestandskarte 1:5 000 oder 1:10 000, tria schon erheblich vereinfacht dar (EGGER et al. 2006). die aber nicht den Reifegrad eines detaillierten, aber vielleicht (3) In den französischen Nordalpen (Region Rhone-Alpes) wurden 2002 praxisfernen Pflegeplanes erreichen muss. Zu filigrane „Pfle- und 2003 auf mindestens 99 Almen größere Schwendungs- und Ent- geziele“ können leicht zu ständigen Zerwürfnissen wegen buschungsaktionen im Flächenumfang von jeweils bis zu 10 ha durch- Nicht-Einhaltung führen. geführt (CRR 2004). Anderswo aber können scheinbar geringe, zu- fällige (also einer gezielten politischen Lenkung kaum zugängliche) Derartige Beratung ist eher als ökologisches Gegenstück der Anstöße über Zuwachsen oder Offenhalten entscheiden. Der zukünf- längst üblichen Beratung durch Agrarämter und Almfachstel- tige Bewaldungsdruck ist wegen der Klimadynamik und auch in An- len zu verstehen, ein Ansatz, der in den Westalpen bereits jetzt betracht der förderpolitischen Nutzungsänderungsimpulse kaum zu verfolgt wird. Naturschutzfachbehörden sind dafür nur aus- prognostizieren oder zu modellieren. Ein theoretisches Idealbild der nahmsweise (in wenigen Regionen) ausreichend besetzt und alpinen Grünland-Wald-Verteilung eignet sich kaum als planerische instruiert. Da der Beratungsaufwand nach einigen Jahren zu- Vorgabe. rückgeht, genügen i.d.R. Stellen auf Zeit oder Werkvertrags- (4) Als sich die durch Schafe übertragbare Gams- und Steinbockblind- heit ausbreitete, standen die Berner Alpen kurz vor einem Verbot der nehmer. Diesen personellen „Luxus“ sollte man sich auch in Schafalpung. Momentan rückt die Gamsblindheit in den Dolomiten Zeiten des Sparens leisten, denn eine ökologische Optimierung von Belluno und den Sextner Dolomiten westwärts vor (2003: 350 der Almregion sichert mehr Biodiversität, als in den über- Todesfälle). Faktoren dieser Art entziehen sich jeglicher Vorhersag- nutzten Tiefländern sicherbar wäre. barkeit . Sie verhalten sich wie eine „Geißel Gottes“. (5) Für die begrenzte Vorhersagbarkeit (Stochastik) komplexer politisch- Grenzen der Kontrollierbarkeit, Bedrohung durch Büro- volkswirtschaftlicher Systeme steht ein Schweizer Beispiel: 18 000 ha kratisierung? Der Teufel steckt im Detaillierungsgrad. „Öko- 2 Almweiden der Französischen Juralandschaft werden zu ⁄3 von Schwei- logisch“ ausgetüftelte Programme erschweren oft den prakti- zer Sömmerungsrindern gepflegt. Seitdem ab 2002 urplötzlich der schen Vollzug. Förderprogramme neigen fast zwanghaft zur Vieh-Antransport durch Änderung der Schweizer Transportförder- weiteren Ausdifferenzierung. Nach dem EU-Beitritt hatte politik nachließ, drohten fast 5 000 ha zu „verwildern“ (Transrural In- Slowenien nicht mehr 7 sondern plötzlich 22 verschiedene itiatives No. 229, 21.1.2003, Paris), ein Aussenfaktor, mit dem die Prämienangebote im Berggrünland. Hochdifferenzierte För- französischen Landschaftspflegebehörden nicht gerechnet haben. Welchen Zweck hätte ein detailliertes Gestaltungskonzept für die „es- derprogramme sind auf weitläufigen unerschlossenen Hoch- tives“, „paturages“ und Wytweiden, wenn plötzlich der Nachschub almen von personalschwachen Behörden während der Dienst- ausbleibt? zeit kaum kontrollierbar. Vermehrte Verstöße, Sanktionen und

8) Jede Almbesitz- und Organisationsform verkörpert eine andere Unabhängkeitstufe von obrigkeitlichen und planerischen Einflüssen (Korporationsalp mit eigener Verfassung, Agrargemeinschaft, Genossenschaftsalpe, Staats-, Berechtigungs- und Eigentumsalm).

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 47 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

Bürokratie bei akribischen Auflagen können diese ad absur- Betrieben wurden beanstandet (zu späte Anmeldung, Nor- dum führen. Steigender Kontrollaufwand kann die Akzeptanz malbesatz nicht eingehalten, nicht förderungskonforme Wei- ganzer Programme gefährden und diese zu Fall bringen. Land- deführung, Nutzung nicht beweidbarer Flächen, falsche Tier- schaftspflegerische oder „ökologische“ Leistungen werden bestandsangaben etc.). nie so eindeutig überprüfbar sein wie Liter Milch oder Kilo- Beispiele wie diese zeigen kaum lösbare kontrollbürokratische gramm Kuh. Je interpretationsbedürftiger ein Förderinhalt, Achillesfersen einer Förderpolitik, die zum Sparsamkeitsge- desto mehr Uneinigkeit wird entstehen. Dies aktiviert Rech- bot angehalten ist, gleichzeitig aber ihren Personalbestand nungshöfe, EU-Kontrolleure oder einsparungswillige Politiker abbaut. Eine naturschutzfachlich relevante Überprüfung hun- und futterneidische Interessengruppen derter riesiger Almflächen würde in den meisten Regionen Beispiel: Die Salzburger „Almpflegeprämie“ bietet 30 2/GVE zusätz- ohnehin am sehr geringen staatlichen Naturschutzpersonal lich zur Alpungs- und Behirtungsprämie und verlangt dafür die Scho- scheitern (z.B. Tirol). Schon jetzt sind regionale Naturschutz- nung von Nassstellen, den Verzicht auf almfremde Dünger und Futter- mittel. Letztere werden jedoch im Fall von Milchkühen zugestanden, stellen auf fallweise „Monitoring-Aufträge“ an Büros angewie- falls keine „Intensivierung“ stattfindet. Wer befindet über eine eventu- sen, was natürlich nicht als effektive Dauerkontrolle durchzu- elle „Intensivierung“? Wie läßt sich dies bei tragbarem Personal- und halten ist. Bei Einhaltung einer bestimmten Spesengrenze und Zeitaufwand (u.U. sogar ohne Fahrweg für den Gutachter) gerichtsfest Vermeidung personeller Aufblähung werden aber auch die ausschließen oder belegen, wenn gleichzeitig der Besatz nur durch die Europäischen Behörden sowie die nationalen Rechnungshö- konziliante Formel „im Ausmaß der ausgewogenen Almwirtschaft“ be- stimmt wird? Ein höherer Etat-Anteil für biotopbezogene Spezialprä- fe kaum kontrollwirksam ins Almgebiet „vordringen“ können, mien senkt zwangsläufig die Grundprämien und deren ökologische Ver- man denke nur an die immer noch zahlreichen, noch nicht pflichtungen. Heraus kämen besser gepflegte„Naturschutzinseln“ bei Kfz-erschlossenen Almen. Per Fernerkundung (Flugzeug oder vielleicht unerwünschter Zustandsveränderung der übrigen Flächen. Satellit) sind derzeit zwar bestimmte abgeleistete Pflegeauf- Ein Mittel gegen überbordende Bürokratisierung wäre die gaben (z.B. Mahd, Koppeln, Rodung als Waldweideersatz) schärfere Definition einer „guten alpinen Praxis“ bei den ganz gut kontrollierbar, nicht aber der Flächenzustand in Be- Grundprämien (Regeln der guten landwirtschaftlichen Praxis zug auf Biotopqualität, Arten etc.. für das Tiefland sind im Hochgebirge unbrauchbar; cross com- Je mehr die Kontrolle auf „Remote Sensing“ übergeht, desto pliance für Flächengrundprämien). Ein anderer Weg sind ört- stärker wird der Trend am Boden, einfache, „klare“ Nutzungs- lich maßgeschneiderte Betriebsverträge unter ausdrücklicher grenzen, die auch aus dem Weltraum eindeutig erkennbar Berücksichtigung von Artenschutz und Spezialbiotopen (An- sind, zu schaffen. Was dies für die Erhaltung der „Ökotone“ sätze bereits in F, CH, A). Älplerverantwortung schließt na- (komplexer Übergangslebensräume, sehr extensiver Weiden türliche Pflanzenbestände und Ressourcen ein, die Älpler- mit Bracheanteilen, Wytweiden, Baumgruppen, aufgelocker- schulung sollte weit über Agrartechnisches hinausreichen. ter Waldränder etc.), ganz allgemein den faunistischen Natur- Mehr Kontrolleure als Älpler/-innen? Da die Akzeptanz öko- schutz bedeutet, wagen wir noch nicht abzuschätzen. Dort, logisch anspruchsvollerer Bewirtschaftungsweisen eng mit dem wo die „Programmkontrolle“ derzeit schon oder künftig über Grad der Freiwilligkeit verknüpft ist, gilt es, den Kontrollauf- „Scanning“ erfolgt, ist zumindest eine differenziertere Erken- wand auf das Unumgängliche zu beschränken. Die Möglich- nung gewisser Vegetationsqualitäten, Mikrostrukturen, Vege- keiten, mit erhöhter Kontrolldichte Almbewirtschafter in den tationskomplexe vonnöten. So z.B. wurden in den Französi- Ruch der Subventionserschleichung zu drängen, wachsen in schen Nordalpen seit 1994 834 Großalmen per Luftfoto in 6 der Dynamik der herrschenden Förderpolitik. Rasenvegetationstypen eingeteilt. Allerdings löst auch dies In einem Alpenland haben die Europäischen Behörden (EU- kaum die Probleme, naturschutzfachlich relevante Vegetati- Amtsblatt C 290) nach 554 Vor-Ort-Kontrollen und auf der onsveränderungen (z.B. leichte Eutrophierung) zu erkennen. Basis 185 luftbilderfaßter Almen im Hinblick auf die auszu- Die Grenzen der luftbildgestützten Almvegetationsgliederung zahlenden Extensivierungsprämien „um 61% überhöhte An- (ohne Einsatz von Spezialisten und Bodenkontrollen) werden gaben zur Almfutterfläche“ bemängelt (im Kontrollbereich wohl in den relativ differenzierten Kategorien der Schweizer gemeldet waren 43 200 ha und gefunden 26 167 ha). Dies Arealstatistik erreicht, welche immerhin für andere Alpen- wird nicht der letzte Konfliktfall zwischen regionalen und länder einen Weg für die Erfassung von Vegetationsforma- EU-Behörden sein, wo es um beträchtliche Auszahlungssum- tionen im Almgebiet aufweisen. men oder sogar bittere Rückzahlungen gehen kann. In diesem Überbordende Kontroll(bürokrati)en können sich auch im Falle sind die „Futterfläche“-Definitionskriterien der Kon- tierhalterischen, -hygienischen, veterinärpolizeilichen und was- trollinstanzen schwer ersichtlich. 326 von 1227 im Jahre 2003 serhygienischen Bereich entwickeln, z.B. bei der Einhaltung kontrollierten sömmerungsbeitragsberechtigten Schweizer biologischer und ökologischer Gütesiegel. Das Problem des

Bild 10: Ergebnis ökologisch und landschaftlich wenig qualifizierter Förderpo- litik: Kaum landschaftsgerechte Almstallungen auf der malga Cherz/Marmola- ta-Gebiet/Veneto, stellvertretend viele ähnliche Almbauten besonders in den Südostalpen, korrespondiert mit ingesamt unbefriedigendem Management der zugehörigen Mähder und Weiden (Regionen mit qualifizierteren Almbauem- pfehlungen und -vorschriften: Regione Piemonte/IT, Alpes-du-Nord/F u.a.) (Foto A. Ringler) Figure 10: Reconstructed cow-shed on malga Cherz/Veneto/IT, example for agricultural investments without any adjustment in the Southeastern alps

48 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung

Zusammenkommens „ökologisch-biologischer“ Tiere, die die minduziert pro Hektar seiner gesamten Betriebsfläche 204 2/ha mehr Vorgaben bestimmter Verbände und das EU-Merkblatt VO einnehmen. Unter Umständen können z.B. 20 ha Alm bei 50 ha Gesamt- 2 2092/91 Anhang 1 Abs. 1.8 einzuhalten haben, und „konven- betriebsfläche eine Jahreszahlung von 14 000 auslösen tioneller“ Tiere auf den Almen, besonders Gemeinschafts- und 3.5.1 Gesamtförderung Alpen Genossenschaftsalmen, ist noch nicht wirklich gelöst. Je stär- Alpines Grünland mit hoher landschaftspflegerischer Bedeu- ker solche Tierherkünfte voneinander zu separieren sind, desto tung (Almen+Bergwiesen+Maiensäßen+hutungsartige Heim- schwieriger wird die Realisierung großflächiger Pflegekon- weiden) wird alpenweit pro Jahr aus der Ersten und Zweiten zepte, die oft einen sehr flexiblen Einsatz größerer Herden er- Säule mit mindestens 1,04 Mrd. 2 auf 2,6 Mio ha gefördert, fordern. „Richtlinien über die Haltung von Pensionsvieh auf Almen im engeren Sinne mit etwa 800 Millionen 2 (incl. In- Gemeinschaftsweiden“ sollten stets auch auf ihre indirekten vestivförderung) auf 2,2 Mio Hektar. Diese rechnerische „För- großflächig-landschaftspflegerischen Folgen abgeklopft wer- derintensität“ von 380 2/ha alpines Grünland und 360 2/ha den. Almfutterfläche entspricht nach Abzug der Investitionshilfen Dort wo die Alpung „biologisch-ökologischer“ Tiere zur Er- (-11%) etwa der künftigen entkoppelten Grundprämie in Bay- haltung der Mindestbeweidung unabdingbar ist, hilft wohl ern (2013: 340 2/ha). nichts anderes, als die gesamte Almbewirtschaftung einer Die jährliche Extensivgrünlandförderung der Alpen ist genau Förderregion völlig und nachweislich ohne synthetische Han- so hoch (nicht höher) wie/als der Agrarhaushalt Bayerns (1,1 1 delsdünger und Spritzmittel (auch Einzelpflanzenbekämp- Mrd. 2), beträgt aber nur ⁄40 des jährlichen Staatsschulden- fung) abzuwickeln, wie es im ÖPUL bereits realisiert ist. zuwachses Deutschlands in den Jahren nach 2000 (40 Mrd. 2). Eine buchstabengetreue Einhaltung der veterinärpolizeilichen Alle Almen der Alpen zusammen erhalten nicht mehr, als Brüs- Vorschriften bei verunglückten oder abgängigen Almtieren sel für Flächen- und Tierprämien 2004 allein nach Bayern ist ohnehin in der Praxis kaum vollziehbar und auch im In- überwies, aber immerhin das 7-fache der Ausgaben für Schutz- teresse bestimmter Artenschutzziele (Geier, aasverwertende waldstabilisierung der gesamten Alpen. Wirbellose etc.) kontraproduktiv. Die Fördermittel verteilten sich 2002 folgendermaßen auf die 3.5 Wie hoch wird gefördert? (Förderintensität) größeren Alpenstaaten: Die folgenden Analysen ergeben sich aus einer detaillierten Auswertung aller alpenregionalen Förderprogramme und -statistiken für die Bezugs- jahre 2002-2004 (soweit nicht anders vermerkt). Neuere Angaben waren noch nicht für sämtliche Regionen verfügbar. Unsere Angaben erfolgen mit Vorbehalt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Eine detaillierte Herleitung der summarischen Förderhöhen erfolgt in RINGLER (2007). Quellen u.a.: PRL (2000-2006); PRL (2007-2013), Agrarber. Dept. Al- pes Haute-Provence (2005): L’Etat et l’agriculture dans les AHP, BMLF (Wien): Standarddeckungsbeiträge und Daten zur Betriebsberatung 2002/ Förderzweck: Alpenweit aufsummiert beziehen sich etwa 2003, Sömmerungsbeitrags- und Kulap-Leitfäden (Schweiz, Deutsch- 66% der Ausgaben auf Offen- und Agrarstrukturerhaltung land), CNASEA-Ber. Paris 2001-2004 (online, Zentrum f. Agrarstruk- turverbesserung), PARIZEK & WAGNER (2004), BERNARD et al. (Ausgleichszulage, Grünland- und Alpprämien, Investitions-, (2005), DALLAGIACOMA (1999), Senatsanhörung Agrarminister Gay- Notfall- und Räumungszuschüsse), ca. 29% auf Erzeugung mard 16.7.2002 (Paris), RIVA 2000, INRA ESR de Nantes, INEA (1998- (Ertragszuschüsse wie Tierprämien, Milchprämien, preispri- 2004), BAB (2004), Agrarberichte der österreichischen Länder (z.B. „Ti- vilegierte Almmilch), ca. 5% auf Biodiversität (Landschafts- roler Bericht zur Lage der Land- und Forstwirtschaft“), ISAFA-Statisti- ken (Italien) u.a.. pflege-, Artenhilfs- und Haustierhilfsprogramme). Der pro- Auch die auf kleinerer Fläche oder nur auf Inselflächen ausgeschütteten duktgebundene Anteil liegt faktisch noch höher, weil auch Zahlungen (z.B. AZ, VNP) wurden in das Prämienpotential der gesamten die erheblichen milchwirtschaftlichen Alminvestitionen eini- Zone einbezogen, um ganze Almregionen miteinander vergleichen zu ger Länder hinzuzurechnen sind. können. Unsicherheitsmomente: Die „Momentaufnahme“ der Tabellen 3/4 ent- 3.5.2 Förderintensität Alpengrünland nach hält gewisse Unsicherheitsmomente. Almwirtschaft wird in vielen Län- Ländern und Regionen (siehe Tab.3) derstatistiken nicht sauber getrennt von (Berg-)Landwirtschaft, spezifi- Fördermittel regnen nicht gleichmäßig über die ganzen Alpen sche Milchpreis- und Käsepreiszuschläge werden nicht systematisch er- fasst. Schwer zu beziffern ist der Effekt almbedingter Erweiterung der herab. Förderinhalte schwanken von Zeit zu Zeit und von Ge- Futterfläche, die zusätzliche, nur bei mäßigem Besatz abrufbare Exten- biet zu Gebiet. Das interregionale Gefälle bei der ha-bezoge- sivierungsprämien auslöst. Mancher bayerische Betrieb unterschreitet nen Gesamtförderung ist maximal 9fach, bei den großflächig erst unter Einschluß seiner Almen die Kulap-Besatzgrenze, kann also al- ausgezahlten Flächenprämien sind die regionalen Unterschie- de viel geringer als bei den Tierprämien (die es almbezogen in einigen Regionen gar nicht mehr gibt), Invest-Zuschüssen (Spit- zenreiter: Allgäu, Französische Südalpen) und Naturschutz- zahlungen (Spitzenreiter: Niederösterreich und Allgäu).

Bild 11: Viehtrieb mit Hunden auf der malga Pellegrino/Trentino. Almland- schaft durch überbreite Erschliessungswege, Lifte etc. vielfach fragmentiert. Rationalisierung überschreitet ein der Landschaft zuträgliches Maß (Foto A. Ringler) Figure 11: Cattle driving with dogs on malga Pellegrino/Trentino, excessively fragmented by car routes and touristic constructions

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 49 Almzukunft und Almförderung Alfred RINGLER

Die Zuschüsse und Kompensationszahlungen an der ertrag- lerdings erfüllt auf vielen Almflächen auch die Grundförde- reicheren Nordabdachung waren lange Zeit viel höher als im rung gewisse Naturschutzziele. Das Fördermaximum pro Hek- weidewirtschaftlich benachteiligten inner- und südalpinen Be- tar (Summe aller kombinierbaren Förderungen incl. Sockel- reich. Dafür aber waren südalpine Regionen bei der Akquisi- förderung) liegt auf Bergwiesen bei höchster Erschwernis in tion von Projektsonderförderungen der EU (z.B. nach „LEA- CH und FL bei über 3000, in Italien 1300-1400, in Deutsch- DER“ oder „LIFE-Plus“) viel aktiver als Regionen der Nord- land um 1200, in Österreich 1000-1250 2. Die Erweiterung alpen. der Grundförderfläche ist ein wichtiger Anreiz zur Wieder- Als „Alpengrünland“ oder „Alm-Bergwiesenzone“ bezeichnen wir das aufnahme der Bergmahd (z.B. Ausgleichszulage in Südtirol gesamte für Naturschutz und Landschaftspflege besonders bedeutsame bis 330 2/ha, Flächenbeitrag in der Schweiz 1200 Sfr./ha). Höhengrünland: Almfutterfläche+vorwiegend einmähdige Bergwiesen Vertragsnaturschutz gibt es entweder nur in aufgelisteten (subalpine Mähder, Maisässen/mayens/monti, „Weiden“/Ostösterreich) +Allmenden+almartige Heimweiden bzw. Hutweiden. Der Bezugsraum „Biotopen“ oder Naturparken (z.B. Trentino, Südtirol) oder „Alpengrünland“ ist interregional oft eindeutiger abzugrenzen als die in faktisch allen Teilflächen eines Lebensraumtyps (z.B. CH, Almen allein und macht die tatsächliche Förderintensität besser vergleich- D). Nur regional angeboten werden Nichterschließungs-Zu- bar, weil die Almen landschaftlich gesehen sehr unterschiedlich abgegrenzt schläge (10-50%), Beiträge für Lärchwiesenpflege, Almänger werden, sodass ähnliche Grünlandstandorte im Land X zur Almzone, im Land Y zum Bergwiesen- oder Heimweidebereich gehören. Allerdings und Waldweiden. Der naturschutzfachlich effiziente Weg des bestehen Unsicherheiten bei der Flächenangabe für den Bezugsraum. Betriebsvertrages (Prämiensteigerung bei betrieblichem Na- Zahlen für Regionen und übergreifende Staaten/Länder werden oft ne- turschutzplan) wird in F („CAD“), CH und A auch auf Almen beneinander gestellt. umgesetzt. Die Schonung der Moore vor Trittschäden ist in Kulturbetonte artenreiche Ökosystemtypen sind sehr un- Oberitalien ein Prämienangebot, in der Schweiz dagegen gleichgewichtig berücksichtigt. In der Schweiz z.B. erhält ebenso obligatorisch wie die Schonung spärlich bewachsener (Steil-)Grünland außerhalb der Sömmerungsweiden viel höhe- Felsfluren und empfindlicher Gratbereiche. Nur in den fran- re Zahlungen als die Alpweiden, anderswo existiert dieser zösischen Alpen gilt ein Düngungsabstand von mind. 35 m Unterschied kaum und in einigen italienischen Gebieten ist zu Gewässern (CTE bzw. PHAE). die Förderintensität der Alpweiden alles in allem sogar höher. Produktprämien: Tendenziell besatzstützende oder -steigern- So ändert sich die Förderrangfolge der Staaten und Regio- de („nutzungsintensivierende“) Produktprämien sind regional nen, wenn man statt Almfutterfläche das gesamte Alpen- sehr unterschiedlich vertreten. Grob könnte man 4 Gruppen grünland zugrundelegt. unterscheiden: sehr hoher Anteil (z.B. Schweizer Nordalpen- 1 Explizit dem Naturschutz gewidmet sind maximal ⁄10 (All- kantone, Liechtenstein), mittel (z.B. Bayern, Oberösterreich, 1 gäu und Niederösterreich) bis ca. ⁄100 der Fördermittel. Al- Wallis), gering (z.B. Tirol, Salzburg, Kärnten, Vorarlberg und

Tabelle 3: Förderintensität des Alpengrünlandes nach Ländern und Regionen Die Farbintensität korreliert mit der faktischen Förderintensität pro Hektar Spalte 1: Auszahlungsbeträge aller Alm- und Bergwiesenförderungen, umgelegt auf die Gesamtfläche Alpengrünland (keine reale ha- Prämie, da manche Förderungen auf derselben Parzelle nicht kombinierbar sind und da auch derzeit ungeförderte Flächen in der Be- rechnungskulisse liegen können. Spalte 2: Summe der geflossenen tierbezogenen Extensivierungsprämien umgelegt auf Alm/Bergwiesenzone. Einige indirekte Effekte bleiben unberücksichtigt, z.B. almbedingt höhere Zahl sonderprämierter autochthoner Haustierrassen (um 120 2 pro Stück oder GVE), die spezifisch auf extensiven Hochlandweiden zu halten sind und die Einhaltung betriebli- cher Höchstbesatzgrenzen voraussetzen. Spalte 3: Geflossene Investivzuschüsse (nach Angaben der Länderverwaltungen) umgelegt auf Hektar Alm/Bergwiesenzone: Gebäude- sanierung, Hüttenbau, Wege, Weideverbesse- rung, WW-Trennung, Standortmelioration und zugehörige Planung, Räumungsarbeiten u.dgl. Spalte 4: Summe der auf allen oder den mei- sten Almen abrufbaren flächenbezogenen Prämien. „Maximum/ha“: Maximalwert kombi- nierbarer Förderungen. „Tatsächlich gezahlt/ ha“: landesweite Gesamtausschüttung geteilt durch die gesamte geförderte Alm/Bergwie- senzone; dies bedeutet nicht, dass diese Sum- me auf jedem beliebigen Alm-Hektar geflos- sen ist Spalte 5: Maximalwerte sind u.U. nur theo- retische Kombinationswerte, die stets auch Sockelförderungen enthalten! Gezahlt 2/ha: Nur naturschutzbezogene Mittel ohne Sockel- förderung. Grober Schätzwert mit mehreren Annahmen (Bezugsraum Almen + Bergwie- sen oft unsicher, Naturschutzmittel nicht nach Almzone ausgewiesen)

9) Diskrepanz zwischen Summenwert und Spalten 2-6 beruht auf Angaben zu verschiedenen Jahren.

50 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Alfred RINGLER Almzukunft und Almförderung

Lombardia) und sehr gering (z.B. Slowenien und Alpes-du- liegt unangefochten an der Spitze, dahinter das Allgäu. Regio- Sud). Die Entkoppelung beendet diese Prämien Zug und Zug. nen mit sehr hohem Arten- und Naturschutzpotenzial in der 3.5.3 Reale Förderintensität der Almzone nach Almstufe (Hot Spot-Gebiete der Biodiversität) sind oft im ein- Ländern und Regionen (siehe Tab.4) schlägigen Fördervolumen benachteiligt (Beispiele: Lombar- dia, Piemonte, Veneto, Friuli-Venezia Giulia, Alpes-du-Sud). Almförderintensität gesamt: Legt man sämtliche Zuschüs- Oberbayern liegt im Hintertreffen, das Allgäu in der Spitzen- se und Prämien auf Hektar Almfutterfläche um, so ergibt sich gruppe. In einigen der VNP-bezogen „minderbemittelten“ Süd- folgende Spitzengruppe: Allgäu (D) > Schweizer Nordalpen regionen wurden mittlerweile die Naturschutzförderangebote > Liechtenstein > einige italienische Regionen > Oberbayern zumindest in Natura 2000-Gebieten stark aufgestockt. Die (D). Die Schweiz wurde bei der Alpförderung von EU-Staa- Schonung stark weidebelasteter empfindlicher Feuchtge- ten „überholt“, ihre Bergwiesen- und Heimweideförderung ist biete fällt in der Schweiz unter „cross compliance“, ist also jedoch nach wie vor am höchsten. eine unhonorierte Basisverpflichtung (soweit im nationalen Die „Erste Säule“ (produktionsbezogene Direktzahlungen) Inventar enthalten), in Veneto, Südtirol und Piemonte wird sie dominiert am meisten in Liechtenstein und einigen Zentral- aber mit 153 2/ha, in der Provinz Belluno (Veneto) sogar drei- schweizer Kantonen (z.B. Obwalden). Österreich hinkte um fach höher prämiert. 1990 stark hinterher, hatte aber bis 2000 mit 160 2 für gealp- Investitionshilfen (Erschließung, Geräte, Wirtschaftsgebäude te Milchkühe die Schweizer Sätze (mit 174 2/RGVE 10)) fast etc.): Auch hier liegen die Regionen weit auseinander. Hektar- erreicht, Vorarlberg und einige italienische Regionen haben die bezogen bildet wiederum das Allgäu die Spitze, deutlich vor Schweizer Sätze sogar überholt. Alpes-du-Sud und Südtirol, und weit vor den einst „bestgeför- Flächenprämien der „Zweiten Säule“ weisen die relativ ge- derten“ Schweizer Nordalpenkantonen. Die enormen Unter- ringsten regionalen Unterschiede auf (abgesehen von der schiede seien an folgenden Beispielen ablesbar: Kärnten ge- flächenprämienfreien Schweizer Alpzone). Auf ha Alm/Alp- währte 2003 pro Alm im Durchschnitt 26 2, Obwalden/CH 809, fläche bezogen liegt das Allgäu ganz vorne, deutlich vor den Bayern 1 440, Lombardei/It 4 933 und Trentino/It 18 359 2. bestgeförderten Schweizer Kantonen und dem reichen Liech- Auch die Invest-Fördersätze unterscheiden sich exorbitant, tenstein, aber schon dicht gefolgt von jenen romanischen Re- z.B. 15-20% bei Kärntner Niederalmen (höhere Almen mehr gionen, in denen das flächige Absterben der (Berg)Landwirt- Zuschuss) und Salzburger Almställen, 75-90% in Bayern hö- schaft und der Almen Reaktivierungskampagnen und eine kon- henunabhängig in Verbindung mit Wald-Weide-Trennung. sequente Ausschöpfung von EU-Mitteln anstachelte (Aosta, 1996 wurden im Aostatal und in der Provinz Sondrio (Veltlin) Piemonte, Trentino, Französische Südalpen; vgl. BÄTZING im Alm-Durchschnitt 11 500 2 an Investivförderung gewährt, 2003). in der Provinz Torino aber nur 2 000 2 (LOMBARDI 1997). Naturschutzhonorierungen verteilen sich ungleichmäßiger LEADER-, 5b-, INTERREG- und LIFE-Programme wurden als die Nutzungsförderungen (interregionale Schwankung: und werden regional unterschiedlich ausgeschöpft (in den Süd- bis zu 200fach). Die „Ökopunkteregion“ Niederösterreich alpen derzeit viel mehr als in den Nordalpen).

Tabelle 4: Förderintensität der Almzone nach Ländern und Regionen Spalte 1: Auszahlungsbeträge aller Almförderungen, umgelegt auf Alpengrünlandfläche Spalte 2: Ausbezahlte tierbezogene Extensivierungs- prämien umgelegt auf Alpengrünland. Weitere indi- rekte Hilfen gehen in die Summen nicht ein, z.B. ge- nerieren Almen auch mehr Prämien für autochthone Haustierrassen (vielfach um 120 2 pro Stück oder GVE), die spezifisch auf extensiven Hochlandwei- den zu halten sind und die Einhaltung betrieblicher Höchstbesatzgrenzen voraussetzen. Spalte 3: Geflossene Investivzuschüsse (nach Anga- ben der Länderverwaltungen) umgelegt auf Hektar Almfutterfläche: Gebäudesanierung, Hüttenbau, We- ge, Weideverbesserung, WW-Trennung, Standortme- lioration und zugehörige Planung, Räumungsarbeiten u.dgl. Spalte 4: Gesamtausschüttung an flächenbezoge- nen Grundprämien (großflächig abrufbare Angebote mit geringen ökol. Einschränkungen) geteilt durch die gesamte geförderte Alpengrünlandfläche; dies be- deutet nicht, dass diese Summe auf jedem konkreten Hektar geflossen ist Spalte 5: VNP = Vertragsnaturschutz (im weiteren Sinne; incl. EA Erschwernisausgleich etc.). Natur- schutzbezogene Zahlungen ohne Sockelförderung (Spalte 2 und 4)

10) RGV Rauhfutterfressende Großvieheinheit Fortsetzung im Heft 31/2 (2007)

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 51 Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven

Michael HINTERSTOISSER Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven1) Alpine farming in Upper Bavaria – Situations and Perspectives

Zusammenfassung Summary Die oberbayerischen Almflächen beginnen bei ca. 800 m und The Upper Bavarian alpine pastures range from an altitude of reichen bis in eine Höhenlage von ca. 2 000 m. Das Verzeich- approximately 800 m to 2 000 m. The register of state-appro- nis der staatlich anerkannten Almen umfasst 710 Almen, die ved alpine farms includes 710 farms which encompass 19 608 mit einer Lichtweidefläche von 19 608 ha und einer Wald- ha of open pastureland and approximately 50 000 ha of wood- weiderechtsfläche von ca. 50 000 ha ausgestattet sind. Etwa land grazing rights. About 1000 farmers manage these moun- 1000 Bauern bewirtschaften diese Bergweideflächen. Der tain pastures. 1419 cattle, 18 014 young stock, 483 horses as Viehauftrieb umfasst 1419 Kühe, 18014 Jungvieh, 483 Pfer- well as 2 703 sheep and goats were put on the pastures du- de sowie 2 703 Schafe und Ziegen in einer Weidezeit von ring a grazing period between the beginning of June to the Anfang Juni bis Ende September. Auf der Hälfte der Almen end of September. On about half of the alpine farms, staff arbeitet ständiges Personal, während die andere Hälfte vom work on a permanent basis, while the other half are co-mana- Talbetrieb aus mitbewirtschaftet wird. Die Besitzstruktur ist ged from valley farms. The structure of land tenure varies: the- unterschiedlich: Es gibt 468 Eigentums-, 147 Berechtigungs-, re are 468 alpine farms with property, 147 alpine farms with 61 Genossenschafts- und 34 Staatsalmen. Die Staatsalmen entitlements, 61 cooperatives and 34 alpine farms owned by sind in der Regel an Bauern verpachtet. Etwa 60 Almen ver- the state. The latter usually are leased to farmers. About 60 fügen über keinen Fahrweg und können deshalb nur mit einem alpine farms have no road access and therefore can be ma- sehr hohen Arbeitsaufwand bewirtschaftet werden. Bürgerin- naged only with a very high labour input. To a large extent, itiativen und Landtagseingaben erschweren den Wegebau in citizens’ action groups and petitions to the state parliament erheblichem Maße. Die Almflächen liefern für ihren Talbetrieb have made the construction of roads difficult. On average, im Durchschnitt einen Futteranteil von 15-20%. the mountain pastures supply a fodder portion of 15 to 20% In der Öffentlichkeit herrscht breite Zustimmung zu den posi- for its valley farm. tiven Auswirkungen der traditionellen Weidewirtschaft, da In the public, a broad acceptance of the positive effects of the diese zum einen die Voraussetzung für eine große Arten- traditional grazing management prevails. It fosters higher speci- vielfalt liefert, zum anderen die Flächen vom Waldbewuchs es diversity than most modern methods, and it keeps the land freihält und somit dazu beiträgt, die über Jahrhunderte ge- free from forest coverage and thus contributes to maintain the schaffene Kulturlandschaft zu erhalten. cultural landscape which has developed over the centuries. Schon vor über 30 Jahren wurde die Notwendigkeit der För- More than 30 years ago, the necessity to support alpine farms derung von Alm- und Bergbauernbetrieben erkannt. Der För- and hill farmers was recognised. The catalogue of subsidies derkatalog in der Almwirtschaft umfasst die Ausgleichszulage for alpine farming includes income equalization supplements für benachteiligte Gebiete sowie Zuschüsse aus dem Baye- for less-favoured areas as well as subsidies from the Bava- rischen Kulturlandschaftsprogramm für Hirten und für inve- rian Cultural Landscape Programme (Bayerisches Kulturland- stive Maßnahmen. Der Strukturwandel vollzieht sich im Berg- schaftsprogramm) for herdsmen as well as for capital invest- gebiet langsamer als in Gunstlagen. So steht dem Rück- ments. Structural changes appear to be taking place more gang aller Bauernhöfe in Bayern in Höhe von 2,8% pro Jahr slowly in mountain areas than in favoured agricultural areas. bei den Bergbauern nur eine Abnahme von 1,5% gegenüber. The number of alpine farms decreased at a value of 1.5% per Gründe hierfür sind Zusatzeinnahmen aus dem Fremden- year compared with 2.8% for all farms in Bavaria. This fact verkehr, staatliche Prämien und eine enge Bindung an can be explained by additional incomes from tourism, state Grund und Boden, da sich die Höfe oft über Jahrhunderte im premiums and a close relation to the land, since farms have Familienbesitz befinden. Außerdem können die absoluten often been in the family’s possession for centuries. In addi- Grünlandlagen im Alpenraum nur mit Wiederkäuern sinnvoll tion, often only ruminants can use the obligatory grasslands verwertet werden, alternative Wirtschaftsformen sind nicht in the alpine region efficiently; thereby precluding other eco- möglich. nomic uses. Der Almwirtschaftliche Verein Oberbayern, der Alpwirtschaft- The Alpine Farm Association of Upper Bavaria (Almwirtschaft- liche Verein im Allgäu und der Bayerische Bauernverband licher Verein Oberbayern), the Alpine Farm Association of All- sind in der Arbeitsgemeinschaft für Bergbauernfragen zur gäu (Alpwirtschaftlicher Verein im Allgäu) and the Bavarian Vertretung der bergbäuerlichen Interessen zusammenge- Farmers’ Union (Bayerischer Bauernverband) cooperate in a schlossen. Ihr Ziel ist es, die Überlebensfähigkeit der Betrie- working group in order to represent the interests of alpine far- be in der Bergregion zu sichern, denn nur die Bewirtschaftung mers. Their goal is to ensure the survivability of the farms in durch Beweidung kann die Einmaligkeit der alpinen Kultur- the mountain region, reasoning that only grazing management landschaft gewährleisten. can maintain the uniqueness of the alpine cultural landscape.

1) Referat anlässlich der EuRegio-Fachtagung für Natur- und Landschaftsentwicklung am 12.12.2006 bei der Bayerischen Akademie für Natur- schutz und Landschaftspflege in Laufen

52 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Michael HINTERSTOISSER Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven

flächen für eine kostengünstige Jungviehaufzucht in Tallagen zur Verfügung stehen. Diese Flächen weisen einen höheren Er- trag als Almflächen auf und können mit weniger Aufwand be- wirtschaftet werden. Zudem begünstigen moderne Laufställe und die Technik der Futtervorlage die Stallhaltung aus arbeits- wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Auf etwa der Hälfte unserer Almen arbeitet ständiges Personal. Während früher vor allem Familienangehörige oft viele Jahre das Vieh betreuten, bewerben sich seit mehreren Jahren Perso- nen aus verschiedenen Altersgruppen und unterschiedlichen Berufen um eine Hirtenstelle. Je nach Eignung und persön- licher Lebenssituation arbeiten sie dann für einige Jahre auf der Alm.

Besitzverhältnisse Abbildung 1: Almlandschaften üben auf Menschen einen be- sonderen Reiz aus und bedeuten für das Vieh eine natürliche Die 710 oberbayerischen Almen teilen sich auf in 468 Eigen- und artgerechte Haltungsform tums-, 147 Berechtigungs-, 61 Genossenschafts- und 34 Figure 1: Alpine pasture landscapes have a special attrac- Staatsalmen. Staatsalmen sind in der Regel an Bauern ver- tion for humans and also suggest that the livestock are pachtet. Eigentumsalmen herrschen vor allem in den Land- being kept in a natural way appropriate to the species kreisen Rosenheim, Miesbach und in Teilen von Bad Tölz- Wolfratshausen und Traunstein vor. Berechtigungsalmen fin- Lage, Flächen, Bestoß, Personal den wir im Berchtesgadener Land und in Garmisch-Parten- Die oberbayerischen Almen liegen in den südlichen Teilen der kirchen. Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen mit seiner Landkreise Berchtesgadener Land, Traunstein, Rosenheim, kleinstrukturierten Landwirtschaft wird Almwirtschaft auf Miesbach, Bad Tölz-Wolfratshausen und Garmisch-Parten- Genossenschaftsbasis betrieben. Dabei befinden sich die Flä- kirchen in einer Höhenlage von 600 m bis 2000 m. Das Ver- chen zum Teil im Besitz der Gemeinden (z.B. Eschenlohe, Un- zeichnis der staatlich anerkannten Almen umfasst 710 Almen terammergau) und zum Teil im Staatsbesitz (z.B. Mittenwald, mit einer Lichtweidefläche von 19 608 ha, die von ca. 1000 Garmisch, Partenkirchen). Die Eigentümer alter Hofstellen ei- Bauern bewirtschaftet werden. Zu den Almen und Heimwei- nes Dorfes besitzen ein Auftriebsrecht bis zu einer bestimmten den – das sind Flächen in unmittelbarer Nähe der Talbetriebe – Maximalviehzahl. gehören noch ca. 55.000 ha Waldweiderechtsflächen, von de- Sowohl auf den Eigentums- als auch auf den Berechtigungs- nen aber nur ca. 25 000 ha bis 27 000 ha tatsächlich beweidet almen wirtschaften einer oder mehrere Bauern, von denen je- werden. Die Größe der Lichtweidefläche schwankt zwischen der einen bestimmten Eigentums- bzw. Rechtsanteil und ein weniger als einem Hektar bei den sogenannten Maisalmen und eigenes Gebäude besitzt. In vielen Fällen gehören zu den Al- über 300 Hektar bei Gemeinschafts- und Genossenschaftsal- men noch Waldweiderechtsflächen. Forstrechtskataster und al- men. Maisalmen finden wir vor allem im Berchtesgadener te Urkunden beschreiben den Rechtsumfang eines Auftreibers. Land und in Traunstein. Sie sind neben der kleinen Lichtwei- Sie enthalten Regelungen über die Viehzahl, Viehgattung, Wei- defläche, auf der das Almgebäude steht, mit einer großen dezeit, Schwand- und Holzbezugsrechte. Waldweidefläche ausgestattet und beziehen ihren Namen von Die bayerische Staatsregierung strebt aufgrund einschlägiger der „Maiswirtschaft“ (= Kahlhiebswirtschaft). Landtagsbeschlüsse die Bereinigung von Waldweiderechten an, Der Almbestoß beziffert sich auf 1419 Kühe, 18 014 Stück um durch die Entlastung des Bergwaldes seine Bewirtschaftung Jungvieh, 483 Pferde sowie 2 703 Schafe und Ziegen. Die Wei- zu erleichtern, seine Schutzfunktion zu sichern und nötigen- dezeit dauert von Anfang Juni bis Ende September. Die Kuh- falls seine Sanierung zu ermöglichen. Daneben sind auch öf- älpung beschränkt sich in der Regel auf einen kleinen Teil der fentliche Belange, z.B. Trinkwasserschutz und naturschutz- Almen und nur auf wenige Tiere zur Versorgung des Almper- fachliche Ziele zu berücksichtigen. Für den Landwirt kann die sonals und zur Abgabe von Milchprodukten an Wanderer. In Regelung der Waldweiderechte dann eine Arbeitserleichterung der Nachkriegszeit hatte die Kuhälpung noch einen höheren bedeuten, wenn damit die arbeitsaufwendige Aufsicht der Stellenwert. Doch die steigenden Leistungsansprüche an die Tiere in großen Weidebezirken entfällt. Außerdem nimmt der Kühe und die hohen Qualitätsanforderungen an die Milch konn- Ertrag der Waldweide ab, da Staatswälder hauptsächlich im ten auf Almen aufgrund der Futtersituation und der fehlenden Plenterbetrieb genutzt werden. Mittlerweile ist in früher teil- Stromversorgung nicht mehr erfüllt werden. Außerdem fehlen weise überbeweideten Wäldern die Entlastung soweit fortge- häufig technische Einrichtungen und Erschließungswege für schritten, dass eine wesentliche Beeinträchtigung durch die die Gewinnung und den Transport der Milch. Eine parallel zum Waldweide nicht mehr gegeben ist. Heimbetrieb finanzierte Melktechnik wäre nicht mehr rentabel. Weiderechtsregelungen werden nur im Rahmen freiwilliger Der Fremdviehanteil beträgt ca. 26%. Der Fremdviehauftrieb Vereinbarungen geschlossen, um das gute Vertrauensverhältnis nimmt leicht ab, da aufgrund der Milchkontingentierung und zwischen den Berechtigen und dem Grundeigentümer zu er- des Strukturwandels in der Landwirtschaft zunehmend Futter- halten.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 53 Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven Michael HINTERSTOISSER

Wegebau Etwa 60 oberbayerische Almen verfügen über keinen Fahrweg, der mit den am Talbetrieb üblichen Schleppern befahren werden könn- te. Die Bewirtschaftung nicht erschlossener Almen erfordert für die Bauernfamilie einen unzumutbaren Mehraufwand, da im Vergleich zu früheren Jahren nur noch wenig Arbeits- kräfte am Hof vorhanden sind. Ein Weg ist notwendig, um den Transport von Bau- und Zaunmaterial, Lebens- und Futtermitteln durchführen zu können. Bei der knappen Arbeitskraftausstattung muss auch für den Landwirt für Arbeiten auf der Alm und für die Anleitung des Personals die Alm schnell erreichbar sein. Heute erfüllen Wege auch ei- ne Lenkungsfunktion für Bergwanderer, um der Zerstörung von Weideflächen und der Erosion durch ungeregelte Wegebenutzung vorzubeugen. In Oberbayern erschweren unter anderem Bürgerinitiativen und Landtagspetitionen die Genehmigungen zu Wegebauten in erhebli- chem Maße. Dabei wird nicht die Almwirt- schaft, sondern nur die Erschließung abge- lehnt. Als alternative Versorgungsmöglichkeiten für nicht erschlossene Almen nutzen die Bauern Hubschrauber, Materialseilbahnen, Tragtiere, Spezialfahrzeuge und Schiffe (nur am Kö- nigssee). Die genannten Alternativen können allerdings langfristig weder aus Kostengrün- den noch aus arbeitswirtschaftlichen Grün- den einen mit Schlepper befahrbaren 2,5 m breiten Weg ersetzen. Der Wegebau kann mit Mitteln des Amtes für Ländliche Entwick- lung sowie über das Bayerische Kulturland- schaftsprogramm-Teil B, das die Ämter für Landwirtschaft und Forsten abwickeln, ge- fördert werden.

Bedeutung für den Talbetrieb Der Talbetrieb und die dazugehörige Alm bildeten schon immer eine Bewirtschaftungs- einheit. Die Almflächen liefern 15-30% des gesamten Futterbedarfes; in den meisten Fäl- len sind es 15-20%. Nur bei wenigen Betrie- ben geht nämlich der gesamte Kuh- und Jung- viehbestand auf die Alm. Dies ist der Fall, wenn im Tal wenig Flächen bzw. nur steile Flächen vorhanden sind. Der Schwerpunkt liegt heute mit über 90% Anteil bei der Jung- viehälpung. Almbauern halten in der Regel einen überdurchschnittlich hohen Jungvieh- Almbestoß 2006 bestand und sind züchterisch tätig. Die nicht für die eigene Bestandsergänzung benötigten

Tiere werden über Auktionen abgegeben. Tabelle 1:

54 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Michael HINTERSTOISSER Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven

Tabelle 2: Besitzverhältnisse der Almen in Oberbayern „Der Almbauer“. Um die im Alm- bereich tätigen Menschen fortzu- bilden, organisiert der Verein all- jährlich einen dreitägigen Kurs, der sich seit vielen Jahren großer Beliebtheit erfreut. Der Almwirtschaftliche Verein Oberbayern, der Alpwirtschaftliche Verein im Allgäu und der Bayeri- sche Bauernverband sind in der Bayerischen Arbeitsgemeinschaft für Bergbauernfragen zur Vertre- tung der bergbäuerlichen Interes- sen zusammengeschlossen.

Geälpte Jungkühe und großträchtige Kalbinnen sind von den Perspektiven Käufern aufgrund von Vorzügen wie gutes Fundament, Fut- terdankbarkeit und Leichtkalbigkeit sehr gefragt. Diese Tiere In Oberbayern bilden, wie bereits ausgeführt, Heimanwesen verfügen über eine gute körperliche Konstitution, da sie im und Alm eine wirtschaftliche Einheit. Folglich hängt das Gebirge unter extremen Witterungsverhältnissen leben und bei Schicksal der Almen auch von der Entwicklung der Agrarstruk- der Futteraufnahme oft weite Wege im steilen Gelände zu- tur im alpinen Raum ab. Dem allgemeinen Strukturwandel rücklegen müssen. Die Käufer machten die Erfahrung, dass kann sich aber auch die Berglandwirtschaft nicht entziehen. sich geälpte Jungkühe problemlos in die neuen Herden ein- So steht dem Rückgang aller Bauernhöfe in Bayern in Höhe passen. Der Grund dafür dürfte wohl in dem auf der Alm er- von 2,8% pro Jahr bei den Bergbauern nur eine Abnahme von lernten Gruppenverhalten liegen. 1,5% gegenüber. Dieser geringere Strukturwandel hat meines Erachtens mehrere Ursachen. Aufgrund der klimatischen Ver- Der Förderkatalog in der Almwirtschaft umfasst die Aus- hältnisse handelt es sich im Alpenraum um absolute Grünland- gleichszulage für benachteiligte Gebiete und Zuschüsse aus lagen, die nur mit Wiederkäuern sinnvoll verwertet werden dem Bayerischen Kulturlandschaftsprogramm (Behirtungs- können. Andere Tierhaltungsformen oder sogar viehlose Land- prämie; Förderung für Bau und Sanierung von Almgebäuden, nutzungsformen scheiden aus. In vielen Gebirgstälern sind dem Wegen und Weideeinrichtungen). Maschineneinsatz durch klein parzellierte Flächen oder Hang- Landeskulturelle Leistungen lagen enge Grenzen gesetzt. Für diese Flächen sind kaum Pächter zu finden, da die Bauern mit ihren eigenen Höfen In der Öffentlichkeit herrscht breite Zustimmung zu den posi- ausgelastet sind. tiven Auswirkungen der Almwirtschaft auf das Landschafts- Bei den Bergbauern ist eine sehr enge Bindung an Grund und bild. Mit seiner Arbeit erhält der Almbauer Freiflächen in ei- Boden zu beobachten. Dies hat sicherlich mit Tradition zu tun, nem Gebiet, in dem von Natur aus der Wald dominiert. Der Er- da sich ihre Höfe oft über Jahrhunderte im Familienbesitz be- holungssuchende schätzt bei seinen Wanderungen die Kultur- finden und nur mit harter Arbeit erhalten werden konnten. landschaft, bei der sich Freiflächen und Wald abwechseln. Die meisten Bergbauern können nur über ein Zusatzeinkom- Die extensive Bewirtschaftung der Lichtweideflächen schafft men bzw. in der Zusammenarbeit mehrerer Generationen ein die Grundlage für eine große Artenvielfalt an Pflanzen und ausreichendes Einkommen erwirtschaften. Als Zusatzeinkünf- Tieren. Ein Großteil der Almflächen befindet sich deshalb in te sind vor allem die traditionelle Vermietung von Fremden- Naturschutzgebieten oder hat gesetzlichen Schutzstatus auf- zimmern bzw. Ferienwohnungen zu nennen. In neuerer Zeit grund der hochwertigen Artenausstattung. übernehmen Betriebsleiter oder Hofnachfolger Arbeiten im Ein angemessener Viehbestoß kann Erosionen und die Lawi- Maschinenring und/oder kommunale Dienstleistungen und nengefahr verringern. Denkmalgeschützte Almgebäude tragen bessern so das Familieneinkommen auf. ebenfalls zur Bereicherung eines besonderen Landschaftsbil- Da etwa die Hälfte des Gewinnes bei den im Gebirge liegenden des bei. Haupterwerbsbetrieben aus staatlichen Prämien stammt, hängt deren Zukunft maßgeblich von den öffentlichen Fördergeldern Organisationen in der Almwirtschaft ab. Bei kleineren und bei Nebenerwerbsbetrieben macht de- Der Almwirtschaftliche Verein Oberbayern (AVO) hat ca. ren Anteil sogar häufig deutlich mehr als die Hälfte des Be- 1600 Mitglieder, die sich auf 14 „Bezirksalmbauernschaften“ triebserfolges aus. Eine wesentlich Stütze bei den staatlichen verteilen. Der Verein vertritt die Interessen der Almbauern. Er Förderprogrammen ist die Ausgleichszulage für benachteilig- veranstaltet Almbegehungen und Almbauerntage, bei denen te Gebiete, die die natürliche Benachteiligung durch Klima und langjähriges Almpersonal sowie Almbauern und Annehmvieh- Hanglagen der im alpinen Bereich liegenden Flächen aus- bauern für langjährige Zusammenarbeit geehrt werden. Zu den gleichen soll. Schon vor über 30 Jahren wurde die Notwen- weiteren Aufgaben gehört die Vermittlung von Almpersonal digkeit dieser Förderung erkannt, da Bergbauern mit den in und Pensionsvieh sowie die Herausgabe der Fachzeitschrift Gunstlagen produzierenden Landwirten nicht konkurrieren

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 55 Almwirtschaft in Oberbayern – Situation und Perspektiven Michael HINTERSTOISSER

Diagramm: Veränderungen in der oberbayerischen Almwirtschaft seit 1950

können. Künftig wird bei knappen öffentlichen Kassen ein Einen großen Einfluss auf die Zukunft der Berglandwirt- Verteilungskampf zwischen den Bereichen stattfinden, die schaft hat natürlich auch die Preisentwicklung für Milch und staatliche Mittel beanspruchen. Die Berglandwirtschaft kann Rindfleisch, da ein bedeutender Anteil des Einkommens aus hier von dem hohen Ansehen in breiten Bevölkerungskreisen dem Verkauf der erzeugten Produkte kommen muss. Auf der profitieren. Den Menschen ist bewusst, dass es bei der Erhal- Nachfrageseite könnte mit der stark ansteigenden Weltbevöl- tung der alpinen Landschaft keine Alternative zur bäuerli- kerung mittelfristig ein höherer Bedarf an Nahrungsmittel chen Landwirtschaft gibt. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch entstehen, was wiederum steigende Preise zur Folge hätte. für die Zukunft gilt. Für das Selbstverständnis der Bauern hat Derzeit ist in der Ackerbauregion ein gewaltiger Flächenbe- der Verkauf ihrer Produkte (= Wert der eigenen Arbeit) einen darf durch die Betriebe zu beobachten, die Biogas produzie- deutlich höheren Stellenwert als die vom Staat gewährten ren. Aufgrund der offensichtlich günstigen Rentabilität dieser Förderungen. Dem hohen bürokratischen Aufwand zur Ab- Betriebsform werden zunehmend auch Grünlandflächen der wicklung der Förderprogramme sowie den oft unüberschau- weniger gewinnbringenden Milchviehhaltung entzogen. Dies baren Verpflichtungen und Kontrollen steht der Landwirt oft wird sich vermutlich auf die Milchproduktion negativ aus- hilflos und frustriert gegenüber. Er fühlt sich zum Bittsteller wirken, da die Pacht- und Futtermittelpreise steigen werden. degradiert. Hier dürften die Almflächen als Futtergrundlage wieder zu- nehmend an Bedeutung gewinnen. Für die Produktion von Futter bzw. Lebensmittel könnte wohl derzeit noch auf die Almwirtschaft verzichtet werden, doch für die Erhaltung der einmaligen alpinen Kulturlandschaft gibt es absolut keine Alternative zur Beweidung. Kulturland- schaft kann im Gegensatz zu Lebensmittel glücklicherweise nicht importiert werden!

Anschrift des Verfassers: LD Michael Hinterstoißer Almwirtschaftlicher Verein Oberbayern Münchner Str. 2 Abbildung 2: Nach einem langen Almsommer, der ohne Un- 83714 Miesbach fälle verlief, kehrten die Kühe geschmückt zurück in den Tal- Tel.: 0 80 25/50 44 betrieb Fax: 0 80 25/99 80 81 Figure 2: After a long summer on the alpine farm without any [email protected] accidents, cattle were decorated and returned from the alpine pasture to the valley farm

56 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Der Naturschutzplan auf der Alm

Susanne AIGNER, Gregory EGGER und Günter JARITZ Der Naturschutzplan auf der Alm Nature conservation plan for alpine pastures1)

Zusammenfassung Summary Im Bundesland Salzburg liegen zahlreiche Almen in natur- Numerous alpine pastures are situated within the boundaries schutzrechtlich geschützten Gebieten. Dazu zählen insbe- of nature-protected areas in the federal province of Salz- sondere Natura 2000 Gebiete, Naturschutzgebiete, Land- burg, Austria. Especially Natura 2000 areas, nature conser- schaftsschutzgebiete, Naturparke sowie der Nationalpark vation areas, protected landscapes, nature parks and the Hohe Tauern. Diese Schutzgebiete zeichnen sich durch das national park Hohe Tauern have a high percentage of alpine Vorkommen besonderer oder seltener Pflanzen- und Tier- pastures. These protected areas are characterized by the oc- arten, ihrer Vielfalt an Lebensräumen oder auch durch ihren currence of rare and special plant and animal species, a high besonderen landschaftlichen Reiz aus. Das Mosaik an unter- variety of habitats and of outstanding natural scenery and schiedlichen Lebensräumen und Standorten ist das Ergebnis beauty. The mosaic of different habitats and stands (soil, einer jahrhundertealten, standortangepassten Almwirtschaft nutrition, human factor) is a result of stand adapted alpine und kann auch in Zukunft nur durch die naturverträgliche Be- pasture farming during centuries and can only be sustained wirtschaftung der Almen aufrechterhalten werden. Diese Form through the ecologically sound maintenance in future. These der angepassten Almwirtschaft ist jedoch meist mit einem form of ecologically and stand adapted alpine pasture far- hohen Arbeitsaufwand verbunden. Vor allem die Erhaltung ming means a high effort of maintenance. Especially the con- und Entwicklung naturschutzfachlich wertvoller Lebensräume servation and development of high value habitats for nature ist mitunter wenig rentabel und widerspricht der gängigen conservation is not cost effective or profitable for the farmer Werthaltung nach Ertragsoptimierung. Mit dem Förderinstru- and controversies the farmers attitude of effort and profit opti- ment „Naturschutzplan auf der Alm“ sollen Naturschutzleis- misation. The financial support tool “nature conservation plan tungen der Almbewirtschafter honoriert und damit die öko- for alpine pastures” aims to reward nature conservation per- logische Funktionsfähigkeit von Almen verbessert werden. formance of alpine pasture farmers and works as an incen- Beide Partner sollen profitieren! tive to improve the ecological function of alpine pastures. Both partners should benefit.

Einleitung Maßnahmen Der Naturschutzplan auf der Alm ist eine besondere Form des partnerschaftlichen Vertragsnaturschutzes. Almbauern er- Im Rahmen vom Naturschutzplan auf der Alm werden Lei- bringen besondere Pflegeleistung im Sinne des Naturschutzes stungen der Almbewirtschafter für den Naturschutz finanziell und bekommen im Gegenzug den Arbeitsaufwand oder allfäl- abgegolten. Für Flächen, die nicht beweidet werden sollen, lige Nachteile in der Bewirtschaftung der Almen finanziell erhalten die Bewirtschafter im Gegenzug eine Abgeltung des abgegolten. Viele Almbewirtschafter haben diese Leistungen Ertragsentgangs und allfällige Zaunkosten rückerstattet. Wer- bisher aus Idealismus erbracht, viele konnten sie aus Mangel den wertvolle Magerweiden geschwendet, werden die Arbeits- an Arbeitskräften und Ressourcen nicht erbringen. zeit und die Gerätekosten rückerstattet. Sollen Landschafts- elemente neu angelegt oder wiederhergestellt werden, erfolgt Der Naturschutzplan auf der Alm wurde 2004 in Salzburg eine Abgeltung der getätigten Investitionen sowie der aufge- entwickelt. Er wird von der Naturschutzabteilung des Amtes wendeten Arbeitszeit. Nachfolgend werden einige Maßnahmen der Salzburger Landesregierung allen Almbewirtschaftern exemplarisch vorgestellt. angeboten, deren Almflächen in einem Schutzgebiet liegen. Bei Interesse an dieser Maßnahme wird ein Bewirtschaf- Wiederherstellen und Erhaltung von Lärchweiden tungsplan für die Alm („Naturschutzplan auf der Alm“) er- Eine häufige Maßnahme im Rahmen des Naturschutzplans auf stellt. Dazu ist eine Begehung der gesamten Alm notwendig. der Alm ist die Wiederherstellung verwaldeter Lärchweiden. Bei dieser Begehung werden mit den Bewirtschaftern die na- Durch ihren Mehrfachnutzen ist die Lärchweide kulturhisto- turschutzfachlichen Besonderheiten der Alm sowie Probleme risch in vielen Regionen von besonderer Bedeutung. Die Stäm- bei der Bewirtschaftung besprochen. Der Almwirtschaftsex- me wurden als Bau- und Zaunholz und die Äste als Brenn- perte analysiert die Alm und verschafft sich einen Überblick holz genutzt. Das feine Astwerk und die Nadelstreu wurden über die almwirtschaftlich und ökologisch wertvollen Flächen. als Einstreu für die Tiere verwendet. Die Grasnarbe wurde Gemeinsam werden die geeigneten Maßnahmen zur Verbesse- beweidet oder gemäht. Lärchweiden zeichnen sich durch eine rung der ökologischen Funktion der Alm festgelegt und ihre besonders hohe Biodiversität aus und prägen durch ihren halb- Umsetzung geplant. Wesentlich ist dabei, dass die geplanten offenen Charakter in einer besonderen Form das Landschafts- Maßnahmen der Bewirtschaftung nicht entgegenstehen, son- bild der Almen. Heute sind viele Lärchweiden durchwachsen dern in das wirtschaftliche Gefüge der Alm eingepasst werden. oder überaltert. Im Rahmen des Naturschutzplans auf der Alm Dabei kommt eine breite Palette unterschiedlicher Maßnahmen wird ihre Erhaltung und Wiederherstellung gefördert. Der zur Anwendung. Almbewirtschafter entfernt die jungen Fichten, achtet auf die

1) Vortrag auf der EuRegio-Fachtagung für Natur- und Landschaftsentwicklung am 12. Dezember 2006 bei der ANL

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 57 Der Naturschutzplan auf der Alm S. AIGNER, G. EGGER u. G. JARITZ

Naturverjüngung der Lärchen und säubert die Lärchweiden zungsverzicht ist in diesen Fällen anzustreben. Der Ertrags- jedes Frühjahr von herabfallenden Ästen. entgang sowie das Auszäunen der Fläche wird im Rahmen Auch übernimmt die Lärche eine wichtige Funktion zur Sta- des Naturschutzplans auf der Alm finanziell abgegolten. bilisierung wechselfeuchter und damit häufig trittempfindli- cher Böden in Hanglagen. Neben der Wiederherstellung von Lärchweiden wird die gezielte Pflanzung von Einzelbäumen oder Baumgruppen bis hin zur flächigen Neuanlage von Lärch- weiden auf trittbelasteten Standorten gefördert.

Abbildung 2: Dieser Tümpel wird im Rahmen des Naturschutz- plans auf der Alm ausgezäunt. In einem kleinen Bereich wird ein befestigter Zugang als Tränke errichtet. Durch diese Maßnahme soll sich das Gewässer erholen und eine naturnahe Verlandungs- zone entwickeln. Gleichzeitig wird dem Vieh durch diese Maß- nahme eine saubere Tränke geboten Figure 2: This water body gets fenced due to the Nature con- Abbildung 1: Sehr gut erhaltene Lärchweide im Salzburger servation plan for alpine pastures. Part of it will stay as fixed Lungau watering place for the animals. The bank will develop natural Figure 1: Well maintained larch pasture in Salzburg, Lungau succession and at the same time the animals get a clean wate- region ring place Erhaltung von naturschuztfachlich wertvollen Erhaltung von wertvollen Landschaftselementen Magerweiden Die Erhaltung und Pflege traditioneller Strukturen wie Stein- Die Erhaltung von artenreichen Magerweiden ist ebenfalls hage, Lesesteinhaufen oder Holzzäune sind Beispiel für Zu- eine zentrale Maßnahme im Rahmen vom Naturschutzplan satzleistungen der Almbauern die aus landschaftsästhetischer auf der Alm. Bei dieser Maßnahme steht das Schwenden von und ökologischer Sicht von Bedeutung sind. Diese Sonder- aufkommenden Jungbäumen und Zwergsträuchern im Vor- standorte bieten vielen wärmeliebenden Tieren und Pflanzen dergrund. Wesentlich ist dabei, dass die Maßnahmen mosaik- wie Mauerpfeffer, Hauswurz und Reptilien Lebensraum. Stein- artig durchgeführt werden. Es ist nicht Ziel, strukturarme Rein- hage müssen regelmäßig erneuert werden, sollen sie ihre Funk- weiden zu schaffen, sondern es sollen möglichst vielfältige tion erfüllen. Lebensräume mit gleitenden Übergängen geschaffen werden. So sollen zum Beispiel die Übergange zwischen Reinweiden und geschlossenen Waldbeständen in Form von einer Weide im Baumverbund erfolgen, diese soll in Richtung Wald hin dichter werden und in eine lichte Waldweide übergehen. Die- se sanften Übergangsbereiche sind besonders artenreich und vielfältig. Sie sind nicht nur aus naturschutzfachlicher und landschaftsästhetischer Sicht, sondern auch für das Wild von großer Bedeutung. Schutz ökologisch sensibler Flächen Sehr sensible Lebensräume auf Almen sind Moore und Feucht- flächen. Maßnahmen auf Feuchtflächen sind ebenso vielfältig wie diese Lebensräume. Manche Feuchtflächen neigen zur Ver- waldung, sie können nur durch eine extensive Beweidung und durch regelmäßiges Schwenden offen gehalten werden. An- dere Feuchtflächen sind ökologisch sehr sensibel, wie zum Bei- spiel Hochmoore oder Kleingewässer. Eine Beweidung wirkt Abbildung 3: Die Erhaltung dieses Steinhags erfordert jährli- sich hier durch den Vertritt und den Nährstoffeintrag sehr ne- che Wartungsarbeiten gativ aus. Auch für die Weidetiere sind diese Feuchtflächen Figure 3: The conservation of this stonewall needs yearly main- Infektionsherde für Parasiten wie dem Leberegel. Ein Nut- tenance

58 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 S. AIGNER, G. EGGER u. G. JARITZ Der Naturschutzplan auf der Alm

Abbildung 4: Teilnehmende Almbetriebe am Naturschutzplan auf der Alm im Bundesland Salzburg (2004-2006). Ab 2007 soll der „Naturschutzplan auf der Alm“ auch in anderen Bundesländern angeboten werden. Nach Salzburg wurde der Naturschutzplan auf der Alm 2006 auch erstmals in Kärnten als Instrument zur Umsetzung von Maßnahmen in Natura 2000 Gebieten angewendet Figure 4: Participating alpine farms at “Nature conservation plan for alpine pastures” within Salzburg (2004-2006). With the year 2007 the tool will be offered to farmers also in other federal provinces. After Salzburg it was implemented in Carinthia in the year 2006 within Natura 2000 areas

Maßnahmen im Rahmen von Natura 2000 der Naturschutzabteilung des Amtes der Salzburger Landes- regierung konzipiert und anhand von 16 Probealmen getestet Die Mitgliedsstaaten der EU müssen die nötigen Erhaltungs- und weiterentwickelt. Nach Abschluss der Pilotphase wurde maßnahmen für die Lebensraumtypen in den Natura 2000 in den Jahren 2005 und 2006 der „Naturschutzplan auf der Gebieten festlegen. Diese Maßnahmen beziehen sich primär Alm“ in Salzburg landesweit angeboten und auf rund 100 Al- auf die jeweiligen Schutzobjekte. Die Art der Maßnahmen ist men in Schutzgebieten erfolgreich umgesetzt. dabei vom speziellen Standort, den Erhaltungszielen und dem aktuellen Erhaltungszustand abhängig. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sollen möglichst im Gleichklang mit einer nach- haltigen, standortangepassten Almbewirtschaftung stehen. Ab- hängig von der Art und der Entstehung der Lebensräume sind daher entweder aktives Handeln oder das Zulassen der natür- lichen Entwicklung gefordert. Für die Erhaltung der almwirt- schaftsgeprägten Lebensraumtypen wie den „Artenreichen Anschrift der Verfasser: montanen Borstgrasrasen“ (Code 6230) oder den „Alpinen und Dr. Susanne Aigner & Dr. Gregory Egger subalpinen Kalkrasen“ (6170) kommen almwirtschaftliche Umweltbüro Klagenfurt GmbH Maßnahmen wie das Schwenden von Jungbäumen und Zwerg- Bahnhofstraße 39 sträuchern zu tragen. Hingegen wird bei natürlichen Lebens- A-9020 Klagenfurt e-mail: [email protected] räumen, die auf Beweidung mitunter sehr sensibel reagieren, Tel: 00 43-463/516 614 oder: 00 43-699/1516 614 3 wie zum Beispiel den „Kalkreichen Niedermooren“ (Code DI Günter Jaritz 7230) der Nutzungsverzicht Ziel des Vertragsnaturschutzes sein. Amt der Salzburger Landesregierung Abteilung 13, Referat Naturschutzrecht und Förderung Umsetzung Friedensstr. 11 A-5020 Salzburg Das Förderinstrument „Naturschutzplan auf der Alm“ wurde 2004 vom Umweltbüro Klagenfurt in Zusammenarbeit mit

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 59 Naturschutzgebiete im Klimawandel

Katrin VOHLAND Naturschutzgebiete im Klimawandel – Risiken für Schutzziele und Handlungsoptionen Bericht über ein laufendes Forschungsprojekt am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung 1) Protected areas under climate change – risks and policy options Report on an ongoing research project at the Potsdam Institute for Climate Impact Research

Eine Risikoabschätzung für Schutzgüter und Schutzziele in Zusammenfassung Der weltweit zu beobachtende Klimawandel führt auch in Deutschland existiert noch nicht, ist aber für die Anpassung Deutschland zu Veränderungen in natürlichen Systemen und des deutschen Naturschutz an den Klimawandel nötig beeinflusst die Biodiversität. Steigende Temperaturen und ein (LEUSCHNER & SCHIPKA 2004). Daher werden im Rah- verändertes Niederschlagsregime führen dazu, dass Tiere men eines Forschungsprojektes (http://www.pik-potsdam.de/ und Pflanzen polwärts wandern und sich die Zusammenset- vme/schutzgebiete/) 2) die Risiken für Schutzziele aufgrund zung der Flora und Fauna ändert. Da diese Effekte in Zukunft des Klimawandels untersucht. Der Fokus liegt auf den deut- noch zunehmen werden, ist eine Anpassung von Naturschutz- schen Schutzgebieten der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie strategien nötig. im Rahmen von Natura 2000 als europäischem Schutzgebiets- Im folgenden Beitrag werden die Gefährdungen der Schutz- ziele exemplarisch für Wälder und Grünland sowie stehende netz. Dabei umfassen FFH-Gebiete häufig nach nationalem Gewässer und Fließgewässer ausgeführt. Verschiedene Hand- Recht geschützte Naturschutzgebiete, Nationalparke, Biosphä- lungsoptionen sowie die strategische Bedeutung des Natura renreservate, Landschaftsschutzgebiete und Naturparke. Der 2000 Netzwerkes zur Unterstützung der Ausbreitungswege überwiegende Teil der Naturschutzgebiete ist Teil von Natura von Tieren und Pflanzen werden diskutiert. 2000 (RATHS et al. 2006; Abb. 1). Summary Aus den Risiken werden Handlungsoptionen abgeleitet, die The observed global warming leads to changes in natural sich sowohl auf die Schutzzielen beziehen als auch Anpas- systems and impacts biodiversity, also in Germany. Animals and plants move polewards due to rising temperatures and sungstrategien für den Naturschutz hinsichtlich naturschutz- changing precipitation patterns. The composition of flora and fachlicher Nachhaltigkeit und Durchführbarkeit bewerten. fauna changes. As these effects will increase in future, ad- aptation of nature conservation strategies is necessary. Klimawandel in Deutschland In this report the risks to reach the specific protections aims Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich zur Zeit sehr stark are pointed out for forests and grassland as well as for stan- auf die Auswirkungen des Klimawandels. Dabei darf nicht ding and running waters. Different management options as well as the strategic importance of the Natura 2000 network vernachlässigt werden, dass die Bedeutung des Klimawandels to support dispersal and migration from animals and plants für den Wandel von Biodiversität und Ökosystemen zunehmen are discussed. wird, gegenwärtig aber insbesondere Landnutzungswandel und Verschmutzung bereits eine große Belastung für Ökosys- teme darstellen (BECK et al. 2006). Einleitung Im Hinblick auf die Auswirkungen des Klimawandels auf na- Schutzgüter im Naturschutz umfassen sowohl Arten als auch türliche Systeme spielen insbesondere der Temperaturanstieg Lebensräume. Da Arten unterschiedlich auf den Klimawandel und die Veränderungen im hydrologischen Regime eine Rolle. reagieren, wird sich auch die Zusammensetzung von Lebens- Die Temperaturerhöhung ist dabei regional und in ihrer zeit- gemeinschaften ändern. Damit unterliegen auch Lebensraum- lichen Auflösung sehr unterschiedlich. In Bezug auf Verände- typen Veränderungen in ihrer heutigen Abgrenzung, da sie rungen in den Niederschlagsmustern ist für Deutschland ein neben dem Auftreten in bestimmten Naturräumen durch die Trend zur Zunahme in den Wintermonaten und eine Abnahme Zusammensetzung der Pflanzenarten definiert sind (www.bfn. in den Sommermonaten erkennbar. Auch Kenngrößen wie de). Je nach naturräumlichen Gegebenheiten, lokal zu erwar- Windgeschwindigkeiten, die Stärke von Einzelniederschlags- tenden Klimaveränderungen sowie Landschaftstrukturen und ereignissen, die Dauer von Trockenperioden etc. beeinflussen Landnutzung weisen verschiedene Lebensraumtypen ein un- Ökosysteme. Das Umweltbundesamt (UBA) stellt die Ergeb- terschiedliches Risiko auf, in ihrer Existenz oder Ausprägung nisse von zwei Regionalisierungsmodellen, ReMo und Wett- verändert zu werden. Reg, digital zur Verfügung (www.uba.de).

1) Vortrag bei der Veranstaltung der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Botanik der Universität Regensburg im Rahmen des „Regensburger Biodiversitätstages 2007“ am 15. Februar 2007 mit dem Thema: Auswirkungen des Klimawandels auf Naturschutz und Landnutzung. 2) Projektfinanzierung: Bundesamt für Naturschutz (BfN) , Projektleitung Prof. Dr. W. Cramer, PIK

60 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Katrin VOHLAND Naturschutzgebiete im Klimawandel

Abbildung 1: Naturschutzgebiete, FFH-Gebiete und Vogelschutzgebiete in Bayern, Daten vom BfN, 2006. Schwarz: Naturschutz- gebiete, die in FFH-Gebieten liegen, blau: Naturschutzgebiete, die zusätzlich in SPA (Vogelschutz-) Gebieten liegen, rot: weitere Natur- schutzgebiete, die weder in FFH- noch SPA Gebieten liegen, grau: sonstige FFH Gebiete, blau schraffiert: sonstige Vogelschutzgebiete, die nicht in FFH-Gebieten liegen Figure 1: Nature conservation areas, sites under the Habitats Directive and special protected sites (SPA) under the Birds Directive in Bavaria, Data from the BfN, 2006. Black: Nature conservation areas within the sites of the Habitats Directive, blue: nature con- servation areas, situated also in SPAs, grey: other sites under the Habitats Directive, blue hatches: other SPAS outside sites under the Habitats Directive

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 61 Naturschutzgebiete im Klimawandel Katrin VOHLAND

Abbildung 2: Die FFH-Gebiete Ammergebirge, Wettersteingebirge und die Mittenwalder Buckelwiesen mit den geographischen Schwerpunkten der FFH-Gebiete (grüne Kreise) und den geographischen Schwerpunkten des TK 25 grids (weiße Kreise). Der Höhen- unterschied im Ammergebirge beträgt 1508 m, in den Mittenwalder Buckelwiesen 633 m und im Wettersteingebirge 2011 m. Daten vom BfN, 2006 Figure 2: “Ammergebirge”, “Wettersteingebirge” and “Mittenwalder Buckelwiesen” as sites under the Habitats Directive with the geo- graphic centers of the sites of the Habitats Directive (green circles) and centers of the TK 25 grid (white circles). The difference in altitude in the Ammergebirge is 1508 m, in the Mittenwalder Buckelwiesen 633 m and in the Wettersteingebirge 2011 m. Data from the BfN, 2006

Für das Forschungsprojekt werden Klimaszenarien mittels des netze. Einige Zusammenhänge sind modellierbar, für andere Regionalisierungsprogrammes STAR erstellt. Es soll in zwei Risiken werden zusätzliche Risikoanalysen durchgeführt. räumlichen Projektionen abgebildet werden: als geographische Schwerpunkte des TK 25 grids (2999 Punkte) sowie als geo- Arten graphische Schwerpunkte der FFH-Gebiete – wobei die Größe Kältezeiger und die Höhenunterschiede der einzelnen Gebiete z.T. stark Studien in den Niederlanden und in Norwegen haben gezeigt, schwanken (Abb. 2). Zudem bestehen manche Gebiete aus dass es in den letzten Jahrzenten bereits zu einer Veränderung vielen Teilflächen. in der Vorkommenshäufigkeit zu Gunsten von wämeliebenden Schutzziele Arten und zu ungunsten von kälteliebenden Arten gekommen ist (EEA 2004). Kältezeiger tragen durch höhere Temperatu- Die Schutzziele der FFH-Richtlinie betreffen zum einen die ren ein größeres (lokales) Extinktionsrisiko. Lebensraumtypen (LRT) des Anhang I sowie die Arten des Anhangs II. Um das Risiko für Arten und Lebensraumtypen Zehn der Anhangsarten gehören zu den Kältezeigern (Ellen- abschätzen zu können, werden zuerst klimasensitive Parame- berg Zeigerwerte 1-4). Allerdings muss im Einzelfall beach- ter identifiziert. Zu den klimasentiven Risikofaktoren gehören tet werden, dass es sich bei den Vorkommen z.T. um Mikro- Merkmale der Verbreitungsgebiete von Arten, ökologische klimata handelt, die u.U. weniger starken klimatischen Verän- Ansprüche, Ausbreitungsmerkmale sowie bei Pflanzen die derungen unterliegen (Felsspalten, Waldböden). Entsprechend Konkurrenzstärke in Abhängigkeit von Wasser, CO2, Tempe- sind FFH-Gebiete mit einem hohen Anteil an kälteliebenden ratur und Strahlung. Klimasensitive Risikofaktoren von Le- Pflanzen vulnerabler gegenüber Klimawandel als andere Ge- bensraumtypen und Ökosystemfunktionen sind das Vorkom- biete. Zur Zeit läuft dazu eine Studie in Brandenburg auf der men klimasensitiver Arten, der Zustand der Gebiete sowie Ebene der Biotope, um das Vorkommen von Kältezeigern Wasser- und Kohlenstoffflüsse, Habitatstruktur und Nahrungs- räumlich in einen Bezug zu den erwarteten Klimaverände-

62 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Katrin VOHLAND Naturschutzgebiete im Klimawandel

Tabelle 1: Liste der FFH-Zielarten der Anhänge II, IV und V, Ellenberg-Werte für Kältezeiger und Feuchtezeiger. Die Ellenberg Zei- gerwerte für die Temperaturzahl reichen von 3 = Kühlezeiger bis 9 = extremer Wärmezeiger; die Feuchtezahlen reichen von 1 = Starktrockniszeiger bis 12 = Unterwasserpflanze Artname Temperaturzahl Feuchtezahl Artname Temperaturzahl Feuchtezahl Diphasiastrium alpinum 35Gladiolus palustris 66 Gentiana lutea 35Liparis loeselli 69 Arnica montana 45Luronium natans 611 Asplenium adulterinum 45Myosotis rehsteineri 610 Botrychium simplex 45Najas flexilis 612 Diphasiastrium complanatum 44Oenanthe conioides 610 Gentianella bohemica 44Pulsatilla grandis 63 Lycopodiella inundata 49Pulsatilla patens 64 Lycopodium annotinum 46Spiranthes aestivalis 69 Lycopodium clavatum 44Stipa bavarica 61 Diphasiastrium issleri 55Thesium ebracteatum 64 Cypripedium calceolus 54Bromus grossus 75 Saxifraga hirculus 59Caldesia parnassifolia 710 Adenophora liliifolia 66Coleanthus subtilis 78 Angelica palustris 68Lindernia procumbens 78 Apium repens 67Aldrovanda vesiculosa 812 Diphasiastrium tristachyum 65Jurinea cyanoides 82 Diphasiastrium zeilleri 64Stipa pulcherrima 81 Galanthus nivalis 66Marsilea quadrifolia 91 rungen zu setzten und damit einen Parameter der Klimasen- Lebensraumtypen sititivät von Lebensräumen zu bestimmen. Gefährdungen Feuchtezeiger sind schwerer zu bewerten, weil der Wasser- Die Lebensraumtypen der FFH-Richtlinie gliedern sich in haushalt im Gegensatz zur Temperatur sehr stark vom Ma- Deutschland in neun übergeordnete Einheiten, die wiederum nagement der Wassereinzugsgebiete abhängt und nur im in Untereinheiten gegliedert sind (www.bfn.de). Insgesamt Zusammenhang mit Bewirtschaftungsmaßnahmen sowie was- kommen in Deutschland 91 Lebensraumtypen vor, die neben serbaulichen Maßnahmen bewertet werden kann. dem Klimawandel auch aufgrund anderer Faktoren unter- Projektion biogeoklimatischer Verbreitungsgebiete schiedlich stark gefährdet sind (Tab. 2). Eine Methode, die sehr häufig verwandt wird, um Verbrei- Im folgenden wird der mögliche Einfluss des Klimawandels tungsgebiete von Arten in die Zukunft zu projezieren, sind auf klimasensitive Eigenschaften von vier Lebensraumtypen bio-(geo)-klimatische Verbreitungsgebiete (bio-geo-climatic dargestellt: auf Wald, auf Grasland, auf stehende Gewässer envelopes). Hierbei werden Temperatur und Niederschlags- und auf Fliessgewässer. parameter sowie möglichst auch Boden und Landnutzungs- parameter analysiert und als zwei bzw. dreidimensionale Git- Wald ter dargestellt. Mittels statistischer Verfahren werden proji- In Wäldern werden bereits Veränderungen aufgrund höherer zierte Änderungen dieses sogenannten Klimaraumes berech- Temperaturen beobachtet. So wurde in den Neunzigern ein net. Mit der Unterstützung durch geographische Werkzeuge Trend zu einem früheren Blattaustrieb festgestellt (BADECK (z.B. ArcView GIS) können sowohl die aktuelle Verbreitung et al., 2004). als auch zukünftige Verbreitungsgebiete räumlich dargestellt Für die Zukunft werden Veränderungen aufgrund veränderter werden. Konkurrenzbeziehungen zwischen Bäumen erwartet. Bäume, Die Ergebnisse für mehrere Tier- und Pflanzenarten können die mehr in Blätter als in Wurzeln investieren, haben bei son- miteinander verschnitten werden, so dass man je nach ange- nigen, wassergesättigten Bedingungen einen Vorteil. Demge- nommenem Klimaszenario unterschiedliche Veränderungen genüber haben Bäume, die mehr in Wurzeln als in Blätter in- in den Artenzahlen erhält. Die größten Änderungen in der vestieren, bei trockenen Bedingungen einen Vorteil. Metho- Artenzusammensetzung aufgrund von Artenverlusten, aber disch wird sich dieser Frage mittels eines dynamisch-mecha- auch aufgrund von neu hinzukommenden Arten werden in nistischen Vegetationsmodells angenähert, LPJ-GUESS (http:// den Bergregionen erwartet (SCHRÖTER et al. 2004). www.natgeo.lu.se/embers/). LPJ-GUESS entstammt der Kom- Die klimatisch möglichen Verbreitungsgebiete sagen aller- bination eines globalen Vegetationsmodells mit einem forest- dings noch nichts darüber aus, ob die Art dort vorkommen gap Modell, und zeichnet sich durch das Heranziehen funk- wird. Möglicherweise herrscht dort eine für diese Art unge- tioneller Typen aus, die im Allgemeinen Bäume wie Rotbuche, eignete Landnutzungsform vor (z.B. Siedlung), das Gebiet Stieleiche oder Gewöhnliche Kiefer repräsentieren. Die Funk- wird nicht erreicht (Verbreitungsmerkmale), oder die Art kann tionlität besteht unter anderem in der unterschiedlichen Allo- sich nicht etablieren (Konkurrenz). kation von Kohlenstoff in Blatt, Stamm und Wurzel.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 63 Naturschutzgebiete im Klimawandel Katrin VOHLAND

Tabelle 2: Lebensraumtypen (LRTs) und negative Einflüsse aufgrund von Landnutzungswandel, Stickstoffemissionen, Kohlendi- oxiderhöhungen sowie aufgrund von Klimawandel.

Die Aufgabe im Forschungsprojekt besteht insbesondere dar- den meisten Grasland-Standorten sukzessiv Wald aufkom- in, die Dateneingabe und -ausgabe des Modells an die FFH- men. In Gebirgsregionen wird in den letzten 150 Jahren ein Gebiete anzupassen. Ziel dieses Forschungsschrittes soll sein, klimabedingtes Ansteigen der Baumgrenze beobachtet (NI- die Vulnerabilität von Lebensraumtypen, die sich durch eine COLUSSI & PATZELT, 2006), was gerade für Grasland der bestimmte Zusammensetzung verschiedener Baumarten aus- höheren Lagen problematisch sein kann. zeichnen, abzuschätzen. Hierbei soll die Hypothese getestet Der erhöhte Kohlendioxidgehalt und die veränderten Tempera- werden, dass einzelne Arten unterschiedlich auf den Klima- turen der Luft führen zu einem veränderten Verhältnis zwischen wandel reagieren und in der Folge einige Lebensraumtypen in C3- und C4-Pflanzen. Während ein erhöhter Kohlendioxid- der gegenwärtig geschützten Form und Zusammensetzung in gehalt C3-Pflanzen bevorteilt, da C4-Pflanzen Kohlendioxid Zukunft nicht mehr an allen Standorten vorkommen werden. schon optimal ausnutzen, bevorteilen höhere Temperaturen In ökologischen Modellen noch unzureichend abgebildet wer- C4-Pflanzen aufgrund ihrer höheren Wassernutzungseffizienz. den Mortalitäten aufgrund von Trockenstress. Beispielsweise Der Einfluss der höheren Temperaturen überwiegt, so dass ist ein Merkmal, welches die Trockenresistenz von Bäumen erwartet wird, dass sich das Verhältnis zu Gunsten der C4- beschreibt, die Wasserspannung, die im Xylem aufrechter- Pflanzen verschiebt (HOFFMANN 1994). halten werden kann, bevor durch trockeninduzierte Kavitati- Ein weiterer, etwas indirekter Faktor aufgrund des Klimawan- on der Wasserstrom aufgrund von Lufteinschlüssen um 50% dels ist die Flächenkonkurrenz mit nachwachsenden Rohstof- sinkt. Während Bäume im mediterranen Bereich Wasserspan- fen. Gerade Grünland wird immer wieder für nachwachsende nungen bis zu -8 MPa aushalten, liegt der Durchschnitt von Rohstoffe umgebrochen (SCHÖNE 2007). Wäldern der gemäßigten Breiten bei -3 MPa (BRÉDA et al. Seen 2006). See-Ökosysteme werden bereits durch die Temperaturerhö- Ein indirekter Einfluss des Klimawandels erfolgt aufgrund der hung beeinflusst. Einige speziell angepasste Tierarten werden verstärkten Nutzung von Holzpellets als einer regenerativen Schwierigkeiten bekommen, so findet Ovogenese im See- Energiequelle. Durch die dafür – z.T. auch illegal – erfolgte saibling nur bei Temperaturen <7°C statt (GILLET 1991 in Holzentnahme sinkt der Anteil an Totholz, der für viele Lebe- DANIS, 2004). wesen wie z.B. Insekten einen wichtigen Lebensraum darstellt. Die Temperaturerhöhung kann die Meromixisgefahr beein- Grasland flussen. In einer Vergleichsstudie zwischen dem lac d’Annecy Über Gebirgswiesen wird berichtet, dass sie „verbuschen“. Die und dem Ammersee hat eine französische Forschergruppe die Verbuschung ist unabhängig vom Klimawandel ein Problem, Zunahme der Meromixisgefahr simuliert (DANIS et al. 2004). da Grasland überwiegend aufgrund bestimmter Nutzungsfor- In den geschichteten Seen der gemäßigten Breiten bildet sich men entstanden ist, und ohne Pflegemaßnahmen würde an im Sommer eine leichtere wärmere Wasserschicht, das Epilim-

64 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Katrin VOHLAND Naturschutzgebiete im Klimawandel nium, welches an der Oberfläche des Sees zirkuliert und Sau- des hat Auswirkungen auf das System selber. Durch veränder- erstoff aufnimmt. Im Winter kühlt sich das Epilimnion unter te Fliessgeschwindigkeiten verändern sich die Scherkräfte in 4°C ab und mischt sich mit der darunter liegenden Wasser- den Flusssystemen, was Auswirkungen auf die Zusammen- schicht, dem Hypolimnion, welche dadurch auch mit Sauer- setzung der Algengesellschaften und Makroinvertebratenge- stoff angereichert wird. Kühlt das Epilimnion aufgrund der sellschaften hat. höheren Temperaturen aufgrund des Klimawandels nicht mehr Auch die Randbereiche sind in Abhängigkeit von der Orogra- ausreichend ab, kommt es zu keiner Durchmischung mehr und phie betroffen. Weiter vom Ufer entfernte Gebiete mit Auwäl- entsprechend zu anoxischen Verhältnissen in größeren Seetie- dern oder Feuchtgebieten z.B. werden bei längeren Trocken- fen. DANIS et al. (2004) projizieren ab dem Jahr 2020 über- perioden nicht mehr vom Wasser erreicht. wiegend meromiktische Zustände für den Ammersee, mit fa- talen Folgen für die über 15 000 Jahre alten Lebensgemein- Im Rahmen des Forschungsprojektes werden anhand eines schaften der tieferen Wasserschichten. Wasserhaushaltsmodells die physikalischen Kenngrößen für verschiedene Hydrotope berechnet, um das Risiko von Ände- Fliessgewässer rungen in der Flussdynamik für ausgewählte FFH-Gebiete zu In Fliessgewässern spielen neben der reinen Temperaturerhö- bestimmen. hung, die Auswirkungen auf die Artenzusammensetzung und den Sauerstoffgehalt hat, insbesondere Veränderungen der Handlungsoptionen Flussdynamik eine Rolle. Zur Flussdynamik gehören insbe- sondere der zeitliche Ablauf sowie die Amplitude der Was- Im Rahmen des Forschungsprojektes sollen konkrete Hand- serstände (POFF et al. 1997). lungsoptionen für eine Anpassung des Naturschutzes an den Klimawandel unter besonderer Berücksichtigung der FFH- Durch den Klimawandels werden überwiegend Verschiebun- Richtlinie entwickelt und auf ihre Anwendbarkeit hin analy- gen der Hochwasser in das frühere Frühjahr hinein prognos- siert werden. tiziert, da die Winterniederschläge nicht mehr als Schnee oder Eis gespeichert werden (ZEBISCH et al. 2005, ZIERL & Belastung der Schutzgebiete reduzieren BUGMANN 2005; Abb. 3). Die Resilienz von Schutzgebieten kann durch Wasserhaus- haltskonzepte und einen entsprechend ausgeglichenen Was- serhaushalt erhöht werden. Weiterhin führt die Reduzierung von chemischen Belastungen und Überdüngung zu einer Er- höhung der Resilienz (cf DOYLE & RISTOW, 2005).

Abbildung 3: Veränderungen des monatlichen Abflusses im Rhein (Kaub) zwischen 1990 und 2050. Die roten Balken zeigen eine gegenüber den schwarzen Balken um 1-2 Monate frühere Spitze der Hochwasser an. ATEAM-Ergebnis in ZEBISCH et al. 2005 Figure 3: Changes in monthly discharge of the Rhein (Kaub) between 1990 and 2050. The red bars indicate an earlier peak under climate change. ATEAM-results in ZEBISCH et al. 2005

Ein früher im Jahr stattfindendes Hochwasserereignis führt dazu, dass weniger organisches Material mitgeführt wird, was auch hier zu einer Verschiebung der dominanten Gruppen der Makroinvertebraten von der shredder-dominierten zu scraper- dominierten Gruppen führt (GIBSON et al. 2005). Die Amplitude der Flüsse ändert sich nicht nur in Abhängig- Abbildung 4: Flächennutzung in Deutschland von 1996, 2000 keit von Klimaänderungen, sondern auch in Abhängigkeit von und 2004. Daten vom Statistischen Bundesamt, 2007 orographischen Gegebenheiten. Sowohl extreme Flutereignis- Figure 4: Land use in Germany in 1996, 2000, and 2004. Data se als auch längere Trockenperioden können zunehmen. Bei- from the Federal Statistical Office, Germany, 2007

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 65 Naturschutzgebiete im Klimawandel Katrin VOHLAND

Abbildung 5: Das Natura 2000 Netzwerk in Europa. Die biogeographischen Regionen sind farbig hervorgehoben. Quelle: EEA 2005 (http://dataservice.eea.europa.eu/atlas/viewdata/viewpub.asp?id=2250) Figure 5: The EU Natura2000 network of designated areas (both SPAs and SCIs) across biogeographic regions. Source: EEA 2005 (http://dataservice.eea.europa.eu/atlas/viewdata/viewpub.asp?id=2250)

Größere Schutzgebiete Die Fläche in Deutschland wird überwiegend land- und forst- Größere Schutzgebiete bieten Populationen einen größeren wirtschaftlich genutzt, und auch die Zersiedlung nimmt, ge- Schutz gegenüber lokaler Extinktion, da die Einwanderungs- messen am Anteil der als Baufläche ausgeschriebenen Gebie- möglichkeiten durch benachbarte Populationen gegeben ist. te, noch weiter zu (Abb. 4). Gerade die Großschutzgebiete erlauben eine weiträumige na- Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit dem Klimawan- türliche Entwicklung von Lebensgemeinschaften und bieten del stellt die zunehmende Nutzung landwirtschaftlicher Fläche Arten mit einem größeren Aktionsradius Raum. Die weitere für Energiepflanzen dar. Veränderte Fruchtfolgen mit einem Ausweisung oder Vergrößerung von Schutzgebieten konkur- hohen Maisanteil, veränderte Erntezeiten, oder auch mehr- riert allerdings stark mit anderen – ökonomisch meist attrak- jährige Kurzumtriebsgehölze haben Einfluss auf Biodiversi- tiveren – Nutzungsmöglichkeiten. tätsparameter wie z.B. auf die Durchlässigkeit der Landschaft. Biotopvernetzung Natürliche Dynamik, Prozessschutz Die Biotopvernetzung ist ein bedeutsames Instrument für die Naturschutz, der weniger stark konservierend auf den Schutz Anpassung an den Klimawandel, da sie Arten Lebensräume ausgewählter Arten an bestimmten Orten, sondern stärker auf entlang von Klimagradienten erhält und Ausweich- und Wan- der Ermöglichung natürlicher Anpassungsprozesse ausge- derungsbewegungen ermöglicht. Hier wird in Zukunft stärker richtet ist, ist weniger vulnerabel (ZEBISCH et al. 2005). Ar- auf die Ansprüche einzelner Arten und ihrer Vernetzung im tenschutz wird angesichts des Klimawandels aufwändiger wer- Raum geachtet werden müssen, da aufgrund der oben be- den, da nicht nur bestimmte Bewirtschaftungsformen wie z.B. schriebenen unterschiedlichen Reaktionen auf den Klima- Offenlandmanagement durchgeführt werden müssen, sondern wandel Biotope überwiegend nicht in ihrer heute definierten Arten durch die Schaffung künstlicher Habitate oder gezielte Zusammensetzung bestehen bleiben bleiben. Ausbringungen und Verpflanzungen geschützt würden.

66 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Katrin VOHLAND Naturschutzgebiete im Klimawandel

Weiterhin impliziert ein strenger Artenschutz auch ein ande- BRÉDA, N., R. HUG, A. GARNIER, and E. DREYER (2006): res Umgehen mit invasiven Arten (Neobiota). Während der Temperate forest trees and stands under severe drought: a review of ecophysiological responses, adaptation processes and long-term Prozessschutz aus dem Süden einwandernde Arten in den consequences. Annual Forest Science 63: 625-644. meisten Fällen zulassen kann, müssten für den Artenschutz DANIS, P.-A., U. v. GRAFENSTEIN, V. MASSON-DELMOTTE, aufwändigere Maßnahmen zur Vernichtung konkurrenzstar- S. PLANTON, D. GERDEAUX, and J.-M. MOISSELIN (2004): ker Neobiota durchgeführt werden, damit die neuen Arten die Vulnerability of two European lakes in response to future climatic heimischen Arten nicht verdrängen. changes. Geophysical Research Letters 31: L21507. DOYLE, U., and M. RISTOW (2006): Fazit Biodiversitäts- und Klimaschutz vor dem Hintergrund des Klima- wandels. Naturschutz und Landschaftsplanung 38: 11-17. Die größte Bedeutung von Naturschutz liegt darin, das natürli- che Anpassungspotential von Arten und Ökosystemen zu er- EUROPEAN-ENVIRONMENT-AGENCY (2004): Impacts of Europe’s changing climate – An indicator-based asses- halten, um Biodiversität auch in Zukunft Entwicklungsmöglich- sment, pp. 1-100. In EEA [ed.], EEA Report, Copenhagen. keiten zu lassen. Arten erbringen unterschiedliche Funktionen in GIBSON, C.A., J.L. MEYER, N.L. POFF, L.E. HAY, and A.GE- Ökosystemen und erfüllen Ökosystemdienstleistungen für Men- ORGAKAKOS (2005): schen. Darüber hinaus hat Biodiversität einen Wert an sich. Flow regime alterations under changing climate in two river basins: implications for freshwater ecosystems. River Research and Appli- Die öffentliche Diskussion über Schutzgüter muss mit dem cations 21: 849-864. Verhältnis von angestrebtem Ziel und zu dessen Erreichen HOFFMANN, J. (1994): erforderlichem Aufwand konfrontier werden. Dazu gehört ei- Spontan wachsende C4-Pflanzen in Deutschland und Schweden – ne um die Klimadimension erweiterte Reflexion über Natur- eine Übersicht unter Berücksichtigung möglicher Klimaänderungen. und Kulturlandschaften. Angewandte Botanik 68: 65-70. Und die Diskussion muss sich an der Verantwortung Deutsch- LEUSCHNER, C., and F. SCHIPKA (2004): Vorstudie: Klimawandel und Naturschutz in Deutschland. BfN-Skrip- lands für das Fortbestehen der gemeinschaftlich als schützens- ten 115: 1-35. wert erachteten Arten orientieren. Nicht nur die Arten, son- NICOLUSSI, K., and G. PATZELT (2006): dern auch ihre Ausbreitungs- und Wanderwege sind Schutzgut. Klimawandel und Veränderungen an der alpinen Waldgrenze – ak- Das Natura 2000 System bietet aufgrund der hohen Anzahl tuelle Entwicklungen im Vergleich zur Nacheiszeit. BFW-Praxisin- ausgewiesener Schutzgebiete und der europäischen Dimension formation 10: 3-5. (Abb. 5) eine gute Grundlage für eine Anpassung an den Kli- POFF, N.L., J.D. ALLAN, M.B. BAIN, J.R. KARR, K.L. PRESTE- GAARD, B.D. RICHTER, R.E. SPARKS, and J.C. STROMBERG mawandel, auch wenn dessen Folgen bei der Konzeption von (1997): Natura 2000 nicht berücksichtigt wurden. Es werden allerdings The natural flow regime. BioScience 47: 769-784. Änderungen in den Schutzzielen hin zu einer größeren Flexi- RATHS, U., BALZER, S., ERSFELD, M. & U. EULER (2006): bilität nötig sein. Arten werden nicht an allen Standorten ge- Deutsche Natura 2000-Gebiete in Zahlen. Natur und Landschaft 81 halten werden können, die sie heute besetzen, und auch das (2): 68-80 Zusammenspiel von Arten und Standortfaktoren in der Form SCHÖNE, F. (2007): von Ökosystemen wird sich ändern. Segen oder Fluch? Energie aus Biomasse boomt. NABU-Magazin Naturschutz heute (1), S. 18-19 Da Arten aber nicht nur ökologische und sonstige Funktionen erfüllen, sondern auch als solche einen Wert besitzen, wird in SCHRÖTER, D. et al. (2004): The ATEAM final report 2004 – Detailed report related to overall einem gesellschaftlich auszuhandelndem Prozess der Anteil von project duration. Advanced Terrestrial Ecosystem Analysis and Mo- Gebieten, die für den Erhalt bestimmter z.B. Offenlandarten delling, a project funded under the 5th framework. Programme of the bewirtschaftet werden müssen, und der Anteil von Gebieten, die European Union, pp. 139. Available at www.pik-potsdam.de/ateam. im Rahmen von Prozessschutz stärker eine Eigendynamik ent- ZEBISCH, M., T. GROTHMANN, D. SCHRÖTER, C. HASSE, U. wickeln, auszuhandeln sein. Sehr deutlich wird aber auch, dass FRITSCH, and W. CRAMER (2005): sich Naturschutz nicht auf ausgewählte Gebiete beschränken Climate Change in Germany – Vulnerability and adaptation of cli- mate sensitive sectors. In Umweltbundesamt [ed.], Dessau. kann, sondern Naturschutzaspekte bei anderen, insbesondere landwirtschaftlichen Nutzungsformen, eine stärker Rolle spie- ZIERL, B., and H. BUGMANN (2005): Global change impacts on hydrological processes in Alpine catch- len müssen, um die Durchlässigkeit der Landschaft zu erhöhen. ments. Water Resources Research 41: W02028. Danksagung Wolfgang Cramer und Martin Hirschnitz (PIK) sowie Sand- ra Balzer (BfN) danke ich für ihre Verbesserungsvorschläge. Anschrift der Verfasserin: Literatur Dr. Katrin Vohland BADECK, F.-W., A. BONDEAU, K. BÖTTCHER, D. DOKTOR, Potsdam Institut für Klimafolgenforschung W. LUCHT, J. SCHABER, and S. SITCH (2004): Abt. Klimawirkung & Vulnerabilität Responses of spring phenology to climate change. New Phytologist Telegrafenberg C4 162: 295-309. 14473 Potsdam BECK, S., W. BORN, S. DZIOCK, C. GÖRG, B. HANSJÜRGENS, Tel.: +49(0)3312882518 K. HENLE, K. JAX, W. KÖCK, C. NESSHÖVER, F. RAUSCH- Fax: +49(0)3312882640 MAYER, I. RING, K. SCHMIDT-LOSKE, H. UNNERSTALL, and [email protected] H. WITTMER. (2006): http://www.pik-potsdam.de/vme/schutzgebiete/ Die Relevanz des Millenium Ecosystem Assessment für Deutsch- land. UFZ Bericht 2: 1-106.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 67 „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert

Gerhard MONNINGER „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert – weniger ist mehr!1) Fill the earth and subdue it! Less is more in the 21st century

über den Globus ist und so retten sie die Zusammenfassung Angesichts der düsteren Perspektiven für den Globus im Zusammenhang mit Kli- Welt in letzter Sekunde. mawandel, Rohstoffverknappung und Verlust der Biodiversität müssen wir uns neu Sie haben es schon gemerkt, meine sehr mit dem Vorwurf auseinandersetzen: „Die Vernichtung der Natur durch den Men- geehrte Damen und Herren, ich erzähle schen ist Folge jüdisch-christlicher Wertvorstellungen“ (Karl Amery). von einem Bestseller-Roman des letzten Ein Studium der biblischen Texte zeigt, dass sich dort die These vom Menschen als Sommers, einem Öko-Science-fiction- der Krone der Schöpfung, der uneingeschränkt auf die Natur zugreifen darf, nicht Thriller. Sein Titel: Der Schwarm, sein belegen lässt. Vielmehr begegnet dort eine Einstellung der Achtsamkeit und des Respekts vor allem Leben. Allerdings wird dem Menschen durchaus die Sonderrol- Autor Frank Schätzing. Ich habe ihn im le zugewiesen, Sorge zu tragen für seine außermenschliche Mitwelt (Anthropozen- Urlaub verschlungen und er hat mich sehr trismus der Verantwortung). nachdenklich gemacht, auch wenn die Ge- Daran gilt es anzuknüpfen, wenn man heute einen nachhaltigen Lebensstil des Ein- schichte natürlich schon etwas arg phan- klangs mit der Natur entwickeln möchte. Er wird von der alten christlichen Kardi- tastisch ist. naltugend des „rechten Maßes“ geprägt sein. Diese Tugend hilft, den Grundsatz „Gut Der philosophische, ja religiöse Kern der leben statt viel haben“ zu entfalten und ganz konkrete Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Geschichte ist ein paar tausend Jahre alt. Es geht um die Frage: Wem gehört die Summary Erde? Wer hat auf sie Herrschaft? It seems a dooming future as we face the global climate change, the growing scar- city of ressources and increasing loss of biodiversity. We thus need to position our- Da sind wir schon bei dem Satz aus dem selves against an accusation: “Extermination of nature by mankind is a consequen- Alten Testament, aus der Genesis, den mir ce of the system of values inherent to the jewish-christian tradition” (Carl Amery). Dr. Goppel als Thema gestellt hat: Studying the bible reveals that there is no evidence for the hypothesis of human Gott sprach zum Menschen: Seid frucht- beings understood as the crown of Gods creation, who thus would be allowed to bar und mehret euch und füllet die Erde unlimitedly peruse nature. Moreover, we rather discover an attitude of due caring und machet sie euch untertan und herr- and respect toward all living creature. Nevertheless, mankind is given up a special task: We are responsible to caringly treat our non-human environment (responsibi- schet über die Fische im Meer und über le anthropocentrism). die Vögel unter dem Himmel und über This is what we need to keep in mind, if we are up to develop a sustainable way of das Vieh und über alles Getier, das auf life with respect to nature. This way of life is to be charactarized by the ancient vir- Erden kriecht. tue of moderation. It helps practicing the basic principle “to enjoy your life instead In Schätzings Roman begegnet uns auch of owning much” and to undertake concrete steps toward this aim. der Präsident der Vereinigten Staaten, ein Fundamentalist in Sachen Religion, der 1. Umweltzerstörung – sapiens hat sich nämlich angeschickt, die erklärt, scheinbar in Übereinstimmung mit „Die gnadenlosen Folgen des Erde, die Meere zu ruinieren, er ist dabei diesem Bibelwort: Christentums“? die nichtmenschlichen Lebewesen auszu- Es gibt nur eine göttliche Rasse. Und das rotten, ihnen die Lebensgrundlagen zu ent- ist die Menschheit. Wie intelligent diese In den Tiefen des Ozeans, dort, wo nie ein ziehen, und das lässt sich Yrr, so heißt die Lebensform im Meer ist, steht auf einem Lichtstrahl hindringt, wo ein unglaublicher Lebensform der Tiefe, nicht gefallen. Sie anderen Blatt. Ob sie das Recht hat, die- Druck von tausenden Meter der Wassersäu- schlägt zurück. In den Tiefen der Meere sen Planeten ebenso zu beanspruchen wie le lastet, dort unten gibt es eine Lebens- beginnt die Jagd auf das gefährlichste Le- wir, darf zutiefst bezweifelt werden. Die form, die intelligenter ist als die mensch- bewesen, das die Erde je bewohnt hat, auf Schöpfungsgeschichte sieht solche Wesen liche Art: ein vernunftbegabter Schwarm uns. nicht vor. Die Erde ist die Welt der Men- von Milliarden und Billiarden Bakterien. Die amerikanische Militärmacht, ange- schen, und sie wurde für die Menschen Er verfügt über eine unglaublich raffinier- führt von einer Generalin, die viele Ähn- geschaffen. te Biotechnologie und beherrscht damit lichkeiten zu Condoleeza Rice hat, will Einige der Wissenschaftler setzen dem den Globus. den Krieg gegen die Yrr, aber ein paar be- entgegen: Bisher ganz in der Stille, bis zu dem Mo- sonnene Wissenschaftler suchen den Ein- Wir sind nur eine kleine Gruppe der Spe- ment, wo sie beschloss, die Menschen von klang mit der Macht aus der Tiefe, aner- zies der Säugetiere, die von der Evolution diesem Planeten zu vertilgen. Der homo kennen, dass der Mensch nicht der Herr längst noch nicht als Erfolg verbucht wer-

1) Vortrag beim Naturschutztag am 26.10.2006 in Grafenau

68 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Gerhard MONNINGER „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert den. Die erfolgreichsten Säuger sind Fle- Wie hat es so weit kommen können? dermäuse, Ratten und Antilopen. Wir reprä- In seinem Buch „Das Ende der Vorse- sentieren nicht das letzte krönende Stück hung – Die gnadenlosen Folgen des Chri- Erdgeschichte, sondern nur irgendeines. stentums“ hat der inzwischen verstorbene Einer von ihnen sagt sogar: Publizist Karl Amery geschrieben: Dem Ökosystem Erde hat diese bizarre Macht euch die Erde untertan: in dieser Randerscheinung Mensch bisher nur ei- Aufforderung zur totalen Unterwerfung der nes eingebracht: einen Haufen Ärger. Natur hat sich das Christentum weit über die Grenzen hinaus manifestiert. Die Ver- Der Mensch, Krone der Schöpfung mit nichtung der Natur durch den Menschen dem Auftrag zu herrschen, oder eine Lau- ist Folge jüdisch-christlicher Wertvorstel- ne der Evolution, dessen Zeit vielleicht selben Kapitel der Genesis als Bild Gottes lungen durch die weltlichen Mächte. Weit schon um ist, nur ein kurzer Seufzer in bezeichnet wird, was von keinem anderen stärker als im verfassten Christentum wir- Lebewesen des Globus ausgesagt wird: der 5 Milliarden alten Erdgeschichte? ken diese Überzeugungen, etwa die Ent- Und Gott schuf den Menschen zu seinem Welche Rolle sollen wir Menschen auf die- mythologisierung der Natur, die des Fort- Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. sem Erdball spielen? schritts, die des Ausbruchs aus überkom- Ziemlich genau vor einem Jahr, im Sep- menen Ordnungen z.B. im Deutschen In- Protestantisches Denken lässt sich von dem tember 2005, berichtete die Süddeutsche dustrie- und Handelstag, im Zentralkomi- alten Grundsatz leiten: ad fontes, zurück Zeitung auf der Titelseite unter der Über- tee der KPdSU, im Pentagon oder in den zu den Quellen. Studieren wir den Origi- schrift „Wenn der Nordpol eisfrei wird“ Formationen der Technokratie. naltext der Bibel, nicht die darüber gela- über die aktuellste wissenschaftliche Pro- Ein Planet wird geplündert, und die Bibel gerten Interpretationen aus zwei Jahrtau- gnose zur Erderwärmung. „Das ist der ist schuld. senden Christentumsgeschichte. Fragen wir, ob das nach den alten Quellen stimmt: stärkste Klimawandel, der in den letzten Viele Zeitgenossen, denen die Zukunft Millionen Jahren auf der Erde im globalen • dass der Mensch die Krone der Schöp- der Erde am Herzen liegt, haben diese fung sei; Mittel aufgetreten ist“, so wird Hartmut Überzeugung inzwischen übernommen. Graßl, der Klimaforscher vom Max-Planck- • dass er als das Bild Gottes eine unver- Zu Recht? Institut für Meteorologie, zitiert. Um 2,5 gleichlich herausgehobene Stellung über bis vier Grad Celsius wird nach den Be- Ich möchte zunächst der Frage nachgehen, alles Leben hat rechnungen des Instituts die Durchschnitts- wie die Bibelwissenschaft den berühmt- • und dass er den Auftrag hat, sich die Er- temperatur auf dem Globus bis zum Jahr berüchtigten Spruch heute deutet, im Licht de untertan zu machen. 2100 steigen. Der Meeresspiegel wird um der alttestamentlichen Exegese und der Die erste Beobachtung: 21 bis 28 Zentimeter ansteigen, der Nord- heutigen Kenntnisse des alten Orients. Es gibt ja zwei Schöpfungsgeschichten, die pol könnte am Ende dieses Jahrhunderts je- Dann möchte ich die Rolle des Menschen in der Genesis hintereinander stehen. Die weils im Sommer eisfrei sein. Extreme Wet- auf diesem Globus beschreiben, wie sie bekanntere ist die jüngere, mit der die Bi- terereignisse wie Hitzewellen, Sturmfluten heute von der christlichen Theologie ge- bel beginnt: Am Anfang schuf Gott Him- und Überschwemmungen dürften in Euro- sehen wird (übrigens in vollkommener mel und Erde. Und dann geht es los, es ent- pa zunehmen, die Land- und Forstwirt- ökumenischer Übereinstimmung). stehen Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Erde und Meer, grüne Pflanzen, Vögel, Fi- schaft werden unter der sommerlichen Tro- Dabei dürfen wir aber dann nicht stehen ckenheit leiden. Besonders die Zahl von bleiben, sondern müssen in einem weite- sche, Landtiere – in insgesamt sieben Ta- mindestens 2,5 Grad Erwärmung sei ein ren Kapitel fragen: Welche Lebensweise gen ist die Welt fertig. Am Ende steht der Alarmsignal, berichtet die Süddeutsche muss aus dem folgen, was wir als Rolle Mensch. Zeitung weiter. Sie gilt für das optimis- und Aufgabe des Menschen beschrieben So haben wir es im Kopf, und das stimmt tischste Szenario, für eine Welt, die sich haben. Dann sind wir beim zweiten Teil nicht. ideal verhält, Umweltschutz und Entwick- des angekündigten Titels: Weniger ist mehr, Beschrieben wird, wie man mit Verblüf- lung armer Länder unter einen Hut be- oder, wie es die Studie „Zukunftsfähiges fung feststellt, die Schaffung von Lebens- kommt und die den Treibhausgas-Ausstoß Deutschland“ sagt: „Gut leben statt viel räumen, also von Ökosystemen: Himmel, drastisch senkt. haben“. Meer, Luftraum, Festland, und diese Le- Die wenig erfreuliche Bilanz von all dem bensräume werden besiedelt von Lebewe- lautet: 2. Was sagt die sen: Die Lebens- und Wirtschaftsweise, wie sie Bibelwissenschaft über die Der Himmel von den Gestirnen (der al- die großen Industrienationen pflegen, be- Stellung des Menschen? te Orient dachte sich die Sterne als Lebe- droht die Lebensgrundlagen für Mensch, Zurück zur Bibel: wesen), Tier und Pflanzen. Die Klimaproblematik Karl Amery und viele, die seine Position das Meer von den Wassertieren, ist dabei nur ein Bereich, wenn auch der teilen, bezieht sich ja nicht nur auf einen die Luft von den Vögeln (Himmel und derzeit herausragendste. Die ungebremste isolierten Vers; er bezieht sich darauf, dass Luftraum sind zwei verschiedene Lebens- Ausbeutung der fossilen Energiereserven das Christentum den Menschen als die Kro- räume, der Himmel ist jene Käseglocke und die Vergiftung von Wasser, Luft und ne der Schöpfung gepriesen hat, er bezieht über der Erdscheibe, auf der die Gestirne Erde verschärfen die Krise. sich darauf, dass der Mensch in eben dem- ihre Bahn ziehen)

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 69 „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert Gerhard MONNINGER und das Land von den Landtieren, an- Man könnte mit dem köstlichen Kino- die Erde in Besitz und tragt Fürsorge für gefangen von den Würmer über die Tiere Film „Die Blues Brothers“ formulieren: alles Leben auf ihr“. des Feldes bis – ja bis zum Menschen. Er We have a mission from God – wir – die Mir ist völlig klar, dass das christliche muss sich den Lebensraum Festland mit Menschen – sind im Auftrag des Herrn Abendland, besonders seit der Zeit der den Tieren teilen, für ihn ist kein eigener unterwegs! Das ist nun schon etwas, was Aufklärung, dies nicht so verstanden hat. Lebensraum vorgesehen. Keine hervorge- den Menschen fundamental von den Tie- Da hat Amery Recht. Aber die Ur-Kunden hobene Stellung des Menschen. Der Se- ren unterscheidet, aber es ist keine Macht des Christentum sprechen eine ganz ande- gen, den Gott erteilt „Seid fruchtbar und aus eigener Machtvollkommenheit, es ist re Sprache. mehret euch…“ gilt den Tieren genauso übertragene Macht. Gott ist der alleinige wie den Menschen. Es gibt auch noch ei- Ursprung allen Seins. Die Herrschaft des Wir haben es also mit einer doppelten Na- ne Nahrungsmittelzuweisung, damit im Menschen ist undenkbar ohne Rückbin- tur des Menschen zu tun: Lebensraum Erde nicht gleich Mord und dung an ihn. Wir sprechen deshalb heute Einerseits ist er Geschöpf wie alle ande- Totschlag gibt: von einem Anthropozentrismus der Verant- ren Geschöpfe. Das wird z.B. auch durch Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch wortung, nicht einem Anthropozentrismus die Genetik bestätigt: Das Erbgut des Men- gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, der Herrschaft. schen deckt sich mit dem des Schimpansen auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit zu 99%. Wir sind Leben, das leben will, in- In dieselbe Richtung weist nun die dritte Früchten, die Samen bringen, zu eurer mitten von Leben, das leben will, wie es Aussage über den Menschen: Macht euch Speise. Aber allen Tieren auf Erden und Albert Schweitzer ausgedrückt hat. die Erde untertan und herrscht. allen Vögeln unter dem Himmel und al- Andererseits ist der Mensch in biblisch- lem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich 1934 schrieb der jüdische Theologe Benno christlicher Sicht durchaus herausgeho- alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Jakob, ganz im Geist der Technikbegeiste- ben über die außermenschliche Schöpfung rung in einem Kommentar zu Genesis 1: durch den Auftrag, Gottes Schöpfermacht Lassen wir das bemerkenswerte Detail bei- Mit diesen Worten ist dem Menschen die auf der Erde zu repräsentieren und Ver- seite, dass alle Lebewesen Vegetarier sind uneingeschränkte Herrschaft über den antwortung für alles Leben auf der Erde – die ganze Anordnung zielt darauf, ein Weltkörper Erde verliehen, deshalb kann zu übernehmen. Eine Verfügung über das Ökosystem zu schaffen, in dem die Lebe- keine Arbeit an ihr, z.B. Durchbohrung Leben selbst hat er nicht. Das wird übri- wesen unter Einschluss des Menschen ihr oder Abtragung von Bergen, Austrocknen gens sehr strikt zur Geltung gebracht in Auskommen haben und auf ein Miteinan- oder Umleiten von Flüssen und derglei- dem Gebot des Schächtens. Das Blut galt der angewiesen sind. Es deutet sich auch chen als gott-widrige Vergewaltigung be- als Inbegriff des Lebens, und deswegen an, dass es da Konflikte geben kann. Wer zeichnet werden. wird die regeln? musste – und muss man bei den Juden bis Er und viele andere Ausleger irrten aber. heute – beim Schlachten das Blut des Das passiert alles am 6. Schöpfungstag. Der Grund lag darin, dass man einen Schlachttieres vollständig herauslaufen Und wo bleibt die Krone der Schöpfung? symbolischen Akt der alten Zeit nicht lassen und es der Erde zurückgeben. Die Krone der Schöpfung ist Schabbat, mehr verstand. Das Wort, das Luther mit 3. Die Rolle des Menschen nicht der Mensch. Es heißt: „untertan machen“ übersetzt, heißt in sei- heute als global player So wurden vollendet Himmel und Erde mit ner Grundbedeutung „Den Fuß auf etwas ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott setzen“. Das kann ein Akt harter Unterwer- Wenn wir heute in Europa unsere Kultur- am siebenten Tage seine Werke, die er fung sein – den Fuß auf den Nacken des landschaften anschauen, dann wird deut- machte, und ruhte am siebenten Tage…. besiegten Feindes setzen. Aber weit häu- lich, dass es kaum einen Quadratmeter Und Gott segnete den siebenten Tag und figer ist dieses Wort mit Ländern verbun- Erde gibt, der sein Erscheinungsbild nicht heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von al- den und dann ist der Akt des „Setzens ei- dem Eingriff des Menschen verdankt, über len seinen Werken… nes Fußes“ ein Akt der Inbesitznahme. Jahrhunderte hinweg. Das ist auch nach der Daraus könnte man nun auch allerhand Man müsste also übersetzen: Füllt die Er- biblischen Tradition in Ordnung, wenn es Kulturkritisches für unsere Zeit ableiten, de und nehmt sie in Besitz. Die Erde wird dem Leben aller dient. aber das ist nicht unser Thema. damit als Wohnort der sich ausbreitenden An der Stelle möchte ich einen kleinen Menschen bezeichnet. Wie steht es nun mit dem Menschen als Exkurs zum Begriff des Naturschutzes Bild Gottes? Imago dei? Was haben Phi- Bleibt das andere Wort „Herrschen“. Da machen: losophen und Kirchenväter in Jahrhunder- kommt es darauf an, was mit Herrschen Noch vor 150 bis 200 Jahren hätten die ten dazu nicht alles Tiefsinniges gesagt: gemeint ist. Der Begriff kann denjenigen Menschen ziemlich entgeistert geschaut, Es ist aber ganz einfach: bezeichnen, der eine Prozession anführt, wenn wir mit ihnen über Naturschutz hät- In der altorientalischen Welt, ob am Nil er steht dafür, wie ein Hirte seine Herde ten sprechen wollen. oder an Euphrat und Tigris, pflegten die leitet, auch dies ein Bild von Herrschaft, Das Thema der Menschen damals war jeweiligen Herrscher, der Großkönig oder aber eben keine beliebige, sondern eine nicht: „Wie schützen wir die Natur?“, der Pharao, im Land und vor allem in den Herrschaft, deren primäres Merkmal Für- sondern: „Wie schützen wir uns vor der fernen Provinzen, Standbilder von sich auf- sorge ist. Das gilt auch für die Herrschaft Natur?“ zustellen. Im Bild, im Standbild, war nach des Königs: Er ist zuständig dafür, dass in Die Natur, das waren Kräfte, die Angst der damaligen Auffassung der Herrscher seinem Herrschaftsbereich Leben gedeiht. machten; es waren Geheimnisse, die un- selber gegenwärtig. Wo das Bild stand, war Ingesamt müsste man also übersetzen: durchschaubar waren; es waren Gefahren, der Herrschaftsbereich des Pharao. „Seid fruchtbar und mehr euch, nehmt die Leib und Leben bedrohten.

70 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Gerhard MONNINGER „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert

Der Wolf beispielsweise, der im Märchen Was wir heute brauchen, ist, diesen Re- ein die Menschen dominieren. Den Ein- zur archetypischen Figur geworden ist, war spekt vor der außermenschlichen Natur klang mit der Natur zu suchen, heißt das eine reale Bedrohung für Mensch und Vieh. wieder zu lernen. Die Tier und Pflanzen Gebot, auch wenn es nicht ohne Konflik- Hagelschlag, Überschwemmungen, Stür- sind nicht einfach für uns da, sondern zu- te abgeht. Heruntersteigen vom Sockel des me und Dürrezeiten vernichteten nicht nur erst einmal für sich selber. Allmachtswahns, sich zurücknehmen, lei- bäuerliche Existenzen, sondern stürzten In unserer Gesellschaft gibt es nun schon se auftreten, kleine Schritte tun. ganze Landstriche in Not und Elend. In seit einigen Jahrzehnten eine große Be- Die Bibel hat schon Recht, wenn sie dem alten Kirchenliedern und gottesdienstli- reitschaft, dies anzuerkennen, jedenfalls Menschen den Auftrag gibt: Herrscht über chen Gebeten wird Gott um Hilfe gegen in der Theorie. Der Deutsche Bundestag die Erde und tragt Sorge für das Leben, den Mehltau, Dürre und Wassersnot an- hat im Jahr 2003 beschlossen, den Tier- gefleht. Und noch Goethe hat, als er auf das auf ihr gedeiht. schutz unter die Staatsziele ins Grundge- seiner Reise nach Italien über den Brenner setz aufzunehmen: Artikel 21a „Der Staat 4. Wie sollen wir unser Leben fuhr, die Vorhänge seiner Kutsche zuge- schützt auch in Verantwortung für die einrichten? zogen, weil es ihn graute vor den tiefen künftigen Generationen die natürlichen Schluchten und steilen Felswänden. Wo wir Mit diesen Einsichten, meine sehr ver- Lebensgrundlagen und die Tiere.“ wegen der Schönheit der alpinen Land- ehrten Damen und Herren, sind wir aber schaft staunend und ergriffen hinschauen, Allerdings mischen sich in die Debatte nun noch nicht am Ende, denn jetzt wird die schaute er weg – Natur war bedrohlich. auch Stimmen ein, die gehen nach mei- Frage umso dringender, wie wir denn nun nem Dafürhalten zu weit. „Seit ich die Man muss sich den Kontrast einmal klar unser Leben einrichten sollen, damit alles Menschen kenne, liebe ich die Tiere“ heißt machen: Heute ist der Mensch auf ganzer Leben auf der Erde gedeiht. Das Problem ein böses Sprichwort. Menschen sind streit- Front der Sieger im Kampf gegen die Na- hat sich noch verschärft, seit wir unter dem tur. Oder soll ich lieber sagen, er wähnt süchtig, egoistisch, machtbesessen, heißt Gebot der Nachhaltigkeit auch noch das sich als der Sieger? es dann. Die Tiere leben in paradiesischer Leben der künftigen Generationen in den Unschuld. Wenn wir Menschen nur von Blick bekommen haben. Das ist auch neu. Jedenfalls hat er im Konflikt mit den an- unserem hohen Thron heruntersteigen und Unsere Macht reicht jetzt dazu aus, den deren Lebewesen auf diesem Globus durch uns einfach einfügen würden in den Kreis- ganzen Globus unbewohnbar zu machen, die Explosion des technischen Könnens lauf der Natur – dann wären alle Proble- ihn zu vergiften, zu verseuchen, zu verwü- und naturwissenschaftlichen Wissens eine me gelöst. sten. solche erdrückende Überlegenheit errun- gen, dass er im Begriff ist, alles nieder- Hier wird die doppelte Natur des Men- Ich kann unmittelbar anknüpfen an das zuwalzen. schen in einer anderen Weise aufgelöst, Ende meines letzten Kapitels: in dem die Verantwortung und der Für- Den Einklang mit der Natur zu suchen, Die Wölfe machen heute im Naturpark sorgeauftrag abgewiesen werden. Bayerischer Wald gewissermaßen Männ- heißt das Gebot, auch wenn es nicht ohne chen vor den Touristen. Um die Baum- Aber ein Blick aus dem Fenster hinaus in Konflikte abgeht. Heruntersteigen vom wollfelder Kasachstans zu bewässern, hat den Garten zeigt: Die Natur ist auch nicht Sockel des Allmachtswahns, sich zurück- man einfach Flüsse in ihrem Lauf umge- friedlich. Die Katze jagt die Amsel, und nehmen, leise auftreten, kleine Schritte dreht. Wir greifen in das Erbgut von Pflan- die Amsel frisst den Regenwurm. Was man tun. zen und Tieren ein und geben ihnen auf so distanziert die Nahrungskette nennt, hat Das wird eine technische, eine wirtschaft- diese Weise Eigenschaften, die für uns von in Wahrheit mit Töten und Getötet-Wer- liche Seite haben und eine geistig-geistli- Vorteil sind. den zu tun. che. Der Schlüssel zu allem ist der Ener- Wir haben Herbizide, Fungizide und Pe- Auch wir Menschen können ja gar nicht gieverbrauch. anders, als unser Leben auf Kosten der stizide, die gewissermaßen die Vollstre- Ich verkündige hier gerne die Botschaft Tiere und Pflanzen zu fristen. cker unserer Todesurteile sind. der drei „E“s: Wer einmal ein modernes Maisfeld an- Wir können nicht dem Grundkonflikt ent- Einsatz erneuerbarer Energien, Energie- schaut, entdeckt zwischen den Reihen der rinnen, dass alles, was lebt, auf Kosten effizienz, Energiesuffizienz. anderen Lebens lebt. Seit Jahrtausenden hoch aufgeschossenen Maispflanzen nur Mich interessiert als Theologe natürlich haben Menschen daran z.B. gearbeitet, noch nackte Erde. Da wächst nichts mehr. am meisten die Suffizienz, also die Frage: sich wild wachsende Gräser zu Nahrungs- Die blaue Kornblume am Feldrand findet Wie viel Energie, wie viele stoffliche Res- man nur noch mit Mühe, der rote Mohn mittelpflanzen zu machen, Tiere zu domes- sourcen brauchen wir eigentlich, um ein hat sich noch besser behauptet, aber wie tizieren, Bäume zu fällen, Holz zu verbren- menschenwürdiges, erfülltes, befriedigen- lange noch. Die Geschwindigkeit, mit der nen. des Leben zu führen. das Artensterben voranschreitet, nimmt Also, es hat keinen Sinn, von einer völlig weltweit immer noch zu. konfliktlosen Einheit zwischen Menschen Die Effizienzrevolution bleibt richtungs- blind, wenn sie nicht von einer Suffizienz- Jetzt, in dieser für die Natur so bedrohli- und Natur zu träumen. Es wird immer Kon- Revolution begleitet wird, sagt Wolfgang chen Lage, taucht die Forderung auf, Na- flikte geben. Die Bibel weiß das und hat tur zu schützen, jetzt macht sie natürlich deshalb dem Menschen die Verantwor- Sachs vom Wuppertal-Institut. Sinn, in der Sprache des Glaubens reden tung dafür übertragen, diesen Konflikt zu Ich verstehe Suffizienz freilich nicht als wir davon, dass es gilt die Schöpfung zu regeln. So, dass möglichst viele möglichst Verzicht und Genügsamkeit. Ich glaube, bewahren. gut leben können und nicht von vornher- dass ein an der Suffizienz orientierter Le-

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 71 „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert Gerhard MONNINGER bensstil mehr Lebensqualität bringt und logie verstärkt werden. Dabei kommt uns Bemerkenswert ist nun, dass der Begriff nicht weniger. Es gibt ohnehin genug Skep- etwas zu Hilfe, was die wenigsten vermu- „Lebensqualität“ der an zweiter Stelle der tiker, die sagen: die Suffizienz-Prediger, tet hätten, aber auch diesen Quellen ge- Hitliste steht, in einer bestimmten Inter- das sind kirchliche Altkonservative, christ- speist ist: die guten alten Kardinaltugenden pretation eine Nähe zur Temperantia hat. liche Nächstenliebe-Idealisten, vitalistische der abendländisch-christlichen Tradition. Denn: Temperantia stiftet Lebensqualität. Naturromantiker, kommunitäre Sozialde- Neben den geistlichen Tugenden Glaube, Ein nachhaltiger Lebensstil ist von dem mokraten, insgesamt halt die Sozialstaats- Liebe, Hoffnung sind das die Klugheit, Grundsatz geprägt: „Gut leben statt viel partisanen – so Joseph Huber vom sozio- die Tapferkeit, die Mäßigkeit und die Ge- haben“. logischen Institut der Universität Halle. rechtigkeit. Das ist eine Aussage über das richtige Dagegen steht z.B. die Studie Zukunfts- Als die wichtigste erscheint mir für uns Maß. Der Satz lässt sich in folgende Rich- fähiges Deutschland: Sie sagt: Empirische heute die Mäßigung (temperantia), oder Sozialforscher glauben eine stille Revolu- besser: Die Tugend, das richtige Maß zu tungen weiter entfalten: tion der Werteorientierung zu entdecken. kennen. Sie lehrt uns zu fragen: Wie viel • Gut leben statt viel haben, kann hei- Insbesondere jüngere Personen mit geho- ist genug? ßen: lieber weniger statt mehr. benem Bildungsstand scheinen zunehmend Das Gegenbild zur Temperantia ist Gula, Das genießen wir, wenn wir zu Hause post-materiellen Wertvorstellungen zuzu- die Maßlosigkeit, Völlerei oder Gier. Bei Dachboden und Keller entrümpeln; welch neigen. Sie streben weniger nach Pflicht- der Suche nach dem rechten Maß ist es eine Befreiung wenn wir das, was wir doch erfüllung in der Arbeit, Güterbesitz im hilfreich, Phänomene von Maßlosigkeit nicht brauchen, los sind. Das gilt übri- Konsum und wirtschaftlicher Sicherheit, gens auch für das Ballast-Abwerfen beim sondern eher nach Selbstentfaltung, Le- und Gier in unserer Gesellschaft wahrzu- nehmen und zu untersuchen, und davon Fasten. Viele Menschen fasten inzwischen bensfreude sowie sozial- und umwelt- ohne von einem religiösen Gebot dazu freundlichen Verhältnissen. gibt es genug. genötigt zu sein, einfach, um zu erleben, Die Frage des Metzgers „Darf’s ein biss- Die Studie sagt aber auch, diese stille Re- dass man auch von Luft und Liebe leben chen mehr sein?“ wird immer noch ge- volution trete offenbar auf der Stelle, und kann, eine Weile jedenfalls, ohne Pasta, stellt: bei der Urlaubsreise, bei den Qua- sie hat zwei Gesichter: Double-Whopper und Rindsgulasch. Einerseits hat der distanzierte Konsument dratmeter der Wohnung, bei den CDs im die Bühne betreten, der zurückhaltend Regal. • Gut leben statt viel haben, kann hei- ßen: lieber einfacher statt komplexer. kauft, mehr nach Qualität als Quantität Sogar das Volumen der Weingläser und Mein Pfarrerskollege und Karikaturist Ti- fragt und den Nutzen für das Gemeinwe- Kognakschwenker ist nach meiner Beob- ki Werner Küstenmacher hat mit seinem sen bei Einkauf bedenkt. Daneben steht achtung in den letzten Jahren immer grö- Buch „simplify your life“ einen Welterfolg aber der erlebnissüchtige Konsument, der ßer geworden, ebenso die Größe der Eis- gelandet. Es gibt eine große Sehnsucht Waren und Serviceleistungen nach ihrem kugeln. Genuss- und Inszenierungswert verbraucht. nach dem Einfachen; es gilt, die Eleganz Es ist an der Zeit, – ich wiederhole es Beide sind Postmaterielle und pflegen ih- des Einfachen zu entdecken: Ja, und dann re Selbstverwirklichung. Die Lebensstile noch einmal – dass wir die Frage stellen: wollen wir uns ein neues Telefon kaufen, haben sich ohnehin vervielfältigt, Stil und Wie viel ist genug? eigentlich nur, um damit zu telefonieren, Identitäten werden patchworkartig ge- Wenn die Tochter 18 geworden ist und den packen es zuhause aus und erkennen, dass mischt: Führerschein gemacht hat – sind dann es heute gar keine Telefone mehr gibt, mit Der Arzt als Harley-Davidson-Fahrer, Klei- zwei Autos noch genug? denen man nur telefoniert. Das sind Alles- derkauf sowohl in der Boutique aber auch Bei uns zu Hause, wir sind ein Sechs-Per- könner, Wunderwerke mit dicken Hand- auf dem Flohmarkt, IKEA in der Jugend- sonen-Haushalt, stehen in der Garderobe büchern; aber wer nutzt das alles, voraus- stilvilla. vielleicht 20 Paar Schuhe und im Keller gesetzt, er hat es zuvor wirklich verstanden und sich durch das Handbuch hindurch- So bunt und verwirrend das Bild ist: Ich nochmals so viel. Wie viel ist genug? gebissen? stelle aber dennoch fest, dass es einen, In der Hitparade der Werte, die Menschen wenn auch nicht gerade steilen Anstieg heute in ihrer Mehrzahl hochhalten, kommt • Gut leben statt viel haben, kann hei- eines alternativen Konsum- und Freizeit- Temperantia nicht vor. Die Hitliste der ßen: lieber langsamer statt schneller. verhaltens gibt. Ökologie ist von einem Werte sieht in den top ten folgendermaßen Sie kennen vielleicht die Anekdote vom In- Nischenfaktor zu einem Nachfragefaktor aus: dianer, der eine Flugreise gemacht hat und geworden; Wasch- und Reinigungsmittel 1. Eigenverantwortung am Zielort zuerst ganz stumm und regungs- sollen ein Öko-Siegel haben, Kosmetika 2. Lebensqualität los dasitzt. Auf die Frage, warum er sich ebenfalls, Aldi und Liedl warten mit Bio- 3. Lebensfreude so zurückzieht, antwortet er: ich muss erst produkten auf, – bei jedem Lebensmittel- 4. Liebe warten, bis auch meine Seele nachgekom- skandal macht die Kurve einen kleinen 5. Lebenssinn men ist. Geht es uns nicht gelegentlich auch Sprung nach oben, sinkt zwar nach eini- 6. Freundschaft so? Eine Entschleunigung unseres Lebens, ger Zeit wieder zurück, aber nicht ganz 7. Gerechtigkeit unserer Wirtschaft würde vermutlich das so tief, wie der Ausgangspunkt war. 8. Echtheit Maß des Menschlichen wieder besser tref- Die Entwicklung kann und muss aus den 9. Gesundheit fen und uns zufriedener und gesünder sein Quellen der biblischen Schöpfungstheo- 10. Lernen lassen.

72 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Gerhard MONNINGER „Macht euch die Erde untertan“ im 21. Jahrhundert

• Gut leben statt viel haben, kann hei- Unter den ehrenamtlichen Umweltbeauf- fungsspiritualität entdecken. Deswegen ßen: lieber näher statt weiter. tragten unserer Kirche, und nicht nur bei sprechen wir in der Kirche davon, dass Ich habe mit einem Bekannten gespro- ihnen, gibt es eine Fülle von Männern und wir den Einklang mit der Natur wieder chen, der eine Flugreise rund um den Erd- Frauen, die ihren Alltag an dieser und je- suchen wollen. Schöpfungsspiritualität ball gemacht hat, um die Welt nicht in 80 ner Stelle verändert haben: Sie erproben pflegen, in das Lob des Schöpfers und Tagen, sondern in 20 Tagen. Er war über- ein Leben ohne Auto und fahren Fahrrad, seiner herrlichen Schöpfung einstimmen, all, aber er hat nichts gesehen. Die Flug- sie betreiben ihr Auto mit Pflanzenöl, sie heruntersteigen vom Sockel der Allmachts- häfen sind auf der ganzen Welt ziemlich reduzieren ihren Fleischkonsum und kau- phantasien, die tiefe Solidarität fühlen mit gleich. Und die Zentren der Metropolen, in fen Lebensmittel aus ökologischem An- allem, was lebt, was kreucht und fleucht. die er dann vom Flughafen aus mit dem bau, sie beziehen Strom aus regenerativen Zwar steht auf den Bäumen nicht ge- Taxi gefahren ist, auch. Er empfiehlt diese Quellen, sie verzichten auf Flugreisen im schrieben „made in heaven“. Einen Be- Reise niemandem mehr. Vielleicht macht Urlaub, sie beteiligen sich an Bürgersolar- weis für die Existenz Gottes, der auch den er demnächst aber eine Radtour durch den anlagen oder bewegen die Kirchengemein- Atheisten umstimmt, gibt es so nicht. Böhmerwald. de, ein Blockheizkraftwerk zu installie- Aber ein Gefühl für die Verbundenheit mit ren. Solche Beispiele einzelner sind wich- • Gut leben statt viel haben, kann hei- dem Kosmos kann entstehen, eine Dank- tig. Sie führen den Beweis, dass ein Um- ßen: lieber nutzen statt besitzen: barkeit dafür, dass der Schöpfer für uns bau unseres Lebensstils praktikabel ist. Ich denke hier beispielsweise an das sorgt. Carsharing; ich selber habe vor 13 Jahren Ich weiß, dass der Weg vom Wissen zum Meine sehr geehrten Damen und Herren, mein Auto abgeschafft und bin Mitglied Tun sehr weit ist. Wir wissen aus empiri- bei Statt-Auto geworden, statt mit Zweit- schen Untersuchungen, dass ein hoher Pro- „weniger ist mehr“ war dieser Vortrag auto. Unsere Fahrzeuge sind im Durch- zentsatz von Menschen all diese Ideen, die überschrieben. Dieser Grundsatz ist auch schnitt des Tages doch nur Stehzeuge, die ich vorgetragen habe, ganz toll finden, aber auf eine Veranstaltung wie dieser an- unendlich viel Raum in unseren Städten vor dem Regal im Supermarkt und im wendbar. beanspruchen. Das Buchungsverfahren bei Reisebüro anders entscheiden. Der Weg Hoffentlich war´s nicht zu viel. Ich danke Statt-Auto ist einfach und hält mich zu- vom Kopf zur Hand führt über die Zwi- Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! gleich davon ab, überflüssige Fahrten zu schenstation des Herzens. Gefühle und tief machen. Es gibt ja auch das Fahrrad, das eingeprägte archetypische Muster lenken ist in der Stadt sogar schneller, und gesün- unser Tun, nicht die Vernunft. Hubert der ist Radfahren sowieso. Weinzierl sagt: Die Überlebensfragen der • Gut leben statt viel haben, kann hei- Menschheit lassen sich längst nicht mehr allein mit immer mehr Umwelttheologie ßen: lieber bewahren statt wegwerfen. Anschrift des Verfassers: Wenn ich für einen Wintermantel viel Geld lösen. Was Not tut, ist ein „spiritueller Aufbruch“. Kirchenrat Gerhard Monninger ausgebe, gute schicke Qualität kaufe und Der Beauftragte ihn zehn Jahre trage, habe ich etwas für die Der beginnt da, wo wir den materiellen für Umweltfragen der Nachhaltigkeit getan, habe Energie und Konsum nicht mehr als Gott-Ersatz anse- Evangelisch-Lutherischen Kirche Rohstoffe gespart. Und ich habe mich dem hen, nicht mehr als Trost in allen Krisen in Bayern Diktat der Mode entzogen, die mir einre- und als Selbstvergewisserung nach dem Marsstraße 19 80335 München den will, ich könne einen Mantel schon Grundsatz: ich kaufe, also bin ich. Es nach einem Jahr nicht mehr tragen. geht weiter damit, dass wir neu die Schöp-

Thesen zur Kulturlandschaft

Stefan KÖRNER, Ilke MARSCHALL, Johannes PAIN und Norbert WIERSBINSKI Thesen zur Kulturlandschaft1)

Die vorliegenden Thesen entstanden auf mie auf der Insel Vilm vom 18.09.- Arbeitsgruppen („Landgruppe“, „Stadt- der Grundlage von Workshops im Rah- 21.09.2006 in Kooperation mit dem Fach- gruppe“, „Politikgruppe“), die von den men der Tagung „Verwilderndes Land – gebiet Landschaftsbau/Vegetationstechnik Autoren grundlegend überarbeitet und neu wuchernde Stadt?“ Die Tagung handelte der Universität Kassel sowie der Bayeri- gruppiert wurden, weil die Struktur, Dik- von der Zukunft der Kulturlandschaft im schen Akademie für Naturschutz und tionen etc. der Arbeitsergebnisse zu un- urbanen und ländlichen Raum. Sie fand Landschaftspflege (ANL) statt. Basis die- terschiedlich war. Thesen der „Stadtgrup- in der Internationalen Naturschutzakade- ser Thesen sind die Ergebnisse von drei pe“ finden sich nun z.B. im einleitenden

1) Die Thesen erscheinen in dieser Fassung in Kürze ebenfalls in den BfN-Skripten des Bundesamtes für Naturschutz, Bonn.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 73 Thesen zur Kulturlandschaft S. KÖRNER, I. MARSCHALL, J. PAIN u. N. WIERSBINSKI

Teil, manche Teile ihrer Thesen, die sich 4. Das Gegenprinzip zu Eigenart und zu bestimmen und zu entwickeln auf Gestaltungs- und Partizipationspro- Vielfalt sind Uniformität und Egali- gilt. Dieser Diskurs hat sich mit den zesse beziehen, wurden aber auch unter tät. Sie werden der technisch-indus- aktuellen und künftigen Landnutzun- „Landschaftspolitik“ subsumiert.2) triellen Zivilisation angelastet. Diese gen auseinander zu setzen und muss funktioniert nach den universellen Effi- vor allem die Werte klären, mit denen Ausgangspunkt: Die Sehnsucht zienzkriterien der kapitalistischen Öko- diese beurteilt werden: Es geht darum, nach der Kulturlandschaft und nomie, die letztlich keine Rücksicht was „Charakter“ und davon abhängig die Unzufriedenheit mit dem auf regionale Eigenarten nimmt. Dieser „Kultur“ jeweils bedeutet. alten Begriff Prozess der Verbreitung von Gleichar- Landschaftswandel 1. Traditionell beschreibt der Begriff tigkeit wird heute mit Globalisierung der Kulturlandschaft eine ländliche bezeichnet. 9. Ausdruck der gegenwärtigen Land- Symbiose von Kultur und Natur, die 5. Aus der antiegalitären Haltung tra- nutzung ist zum einen die Schrump- durch eine besondere, historisch ge- ditioneller Landschaftsgestaltung re- fung in ländlichen Gebieten und in wachsene Eigenart ausgezeichnet ist. sultiert eine antidemokratische Kom- bestimmten Stadtregionen, zum an- Diese Eigenart erscheint sinnstiftend. ponente. Sie kam im frühen Natur- und deren aber auch die Entwicklung Die Idee von Kultur ist stark vom Heimatschutz deutlich zum Ausdruck urbaner Boomregionen mit einem christlichen Humanismus der Herder- und wurde unter dem Banner einer entsprechenden Flächenverbrauch. schen Geschichtsphilosophie geprägt rassistischen Politik auf die Spitze ge- Als Konsequenz aus den Schrump- und an die Unterscheidung von Kultur trieben. Ob daher der traditionelle, an fungsprozessen verwildert zum einen und Zivilisation gebunden. „Kultur“ Eigenart orientierte Kulturlandschafts- das Land (Flächen und Wege wachsen bezeichnet – auf Landschaft bezogen begriff reformfähig ist und auf die z.B. zu). Zum anderen aber nimmt in – die einfühlsame Entwicklung der Realität zunehmend urban geprägter den Boomregionen die Inanspruchnah- natürlichen Möglichkeiten eines Rau- Landschaften angewendet werden kann, me bislang unbesiedelter Flächen zu. mes durch das in ihm siedelnde Volk. wird daher von verschiedenen Seiten Das Land verstädtert weiter. bezweifelt. Durch eine solche Entwicklung ent- 10. Die Dichotomie von Stadt und Land steht eine historisch gewachsene indi- 6. In der Diskussion sind daher ver- löst sich auf. Hohe Mobilität, Erleb- viduelle Eigenart von „Land und Leu- schiedene alternative Landschaftsbe- nisdichte und Warenverfügbarkeit ten“. Kultur und Natur sind dann kein griffe, die sich mit dem Nimbus der sowie neue Möglichkeiten der Kom- Gegensatz, sondern eine harmonische geschichtslosen Offenheit und Unbe- munikation, wie sie vor allem das Einheit. lastetheit umgeben. Ihr gemeinsamer Internet bietet, (also Globalisierung 2. Es besteht das Bedürfnis nach einem Nenner ist, dass letztlich alle mensch- und Tertiärisierung) führen räum- neuen Begriff von Kulturlandschaft, lichen Aktivitäten und deren räumli- lich gesehen zu einem immer weite- der nicht nur die vermeintlich idyl- che Manifestationen Ausdruck aktuel- ren Verwachsen von Stadt und Land: lischen ländlichen Lebensverhältnis- ler Kultur sind. Sie sind dann gültige Es entstehen vor allem in den Boom- se repräsentiert, sondern auch die Zeugnisse von „Landschaft“ und nicht regionen „zwischenstädtische“ Gebil- Realität in der postindustriellen Ge- etwa Landschaftsveränderungen. de (Sieverts), die weder einen eindeu- sellschaft abbildet. Auch deshalb ist 7. Diese alternativen Landschaftsbe- tig städtischen, noch einen klar länd- die Idee der Kulturlandschaft in der griffe haben aber den Nachteil, dass lich definierten Charakter aufweisen. Diskussion. Zu klären ist, ob die Rea- aus ihnen kaum spezifische Krite- 11. Gesellschaftlich gesehen bedeutet die lität unserer gegenwärtigen Vergesell- rien für die Landschaftsgestaltung Auflösung dieser Dichotomie vor al- schaftung durch ein reformiertes tradi- abgeleitet werden können. Denn lem die Ausbreitung einer urbanen tionelles Verständnis von Kulturland- wenn jede Handlung letztlich „Kultur“ Lebensweise auch auf dem Land. schaft abzubilden ist, oder ob ein neu- ist, kann nicht mehr gewertet werden. Denn Urbanität ist kein ausschließ- er Begriff nötig ist. Dieser Landschaftsbegriff wird belie- liches Ergebnis von räumlicher Dich- 3. Landschaftsentwicklung heißt unter big. Es bleibt dann nur die Anerken- te und Mischung mehr, sondern eben- traditioneller Perspektive Entwick- nung der faktisch ablaufenden Land- so ein Lebensstil, der zunehmend lung von Individualität (Eigenart) als nutzung. auch auf dem Land praktiziert wird. Ausdifferenzierung und Vervollkomm- 8. Die Europäische Landschaftskon- Eine Beschreibung der realen Situati- nung der kulturellen und natürlichen vention ist hier präziser: Zwar ist on mit den alten Raumkategorien Möglichkeiten. Daher ist der Begriff nicht vom deutschen Begriff der „Stadt“ und „Land“ erscheint daher der Eigenart an den Begriff der Viel- Eigenart die Rede, wohl aber von unangemessen. Auch aus diesem Grund falt gebunden. In der Vielfalt erweist einem Landschaftscharakter, den es wird ein neuer Landschaftsbegriff ge- sich die Vitalität von Kultur und Natur. in einem gesellschaftlichen Diskurs fordert, der dieser Situation gerecht

2) Arbeitsgruppe I „Verwilderndes Land?“: Thomas Büttner, Dóra Drexler, Tanja Hain, Evelyn Köstler, Ilke Marschall (Redaktion), Kerstin Marten, Harald Menning, Michael Roth, Götz Schmidt, Anja Starick Arbeitsgruppe II: „Wuchernde Stadt“: Andrea Burmester, Ulrike Hesse (Redaktion), Stefan Körner, Nicole Pfoser, Jens Schiller, Markus Schwarzer, Oliver Thaßler, Vera Vicenzotti (Redaktion), Angela Weil Arbeitsgruppe 3: „Moderne Landschaftspolitik“: Peter Bolliger; Dorit Börner; Hubertus von Dressler; Ludger Gailing (Redaktion); Markus Leibenath; Ulrich Mehl; Dieter Schäfer; Rob Schröder; Jörg Steinhoff). Weiter haben Notizen und Anmerkungen hinterlassen: Verona Stillger und Diedrich Bruns.

74 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 S. KÖRNER, I. MARSCHALL, J. PAIN u. N. WIERSBINSKI Thesen zur Kulturlandschaft

werden soll, indem er sowohl unbe- trollierbar wahrgenommen. Weisen Mosaiks (patch dynamics, Mosaik- siedelte Gebiete als auch Siedlungsbe- „wuchernde“ Städte auf die Grenzen Zyklus-Theorie) im Naturschutzdis- reiche mit einschließen und von länd- planerischer Steuerungsmacht hin, be- kurs als Vielfalt fördernd angesehen lich geprägten Ideallandschaften (Ar- stehen in einer auf Wachstum basie- wird, hat sie in der Stadtentwick- kadien) Abschied nehmen soll. renden demokratischen Gesellschaft lungsdiskussion den negativen Beige- 12. Es gibt aber auch gegenläufige Ten- große Unsicherheiten gegenüber dem schmack von Kontrollverlust und be- denzen: In den Ballungszentren er- Rückbau von Siedlungen und der da- liebigem Chaos. Die Anwendung der halten sich ländliche Landschafts- mit einhergehenden Ungleichheit der in der Naturschutzdebatte positiv kon- bilder, in den entsiedelten Regionen Lebensverhältnisse. notierten Begriffe auf fragmentierte kommt es zu neuen Nutzungen. Die 17. Die Überwindung dieser Akzeptanz- städtische Kontexte kann die Chance Nähe zu den Städten lassen semi-land- schwierigkeiten bei Planern, Politi- zu einer neuen Betrachtungs- und Be- wirtschaftliche Nutzungen entstehen, kern und Bevölkerung führt über wertungsweise der urbanisierten Land- schaften eröffnen und damit auch neue wie z.B. die Pferde- und Kleintierhal- ein geändertes gesellschaftliches gestalterische Zugänge fördern. tung oder einen urbanen Gartenbau. Selbstverständnis, das die dynami- schen Prozesse von Wachstum und Die entsiedelten ländlichen Regionen Landschaftspolitik werden wieder attraktiv für die Bio- Schrumpfung als sich gegenseitig masse-/Energieproduktion und wer- bedingende Phänomene anerkennt. 20. Kulturlandschaft hat einen Wert, den u.U. ihren Charakter tief greifend Die Attraktivität städtischen Lebens der auf dem Markt der konkurrie- verändern. verläuft in Wellen; es gibt auf lange renden Interessen noch nicht hinrei- Sicht keinen stabilen Trend. Der Trend chend wahrgenommen wird. Über Wildnis zur Rückkehr in die Innenstadt wird die Produktionsfunktion hinaus erfüllt Landschaft diverse menschliche Be- 13. Natürliche Wildnis (in Form von mit der Sehnsucht der Städter nach dürfnisse, indem sie durch ihren kul- möglichst „ursprünglichen“ Räu- der Provinz konterkariert. Sie ziehen turellen und natürlich bedingten Reich- men als auch von verwilderten Ge- meist jedoch erst dann aus den Städ- tum Identität stiftet und Heimat bildet bieten) ist einerseits als Teil von Kul- ten, wenn sie Kinder bekommen, ver- suchen im Alter aber wegen des Infra- oder Bedürfnissen nach Geborgenheit turlandschaft, d.h. als das symboli- strukturangebots in die Städte zurück- und Freiheit Raum bietet. Zugleich sche Gegenüber von Kultur örtlich zukehren. Die Sehnsucht nach dem bleibt Landschaft genutzter Raum. anzuerkennen. Sie ermöglicht ande- Land bleibt ein im Urlaub oder am Die natürlichen und kulturellen Werte re Naturerlebnisse als die Kulturland- Wochenende ausgelebter Traum, der der Landschaft zu erfassen, zu benen- schaft, denn sie saturiert bei einer ge- die Belastungen des städtischen Le- nen und damit bewusst zu machen – wissen Ausdehnung Bedürfnisse nach bens kompensieren soll. auch damit diese mit den konkurrieren- Freiheit oder dient als Ort der Bewäh- den Interessen des Marktes in einen rung moderner Abenteurer. 18. Fragmentierte, verstädterte Land- schaften werden oft als hässlich an- gesellschaftlichen Wettbewerb treten 14. Die wuchernde Großstadt („architek- gesehen, weil sie dem Idealbild einer können – bleibt eine der zentralen tonische Wildnis“) galt immer als das ländlich-harmonischen Ordnung Aufgaben des Naturschutzes und der Gegenteil des „gesunden“ und iden- nicht entsprechen. Eine charakter- Landschaftsplanung. titätsvollen ländlichen Lebens. Aber volle Landschaft mit Identität muss 21. Es besteht ein Zusammenhang zwi- auch sie ermöglicht spezifische Frei- aber keine schöne Landschaft im schen der charaktervollen Identität heitserfahrungen, die eine lange Tra- Sinne ländlicher Harmonie sein. Das, einer Landschaft und bürgerschaft- dition haben („Stadtluft macht frei“). was die charakteristische Identität ei- lichem Engagement für eine Region. 15. Andererseits verwischen natürliche ner Landschaft oder einer Region aus- Oftmals löst die Bedrohung von Land- und architektonische Verwilderung macht, ist in erster Linie ihre in ihrer schaften oder Landschaftselementen (Brachen und „wuchernde“ Städte) Eigenart zum Ausdruck kommende mit einem typischen, historisch ge- beide auf unterschiedliche Weise hi- (Nutzungs-) Geschichte und ihre na- wachsenen Charakter bürgerschaftli- storische Spuren in der Landschaft. turräumlichen Besonderheiten. Auch ches Engagement aus. Das drohende Es kommt zu einem Verlust land- „geschundene“ Landschaften, also bei- Verschwinden bestimmter charakteri- schaftlicher Charakteristika und von spielsweise industriell genutzte Regio- stischer Merkmale nehmen viele Bür- Lesbarkeit. Sie greifen die traditionel- nen, können als charaktervolle Orte ger als potentiellen Verlust von Heimat le Identität von Kulturlandschaften an. wahrgenommen werden (z.B. Indu- wahr. Voraussetzung für engagiertes Dies kann mit einer zunehmenden strielandschaften im Ruhrgebiet, Ta- Interesse an Gestaltungsprozessen der Gestaltlosigkeit und sinkender Nutz- gebaugebiete in der Niederlausitz). Region ist also eine emotionale Bin- barkeit von Landschaft einhergehen. 19. Die Begriffe des Patchworks und des dung an den Ort, meist bedingt durch 16. Urbane Schrumpfungsprozesse, d.h., Mosaiks sind in Stadtentwicklung eine gewisse Sesshaftigkeit. die Ausbreitung von Brachen in Stadt- einerseits und Naturschutz und Kul- 22. Der Charakter einer Landschaft muss regionen, als auch das flächenhafte turlandschaftsplanung andererseits sich auf erkennbare, gelebte Muster Wachstum von Stadtregionen wer- unterschiedlich konnotiert. Während gründen, andernfalls besteht die Ge- den als unkontrolliert, bzw. unkon- z.B. die Idee des Patchworks oder des fahr, dass er auf ein inhaltsleeres,

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 75 Thesen zur Kulturlandschaft S. KÖRNER, I. MARSCHALL, J. PAIN u. N. WIERSBINSKI

unauthentisches Marketingbild re- planenden Experten wegen ihrer grö- tungen (z.B. in der Biodiversitätspoli- duziert wird. Die Wahrnehmung ei- ßeren, professionell bedingten inneren tik oder im Kulturgutschutz) gewähr- ner Landschaft als charaktervoll kann Distanz Ansätze einer möglichen Iden- leistet und gleichzeitig innovative An- jedoch auch Anstoß zu einer verän- titätsentwicklung eher als große Teile sätze (z.B. zur Partizipation und zur derten ästhetischen Wahrnehmung ge- der Bevölkerung. Es ist ihre Aufgabe, Bewusstseinsbildung) in die Land- ben: Einer vormals als zerstört und gesellschaftlich und kulturell zugkräf- schaftspolitik integriert. hässlich empfundenen Landschaft tige Trends zu erahnen und in Gestal- 30. Eine weiterentwickelte Landschafts- kann, wenn ihr in einem ersten Schritt tungen umzusetzen. Allerdings wird planung, die sich wieder verstärkt eine charakteristische Eigenart zuer- in der Bevölkerung die Arbeit an der dem kulturellen und gestalterischen regionalen Identität als eine Weiterent- kannt wird, in einem zweiten Schritt Diskurs öffnet, kann dabei ein wich- wicklung von Eigenart oft als oktroy- auch ein auf eigentümliche Art an- tiger Partner oder sogar ein Instru- iert abgelehnt. Die damit verbundenen sprechender ästhetischer Reiz zuge- ment der Umsetzung sein. Die in professionellen Landschaftsgestaltun- schrieben werden. ihrem Rahmen gesammelten Erfah- gen widersprechen oft ihrem Verständ- 23. Dies gilt grundsätzlich auch für künf- rungen bieten wichtige Ansatzpunkte nis heimatlicher Landschaft. tige „Energielandschaften“. Einerseits für die Umsetzung von Zielen der können sie als Steigerung der her- 27. Aber gerade in der spannungsvollen ELC. Auch die Europäische Union kömmlichen industrialisierten Land- Auseinandersetzung zwischen den sollte nach Inkrafttreten der Europäi- wirtschaft gesehen werden, anderer- verschiedenen Positionen kann eine schen Landschaftskonvention dem seits können sie auch Kulturlandschaf- Chance liegen, eine Identität der Re- Übereinkommen beitreten (nach Art. ten sein, wenn man ihnen einen spezi- gion entstehen und sich festigen zu 14 ELC), um dem Umsetzungspro- fischen Charakter abtrotzen kann. lassen. Beispiele für ein solches Rin- zess einen weitergehenden Impuls zu gen um eine Identität sind die IBA verschaffen. 24. Daher ist eine neue qualifizierte De- Emscher Park aber auch die Tagebau- batte um die zukünftige Qualität der gebiete in der Niederlausitz der IBA ländlichen Kulturlandschaft einzu- Fürst-Pückler-Land. leiten. Diese ist mit ökonomischen, Anschrift der Verfasser: sozialen und ethischen Auseinander- 28. Die Europäische Landschaftskon- Univ.-Prof. Dr. Stefan Körner setzungen verbunden, die gesellschaft- vention, die derartige Partizipa- Universität Kassel Fachgebiet für Landschaftsbau lich auszutragen sind. tionsprozesse zum Kern hat, liefert wichtige Impulse für eine moderne und Vegetationstechnik Gottschalkstraße 26 25. Derartige Diskussionsprozesse wer- Landschaftspolitik. Ihre Ratifizie- den durch die Europäische Land- 3410 Kassel rung durch die Bundesrepublik [email protected] schaftskonvention gefordert. Daraus Deutschland ist daher geboten. Zu- folgt, dass sektorale Grenzen über- Dr. Ing. Ilke Marschall mindest aber sollten die europäi- Universität Kassel windende und Wertmaßstäbe in der schen Aktivitäten aktiv beobachtet Fachgebiet Landnutzung Bevölkerung und bei den Planern re- werden. Da Landschaftspolitik eine und Landschaftsplanung flektierende landschaftspolitische Dis- Querschnittsaufgabe ist, liegt die Zu- Gottschalkstraße 28 kurse zu fördern sind. Dazu bedarf es 34109 Kassel ständigkeit hierfür durchaus nicht nur [email protected] Bildungs- und Qualifizierungsange- bei der Umweltpolitik, sondern auch bote, weil Diskurse Kenntnisse erfor- Dipl.-Ing. Johannes Pain bei der Raumordnungspolitik in Bund Bayerische Akademie für Natur- dern. Landschaftspolitik ist ebenso Re- und Ländern. schutz flexionsarbeit wie die Schaffung und 29. Es ist im Prozess der Umsetzung der und Landschaftspflege (ANL) Lenkung finanzieller (Förder) Mittel, Seethaler Straße 6 Europäischen Landschaftskonven- um den Menschen auch eine ökono- 83410 Laufen tion darauf zu achten, dass er sich [email protected] mische Perspektive zu bieten. nicht gegen die bewährte Praxis in Dr. Norbert Wiersbinski 26. Bürgerbeteiligungsprozesse sind, Naturschutz und Landschaftspla- Internationale Naturschutz- wenn und weil es um die Gestaltung nung richtet. Die Europäische Land- akademie Insel Vilm der heimatlichen Lebenswelt geht, schaftskonvention sollte vielmehr als Insel Vilm oftmals langwierig und spannungs- „Dach“ verstanden werden, das die 18581 Puttbus [email protected] voll. Partizipation ist kein harmoni- Bewahrung bestehender Regelungen scher Prozess: Vielfach entdecken die zur Erfüllung internationaler Verpflich-

76 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Naturschutzwacht in Bayern

Christoph MUSIK 1) Naturschutzwacht in Bayern – Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung

Spätestens seit bekannt ist, dass die glo- erstens zu begreifen, mit wem man es bei Aufgrund der geringen Fallzahl der Frau- bale Erderwärmung in hohem Maße auf der Aus- und Fortbildung überhaupt zu en in der Stichprobe der Evaluation war es den Menschen und seine Tätigkeiten zu- tun hat und zweitens, wie man die Aus- schwierig, genauere Aussagen über diese rückzuführen ist, sollte jedem bewusst und Fortbildung verbessern und an die zu machen. Gerade aber aus diesem Grund sein, dass Natur und Gesellschaft stark Bedürfnisse der NaturschutzwächterIn- wäre es für weitere Untersuchungen in- zusammenhängen und sich gegenseitig nen anpassen kann. Zu diesem Zwecke teressant, sich näher damit zu beschäfti- beeinflussen. Der Mensch beeinflusst mit wurde in der zweiten Jahreshälfte 2006 gen und vor allem herauszufinden, wie es seinem Handeln die Natur, genauso wie im Rahmen eines Projektpraktikums ei- zu einer weiblichen Minderheit in der Na- die Natur auf das Handeln des Menschen ne Evaluation der Aus- und Fortbildung turschutzwacht überhaupt kommt. Ten- einwirkt, wie es in etwa das Interaktions- der Naturschutzwacht in Bayern durchge- denziell konnte man aber feststellen, dass modell von Sieferle 2) beschreibt. Wenn führt, wobei 123 ehrenamtliche Natur- Frauen eher jünger sind und einen höhe- man einen Blick auf die Diskussion um schutzwächterInnen und die Unteren Na- ren Bildungsabschluss besitzen. den Klimawandel wirft, so wird schnell turschutzbehörden in Bayern befragt wur- Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Eva- deutlich, dass Schutzmaßnahmen vor al- den. Im Folgenden sollen die Ergebnisse luation ist die Altersstruktur der Natur- lem auf der Ebene des technischen Um- dieser Studie dargestellt werden. schutzwächterInnen, welche sich wie in weltschutzes vorzufinden sind, wobei oft Ein wichtiger Bestandteil der Evaluation Abbildung 2 in fünf Kategorien darstellen das menschliche Verhalten in diesem Pro- war die Erfassung von soziodemographi- lässt. zess vernachlässigt wird. Denkt man an schen Daten, welche mehr Aufschluss dar- Naturschutz, so ist man dazu geleitet, an über geben sollten, welche Menschen über- ökologische Zusammenhänge zu denken, haupt NaturschutzwächterInnen sind. Wenn wenn nicht sogar ebenso an technischen man es mit einem Mitglied der Natur- Umweltschutz. Jedoch vergisst man, dass schutzwacht in Bayern zu tun hat, kann gerade im Naturschutz Menschen einen man demzufolge mit hoher Wahrschein- maßgeblichen Anteil einnehmen, welche lichkeit davon ausgehen, dass es sich da- dafür verantwortlich sind, wie Natur- bei um einen circa 60 jährigen Mann han- schutz aussieht und wie er sich vollzieht. delt, welcher entweder berufstätig ist und An diesem Punkt ist es notwendig zu er- die Mittlere Reife als Schulabschluss be- kennen, dass Naturschutz auch ein so- sitzt oder pensioniert ist und einen Pflicht- zialwissenschaftliches Thema sein muss schulabschluss hat. und eine gemeinsame Herangehensweise Die wohl auffälligste Erkenntnis der Eva- zusammen mit naturwissenschaftlichen luation ist das Fehlen von Frauen in der Abbildung 2 Disziplinen angestrebt werden sollte. Naturschutzwacht. Wie Abbildung 1 ver- Der Naturschutz in Bayern kann auf eine deutlicht, ist nicht einmal jedes zehnte Hierbei wird ersichtlich, dass sich ein lange Tradition zurückblicken und ist stark Mitglied der Naturschutzwacht eine Frau. Drittel der NaturschutzwächterInnen im vom ehrenamtlichen Engagement der Na- Alter von 55-64 Jahren eng um den Mit- turschutzwächterInnen geprägt. Binde- telwert von 59 Jahren streut und sowohl glied zwischen dem freiwilligen Ehren- mit zunehmendem, als auch mit abneh- amt und dem professionellen Naturschutz mendem Alter immer weniger Personen ist die Aus- und Fortbildung der bayeri- vorzufinden sind. Die Feststellung, dass 3 schen Naturschutzwacht an der Bayeri- etwa ⁄4 der NaturschutzwächterInnen über schen Akademie für Naturschutz und 50 Jahre alt sind zeigt deutlich auf, dass Landschaftspflege (ANL). Die Qualität viele ältere Personen die Tätigkeit ausü- und die Vermittelbarkeit der Aus- und ben. Hier kann man sich die Frage stellen, Fortbildung stellen eine Basis für eine er- weshalb sich NaturschutzwächterInnen vor folgreiche Naturschutzarbeit in Bayern allem in diesem Alter antreffen lassen und dar, weshalb es unbedingt notwendig ist, Abbildung 1 wie es dazu kommt, dass nicht auch jün-

1) Der Autor Christoph MUSIK ist derzeit (Ende Juni 2007) post-graduierter Student der Soziologie an der Universität Wien. 2) Sieferle, R.P. (1997): Kulturelle Evolution des Gesellschaft-Natur-Verhältnisses. In: Fischer-Kowalski, M. et al. Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur. G+B Verlag Fakultas, , 37-55.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 77 Naturschutzwacht in Bayern Christoph MUSIK gere Personen Interesse am Naturschutz Klar abgelehnt wird allerdings eine Uni- besitzen oder einfach keinen Zugang zu form als mögliche Dienstbekleidung, wel- diesem Feld finden. In der gesamten Stich- che nur für einen extrem kleinen Teil in probe war keine einzige Person dabei, Frage kommen würde, wie in Abbildung welche sich in einer Ausbildung befindet. 4 erkenntlich wird. Eine Jacke oder ein Die NaturschutzwächterInnen befinden Hemd können sich die meisten als Dienst- sich entweder in einem Beschäftigungs- bekleidung vorstellen. Allerdings muss be- verhältnis oder sind PensionistInnen. Wäh- achtet werden, dass für Frauen ein Hemd rend Berufstätige mit Mittlerer Reife die oder eine Kappe als mögliche Dienstbe- größte Gruppe darstellen, sind Pensionist- kleidung weniger sinnvoll sind, da sich ein Innen mit Pflichtschulabschluss die zweit- signifikanter Zusammenhang ergab, dass Abbildung 3 größte Gruppe. Insgesamt 13,6% der be- Frauen diese beiden Utensilien ablehnen. rufstätigen aktiven Naturschutzwächter- Dienstbekleidung zur besseren Erkennung Die Auswertung der Angaben über die Innen sind AkademikerInnen. Hier wäre in der Bevölkerung tragen sollte, um den Zufriedenheit der NaturschutzwächterIn- in der Folge noch genauer zu erheben, Erkennungs- und auch Bekanntheitsgrad nen mit der Ausbildung an der ANL zeig- welche Professionen und Berufe diese der vielen Leuten unbekannten Natur- te, dass nur ein sehr kleiner Teil von 5% Personen haben. schutzwacht zu steigern. Diese Tendenz mit der Ausbildung nicht zufrieden waren, Wie auch im Erwerbsleben kann man bei zur Unbekanntheit könnte sich im Übri- allerdings sprachen sich mehr als doppelt der Ausübung der Naturschutzwachttätig- gen auch in der Selbsteinschätzung der Na- so viele dafür aus, dass sie eher zufrieden keit überlegen, ob es eine Altersgrenze turschutzwächterInnen widerspiegeln, was waren als vollkommen zufrieden. Dies geben sollte, ab welcher man nicht mehr die gesellschaftliche Anerkennung ihrer zeigt, dass es in der Optimierung der aktiv ist. Dies wurde allerdings vom Groß- Tätigkeit anbelangt. Demnach sind nur Ausbildung noch Spielraum nach oben teil der befragten NaturschutzwächterInnen 7,5% der Meinung, dass sie eine hohe gibt. Immerhin geben auch mehr als die abgelehnt, wie Abbildung 3 verdeutlicht. Anerkennung in der Gesellschaft hätten, Hälfte der Unteren Naturschutzbehörden Demnach lehnen 60% eine obere Alters- immerhin 34,2% sehen ihre Tätigkeit als (UNB), welche für die Berufung der Na- grenze strikt ab, 22% sind eher gegen eher hoch anerkannt an. Dennoch sind turschutzwächterInnen zuständig sind, an, eine solche Altersgrenze. Nur 18% der weit mehr als die Hälfte der Naturschutz- dass diese geringe fachliche Defizite hät- Befragten könnten sich eine obere Alters- wächterInnen davon überzeugt, dass ihre ten. Dies kann man auch daran ablesen, grenze eher schon oder klar vorstellen. Arbeit keine gesellschaftliche Anerken- dass sich ein etwas größerer Teil der Na- nung genießt. turschutzwächterInnen für eine Verlänge- Interessant ist in diesem Zusammenhang Was die Frage nach der einheitlichen rung und Intensivierung der Ausbildung sicherlich zu erwähnen, dass die Beant- ausspricht. Dennoch ist der Großteil der wortung dieser Frage nicht mit dem Alter Dienstbekleidung anbelangt, war in der Evaluation Unsicherheit festzustellen, da Meinung, dass sowohl Zeit als auch Inten- der Befragten zusammenhängt. Jüngere sität der Ausbildung genau richtig sind. NaturschutzwächterInnen bis 54 Jahre, der Großteil der Befragten antwortete, welche in nächster Zeit wahrscheinlich dass die Dienstbekleidung eher oder eher Die Aus- und Fortbildung der Naturschutz- nicht von einer Altersgrenze betroffen wä- nicht notwendig sei. Für die unbedingte wacht teilt sich auf mehrere Themenkom- plexe auf, welche alle als Grundlage für ren, sind genauso wie Ältere eher gegen Notwendigkeit einer Dienstbekleidung sprachen sich 17,2% aus, für eine strikte die Tätigkeit im Naturschutz notwendig eine obere Altersgrenze. Ablehnung mit 25,5% ein etwas größerer sind. Allerdings sollte mit der Evaluation In den letzten Jahren wurde von Seiten der Teil. Insgesamt spricht sich eine knappe herausgefunden werden, welche Bereiche Politik immer wieder darüber diskutiert, Mehrheit der NaturschutzwächterInnen intensiviert und welche reduziert werden ob die Naturschutzwacht eine einheitliche gegen eine einheitliche Dienstkleidung aus. sollten. In Abbildung 5 kann man erken-

Abbildung 4 Abbildung 5

78 ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 Christoph MUSIK Naturschutzwacht in Bayern nen, dass vor allem Bedarf an Fortbildungs- wäre weiter zu klären, wieso für viele Per- Daneben stellt sich die Frage, ob es aus- kursen in den Bereichen „Rechtliche Grund- sonen, die weniger als einmal pro Jahr an reichende strukturelle Möglichkeiten und lagen“ des Naturschutzes und „Ökologie“ Fortbildungen teilnehmen, eine Fortbil- Ressourcen gibt, um das Ehrenamt der besteht. Hierbei könnte man sich in der dung einmal im Jahr nicht wahrgenommen Naturschutzwacht und die damit verbun- Folge auch fragen, wieso gerade rechtli- werden kann oder wird. Hier muss auch denen Prozesse wie Aus- und Fortbildung che Grundlagen für den praktischen Na- erwähnt werden, dass die Mehrheit der zu stärken. Hierbei würde man sich von turschutz so wichtig sind oder wieso die- NaturschutzwächterInnen (62%) sogar für politischer Seite wünschen, dass nicht nur se in der Aus- und Fortbildung bisher zu eine Fortbildungspflicht ist und ein gro- gutes Zureden für die Sache im Mittel- wenig Beachtung fanden. ßer Anteil dieser eine Zurücknahme der punkt steht, sondern in erster Linie Inve- Generell nehmen die Naturschutzwächter- Naturschutzwachtberufung bei mangeln- stitionen in die Aus- und Fortbildung, de- Innen die Möglichkeit von Fortbildungen der Fortbildungsbereitschaft für sinnvoll ren Ausweitung und Optimierung und der an der ANL in hohem Maße wahr und sind erachtet. Dabei handelt es sich mit 42,6% damit verbundenen Grundlagenforschung mit dem Angebot an Fortbildungskursen aber doch deutlich nicht um die Hälfte der auf natur-, sozial- und rechtswissenschaft- fast ausschließlich zufrieden. Darüber hin- Befragten. licher Ebene. Eine solche Investition ist aus nehmen fast die Hälfte aller Natur- nicht nur eine Investition in den Natur- Die Bestandsaufnahme der Naturschutz- schutz, sondern vor allem in die Zukunft schutzwächterInnen auch an Fortbildungs- wacht in Bayern zeigt, dass eine bestimm- unserer Gesellschaft mit all ihren Subsy- kursen bei anderen Einrichtungen wie te Gruppe (Männer um die 60 Jahre) als stemen. BUND Naturschutz, LBV, BJV, Berg- und typisch für die Ausübung dieser Tätigkeit Wasserwacht oder regionalen Einrichtun- angesehen werden kann. Einerseits kann gen teil. man sich fragen, ob besonders auf die Allerdings gibt es auch einen nicht zu Bedürfnisse dieser Personen eingegangen vernachlässigenden Teil von Personen, wel- werden soll, um die Arbeit der Natur- che nie oder nur sehr selten an Fortbil- schutzwacht zu optimieren oder ob man Kontaktadresse dungen teilnehmen. Gerade aber für diese für diesen Prozess Veränderungen im Sin- des Verfassers: Personen wäre eine Fortbildung pro Jahr ne einer Steigerung der sozialen Diversi- Christoph Musik tät vornehmen muss, um die Naturschutz- akzeptabel. Dieser Meinung sind insge- e-mail: [email protected] samt 70% aller befragten Naturschutz- wacht für andere Gruppen wie z.B. jün- wächterInnen. In diesem Zusammenhang gere Frauen zugänglicher zu machen.

Die Landtagsabgeordneten Christine Stahl und Ruth Paulig (Bündnis 90/Die Grünen) haben am 14. Juni 2007 im Bayerischen Landtag eine Schriftliche Anfrage zur Naturschutzwacht eingereicht und beim Landtagsamt um Drucklegung in den Landtagsdrucksachen gebeten. Der Fragenkatalog umfasst 8 Fragen, von denen fünf Fra- gen in umfängliche Detailfragen aufgefächert sind, so dass insgesamt 15 Fragen gestellt wurden. Wir werden die Fragen und Antworten, an deren Ausarbeitung behördenintern auch Kollegen der ANL einge- bunden sind, nach erfolgter Veröffentlichung in den Landtagsdrucksachen ebenfalls in einem der nächsten Hefte von ANLIEGEN NATUR zum Abdruck bringen.

ANLIEGEN NATUR 31. Jahrgang/2007 · Heft 1 79 Hinweise für Autoren – Manuskripthinweise

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