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Alfred Hausmann Lindenmahdstraße 6 86931 Stadtbergen/Leitershofen Tel. 0821/436675 eMail: [email protected] Aufsatzwettbewerb der Stadt Stadtbergen 2010 „Wiedervereinigung Deutschlands“ Thema: „Im Visier der Stasi“ Alfred Hausmann Todesurteil für Olbernhauer Schüler 2010 Gewidmet den Initiatoren und Teilnehmern der Freitag-Demonstrationen im Herbst 1989 in Olbernhau Am 25. August 2010 ging die folgende Meldung durch die deutsche Presse: Lothar de Maiziere (CDU), der letzte Ministerpräsident der DDR, hat gegenüber der Passauer Neuen Presse klar gestellt: „Ich lehne die Bezeichnung 'Unrechtsstaat' für die DDR ab.“ In diesem Sinn hatten sich vor ihm bereits Gesine Schwan, Erwin Sellering (beide SPD) und Luc Jochimsen (Die Linke) positioniert. Alle vier riefen mit ihren Äußerungen sowohl Protest als auch Beifall hervor. Das Thema „Sozialistischer Staat auf deutschem Boden“ löst auch zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden Emotionen aus. Unrechtsstaat? Oder fortschrittlicher Staat mit Kinderkrankheiten? Der Blick auf Tausende von DDR-Schicksalen könnte diese Alternative einer Antwort nahe bringen. Eines von ihnen, das 1950/51 in unserer Partnerstadt Olbernhau seinen Lauf nahm, versuche ich nachzuzeichnen. 29. August 2010 4 von 13 Alfred Hausmann Am Morgen des 10. Januar 1951 stehen zahlreiche Bürger des 10.000 Einwohner zählenden Städtchens Olbernhau im sächsischen Erzgebirge auf dem Platz vor dem Ballhaus „Tivoli“. An der Fassade der Gaststätte ist ein Lautsprecher angebracht. Er überträgt das gesprochene Wort aus dem Saal für die in der Kälte Stehenden nach draußen. Im Inneren herrscht Enge: Betriebsbelegschaften und ausgesuchte SED- Genossen wurden herangeschafft, um eine Sitzung des Landgerichts Dresden mitzuerleben. Vor Gericht steht ein Gymnasiast, der 18-Jährige Hermann Joseph Flade aus Olbernhau. Das Ministerium für Staatssicherheit hat den Prozess in den Heimatort des Angeklagten verlegt. Man plante einen Schauprozess zur Abschreckung der Feinde der „Arbeiter- und Bauernmacht“. Im Angeklagten glaubte man, einen unbelehrbaren Überzeugungstäter „vernichten“ zu können. Als im Verlauf der Vernehmung der Junge Flade auf eine Frage des Vorsitzenden ausruft: „Ich liebe die Freiheit mehr als mein Leben!“ hören die Menschen auf dem Platz das Zischen des Richters: „Ausschalten!“ und ein Knacken im Lautsprecher. Der Ton wird abgedreht und bleibt es für den Rest der Verhandlung. Die Idee des öffentlichen Prozesses im Dienst der Propaganda ist gescheitert. Nach fünfstündiger Verhandlung wird gegen 16.00 Uhr das Urteil über den Schüler verkündet: „Der Angeklagte wird zur Strafe des Todes kostenpflichtig verurteilt.“ In der Begründung wird ausgeführt, dass die Menschheit vor einem solchen Schädling geschützt werden müsse. 29. August 2010 5 von 13 Alfred Hausmann Welches Verbrechens hat sich der junge Olbernhauer schuldig gemacht? Am 15. Oktober 1950 fanden in der vor einem Jahr gegründeten DDR die ersten „Wahlen“ zur Volkskammer statt. Sie liefen bereits nach dem bekannten Schema ab, nach dem alle DDR-Wahlen bis 1989 durchgezogen wurden. Obwohl die DDR- Verfassung von 1949 allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht garantierte, hielten sich die Regierenden wohlweislich nicht daran, denn 1946 waren die leidlich freien Wahlen für sie enttäuschend ausgefallen. Die Verteilung der Mandate und selbst der Anteil der Ja-Stimmen lagen 1950 bereits vor dem Wahltag fest. Die Sitze wurden zwischen den Blockparteien und Massenorganisationen so aufgeteilt, dass die SED selbst unter den ihr hörigen Gruppierungen noch die Mehrheit hatte. Der Wähler durfte diesem Verfahren durch gehorsames, offenes Abgeben des Stimmzettels, der damals nicht einmal einen Kreis zur Kennzeichnung hatte, zustimmen. Den 18-Jährigen Flade empörte diese plumpe, pseudodemokratische Methode. Er hatte von Aufrufen zum Wahlboykott in anderen Städten gehört und wollte auch seine Olbernhauer Mitbürger auffordern, sich nicht missbrauchen zu lassen. Aber wie wollte er das ohne Kopf und Kragen zu riskieren anstellen? Da kam ihm eine Idee..... Seit Kindertagen hatte er einen Druckkasten mit Gummitypen und Stempelkissen. Ihn kramte er hervor und setzte damit Aufrufe gegen die manipulierte Wahl. Auf einen Stapel Blätter druckte er: „Am 15. Oktober geschieht der unglaublichste Wahlbetrug nach sowJetischem Muster.“ Auf weiteren Zetteln verbreitete er einen politischen Witz über Pieck und Grothewohl. Etwa 200 solcher Streifen stellte er her, ohne mit einem anderen Menschen darüber zu sprechen. In mehreren Nächten war er unterwegs, warf die bedruckten Blätter in Briefkästen, steckte sie an Fensterläden, Zäune, Haustüren und legte sie in Telefonzellen. 29. August 2010 6 von 13 Alfred Hausmann Die Angst war sein ständiger Begleiter. Jedes Mal zitterten ihm beim Losgehen die Knie. In der Nacht zum Wahltag war er zum letzten Mal unterwegs. Fast alle Zettel waren verteilt, da traf ihn ein Ruf aus dem Dunkel wie ein Peitschenhieb: „Halt! Stehen bleiben! Volkspolizei!“ Zwei schemenhafte Gestalten kamen auf ihn zu. Das grelle Licht von Taschenlampen blendete seine Augen. „Zeigen sie ihren Ausweis!“ herrschte eine Stimme. Hermann griff in seine Jackentasche, holte eine Brieftasche hervor und hielt sie dem Polizisten, der Zivilkleidung trug, hin. In seiner Tasche hatte er auch – für alle Fälle – und, weil er sich der Gefahr bewusst war, ein Messer, ein Taschenmesser, dessen Klinge schon geöffnet war. Als der Polizist nach seinem Ausweis greifen wollte, sticht Flade in dessen Unterarm. Eine Sekunde hatte er noch gezögert, doch die Gewissheit, verhaftet zu werden, hatte die Hemmung, auf einen Menschen einzustechen, beiseite geschoben. Der Polizist wirft sich auf den Angreifer und reißt ihn zu Boden. Der sticht den Beamten in den Rücken und kann sich befreien. Obwohl die begleitende Volkspolizistin mit dem Knüppel auf Flade einschlägt gelingt es diesem, zu fliehen. Am Montag hängen in Olbernhau und Umgebung Fahndungsblätter „5000 Mark Belohnung! Mordversuch an einem Volkspolizisten!“ steht auf den knallroten Plakaten. 29. August 2010 7 von 13 Alfred Hausmann Bereits am Nachmittag desselben Tages wird Flade in seinem Elternhaus verhaftet. Die Volkspolizistin hatte ihn auf dem Photo der Ausweiskartei erkannt. Zunächst streitet er alles ab. Wochenlange Verhöre durch die Stasi folgen. Als seine Eltern und selbst seine Großmutter verhaftet werden, legt er ein Geständnis ab. Staatsanwalt und Staatssicherheit sehen in den Flugblättern eine Kriegshetze und somit ein Verbrechen gegen den Frieden. Besser sei es deshalb, so der Staatsanwalt, einen einzelnen zu beseitigen, als Millionen Menschenleben zu gefährden. Staatsanwalt Welich hatte bereits in den berüchtigten Waldheimer Prozessen des Jahres 1950 eine unrühmliche Rolle gespielt. Den Angriff mit dem Messer wertete er als Mordversuch. Aus dem Taschenmesser machte er einen Hirschfänger, aus den leichten Verletzungen des Polizisten einen Angriff auf dessen Leben. Das medizinische Gutachten stellte vier Stichverletzungen von einem halben bis vier Zentimeter Tiefe fest. Nach vier Tagen hatte der Polizist seinen Dienst wieder aufgenommen. Das Todesurteil erging unter Berufung auf den Artikel 6 der Verfassung der DDR von 1949, der den Begriff „Boykotthetze“ thematisierte. Weil eine Definition des Begriffs „Boykotthetze“ im Gesetz ebenso fehlte wie ein Strafrahmen, war es den DDR- Gerichten möglich, Jede kritische Meinungsäußerung mit unverhältnismäßigen Strafen zu ahnden. Der Junge Flade war sich des Risikos, das er einging, durchaus bewusst. Er sagte vor seinen Richtern: „Ich war mir darüber im Klaren, dass das Verteilen der Flugblätter sehr schwer bestraft würde. Es hielt mich nicht davon ab, dass ich 15 bis 20 Jahre Zuchthaus zu erwarten hätte, wenn ich erwischt würde, und ich war der Überzeugung, dass es eine gerechte Sache sei, wenn man gegen die Maßnahmen der DDR kämpft. Ich habe fünf Jahre dazu gebraucht (!), um den Entschluss zu fassen, aktiv gegen die DDR zu kämpfen. Ich sagte mir, bei einer Wahl müsste auch eine andere Stimme gehört werden. Da ich das nicht offen machen konnte, weil ich von der Schule fliegen würde, musste ich das nachts im Geheimen tun. Ich sagte mir, deine Sache ist gerecht und dafür gehst du nicht in das Zuchthaus. Der Vopo ist ein Agent des rechtswidrigen Staates und da kannst du dich zur Wehr setzen.“ Der Vertreter der Staatssicherheit, die von Anfang bis Ende Herr des Verfahrens war, schreibt in seinem Verhandlungsbericht: „Der Angeklagte legte während der Verhandlung ein zynisches, lächelndes Wesen an den Tag, blieb haargenau bei seinem Geständnis und zeigte in keinem Punkt Reue.“ Drei Monate Stasihaft und die bekannten Verhörmethoden hatten es nicht vermocht, den Willen des 18-Jähringen zu brechen. Das brachte ihm die Sympathie der Olbernhauer Bevölkerung ebenso ein wie seine Anklage der unmenschlichen Arbeitsbedingungen im Bergbau, als er dem Gericht seine Erfahrungen bei der Wismut in Marienberg schilderte, wo er ein Jahr gearbeitet hatte. 29. August 2010 8 von 13 Alfred Hausmann Die Strafkammer verurteilte Flade wegen Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen in Tateinheit mit militaristischer Propaganda, versuchten Mordes und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zum Tode. Das Todesurteil war vom Ministerium für Staatssicherheit dem Gericht angewiesen worden. Es sollte ein abschreckendes Exempel sein. Alle vier Richter – zwei Berufs-, zwei Laienrichter – waren SED-Mitglieder. Statt der erwarteten Empörung über die Tat schlug der Regierung der DDR eine Welle der Empörung