Dreigroschenheft Informationen zu

24. Jahrgang Heft 3/2017

Collagen-Ausstellung im Augsburger Brechthaus (Foto) A. Dümling: Von wem stammt die Seeräuber-Jenny? D. Henning über Brechts Satz zu Sidney Hook Wer war der Hausarzt der Familie Brecht? brechtige Bildbände

aus dem Wißner-Verlag

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Anzeige_3GH_Jugendstil-Historismus_170228.indd 1 01.03.2017 15:06:08 Inhalt

Editorial . 2 Stalin Impressum. 2 Brecht und der Stalinismus. 29 Ein Kommentar-Leserbrief zu den Brecht-Tagen Kunst 2017 „‚Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor…‘ – Brecht und die Sowjetunion“ Köppelsbleek: Eine überraschende Florian Vaßen Verbindungslinie von Ernst Jünger zu Sidney Hook reicht Brecht Hut und Mantel. 31 und Bert Brecht . 3 „Je unschuldiger sie sind, desto mehr verdienen Michael Friedrichs sie zu sterben.“ Brecht-Arbeiten von Hanfried Wendland . 6 Dieter Henning Volkmar Häußler Film Theater Die Brecht-Filme von Peter Voigt . 40 Liegen die Wurzeln von Bert Brechts Epischem Erdmut Wizisla Theater im Mittelalter? . 9 Klaus Wolf Hegel „Die Kleinbürgerhochzeit“ in Wies/ Minima Hegeliana Zu Brechts Denkbildern (7) Weststeiermark . 12 Die Ochsen des Pythagoras...... 42 Ernst Scherzer Frank Wagner Unibühne in Colorado zeigt „Arturo Ui“. 30 Der Augsburger Musik Wer war der Hausarzt der Familie Brecht?. 44 Von wem stammt „Die Seeräuber-Jenny“?. 13 Michael Friedrichs Quellen, Rezeption und Reaktionen Albrecht Dümling

Neuere Vertonungen des „Solidaritätslieds“. 28

Dreigroschenheft 3/2017  Editorial Impressum

Ein Ernst-Jünger-Zjtat bei Brecht und Cas- Dreigroschenheft par Neher? Dass das nicht früher entdeckt Informationen zu Bertolt Brecht wurde, lag vermutlich daran, dass das ent- Gegründet 1994 sprechende Aquarell zu „Wagen des Ares“ Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic im Besitz von Barbara Brecht-Schall war, bis www.dreigroschenheft.de die Stadt Augsburg es ankaufte und ausstell- te. Das Zitat auf Ernst Jüngers Buch „Auf Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn den Marmorklippen“ zurückzuführen, ge- Einzelpreis: 7,50 € lang dann der Augsburger Künstlerin Hella Jahresabonnement: 30,- € Buchner-Kopper. Anschrift: Mit Brecht in der Kunst geht es gleich wei- Wißner-Verlag GmbH & Co. KG ter, in Form von Arbeiten von Hanfried Im Tal 12, 86179 Augsburg Wendland, vorgestellt vom unermüdlichen Telefon: 0821-25989-0 Sammler Volkmar Häußler. www.wissner.com [email protected] Der Augsburger Germanist Klaus Wolf [email protected] überrascht mit einer Spurensuche zum Thema Verfremdung im Augsburger Passi- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG onsspiel. Stadtsparkasse Augsburg Der Musikexperte Albrecht Dümling geht Swift-Code: AUGSDE77 der immer noch umstrittenen Frage nach, IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 von wem die entscheidenden musikalischen Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) Einfälle der „Seeräuber-Jenny“ stammen, Brecht oder Weill. Wissenschaftlicher Beirat:Dirk Heißerer, Tom Kuhn, Im Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich können wir die kleine Serie, die von Dieter Autoren in dieser Ausgabe: Albrecht Dümling, Michael Henning in Heft 1/2017 mit Brechts Lenin- Friedrichs, Volkmar Häußler, Dieter Henning, Ernst Scherzer, und in Heft 2 mit seiner Trotzki-Lektüre so- Florian Vaßen, Frank Wagner, Erdmut Wizisla, Klaus Wolf wie mit Berichten von den Berliner Brecht- Tagen gestartet wurde, auch in diesem Heft Titelbild: Neher inszeniert mit Brecht I (Ausschnitt), Collage fortsetzen: mit einem Leserbrief von Flori- von Hella Buchner-Kopper, Foto: Silvio Wyszengrad) an Vaßen sowie einem Artikel von Dieter Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Henning zu dem berüchtigten Brecht-Satz gegenüber dem Amerikaner Sidney Hook, ISSN: 0949-8028 zum Thema Opfer der Moskauer Prozesse: „Je unschuldiger sie sind, desto mehr ver- dienen sie zu sterben.“ Gefördert durch die Hinweise auf die Brecht-Filme von Peter Stadt Augsburg Voigt sowie der vorletzte Beitrag in der Hegel-Serie von Frank Wagner verdienen Gefördert durch den ebensolche Beachtung. ¶ Bert Brecht Kreis Michael Friedrichs Augsburg e.V.

 Dreigroschenheft 3/2017 Köppelsbleek: Eine überraschende Verbindungslinie von Ernst Jünger zu Caspar Neher und Bert Brecht K unst

Michael Friedrichs

Die Augsburger Künstlerin Hella Buchner- Kopper hat auf einem Aquarell von Caspar Neher, das bis vor kurzem in einer Sonder- Ausstellung im Brechthaus zu sehen war (3gh 2/2017, S. 33f), eine verblüffende Ent- deckung gemacht: Auf Caspar Nehers Skiz- zenblatt – Teil eines Zyklus zu einem 1948 zusammen mit Brecht geplanten Theater- stück „Der Wagen des Ares“ – stehen, als Sprechblase für den Kriegsgott Ares, fol- gende Worte:

Als uns der Purpurmantel der Vernichtung bei Köpelsbleek vollständig deckte, da war der Mann schon tot, der zur Erinnerung die Häute der Gefallenen präparierte. Die Sprechblase des Ares mit „Köpelsbleek“ in der Aqua­ „Köpelsbleek“? Frau Buchner-Kopper er- rell-Skizze von Caspar Neher (Ausschnitt; Foto: mf) innerte sich an einen Roman von Ernst Jünger, „Auf den Marmorklippen“, 1939 er- me, u. a. in Goslar, wo Ernst Jünger zeitwei- schienen, immer noch erhältlich. Da spielt se während der NS-Zeit lebte. Tatsächlich „Köppelsbleek“ als düstere Schädelstätte stammt die Benennung von 1933 und be- eine zentrale Rolle. Ob der schwülstig-pa- zeichnet eine Schädelstätte, wie in der amt- thetische Roman eher pro- oder subtil anti- lichen Erläuterung der Straßennamen von Nazi war, wurde viel diskutiert. Frau Buch- Goslar zu lesen ist: ner-Kopper stellte bei erneuter Lektüre fest, dass auch die von Caspar Neher verwendete Beim Köppelsbleek handelt es sich um einen Formulierung „Purpurmantel der Vernich- alten Flurnamen aus dem Jahr 1859, des- tung“ aus Jüngers Buch stammt: sen Gebiet östlich des „Jürgenberges“ lag. Die Straße galt als Verlängerung der Alten Und während ich die Hunde im Rücken Hildesheimer Heerstraße. Wo heute das um hörte, erklomm ich hastig die schroffe Zinne, 1895 vom Oberförster Carl Reuß angelegte von deren Rande unser Auge so oft im hohen Köppelsbleekwäldchen steht, befand sich Rausche die Schönheit der Erde in sich ein- bis dahin noch eine von Goslars sumpfigen getrunken hatte, die ich nun im Purpurman- Müllkippen. Auf der Karte um 1913 hieß tel der Vernichtung sah. (Ausgabe Stuttgart: die Straße noch Am Georgenberg. Erst- Klett, 1960, S. 143) mals taucht der Name Am Köppelsbleek im Adressbuch von 1933 auf. Am 29.06.1961 Damit ist ein eindeutiger Hinweis auf Jün- wurde der Straßenname per Ratsbeschluss gers Buch gegeben. „Köppelsbleek“ allein in „Köppelsbleek“ umbenannt. Die wörtliche wäre nicht zwingend – es ist ein Straßenna- Bedeutung des Wortes „Köppelsbleek“ leitet

Dreigroschenheft 3/2017  sich ab von „Köppel“ = „Kopf“ und „Bleek“

K unst = „bleichen“. Weil dieser Ort einst eine Richtstätte war, an dem im Mittelalter die Menschen hingerichtet wurden und He- xenverbrennungen stattfanden, lässt sich vermuten, dass die bleichenden Schädel damit bezeichnet wurden. Hingerichtete wurden nicht begraben. (https://www. goslar.de/strassenverzeichnis/index. php?id=180)

Ernst Jünger war 1933 für einige Jahre nach Goslar gezogen (Wikipedia, Eintrag Ernst Jünger, Stand 25.4.2017), er hat dem- Bei diesem Typoskript scheint es sich um nach die Umbenennung und Interprettion eine Mitschrift von Brechts Äußerungen in des Straßennamens vermutlich selbst er- einer Diskussion zu handeln, die sicherlich lebt. in Deutschland, nicht in der Schweiz statt- findet, also frühestens Oktober 1948. (Ne- Zu Ernst Jünger gibt es eine Spur bei Brecht, ben den Äußerungen zu Ernst Jünger ver- datiert auf Sommer 1948 (GBA 23, 465), also dient dieser Text vor allem wegen Brechts kurz nach der Zeit, in der Brecht mit Cas in Äußerungen zu den Konzentrationslagern Zürich an einem Stück „Wagen des Ares“ Aufmerksamkeit.) arbeitete (vgl. GBA 10, 1262). Im Dezember 1948 ist Brecht in und notiert seine Soviel ist klar: Brecht kannte das Jünger- Absicht, dieses Stück auf die Bühne zu brin- Buch. In seiner Nachlassbibliothek steht gen; zu einer Weiterarbeit daran ist es aber ein anderer Band: „Ein Inselfrühling“ (Tü- wohl nicht gekommen (Journal 12.12.1948, bingen 1949). Ob es Brecht war, der dem GBA 27, 290). Kriegsgott Ares die Anspielung auf Ernst Jüngers „Marmorklippen“ in den Mund Brechts Auffassungen zu Ernst Jünger und legte, oder Caspar Neher, der während der seinem Buch „Auf den Marmorklippen“ NS-Zeit in Deutschland geblieben war, finden sich in einem Typoskript „Gespräche kann derzeit nicht entschieden werden. mit jungen Intellektuellen“ (GBA 23, 97- 103, 465f), wo der Name Jünger zwar nicht Brechts Entwürfe zu „Der Wagen des Ares“, fällt, aber der Bezug auf ihn und diesen Ro- als Revue geplant, 16 Druckseiten lang, las- man inhaltlich eindeutig und von zynischer sen nur teilweise szenische Zusammenhän- Deutlichkeit ist: ge erkennen. Eine Bezugnahme auf Ernst Jünger ist darin nicht enthalten. […] vielleicht sollte man ihn überhaupt nicht einen Schriftsteller nennen, sondern sagen: er Neuartige Sonderausstellung im Brechthaus wurde beim Schreiben gesehen. […] Wunderbar, daß er jetzt über Steine und Als Frau Buchner-Kopper diese Jünger- Käfer schreibt? Ja, das muß er gedacht haben. Entdeckung machte, war sie gerade dabei, Das ziemt den Offizieren in den langen War- ihre Ausstellung „Die Rückkehr – Collagen, tepausen zwischen den Kriegen, während die Masken und Figuren“ für das Brechthaus unfähigen Regierungen die Nation um die zu konzipieren (eröffnet am 12. Mai, läuft Früchte der militärischen Niederlagen brin- noch bis 30. Juli). Dafür hat sie aktuell das gen. (S. 97–98) Thema Brecht-Neher-Jünger aufgegriffen

 Dreigroschenheft 3/2017 Die Rückkehr. Collagen, Masken

und Figuren von Hella Buchner- K unst Kopper Links: Neher inszeniert mit Brecht I, Collage, 2017, S. 4: Neher inszeniert mit Brecht II, Collage, 2017 Unten: Brecht liest Jünger, Collage, 2017 Zeitungsausschnitte und Kopien, geschnitten, geklebt, überzeichnet und bemalt. © Hella Buchner-Kopper; Fotos: Silvio Wyszengrad und in drei Collagen interpre- tiert (siehe Abbildungen).

Frau Buchner-Kopper würde sich nicht als Brecht-Fan be- zeichnen. Aber als sie in Salz- burg Bühnenbild studierte, wurde Caspar Neher ihr gro- ßes Vorbild. Seitdem hat sie sich immer wieder mit dem Werk von Brecht und Neher auseinandergesetzt, und davon legt die Ausstellung ein deutli- ches Zeugnis ab.

Gezeigt werden 62 Arbeiten. Neben vielfältigen Collagen (einige fügen zu Paula Banholzer, um berühmte Augsbur- sich unauffällig in die Ausstellung ein) fin- ger wie Elias Holl oder Augsburg-Besucher det man Masken aus Leder – Brechtköpfe wie Luther, und um Texte wie die späten in unterschiedlicher Stimmung. Dazu kom- Gedichte mit Augsburg-Bezug. men Figuren, die auf das Thema „Wagen des Ares“ und auf Brechts Rückkehr-Gedicht Ein glücklicher Umstand machte es mög- nach dem Krieg Bezug nehmen. Auch Ma- lich, all diese Dinge in den beengten Räum- rionetten aus einer Augsburger Inszenie- lichkeiten des alten Brechthauses zu zeigen. rung der „Tage der Commune“ (1984) sind Eine der beiden Wohnungen im Dachge- zu sehen. schoss steht derzeit leer; es ist vorgesehen, sie als Künstlerwohnung herzurichten. Das Wichtig ist der Künstlerin, dass man Hu- bot die Chance, eine räumliche Inszenie- mor zulässt in der Interpretation der Aus- rung zu schaffen. So kehrt Brecht als Kunst- stellungsstücke. Es geht vielfach um Rollen- gegenstand für eine Weile in sein Geburts- spiele und Anspielungen, um Zeitgenossen haus zurück. ¶ Brechts, etwa Einstein, Freundschaften wie

Dreigroschenheft 3/2017  Brecht-Arbeiten von Hanfried Wendland K unst Volkmar Häußler

Nach 40 Titeln der Reihe „NeueKleider ein bis zwei Bücher. Seine illustrierten Tex- Drucke“ von Hanfried Wendland erschien te stammen überwiegend von deutschen zur Frankfurter Buchmesse 2016 ein Kata- Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts wie log mit der Vorstellung aller 40 Künstlerbü- Bachmann, Bobrowski, Büchner, Dürren- cher auf 104 Seiten mit 146 Abbildungen matt, Fontane, Kleist, Thomas Mann, Mor- und mit Begleittexten zu jedem Buch von genstern u.a., aber auch Märchen von An- Dr. Peter Höhler, der auch ein Interview mit dersen, den Gebrüdern Grimm, von Hauff dem Künstler führte. Der Katalog erschien und Oscar Wilde, und sogar Passagen aus in 120 Ex. und kostet 25 €, Vorzugsexem- der Bibel gehören zu seinem Spektrum. Die plare mit einer Original-Übermalung 50 €. bevorzugten Techniken sind Holz- und Li- Erhältlich bei Hanfried Wendland, Neue nolschnitt als auch Aquarell. KleiderDrucke, Teltower Str. 11, 14109 Ber- lin. Das Erscheinen seines zweiten Buches zu Brecht liegt inzwischen fast 18 Jahre zurück Der 41. Druck und ist noch lieferbar, sogar zu reduzierten in der Reihe „NeueKleiderDrucke“ erschien Preisen (Normalausgabe 400 €, VA 580 €). ebenfalls zur Frankfurter Buchmesse 2016: Ein Antiquariat verlangt dafür 1950 €, für Bertolt Brecht - Die Ausnahme und die den 41. Druck jetzt schon 1850 €. Regel. Lehrstück. Berlin 2016. 80 Seiten mit 12 Farbholzschnitten (39 x 29,5 cm), davon 14. Druck: zwei zweiseitig. („NeueKleiderDrucke“ erst ab 2000) Ausgabe A: 24 arabisch num. Ex., davon Bertolt Brecht – Legende vom toten Sol- 18 Ex. als Normalausgabe in HLn (580 €), daten. Berlin 1999. 48 Seiten mit 10 Farb- 6 Ex. als VA mit einer Suite aller Graphiken holzschnitten (39 x 30 cm) davon einer (730 €), zweiseitig. 30 arabisch num. Ex. sowie 5 Ausgabe B: 4 römisch num. Ex. mit einer Künstler-Ex. (E.A.), davon Nr. 1–5 als VA Suite aller Graphiken sowie einem Origi- mit einer Suite von neun Grafiken und zwei nal-Druckstock (880 €). zusätzlichen römisch num. Grafiken. Der Der Schuber ist illustriert (Vignette). Schuber ist illustriert Vergriffen ist jedoch Hanfried Wendlands Das ist bereits das dritte Buch zu einem erstes Brechtbuch von 1988, antiquarisch Werk von Bertolt Brecht des 1941 in Lodz nur für knapp 1000 € zu haben. geborenen autodidaktischen Künstlers. Der später in der Westberliner Exklave Stein- 4. Druck: stücken wohnende Hanfried Wendland Bertolt Brecht – Legende von der Entste- absolvierte nach dem Abitur zunächst eine hung des Buches Taoteking auf dem Weg Banklehre und arbeitete nach einem Ju- des Laotse in die Emigration. (Berlin) rastudium als Verwaltungsbeamter beim 1988. Bundeskartellamt. Nachdem er in den acht- 32 Seiten mit 13 Linolschnitten und Col- ziger Jahren damit begonnen hatte, Bücher lagen von Tapetenausrissen (45 x 33 cm). zu illustrieren, erschienen seit 1986 jährlich 23 num. Ex. ¶

 Dreigroschenheft 3/2017 K unst

Zwei Szenen aus „Die Ausnahme und die Regel“: Kuli und Kaufmann mit der Wasserflasche; Gerichtsszene.

Zwei Szenen aus der „Legende vom toten Soldaten“: „ ... Drum tat es dem Kaiser leid / Daß sein Soldat gestorben war“; „Sie malten auf sein Leichenhemd / Die Farben schwarz-weiß-rot“.

Dreigroschenheft 3/2017  K unst

Vier Szenen aus Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigra­ Oben: Sieben Tage schrieben sie zu zweit … tion“. Oben: „Kostbarkeiten zu verzollen?“ … Unten: Rühmen wir nicht nur den Weisen … Unten: Über seine Schulter sah der Alte auf den Mann …

 Dreigroschenheft 3/2017 Liegen die Wurzeln von Bert Brechts Epischem Theater

im Mittelalter? T heater

Klaus Wolf

Dass Bertolt Brecht in vielerlei Hinsicht von ihrer Rolle, wofür etwa die ‚Dreigroschen­ seiner Vaterstadt Augsburg auch literarisch oper‘ hier stehen soll. geprägt wurde, ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Diese Prägung lässt sich sogar in Songbeleuchtung: goldenes Licht. An einer Einzelheiten seiner Stücke nachweisen, wie Stange kommen von oben drei Lampen herun­ beispielsweise in der 1926 uraufgeführten ter, und auf den Tafeln steht: ‚Kleinbürgerhochzeit‘: Kanonen-Song Der Vater: Das ist ein gutes Stück Arbeit. Ich sagte im- I mer, ich gebe auch die Einrichtung. Aber er John war darunter, und Jim war dabei wollte nicht. Das war wie mit Johannes Seg- Und Georgie ist Sergeant geworden müller. Der hatte nämlich … Doch die Armee, sie fragt keinen, wer er sei Und marschierte hinauf nach dem Norden. Die Anspielung erschließt sich jedem Augs- Soldaten wohnen burger sofort, denn es geht um das bekannte Auf den Kanonen Möbelhaus Segmüller mit seiner fast schon […] einhundertjährigen Geschichte. Zeitlich passt die Firmengründung 1925 zur Urauf- Alle drei treten nach vorne und singen bei führung der ‚Kleinbürgerhochzeit‘ im Jahr Songbeleuchtung das I. Finale. Auf den Tafeln 1926, denn 1925 gründete Hans Segmüller, steht: geboren 1901, einen Handwerksbetrieb in Friedberg, der qualitativ hochwertige Pol- I. Dreigroschen-Finale: Über die Unsi- stermöbel fertigt. cherheit menschlicher Verhältnisse

Doch soll es in diesem Beitrag nicht um die Die eben in den Regieanweisungen gefor- Details der Figurenrede gehen, sondern um derten Tafeln erläutert Bert Brecht in seinen etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich die theatertheoretischen Werken: Quellen von Bert Brechts Epischem The- ater. Typisch dafür sind etwa Schrifttafeln Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr oder das Heraustreten der Schauspieler aus fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu den Vorgängen auf der Bühne, in-  Dies spielt auch in der Augsburger Öffentlichkeit dem er auf großen Tafeln gleichzeitige andere eine tragende Rolle. Vgl. dazu etwa Michael Fried­ Vorgänge an andern Orten in die Erinnerung richs: 100 Jahre nach Brechts Horaz-Aufsatz: Ein rief, Aussprüche von Personen durch proji- Wettbewerb an den Augsburger Schulen. In: Drei- zierte Dokumente belegte oder widerlegte, groschenheft 2016, Heft 3, S. 27-28. zu abstrakten Gesprächen sinnlich faßbare,  Zitiert nach Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 3, Frankfurt am Main, Darm-  Bertolt Brecht. Stücke 2, Frankfurt am Main, Berlin, stadt 1967, S. 2717. Weimar 1988, S. 251.  http://www.segmueller.de/unser-unternehmen.  Ebda. S. 261.

Dreigroschenheft 3/2017  konkrete Zahlen lieferte, zu plastischen, aber das uns dar umb werde gar schon in ihrem Sinn undeutlichen Vorgängen Zah- 2170 das fron himelreich zelon.

T heater len und Sätze zur Verfügung stellte – auch sprechend „amen“. wir gand da hin, die Schauspieler vollzogen die Verwandlung das ewig reich sey unser gwin! nicht vollständig, sondern hielten Abstand und singend auch alle sambden zu der von ihnen dargestellten Figur, ja for- gar frölich „Christ ist erstanden“! derten deutlich zur Kritik auf. Die Rede des Proclamators – nur eine von Auch wenn Brecht somit die Besonder- vielen, die immer wieder den Passionsplot heiten seines Epischen Theaters etwa plau- unterbrechen – zeigt deutlich den epischen sibel erklärt, bleibt doch die Frage, ob er Charakter des Augsburger Passionsspiels. diese Neuerungen im 20. Jahrhundert selbst Der Proclamator fungiert als eine Art Mo- erfand. Hierzu gibt Augsburgs großer Dich- derator zwischen Passionshandlung und ter ebenfalls erschöpfende Antwort: Publikum, welches hier direkt als Stadt, Stadtrat und Gemeinde apostrophiert wird. In stilistischer Hinsicht ist das epische Thea- Die Publikumsgemeinde wird so in ihrer ter nichts besonders Neues. Mit seinem Aus- Rezeptionsweise gelenkt, in erster Linie stellungscharakter und seiner Betonung des geht es um compassio, es erfolgt überdies Artistischen ist es dem uralten asiatischen die Aufforderung zum Sprechenamen ( ) Theater verwandt. Lehrhafte Tendenzen und Singen: Mit Christ ist erstanden ist ein zeigte sowohl das mittelalterliche Mysterien- wohl bekanntes altes, deutschsprachiges spiel als auch das klassische spanische und Osterlied genannt, das jeder Augsburger im das Jesuitentheater. Spätmittelalter auswendig singen konnte.

Nimmt man die Hinweise auf das vormo- Das Augsburger Passionsspiel ist aber kei- derne Theater ernst, dann wäre zunächst neswegs das einzige Beispiel für mittelal- ein Blick auf das „mittelalterliche Mysteri- terliches episches Theater, denn auch in der enspiel“ hilfreich. Hierzu bietet sich, dem Heilig-Kreuz-Pfarrei gab es eine Spielbru- genius loci angemessen, ein Blick auf das derschaft, wie eine archivalische Augsbur- Augsburger Passionsspiel an: ger Quelle zum Jahr 1484 festhält:

P r o c l a m a t o r zuo dem volck: so die pfarrleit zuo dem hayligen creutz [...] Nun hört, ir herren groß und clain, uff den tag Corporis Cristi mitt ettlichen ewer yedes mag wol gan hain! figurn, antreffen daß leyden Cristi, zuo an- passions figur hat nun ain end. dacht deß volks dinnende, in der procesß 2160 got uns sein hailgen segen send, umzegon, und daß in die ordnung alß ain das uns sein bitterlicher schmertz fraternität vervasset. nymmer komm auß unserm hertz! die figur sich erhöbet hat zuo lob und er, wer hie da stat,  Zitiert nach: Ulrike Schwarz: Edition und Kom- 2165 auch loblicher statt, raut und gmain. mentar des Augsburger Passionsspiels. Diss. masch. nun helf uns Maria die rain, Augsburg 2015. Erscheint 2018 in der Reihe EDI- TIO BAVARICA (Pustet-Verlag Regensburg), he- das wir ir mitleiden und schmertzen rausgegeben von Klaus Wolf, als Band V. all zeit tragen in unserm hertzen, / f.  Ausführlicher: Klaus Wolf: Theater im mittelalter- 55v ] lichen Augsburg. Ein Beitrag zur schwäbischen Li- teraturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift des Hi-  Bertolt Brecht. Schriften zum Theater 3. 1933-1947, storischen Vereins für Schwaben. Band 101 (2007), Frankfurt am Main 1963, S. 54. S. 35-45. In diesem Aufsatz finden sich auch die  Ebda. S. 64. Belege zu den folgenden Beispielen.

10 Dreigroschenheft 3/2017 Melker Visitatoren rügten in der Mitte des Oberammergau, denn der älteste Oberam- 15. Jahrhunderts gar einen lebhaften The- mergauer Passionsspieltext ist nichts an- aterbetrieb im Benediktinerkloster Sankt deres als eine geschickte Collage des Augs- T heater Ulrich und Afra. Konkret tadelten sie ludos burger Passionsspiels von Johannes Zeller cechas et huiusmodi theatralia. Damit sind und des Passionsspiels aus der Feder des am ehesten Passionsspiele, Spielbruder- Augsburger Meistersingers Sebastian Wild. schaften, welche in Augsburg Zechen - hie Natürlich nahm man es (nicht nur) im Mit- ßen, und andere theatralische Gattungen telalter und in der Frühen Neuzeit mit dem gemeint. Autor des ältesten Augsburger geistigen Eigentum nicht übermäßig genau. Passionsspiels war Johannes Zeller. Über Diese Zusammenhänge bezüglich Textge- ihn heißt es in einer Wiener Quelle zum schichte und Textgenese des Oberammer- Jahr 1431: gauer Passionsspiels sind schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Das Buch Das congregatio facultatis. arium [...] quomodo Oberammergauer Passionsspiel in seiner quidam magister scilicet Johannes Celler de ältesten Gestalt vom Jahr 188011 erschien Augusta in die cene domini, parasceues et in einem renommierten Verlag und war pasce habuisset publice ludos de cena, passio- sicherlich in allen besseren Bibliotheken ne et resurreccione domini in castro ducis. leicht zugänglich. Von daher hätte Brecht seine Kenntnisse zum Mysterienspiel12 un- Die Wiener Artistenfakultät kritisiert nach schwer aus letztlich lokalen Quellen schöp- dieser Quelle die Theateraktivitäten des fen können. Weitere Forschungsanstren- Augsburger Magisters Johannes Zeller, der gungen in dieser Richtung dürften lohnend am Gründonnerstag, Karfreitag und am sein. ¶ Ostersonntag ein Passionsspiel über das Letzte Abendmahl, die Passion Christi und Prof. Dr. Klaus Wolf hat eine Lehrprofessur die Auferstehung des Herren inszeniert hat- für Deutsche Literatur und Sprache des Mit- te. Das Ganze geschah in der Wiener Hof- telalters und der Frühen Neuzeit mit dem burg, die nach neuesten archäologischen Schwerpunkt Bayern an der Uni Augsburg. Untersuchungen um 1430 wie der Tower [email protected] of London aussah. Das Wiener Burgtheater ereignete sich in den Dreißigerjahren des 15. Jahrhunderts somit im Innenhof der Wiener Hofburg.10 Von Wien aus trat der Passionsspieltext des spätmittelalterlichen Augsburger Stückeschreibers seine Thea- 11 Das Oberammergauer Passionssiel in seiner ältesten tertournee nicht nur nach Augsburg, son- Gestalt. Zum ersten Male herausgegeben von August dern auch nach Tirol an, nicht zu vergessen Hartmann, Leipzig, Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel, 1880. – Nach der freundlichen Auskunft von Prof. Dr. Jürgen Hillesheim ist im Privatbesitz 10 Neueste archäologische Rekonstruktionen und wei- Brechts diese Ausgabe bislang leider nicht nachweis- tere Erläuterungen bei: Klaus Wolf: Mittelbairisch bar. – Ostschwäbisch – Mittelbairisch. Oder: Wande- 12 Um episches Theater handelt es sich auch beim rung einer Passionsspieltradition zwischen Wien, Augsburger Drachenstich, dem Augsburger Georgs- Augsburg und Oberammergau. In: Grenzüber- spiel. Dazu: Klaus Wolf: Die Sammelhandschrift 4° schreitungen zwischen Altbayern und Schwaben. Cod H 27 – eine Dramensammlung aus dem spät- Geschichte, Politik und Kunst zu beiden Seiten des mittelalterlichen Augsburg. In: Die Zukunft der Me- Lechs. Festschrift für Wilhelm Liebhart zum 65. Ge- moria. Perspektiven der Staats- und Stadtbibliothek burtstag. Herausgegeben von Markus Würmseher Augsburg nach der Verstaatlichung, herausgegeben und René Brugger. Schnell und Steiner Verlag: Re- von Reinhard Laube unter Mitarbeit von Uta Wolf. gensburg 2016, S. 345–349, mit zwei gesonderten Wißner-Verlag: Augsburg 2016 (= Forum Staats- Abbildungen. und Stadtbibliothek Augsburg 1), S. 147–164.

Dreigroschenheft 3/2017 11 „Die Kleinbürgerhochzeit“ in Wies/Weststeiermark

T heater Bertolt Brechts „neue“ österreichische Adresse Ernst Scherzer

In einer der äußersten Ecken Österreichs, wo die Bundesländer Steiermark und Kärnten an Slowenien grenzen, besteht eine Kulturinitiative, die unter dem Na- men ihrer Spielstätte „Theater im Kürbis“ wenigstens landesweit bekannt wurde. Vor gut zwei Jahren hat sie sich am Zustande- kommen einer wunderbar gelungenen Auf- führung der „Dreigroschenoper“ im grö- ßeren Rahmen beteiligt, jetzt hat sich der damalige Regisseur Karl Posch überlegt, welcher Brecht für den diesmal begrenzten Raum – eine winzige Bühne und Platz für oberflächliche Slapstick-Komödie (was den maximal 70 Zuschauer – infrage käme. Ansprüchen ebenso wenig entgegenkäme). Ein Brecht sollte es auch sein, weil der den Programmverantwortlichen „ein wenig Die Inszenierung durch Karl Posch, der aus der Mode gekommen scheint“, und im auch für das bewusst enge Bühnenbild Bewusstsein, die von ihm „durchschaubar verantwortlich zeichnet, könnte man zwi- gemachten gesellschaftlichen Zusammen- schen diesen beiden Extremen ansiedeln. hänge“ würden „heute wohl mehr denn Wobei sich seine Personenführung durch je gebraucht“ werden. Die Richtigkeit der Witz und genaue Beobachtung (zwischen-) Entscheidung ließ sich wohl nicht zuletzt menschlicher Eigenheiten auszeichnet. Die am Publikumsinteresse ablesen, das sofort Ausstatterin Bettina Dreißiger hüllt alles nach der Premiere Zusatzvorstellungen er- in ein Zuckerlrosa, vielleicht mit ein biss- forderlich machte. chen Augenzwinkern, die Vorgänge durch die Farben der sprichwörtlichen Brille zu Die Frage, ob das Stück auch abendfüllend sehen. sei, stellt sich kaum, ist es doch längst üblich geworden, Texte ungeachtet ihrer Länge auf Neun Rollen sind zu besetzen, und als eineinhalb Stunden Spielzeit zusammen- Typen boten besonders die Frauen Ulrike zustreichen. Diesen Gefallen macht „Die Wonisch (Mutter), Dagmar Lais (Braut), Kleinbürgerhochzeit“ den Regisseuren na- Gudrun Lukas (Schwester) und Melina türlich nicht, weil ihr volles Ausmaß nicht Schuster (Freundin) trefflich gelungene einmal ganz diesen Rahmen ausfüllt; was Charaktere. Sprachlich ein wenig steif ge- freilich kein Grund sein dürfte, sie derart staltete Oskar Ribul seinen Part als Vater selten zu spielen. Immerhin bietet diese der Braut, gekonnt – auch im Spiel auf der verhältnismäßig kleine Arbeit des Stücke- Ziehharmonika – trug Franz Fenninger schreibers eine Bandbreite von Möglich- die Keuschheitsballade, von Hans-Dieter keiten, es auf die Bühne zu stellen: Als ganz Hosalla für die zunächst nur als „Hoch- böse Familientragödie (was wohl weniger zeit“ figurierende Uraufführung kompo- im Sinne Brechts wäre) oder auch als eher niert, vor. ¶

12 Dreigroschenheft 3/2017 Von wem stammt „Die Seeräuber-Jenny“? Quellen, Rezeption und Reaktionen Albrecht Dümling Brecht un d M usik

Brechts legendäre Laxheit in Fragen des gei- ihm beibehalten, ein prinzip, das nicht weill stigen Eigentums hat seinem Ruf geschadet gefunden hat. (ich erzählte ihm, wie ich weill und dazu geführt, dass seine Originalität seinerzeit als busoni- und schrekerschüler auch dort bezweifelt wurde, wo er der ei- antraf, als verfasser atonaler, psychologischer gentliche Urheber war. So stellte der New opern, und ihm takt für takt vorpfiff und vor Yorker Musikkritiker Alex Ross in seinem allem vortrug usw.). Buch „The Rest Is Noise“, einer anregenden Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, Brecht behauptete hier keineswegs, die Me- Brecht als Lügner und Kurt Weill als dessen lodien der „Dreigroschenoper“ selbst ge- Opfer dar. Schon von Beginn an sei der Stü- schrieben zu haben, so dass Weill sie nur ckeschreiber als Rüpel aufgetreten: „Bertolt noch transkribieren musste. Er gab vielmehr Brecht polterte 1927 in Weills Leben.“ Die zu Protokoll, er habe dem Komponisten Dynamik ihrer Zusammenarbeit habe er melodische Ideen vorgepfiffen und vorge- „durch arrogante, selbstsüchtige Lügen ent- sungen. Niemand anderes als Lotte Lenya, stellt“. So hätte Brecht behauptet, „er habe Weills Ehefrau, bestätigte dies. Brecht habe die besten Melodien der Dreigroschenoper ihrem Mann unter Verwendung seiner Gi- und von Mahagonny selbst geschrieben, tarre musikalische Vorschläge gemacht, die und Weill, ein ‚Verfasser atonaler, psycho- sich dieser „mit seinem kleinen, ernsthaften logischer Opern‘, habe sie lediglich tran- Lächeln“ sogleich notierte. Weill habe dem skribiert“. Dem hielt Ross entgegen, „dass Stückeschreiber immer zugehört, er „ging es umgekehrt der Schriftsteller war, der geradezu im Lauschen auf“. Nie habe er sich häufig der Arbeit anderer bediente“. ‚nein‘ gesagt, sondern immer versprochen, Als Quelle führte er das Arbeitsjournal an, er wolle versuchen, Brechts Anregungen in dem Brecht am 16. Oktober 1940 notiert aufzugreifen. Gerade bei der „Dreigro- hatte: schenoper“ sei die Zusammenarbeit über- aus eng gewesen. ein musiker, dem ich die texte zur COURA- GE zum komponieren gab, nebst einigen Ein schlagender Beweis für Weills Orien- anleitungen, machte drei kompositionen, tierung an Brechts Musik-Ideen ist das Lied spielte sie seinen bekannten vor, hörte, er „Die Seeräuber-Jenny“. Im Brecht-Archiv kopiere WEILL, und sprang ab. umsonst, findet sich dazu ein von Franz Servatius daß ich ihm erklärte, nur das prinzip sei von Bruinier aufgezeichnetes Musik-Arrange­ ment, auf dem Brecht nicht nur als Textau-  Der Aufsatz geht zurück auf den Vortrag des Autors tor, sondern auch als Komponist vermerkt „Die Seeräuber-Jenny gab den Ton an. Brechts An- ist. Am meisten verblüfft an dieser- Kom teil an der ‚Dreigroschenoper‘“ am 11. August 2015 beim Brecht-Symposium der Salzburger Festspiele position die Melodie zum Refrain, nimmt sowie auf sein Musikfeuilleton „Startpunkt Seeräu- sie doch den bekannten Refrain Kurt Weills ber-Jenny. , Brecht und Weill“, den das Deutschlandradio Kultur am 26. Dezember 2016  Lotte Lenya, Das waren Zeiten! In: Bertolt Brechts ausstrahlte. Dreigroschenbuch. Texte Materialien Dokumente,  Alex Ross, The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hg. von S. Unseld, Frankfurt/M. 1960, S. 221 f. hören, München 2013, S. 215 f.  BBA 249/55–59.

Dreigroschenheft 3/2017 13 schon vorweg. Trotz der Notation in un- Brechts brauchbare, aber sonst unschein- terschiedlichen Takt- und Tonarten ist bare Idee; es ist Weills Komposition.“ dies eindeutig. Entsprechend schrieb Fritz Hennenberg 1981, Weill habe „den Refrain Obwohl die Refrain-Melodie der „See- der ‚Seeräuber-Jenny‘ getreu in Brechts me- räuber-Jenny“ tatsächlich erst in Weills

Brecht un d M usik lodischer Formulierung übernommen“. Fassung berühmt wurde, ist Brechts mu- Bequem überprüfen ließ sich dies ab 1984 sikalische Idee zum Refrain keineswegs in dem von Hennenberg herausgegebenen „unscheinbar“. Um sie als unscheinbar er- „Brecht-Liederbuch“, das „Die Seeräuber- scheinen zu lassen, verwies Drew auf ähn- Jenny“ in der bekannten Weill-Fassung wie liche Intervalle im Lied „Poljuschko Pole“ auch in der Komposition Bertolt Brechts des Sowjet-Komponisten Lew Knipper, das enthielt. Dazu bemerkte der Herausgeber: Weill 1943 bearbeitet hatte. Da dieses Lied „In seiner späteren Vertonung der ‚Seeräu- aber erst 1933 entstand, mutmaßte Drew: ber-Jenny‘ folgt Kurt Weill nicht nur dem „Unzählige Parallelen könnten zweifellos durch die Deklamation festgeschriebenen in der russischen Folklore vor und ein- Grundgestus, sondern zitiert Brecht im Re- schließlich der Zeit der Oktoberrevolution frain melodisch getreu!“ gefunden werden.“ Demnach hätte Brecht für seinen Refrain zur „Seeräuber-Jenny“ Dem folgend schrieb ich in meinem 1985 lediglich gängige Formeln übernommen. erschienenen Buch über Brecht und die Mu- Ohnehin sei, so Drew, die Refrain-Melodie sik: „Den verblüffenden Refrain, eine der Weill schon vertraut gewesen, denn 1916 berühmtesten melodischen Wendungen, die habe er in einem Lied ähnliche Intervalle Brecht eingefallen sind, hat Kurt Weill 1928 verwendet. Die eigentliche musikalische fast unverändert in die ‚Dreigroschenoper‘ Leistung hätten demnach nicht Brecht und übernommen. Es ist nicht auszuschließen, Bruinier erbracht, sondern einzig und al- daß auch andere Melodien der ‚Dreigro- lein Kurt Weill: „Bruinier war vielleicht der schenoper‘ auf Brecht zurückgehen.“ Die­ erste Musiker, der Brechts ‚Schiff mit acht se Formulierung stieß auf den Zorn des Segeln‘ betrat, aber es war Weill, der es auf Weill-Forschers David Drew. Nachdem er die See hinausnahm und mit donnernden die Vermutung, auch weitere Melodien der Kanonen seinem Ziel entgegensteuerte.“ ‚Dreigroschenoper‘ könnten auf Brecht zu- rückgehen, brüsk einem „quasi-mystischen David Drew nannte Brechts Refrain-Melo- Glauben“ zugeordnet hatte, warf er mir hin- die eine „serviceable but in itself unremark- sichtlich der „Seeräuber-Jenny“ vor, in mei- able idea“. Ist sie aber wirklich nur brauch- ner Begeisterung über Brecht-Bruinier den bar und nicht bemerkenswert? Weill selbst Zugriff auf die Fakten verloren zu haben. hat Brechts Jenny-Lied viel höher einge- „Denn ‚verblüffend‘ und ‚berühmt‘ ist nicht schätzt. Dies wurde der Forschung bekannt, als 1990 ein Buch mit gesammelten Weill- Schriften erschien. Dort findet sich eine von diesem Komponisten verfasste Rezension,  Fritz Hennenberg, Brecht schreibt Lieder. Zu den in welcher er Brechts Jenny-Lied schon kompositorischen Arbeiten und Liededitionen der im Januar 1927 als „vorzüglich“ lobte. Die frühen Jahre. Die Zusammenarbeit mit Franz S. Bru- inier. In: notate. Informations- und Mitteilungsblatt des Brecht-Zentrums der DDR. IV (1981), Nr. 6,  David Drew, Kurt Weill. A Handbook, London 1987, S. 8. S. 203, ähnlich schon bei Drew, How Was Weill’s  Fritz Hennenberg (Hg.), Brecht-Liederbuch, Frank- Success Achieved, in: Kurt Weill Newsletter 4 (1986) furt/M. 1984, S. 376. H. 2, S. 4f.  Albrecht Dümling, Laßt euch nicht verführen.  Kurt Weill in: Der deutsche Rundfunk, 5 (1927), Brecht und die Musik, München 1985, S. 133. Nr. 2, 9. Januar, S. 86. Abgedruckt bei Kurt Weill,

14 Dreigroschenheft 3/2017 kurze Besprechung bezieht sich auf ein „La- ren.13 Günther Bibo, der Verfasser des Sil- rifari“-Kabarettprogramm10, welches der vesterprogramms, wurde 1928 bekannt erste deutsche Radiosender, die Funkstun- als Textautor für die Nelson-Revue „Bitte de Berlin, zu Silvester 1926 ausstrahlte. Der einsteigen!“ mit Josephine Baker, zu der dort für die literarischen Programme und Friedrich Holländer die Musik schrieb.14

Hörspiele zuständige Alfred Braun, später Offenbar konnte aber dieser Komponist Brecht un d M usik als Chefreporter einer der prominentesten für das Larifari-Programm nicht gewonnen Berliner11, hatte das Programm organisiert. werden, weshalb der junge Franz Servatius Bruinier einsprang. Das vorliegende Typo- Eine Tonaufzeichnung ist nicht überliefert. skript, offenbar eine Erstfassung, enthält Im Nachlass Lion Feuchtwangers hat sich neben einem „Song vom Auto“ auch einen aber ein Typoskript erhalten.12 Es ist über- „Song vom Surabaya-Jonny“.15 Der Suraba- schrieben ya-Song, den Brecht im Frühjahr 1926 in das Feuchtwanger-Stück „Kalkutta 4. Mai“ Larifari 1926 eingefügt hatte16, sollte im „Larifari 1926“ Erhörtes und Unerhörtes aus 12 Monaten als Erinnerung an eine Weltreise des ameri- von Günther Bibo. kanischen Onkels gesungen werden. Es ist Mit Beiträgen von Bertolt Brecht und Lion zu vermuten, dass dieser Song gegen das im Feuchtwanger. Typoskript nicht erwähnte Lied „Die See- Musik von Friedrich Holländer. räuber-Jenny“ ausgetauscht wurde.

Den Löwenanteil des Textes spricht ein Mr. Kurt Weill lieferte seit Ende 1924 regelmä- Alltag, der sich zum Jazzrhythmus als ein ßig Beiträge für die Zeitschrift „Der deut- von Frauen bewunderter Autobesitzer vor- sche Rundfunk“. Schon im Mai 1925 hatte stellt: „Kavalier, Dandy, Gent, / Sportsman er dort Brecht erwähnt, als dieser an einem 100 Prozent“. Unterstützt durch „Schwe- Abend der Novembergruppe zwei eigene ster Geschichte“ und „Stimmen der Erin- Werke, eine Ballade und eine Erzählung, nerung“ blickt er auf das vergangene Jahr vortrug.17 Das Gehörte machte den Kom- zurück. Dabei lässt Mr. Alltag auch seinen ponisten neugierig. Im August 1926 regte alten Onkel aus Amerika zu Wort kom- er anlässlich eines Balladenprogramms an, men – vermutlich mit einer der satirischen sich einmal ausführlich mit Brecht zu be- Balladen J. L. Wetcheeks, die ab 1924 als angebliche Übersetzungen aus dem Ame- 13 J.L. Wetcheek war ein Pseudonym für Lion Feucht- rikanischen in den Sonntags-Feuilletons wanger. 1928 brachte er den Band „Pep. J. L. Wet- des „Berliner Tageblatts“ erschienen wa- cheeks amerikanisches Liederbuch“ mit Illustratio- nen von Caspar Neher, Kompositionen von Jaap Kool und einer Widmung an Sinclair Lewis bei Kie- Musik und Theater. Gesammelte Schriften, hgg. von penheuer heraus. Stephen Hinton und Jürgen Schebera, Berlin 1990, 14 Der 1892 in Glogau geborene Günther Bibo ver- S. 241. fasste auch Operettenlibretti. Als Jude floh er nach 10 Nicht zu verwechseln mit dem 1928 gegründetem Frankreich, von wo er nach Auschwitz deportiert „Larifari“-Kabarett Rosa Valettis. wurde. 11 Alfred Braun, Achtung, Achtung, hier ist Berlin! Aus 15 „Song vom Auto“ dort auf S. 6, „Song vom Surabaya- der Geschichte des Deutschen Rundfunks in Berlin Jonny“ S. 7. Bruinier hat beide Gedichte vertont und 1923-1932, Berlin 1968. diese Songs am 28. Februar 1927 mit Lore Braun 12 Feuchtwanger Memorial Library, Box D2, Folder bei einem Abend des Kabaretts MA aufgeführt. 1. Der Verfasser dankt Michaela Ullmann für die Vgl. Joachim Lucchesi / Ronald K. Shull, Musik bei freundliche Bereitstellung. Leider fehlen in dem Brecht, Frankfurt/M. 1988, S. 379f. neunseitigen Typoskript die Lied- und Gedicht-Ein- 16 Vgl. Jan Knopf (Hg.), Brecht-Handbuch Gedichte, lagen, weshalb sich die Beiträge von Feuchtwanger Stuttgart 2001, S. 136-138. und Brecht nicht genau identifizieren lassen. 17 Weill, Musik und Theater (1990), S. 188.

Dreigroschenheft 3/2017 15 schäftigen.18 Vier Monate später stieß Weill Bei der Produktion des Kabarettprogramms in dem erwähnten Silvesterprogramm wie- im hoch über dem Potsdamer Platz gele- der auf diesen Dichter. Brecht hatte zu- genen Studio des Vox-Hauses war Brecht nächst seinen „Song vom Surabaya-Jonny“ vermutlich nicht anwesend. Noch am glei- angeboten, steuerte dann aber das Lied „Die chen Tag schickte er Helene Weigel, der

Brecht un d M usik Seeräuber-Jenny“ bei, das er Carola Neher Mutter des gemeinsamen Sohnes Stefan, anvertraute. Diese junge Schauspielerin einen Neujahrsgruß.22 Seine Mitwirkung war ihm schon 1922 in München aufgefal- bei der Einstudierung des Jenny-Liedes len, wo er sie für eine stumme Rolle im Va- kann dagegen als sicher gelten. Den jungen lentin-Film „Mysterien eines Frisiersalons“ Franz Servatius Bruinier, der als Pianist re- engagierte.19 Als Carola Neher nach Büh- gelmäßig an Programmen der Funkstunde nenerfolgen in Breslau und Frankfurt im beteiligt war, hatte Brecht im November Juni 1926 nach Berlin zog und dort Publi- 1925 im Vox-Haus kennengelernt und so- kum und Presse für sich begeisterte, nahm gleich beauftragt, ihm beim Notenteil seiner Brecht wieder Kontakt zu ihr auf. Dabei „Hauspostille“ zu helfen.23 Für die Druck- dürfte er die Musikalität dieser Schauspie- ausgabe brachte Bruinier Brechts meist nur lerin bemerkt haben, die bei ihrem Vater, provisorisch notierte Melodien in lesbare einem Münchner Musiker, das Klavierspiel Fassungen. Einige Brecht-Gedichte hat er erlernt und auch in dessen Kirchenchor selbst vertont, jedoch in den Notenmanu- mitgesungen hatte.20 Zu Silvester 1926 wur- skripten immer vermerkt, wo er musika- de Carola Neher bei der „Seeräuber-Jenny“ lischer Urheber oder nur Arrangeur war. offenbar von Franz Bruinier am Klavier be- Wenige Tage nach jenem Silvesterabend gleitet, weshalb ihn Weill als Komponisten schuf Bruinier am 10. Januar 1927 in sei- des Liedes bezeichnete. ner Wohnung in Berlin-Steglitz eine eigene Vertonung von Brechts „Erinnerung an die Seine kurze Rezension hat folgenden Wort- Marie A.“.24 Aus welchen Noten er zu Sil- laut: „Das ‚Larifari 1926‘ ließ in flott ge- vester „Die Seeräuber-Jenny“ gespielt hatte, spielten, witzigen Hörbildern Ereignisse ist nicht bekannt. Es muss sich jedoch um des vergangenen Jahres an unserem Ohr eine musikalische Vorlage Brechts gehan- vorbeiziehen. Der Hauptanteil am Gelin- delt haben. Denn als Bruinier am 8. März gen fiel Alfred Braun zu – als Regisseur und 1927 dieses Lied für Altsaxophon, Trompe- Darsteller des ‚Mr. Alltag‘. Ihm zur Seite te, Violine, Banjo und Schlagzeug bearbeite- Helene Weigel als ‚Erinnerung‘, Antonie te, vermerkte er auf dem Notenmanuskript Straßmann als ‚Geschichte‘, Carola Neher, Brecht als Urheber von Text und Musik. Hermann Vallentin, Wolfgang Zilzer und Sein Arrangement entstand kurzfristig für Wilhelm Bendow. Carola Neher trug das eine Plattenaufnahme mit Carola Neher, die vorzügliche Jenny-Lied von Bertolt Brecht schon am folgenden Tag stattfand. 21 in der Vertonung von F. Bruinier vor.“ Nr. 2, 9. Januar, S. 86, zitiert nach Weill, Musik und Theater (1990), S. 241. 22 „Liebe Helli, ich wünsche Dir und mir ein gutes 18 Vgl. David Drew in Kurt Weill, Ausgewählte Schrif- neues Jahr, das heißt gute neue Jahre! […] Du weißt, ten, hgg. von D. Drew, Frankfurt/M. 1975, S. 225. daß ich ungeheuer viel von Dir halte, auch wenn ich 19 Angeblich soll er ihr damals das Engagement an den es selten oder nie sage.“ Zitiert nach „ich lerne: glä- Münchener Kammerspielen verschafft haben (vgl. ser + tassen spülen“. Bertolt Brecht / Helene Weigel Arnolt Bronnen, Tage mit Brecht, 1960, S. 78f.). Briefe 1923-1956, hgg. von E. Wizisla, Frankfurt/M. 20 Carola Neher (1900-1942). Begleitbuch zur Sonder- 2012, S. 44. ausstellung. Deutsches Theater-Museum München, 23 Vgl. F. Hennenberg, Brecht und Bruinier. Nachrich- hgg. von Georg Becker u. Micha Neher, München ten über den ersten Brecht-Komponisten. In: Brecht 2013, S. 18. Yearbook 15 (1990), S. 1-43. 21 Kurt Weill in: Der deutsche Rundfunk, 5 (1927), 24 BBA 249/43-44.

16 Dreigroschenheft 3/2017 Mit der „Seeräuber-Jenny“, die er als „vor- wandte er sich umgehend an den Dichter.29 züglich“ pries, war Weill vermutlich zum Die Initiative dazu ging vom Komponisten ersten Mal auf ein Brecht-Lied gestoßen. aus. Es kann also nicht die Rede davon sein, Neugierig verfolgte er deshalb am 18. März dass Brecht – wie Alex Ross behauptete – die wieder von Alfred Braun betreute Hör- aufdringlich in Weills Leben polterte. Lotte spielfassung des Brecht-Dramas „Mann Lenya zufolge verliefen die ersten Kontakte Brecht un d M usik ist Mann“. Der Stückeschreiber charakte- von Brecht und Weill sogar „äußerst vor- risierte dabei die Hauptfigur Galy Gay als sichtig“.30 Wie der Komponist später berich- Prototyp des neuen Menschen und sang tete, „fand im März 1927 eine Unterredung dann selbst den von ihm komponierten zwischen Brecht und Weill statt, in deren „Mann ist Mann“-Song in der Einrichtung Verlauf Brecht einen ausführlichen Plan Edmund Meisels.25 Nachdem Weill dieses einer Oper entwarf, der bereits die wesent- Drama schon in einem Vorbericht als das lichen Elemente der (Mahagonny-)Oper vielleicht „stärkste und neuartigste The- enthielt“.31 Als Vorstufe zur Oper entstand aterstück unserer Zeit“ bezeichnet hatte, das „Mahagonny-Songspiel“, dessen Hand- fiel seine Rezension der Rundfunksendung lungsverlauf sich aus den fünf Mahagonny- noch enthusiastischer aus: „Ein Dichter, ein Gesängen der „Hauspostille“ ergab. Bei der wirklicher Dichter, hat mit kühnem Griff Uraufführung im Juli 1927 Baden-Baden und mit wundervoller Einfühlungskraft rief der „Alabama-Song“ besondere Begeis- einen wesentlichen Teil aller Sendespielfra- terung hervor. Er beruhte auf einer Melo- gen seiner Lösung entgegengeführt. […] In dievorlage von Brecht.32 der ungewöhnlichen Prägnanz der Form- gebung kündigt sich ein neuer Typ drama- Wie der Plan zur „Mahagonny“-Oper ging tischer Produktion an, der als Niederschlag auch der zur „Dreigroschenoper“ auf Brecht eines neuen Menschentyps Bedeutung ge- zurück. Seine Mitarbeiterin Elisabeth winnt.“26 Hauptmann hatte im Winter 1927/28 John Gays „Beggar’s Opera“ ins Deutsche über- Gleichzeitig stieß Weill auf Brechts eben tragen. Ihre Übersetzung war die Grund- veröffentlichte „Hauspostille“, welche die lage für Brechts Bearbeitung. Die „Beggar’s Gedichte bestimmten Funktionen zuord- Opera“ enthielt nicht weniger als 69 Lieder, nete und um Gebrauchsanleitungen er- die auf populären Balladen wie auch auf gänzte.27 Alle darin enthaltenen Gedichte zeitgenössischen Opernarien basierten. hatte Brecht für lauten Vortrag geschaffen Beide Elemente, die Parodien „hoher“ Mu- und „die Verse zugleich mit der Musik ent- sik wie die Neutextierung bekannter Melo- worfen“. Einige Melodien sind im Notenan- dien, dürften Brecht interessiert haben. Sei- hang enthalten, oft sind es Rollenlieder mit ner Art der theatralischen Verwendung von genau festgelegtem Gestus. Brecht, der Un- Musik kam auch entgegen, dass die Lieder terricht im Geigenspiel und Musiktheorie nicht unmittelbar Teil der Handlung waren, bekommen hatte, hat viele seiner Gedichte selbst zur Gitarre vorgetragen. Mündliche ing: The Meaning of Oral Tradition for Bert Brecht, Traditionen waren ihm ebenso wichtig wie in: J. M. McGlathery (Hg.), Music and German Lit- die Schriftform.28 Da dies Weill faszinierte, erature. Their Relationship since the Middle Ages, Camden House Columbia SC 1992, S. 316-26. 29 Offenbar fand dieses Treffen am 24. März 1927 statt. 25 Weill, Ausgewählte Schriften (1975) S. 225. Brechts Vgl. Sprich leise wenn Du Liebe sagst. Der Brief- Komposition ist abgedruckt bei Hennenberg 1984, wechsel Kurt Weill / Lotte Lenya, hgg. von Lys Sym- S. 28-31. onette u. Kim Kowalke, Köln 1998, S. 61. 26 Weill, Ausgewählte Schriften (1975), S. 176. 30 Sprich leise wenn Du Liebe sagst, S. 60. 27 Dümling 1985, S. 85f. 31 Zitiert nach Dümling 1985, S. 143. 28 Vgl. A. Dümling, Hearing, Speaking, Singing, Writ- 32 Dümling 1985, S. 131 u. 147f.

Dreigroschenheft 3/2017 17 sondern Kommentare des Autors John Gay, Schließlich war die Textvorlage so weit ge- der in der Rolle eines Bettlers auftrat. Die diehen, dass Brecht und Weill am 26. April Trennung von Spiel und gesungenem Kom- einen Gesellschaftsvertrag über die - Be mentar behielt Brecht ebenso bei wie die arbeitung von Gays „Beggar’s Opera“ ab- Grundzüge der Handlung. Während es in schließen konnten. Da das neue Stück kei-

Brecht un d M usik der englischen Vorlage nur einen einzigen ne Oper, sondern ein Schauspiel mit Musik Bettler gegeben hatte, brachte er in der sein sollte, wurde der Vertrag nicht mit „Dreigroschenoper“ mehrere Bettler als einem Musikverlag, sondern mit dem Ber- Träger der Handlung auf die Bühne. Brecht liner Bühnenverlag Felix Bloch Erben ge- strich die meisten Lieder und fügte statt- schlossen. Entsprechend sollte Brecht den dessen Balladen von François Villon und Löwenanteil, nämlich 62 % der Tantiemen, bereits existierende eigene Lieder ein. Dies erhalten, Weill 25 und Elisabeth Haupt- waren der „Kanonen-Song“, der „Barbara- mann 12 %. Für Weill, der weiterhin an der Song“ sowie – „Die Seeräuber-Jenny“. Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Maha- gonny“ arbeitete, bedeutete es lediglich eine Dem Schauspieler Erwin Faber zufolge ließ Nebenarbeit, „eine Art Bühnenmusik“. Brecht seine Gay-Bearbeitung zuerst dem Deutschen Theater Max Reinhardts anbie- Brechts „Seeräuber-Jenny“ ten. Dort blieb das Manuskript allerdings liegen.33 Brecht fühlte sich deshalb dieser Im Lied von der Seeräuber-Jenny flossen Bühne nicht mehr verpflichtet und erwähnte viele Erfahrungen Brechts zusammen. In seine Bearbeitung gegenüber Ernst Josef seinem eigenen Puppentheater hatte er Aufricht, als dieser im Frühjahr 1928 nach Szenen aus Richard Wagners „Fliegendem einer attraktiven Novität zur Eröffnung sei- Holländer“ gespielt, in welcher eine Frau nes Theaters am Schiffbauerdamm suchte. namens Senta das rettende Schiff erwartet.36 Aufricht war von dem Stück begeistert. Den Angeregt durch Arthur Rimbauds „trun- von Brecht empfohlenen Kurt Weill kannte kenes Schiff“ („Bateau Ivre“) und durch Er- er allerdings nur als Komponisten der Büh- zählungen Rudyard Kiplings schrieb Brecht nenwerke „Der Zar läßt sich fotografieren“ 1918 seine „Ballade von den Seeräubern“, und „Der Protagonist“, die er für „zu ato- welche diese gesellschaftlichen Außensei- nal“ hielt. Sicherheitshalber beauftragte er ter verherrlichte. Hanns Otto Münsterer deshalb Theo Mackeben, sich die barocke zufolge stützte er sich beim Lied von der Originalmusik zu besorgen.34 Von hier lei- Seeräuber-Jenny auch auf Geschichten tete sich wohl Brechts nicht ganz korrekte vom Räuberhauptmann Fetzer, die er von Angabe her, Weill habe vor der Begegnung einem Küchenmädchen bekommen hatte.37 mit ihm „atonal“ komponiert.35 Eine weitere Quelle ist das Libretto einer Oper „Prärie“, das Brecht 1919 nach der Hamsun-Novelle „Zachäus“ entwarf; darin 33 Dümling 1985, S. 177. findet sich eine (männliche) Figur namens 34 Ernst Josef Aufricht, Erzähle, damit du dein Recht Polly, außerdem die Zerstörung der Stadt erweist. Aufzeichnungen eines Berliner Theaterdi- San Francisco, „die rührende Anekdote rektors, München 1969, S. 56f. von dem armen Dienstmädchen“ und „Ge- 35 Einen Beleg für die damals ungenaue Verwendung des Begriffs „atonal“ liefert das Nachwort zur- No schichten von Schiffen, deren Segel man tenausgabe der ‚Dreigroschenoper‘ in der Ullstein- Reihe „Musik für Alle“, wo es heißt: „Der Kompo- 36 Werner Frisch/K.W. Obermeier, Brecht in Augsburg, nist der Dreigroschenoper ist Kurt Weill. Indem die Frankfurt/M. 1976, 51f. ‚Musik für Alle‘ einige der von ihm geschaffenen 37 Hanns Otto Münsterer, Bert Brecht. Erinnerungen Nummern wiedergibt, führt sie zum ersten Mal in aus den Jahren 1917-1922, Berlin u. Weimar 1977, das Gebiet der sogenannten atonalen Musik.“ S. 41f.

18 Dreigroschenheft 3/2017 Brecht un d M usik

Abb. 1: Brechts Melodie zur „Seeräuber-Jenny“, notiert von Franz Servatius Bruinier (BBA 249/59)

Dreigroschenheft 3/2017 19 delt von einer Frau, die kalt und herzlos sein möchte.

Das reimlose Gedicht

Brecht un d M usik von der Seeräuber-Jenny ist in drei Teile geteilt. Im ersten Abschnitt, be- stehend aus fünf Zeilen, beschreibt das Küchen- mädchen seinen prosa- ischen Arbeitstag: „Meine Herren, heute sehen Sie Abb. 2: Brechts Refrain-Melodie, aus: Dümling, Lasst euch nicht verführen, mich Gläser abwaschen S. 133 und ich mache das Bett für jeden“. Im zweiten gebläht sah“.38 Es folgte im Februar 1921 Teil, bestehend aus vier Zeilen, trägt Jenny sein Drehbuch zu einem Piratenfilm „See- ihre Vision vor: „Aber eines Abends wird räuber“.39 ein Geschrei sein am Hafen“. Sie erwähnt dann die beunruhigten Fragen der Mitbe- Brecht war also schon lange mit Stoff-Ele- wohner. Nur noch drei kurze Zeilen umfasst menten befasst, die dann in die „Seeräuber- der Schlussrefrain „Und ein Schiff mit acht Jenny“ eingingen. Während in der „Ballade Segeln“. Die stufenweise Verkürzung der von den Seeräubern“ das Schiff auf ein Riff drei Abschnitte bedeutet eine Verdichtung läuft und untergeht, erobern hier Piraten und zugleich den Übergang von alltäglicher eine ganze Stadt. Sie zerstören diese und Nüchternheit ins Visionär-Ekstatische. töten die Einwohner. Jenny, ein armes Ab- waschmädchen, darf über Leben und Tod Bruinier hat die Melodie zur „Seeräuber- entscheiden. Der kapitalistischen Legende Jenny“ nach Brechts Angaben notiert. des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Milli- Während er sonst auf allen Blättern seines onär stellte Brecht damit eine anarchistische Arrangements rechts oben vermerkt hatte Alternative entgegen. Die gefühllose Härte, „Text u. Musik von Bert Brecht“, fehlt dieser welche dieses Abwaschmädchen zeigt, hat- Hinweis auf dem Melodie-Blatt. Brecht hat te er im Freundeskreis oft demonstrativ an deshalb seinen Namen auf dem hier erst- den Tag gelegt.40 Auch der auf dem gleichen mals veröffentlichten Notenblatt42 hand- Notenblatt notierte „Barbara-Song“41 han- schriftlich ergänzt.

38 Dümling 1985, S. 108, sowie Jan Knopf (Hg.), Brecht-Handbuch Bd. 1, Stücke, Stuttgart u. Weimar Wie das Gedicht ist auch die Melodie deut- 2001, S. 111f. lich in drei Teile geteilt, erkennbar an den 39 B. Brecht, Tagebücher 1920-1922. Autobiographi- Doppelstrichen sowie den wechselnden sche Aufzeichnungen 1920-1954, Berlin u. Weimar Tempi. Der erste Abschnitt ist ein rezitati- 1976, S. 70. visches Psalmodieren in e-moll. Der zweite 40 Münsterer 1977, S. 101. Vgl. die psychoanalytische Deutung des Gedichts bei Carl Pietzcker, Wut hinter Teil (piu mosso) ist schneller zu singen; er Gittern. Brechts Seeräuber-Jenny, in: Wolfram Mau- wechselt nach E-Dur und damit zugleich ser (Hg.), Phantasie und Deutung: Psychologisches von der tiefen zur mittleren Stimmlage. Verstehen von Literatur und Film, Würzburg 1986, S. 224-238. 41 BBA 249/60, abgedruckt bei Hennenberg 1984, S. 42 BBA 249/59, abgedruckt mit freundlicher Genehmi- 32-35. gung des Bertolt-Brecht-Archivs.

20 Dreigroschenheft 3/2017 Opernhaft ariose Züge besitzt dagegen der Brecht opernhaft ariosen Gesang. Obwohl triumphierende Schlussrefrain in cis-moll. er zeitweise mit der Opernsängerin Ma- rianne Zoff verheiratet war, stand er dieser In diesem mit „maestoso“ bezeichneten kulinarischen Musikform mit gemischten Schlussteil wird die Melodie emphatisch Gefühlen gegenüber. Er hatte Angst vor gedehnt und erreicht das zweigestrichene e. der inneren Erhitzung, in die er beim Di- Brecht un d M usik Zu diesem höchsten Ton des ganzen Liedes rigieren der „Tristan“-Partitur oder beim gehört das Wort „Schiff“, von dem das Ab- Hören der „Matthäus-Passion“ verfiel. Dem waschmädchen sich die Rettung erwartet. schwärmerischen Espressivo, das er auch im „Alabama-Song“ einsetzte, stellte er Dieses Notenblatt stellt den frühesten Melo- deshalb nüchterne Rezitative gegenüber. Da dieentwurf Brechts dar und war vermutlich auch für ihn selbst diese innere Spannung die Vorlage für den gemeinsamen Auftritt zwischen Härte und Sentiment galt, ließ er Carola Nehers mit Franz Servatius Bruinier sich in der „Hauspostille“ als Wasser-Feuer- bei der Silvesterrevue. Mensch abbilden.

Danach wurde die Melodie leicht verändert, Weills „Seeräuber-Jenny“ wie der Violinstimme von Bruiniers Arran- gement zu entnehmen ist.43 Über dem er- Kurt Weill hatte Brechts Jenny-Lied zu Sil- sten Teil steht nun die Tempobezeichnung vester 1926 im Radio gehört. Durch meh- „Songtempo“, über dem zweiten Teil nach rere Faktoren war er auf diese Begegnung einem vorangehenden Ritardando und ei- vorbereitet, etwa durch die Aufführung von ner ganztaktigen Pause „A tempo“, während Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ im beim Refrain diesmal die Tempobezeich- Bauhaus Weimar, die er 1923 gemeinsam nung fehlt. Die Sängerin beginnt erst im mit dem Lehrer Ferruccio Busoni besucht zweiten Takt. Neu eingefügt in den ersten hatte. Den Weg der stilistischen Vereinfa- Teil ist nun das gesprochene „und Sie wis- chung begann Weill 1925 mit der Kantate sen nicht, mit wem Sie reden“, das danach „Der neue Orpheus“. Eine neue Welt eröff- gesungen wird. Der Refrain ist melodisch nete sich für ihn ein Jahr später durch die unverändert, verwendet aber am Schluss Ehe mit der Tänzerin Lotte Lenya. Wiede- („liegen am Kai“) kürzere Notenwerte. rum ein Jahr später erhielt der Komponist Ende April 1928 Brechts Gay-Bearbeitung. Diese Fassung vom 8. März 1927 unter- Zu diesem Manuskript gehörte auch das scheidet sich von der ersten Melodie-Auf- „Lied von der Seeräuberjenny“, das ihn so zeichnung vor allem durch die eingefügten beeindruckt hatte. Wenn im ersten Akt Polly Sprechteile. Wie in den Balladen der „Haus- Peachum den Gangster Mackie Messer hei- postille“ ist der Wechsel von Singen und ratet, trägt sie dieses Lied zur Unterhaltung Sprechen typisch für Brecht.44 Der psalmo- der Gäste vor. Mitte Mai 1928 fuhren Brecht dierende Vortrag wurzelte bei ihm nicht und Weill mit ihren Frauen an die südfran- nur im kirchlichen Psalmodieren, sondern zösische Riviera, um dort unter Zeitdruck auch in den Moritaten- oder Bänkelsän- an dem neuen Stück zu arbeiten, war doch gern der Jahrmärkte. Seltener verwendete die Premiere schon für den 31. August vor- gesehen. Brecht und Lotte Lenya zufolge 43 Die Violinstimme BBA 249/57 wurde bei Michael hat er dem Komponisten während der Ar- Morley, ‚New Tunes for Old‘: Brecht, Weill and the beit seine Lieder vorgesungen. So war es language of music in four unpublished songs, in: schon zuvor beim „Mahagonny-Songspiel“ German Life and Letters, Oxford, 35 (1981/82), S. 246 erstmals im Faksimile veröffentlicht. geschehen. War es da verwunderlich, dass 44 Dümling 1985, S. 91. sich Weill auch bei diesem neuen Stück

Dreigroschenheft 3/2017 21 Brecht un d M usik Abb. 3: Aus Puccinis „Madame Butterfly“ (Partitur S. 338)

wieder an Brechts Gestus und dessen Me- Brecht gab es den auftaktigen Sextsprung, lodiefragmenten orientierte? Das „Lied gefolgt vom zweifachen Quintfall und von der Seeräuber-Jenny“ bildete dabei den schließlich bei den Worten „liegen am Kai“ Ausgangspunkt. dem stufenweisen Abstieg zum Grundton, dem dann der offene Schluss in der domi- Der 1990 erschienene Band der Gesammel- nantischen Quinte folgt. ten Schriften Kurt Weills enthält nach dem Abdruck seiner Rezension des Larifari-Pro- Zweifellos wurde die rohe Melodievorlage gramms die redaktionelle Anmerkung, bei Brechts durch Weill verfeinert. Einfaches dem erwähnten Jenny-Lied handele es sich und Raffiniertes verband er außerdem auf um „Die Seeräuber-Jenny“, deren Text in die der Ebene des Rhythmus und der Harmo- „Dreigroschenoper“ aufgenommen wurde. nik. Und viel schlüssiger als in Brechts Vor- Dann folgt ein erstaunlicher Satz: „Ob Weill lage geht in seiner Version der Refrain aus sich von Bruiniers Vertonung beeinflussen den Strophen hervor, weil dessen Melodie ließ, ist umstritten.“45 Erstaunlich ist zwei- dort schon vorbereitet wurde. 46 erlei: Die Rede ist hier von Bruiniers Ver- tonung, obwohl 1990 längst bekannt war, Reaktionen der Weill-Forschung dass Bruinier Brechts Lied nur arrangiert hatte. Ebenso verblüfft die Aussage, es sei Der scharfe Ton, den Drew in seinem Weill- umstritten, ob Brechts Jenny-Lied Weills Handbuch gegenüber einigen Brecht-For- spätere Komposition beeinflusst habe. Was schern anschlug, war nicht unbemerkt kann angesichts der Faktenlage noch zwei- geblieben.47 Der Musikwissenschaftler Ste- felhaft sein? phen Hinton reagierte milder. Im Hand- buch zur „Dreigroschenoper“ und ebenso Wie Brechts Melodie beginnt auch Weills in dem von ihm betreuten Noten-Band der Vertonung in einer Molltonart (c-moll) und Weill-Edition wollte er immerhin nicht aus- übernimmt die dreiteilige Gliederung des schließen, dass dem Komponisten Brechts freirhythmischen Gedichts. Auch in seiner Melodie noch durch den Kopf ging, als er Version ist der erste Fünfzeiler ein rezitati- selbst die „Seeräuber-Jenny“ vertonte. Je- vischer Gesang zwischen Sprechen und Sin- doch übernahm er von Drew das Urteil, gen, gefolgt von dem Vierzeiler, der in eine Brechts Melodie sei „unremarkable“ und andere harmonische Region wechselt, und auch dessen Hinweis auf melodische Ähn- schließlich dem emphatisch gesungenen lichkeiten in frühen Weill-Liedern.48 Refrain. Hier, bei der Beschwörung des Schiffes, verbreitert auch Weill das Tempo 46 Vgl. zur Analyse von Weills Komposition Dümling und übernimmt fast wörtlich Brechts Me- 1985, S. 188 ff. lodie. Trotz der unterschiedlichen Noten- 47 Christopher Hailey sprach in seiner Rezension von werte und der Tonart h-moll statt cis-moll Drews „manchmal streitlustigem Ton“ (disputatious ist die Ähnlichkeit offensichtlich. Schon bei tone) gegenüber Brecht-Apologeten. In: Kurt Weill Newsletter Bd. 6, Heft 2 (Herbst 1988), S. 19. 48 Stephen Hinton, Sources and genesis of ‘Die 45 Kurt Weill, Musik und Theater (1990), S. 241. Dreigroschenoper’, in: Hinton (Hg.), Kurt Weill: The

22 Dreigroschenheft 3/2017 Als Indiz, wie spekulativ die Identifikation solcher Über- nahmen sei, zitierte Hinton den Musikforscher Wolfgang Ruf. Dieser hatte in Puccinis

„Madame Butterfly“ eine Me- Brecht un d M usik lodie entdeckt, die angeblich dem Refrain zur „Seeräuber- jenny“ ähnelt.49 Brecht hat diese Puccini-Oper gekannt; im Oktober 1921 erlebte er sie in Wiesbaden mit Marian- ne Zoff in der Hauptrolle. Es gibt tatsächlich melodische Bezüge zur „Butterfly“-Oper in seinem „Barbara-Song“, worauf wohl erstmals Eric Bentley 1967 hinwies.50 Stoff- liche Verwandtschaften las- sen sich zur gleichzeitig ent- standenen „Seeräuber-Jenny“ nachweisen. Im 2. Akt der Puccini-Oper ertönt vom Ha- fen her ein Kanonenschuss, der die Ankunft eines Kriegs- schiffs ankündigt. Die japa- nische Geisha Butterfly, die von einem amerikanischen Marineoffizier ein Kind hat, wartet schon lange auf des- sen versprochene Rückkehr. Nach dem Kanonenschuss nimmt sie erregt ein Fernglas in die Hand, um den Namen des Schiffs zu entziffern. Zu- erst kann sie ihn nicht lesen, erkennt dann aber das Schiff des Geliebten und ruft freu- Abb. 4: Notenbeispiele im Cambridge Opera Handbook “Kurt Weill: The dig: „Eccolo: ABRAMO LIN- Threepenny Opera”, S. 39 COLN!“ (Siehst Du wohl: Ab- raham Lincoln!). Leider sind die musikalischen Ähnlich- keiten zum Refrain der „Seeräuber-Jenny“ Threepenny Opera, Cambridge Opera Handbooks, Cambridge 1990, S. 37-40. viel weniger überzeugend als die inhalt- 49 Wolfgang Ruf, Modernes Musiktheater: Studien zu lichen Parallelen. Zwar gibt es auch in Pucci- seiner Geschichte und Typologie, unpublizierte Ha- nis Melodie den Auftakt zu einem betonten bilitationsschrift Universität Freiburg 1983, S. 192. Spitzenton. Dieser wird jedoch durch einen 50 Bertolt Brecht, Die Hauspostille/Manual of Piety, hgg. von Eric Bentley, New York 1967. Ein Vergleich Quint- und nicht einen Sextsprung erreicht mit Notenbeispielen in Dümling 1985, S. 132. und nur kurz ausgehalten. Erst nach einer

Dreigroschenheft 3/2017 23 weiteren Pause folgt eine ganz andersartige Weill. Brecht zufolge aber hatte sich die Kantilene. musikalische Ähnlichkeit zwischen Parmet und Weill aus dem gemeinsamen „Prin- Wesentlicher als Spekulationen über ande- zip“ ergeben, das nicht von Weill stamme. re mögliche musikalische Quellen Brechts Mit diesem „Prinzip“ ist wohl das gestische

Brecht un d M usik und Weills ist die Tatsache, dass Kurt Weill Prinzip gemeint, dass sich schon in Brechts Brechts Melodie schon zu Silvester 1926 frühesten Kompositionen findet52 und das kennenlernte. Angesichts der zahlreichen er dann gemeinsam mit Weill praktisch musikalischen Parallelen zu seiner eigenen und theoretisch weiterentwickelt hat. 1929 Komposition ist davon auszugehen, dass er veröffentlichte Weill den Aufsatz „Über den nicht nur das Gedicht meinte, als er in sei- gestischen Charakter der Musik“.53 Daran ner Rezension Brechts Jenny-Lied als „vor- knüpfte Brecht 1935 in seinem Essay „Über züglich“ pries.51 die Verwendung von Musik für ein episches Theater“ an, auf den er wiederum im Ok- Stephen Hinton hat in seinem „Dreigro- tober 1940 im Arbeitsjournal zurückgriff. schenoper“-Buch die Refrain-Melodien Ausdrücklich sprach er 1935 anlässlich Brechts und Weills untereinander abge- „Mann ist Mann“ vom „Kunstcharakter druckt und so den direkten Vergleich er- (Selbstwert)“ von Weills Musik, der seiner möglicht. eigenen Musik noch gefehlt habe.54

Obwohl Brechts Melodie meinem Buch Wenn Weill 1927 in seiner Rezension entnommen wurde, findet sich auch unter Brechts Jenny-Lied „vorzüglich“ nannte, diesem Notenbeispiel ein Copyright-Ver- hatte er wohl vor allem dessen gestischen merk Kurt Weills. Diese irrtümlich falsche Charakter gemeint. Den musikalischen Zuordnung illustriert noch einmal die Tat- Einfluss Brechts hat er dagegen auch in an- sache, dass Weill seine musikalische In- deren Fällen heruntergespielt. So behaupte- spiration durch Brecht nur ungern zugab. te er, dessen Melodie zum „Alabama-Song“ Allerdings hat der Dichter bei diesem Lied sei „nicht mehr als eine Aufzeichnung des Weill gegenüber, anders als gegenüber Bru- Sprachrhythmus und als Musik überhaupt inier, nicht auf seiner musikalischen Mit- nicht zu verwenden“.55 Tatsächlich hat aber autorschaft bestanden. In den hektischen der Komponist aus Brechts Melodie nicht Tagen der „Dreigroschenoper“-Premiere nur den Sprachrhythmus, sondern auch die gab es andere Prioritäten. Brecht hat aber Grundstruktur übernommen.56 Leider hat die Kurt Weill zu verdankende Qualitäts- sich Weills Abwertung von Brechts musi- steigerung der Musik durchaus erkannt und kalischem Einfluss bei einigen Weill-For- anerkannt. schern fortgesetzt.

Kehren wir zurück zu Brechts Arbeitsjour- Die Interpreten nal-Eintragung vom 16. Oktober 1940. Den Stückeschreiber hatte geärgert, dass Be- Fritz Hennenberg zufolge steht und fällt die kannte des finnischen Komponisten Simon Parmet ihm den Vorwurf machten, er ko- 52 Vgl. Morley 1981/1982, S. 242 sowie A. Dümling 1992. piere in seinen „Mutter Courage“-Liedern 53 Weill, Über den gestischen Charakter der Musik, in: Ausgewählte Schriften, S. 40-45. 51 Obwohl Hinton auf die erste Präsentation des Jen- 54 Brecht, Über die Verwendung von Musik für ein epi- ny-Liedes bei der Silvesterrevue 1926 hingewiesen sches Theater, GW Bd. 15, S. 472. hatte, datiert die Chronologie auf S. 1 in Series IV, 55 Weill, Über den gestischen Charakter der Musik, S. Vol. 1, der Kurt Weill Edition dessen Entstehung auf 44. März 1927. 56 Dümling 1985, S. 148.

24 Dreigroschenheft 3/2017 Absicht des Songs „Die Seeräuberjenny“ mit der Interpretation. „Die Aggressivität des Textes steht zu der eher leichtfertigen Mu- sik im Widerspruch. Der Gesang sollte sich eng an den in den Noten fixierten Gestus 57 halten.“ Diesen Gestus, den Carola Neher Brecht un d M usik und Lotte Lenya vorbildlich umsetzten, hat- te nicht Weill, sondern Brecht gefunden. Er hatte ihn schon Carola Neher vorgeführt, als diese ihre Interpretation für das „La- rifari 1926“ vorbereitete und dann für die Schallplatte aufnahm. Nehers Aufnahme vom 9. März 1927 mit dem musikalischen Arrangement Bruiniers, eine Probe-Auf- nahme der Firma Electrola, blieb unveröf- fentlicht. Sie hat sich aber glücklicherweise in der Sammlung Friedrich Carthaser (Ber- Carola Neher als Polly 1929 (Foto: Sammlung Becker) lin) erhalten und wurde 2002 im Hörbuch „Die Entstehungsgeschichte der Dreigro- „Seeräuber-Jenny“ uraufgeführt hatte, schenoper“ veröffentlicht.58 sollte in der „Dreigroschenoper“ als Pol- ly Peachum wieder dieses Lied vortragen. Hört man diese frühe Aufnahme, fällt die Sie musste im Sommer 1928 aber die The- Ähnlichkeit mit der bekannten Komposi- aterproben abbrechen, als ihr Mann, der tion von Kurt Weill sofort auf. Allerdings Dichter Klabund, schwer erkrankte und am trägt Carola Neher die erste Strophe spre- 14. August starb. Er wurde ein Opfer der chend vor und geht erst allmählich zum Tuberkulose wie zwei Wochen zuvor schon Singen über. Von Beginn an fühlt sich Jenny der erst 23jährige Franz Servatius Bruinier. den Herren überlegen, erkennbar an ihrem Angesichts der herannahenden Premiere kurzen spöttischen Lachen nach den Wor- setzte Carola Neher schon am 18. August ten „und ich bedanke mich schnell“. Nach die Proben zur „Dreigroschenoper“ fort. einem Gong-Schlag folgt die zweite Strophe. Am 20. August wirkte sie mit bei den Auf- Diese wechselt wie von Brecht gewünscht zu nahmen für eine Electrola-Schallplatte, die einem etwas schnelleren Tempo in E-Dur einen musikalischen Querschnitt des neuen und wird – mit Ausnahme der Schlußfrage Bühnenwerks bieten sollte. Selbstverständ- „Was lächelt die dabei?“ – mehr gesungen lich gehörte auch das Lied der Seeräuber- als gesprochen. So dürfte Brecht es der Ne- Jenny dazu, jetzt aber in Weills Musikfas- her vorgemacht haben. Die brisante vierte sung.59 Strophe fehlt in dieser Aufnahme. Statt- dessen erklingt schon die dritte Strophe im Trotz des schnelleren Tempos und obwohl langsameren Trauermarschtempo. Carola Neher hier mehr singt als spricht, ist die Verwandtschaft der neuen Aufnah- Carola Neher, die zu Silvester 1926 Brechts me mit der früheren vom März 1927 un­ überhörbar. Eindeutig übernahm Weill aus 57 Fritz Hennenberg, „Roter Terror“ im Chansonton. Brechts Vorlage Gliederung, Gestus und In: Jan Knopf (Hg.), Interpretationen. Gedichte von Bertolt Brecht, Stuttgart 1995, S. 54 ff. 59 Kurt Weill: Seeräuber-Jenny mit Carola Neher, 58 Brecht-Bruinier: Seeräuber-Jenny mit Carola Neher, Arthur Schröder und die Dreigroschenband, Auf- Probe-Aufnahme vom 9. März 1927. Duo-Phon 07 nahme vom 20. August 1928 (Electrola E.H. 301), 02 3. Capriccio 10 346.

Dreigroschenheft 3/2017 25 fast wörtlich die Refrain-Melodie. In dieser die beste Interpretin Brechtscher Texte und kurz vor der Premiere entstandenen Auf- Songs von Kurt Weill.“61 nahme ist „Die Seeräuber-Jenny“ allerdings auf zwei Strophen verkürzt. So folgt auf die Nach dem Abgang Carola Nehers im Som- erste Strophe gleich die Schlussstrophe. mer 1928 war es zu einem Streit zwischen

Brecht un d M usik Weill verlangsamte sie wie schon Brecht- der Plattenfirma Electrola und den Autoren Bruinier, wobei er jedoch dem Trauer- Brecht und Weill gekommen. Sie verkauf- marsch schärfere Akzente gab. ten daraufhin die Tonnutzungsrechte für die „Dreigroschenoper“ an die Firma Ul- Nur wenige Tage nach dieser Plattenauf- traphon. Als Carola Neher endlich als Polly nahme musste Carola Neher wegen eines mitwirkte, fand mit ihr im Mai 1929 erneut Nervenzusammenbruchs ins Krankenhaus. eine Schallplatten-Aufnahme statt.62 Auf Brecht war entsetzt über den Ausfall seiner einer preiswerten Platte des Orchestrola- Hauptdarstellerin unmittelbar vor der Pre- Labels singt sie „Barbara-Song“ und „See- miere und schrieb ihr eine Grabrede: räuber-Jenny“. Wieder erstaunt der Gegen- satz zwischen ihrer zerbrechlichen Sopran- Grabrede für C N stimme und der bedrohlichen Botschaft. In Wir begraben hier die größte deutsche mehreren Details weicht diese Interpretati- Schauspielerin C N, gestorben 23 Jahre alt, on von Weills Notentext ab. Überraschend das Strahlendste, was wir gehabt haben. orientierte sich die Schauspielerin wieder Viele, die sie gesehen haben, hatten vorher stärker an ihrer Aufnahme der Brecht-Brui­ nicht gewusst, dass der Mensch sich so leicht nier-Version vom März 1927. Den ersten bewegen könnte. Vor wenigen Jahren, als sie Teil der Strophe spricht sie und geht erst im die Bühne betrat, konnte diese Frau nicht zweiten Teil zum Singen über. Brechts Me- auf der Bühne, nicht auf der Straße gehen, lodieversion wirkt auch nach, wenn sie den hatte sie keine Stimme und vermochte sie Refrain dehnt wie Brecht in seiner Fassung. nicht zu sprechen. Sie hat es gelernt durch Und wie schon bei Brecht-Bruinier endet Willenskraft. Mit weniger Anstrengung und auch Weills Komposition mit einem dump- geringerem Nutzen können Weltreiche er- fen Gongschlag. obert werden. Und alle diese Anstrengung, Eignung und Plan für diese Wenige Zeit! Das Die Seeräuber-Jenny: Plattenaufnahmen mit Schicksal ist wahnsinnig.60 Carola Neher Um die Premiere zu retten, sprang Roma 1) 9. März 1927: Das Lied der Seeräuber- Bahn ein. Erst ab Mai 1929 bei der Wie- Jenny (Musik: B. Brecht, arr. F.S. Bruinier), deraufnahme der „Dreigroschenoper“ war Carola Neher mit Ensemble, Electrola test. Carola Neher endlich als Polly Peachum zu Dauer: 3:10 (3 Strophen) erleben. Der Produzent Ernst Josef Aufricht schwärmte: „Sie war die Idealbesetzung für 2) 20. August 1928: Die Seeräuber-Jen- die Rolle, eine Sumpfblüte unter dem Mond ny (Musik: Kurt Weill), Carola Neher mit von Soho. Das flächige, regelmäßige Gesicht Arthur Schröder und Dreigroschenband, mit der Katzennase konnte ebenso lustig Electrola E.H. 301. Dauer: 2:17 (2 Stro- wie traurig sein. Sie war neben Lotte Lenya phen)

60 Zitiert nach Carola Neher (1900-1942). Begleitbuch zur Sonderausstellung, S. 15. Mit der Behauptung, 61 Aufricht 1969, S. 57. die Schauspielerin habe nicht sprechen können, be- 62 Kurt Weill: Seeräuber-Jenny mit Carola Neher u. zog sich Brecht auf einen Sprachfehler, den sie durch Orchester, Aufnahme vom Mai 1929 (Orchestrola eisernes Training überwand. 2132), Capriccio 10 346.

26 Dreigroschenheft 3/2017 3) Mai 1929: Die Ballade von der Seeräu- der musikalischen Alleinautorschaft Kurt ber-Jenny (Musik: Kurt Weill), Carola Ne- Weills. her mit Orchester, Orchestrola 2132. Dau- er: 2:50 (3 Strophen) Während seine Gattin mit diesem Brecht- Weill-Lied in den USA solche Erfolge ge- Die Folgen noss, befand sich Carola Neher, die erste Brecht un d M usik Interpretin dieser Ballade, in einem sowje- Unter Brechts Einfluss gab Carola Neher ih- tischen Arbeitslager. Sie war 1934 in die ren mondänen Lebensstil auf und begann, Sowjetunion emigriert, wo Brecht sie im mit der Sowjetunion zu sympathisieren. nächsten Frühjahr traf. 1936 wurde Carola In den Bühnenwerken „Happy End“ und Neher im Zuge des Stalin-Terrors verhaftet „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. spielte sie die Hauptrollen, die Brecht bzw. 1942 starb sie dort an Typhus.67 Ihr Bild Elisabeth Hauptmann für sie geschrieben hatte Brecht ursprünglich für das Titelblatt hatten. Nach der Machtübergabe an die seines „Dreigroschenromans“ verwenden Nationalsozialisten durfte ab 1933 keines wollen. Eine zweite Grabrede hat er ihr dieser Dramen in Deutschland mehr aufge- nach 1942 nicht mehr gewidmet. führt werden. Ihre Autoren flohen ins Exil, wo „Die Seeräuber-Jenny“ zum Glanzstück Das für Carola Neher geschriebene Lied Lotte Lenyas wurde. Obwohl Carola Neher der Seeräuber-Jenny hatte einst den Ton 1930 auch im „Dreigroschenoper“-Film die angegeben. Es gab in seinem Gegensatz von Polly verkörperte, hatte die Lenya merk- rezitierendem Bänkelgesang und opern- würdigerweise dieses Lied singen dürfen.63 hafter Emphase ein musikalisches Grund- Wie sie im April 1938 aus New York ihrem prinzip der „Dreigroschenoper“ vor. Kein Mann nach Hollywood schrieb, wurden von anderes Lied artikulierte außerdem so ve- ihr immer wieder vier Lieder verlangt: Bar- hement die Wut der Unterdrückten gegen bara-Song, Surabaya-Jonny, Seeräuber-Jen- die Bürgerwelt. Ernst Bloch hat diese Jenny ny und Bilbao-Song.64 Es handelte sich um als eine Mischung aus Senta, Hexe, Para- Brecht-Lieder, zu denen der Dichter eigene diesschlange, Feministin und Revolutionä- melodische Entwürfe geliefert hatte. Stolz rin bezeichnet. Gemäß der revolutionären berichtete Lotte Lenya ihrem Mann vom Logik des Stückes hätte eigentlich ihr Kerl Beifall Marlene Dietrichs.65 Vielleicht auch am Schluss kommen und die Stadt beschie- deshalb, weil die Frau des Komponisten ßen müssen.68 Brecht, der anders als Weill69 immer wieder mit der „Seeräuber-Jenny“ sein ganzes Schaffen als work-in-progress identifiziert wurde66, beharrt die Weill-For- begriff, hat eine solche revolutionäre Lo- schung ebenso streng wie ungerecht auf gik der „Dreigroschenoper“ erst allmählich entdeckt und umzusetzen versucht. Auch

63 Ernst Bloch hatte seinen schon im März 1929 veröf- fentlichten Essay zur „Seeräuber-Jenny“ Kurt Weill 67 Vgl. Reinhard Müller u.a. (Hg.), Carola Neher, ge- und Lotte Lenya und nicht Carola Neher gewidmet. feiert auf der Bühne, gestorben im Gulag. Kontexte Ernst Bloch, Lied der Seeräuber-Jenny in der Drei- eines Jahrhundertschicksals, Berlin 2016. Bei den groschenoper, in: D. Drew (Hg.), Über Kurt Weill, Berliner Brecht-Tagen 2017 wurde kontrovers dis- Frankfurt/M. 1975, S. 44-48. kutiert, ob Brecht sich genügend für die Schauspie- 64 Sprich leise wenn Du Liebe sagst, S. 257. lerin eingesetzt hat. 65 Ibid., S. 259. Vgl. auch S. 262 u. 265. 68 Ernst Bloch, Lied der Seeräuber-Jenny, S. 48. 66 Vgl. Donald Spoto, Die Seeräuber-Jenny: das beweg- 69 Weill, der Brechts Umarbeitung und politische Radi- te Leben der Lotte Lenya, Droemer Knaur, München kalisierung der „Dreigroschenoper“ nicht wünschte, 1990, sowie Pamela Katz, Die Seeräuberin. Ein Lot- hat seine Musik nach der Fertigstellung im Septem- te-Lenya-Roman, Berlin 2001. ber 1928 nicht mehr geändert (Hinton 1990, S. 34).

Dreigroschenheft 3/2017 27 darin war sein Lied von der Seeräuber-Jen- der International Brecht Society und Mit- ny wegweisend. glied im Beirat der Weill-Edition, durfte dies schreiben, ohne dass David Drew ihn Wegweisend wurde dieses Lied ebenso für rügte, den Blick für die Fakten verloren zu Bob Dylan, der es 1962 mit Lotte Lenya er- haben. Nach den vorliegenden Informa-

Brecht un d M usik lebte. Ihn faszinierte neben der Wiederho- tionen ist wohl kaum noch strittig, dass lung des Refrains der ganze Gestus, den er Weill bei diesem Brecht-Lied, das er so früh in Songs wie „The answer is blowing in the entdeckte, entscheidende musikalische An- wind“ oder „The times are a-changing“ auf- regungen vom Textautor erhielt. „Die See- griff.70 Der Inhalt der „Seeräuber-Jenny“ in- räuber-Jenny“ geht textlich wie musikalisch spirierte den dänischen Regisseur Lars von auf Brecht zurück. Aber es war Kurt Weill, Trier zu seinem Film „Dogville“ (2003), in der diesem Lied zu größerer, ja weltweiter dem sich eine misshandelte Frau an ihren Wirkung verhalf. ¶ Nachbarn rächt.

Erst kürzlich stieß der Autor auf Micha- el Morleys bereits 1982 veröffentlichten Neuere Vertonungen des Beitrag über frühe Lieder von Brecht und „Solidaritätslieds“ Weill.71 Nach genauer Betrachtung der Mappe 249 im Brecht-Archiv war dieser In den Eisler-Mitteilungen 63 (April 2017, australische Brecht- und Weill-Forscher S. 20-24) schreibt Carolin Sibilak (vgl. 3gh hinsichtlich des „Alabama-Songs“ zum Er- 4/2016, S. 25 zu ihrem Vortrag bei der IBS- gebnis gekommen, dass „Brechts Rolle bei Tagung in Oxford) über zwei neuere Ver- der Notation der Melodie bedeutsamer war tonungen des „Solidaritätslieds“: von Jeffer­ als Weill ihm zugestehen wollte“.72 Über son Airplane 1989 und von der Augsburger die Melodie zur „Seeräuber-Jenny“ schrieb Band Misuk 2012 (vgl. 3gh 2/2012, S. 46). Morley, wesentlich für ihre eindringlich Zusammenfassend merkt sie kritisch an: gespenstische und bedrohliche Stimmung sei der Wechsel von den drängenden Stac- Der typisch Brecht‘sche Moment, in dem cato-Vierteln und Achteln der Strophen der Text den Zuhörer zum Denken auffor- zum lyrisch fließenden Refrain mit seinen dert, von ihm verlangt, selbst eine Antwort weiträumigen Intervallen. „Aber es ist eben zu geben, aktiv zu werden, zu handeln, und diese Struktur von Spannung und Ent- gleichzeitig suggeriert, dass das Ziel der „So- spannung, der Gegensatz von Bewegung lidarität“ noch nicht erreicht ist, mit anderen und nachhallender Stille, der sich schon Worten, der letzte Funke Angewandter Mu- in Brechts ursprünglicher Komposition sik ertrinkt in einem gängigen Schema der findet.“73 Angesichts der melodischen Be- Popmusik. gabung, für die Weill so gerühmt wurde, überrasche es umso mehr, „dass der Re- Dennoch hätten aber die Bands dem Text frain, den man so lange für eine von Weills Brechts durch die Neuvertonungen „einen inspiriertesten Eingebungen hielt, nun als Dienst erwiesen“, denn das Solidaritätslied ganz eigene Schöpfung Brechts erscheint“. dürfe nicht nur „als historisches Relikt ei- Michael Morley, mehrere Jahre Präsident ner abgeschlossenen Epoche“ gesehen wer- den. – Das Musikvideo von Misuk steht auf 70 Vgl. Alex Ross 2013, S. 220. Stofflich verwandt ist Youtube, und die fröhlich gepfiffene Intro auch der Dylan-Song „When the ship comes in“. setzt sich zumindest in meinem Ohr nach- 71 Michael Morley 1981/82, S. 241-252. 72 Ib., S. 243f. haltig fest. Mehr zu Misuk unter 73 Ib., S. 250. http://misuk-musik.de/temp/ (mf) ¶

28 Dreigroschenheft 3/2017 Brecht und der Stalinismus S talin Ein Kommentar-Leserbrief zu den Brecht-Tagen 2017 „‚Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor…‘ – Brecht und die Sowjetunion“ Florian Vaßen

100 Jahre nach der Oktoberrevolution bietet von „Hier stehe ich und kann nicht anders“. das Jahr 2017 einen willkommenen Anlass, Dazu muss man gar nicht zwischen Gesin- um über die Ereignisse damals in Russland nungsethik und Verantwortungsethik (Max und ihre aktuelle Relevanz nachzudenken. Weber) unterscheiden. Brechts Interesse an den revolutionären Er- eignissen und den historischen Akteuren (2) In gleichem Atemzug Brechts Produk- hat in vielerlei Hinsicht seine theoretische tionsbegriff als ökonomistisch zu diffamie- und praktische Arbeit beeinflusst. Bezüge ren, zeugt von noch größerer Ignoranz. etwa zu Lenin (siehe z. B. Dreigroschenheft Brecht betont: „Produktion muß natürlich 1/2017) und Trotzki (siehe z. B. Dreigro­ im weitesten Sinn genommen werden, und schenheft 2/2017) sind dabei nicht zu über- der Kampf gilt der Befreiung der Produk- sehen. Besonders widersprüchlich aber ist tion aller Menschen von allen Fesseln. Die Brechts Verhältnis zu Stalin und dem Stali- Produkte können sein Brot, Lampen, Hüte, nismus (siehe z. B. Dreigroschenheft1/2014), Musikstücke, Schachzüge, Wässerung, und so stand dieses Thema auch erneut im Teint, Charakter, Spiele usw. usw.“ (GBA 26, Zentrum der Vorträge und Diskussionen bei 468) Was hat Produktion hier mit einem re- den Brecht-Tagen 2017, über die Christian duktionistischen Ökonomie-Begriff zu tun? Hippe und Michael Friedrichs ausführlich Gerade das Gegenteil trifft zu, und deshalb in Dreigroschenheft 2/2017 berichtet ha- nennt Brecht die Vertreter des Sozialis- ben. Ein kritischer Blick auf das seit langem tischen Realismus auch „Feinde der Pro- kontrovers diskutierte Thema ist durchaus duktion“: „Die Produktion ist ihnen nicht angebracht, aber Pöbeleien und einfache geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist Verurteilungen helfen bei der Analyse eben­ das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was so wenig weiter wie vorschnelle Rechtfer- bei ihr herauskommt. Und sie selber wol- tigungen und Entschuldigungen; beides len nicht produzieren“ (Walter Benjamin: trat bedauerlicherweise vereinzelt während Tagebuchnotizen 1938). Wer mehr dazu zweier Abendveranstaltungen auf. erfahren will, lese nach bei Gerd Koch: Von Brechts Me-Ti ausgehend. Gedanken zum (1) Brecht war bekanntlich gegen jegliches Produzieren, zur Produktion. In: Milena Heldentum – „Unglücklich das Land, das Massalongo u.a. (Hg.): Brecht gebrauchen. Helden nötig hat“, heißt es etwa in Leben Theater und Lehrstück – Texte und Metho­ des Galilei (Sz. 13). Die Haltung der „List“ den, Berlin u.a.: Schibri 2016, S. 83-91. als moralisch verwerflich zu diskreditieren, wie es Hans Christoph Buch vehement an (3) Wie B.K. Tragelehn in der Diskussion einem der Abende der Brecht-Tage machte, am zweiten Abend der Brecht-Tage deutlich ist jedoch unsinnig. Keuner und Me-ti oder hervorhob: Die Gesamtsituation darf nicht die Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben aus dem Blick geraten, Arbeitermonarchie der Wahrheit und sogar das Verhalten des und Neo-Zarismus oder, wie Brecht formu- Jungen Genossen am Tisch des Händlers liert, „das persönliche Regiment“ (Benja- in der Maßnahme zeigen die Begrenztheit min 1938) stehen in scharfem Kontrast zu

Dreigroschenheft 3/2017 29 jeglicher Form von Räten, und doch heißt es Sicherlich nicht zufällig wurden gerade in

S talin Sowjet-Union. Berücksichtigt man die poli- Brechts Gedichten zu Stalin, jedenfalls in tischen Verhältnisse, Brechts Exil-Situation, den literarisch besseren, die Ambivalenzen seine Flucht vor den Nazis und seine Ge- in der Auseinandersetzung mit Stalin be- fährdung, ja seine Angst als Trotzkist denun- sonders pointiert sichtbar und ästhetisch ziert zu werden (siehe Henning in: Dreigro­ erfahrbar, z. B. in der Charakterisierung schenheft 2/2017), sein unsicheres Leben als Stalins als: „Der verdiente Mörder des Privatperson und Schriftsteller, dann kann Volkes.“ (GBA 15, 300) Es ist offensichtlich: es keine vorschnellen Antworten geben auf An den drei Abenden der Brecht-Tage, die die Frage, ob Brecht sich angesichts des Sta- sich auf literarische Texte konzentrierten, linismus richtig verhalten hat. Vermutlich wurden Schwarz-Weiß-Denken und Beur- ist schon die Frage nach der ‚richtigenʻ Hal- teilungen à la richtig und falsch weitgehend tung falsch. Eine moralische Verurteilung, vermieden! wie sie auch Wolfgang Thierse formulierte, ist unangemessen, Zwiespalt und Unklar- Wer dialektische Widersprüche und nicht heit, Vorsicht und selbst Opportunismus aufzulösende Paradoxa auf eindimensio- sind erklärbar und sogar verständlich. nale Lösungen reduziert, wird weder der Brechts zögerlicher „Skeptizismus“ (Benja- Person Brecht noch seinen Texten gerecht, min 1938) ist nicht überraschend, und vor er glaubt einfach nur Recht zu haben und allem: Diese Haltung macht aus seinen Tex- hat ein gutes Gewissen! Außerdem liefert ten keine ‚schlechteʻ Literatur. Schriftsteller er Scheinargumente etwa für FDP-Politi- sind keine besseren Menschen, und Mutter ker, die sich weigern, eine neu gegründete Courage und ihre Kinder bleibt in jedem Fall Gesamtschule in Seelze bei Hannover nach ein wichtiges Antikriegsstück und zugleich dem „Stalinisten“ Bertolt Brecht zu benen- ein experimenteller Theatertext. Gibt es am nen (siehe E&W 3/2017). ¶ Faust etwas auszusetzen, weil Goethe ein „Knecht des Feudaladels“ war und angeb- Prof. Dr. Florian Vaßen lich zwangsrekrutierte Bauern in den Krieg Leibniz Universität Hannover schickte, oder weil er sich gegen die Franzö- [email protected] sische Revolution stellte und Jakob Micha- el Reinhold Lenz und Heinrich von Kleist gnadenlos ablehnte und ausgrenzte?

Unibühne in Colorado zeigt „Arturo Ui“ Brechts „The Resistible Rise of Arturo Ui“ heraus (Regie Walt Jones, den Ui spielte Zack Rickert). Die Inszenierung wurde vom American College Theatre Festival sehr po- sitiv beurteilt: „Die Inszenierung fokussiert kompromisslos auf den historischen Hin- tergrund, wie vom Stückschreiber vorge- schrieben, aber zugleich bietet die entschie- dene Authentizität der Inszenierung eine Reflexion auf die heutige Zeit, die einen frö- steln lässt.“ (nach: http://theatre.colostate. Das Theater der Colorado State Universi- edu/news/csu-theatre-given-high-marks/; ty brachte kürzlich eine Inszenierung von Foto: Colorado State University)

30 Dreigroschenheft 3/2017 Sidney Hook reicht Brecht Hut und Mantel S talin „Je unschuldiger sie sind, desto mehr verdienen sie zu sterben.“

Dieter Henning

1 Die Geschichte des Vorfalls streckten Urteile danach. Brecht war zwi- Die Geschichte wird in mehreren Büchern schen dem 7.10.1935 und dem 16.2.1936 in erzählt. Sie gehört zu Brechts Blick auf die den USA, genauer in New York; zuvor war stalinistischen Schauprozesse in der SU in er zwischen dem 14. März und dem 17. Mai den Jahren 1936–1938 hinzu. Ob sie stimmt 1935 in der Sowjetunion. oder nicht. Eine Garantie, dass sie vorgefal- len ist, gibt es nicht. Niemand sonst bezeugt Das Gespräch zwischen Hook und Brecht, sie. Sidney Hook kann sie erfunden haben. von dem Hook berichtet, kann nur in der Aber wenn, ist sie gut erfunden. Brecht sei Zeit von Brechts Aufenthalt in den USA allein bei ihm zu Besuch gewesen, schreibt gewesen sein. So erzählt es Hook: Brecht Hook. Entschuldigungen für Brecht sind habe ihn in der Barrow Street in New York nicht das Ziel, es ergeben sich kaum wel- besucht, wo Hook damals wohnte. Selbst che. wenn man das Gespräch in die letzten Tage von Brechts Aufenthalt verlegt, also in den Ein wichtiger Satz in Hooks Text wird selten Februar des Jahres 1936, war das erheblich zitiert. Er betrifft die zeitliche Einordnung vor Beginn der Prozesse. Hook hat in einer von Brechts Statement. Außerdem ist der Auseinandersetzung mit Hannah Arendt genaue Wortlaut der Aussage bedeutend. 1969 selbst geschrieben, Brecht sei „vor den Bei Hook heißt es: „Die Moskauer Prozesse Moskauer Prozessen, ja bevor sie auch nur standen bevor.“ Eindeutig klar ist also, zu je- angekündigt waren“, bei ihm gewesen. ner Zeit als Brechts Aussage fiel, waren die Prozesse noch in ihrem Anfangsstadium, Brechts Aussage wird bei Hook wie folgt die Verhaftungen hatten stattgefunden und berichtet. Hook schreibt, wie sehr ihn die über die Verhafteten äußert sich Brecht, bevorstehenden Prozesse damals beschäf- aber über den Ablauf der Prozesse war tigen: „In diesen Tagen drehte sich bei mir nichts bekannt, es gab sie noch gar nicht. alles um dieses Thema. Es war schwierig, Der erste der drei Schauprozesse fand vom mit politisch gut informierten Leuten nicht 19.–24.8.1936 statt. Die Bezugspunkte der darüber zu sprechen.“ Er spricht also mit Äußerung gegenüber Hook sind der Kirow- Brecht darüber. Jahrzehnte später stellt er Mord und die Verhaftungen sowie die voll- dar, er habe Brecht gesagt, dass „der Kreml  Sidney Hook (1902–1989) war Marxist und nach und Stalin selbst“ für die „Verhaftungen und 1933 Antistalinist und Trotzkist. Im Kalten Krieg ist für die geplanten Verbrechen gegen die Opfer er entschieden Antikommunist und antikommunis­ verantwortlich waren.“ Hook erzählt also tisch tätig. Seine Erinnerung an die Geschichte mit die Anekdote aus der Position des späteren Brecht hat er 1960 veröffentlicht: „A Recollection of Bertolt Brecht“, in: The New Leader, October 10,  Angaben der Daten nach Hecht, Brecht-Chronik. 1960. Erdmut Wizisla schreibt, Hooks Erinnerung  Merkur, Heft 259, 1969, S. 1083. Hannah Arendt „besaß eine enorme antikommunistische Spreng- hatte in den Nummern 254 und 255, 1969, einen kraft.“ Es fragt sich bloß, gegen welchen Kommu- Artikel veröffentlicht, auf den gleich zu kommen nismus. Das Urteil Wizislas steht im Vorspann zur sein wird: „Quod licet Jovi … Der Dichter Bertolt Herausgabe des Textes von Hook. Er wird hier von Brecht und die Politik.“ Auf den antwortet Hook, dort zitiert: Erdmut Wizisla (Hrsg.), Begegnungen weil er darin mit dem Zitat von Brechts Bemerkung mit Brecht, Leipzig 2009, S. 152–155. vorkommt. Arendt antwortet ihrerseits auf Hook.

Dreigroschenheft 3/2017 31 Wissens um die Verbrechen. Ein bisschen

S talin wird die Unterstellung transportiert, Brecht hätte alles damals schon wissen oder ahnen können. Hooks Darstellung enthält sein Entsetzen über Brechts Meinung: „Dann sagte er, mit Worten, die ich nicht vergessen habe: ‚Was die (also die Angeklagten und Opfer, DH) betrifft, je unschuldiger sie sind, desto mehr verdienen sie zu sterben.‘ Ich traute meinen Ohren nicht. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ich fragte: ‚Was sagen Sie da?‘ und er erwiderte ruhig: ‚Je unschuldiger Sergej Kirow auf dem XVII. Parteitag der KPdSU sie sind, desto mehr verdienen sie zu ster­ Anfang 1934 in Moskau (Quelle: Wikipedia) ben.‘“ Brecht fügt seinem Satz nichts hinzu, jedenfalls berichtet Hook nicht davon. Er reicht Brecht Hut und Mantel und weist ihn Mord an Kirow in der Sowjetunion passier- zur Tür. te, ausgegangen werden, selbst wenn sie vor der Urteilsvollstreckung im Kirow-Prozess Ein Prozess war bereits vorbei, als der gelegen haben sollte. Die internationale Satz fiel. Es war der Prozess gegen Leo- Presse hatte berichtet. Brecht war im Früh- nid Wassiljewitsch Nikolajew, den Mörder jahr 1935 selbst zwei Monate in Moskau und des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow wird sich nicht Augen und Ohren zugehal- (das Attentat war am 1.12.1934), und das ten haben. Anfang Dezember 1935 wurden „Leningrader Zentrum“, die stalinistische zahlreiche des konterrevolutionären Ter- Konstruktion einer terroristischen Orga- rors Verdächtigte hingerichtet und es war nisation, mit der Nikolajew eine Zusam- klar, dass dieses Vorgehen im Zusammen- menarbeit unterstellt wurde. Zeitweise hang mit dem Mord an Kirow stand. Die hatte Stalin selbst Nikolajew verhört, um genauen Umstände um den Mord an Kirow die eigene Autorität und die Wichtigkeit können hier nicht ausgeführt werden, sie der Angelegenheit zu demonstrieren. Alle sind sowieso nicht endgültig ermittelt wor- Angeklagten, auch Nikolajew, dem gegen den. Es sei jedoch angefügt, dass Brecht, Aussagen zu den Mitangeklagten das Über- auch wenn die Schauprozesse zum Zeit- leben in Aussicht gestellt worden war, wur- punkt seiner von Hook überlieferten Äu- den erschossen, Nikolajew am 29.12.1934. ßerung noch ausstanden, nicht blauäugig Der weitere Prozess lief bis Ende Dezember sein konnte, dass „Terror als revolutionäres 1935. Kamenew und Sinowjew, die beiden Hauptangeklagten des ersten Schaupro-  Für eine unmittelbare Beteiligung Stalins gibt es kei- zesses, waren zusammen mit fünf anderen nen Beweis, aber eine Reihe von Indizien, dass der bolschewistischen Politikern Mitte Dezem- NKWD tatsächlich beteiligt war, und sei es nur, weil ber 1935 festgenommen worden, im Zuge die Organisation Bescheid wusste und in Kauf ge- der Anklageschrift für den späteren ersten nommen hat, was passieren werde. Man hätte Stalin Schauprozess, die im Januar 1936 erarbeitet „entgegengearbeitet“, wie das Ian Kershaw bezüg- lich Hitler und seinen Mitarbeitern formuliert hat, wurde, gerieten weitere neun Parteileute ins ohne einen Auftrag von ihm zu haben, wäre aber Visier. in seinem Sinne tätig gewesen. Stalin hat den Mord politisch ausgenutzt für den Auftakt der Säuberun- Da Brechts Aussage wohl nach den ersten gen und für deren Ausweitung in den Schauprozes- sen bis 1938, aber zugleich darüber hinaus und als Verhaftungen erfolgt ist, kann von einem weiteren Maßstab seiner Politik der Unterdrückung Wissen darum, was in der Zeit nach dem jedes Widerstands, auch des erfundenen.

32 Dreigroschenheft 3/2017 Prinzip“ verstärkt und in besonderer Weise diesem Ziel auszurichten, war überdeutlich

Kennzeichen stalinistischer Politik war und und für jeden ersichtlich. Stalins Blick auf S talin weiter sein würde. eine Verschärfung der Klassenkämpfe, die angeblich vorlag und auf die man antwor- Die Konstruktion der Opposition des „Le- ten müsse, stand für ihn im Rahmen eines ningrader Zentrums“ wie die gesamte Art geglaubten Lehrsatzes vom Umschlag der und Weise und vor allem die Härte des Vor­ Quantität in die Qualität. Entsprechend gehens ließ manches erwarten. Neu war, diesem Gesetz sollte die Verschärfung das dass Stalin offensichtlich auf der Grundla- Neue gebären. ge einer Konzeption und eines Plans gegen die eigenen Genossen in der Partei vorging „Je unschuldiger sie sind, desto mehr verdie­ und sich anschickte, endgültig mit leninis­ nen sie zu sterben.“ Das soll Brecht nach tischen Traditionen der Meinungsfindung den Festnahmen von Sinowjew, Kamenew in der Partei aufzuräumen, wie einer durch- und weiteren Angeklagten auf die Frage von aus breiten Diskussion und einer auf meh- Hook, wie er dieses Vorgehen Stalins beur- reren Schultern verteilten Leitung der Par- teile, geantwortet haben. Ein bisschen der tei. Es durfte bis dahin alles Mögliche gesagt Auftritt eines Halbstarken. Sagt man, ein werden, ohne dass gleich das Hinrichtungs- Unschuldiger soll, je unschuldiger er ist, de- kommando drohte. sto eher und strenger verurteilt werden und noch dazu zum Tode, ist solcher Unsinn Wie sehr Stalins Persönlichkeitsstruktur, allenfalls als Herausforderung des „bürger- vielfach ausgeführte narzisstische und para- lichen Humanismus“10 zu betrachten, dem noide Neigungen, mitverantwortlich waren nicht entsprechen zu wollen Brecht später (und inwiefern sie überhaupt bestanden) geschrieben hat. Sieht man sich in die Si- und er einen „Ein-Mann-Staat“ wollte, sei tuation und unter Druck versetzt, ihn bitte nicht betrachtet. Jedenfalls bestand 1936 doch bekunden und bedienen zu sollen, keine äußere Bedrohung der Revolution kann man leicht abweisend reagieren. Und in der UdSSR, die nur ansatzweise mit der tuihaft, was immer das im vorliegenden Fall Zeit des Bürgerkriegs bis 1922 zu verglei-  Bei Žižek, Weniger als nichts. Hegel und der Schat- chen war. So sehr der Anti-Komintern-Pakt ten des dialektischen Materialismus (Berlin 2014, zwischen Deutschland und Japan (und ab S. 731), lautet das Zitat: „Je unschuldiger sie sind, 1937 Italien) von 1936 Sorgen bereitete, desto mehr verdienen sie, erschossen zu werden“, eine reale Kriegsgefahr war nicht unmittel- er verweist dabei auf David Caute, The Dancer De- fects, The Struggle for Cultural Supremacy during bar gegeben. Die stalinistische Politik, eine the Cold War, Oxford 2003, S. 299. Dort findet sich gestärkte Staatsmacht aufzubauen – je stär- auch die Darstellung, dass Brecht den Satz in deut- ker, desto besser sollte deren Absterben ge- scher Sprache gesagt haben soll. Hooks Eltern waren währleistet sein –, und dabei rücksichtslos aus Österreich eingewandert, er selbst studierte ab 1928 eine Zeitlang in Berlin (vgl. http://spartacus- Partei wie Gesellschaft mit allen Mitteln an educational.com/Sidney_Hook.htm). Hook berich- tet jedoch in englischer Sprache. Die Zitierweise des  So lautet die Überschrift zur Darstellung der Schau- Satzes von Brecht ist unterschiedlich. James Lyon, prozesse bei Alan Bullock, Hitler und Stalin. Paral- Bertolt Brecht in Amerika, Frankfurt/Main 1984, lele Leben, Berlin 1991, S. 615. S. 406 zitiert: „Je unschuldiger sie sind, desto mehr  Bullock. S. 619 verdienen sie den Tod.“ Bei Hannah Arendt, Mer-  Bullock, S. 618. kur Heft 254, 1969, S. 542 steht: „Je unschuldiger sie  Bei Bullock wird die Anekdote erzählt, dass wäh- sind, umso mehr verdienen sie an die Wand gestellt rend der Verhandlungen zum Hitler-Stalin-Pakt zu werden.“ Das nimmt Hook in seiner deutsch ge- 1939 Ribbentrop Stalin mitteilt, dieser sei gegen den schriebenen Antwort auf. Arendt scheint selbst (wie Westen gerichtet und vom „Witz“ in Berlin berich- andere auch) aus dem Englischen übersetzt zu ha- tet, Stalin selbst werde noch dem Anti-Komintern- ben. Hook hat nichts gegen die verschärfte Fassung. Pakt beitreten. 10 BFA 22.1, S. 367.

Dreigroschenheft 3/2017 33 genauer heißen würde, wollte Brecht nicht durch den Komparativ; „unschuldiger“, wie

S talin auftreten, sich also nicht zu einer abseh- gesagt wird, seien die Angeklagten, und je baren geläufigen und erwartbaren Äuße- „unschuldiger“, desto schlimmer für sie, eine rung bewegen lassen, so kommt es zu der Gradangabe eines Verhaltens wird ausge- Aussage. Trotz der beiden Gegenpositionen, drückt, die einen bestimmten Grad an Re- zum „bürgerlichen Humanismus“ und zum aktion nach sich zieht. Das Adverb „mehr“ Tui-tum, wird sie nicht viel intelligenter. im Hauptsatz nimmt das Moment des Pro- portionalen auf, indem eine Steigerung 2. Proportionalität und Konditionalität der ausgesagt wird; in desto höherem Maße verdienen die Angeklagten zu sterben. Die Aussage Brechts Frage kommt einem in den Sinn, inwieweit Brechts von Hook berichtete Aussage ist ein man unschuldiger als unschuldig sein kann. Proportionalsatz, der mit Hilfe der propor- Geht das? Unschuld und noch mehr Un- tionalen Konjunktionen „je“ und „desto“ schuld zu haben, war also eine Schuld, und eine unterordnende Struktur besitzt. Ange- je nachdem eine immer größere. geben wird, dass sich Ausmaß und Umfang der Reaktionsweise, wie sie im Hauptsatz Eine umfangreiche Betrachtung des Satzes dargestellt ist, im Verhältnis, eben in der ist nur unter erweiterten politischen Ge- Proportion, zu der getroffenen Aussage im sichtspunkten möglich. Die Frage ist, ob Nebensatz gestalten oder gestalten werden. oder inwiefern er akzeptabel wird. Die An- Brecht kombiniert in seiner Aussage Un- geklagten werden kritisiert, keine Schuld schuld und Sterben. Also nicht Tod oder im Sinne der Anklage auf sich gezogen zu Erschießung, wie es in anderen zitierten haben (hier ist ein Wissen über tatsächliche Varianten von Brechts Zitat heißt. Dass dies oder mutmaßliche Anklage u. U. unterstellt, verschärfte Darstellungen sind, muss wohl vielleicht liegt also zum Zeitpunkt der Äu- nicht eigens erläutert werden. ßerung die Anklageschrift wirklich schon vor und Brecht weiß von ihr), es wird be- Das Sterben, das ist die Aussage im Haupt- dauert, dass sie nicht getan haben, was man satz, verdienen die Angeklagten dessent- ihnen vorwirft. Der Widerstand gegen den wegen, wessen sie im Nebensatz beschul- Stalinismus wird ihnen angeraten und in digt werden, nämlich unschuldig zu sein. der Äußerung unterstellt, er sei bitter not- Diese Aussage führt zu der Schwierigkeit wendig gewesen, und zu verurteilen sei, ihn des Satzes. Ersetzt man die proportionalen nicht praktiziert zu haben. Dafür sei das Konjunktionen in Brechts Aussage durch Sterben angemessen und verdient. konditionale, wird das Problem deutlich. „Wenn sie unschuldig sind, (dann) verdie- Der Satz bekommt ein relativ grundsätz- nen sie zu sterben.“ Juristisch oder straf- liches Gewicht. Nichthandeln, vielleicht rechtlich gesehen, ist der Satz abwegig und mögliche Handlungsmomente abzustrei- zu bestreiten. Wer unschuldig ist, verdient ten, damit zu meinen, im Stande der Un- das Sterben als Angeklagter in einem Ver- schuld zu sein, könne Sterben verdienen. fahren oder Prozess nicht. Gleichgültig Dieses Sterben kann den bitteren Verlauf welche Mutmaßungen über den Grad sei- des ständigen Beschäftigens mit dem eige- ner Unschuld angestellt werden können. ne Verhalten besitzen, etwas nicht getan zu Unschuld ist Unschuld und verdient keine haben, versagt zu haben, und man kommt Verurteilung. Aus der Sicht rechtsstaatlicher darüber nicht hinweg, gefährdet und ver- Jurisprudenz ist der Satz klar abzulehnen. liert vielleicht die eigene Gesundheit und ist dem Tod geweiht. Über eine Person wird Eine proportionale Gestalt erhält der Satz

34 Dreigroschenheft 3/2017 gesagt, sie verdiene den Tod, weil sie etwas Naheliegende, sich zu deren Stärkung ihr

nicht getan habe. anzuschließen. Auch wenn Brecht zu an- S talin tistalinistischen Freunden und Bekannten Auch in dieser Hinsicht wäre der Satz deut- Kontakt hielt, ist von einem Anschluss an bar. Es ist allerdings etwas anderes, dies von eine antistalinistische Opposition jedoch außen über jemanden zu sagen, ihm im Un- nichts bekannt. Trotz aller Einwände und terton des sowieso drohenden Untergangs Distanzen bewahrt er eine Solidarität. Viel- wegen der Verfolgung ein Versäumnis vor- leicht platzt ihm ob der erpressten Haltung, zuwerfen – das hätte schon allein deswegen nicht zum Renegaten11 werden zu wollen, vermieden werden sollen, weil es nichts angesichts des rhetorischen Angebots von hilft –, als selbst in einer Handlungssituati- Hook einfach der Kragen und er verweigert on zu stehen, in der zu kalkulieren ist, wie der plumpen Aufforderung zum Einver- es einem selbst ergehen wird. Und welches ständnis genau dieses. Eingreifen demzufolge im vorliegenden be- sonderen Fall anliegt. Jede Art, an sich zu 3. Abwägungen der Subjektivität denken, ist konkret zu betrachten. Ginge es um eine diesbezügliche Kritik, müsste Auf eine etwas gemeine Weise ließe sich sie im Satz Brechts ersichtlich sein. Das ist Brechts Satz auf ihn selbst beziehen. Wirft jedoch nicht so. Über die Spur, dass die An- man ihm vor, eigene Erwägungen zu den geklagten falsch oder überhaupt nicht an Schauprozessen und zum Stalinismus nicht die eigene Person gedacht haben, also an veröffentlicht zu haben oder sich auf deren sich und ihre rechtzeitige Verteidigung und inhaltlicher Grundlage nicht geäußert und ihren Schutz, stattdessen den Blick auf die in die politischen Verläufe nicht eingegrif- politische Entwicklung in der Sowjetunion fen zu haben, also „unschuldig“ geblieben im Zentrum hatten, wäre das wenige Ver- zu sein, bedeutet das, er verdiene das Ster- teidigungswerte am Satz Brechts zu suchen. ben, wie er selbst über andere sagt, propor- Die Angeklagten erscheinen sonst in ihrer tional zum Maßstab des eigenen Nicht-Be- Unschuld als ahnungslos und harmlos oder teiligens und Außen-vor-Bleibens. Bezieht eben feige. man den Satz auf das Verhalten dessen, der ihn äußert, wird deutlich, wie sehr er abzu- Selbst wenn man das Bedeutungsfeld des lehnen ist. Es ist ein bösartiges Ätsch, das Wortes Unschuld noch weiter abwertend sich ergibt, betrachtet man den wirklichen gegen sie aufführt und ihnen Naivität oder Umgang mit den Angeklagten. Gutgläubigkeit vorwirft, ergibt sich aus dem Urteil in keinerlei Hinsicht die Folge- Wer solcherlei Überlegungen zum Biogra­ rung, dass der sich in der Arglosigkeit Ver- fischen mag, könnte sogar, auf Brechts Bio­ lierende das Sterben verdiene. Es werden grafie bezogen, sagen, für ihn selbst hat höchstens Übergänge erkennbar, in welcher sich relatives Heraushalten aus antistalini- Weise jenseits der Folterung die Angeklag- stischer Kritik, trotz eines Bewusstseins von ten mit ihren Geständnissen zu Mitarbeit deren Notwendigkeit an realen oder ver- an den Prozessen bereit waren. Irgendwo meintlichen Chancen der Sowjetunion fest- rückt nahe, zu sagen, die Angeklagten wa- zuhalten und diese gegenzurechnen gegen ren dem Bösen, der Gewalt gegenüber, zu eigene vorhandene niedergeschriebene und sorglos, nichts Böses ahnend, statt selbst nachweisbare Kritik und sie zurückzuhal- tatsächlich im Widerstand auf das Mittel ten, nicht gesundheitsfördernd ausgewirkt der Gegengewalt zu sinnen. Aber wenn man 11 Vgl. Michael Rohrwasser, Der Stalinimus und die eine Opposition, deren Notwendigkeit man Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stutt- einsieht, als zu schwach kritisiert, wäre das gart 1991, S. 160-167.

Dreigroschenheft 3/2017 35 und er ist früh gestorben. Die spezifische Brecht steht nicht auf Seiten der kompli-

S talin Kälte und derbe Dickfälligkeit der Aussage zierten und in komplizierten Abwägungen verweist auf eigenes Schwachsein. stehenden Subjektivität, nicht einmal der eigenen, über die nichts gesagt wird (außer Aber über niemanden, der falsche Ent- eben, man nimmt den Satz als eine Form scheidungen getroffen hat, z. B. lieber im von Herausschreien von Verschwiegenem), Abseits zu stehen und den Betrachter zu vielmehr gilt das Monieren dem mangeln- spielen, ist zu sagen, er verdiene das Ster- den Einsatz für eine Angelegenheit und für ben. Die Aussage (oder wenigstens ein Mo- einen Sachverhalt, den Weiterverlauf der ment der Zustimmung), dessen Untergang Revolution, der Gestaltung der Gesellschaft als ihm gebührend anzusehen, bleibt. Sogar und der Staatlichkeit der Sowjetunion un- unabhängig davon, ob dieser Untergang, ter dem Aspekt des Wohlergehens der dieses Sterben, eine Verlaufsgeschichte des Menschen. Lässt man kurz beiseite, dass Ichs und ein selbstvollzogener oder von au- über letztere Aussage zu befinden auf große ßen gewaltsam verursachter und angetaner Unterschiede zu stalinistischer Politik ver- ist. Das Unschöne der Behauptung, für je- weist, beinhaltet der Satz gegenüber Hook manden, der sich nicht getraut hat, wie im die Aufforderung, das eigene Ich am Risiko Fall der Angeklagten, statt Unschuld Schuld des eigenen Todes in der Bereitschaft zum auf sich zu laden, gehöre sich ein Sterben Sterben für die Revolution zu relativieren. und dazu nach dem Maßstab, spezifisch Dieser Aufforderung haben die Angeklag- größere Schuld würde sich im Urteil der ten nicht Folge geleistet. Sie hätten sie an Nachwelt befreiender auswirken, ist unüber­ sich selbst richten sollen. Meint offensicht- sehbar. Ganz unabhängig von jeder Fra- lich Brecht. gestellung, ob unter den Angeklagten z. B. Kamenew oder Sinowjew überhaupt zum Die Angeklagten hatten sich als angeklagte Antistalinismus bereit waren. Was sehr zu Personen zu wehren, als in ihrer Individua- bezweifeln ist. lität Betroffene; eine Revolution, die so mit ihnen umgeht, war von der Basis dieses Ichs Die Angeklagten haben keine Meriten, aus zu bekämpfen. Nicht von Verweisen auf sie haben keine Leistung vollbracht und irgendwelche Auftragslagen aus. Dahinge- kein Werk geschaffen. Mit dem Ausdruck hend ist in der sowieso ausufernden Dis- „Werk“ ist man wieder bei Brecht. Das Gift, kussion über die Prozesse (damals in den das gegen andere versprüht wird, deren be- 30er-Jahren schon) meistens argumentiert stimmtes Nichthandeln gemaßregelt wird, worden. Hannah Arendt ist ein Beispiel gilt ein wenig der eigenen Untätigkeit, ist 196912 und Žižek 2014 ein noch späteres. Es eine verklausulierte Selbstbeschimpfung und sogar eine Anregung und Anmahnung 12 Hannah Arendt schreibt 1969 (Merkur 254, S. 542, sie wiederholt das in ihrem Buch, Benjamin, Brecht, zum eigenen Tätigwerden. Die Aussage fällt München 1971 S. 83 f., wortgleich) zum Satz Brechts: auf Brecht zurück. Eine verzweifelte Lage „War es nicht die Pflicht der ‚alten Garde‘, Stalin da- wird deutlich, die aber den Angeklagten ran zu hindern, die Revolution zu benutzen, um ei- und Opfern der Prozesse nicht eingeräumt nen Verbrecherstaat zu errichten?“ Hook reagiert in wird. Die sind die historischen politischen seiner Replik (in: Merkur 259 von 1969, S. 1083) da- rauf voller Empörung. Arendt wolle aus der Bemer- Täter (und Opfer), während Brecht nur de- kung Brechts ein „Indiz für eine antistalinistische ren Beobachter und Begutachter und damit Gesinnung“ erschwindeln. Hook nennt Arendts nur randständig Täter (wie Opfer) ist. Er Unternehmung eine „Unverschämtheit“ und spricht schimpft in der Isoliertheit über als weniger von einer „skrupellosen Apologie für Brechts Un- menschlichkeit“, Brecht habe ihm gegenüber mehr- isoliert Gedachte, denen er Handlungsper- fach Stalin als „einen geschulten Marxisten“ bezeich- spektiven zumutet. net.“ Er habe Brecht damals gesagt, die Anklage

36 Dreigroschenheft 3/2017 ist sicher so, dass es unter den Angeklagten fallen und liefert sie aus. Sie sind nicht Hel-

selbst eine Anhängerschaft an Auftragsla- den in einem Land gewesen, das Helden S talin gen gab, die neben der Folter und dem ge- nötig hat. samten Umgang mit ihnen, für die Bereit- schaft zu den Geständnissen verantwortlich Ob Brecht eine eigene Eignung zur Kalt- zu machen ist. Die Prozesse 1936–1938 und schnäuzigkeit und Abgebrühtheit ausstellen die Urteile beruhten auf keiner anderen Be- will, ist sowieso nicht zu entscheiden und weislage als den Geständnissen. im Grunde weder rechtfertigend ihm ge- genüber anzuführen, noch, um ihn zu ver- Denen, die in der Anklage stehen, ist der dammen. Die Auseinandersetzung mit dem Tod angedroht. Das weiß Brecht und dieses Satz, dem Text, ergibt eine ganze Menge. Wissen ist Bestandteil seiner Äußerung. Hooks Anekdote ist insoweit eine schöne Das Leben kostet unter dem Aspekt seiner Geschichte. Aber eine böse dazu, sie belegt Relativierung im Einsatz für eine große Sa- die im Zuge des Stalinismus um sich grei- che wenig. Das, unterstellt Brecht, müssten fende Leichtfertigkeit des Redens vom Er- die alten Revolutionäre unter den Ange- schießen und Erschossenwerden und vom klagten doch wissen. Es ist ein anderes, in Sterben unter den Kommunisten. Insofern der konkreten politischen Tätigkeit auf der zitiert Žižek, auf den gleich zu kommen Grundlage einer eigenen individuellen Ent- sein wird, schon die Jargon-Variante. scheidung die Gesundheit zu riskieren – in antifaschistischer Politik wird das schnell In einer politischen Ausdeutung enthält der verständlich erscheinen –, als dergleichen Satz eine bestimmte Form von Asymme- in einer fundamental auftretenden Paro- trischem. Unterstellt man, die Angeklagten le zu fordern, einzuklagen und gegenüber hätten gerade Widerstand oder zumindest Individualität in der Auseinandersetzung widerständiges Verhalten tatsächlich leisten mit Gemeinschaft, und sei es die Gemein- müssen, dann wäre es gerade eines gegen schaft einer gedachten Revolution, geltend diejenigen gewesen, die ihnen in den Pro- zu machen. Diesen Anstrich besitzt Brechts zessen als Ankläger gegenüberstanden. Die Aussage. Darin steht sie der Anklage näher sie wegen erfundener und real nicht vor- als den Angeklagten. Die provozierende handener Widerstandsaktionen verurteilen. Rohheit der Aussage ist vor diesem Hin- Wer die Angeklagten wegen unterlassenen tergrund bedeutsam, nicht bezüglich der Widerstands, wegen ihrer diesbezüglichen Psyche Brechts. Die Aussage fordert die Unschuld, verurteilt, wie Brecht in seinem Bereitschaft zum Märtyrerdasein von den Spruch, macht ein eigenes Gerichtsverfah- Angeklagten, um ihnen die Absolution zu ren auf, ein politisches, er führt keinen tat- erteilen, sie in dem Prozess freizusprechen, sächlichen Prozess, außer eben eine Politik den Brecht ihnen macht. Sind sie nicht so der antistalinistischen Aktion von den An- gewesen, wie er sie haben will, lässt er sie geklagten zu fordern, Schuld statt Unschuld. Und so ist es ein anderer Prozess als der, laute, die Angeklagten stünden im Dienste Hitlers. dem die Angeklagten tatsächlich ausgesetzt Arendt antwortet darauf, Stalin habe doch selbst be- waren. Das, was sie verdienen oder nicht, reits 1935(!) das Bündnis mit Hitler von 1939 vor- müsste ganz wo anders und an anderer Stel- bereitet. Das ist falsch. Der Vorwurf, profaschistisch zu arbeiten, war in der Tat ein Anklagepunkt in den le beraten und befunden werden, ließe man Prozessen ab 1936, aber klar war, und so ist das stets sie nicht überhaupt in Ruhe, weil Fehler diskutiert worden, da hat Arendt gegen Hook recht, eben gemacht werden können, z. B. solche dass unterstellt war, die Angeklagten betrieben eine mangelnden Aufbegehrens. Lässt man das Verschwörung gegen Stalin. Was immer Hook alles Brecht gesagt hat, Brecht wird seine Bemerkung vor nicht offen, wird das Sterben der Angeklag- dem bekannten Hintergrund gesehen haben. ten im Zuge der stalinistischen Prozesse,

Dreigroschenheft 3/2017 37 die bevorstehen (und wie sie in den Verfah- nistische Interpretation, schreibt Žižek. Das

S talin ren um den Kirow-Mord bereits praktiziert lässt sich nur sagen, weil Brechts Aussage worden waren), hingenommen, ihre wahre vor den Prozessen gefallen ist, dort haben Schuld erscheint als ihre Unschuld, weil sie die Angeklagten später gestanden, vor allem Unschuld oder zu viel Unschuld war, und durch Folter erpresst, zu der hinzugehörte, der Satz erhält eine Boshaftigkeit, indem sie auf ihr Leben für die Partei und sonst er sich gegen die Angeklagten stellt. Man nichts hinzuweisen. sagt ihnen Hohn und Häme hinterher und suhlt sich im eigenen Spott und Zynismus. Als antistalinistische Lesart erscheint: Das macht Brecht und spielt den Revoluti- „Wenn sie in der Lage waren, einen Mord­ onär. Im Vorfeld der Prozesse kommentiert anschlag auf Stalin und sein Gefolge zu pla­ Brecht einen Spielstand derer, die um die nen, und ‚unschuldig‘ sind (das heißt die Entwicklung der Weltgeschichte ringen, Gelegenheit nicht ergriffen), dann verdienen und verteilt Verhaltensnoten in Hinblick sie wirklich zu sterben, weil sie es versäumt auf Einsatzfreudigkeit und Diensteifer. haben, uns von Stalin zu befreien.“14 Neben der Aussage, dass die den Anschlag Versäu- 4 Slavoj Žižek wertet Brecht stalinistisch wie menden das Sterben verdienen (das über- nimmt Žižek von Brecht) und nicht bloß antistalinistisch allenfalls Kritik, ist der Fehler der Kom- Die jüngste Kommentierung des Satzes bei mentierung der Aussage im Wort „uns“ Slavoj Žižek sei aufgegriffen. Žižek meint, verborgen. Einem Wir, einer Gemeinschaft. die Aussage könne sowohl „im Sinne des Dies ist jetzt eine Kritik an Žižek. Wieder radikalen Stalinismus“ wie „auf eine radikal tun die unter Anklage Stehenden nicht et- antistalinistische Weise“ gedeutet werden.13 was für sich, sondern für andere, für ein Die Angeklagten beteuern ihre Unschuld Kollektiv, das in diesem Fall nicht die Partei und bevorzugen und begünstigen damit ist, aber eben wieder eines. Dazu ein sehr die eigene Person und nicht die Partei, die unspezifisches. Geständnisse möchte. Die „Weigerung, sich für die Sache zu opfern“ und stattdessen Sind die damals Lebenden gemeint und die „Einzelinteressen den Vorzug gegenüber den späteren Toten, die eben überlebt hätten, größeren Interessen der Partei“ zu geben, die­ wären Stalin und sein Gefolge beseitigt wor- se Kritik an den Angeklagten sei die stali- den, aber die heute Lebenden ebenso, die es irgendwie leichter hätten, müssten sie nicht 13 Slavoj Žižek, Weniger als nichts, S. 731 f. Die Dar- stellungen des Satzes variiert in den Berichten, bei noch auf mehr Gräueltaten zurückblicken. Klaus Völker z.B., der in seiner Brecht-Biographie, Die vorgeblich nicht zur finalen Hilfeleis­ München, 1976, S.241, den Satz zitiert und kom- tung ans Kollektiv Bereiten oder Fähigen mentiert, heißt es: „ … verdienen sie den Tod.“ dem Sterben im Vollzug eines Gerichtsver- Völker kommentiert: „Wenn er sich bei Gesprächs- partnern über mangelnde politische Einsicht ärger- fahrens zu überantworten, verweist zurück te, ließ sich Brecht oft zu noch viel schlimmeren auf eine stalinistische Interpretation. Der Schocksätzen hinreißen. Dummheit und Borniert- eigene Prozess, den man ihnen macht, be- heit machten ihn leidenschaftlich ungerecht.“ Das sitzt eine peinliche Parallele. Es sind meh- ist getreu Brechts eigener Aussage gestrickt, dass rere Prozesse zu betrachten, die historisch auch der Hass auf die Ausbeuter die Züge verzer- re. Die Dummheit des Gesprächspartners ist in der stalinistischen, diejenigen, die Brecht im Anekdote nicht nachweisbar, es bleibt die von Brecht stehen und sie zu entschuldigen, ist Ergebnis eines 14 Žižek formuliert damit eine Lesart des Satzes von positiv gewollten Blicks auf Brecht, dem dann noch Brecht, auf die wohl zuerst Hannah Arendt hinge- Leidenschaft attestiert wird. Bedeutung sollte nicht wiesen hatte. Er erwähnt nicht, dass Arendt Ähn- davor schützen, kritisiert zu werden. Dass man sich liches vorträgt. Vgl. auch den Hinweis auf Arendt: „hinreißen“ lässt, passiert. Vorwort Wizisla, Begegnungen, S. 152

38 Dreigroschenheft 3/2017 Spruch mit den Angeklagten veranstaltet der Betonung auf dem Reflexivpronomen

und die, die gemacht werden, wenn heu- gelesen, wäre eine andere Lesart, als den S talin te von verschiedener Seite Brechts Spruch Angeklagten im Anschluss an Brechts Satz analysiert wird. Brecht in die Anklagepo- die mangelnde Anhängerschaft an die Par- sition zu rücken, verschiebt die Anklage, tei oder die moralisch unverantwortliche die gegen den Stalinismus geführt werden Nicht-Anhängerschaft an die gesamte sollte. Menschheit vorzuwerfen. Eventuell wären sie zu kritisieren, im Denken an sich selbst Žižek bemüht sich, „die Verschachtelung die­ etwas falsch gemacht zu haben – aber ganz ser beiden Bedeutungen dialektisch korrekt“ eindeutig ohne sie mit dem Tod zu bestra- zu begreifen, bleibt aber (S. 732) vermeint- fen. lich im Sinne Brechts, bei der Auffassung, jemand, der die Chance besessen habe, Die Anekdote spielt im Vorfeld, ganz zu Be- „uns“ (das Pronomen wird wiederholt, es ginn der Prozesse. Am Satz Brechts, wenn heißt danach sogar „die Menschheit“ wäre er so gefallen ist, ist nichts zu retten. Selbst dieses Uns, es wird aufgeblasen und pathe- wenn man die Variante wählt, Brecht wollte tisiert) „zu befreien“, und sie nicht genutzt sich mit der insgeheim eigentlichen Auffor- habe, sei zum Tode zu verurteilen. Wäre derung zur antistalinistischen Tat schuldi- nicht gerade das Denken an sich selbst und ger verhalten mit seiner Aussage, als es eben an die Bedrohung des eigenen Lebens das die Angeklagten taten – das tun, und sei es Gebotene und Grundlage der Reflexion, nur großmäulig, was er ihnen vorwirft, dass wie zu reagieren sei? Schwierig genug. An sie es nicht getan haben –, bleibt inhaltlich diesen Rekurs auf sich, auf die eigene Per- töricht, was er sagt, es ist auf der Spielwie- son, scheint Žižek nicht zu denken. An die se des Außenstehenden erfolgt und inso- Pflege der Subjektivität. Erst das wäre im fern billig, aber vielleicht gerade deswegen vorliegenden Fall des Bezugs auf Brechts als Lapsus verständlich. Hilflosigkeit liegt Spruch ein Weg zum Anti-Stalinismus. vor. Sollte sich Brecht im Spruch „action“ Die Relativierung der eigenen Person ist wünschen, hätte er sie leicht haben können, Grundlage von Žižeks Urteil. indem er sie selbst veranstaltet. Als Marke Brecht ist er ein Markieren und Starkspre- Die stalinistischen Lesart des Spruchs be- chen. Aber das ist niemandem verboten und stehe laut Žižek darin, Brecht vorzuwerfen, kann vorkommen. Eine ihrer Textaussagen dieser meine mit dem Satz eine Kritik des zu kritisieren, ist kein Verdammungsurteil Einzelinteresses der Angeklagten, die nicht über eine Person.16 Das wäre eine Nähe zu an die Partei dächten. Ähnliches macht Stalinistischem. ¶ Žižek in seiner danach nichtstalinistischen Lesart selbst, die Relativierung des Ein- zelinteresses, statt an der Partei und Stalin, an „uns“ und an der Menschheit. einen richtigen Grund zu wissen, weswegen sie sich dem Aufstand gegen Franco anschließen soll. Brechts aus dem „Carrar“-Text gestrichene 16 Da muss man nicht damit kommen, wie Hannah Aussage: „Sie sollen sich verteidigen“15, mit Arendt, die auf „Gnade“ für Brecht wegen prosta- linistischer oder nicht genügend antistalinistischer Position plädiert (Merkur 255, 1969, S. 640), dafür, 15 BFA 4, S. 512. Im Drama „Die Gewehre der Frau dass wir „den Dichtern einen weiteren Verhaltens- Carrar“ streicht Brecht für die Aufführung des spielraum zugestehen müssen, als wir einander ge- Stücks im Herbst 1937 in Paris diesen Satz und fügt währen.“ So meint sie das Zitat aus dem alten Rom ihn, trotz späterer Bearbeitungen, nicht wieder ein. im Titel: „Quod licet Jovi non licet bovi.“ Sie dreht es Es ist ein Ratschlag an Frau Carrar, die zu dem Zeit- am Ende aber um, wenn Brecht den Ochsen gegeben punkt des Stückprojekts noch Frau Pasquale heißt, hat, war er auch einer und hat Mist produziert.

Dreigroschenheft 3/2017 39 Die Brecht-Filme von Peter Voigt F ilm Erdmut Wizisla

konserviert. Unversehrt, frisch. Anders als ande- re Brecht-Schüler hatte er seine Erlebnisse nicht verbraucht, indem er sie immer wieder in Inter- views und Berichten mit- teilte. Das späte öffent- liche Erinnern verlieh den Geschichten eine Unmittelbarkeit.

Peter Voigt ist unserer Arbeit mit größtem Inte- resse begegnet. Ich habe selten einen Menschen Peter Voigt, ca. 1997 (Foto © Katharina Behling) getroffen, der derart neu- gierig war auf alles, was Die Begegnung mit Brecht war lebensprä- Brecht betraf. Und seine Begeisterungsfä- gend für Peter Voigt. Er hat sich an ihm higkeit beschränkte sich nicht auf Brecht. abgearbeitet. Spät begann er, öffentlich da- rüber Rechenschaft abzulegen. Wir hatten das Gefühl, dass eine Zeitlang das Brecht-Archiv sein Ort war. Er konnte hier Irgendwann vor Brechts hundertstem Ge- die Atmosphäre seiner Jugend aufrufen. Im burtstag, also vor zwanzig Jahren, kam „Zögling“-Film hat er das thematisiert – in Peter Voigt zu uns ins Brecht-Archiv und einer Haltung der Verfremdung, mit zuwei- stellte konkrete Fragen zu einzelnen Do- len verschrobenem Humor, manchmal mit kumenten. Habt Ihr das Gedicht „Murmel, dem Rücken zum Publikum. Aber hinrei- Murmel, Kreisel“? Kann ich mal Brechts ßend. Mit wunderbaren Einsichten und Ge- Villon-Ausgaben sehen? Gibt es das Foto schichten. Und mit blitzhaften Erkenntnis- aus „Mann ist Mann“, das auf der Innenseite sen. Schon für die, dass Brecht nicht einmal der Tür seines Schranks im Bücherzimmer die Beatles kennengelernt habe, lohnt sich hing? Ihr könnt es erkennen an den Lö- dieser Film. chern von Reißzwecken – so half er uns. 1998 bat die Akademie der Künste Pe- In dieser Zeit arbeitete Peter Voigt bereits an ter Voigt, sich die im Archiv überlieferten seinem autobiographischen Film über die Filmaufnahmen von Brechts legendärer Zeit bei Brecht, der zunächst „Der Zögling“ „Hofmeister“-Inszenierung anzusehen. Die heißen sollte, dann als „Jawohl, Brecht“ re- Aufnahmen waren in einer sogenannten alisiert wurde. Seine Erinnerungen, hatte Einzelbildschaltung entstanden: ein Bild ich den Eindruck, waren wie im Bernstein pro Sekunde. Die ganze Inszenierung lief

40 Dreigroschenheft 3/2017 – sprunghaft, zappelnd – in zehn Minuten rin betrachtete Voigt das, was an Brechts durch. Er beriet uns, als es darum ging, die Wänden hing: die Rollbilder von Konfuzius F ilm Aufnahmen vorführbar zu machen. Wir und vom Zweifler, die Maske des Bösen, die ließen sie verlängern, jedes Bild wurde drei- Fotos der Weigel, als Ninnan Santesson ei- undzwanzig Mal kopiert. Und nun konnte nen Porträtkopf von ihr formte. Was Peter man – auch wenn die Gestalten immer Voigt vorschwebte, war die Verfilmung uns- noch über die Bühne springen – ahnen, was rer Bibliographie „Brechts Bibliothek“. Ein Brecht da inszeniert hatte. Peter Voigt kam absurdes Unterfangen, könnte man denken. auf die Idee, ausgewählte Szenen mit Be- Aber er hätte es geschafft. Sein Zugriff war schreibungen von Brecht kommentieren zu so, dass alles höchst plausibel wirkte, be- lassen. Er wählte die „Anmerkungen zum hände, logisch und gesteuert von einem ge- Hofmeister“, einen der schönsten Theater- radezu sinnlichen Erkenntnisdrang. Voigt texte Brechts, weil darin völlig entspannt öffnete die Bücher, fand Anstreichungen und souverän von der Arbeit berichtet und Randbemerkungen, schaute Brecht wird. Für mich ist „Episches Theater. Eine beim Lesen über die Schulter und erzähl- Skizze“ der ideale Lehrfilm über Brechts te, was ihn mit der jeweiligen Lektüre ver- Theater. Lehrfilm im Sinne von Lehrstück, band. Auf diese Weise entstanden kleine das besser, wie Brechts es im Englischen Vignetten: überraschende Erkenntnisse, vorgeschlagen hat, „learning play“, also hellsichtige Kommentare, Begegnungen „Lernspiel“ heißen sollte. Vergnügliches mit Autoren, Geschichten von Beziehungen Begreifen. zu schreibenden Freunden, zu Mitarbeite- rinnen und Mitarbeitern. Peter Voigt hat Der dritte Film, „Eine Hinterlassenschaft“, eine Reihe von Texten, häufig Collagen, wirkt zunächst sehr unaufwendig. Der Re- verfasst. Es gibt Aufnahmen von Alexand- gisseur hat uns hier seine Karten gezeigt: ra Czok, die wie die Texte erhalten werden Drehbücher in Form kleiner Leporellos, in müssen: Bilder, die uns ganz nah an die denen er den Fortgang der filmischen Argu- Bücher heranführen; man sieht die Struk- mentation festgehalten hatte. Im Zentrum tur des Papiers, meint, den Eindruck der des Films steht eine unscheinbare blau- Lettern wahrnehmen zu können, begreift, graue Klemm-Mappe, in die Brecht Fotos was das Wort „Druck“ bedeutet. Und man eingeklebt hatte. Wie Peter Voigt die Map- sieht die Spuren, die die Stifte des Lesers in pe aufschlägt, wie er – mit jeweils anderer seinen Büchern hinterlassen haben. Brecht Intention – drei Durchgänge vorführt, das beim Lesen, das evoziert Stille, eine ernst- ist methodisch meisterhaft. Wir staunten hafte Stille, sagte Voigt einmal. Es wäre ein darüber, aber wir staunten auch, dass dieses schweigender Film geworden. „Nicht stö- Verfahren, ein Ergebnis langen Nachden- ren!“ Als er das gefunden hatte, nickte Pe- kens, Sprechens und Ausprobierens, sich im ter Voigt und sagte: „Jetzt ist der Film fertig. Film dann so transparent und wunderbar Ich muss ihn nur noch machen.“ ¶ leicht offenbarte. Dass Peter Voigt Brechts Frage zu dem Mädchen auf einem Foto von Einführung zu einer von Günter Agde initi- Robert Capa bewahrt hat, können wir nur ierten Filmveranstaltung im Zeughauskino in als Glück bezeichnen. Berlin am 24. Februar 2017. Gezeigt wurden „Jawohl, Brecht“ (1998), „Episches Theater“ Zuletzt arbeitete Peter Voigt einige Jah- (1998) und „Eine Hinterlassenschaft“ (2004). re an einem Film über den Leser Brecht. Der Arbeitstitel lautete „Brechts Wände“. Eine Auskopplung ist der kleine Streifen „Ikonen“, den wir heute nicht zeigen. Da-

Dreigroschenheft 3/2017 41 Minima Hegeliana H egel Zu Brechts Denkbildern (7) Die Ochsen des Pythagoras Frank Wagner

„Die Reise um Deutschland („9. Gegen Frechheit und Anmaßung. Für 1 Wien und das folgenlose Denken Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterb- 2 Berlin oder das Vertrauen auf den Geist lichen deutschen Volksgeist − Tucholsky, 3 Sirius oder Rede an die Emigranten (…) Ossietzky.“). Solche Sprüche sollten den Au- Ad 3 Die Verbrennung der Bücher (Hegel vor todafés ein Minimum an Feierlichkeit und den Ochsen des Pythagoras.) Strukturiertheit garantierten. Das Feuer las sie.“ (GBA 18, 574) In Mannheim wurde zum Abtransport der Brecht entwirft im dänischen Exil 1933 den Bücher ein Schinderwagen im Schlosshof Plan zu einer satirischen Schrift mit dem bereitgestellt und mit einer schwarz-rot- Titel Die Reise um Deutschland, eine Vor- goldenen Fahne drapiert. Auf der Rückseite stufe der späteren Flüchtlingsgespräche. Das des Wagens prangte ein Plakat mit der Auf- ist Ende 33 oder Anfang 34 formuliert, also schrift: „Ich Ochse habe dies alles gelesen“. noch vor Brechts Lektüre von Hegels Vorle­ Der Volksfestcharakter war schon bei den sungen über die Geschichte der Philosophie. Autodafés der spanischen Inquisition er- Der Kommentar der großen Brecht-Ausgabe probt worden. Dort schon gab es die Pro- zu den Unpolitischen Briefen zitiert den Plan zessionen der Verurteilten und das Tragen ein zweites Mal, abweichend von der obigen von Bildnissen und Tafeln. In Frankfurt am Lesart, mit „(Hegel von den Ochsen des Main wurden die Bücher auf einem Rollwa- Pythagoras.).“ (22.2, 876) Beide Fassungen gen zum Römerberg gezogen, vor den zwei ergeben, da nicht ausgeführt, nur eine unge- Ochsen gespannt waren, die ein Brett auf fähre Ahnung davon, wie Hegel in die Satire der Stirn trugen mit der Tagesparole ‚Wider hätte eingearbeitet werden sollen. Der Zu- den undeutschen Geist‘. Aus dem Wagen sammenhang zwischen Hegel und den Och- ragte eine Mistgabel, damit auch der letzte sen des Pythagoras in Verbindung mit der Zuschauer erkennen möge, dass es sich um Bücherverbrennung ist nur in Umrissen zu einen Mistwagen handle. Die Hexenverbren- erahnen. Die Verkehrung setzt einen groben nungsrituale müssen im Vergleich dazu, so Akzent. Die Ochsen haben die Macht über- schildern es Augenzeugenberichte, geradezu nommen und beginnen die Ausrottung des erhaben gewesen sein. Die deutsche Bücher- Geistes. verbrennung war, nach jedem historischen Vergleich, ein singulärer Höhepunkt an Er- Die Bücherverbrennungen wurden am bärmlichkeit. Goebbels versuchte sie in sei- 10. Mai 1933 an vielen Universitätsorten ner Ansprache als Symbol zu veredeln. Doch durchgeführt. In Fackelzügen wurden die aus die Ochsen und die Flammen waren real. den Universitätsbibliotheken, Leihbüche- reien und Privatbeständen aussortierten Bü- Wieso aber schreibt Brecht in diesem Zu- cher auf Lastwagen oder Schinderkarren zu sammenhang von Ochsen des Pythagoras einem Scheiterhaufen geführt und ins Feuer und was hätte Hegel mit diesen Ochsen zu geworfen. Während des Verbrennungsaktes tun? wurden zentral erstellte Feuersprüche geru- fen, die jeweils einen Autor anprangerten In Hegels Vorlesungen über die Geschichte

42 Dreigroschenheft 3/2017 der Philosophie nimmt die Beschreibung liches Gebrülle;“ (ed. Perfahl 1, 577) Die

des politischen Bundes, den Pythagoras in Schwarzen Listen mit den zu verbietenden H egel Kroton gründete und der von seinen Nach- und zu verbrennenden Büchern waren im folgern fortgeführt wurde, einen großen April 1933 erstellt worden, lückenhaft und Raum ein. Brecht streicht mit Rotstift in stümperhaft, mit Brecht darauf, aber Os- seinem Leseexemplar der Jubiläumsausgabe kar Maria Graf zunächst nicht. Graf emp- der Werke Hegels über Seiten die Ausfüh- findet das als Schande. Sein Protest hat die rungen über die Organisation der pythago- vorhersehbaren Folgen. Die Bücher Grafs reischen Gesellschaft an. Dem Pythagoras, werden in einem nachträglichen Autoda- so beschließt Hegel seinen Überblick über fé in der Aula der Münchener Universität diese Epoche der griechischen Philosophie, verbrannt. werden zahlreiche wissenschaftliche Ent- deckungen und praktische Erfindungen Auf den Reinheitsgedanken des Feuers zugeschrieben. Erwähnung findet jener spielt Brechts Formulierung „Das Feuer las Lehrsatz, der bis heute unlöslich mit dem sie“ im Satireplan von 1933 an und im Juli Namen Pythagoras verknüpft ist. 1938 liegt die Satire über die erste Fassung der Proskriptionsliste im Börsenblatt der „Pythagoras soll eine Hekatombe geschlachtet Buchhändler und Grafs Reaktion darauf mit haben bei Findung dieses Satzes; er hat die dem Titel Die Bücherverbrennung vor.. Wichtigkeit desselben eingesehen. Und merk- würdig mag es wohl sein, daß seine Freude so Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem weit gegangen, deshalb ein großes Fest anzu- Wissen ordnen, wo die Reichen und das ganze Volk Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben eingeladen waren; der Mühe wert war es. Es ist Ochsen gezwungen wurden, Karren mit die Fröhlichkeit, Feier des Geistes (Erkenntnis) Büchern – auf Kosten der Ochsen.“ (GPh I, tw 18, 273f.) Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste Opferung? Speisung? Der Widerspruch von der Gelage und Enthaltsamkeit im Umfeld des Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine Lehrers ist schon Diogenes aufgefallen. Das Bücher vergessen waren. (…) (GBA 12, 61) Töten von Tieren sei sogar, wegen der Leh- re der Seelenwanderung, verboten gewesen. Es folgt die bekannte Forderung „Verbrennt Der Verzehr selbst heiliger Tiere bei feier- mich!“. Hegel kommt nicht vor. Die hier ge- lichen Anlässen war allerdings manches nannten Ochsen gehören zur Familie jener Mal erlaubt, um selbst in die Teilhabe der Kälber, über die Brecht satirische Märsche Kraft der göttlichen Geschöpfe zu gelangen. verfasste, in denen sich der Typus des fa- Die Überlieferung vereinfacht radikal. schistischen Kriegers wiederfindet. Die Ochsen des Pythagoras sind zu Kälbern des Die Feier des Geistes auf Kosten von Och- Führers aufgestiegen. Die intentio auctoris sen ist zu einer Art geflügeltem Wort ge- ist eindeutig. Ob Brecht die Metapher von worden. Seit Pythagoras zittern Ochsen, den Ochsen des Pythagoras von Hegel erst wenn eine Erfindung droht. Adelbert von gelernt oder aus anderer Quelle übernom- Chamisso hat dem so erweiterten Bild in men hat, ist nicht mit letzter Sicherheit zu dem Gedicht Vom Pythagoräischen Lehr­ ermitteln. Der Plan einer Satire über Bü- satze anschauliche Gestalt gegeben. Das cherverbrennung mit „(Hegel vor den Och- Fazit lautet: „Die Ochsen, seit dem Tage, sen des Pythagoras.)“ ist so phantastisch, wenn sie wittern, / Daß eine neue Wahr- dass er nur von Brecht stammen kann und heit sich enthülle, / Erheben ein unend- nur durch ihn auszuführen gewesen wäre.¶

Dreigroschenheft 3/2017 43 Wer war der Hausarzt der Familie Brecht? Michael Friedrichs A ugs b urger Der

Wer war der Hausarzt der Familie Brecht? In seinem berühmten „Tagebuch No. 10“ von 1913 erwähnt Brecht zweimal einen Dr. Müller: einmal am 23. Mai, wo Dr. Müller in Urlaub ist und ein junger Vertreter an seiner Stelle kommt, sowie am 9. Juli.

Die frühe Biografik hat dieser Frage keine Aufmerksamkeit geschenkt. Gut möglich, dass die zahlreichen Freunde und Wegge- fährten, die von Frisch/Obermeier befragt wurden, gar keine Kenntnis hierüber hat- ten; den Namen des Hausarzts kennen wohl meist nur Familienmitglieder. Nicht einmal der mitteilsame Bruder Walter Brecht er- wähnt den Doktor in seinen 1984 veröffent- lichten Erinnerungen; Brechts Tagebuch selbst ist erst seit der Entdeckung und Ver- öffentlichung durch Siegfried Unseld 1989 bekannt. Die Liste „Praktische Ärzte“ im Adressbuch Augsburg 1913 kennt sechs verschiedene Dr. Müller. Anhand der genannten Spezialgebiete kann man sicherlich Friedrich Nach meiner Kenntnis unternimmt erst- W. (Kinderarzt), Hans (Augenarzt) und L.R. (Oberarzt mals die Große Berliner und Frankfurter im Krankenhaus) als mögliche Hausärzte bei Familie Ausgabe eine Identifizierung, und zwar in Brecht ausschließen. Das Adressbuch ist online: http:// der Kommentierung dieses Tagebuchs: Es wiki-de.genealogy.net/Augsburg/Adressbuch_1913 handle sich um Dr. Georg Müller (GBA 26, 498: „Der Hausarzt Dr. Georg Müller ist Internist, spezialisiert auf Magen- und niger als sechs Praktische Ärzte mit Namen Darmkrankheiten“). Eine Nachfrage beim „Dr. Müller“ in Augsburg gab, von denen Bert Brecht Archiv ergab, dass dort keine aber wohl nur Dr. Georg Müller sowie die Unterlagen über diese Zuschreibung vor- beiden Dr. Friedrich Müller als Hausärzte liegen. Die Erstausgabe des Tagebuchs, von bei Familie Brecht in Frage kommen (siehe Unseld ediert, hatte den Namen Müller Abbildung oben). Aus der Lage ihrer jewei- nicht kommentiert. Die Zuschreibung „Dr. ligen Praxis lassen sich keine Indizien ge- Georg Müller“ wurde von Werner Hechts winnen – alle drei Adressen in Schaezler- „Chronik“ übernommen. und Fuggerstraße sind etwa eineinhalb Ki- lometer von der Bleichstraße 2 entfernt (ob Ein Blick in das Augsburger Adressbuch damals Hausbesuche typischerweise zu Fuß von 1913 ergibt, dass es damals nicht we- oder mit einem Fahrzeug unternommen  Zitiert wird im Folgenden nach dieser Ausgabe, wurden, habe ich noch nicht herausfinden nicht nach der redigierten Fassung der GBA 26. können).

44 Dreigroschenheft 3/2017 Aus der Spezialisierung von Dr. Georg Müller für Magen- und Darm- krankheiten ergibt sich A ugs b urger kein Zusammenhang mit Der Brechts Beschwerden: Er klagte am 23. Mai über Herzbeschwerden, am 9. Juli über Katarrh. Aber ein Praktischer Arzt ist natürlich umfassend tätig und nicht nur in seinem Spezialgebiet. Die damals bereits leidende Mutter Sofie Brecht brauchte wohl nicht vorrangig ei- nen Magen-Darm-Spezi- alisten – eher der Vater, Anzeige für das „Hygienische Bad“ im Augsburger Adressbuch 1913. Die der sich im Dezember ärztliche Betreuung geschah durch Dr. Friedrich Müller. 1913 einer Magenopera- tion unterziehen musste und dafür nach über das Hygienische Bad. Es handelt sich München ging. um eine Genossenschaft, die sich 1901 ge- gründet hat und das Bad bis 1926 unter- Liest man die Einträge zu seiner Gesundheit hielt. In der Satzung vom 22.11.1901 wird in Brechts Tagebuch No. 10 im Zusammen- in § 2 das Ziel benannt, „seinen Mitgliedern hang, dann deutet vieles darauf hin, dass und den Mitgliedern des Kneippvereins der erstgenannte Dr. Friedrich Müller der Augsburg […] die Anwendung des Natur- behandelnde Arzt gewesen sein könnte. Er heilverfahrens nach ärztlicher Anordnung ist „Spezialarzt für physik. Therapie“, auch gegen billiges Entgelt zu ermöglichen“. Ein im „Hygienischen Bad“ tätig, und er unter- entsprechendes Gesuch wurde an das In- hält ein „Radium-Emanatorium“ in seiner nenministerium in München gerichtet und Praxis. ein Anwesen in der Jesuitengasse gekauft. Die Genossenschaft erhielt die Konzessi- Auf das „Hygienische Bad“ verweist Brechts on am 24. März 1902. Eine Fülle von An- Tagebuch relativ eindeutig: Er notiert ein wendungen wurde angeboten. Eine (nicht paar Tage nach dem Besuch des Vertreters datierte) gedruckte Preisliste unterscheidet von Dr. Müller skeptisch, er solle „ins Bad“, Preise für Nicht-Mitglieder, Mitglieder und und „ich glaube nicht, daß es viel nutzen Krankenkassen. Preiswert sind etwa „kalte wird“ (So 25.5.). Einen solchen Bad-Besuch Güsse (ohne Wäsche)“: 12 Pfennig für verzeichnet er am Fr 6.6.; bereits die Brecht- Chronik interpretiert das als Besuch im  Bestand 34, Nr. 251, Genossenschaft „Hygienisches „Hygienischen Bad“ (Ausgabe 1997, S. 19). Bad“ in Augsburg. I. Bd. 1901–1926. Vielen Dank an Georg Feuerer! In diesem Bad war Dr. Friedrich Müller  Der Kneippverein war in Augsburg 1889 gegründet ärztlich tätig, es lag in der Jesuitengasse worden; Sebastian Kneipp war hier eine Zeitlang in 1 F 413/ 413 /2. der Pfarrer St. Georg als Kaplan tätig. Vorsitzender des Vereins war 1913 der gleiche Heinrich Möhnle, der auch den Antrag zur Genehmigung des „Hygie- Im Augsburger Stadtarchiv gibt es eine Akte nischen Bades“ gestellt hatte (Stadtlexikon Augsburg online; Adressbuch 1913).

Dreigroschenheft 3/2017 45 A ugs b urger Der

Postkarte aus Bad Steben, verschickt 1913

Nicht-Mitglieder, 8 Pfennig für Mitglieder darf man wohl als ein Indiz werten, dass der und 10 Pfennig für Krankenkassen. Am „Spezialarzt für physikalische Therapie“ Dr. teuersten ist ein „Elektrisches Moor-Bad“: Friedrich Müller der Hausarzt war. je nach Status 3 Mk, 2,60 Mk oder 2,80 Mk. – Welche Anwendung Bert Brecht hier eher Im Sommer 1913 werden Mutter und Sohn widerwillig über sich ergehen ließ, ist nicht Brecht für einen Monat nach Bad Steben erkennbar. zur Kur geschickt. Bad Steben war und ist bekannt für seine eisenhaltigen Quellen, Das war nicht die einzige Methode, Brechts denen zahlreiche Heilwirkungen zuge- schwächlicher Gesundheit aufzuhelfen. schrieben werden. Die Zahl seiner Kurgä- Er notiert an vier Terminen den Besuch ste entwickelte sich gerade in der fraglichen eines Masseurs namens Löffler, der mit ihm Zeit rasant – waren es 1910 noch 2.868 Per- turnt; heute würde man ihn wohl als Physio­ sonen, so kamen 1913 bereits 3.624 Gäste. therapeuten bezeichnen (So 21.9.: „Vorm. kam Herr Löffler, der mit mir turnte. Sehr Hier bekommt Brecht „Vorm. und nachm. netter, höflicher .u bescheidener Mann. Hab je 1 Becher Stahlwasser“ („1.) Aufzeich- ihn ganz gern. Braver, gescheiter Mensch.“ nungen über Bad Steben. 1. Woche“) zu Weitere Besuche sind Mi 24.9. und Do 4.12. trinken. Man kann in dem Wasser auch ba- notiert; am So 14.12. wartet Brecht vergeb- den, ferner gibt es Moorbäder und Radium- lich auf ihn). Der Mann wurde bereits in kuren, sie werden jedoch von Brecht nicht der Erstausgabe des Tagebuchs als Engel- besonders erwähnt. Er macht sich in einem bert Löffler identifiziert, 1913 wohnte er  Dr. Max Stifler, „Bad Steben für Kurgäste und Ärzte“, in der Volkhartstraße 16. Diese physiothe- 7. Aufl., bearb. von Dr. Heinrich Rubner, Hof 1921, rapeutische Behandlung des jungen Brecht S. 6.

46 Dreigroschenheft 3/2017 A ugs b urger Der

Anzeige in der „Neuen Augsburger Zeitung“, 24.7.1912; Radium-Emanatorium in Wien (undatiert)7 die Anzeige erschien erneut am 27.und 31.7. Am

14.8.1912 erschien in der gleichen Zeitung eine ähnlich  lautende redaktionelle Notiz. le“ einen relativ hohen Radon-Gehalt hat. In dem genannten Führer von 1921 wird darauf hingewiesen, die Tempelquelle sei „hinsichtlich ihres Gehaltes an Radioaktivi- tät von 141 Macheeinheiten die fünfstärkste sämtlicher bekannter Heilquellen Europas“ (S. 16). Aktuell (April 2017) wirbt das Bad auf seiner Homepage hierfür mit folgenden Worten:

Das radioaktive Edelgas Radon ist ein natür- licher Bestandteil unserer Umwelt. Seit über einem Jahrhundert wird das anregende Na- Gedicht über das Benehmen der Kurgäste turelement, entdeckt von dem Ehepaar Marie lustig, und er übt sich hierfür in Daktylen, und Pierre Curie, als Helmittel verwendet. teils 5-, teils 6-hebig: Radon ist hoch wirksam und wertvoll für die Gesundheit, aber ausgesprochen selten. Nur Die Leute wenige Heilbäder in Mitteleuropa haben ein Langsamen Schrittes mit würd’gem Gebaren sie natürliches Radon-Vorkommen. Darum ist gehen die Bad Stebener Tempelquelle so kostbar: auf der geheiligten Straße der Kurpromenade,– Aus tiefen Erdschichten sprudelt das radon- Und in den Händen, den saubern, sie halten haltige Wasser ans Tageslicht. Und hilft in das Trinkglas vielerlei Anwendungsformen Ihrer Gesund- das – aus ganz echtem Kristall – für 50 Pfeng heit und Ihrem Wohlbefinden. sie erworben; sorgsam– sie halten‘s mit spitzigen, lieblichen Mit dieser Radon-Behandlung in Bad Ste­ Fingern ben kam Brecht durch das „Stahlwasser“ daß man auch sehe die herrlichen Ringe aus  „Radon“ ist der Name für ein Zerfallsprodukt des ganz echtem Goldblech. […] Radium, entdeckt 1900 von Ernst Dorn (vgl. Ernst Dorn: Über die von radioaktiven Substanzen aus- Die Wahl von Bad Steben als Kurort kann gesandte Emanation. In: Abhandlungen der Natur- durchaus einen Grund darin gehabt haben, forschenden Gesellschaft zu Halle. Band 23, 1901, S. 1–15, urn:nbn:de:hebis:301090447. dass das Wasser der dortigen „Tempelquel-  http://www.bad-steben.de/gesundheit/mineral- moorheilbad/radon.html

Dreigroschenheft 3/2017 47 der Tempelquelle in Kontakt. Das „Radium- gut. Herzbeschwerden jetzt fast verschwun- Emanatorium“, das Dr. Friedrich Müller in den.“ (GBA 26, S. 67) seiner Praxis betrieb, hat die Familie Brecht

A ugs b urger dagegen allem Anschein nach nicht besucht. Es gibt auch einen Zusammenhang zu Dr.

Der Ein Foto aus Wien (siehe vorige Seite) zeigt Friedrich Müller in Brechts persönlichem einen solchen Behandlungsraum. Diese Umfeld. Müller war laut amtlichem Mel- Behandlungsmethode war erst wenige Jah- debogen 1907 mit Frau und zwei Kindern re zuvor entwickelt worden und befand sich nach Augsburg gezogen; die Tochter Fri- im Grunde noch im Experimentierstadi- da Maria verstarb bereits 1914; der Sohn um, wie einem zeitgenössischen Lehrbuch Otto Friedrich, geboren 23.12.1900, nannte zu entnehmen ist. Der Autor des Kapitels sich später Müllereisert. Bekanntlich hatte über „Röntgen-, Radium- und Licht-Be- Brecht ihm diese Namensergänzung vor- handlung“, Dr. P. Krause, Professor an der geschlagen. Otto ging auf das Gymnasium Universität Bonn, verweist auf erfolgreiche bei St. Stephan, Brecht lernte ihn also nicht Behandlungen bei chronischem Rheuma- als Mitschüler kennen – vielleicht aber als tismus, Gicht und Neuralgie; aber Sohn seines Arztes. Müllereisert wurde sein lebenslanger Freund, studierte Medizin und […] inwieweit Eiterungen und Entzün- ging wie Brecht nach Berlin. Sein Vater ver- dungen, Erkrankungen des Herzens und der starb 1917. Gefäße, Kararrhe der Schleimhäute oder gar Nervosität und Schwächezustände eine Und es gibt noch einen weiteren Hinweis: Indikation für die Emanationsbehandlung Walter Brecht erwähnt in seinen Erinne- darbieten, muß die Zukunft lehren. Vorläufig rungen10 einen Dr. Renner, der seine Mutter sind wir durchaus berechtigt, soweit die bis- in der Endphase ihres Lebens 1920 behan- herigen in der Literatur niedergelegten Er- delte. Dr. Otto Renner hatte 1916 die glei- fahrungen einen Schluß zulassen, nicht allzu che Praxisadresse wie Dr. Friedrich Müller: 1 optimistisch zu sein. (S. 791) Frölichstr. 10 /2.

„Nervosität und Schwächezustände“ hätten Ein Beweis, dass besagter Dr. Friedrich durchaus ein Argument dafür hergegeben, Müller der Hausarzt der Brechts war, ist dem jungen Brecht eine Behandlung im dies alles nicht. Aber die Wahrscheinlich- Radium-Emanatorium zu empfehlen. Das keit ist doch recht hoch. mag aus Kostengründen oder wegen zu wenig Erfahrung mit der Wirkung auf Ju- * gendliche nicht in Frage gekommen sein. Bei dieser Vorgeschichte wird auch leichter Es könnte aber auch sein, dass Brecht bei nachvollziehbar, wie es kommt, dass Brecht seiner Rückkehr von der Kur in Bad Steben bis zu seinem Tod große Stücke auf den für’s erste hinreichend gekräftigt erschien. naturheilkundlich arbeitenden Münchner Er selbst notiert jedenfalls zusammenfas- Arzt Johannes Ludwig Schmitt hielt, den send für den 1.-14. August 1913: „Nahm sog. Atem-Schmitt, bei dem Brecht 1927 14 Bäder. Trank Stahlwasser. Befinden sehr Helene Weigel zur Untersuchung anmeldet (GBA 28, 290) und in dessen Sanatorium er  http://www.gutenberg-e.org/rentetzi/detail/15- sich unmittelbar vor seinem Tod noch be- 1.html handeln lassen möchte (GBA 30, 478). ¶  „Handbuch der Therapie der Erkrankungen des Bewegungsapparates, venerischen und Hautkrank- heiten, Röntgen-, Radium- und Lichtbehandlung,  Stadtarchiv Augsburg. Augenkrankheiten“, hrsg. v. Dr. F. Penzoldt und Dr. 10 „Unser Leben in Augsburg, damals“, Frankfurt 1984, R. Stintzing, Jena: Gustav Fischer, 1911. S. 348.

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