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Plenarprotokoll 13/6

Deutscher

Stenographischer Bericht

6. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 157 A Margareta Wolf-Mayer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 168C Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 170B Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. PDS 176A NEN und F.D.P.: Bestimmung des Ver- Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 177D fahrens für die Berechnung der Stellen- Rudolf Dreßler SPD anteile der Fraktionen (Drucksache 13/ 180C 34) 157A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 184A () BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 2: DIE GRÜNEN 186C Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. F D P. 188B NEN und F.D.P.: Einsetzung von Aus- Dr. Heidi Knake-Werner PDS 190 D schüssen (Drucksache 13/35) (Köln) SPD 192B in Verbindung mit Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 193A, 195A, 219C

Zusatztagesordnungspunkt 3: Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . 193B, 195B Beratung des Antrags der Abgeordneten - Ernst Hinsken CDU/CSU 194B Dr. , Petra Bläss, Manfred Dr. Günter Rexrodt F.D.P 196B Müller, weiterer Abgeordneter und der SPD PDS: Einsetzung von Ausschüssen 197A (Drucksache 13/33) Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 197D Rudolf Dreßler SPD . . . 198C, 199A, 256B in Verbindung mit Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 199C Zusatztagesordnungspunkt 4: Jörg Tauss SPD 200D, 249B, 250A Beratung des Antrags der Fraktion Dr. Uwe-Jens BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung Rössel PDS 201 D eines Ausschusses für Menschenrechte Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . 203 A und Humanitäre Hilfe (Drucksache 13/ Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ 36) 157B CSU 204 A Tagesordnungspunkt: Dr. , Bundesministerin BMU 206A Regierungserklärung des Bundeskanz- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ lers (Fortsetzung der Aussprache) NEN 208D Gerhard Schröder, Ministerpräsident (Nie- Birgit Homburger F D P 210C dersachsen) 157 D Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CDU/CSU 163B CSU 212A

II Deutscher — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. , Donnerstag, den 24. November 1994

Jochen Borchert, Bundesminister BML . 213C , Bundesminister BMG . 246C Horst Sielaff SPD 215A Peter Dreßen SPD 247D Dr. Gerald Thalheim SPD 215D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Egon Susset CDU/CSU 216C NEN 251A Dr. Christa Luft PDS 216D Dr. Dieter Thomae F D P. 252 C Klaus Kirschner SPD 253 C Namentliche Abstimmung 217 C Dr. PDS 254 A Ergebnis 221 C Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (Aachen) SPD 217D CDU/CSU 255 A Waltraud Schoppe BÜNDNIS 90/ Dr. Ruth Fuchs PDS 255 B DIE GRÜNEN 218D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Michael Glos CDU/CSU 221 A NEN 256 A , Bundesministerin BMFSFJ 224 A Nächste Sitzung 257 C Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 226 C Berichtigung 257 Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . . 228 D

Christina Schenk PDS 231 C Anlage 1 Maria Eichhorn CDU/CSU 233B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 258* A Christel Hanewinckel SPD 234 D

Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 237 D Anlage 2 Ortrun Schätzle CDU/CSU 238 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aachen) SPD 240A Christina Schenk (PDS) zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 13/35: Ein- CDU/CSU ...... 241 A setzung von Ausschüssen (Zusatztagesord- Klaus Kirschner SPD 243 A nungspunkt 2) 258* B

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6. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen Auch hier ist keine Aussprache vorgesehen. Wir und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche kommen damit gleich zur Abstimmung, und zwar einen guten Morgen. zunächst über den Antrag der Abgeordneten der PDS Ich komme zunächst zu dem, was vereinbart ist. auf Drucksache 13/33. Wer stimmt für den Antrag der Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige PDS? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Damit ist der Antrag bei Enthaltung des BÜNDNIS- Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. Sind SES 90/DIE GRÜNEN und bei Zustimmung der PDS Sie mit der Erweiterung einverstanden? Da ich abgelehnt. keinen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, daß wir Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktio- es so beschließen. nen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: F.D.P. zur Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksa- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ che 13/35. Wer stimmt für diesen interfraktionellen CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist F.D.P. dieser Antrag bei Gegenstimmen der PDS angenom- men. Bestimmung des Verfahrens für die Berech nung der Stellenanteile der Fraktionen Es wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion — Drucksache 13/34 — BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hierzu ist keine Aussprache vorgesehen. Wir kom- Hilfe auf Drucksache 13/36 zur federführenden Bera- men unmittelbar zur Abstimmung über den Antrag tung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitbera- der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE tung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität GRÜNEN und F.D.P. auf Drucksache 13/34. Wer und Geschäftsordnung zu überweisen. Gibt es dazu stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Enthal- noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der tungen? — Dann ist dieser Antrag bei Enthaltung der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. PDS angenommen. Wir setzen jetzt die Aussprache zur Regierungser- - Ich rufe die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf: klärung des Bundeskanzlers fort: ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ Regierungserklärung des Bundeskanzlers CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. (Fortsetzung der Aussprache) Einsetzung von Ausschüssen Ich erinnere noch einmal daran, daß wir gestern für — Drucksache 13/35 — die heutige Aussprache sieben Stunden beschlossen haben. ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Petra Bläss, Manfred Müller, Wir kommen zunächst zu den Bereichen Wirtschaft, weiterer Abgeordneter und der PDS Arbeit, Ökologie und Landwirtschaft. Einsetzung von Ausschüssen Zur Umweltpolitik liegt ein Entschließungsantrag — Drucksache 13/33 — der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- Wir beginnen mit der Aussprache. Das Wort hat der NIS 90/DIE GRÜNEN Ministerpräsident von Niedersachsen, Gerhard Schröder. Einrichtung eines Ausschusses für Menschen- rechte und Humanitäre Hilfe — Drucksache 13/36 — Überweisungsvorschlag: Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersach- Auswärtiger Ausschuß (federführend) sen): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- und Herren! Ich hätte mich gern mit den wirtschafts- nung politischen Vorstellungen der Regierung auseinan- 158 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) dergesetzt. Indessen: Weder in der gestrigen Regie- sagt, warum es gemacht wird, und Herr Rexrodt sagt rungserklärung noch in der dieser Regierungserklä- es der Presse. rung zugrundeliegenden Koalitionsvereinbarung war (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS etwas zu lesen, was der Debatte würdig gewesen 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten wäre. der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diesem merkwürdigen Verfahren entspricht auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der das, was wir bisher — es kann ja noch etwas kommen; PDS) wir freuen uns dann darauf — an inhaltlichen Frage- stellungen gehört haben. Zunächst kein Wort über die Vielleicht sagt der Bundeswirtschaftsminister ja im Frage: Wie soll die Industriegesellschaft in Zukunft Anschluß an das, was ich vortragen möchte, was er zur organisiert werden? wirtschaftspolitischen Diskussion und zum Handeln beitragen will. Es gibt — man kann das nachvollziehen — zwei grundsätzliche Möglichkeiten, Industriegesellschaf- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ten zu führen. Sie sind im übrigen nur im Konsens zu Aber sicher!) führen und zu organisieren. Auf der einen Seite gibt es Länder, die einen Konsens im sozialen Verzicht der Zunächst, meine Damen und Herren, fällt eines auf. breiten Massen haben. Auf der anderen Seite gibt es Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirtschafts- das, was bei uns immer selbstverständlich war, näm- ministerium offenbar als eine Art Steinbruch für lich einen Konsens in der sozialen Teilhabe. andere Häuser benutzt wird. Wichtig wäre nun gewesen, zu hören, ob dieses (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zukunftsmodell, Konsens in der sozialen Teilhabe, nach Ihrem Willen für die nächsten vier Jahre gelten Man kann deutlich machen, daß nach Auffassung soll und was das im einzelnen bedeutet oder ob Sie derer, die diese Entscheidungen getroffen haben, den Liberalen folgen wollen und mehr und mehr den Wirtschaft mit Zukunft offenbar nichts oder nur sehr Konsens in der sozialen Teilhabe der breiten Massen wenig zu tun hat. Wie anders ist es zu erklären, daß abbauen wollen und ihn durch einen aufgedrückten man ein Zukunftsministerium macht, einen Kollegen, Konsens im sozialen Verzicht ersetzen wollen. der gewiß seine Chance haben muß, damit beauftragt, aber daß die wichtigen Fragen, die die Zukunft der Wer sich die gestrige Rede, die der Bundeswirt- Gesellschaft betreffen, im Wirtschaftsministerium schaftsminister vor dem Außenhandelsverband ge- nicht oder an ihm vorbei behandelt werden sollen? halten hat, anschaut, der findet eine einzige substan- tielle Aussage, nämlich die: Die Löhne müssen herun- (Beifall bei der SPD) ter. Meine Damen und Herren, dies sagt der Mann in einer Situation, in der wir seit Jahren Reallohnver- Ich halte das für fatal. Anstatt dem Wirtschaftsmini- zichte der arbeitenden Menschen zu beklagen haben, sterium und dem Wirtschaftsminister ein Feld opera- in der der Lebensstandard dieser Menschen, um die tiver Politik zu geben — sei es z. B. dadurch, daß man Sie sich ja angeblich kümmern wollen, kontinuierlich dieses Haus mit den Forschungsfragen zusammen- gesunken ist, was erhebliche soziale Probleme bei bringt, sei es dadurch, daß man harte Infrastruktur gleichzeitig steigenden Mieten und anderen Abgaben sowie Verkehr und Wirtschaft zusammenlegt —, mit sich brachte. anstatt das zu tun, was vernünftig gewesen wäre, wird Aber mehr noch: Es ist nun einmal so, daß Massen- dieses Haus der inhaltlichen Kompetenzen mehr und nicht nur eine soziale Größe ist, nein, sie ist mehr entkleidet. Was das für Wirkungen im interna- kaufkraft auch eine ökonomische. tionalen und im nationalen Bereich haben muß, liegt auf der Hand — jedenfalls keine guten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Aber zu dieser Art, mit dem Wirtschaftsministerium umzugehen, paßt auch das Gerangel um die perso- Ohne daß ich wieder in einen Verdacht von Einseitig- nelle Besetzung. Es kann einem schon leid tun, wie mit keit geraten will: Es bleibt dabei, Autos kaufen keine dem amtierenden Wirtschaftsminister umgegangen Autos. Deshalb ist es vernünftig, wenn man auch worden ist. darüber nachdenkt, was denn die Massenkaufkraft für die Stabilisierung der Binnenkonjunktur bedeutet. (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und Daß die Binnenkonjunktur immer noch entgegen der F.D.P.: Oh!) allen Reden über Aufschwung in Schwierigkeiten ist, das zu bestreiten wagt niemand mehr. Wer sich Das kann einem wirklich leid tun; denn niemand in anschaut, was z. B. gerade in Amerika an wirtschaft- der Koalition — in der CDU/CSU nicht und über lange lichen Verwerfungen vorhanden ist oder bevorsteht, Zeiten auch in der F.D.P. nicht — wollte diesen der muß ja doch wohl Bedenken haben, wenn der Wirtschaftsminister. Das war häufig genug zu lesen. Aufschwung, den wir Gott sei Dank in wichtigen Bereichen haben, allzu sehr oder nur exportgestützt ist Als man dann auf niemand anderen mehr gestoßen und auf dem Binnenmarkt immer noch relativ wenig ist, ist man auf eine höchst interessante personelle los ist. Deswegen will ich vom Bundeswirtschaftsmi- Lösung verfallen: Man hat den Wirtschaftsminister nister gern hören, was er denn tun will, um die hingesetzt, hat dann einen Staatssekretär aus dem Binnenkonjunktur zu stabilisieren Bundeskanzleramt dazugesetzt, alles nach dem Motto: Der BDI sagt, was gemacht wird, Herr Ludewig (Zuruf von der SPD: Nichts!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 159

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) — wahrscheinlich —, was er denn tun will, um in Ich will mit der Erlaubnis der Frau Präsidentin aus wichtigen industriellen Bereichen das, was es an einer Meldung von gestern zitieren: Arbeitsmöglichkeiten gibt, zu erhalten und auszu- Gefahr schwerer Störfälle in 20 osteuropäischen bauen. Atomkraftwerken. (Zuruf von der SPD: Auch nichts!) Auch 8 Jahre nach der Atomkatastrophe von Es ist ja wahr — darauf ist hingewiesen worden, Tschernobyl in der Ukraine besteht in mindestens auch in der gestrigen Debatte —, daß wir Probleme auf 20 älteren Kernkraftwerken in Osteuropa weiter- dem Arbeitsmarkt haben, und zwar mehr, als zugege- hin die Gefahr schwerer Störfälle bis hin zur ben worden ist, und daß das natürlich mit der Tatsache Kerns chmelze. zu tun hat, daß die herkömmliche industrielle Produk- Meine Damen und Herren, der das sagt, ist nicht ein tion mehr und mehr jetzt nicht mehr in Länder der Kernenergiegegner aus Gorleben und anderswo, son- Dritten Welt oder nach Asien ausgelagert wird, son- dern ist Herr Birkhofer, der Geschäftsführer der dern direkt vor die eigene Haustür, nach Polen und Gesellschaft für Reaktorsicherheit, wahrlich jemand, Tschechien, Industriegesellschaften mit einer unge- den man nicht in die Ecke ideologischer Verbohrtheit heueren, wichtigen und richtigen Tradition, die uns stellen kann. Was sagt er eigentlich damit? Er sagt: Probleme macht. Die Antwort darauf, die ich in Was immer im eigenen Land an Sicherheit geleistet verschiedenen Zeitungsinterviews vom Bundeswirt- worden ist und nicht passieren mag — mehr kann man schaftsminister gelesen habe, ist: Löhne herunter, weil ja nicht, als darauf hoffen —, dort wird in den nächsten sonst die Produktion ausgelagert wird. Ich frage: Was zehn Jahren bis hin zu dem, was wir in Tschernobyl soll man davon halten? Glauben Sie, Herr Rexrodt, hatten, etwas passieren. So seine Voraussage, seine wirklich, Sie könnten die Auslagerung dieser Produk- Prognose. tion dadurch verhindern, daß die Deutschen auf das Wenn das aber so ist, nutzen Sicherheitsstandards in Lohnniveau von Polen oder Tschechien zurückfallen? Deutschland überhaupt nichts. Wenn das so ist, wird Glauben Sie das ernsthaft? das Akzeptanzproblem dieser Form der Energiepro- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei duktion nicht geringer, meine Damen und Herren, Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sondern massiv größer. GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, ich möchte wissen, was des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Sie tun wollen, um z. B. in den Branchen, in denen PDS) eine Auslagerung möglich und wahrscheinlich ist, Wenn das Akzeptanzproblem massiv größer wird, wenigstens zu erreichen, daß die Produktion mit ist das nicht nur ein gesellschaftspolitisches, nein, hohem Wertschöpfungsanteil — da liegt unsere auch ein ökonomisches Datum. Ein ökonomisches Chance — in der Bundesrepublik verbleibt, während Datum deshalb, weil in dem Moment, wo die Men- wir hinzunehmen haben werden, daß die herkömmli- schen mit einer erneuten Katastrophe von der Größen- che industrielle Produktion in der Tat auch dorthin ordnung von Tschernobyl konfrontiert werden, alles geht, nicht zuletzt deshalb, weil nur so kaufkräftige Reden über Bewährtes oder Nichtbewährtes nicht Märkte aufgebaut werden können, die uns neue einmal mehr nutzt. Die Menschen werden den Aus- Exportchancen eröffnen oder aber erhalten. stieg erzwingen, und das in einem Tempo, das dann, wenn wir nicht Vorsorge treffen, zu ökonomischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verwerfungen führt, von denen bisher gar keiner eine Im übrigen: Wer über Zuwanderung redet, der muß Ahnung hat. wissen, daß er, wenn er die Arbeit nicht zu den (Beifall bei der SPD und der PDS) Menschen bringt, damit rechnen muß, daß die Men- schen zu uns kommen. Das ist das Problem. Daraus ist die alleinige Schlußfolgerung zu ziehen, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau! Ja!) daß wir jetzt mit dem Umbau des Energieversor- Ich wüßte ganz gern von der Bundesregierung, was sie gungssystems beginnen müssen, jetzt, wo wir noch denn tun will, um diesen Prozeß im Dialog mit den Zeit haben, weil wir nicht wissen, wie lange wir noch Branchen sinnvoll zu steuern, ihn jedenfalls nicht Zeit haben werden. willkürlich ablaufen zu lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zweite Frage: Es gibt eine Debatte über die Ener- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der giepolitik. Niemand wird bestreiten, daß die Frage, PDS) wie wir unsere Energieproduktion organisieren, eine Ausstieg, Umbau des Energieversorgungssystems, der zentralen Fragen deutscher Wirtschaftspolitik ist. ist also nicht nur eine Forderung, die man in die Ich habe gestern nun gehört, was man will. Man hat Gefilde der Ideologie verweisen könnte oder dürfte, gesagt, es soll weiter so gehen. Anders ausgedrückt: nein, ist eine Forderung von hoher ökonomischer Wir halten an dem angeblich bewährten Drittelmix in Vernunft. der Energiepolitik fest, also auch an der Kernenergie. Wenn man daran geht, muß man dabei allerdings Ich halte dieses Festhalten nicht nur für energiepoli- wissen — das sage ich durchaus selbstkritisch, was die tisch problematisch, sondern für ökonomisch gefähr- Beschlüsse der eigenen Partei, auch die eigenen lich. Beschlüsse, angeht , daß man beim Umbau dieses (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Energieversorgungssystems mutmaßlich mehr Zeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der braucht, als viele bereit sind sich zu geben. Das ist PDS) wahr. Aber die Tatsache, daß man für den Umbau 160 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) eines Energieversorgungssystems mehr Zeit braucht, solide Finanzierung deutscher Steinkohle und Braun- darf nicht dazu führen, daß man es gar nicht erst kohle auf den Tisch gelegt haben. anpackt. (Dr. [F.D.P.]: Was heißt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn das?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Bislang haben Sie, was diese Frage angeht, deren Lösung langfristig geplant werden muß, keinerlei Es ist wohl wahr: Wer heraus will, muß auch sagen, Angaben von einigem Wert gemacht. Das halte ich für in welche Energiezukunft er hinein will. Aber, meine außerordentlich bedauerlich. Damen und Herren, das ist ja hundertmal gesagt und aufgeschrieben worden. Die Partner in der Indust rie, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: in den Naturschutzverbänden und in anderen Berei- Ihre Position zur Steinkohle würde ich auch chen stehen gewiß kritisch, aber durchaus bereit, die gern hören!) breite gesellschaftliche Debatte über einen neuen Energiekonsens zu führen. Was die Energiefrage angeht, ist die Entsorgung vollständig ungelöst. Da werden zu Demonstrations- Nur, meine Damen und Herren, was soll das für ein oder was weiß ich zu welchen Zwecken noch völlig Konsens mit denen sein, die eine andere Energiezu- überflüssigerweise Behälter mit abgebrannten Brenn- kunft wollen, wenn Sie am Anfang solcher Gespräche elementen quer durch die Republik transportiert, schlicht erklären: Es bleibt alles beim alten? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: In Rußland, DIE GRÜNEN) oder?) die Akzeptanz von Energiepolitik weiter reduziert, die Dann brauchen wir ja nicht zu reden. Entweder es Möglichkeit rationalen Umgangs mit der Entsor- wird über ein neues Energieversorgungssystem gere- gungsfrage gegen Null gebracht. Niemand weiß oder det, oder Gespräche sind völlig überflüssig. kann rational ergründen, welcher Sinn und Zweck (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dahintersteht. Auch die meisten Energieversorger BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wissen es nicht. Gleichwohl werden Länderregierun- gen gegenüber, die auf Gefahren bei der Lagerung Sie werden sich zu entscheiden haben, ob Sie — und und beim Transport hinweisen, Weisungen erteilt, die das lehrt die Erfahrung der vergangenen Gesprä- sie dann beachten müssen. Das ist eine Art und Weise che — z. B. beim Energiesparen mehr anbieten wollen des Umgangs in dieser entscheidenden Frage, die als jene substanzlosen Sätze, die Sie, Herr Rexrodt, bei schlicht nicht mehr nachvollziehbar ist den letzten Gesprächen auf den Tisch gelegt haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mehr anbieten wollen heißt dann auch, meine und die natürlich jeden Konsens, den es geben Damen und Herren, daß man das finanzieren wollen könnte, von Anfang an belastet. muß. Das kostet Geld. Sie müssen deutlich sagen, an Was auf diesem Gebiet gegenwärtig versäumt wird, welchen Stellen in Ihrem Haushalt Sie was für die stinkt im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Zukunftsaufgabe Energiesparen ausgeben wollen. Was an Vertrauen von Menschen in die Funktions- Bislang habe ich leider kein Wort dazu gehört außer- tüchtigkeit unserer Industriegesellschaft und der poli- allgemeinen Appellen an die beteiligte Industrie und tischen Institutionen zerschlagen wird, ist — machen an die Verbraucher, die weiter sind, als die Bundes- Sie sich da nichts vor! — ebenso gewaltig. Deswegen regierung ist. So kann es nicht gehen. Energiesparen fordere ich Sie auf, mit dieser unsinnigen Art, in einem wird die Schlüsselressource künftiger Energieproduk- der wichtigsten wirtschaftlichen Bereiche umzuge- tion sein. hen, endlich aufzuhören und zu einer Linie der Ein Zweites. Wir wollen wissen, was mit regenerier Vernunft zurückzufinden. baren Energien ist, also mit Sonnenenergie und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sonnenabgeleiteten Energieträgern. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Michael Glos [CDU/CSU]: In Niedersach- Eine Linie der Vernunft ist übrigens auch gefragt, sen!) was andere Beteiligte angeht. Ich sage hier genauso — Natürlich in Niedersachsen. Wo anders, wenn es deutlich: Es ist in einer zivilisierten Gesellschaft um Wind geht? unmöglich, wenn Manager von Industriebetrieben auf Riesenplakaten persönlich abgebildet und gleichsam (Michael Glos [CDU/CSU]: In Bayern!) an die Wand gestellt werden, wie das mit Herrn Kuhnt — In Bayern hinter den Bergen ist es mit der Wind- vom RWE geschehen ist. Ich hoffe, daß die Leute von energie schwierig. Das weiß ich sehr wohl. Auf den Greenpeace begreifen, daß man eine in dieser Art Bergen mag es gehen. personalisierte Auseinandersetzung bei uns nicht füh- ren darf, Ich wollte also sagen: Wir wollen wissen, was Sie für die Förderung regenerierbarer Energieträger ausge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ben wollen, und wir wollen dann tatsächlich eine F.D.P.) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 161

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) weil sich davon Idioten zu Handlungen aufgerufen Ich will noch einen Punkt nennen, der mich — das fühlen könnten, die wir dann alle zu beklagen haben. mag man mir verzeihen — besonders interessiert. Ich Das darf nicht sein. habe gestern sehr interessiert zugehört, als die

Debatte um das Fünfliterauto — die große umweltpo- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der litische Forderung der Union bzw. des Bundeskanz- F.D.P.) lers — hier lief. Ich will in aller Bescheidenheit daran Das schadet einem rationalen Dialog ebenso wie die erinnern, daß es ein mittelständisches Unternehmen Betonkopfhaltung auf der rechten Seite dieses Hau- in der Nähe von Wolfsburg gibt, das dieses Auto längst ses. produziert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Bun Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: desminister Dr. Theodor Waigel: Die haben Die Probleme sind lösbar, aber nicht so, wie das halt einen guten Aufsichtsrat!) gegenwärtig ins Auge gefaßt wird. — Natürlich haben die einen guten Aufsichtsrat. Einer Ich habe einen dritten Punkt. Mein Kollege Herr steht hier. Das ist ja ganz klar. Lafontaine und auch Herr Fischer haben gestern darauf hingewiesen, daß wir der Debatte um die (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Ökologisierung des Steuersystems nicht ausweichen SPD) dürfen. Ich habe Verständnis für all diejenigen, die sagen, man könne diese Debatte ebensowenig übers Meine Damen und Herren, ich frage mich gelegent- Knie brechen. Das ist wahr. Aber wenn wir sie nicht lich, ob diejenigen, die jetzt die Forderung nach einem jetzt beginnen — in der Wirtschaft ist sie längst im Fünfliterauto formulieren, nicht erkennen können Gange , dann können wir z. B. nicht festlegen, was bzw. nicht wollen, daß es das längst gibt. Sie haben wir aber müssen, welche Branchen, welche Sektoren allerdings eine fatale Sache gemacht. Es handelt sich in welchen Regionen, was ihre Wettbewerbsfähigkeit um einen Einspritzdiesel. Sie aber haben die Diesel- angeht, von der Veränderung des Steuersystems motoren gegenüber den Benzinmotoren steuerlich negativ tangiert werden könnten. Das müssen wir benachteiligt. aber wissen. (Beifall bei der SPD) In der Tat ist es so, daß die Besteuerung der Mit dieser Hypothek indessen müßten Sie leben. Ressourcen und damit auch der Energie z. B. für die Die müßten Sie erst einmal abtragen, dann nehmen Grundstoffindustrien in Deutschland und damit für die Sie zur Kenntnis, daß es ein Fünfliterauto gibt, und Arbeitsplätze in diesem Bereich Folgen haben wird. dann versuchen wir miteinander und mit der beteilig- Aber deshalb der Debatte auszuweichen, wie Sie es ten Industrie, ein Schrittehen weiterzugehen, denn bei tun, ist natürlich das Verkehrteste, was man machen einem Fünfliterverbrauch darf es nicht bleiben. Es soll kann. Anstatt eine Vorstellung davon zu entwickeln, schon zu einem Dreiliterauto kommen, meine Damen wie und in welchen Zeiträumen man diesen Wettbe- und Herren, und das ist auch möglich. werbsverzerrungen — und das geht — entgegentreten kann, die durch die Ökologisierung des Steuersystems (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS entstehen, machen Sie gar nichts auf diesem Sek- 90/DIE GRÜNEN) tor. (Beifall bei der SPD) Im übrigen: Was auch dort die Forderung angeht, die Binnenkonjunktur zu stabilisieren, so könnten Sie Ich prophezeie, meine Damen und Herren: Wenn eine Menge nachlegen. Herr Bundeswirtschaftsmini- wir uns dieser Zukunftsaufgabe nicht gewachsen - ster, ich bin gern bereit, Ihnen die Studie von Roland zeigen, dann werden wir nicht nur ein hinterwäldle- Berger zu überreichen, in der festgestellt wird, daß die risches Steuerrecht behalten oder bekommen; nein, bereits häufig diskutierte Abwrackprämie in Deutsch- wir werden auch auf dem Arbeitsmarkt viele Chan- land — auf ein Jahr befristet; ab 1. Januar nächsten cen, die wir uns erwerben könnten, verpassen. Die Jahres eingesetzt — in der Tat zu einer gewaltigen Ökologisierung des Steuersystems — natürlich in Stabilisierung der Binnenkonjunktur führen und Schritten — hat eine Steuerungswirkung in die Wirt- damit Arbeitsplätze in den be troffenen Unternehmen schaft hinein und schafft in den Bereichen, in denen sichern würde. die Deutschen Gott sei Dank Weltmarktführer sind, nämlich auf dem Sektor der Umweltprodukte, neue (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wettbewerbs- und damit neue Arbeitsmöglichkeiten. Dann reden Sie von Subventionsabbau!) Wir sollten sie nutzen. — Das hat nichts mit Subventionen zu tun. Wenn schon von Zukunft die Rede ist, dann ist das eines der Zukunftsthemen, dem wir uns stellen müs- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sen und zu dem jetzt endlich auch von Ihrer Seite Natürlich!) substantielle Beiträge kommen müssen; wohlgemerkt vor dem Hintergrund, daß es dabei auch und immer — Auch Sie können das einmal lesen. Ich will es Ihnen um Wettbewerbsfähigkeit im europäischen, im inter- gerne geben. nationalen Maßstab geht. Aber den Kopf in den Sand zu stecken, so wie Sie es tun, ergibt keine Politik und Diese Art von Förderung der Binnenkonjunktur schon gar keine gute Zukunft. würde sich über die Einnahmen des Staates aus der Mehrwertsteuer von selbst finanzieren. Die Leute, die (Beifall bei der SPD) das untersucht haben, sind intellektuell und politisch 162 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) viel weiter als Sie, und das ist das Problem dieser Was haben wir also gemacht? Wir können auf Grund Regierung. einer betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit keinen Vollarbeitsplatz anbieten. Aber wir bieten einen 20- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Stunden-Vertrag an, so daß sie langsam in ein Vollar- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten beitsverhältnis hineinwachsen. Parallel dazu schei- der PDS) den die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- In all den Bereichen, die substantiell und hinsicht- mer schrittweise aus. Sie nennen das Stafette. Dies ist lich der mittleren und ferneren Zukunft mit Wirtschaft ein hochinteressantes Modell, das ich gern von Nor- zu tun haben, war Fehlanzeige. Sie haben das Wirt- bert Blüm unterstützt hätte. schaftsministerium demontiert und den Wirtschafts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten minister gleich mit. Die Frage ist doch: Wer soll Ihren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Parteien auf diesem Gebiet eigentlich noch irgend PDS) etwas abnehmen, wer soll Sie noch ernst nehmen? Ich denke, niemand. Sie wissen das auch ganz genau, Seine Ankündigungen weisen aber genau in die jedenfalls der größte Teil von Ihnen. Sonst wären die andere Richtung. Widerstände hinsichtlich der Berufung von Herrn (Bundeskanzler Dr. : Das ist Rexrodt nicht erklärbar. überhaupt nicht wahr!) Wie Sie aber in einer immer noch bestehenden So sagte er gestern, daß diejenigen, die über 55 Jahre Krisensituation mit einem so demontierten Wirt- alt sind, dies selbst bezahlen sollen. Die Großunter- schaftsministerium und einem so demontierten Wirt- nehmen könnten es sich leisten, diesen Menschen schaftsminister zurechtkommen wollen, wie Sie den durch Zusatzleistungen einen auskömmlichen Unter- Menschen draußen erklären wollen, daß Sie vor halt zu verschaffen. Die kleinen Unternehmen könn- diesem Hintergrund für Wirtschaft und Arbeit einste- ten dies nicht. Das sei ungerecht. hen, bleibt nicht nur mir schleierhaft. Ungerecht ist dies. Aber der Schluß, der daraus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gezogen wird, ist natürlich falsch. Was wird die Folge des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dieses Verfahrens sein? Die Folge wird sein, daß die PDS) großen Industriebetriebe nicht mehr nach der 55- Dies ist die vorletzte Bemerkung, die ich machen Jahre-Regelung verfahren. Die weitere Folge wird möchte: Ich habe gestern aufmerksam zugehört und sein, daß die jüngeren Menschen arbeitslos und die war erstaunt darüber, in welcher Weise hier die älteren Menschen länger beschäftigt werden. arbeitszeitverkürzenden Entscheidungen großer und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mittlerer Unternehmen in unserem Land diffamiert des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) worden sind. Dies kann in einer Krisensituation keine vernünf- (Zuruf von der SPD: Genauso war es!) tige Arbeitsmarktpolitik sein. Dies gibt im übrigen Meine Damen und Herren, unser Problem ist doch, auch ökonomisch keinen Sinn. daß die deutsche Industrie in allen Bereichen um (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jeden Preis ihre Produktivität steigern muß. Dies, nämlich Produktivität steigern und Produktivitäts- Dies gibt ökonomisch deshalb keinen Sinn, weil die sprünge um 20 und mehr Prozent, heißt aber, daß wir Menschen, die beschäftigt werden wollen, die Krea- bei dem jetzt prognostizierten Wachstum von 3 % tivsten und Beweglichsten sind. Dies ergibt sich nun nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze haben einmal so auf Grund des Alters. Diese lassen Sie durch werden. Mit der von Ihnen angekündigten Initiative eine Politik außen vor, die ich wirklich nicht mehr werden Sie das Fehlen dieser Arbeitsplätze niemals nachvollziehen kann. ausgleichen können. Folglich dürfen Sie nicht wieder Meine letzte Bemerkung: Es ist viel über einen einmal kreative Arbeitszeitmodelle diffamieren. Sie schlanken Staat gesprochen worden. Ich habe — bitte müssen sie unterstützen. entschuldigen Sie — deshalb gelächelt, weil dies der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundeskanzler gesagt hat. Ich saß seitlich von ihm und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der habe mir vorgestellt, daß dies der Repräsentant des PDS) schlanken Staates ist. Was hindert Sie eigentlich, ja zu einer Initiative z. B. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der von Volkswagen zu sagen, die so aussieht: Wir haben PDS — Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sie einige tausend Auszubildende, aber eigentlich keinen sind sehr geistreich heute morgen!) Bedarf an Arbeitskräften? Die logische und übliche Ich hatte einige Schwierigkeiten, Herr Bundeskanz- Folge wäre, diese Auszubildenden nicht zu überneh- ler. men. Damit würden sie schon am Anfang ihres Aber jenseits dessen besteht über das Ziel durchaus Arbeitslebens mit Arbeitslosigkeit konfrontiert wer- den. Wenn dies so geschieht, braucht man sich nicht Einigkeit. über die dann entstehende politische Destabilisierung (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: zu wundern. Schlank sind Sie auch nicht gerade!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten — Nicht mehr, das ist wahr. — Nur müssen wir uns des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der vielleicht dann auch darauf einigen, wie wir das denn PDS) machen wollen. Da wüßte ich gern ein Wort des Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 163

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) Bundesinnenministers zu der, Frage, wie das Beam- Taten so weit auseinandergehen wie bei Ihnen, Herr tenrecht in Zukunft aussehen soll. Schröder. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Er ist wahrscheinlich in Hessen und versucht da wohl Ich bin sicher, daß Sie mit einer großen Luxuslimou- — aussichtslos, glaube ich — noch ein paar Stimmen sine hierhergekommen sind, um hier Ihre Antrittsrede zu sammeln. als einer der Führer der Opposition zu halten. Sie Ich wüßte aber gern ein Wort dazu: Sollen die wollen ja im Grunde den Problemen in Ihrem Land hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums davonlaufen, geben vor, die Probleme der Bundesre- weiterhin jede Reformmöglichkeit behindern, oder publik lösen zu können, obwohl Sie die Probleme wollen wir das miteinander ändern? Ich kenne einige Niedersachsens nicht lösen können. Das ist die Tatsa- Grundgesetzkommentare, die wahre Elogen auf die che. Segnungen des Berufsbeamtentums geschrieben ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ben, Herr Scholz, wahre Elogen. Sind Sie denn nun Zuruf von der SPD: Ein bißchen mehr bereit, mitzumachen und zu sagen: Da müssen wir Niveau, Herr Kollege! — Weitere Zurufe von heran; was da an Sicherungen eingebaut worden ist, der SPD) ist inflexibel und ökonomisch unvernünftig? Auch ich war auf die Argumente und die besseren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rezepte des Herrn Schröder sehr gespannt. Ich habe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der keine gehört. Ich werde aber gern die Rede noch PDS) einmal nachlesen und versuchen, dann welche zu Dazu würde ich gern etwas hören, aber konkret, finden. Denn es kann ja passieren, daß man beim meine Damen und Herren. Zuhören hier das eine oder andere nicht so hört, weil Zweitens. Ich glaube, solange wir - wir übrigens es eben solche Krakeeler wie Sie gibt. auch —, unter welchem Druck auch immer, beim (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schreiben und Machen von Gesetzen nicht überle- gen, welche personellen Folgen das in den Ländern Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe und Gemeinden hat, wird es auch nicht besser. mir vorher noch einmal angesehen, was in Nieder- sachsen vor der Wahl alles versprochen worden ist. Es Drittens. Mein Eindruck ist, daß die ganze Debatte ist versprochen worden, daß Hochschulen ausgebaut über die angebliche Notwendigkeit, Beteiligungsver- werden. Herr Schröder kürzt den Hochschuletat, er fahren der betroffenen Bürgerinnen und Bürger mög- kürzt die Wohnungsbauförderung, er kürzt beim lichst wieder kaputtzumachen, in die falsche Richtung Krankenhausbau, er kürzt beim Kindergartenbau, geht. Die Anstrengungen in der Bildungspolitik haben und er gibt kein Geld mehr für neue Projekte. es nun einmal mit sich gebracht, daß die Menschen im Lande nicht mehr alles mit sich machen lassen, was Ich war im Wahlkampf in Niedersachsen, um mich ihre Obrigkeit so gern hätte. Also ist Einsicht und da ein bißchen umzuschauen. Dort hat man auch der Einsicht ist die Folge von Beteiligung — das Prinzip. Polizei gesagt: Spart Sprit! Fahrt nicht mehr soviel in Nicht Anordnen, sondern Kooperation führt dazu, daß der Gegend herum! — Am liebsten würde m an Entscheidungen schneller getroffen werden, führt anordnen, daß die Polizei gebrauchtes Benzin ver- dazu, daß sie ökonomisch vernünftiger umgesetzt wendet, wenn sie sich überhaupt noch sehen läßt. werden und daß ein Stückchen Zukunftsfähigkeit (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der gewonnen werden kann. F.D.P.) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Und deswegen auch das Fünfliterauto. Mein Eindruck ist, daß aus guten Gründen in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklä- Ich kann nach dem Motto „Wärst du doch in rung des Herrn Bundeskanzlers über Wirtschaft wenig Düsseldorf geblieben" nur sagen, Herr Schröder — so zu lesen und zu hören war, aus guten Gründen würde es in Niedersachsen vielleicht heißen —: Wären deshalb, weil Sie in der Substanz nichts mehr anzu- Sie doch in Oldendorf oder Ochsendorf oder wo immer bieten haben und personell nun im wahrsten Sinne geblieben! Hier in Bonn jedenfalls werden Sie nicht des Wortes ausgedörrt sind. gebraucht. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir GRÜNEN und der PDS) haben uns bei den Koalitionsverhandlungen sehr eingehend mit den Problemen unserer Wirtschaft befaßt. Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: (Zurufe von der SPD: Oh! Oh!) Herr Kollege Michael Glos. Wir wissen auch, daß wir für die Zukunft wieder den Weg einschlagen müssen, der nach dem Regierungs- Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine wechsel 1982 ungeheuer erfolgreich gewesen ist, sehr geehrten Damen und Herren! Wenn jemand wie nämlich den Weg der dauerhaften Rückführung der Herr Ministerpräsident Schröder vom Fünfliterauto Staatsquote und der Verbreiterung des p rivaten Kor- spricht, dann denken alle Leute an den Hubraum. ridors unter Zurückdrängung des öffentlichen Korri- Denn es gibt selten Politiker, bei denen Worte und dors. Wir wissen alle, daß wir die einmaligen Heraus- 164 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michael Glos forderungen unserer Wiedervereinigung vorüberge- Wir müssen den konjunkturellen Aufschwung nut- hend durch mehr Staat in den Griff bekommen haben. zen, um, wie gesagt, den Strukturwandel zügig vor- Aber wir müssen jetzt wieder einen anderen Weg anzutreiben, sonst laufen wir Gefahr, daß bei der gehen. nächsten Konjunkturschwäche eine noch tiefere Rezession kommt. Zehn Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hän- gen heute unmittelbar von der internationalen Wett- Wichtige Voraussetzung zur Stärkung der Auf- bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ab, d. h. schwungkräfte ist die konsequente Fortsetzung der ein Großteil unseres Lebensstandards wird vom Erfolg soliden Finanzpolitik, so wie sie in den der deutschen Wirtschaft auf den internationalen letzten Jahren gestaltet hat. Eine erfolgreiche Ausga- Märkten bestimmt. Der Kampf wird zunehmend här- benbegrenzungspolitik und eine stabile D-Mark sind ter. Andere werden immer besser. Sie haben Länder die Pfunde, mit denen wir wuchern können. vor unserer Haustür genannt, Herr Ministerpräsident: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Tschechien, Ungarn, Polen. Aber auch die südostasia- ordneten der F.D.P.) tischen Länder machen uns zunehmend Konkurrenz nicht nur auf den Weltmärkten, sondern infolge der Ich finde, es ist ein ungeheuer positives Signal — auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland —, offenen Grenzen auch auf unseren Märkten. daß es in diesem Jahr gelingt, die vorgesehene Neu- Unsere Exporterfolge sind Erfolge eines engen verschuldung um 10 Milliarden DM zu unterschreiten. Ineinandergreifens von Erziehung, Ausbildung, Qua- Die geringere Inanspruchnahme durch den Bund lifikation, Innovation, von Staat, von Familie, von entlastet die Finanzmärkte und stärkt das internatio- Unternehmen und auch der Schule. Alle diese Dinge nale Vertrauen in die D-Mark. müssen natürlich in der Bundesregierung gebündelt Wir brauchen aber selbstverständlich mehr Mut, werden. Das muß nicht alles unter das Dach eines Kreativität und Veränderungsbereitschaft für die Ministers kommen, wie Sie es gefordert haben. Zukunft. Ich weiß, daß zu allen Zeiten neue gesell- schaftliche und technische Entwicklungen auf Wider- Ich bin der Meinung, daß wir die Standortdebatte, stand gestoßen sind. Ich habe mir erzählen lassen, daß die von der CDU/CSU angestoßen worden ist, weiter- es nicht nur Widerstand gegen den Transrapid gibt, führen müssen. Es ist eine fortlaufende Notwendig- sondern daß es schon bei der ersten Autobahn von keit. Diese Standortdebatte darf sich nicht nur auf Nürnberg nach Fürth Widerstände gegeben hat. spezifische wirtschaftspolitische Fragen konzentrie- ren. Weniger Staat in der Wirtschaft, aber natürlich ein (Dr. Peter Struck [SPD]: Eisenbahn, Herr starker Staat z. B. bei der inneren und äußeren Sicher- Kollege!) heit, eine familienfreundliche Gesellschaft — all dies — Eisenbahn. Entschuldigung, da habe ich mich sind ungeheuer wichtige Elemente des Zukunfts- versprochen, Herr Struck. standortes Deutschland. Sicher müssen Kreativität und Veränderungsbereitschaft gefördert werden, und (Dr. Peter Struck [SPD]: Das muß man schon das kostet auch manchmal Arbeitsplätze, rettet aber wissen!) natürlich ganze Branchen. — Nehmen Sie mir bitte ab, daß ich es gewußt habe. Ich habe auch mit großem Interesse die Debatte bei Ich entschuldige mich ausdrücklich bei Ihnen für den Versprecher. Daimler Benz mit verfolgt und habe jetzt gelesen, daß man mit 40 000 Mitarbeitern weniger fast die gleiche (Dr. Peter Struck [SPD]: Angenommen!) Produktionsleistung wie in der Vergangenheit erbrin- Neue Entwicklungen müssen mutig angepackt wer- gen kann. Die Frage ist, was mit den anderen Men- - den. Die Angst ist zu allen Zeiten ein schlechter schen geschieht, wo sie Arbeit und Brot finden. Ratgeber gewesen. Deswegen müssen wir auch die Dienstleistungen bei uns im Land stärker ausbauen. Wir haben hier gegen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über vergleichbaren Industrieländern ein Defizit. Das gilt auch, Herr Ministerpräsident — deswegen bin ich sehr dankbar, daß Sie das angesprochen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. haben —, für die Wenn wir den Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]) Energiepolitik. Menschen vor den sichersten Kernkraftwerken der Wir sind uns auch durchaus darüber im klaren, daß Welt — und die stehen in der Bundesrepublik der tiefgreifende Strukturwandel durch den begonne- Deutschland — angst machen, dann sind wir, was die nen Aufschwung keineswegs bewältigt ist. Ich bin mit Akzeptanz moderner Technologien anbelangt, Ihnen einer Meinung, daß es falsch wäre, die Hände schlecht beraten. jetzt in den Schoß zu legen. Wir müssen auch die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Subventionen und Hilfen des Staates weiter auf den ordneten der F.D.P.) Prüfstand stellen. Ich bin der Meinung, daß wir auch unsere Mitbürger So bin ich der Meinung, daß in den neuen Bundes- nicht im unklaren lassen dürfen, daß neue Technolo- ländern inzwischen ein Wildwuchs von Förderungen gien neue Risiken bedeuten. Ich bin der festen Ober- entstanden ist, der überprüft und da, wo es möglich ist, zeugung, daß es eine ungeheuer wichtige Aufgabe ist, zurückgeführt werden muß. Auch hier hat es — das ist Risiken zu minimieren und beherrschbar zu machen. ganz selbstverständlich — eine unterschiedliche Ent- Chancen und Risiken müssen aber immer nüchtern wicklung in den verschiedenen Teilen der neuen und emotionsfrei gegeneinander abgewogen werden. Länder gegeben. So bedeutet z. B. die Gentechnologie zum einen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 165

Michael Glos insbesondere beim Kampf gegen Krebs oder gegen kleine Unterbrechung, eine wirklich gute und ver- Aids Hoffnung, sie eröffnet zum anderen neue Mög- nünftige politische Führung gehabt hat lichkeiten der umweltschonenden Landbewirtschaf- (Beifall bei der CDU/CSU) tung und hilft beim Kampf gegen Hunger in der Dritten Welt. und daß wir auch gern bereit sind — das ist Aufgabe der CSU-Landesgruppe hier in Bonn —, etwas zur Sollen alle diese Entwicklungen außerhalb wirtschaftspolitischen Weiterbildung beizutragen. Deutschlands stattfinden? Wir sind der Meinung, daß wir uns daran beteiligen müssen. Deshalb wollen wir, Es wird wohl niemand bestreiten, daß es auch daß die Anstrengungen, in Deutschland neue — damit komme ich zu Bayern — im Bereich der Luft- Beschäftigungschancen zu erschließen, in Zukunft und Raumfahrt und in der Wehrtechnik um Tausende noch verstärkt werden. von Hochtechnologiearbeitsplätzen geht. Wir werden auch in Bayern um jeden Arbeitsplatz kämpfen. Aus (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bayerischer Sicht besonders erfreulich ist die Festle- ordneten der F.D.P.) gung in der Koalitionsvereinbarung, daß zur Wahrung einer führenden Forschungsposition Deutschlands Es wird niemals möglich sein, null Risiko und das Projekt Forschungsreaktor in München-Garching 1 000 % Gewinnchance unter einen Hut zu bringen. ausdrücklich festgeschrieben worden ist. Das gibt es nicht. Das gibt es höchstens im Mär- chen. Fortschrittsangst ist immer ein schlechter Ratgeber. Die erste entscheidende Zukunftsfrage lautet doch: Der Energieverbrauch der Industriestaaten und ins- Bekommen deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und besondere der Wachstumsregionen Asiens, die unge- Facharbeiter in Deutschland Brot und Arbeit? Die heuer viel Energie zusätzlich verbrauchen werden, zweite entscheidende Frage ist: Wollen wir Güter und kann nicht ohne Kernenergie gedeckt werden, außer Dienstleistungen oder wollen wir Arbeitsplätze aus — das ist nach bisherigen Erkenntnissen die einzige Deutschland exportieren? Ich bin der Meinung, wir Alternative — durch eine ungeheure Erhöhung der müssen dabei bleiben, Güter und Dienstleistungen zu Kohleverstromung. Im übertragenen Sinn würde das exportieren. Das bedeutet, daß wir Deutschen unsere bedeuten, daß die Welt an Kohlendioxid erstickt. Einstellung auch zu Wissenschaft und Forschung und zur Elitebildung bei den Wissenschaftlern verändern (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: müssen. Wir müssen heute auf unsere Erfinder und Die Kohle ist auch nicht unendlich!) Elitewissenschaftler mindestens genauso stolz sein Deutschland verfügt über die beste Sicherheitstech- wie auf international gute deutsche Tennisspieler, nik und über eine weltweit führende Hochtechnologie Fußballprofis oder Autorennfahrer. bei der Kerntechnik. Wir haben die sichersten Kern- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge kraftwerke der Welt. Wir wollen unsere Sicherheits- ordneten der F.D.P.) philosophie und unsere Sicherheitstechnologie auf die unsicheren Kernkraftwerke um uns herum über- Früher hieß es: Wer wagt, gewinnt. Wer heute noch tragen können. wagt, muß in unserem Land gegen eine Hydra von Gesetzen und Verordnungen kämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer hat die denn gemacht?) Das können wir nicht, wenn wir aussteigen, wenn wir Falls er dennoch gewinnt, ist er ein geächteter Besser- die Kenntnisse und das Know-how deutscher Inge- verdiener, eine Melkkuh der Nation. Wenn in nieure verkommen lassen. Das können wir doch nur- Deutschland Genehmigungsverfahren für Produk- erhalten, indem wir uns auch in Zukunft am Kern- tionsanlagen spürbar länger dauern als manche Pro- kraftbau beteiligen, ganz abgesehen davon, daß es duktlaufzeiten, dann verlieren wir den Standortwett- dadurch neue und gute Arbeitsplätze auch in unserem lauf. eigenen Land gibt. Sie haben vorhin dazwischengerufen: „Wer hat die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vor denn gemacht?" Alle zusammen haben wir sie in allem in Bayern!) diesem Bundestag gemacht. — Vor allen Dingen auch in Bayern. Ich nehme diesen (Zuruf bei der SPD: Nein, Sie haben das Zwischenruf gern auf. Wir sind stolz auf unsere gemacht!) hochtechnologischen Arbeitsplätze. Viele andere Die Verschärfungen und die ganzen Umständlichkei- Bundesländer schauen deswegen zu Recht mit Neid ten in den Planungs - und Genehmigungsverfahren auf Bayern. sind in allererster Linie auf diese Seite dieses Hauses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zurückzuführen. ordneten der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Satz muß mir noch erlaubt sein: Die Damen und Ich möchte Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Ich Herren in der Mitte sind zum großen Teil neu im weiß, daß in Amerika vieles anders ist. Ich weiß auch, Deutschen Bundestag. Sie sind auch neu in der daß man sich in einem dicht besiedelten Land bei deutschen Politik. Ich darf darauf hinweisen, daß Genehmigungsverfahren schwerer tut als in einem diese Entwicklung in Bayern nicht zuletzt dadurch dünn besiedelten Land. Aber wir müssen letztendlich eingetreten ist, daß Bayern zu allen Zeiten, bis auf eine konkurrieren. Als Beispiel nenne ich das neue BMW- 166 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michael Glos Werk in Spartanburg im US-Bundesstaat South Caro- Förderung der nachwachsenden Rohstoffe im Ener- lina, wo jetzt — ich glaube, vor zwei Monaten — das gie- und Rohstoffbereich. erste Auto vom Band gerollt ist. Genau zwei Jahre hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge es von der Idee des Baus des Werkes bis zur Tatsache, ordneten der F.D.P.) daß das erste fertige Auto verkauft werden kann, gedauert. Selbstverständlich: Was auf diesem Gebiet möglich und wirtschaftlich einigermaßen vernünftig ist, wird (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: von uns gefördert. Nur hat es keinen Wert, den Leuten Bemerkenswert!) Märchen zu erzählen und unrealistische Bilder an die Das ist natürlich eine bemerkenswert kurze Zeit. Es ist Wand zu malen. aber auch etwas anderes bemerkenswert, und das war (Lachen des Abg. Detlev von Larcher früher nicht so. Für die 570 Stellen, die dort geschaffen [SPD]) worden sind, haben sich sage und schreibe fast 60 000 Leute beworben. Wir möchten eine Zukunftsperspektive für die Ökolo- gie, vor allen Dingen bei den bäuerlichen Familien- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das hätten Sie gern!) betrieben. — Entschuldigung, was soll denn dieser Zwischenruf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) „Das hätten Sie gern"? Das zeigt doch, daß Sie nichts Ich muß mich entschuldigen, es tut mir leid, daß ab dazugelernt haben. Laufen Sie doch weiter mit der und an meine Stimme wegbleibt. Ich habe mich immer Melone herum wie in der Frühzeit, noch mit den Folgen einer schlimmen Erkältung (Beifall bei der CDU/CSU) herumzuplagen. als Ihre Partei noch als Arbeiterpartei gegründet (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: worden war. Sie haben anscheinend die alten Parolen Geh zur Apotheke!) verinnerlicht. Sie müssen doch die neue Wettbe- Aber wenn Sie mir zuhören, bringe ich meine Rede werbssituation in der Welt sehen. Andere Länder sind über die Runden. heute angesichts moderner Technik, neuer Produkte usw. in einem ungeheuren Maß bereit, Herausforde- Neue Freiräume für unternehmerische Initiativen rungen anzunehmen. Andere Menschen möchten da lassen sich nur schaffen, wenn öffentliche Dienstlei- arbeiten. Wir möchten, daß auch deutsche Arbeit- stungen dort, wo es möglich ist, wieder in p rivate nehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft am Pro- Hand zurückgeführt werden. Dem Vorbild des Bun- duktionsprozeß teilnehmen. Deswegen machen wir des müssen auch die Länder und Kommunen folgen. uns Sorgen. Wenn rechtliche Vorgaben des Bundes im Weg ste- hen, dann werden wir uns in dieser Legislaturperiode (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf den Weg machen, sie zu beseitigen. Die Kommune der Zukunft ist ein moderner Dienst- leister. Auch die steigenden kommunalen Gebühren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss? belasten den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ohne Unternehmer keine Arbeitsplätze! Deswegen haben für die Koalition die Förderung von Existenzgrün- dung, die Eigenkapitalhilfe und die Verbesserung Michael Glos (CDU/CSU): Ich kann mir nicht vor- stellen, daß die Frage klüger ist als sein Zwischenruf. der Meisterförderung ganz zentrale Bedeutung. Deswegen möchte ich sie nicht zulassen. - (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ordneten der F.D.P.) Bundesminister Dr. Theo Waigel: Setzen Sie Noch einmal zu Ihnen, Herr Schröder: Ihr Beitrag sich hin!) zur Wirtschaftsförderung, der mir am nachhaltigsten Wir möchten natürlich Wildwüchse, die in der in Erinnerung geblieben ist, bestand, wenn ich mich Vergangenheit entstanden sind, wieder einfangen. richtig erinnere, doch darin, daß Sie eine hohe, Deswegen möchten wir, daß beispielsweise im Bau- steuergeldverschlingende Prämie für Autos, eine Art recht, bei den Sicherheitsvorschriften und bei den Abwrackprämie gefordert haben. Wenn ich das rich- umweltrechtlichen Planungs- und Genehmigungs- tig sehe, käme das aber weniger Wolfsburg zugute verfahren eine Straffung und Beschleunigung in die — dafür, daß Sie für Ihr Bundesland kämpfen, hätte ich Tat umgesetzt werden. Genau das haben wir in die ein gewisses Verständnis —, sondern vor allen Dingen Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben. den japanischen Autoherstellern, die dann uneinge- schränkt liefern könnten. Rasche Genehmigungsverfahren sind im allgemei- nen praktizierter Umweltschutz. Jede Investition in (Ministerpräsident Gerhard Schröder [Nie eine neue, moderne Industrieanlage, jede Neuein- dersachsen]: Ich erkläre es Ihnen!) richtung einer Heizungsanlage entlastet die Umwelt, — Ich bin darauf sehr gespannt. weil neue, moderne Techniken auch energiesparen- der und umweltverträglicher sind. Ich glaube, viel entscheidender als die Durchfüh- rung solcher Subventionsmaßnahmen ist, daß wir (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von künftig mehr Freiräume, mehr Beweglichkeit schaf- Stetten [CDU/CSU]) fen, so wie das z. B. auch der VW-Konzern in Wolfs- Zu dieser umweltgerechten Zukunftsorientierung burg im Wege von Betriebsvereinbarungen getan hat. gehört auch die von der Koalition vereinbarte stärkere Ich habe dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Im Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 167

Michael Glos Gegenteil, ich bin der Meinung, daß die Tarifpartner Unser Sozialstaat bleibt nur finanzierbar, wenn wir stärker gefordert sind, alle gesetzlichen Möglichkei- den begonnenen Umbau konsequent fortsetzen. Die ten, die sich jetzt ergeben, zu nutzen. Es liegt im Koalition wird dabei insbesondere den Familienla- Interesse von Arbeitnehmern und Unternehmern glei- stenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich chermaßen, daß unsere Volkswirtschaft beweglich weiterentwickeln, mehr preiswerten Wohnraum bleibt. schaffen, die Arbeitsförderung überprüfen und konso- lidieren und vor allen Dingen die Gesundheitsreform Ich sehe einen gewissen Widerspruch darin, daß fortsetzen. unsere Mitbürger dort, wo sie Konsumenten, Nachfra- ger sind, heute immer paßgenauere und individuel- Es gibt allerdings einen weiteren wichtigen St and- lere Serviceleistungen verlangen. Das beginnt z. B. ortfaktor: Das ist das Vertrauen der Investoren in die bei der Urlaubsreise. M an möchte nicht mehr den politische Stabilität, vor allen Dingen auch in die Urlaub von der Stange, man will ihn sich individuell Glaubwürdigkeit und die Kalkulierbarkeit der poli- zusammenstellen. Auch bei Möbeln will man keine tisch Verantwortlichen. Was SPD und GRÜNE in großen Standardprogramme mehr kaufen, sondern Sachsen - Anhalt veranstalten, fördert dieses Ver- stellt sich sein Wohnzimmer individuell zusammen. trauen nicht. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge DIE GRÜNEN]: Das gilt auch für die Bundes- ordneten der F.D.P. — Zuruf des Abg. Jörg regierung!) Tauss [SPD]) — Wenn Sie es nicht mehr hören können, dann leisten Das zeigt sich natürlich auch bei der Ausstattung des Sie einen Beitrag dazu, daß dieser Spuk wieder eigenen Pkw. Nur, meine sehr verehrten Damen und beendet wird. Herren, diese Menschen müssen auch dort, wo ihre Arbeitsleistung nachgefragt wird, bereit sein, indivi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — duell und flexibel zu reagieren. Zuruf von der SPD: Wenn Sie die Blockflöten entlassen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Der Rücktritt des Wirtschaftsministers Gramke ist nicht von uns bestellt worden, er kam trotzdem In Deutschland ist schon jetzt genügend Arbeit punktgenau für diese Debatte. vorhanden. Wenn ich dem Bericht des „Spiegel" in seiner jüngsten Ausgabe Glauben schenke, kommen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) jährlich 80 000 Bauarbeiter aus England, Maurer aus Ich möchte auch dem interessierten Publikum nicht Irland, Putzer aus Portugal nach Deutschland. 80 000 vorenthalten, denn das wäre direkt sträflich — — Asylbewerber erhielten in diesem Jahr eine Arbeits- erlaubnis. Rund 135 000 Erntehelfer aus Osteuropa (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) stechen deutschen Spargel, pflücken Heidelbeeren — Jetzt hören Sie doch einmal an, was der Herr und Äpfel. 500 000 Schwarzarbeiter, so schätzt die Gramke Ihnen gesagt hat. IG Bau, tummeln sich auf deutschen Baustellen. Allein in Berlin, so schätzt das Landesarbeitsamt, sind 20 000 (Detlev von Larcher [SPD]: Sagen Sie etwas Schwarzarbeiter tätig: russische Eisenbieger, kroati- zu Herrn Schucht!) sche Kindermädchen und bulgarische Tellerwäscher. — Ich bin sehr gespannt, was Ihnen der Herr Schucht Soweit der „Spiegel". vielleicht in einem Vierteljahr oder in einem halben Jahr sagt. Das warten wir erst einmal ab. Was heißt das für uns? Wir müssen wieder mehr legale Arbeit für unsere deutschen Mitbürger schaf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) - f en, Der Herr Schucht muß seine Erfahrung mit den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kommunisten erst noch machen, der Herr Gramke hat ordneten der F.D.P.) sie schon gemacht; deswegen zitiere ich Ihnen Herrn Gramke. durch steuerliche Anreize auch Dienstleistungsar- beitsplätze im privaten Bereich aus der Illegalität (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge herausführen und gleichzeitig neue Rentenbeitrags- ordneten der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] zahler gewinnen. [SPD]: Der hatte doch bei der Treuhand genug gelernt!) Die SPD wird auch bei der Frage der Teilzeitarbeit Hören Sie, das ist doch Ihr Parteifreund, nicht Farbe bekennen müssen. Eine Vielzahl rechtlicher — meiner. Jetzt hören Sie Herrn Gramke ein wenig zu. Hemmnisse muß noch abgebaut werden. Wir werden Ich weiß ja nicht, ob er das auf dem SPD-Parteitag dazu auch Ihre Zustimmung brauchen. Struktur wan- deln und gestalten, nicht verhindern: Das ist die sagen darf. Aufgabe der Zukunft. Wir appellieren dabei an Selbst- Er sagt wörtlich über die PDS: verantwortung und Mut. Sie sieht immer noch die Oktoberrevolution als Wir brauchen junge Menschen, die fragen „Wo ist das größte und wichtigste Ereignis an. Sie will meine Chance?" nicht „Wie hoch ist später meine starke Eingriffe des Staates, sie will den Begriff Rente? " Es ist interessant, daß die Berufsberater heute Eigentum anders sehen. Ich sehe sie also außer- schon nach der späteren Rentenzahlung gefragt wer- halb unseres demokratischen Parteienspek- den. Ich finde diese Einstellung unmöglich. trums. 168 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michael Glos Deswegen müssen Sie Ihre Komplizenschaft been- Die Koalitionsvereinbarungen von CDU und CSU den. sowie der F.D.P. und die Regierungserklärung von Herrn Bundeskanzler Kohl haben gute Wege in die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zukunft aufgezeigt, Deutschland für das nächste Jahr- ordneten der F.D.P.) tausend stark zu machen. Wir laden Sie herzlich zum Lassen Sie mich noch ein letztes Kapitel streifen, das Mitmachen ein. meiner Ansicht nach für den Standort Deutschland (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und wichtiger ist als andere, vorgenannte Faktoren. Das ist der F.D.P.) die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.

Wenn Drogengelder bei uns gewaschen werden, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht wenn viele Milliarden DM allein deswegen investiert die Kollegin Frau Margareta Wolf-Mayer. werden, nicht um damit am Markt Gewinn zu erwirt- schaften, sondern um aus unsauberem Geld sauberes Geld zu machen, dann behindert das den Wettbewerb Margareta Wolf-Mayer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und kostet viele legale Arbeitsplätze. Wir müssen die NEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen Drogenmafia bekämpfen. Wir müssen diese großan- und Herren! Sehr geehrter Herr Rexrodt! „Fit für das gelegten Diebstahlserien, insbesondere im Autobe- 21. Jahrhundert", so lautete Ihre Arbeitsüberschrift reich, beenden. Dazu brauchen wir in Zukunft noch für die Koalitionsvereinbarung. Diesmal also nicht bessere und härtere Zugriffsmöglichkeiten des Staa- Freizeitpark, sondern kollektives Fitneßcenter. Aber tes als in der Vergangenheit. wie auch immer: Ihre Trainingsanleitung für das 21. Jahrhundert führt höchstens zu Meniskus- und Wenn ich heute auf der Fahrt hierher in einer Bandscheibenschäden. Boulevard-Zeitung lese, daß ein ganzer Bus voller Herr Rexrodt, was in diesem deprimierenden Besin- junger Taschendiebe extra für den Bonner Weih- nungsaufsatz für Ihr Ressort festgehalten wurde, ist so nachtsmarkt hergeschafft wird und niemand etwas perspektivlos wie die Situation Ihrer Partei. Wenn zur Unterbindung unternimmt, dann frage ich mich Herrn Glos heute morgen die Rolle zugefallen sein schon: Was denkt der Normalverbraucher bei uns im sollte, den Himmel für Sie aufzureißen, so kann ich, Land über Recht, Ordnung und Sicherheit? glaube ich, ohne Übertreibung behaupten: Dies ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ihm nicht gelungen. ordneten der F.D.P.) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Doch, Deswegen kämpfen wir dafür, daß die Polizei eine doch!) stärkere Motivation und Rückendeckung bekommt, Die Koalitionsvereinbarung zu Ihrem Ressort ist als sie diese heute in vielen Bereichen der Bevölke- nichts anderes als der dritte Aufguß einer schrecklich rung hat. Die Polizei braucht insbesondere bessere dünnen Suppe. Sie haben Privatisierung und Deregu- gesetzliche Möglichkeiten zur effektiven Verbre- lierung zu den Kernpunkten Ihres Wirkens erklärt. chensbekämpfung. Das ist wirklich furchtbar neu, Herr Rexrodt! Wirklich eine echte Sensation! Unglaublich, diese Innovations Der Mißbrauch unseres Asylrechts hat über Jahre gewaltige Steuermittel in Milliardenhöhe gebunden,. kraft! Was waren Ihre geschätzten Vorgänger doch die wir an anderer Stelle besser hätten einsetzen alles für Leistungsverweigerer, Herr Rexrodt, die können. Ein Teil der Probleme auf dem Arbeitsmarkt -Ihnen diese gewaltige unbearbeitete Deregulierungs hängt ebenfalls mit dem ungezügelten Mißbrauch und Privatisierungsaufgabe als Erblast hinterlassen unseres Asylrechts zusammen. Dafür, daß dieser haben! Ich frage mich: Wer hat in den letzten zwölf Jahren dieses Land regiert? ungezügelte Mißbrauch so lange möglich war, tragen - Sie die Verantwortung. Herr Rexrodt, Sie erinnern mich an die Waschmit- telfirma, die jedes halbe Jahr einen neuen Weißma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- cher in einer Weise anpreist, daß man sich fragt, ordneten der F.D.P.) welchen Dreck sie einem vorher verkauft haben. Die großen und wichtigen Entscheidungen zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sicherung des Standortes Deutschland mußten in den Aber bitte, man kann ja auch ernsthaft darüber vergangenen Jahren oft gegen den erbitterten Wider- reden. Privatisierung und Deregulierung können in stand der SPD im Bundestag und der SPD-Mehrheit im der Tat dynamisierende Elemente in einer zukunfts- Bundesrat durchgesetzt werden. Da wir jetzt am orientierten, der Umwelt verantwortlichen Wirt- Beginn einer neuen Legislaturperiode stehen, appel- schaftspolitik sein. Bei Ihnen wird daraus — es war liere ich an die SPD als die größte von drei sich noch nie so leicht, Prophetin zu sein, Herr Rexrodt — gegenseitig befehdenden Oppositionsparteien: Un- kleinkarierte Klientelpolitik mit dem traurigen Ergeb- terstützen Sie unsere Politik für die Arbeitnehmer und nis, daß nicht der Wirtschaftsstandort Deutschland für die Arbeitsuchenden in Deutschland! Mit Blok- gesichert wird, sondern ein Eldorado für Abzocker kade- und mit Obstruktionspolitik ist niemandem und Absahner. geholfen. Sie tragen als Opposition ebenfalls Verant- wortung für die Zukunft des Standortes Deutsch- Man muß sich doch in einer Zeit der rasanten land. Globalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten zumindest einmal der Frage stellen — Antworten sind schwer (Detlev von Larcher [SPD]: Erst macht er uns genug —, welche Art von Deregulierung nicht zu nieder, und dann will er unterstützt wer- einem weiteren Verlust an Einfluß für die Wirtschafts- den!) politik, sei es auf der europäischen oder der nationalen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 169

Margareta Wolf-Mayer Ebene, führt. Ich muß sagen, ich hätte von Ihnen gerne Ihren freudig entgegengenommenen Konjunkturauf- etwas dazugelernt. schwung nicht maßgeblich bremsen läßt, wie es Ihnen auch die Sachverständigen bestätigen. Das zweite Ich höre immer, Herr Waigel, „F.D.P. — Partei der Ergebnis ist eine massive Umweltbelastung. Leistungsträger", und Herr Rexrodt ist Minister. Einen Partner mit peinlich dünner Personaldecke haben Sie Herr Wirtschaftsminister, der ehemalige Präsident da, Herr Bundeskanzler. Altlastenentsorgung durch der Europäischen Kommission, Jacques Delors, Koalitionsarithmetik, ein Ministerium als Gorlebener erklärte im Juli 1993 in Kopenhagen — ich bitte Sie, Salzstock gewissermaßen. Diese ganze Veranstaltung jetzt zuzuhören, da ich glaube, daß diese Äußerung hat etwas von der letzten Party auf der Titanic, Herr von Herrn Delors Ihren Diskurs mit dem BDI und Kohl. den Unternehmerverbänden tatsächlich erleichtern Wie kommen Sie, Herr Rexrodt, eigentlich mit der könnte —: massiven, um nicht zu sagen: vernichtenden Kritik zurecht, die seitens der Mittelstandsvereinigung der Die Besteuerung von natürlichen Ressourcen CDU/CSU verlautbart wurde und die ich im übrigen erlaubt eine Senkung der übermäßigen Bela- teile? IG Metall-Chef Zwickel spricht Ihnen schlicht stung des Produktionsfaktors Arbeit, wodurch die die Grundlagenkompetenz für Ihr Amt ab und hält Sie internationale Konkurrenzfähigkeit der europäi- für das größte Standortrisiko in diesem Land. schen Wirtschaft erhöht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ verfolgen doch seit 12 Jahren genau die gegenteilige DIE GRÜNEN]: Das sieht der Kanzler auch Strategie. Sie behandeln den Produktionsfaktor so! Das weiß doch jeder!) Arbeit wie eine Milchkuh, die überproportional bela- Der einzige, der Ihre Berufung — ich betone: verhal- stet wird. Signal: Die Arbeitgeber sehen, daß die ten — begrüßt, ist der scheidende BDI-Vorsitzende Arbeitskosten ständig steigen, und werten dies als Necker. Signal für weitere Rationalisierungen. Die Beschäftig- ten sehen, daß sich der Anteil der Nettoarbeitsein- An diesem Punkt, dem zurückhaltenden Zuspruch kommen konstant verringert, was zu Lohnforderun- aus dem Unternehmerlager, frage ich mich, wieso Sie, gen führt und damit die Arbeitskosten weiter erhöht. Herr Kohl, keinen Wirtschaftsminister präsentieren, Insgesamt, Herr Minister, treibt dies den Teufelskreis der — nur als Beispiel — 20 Jahre in der oberen Etage wachsender Arbeitslosigkeit und andauernder Um- international operierender Konzerne Erfahrung und weltzerstörung immer weiter voran. Kompetenz angesammelt hat, so daß wir uns hier als Opposition und ich als neue, junge Abgeordnete uns Ihre Politik hat ständig als negativer Anreiz gewirkt hinsetzen und sagen könnten: Ja, hoppla, jetzt wird es und so — das sollten Sie als promovierter VWLer spannend, jetzt wird es interessant, jetzt passiert wissen — Innovationen und Verbrauch in eine sozial etwas, an dem wir uns abarbeiten können. Das ist nicht verträgliche Richtung ge trieben. Das Ergebnis nicht der Fall. sind weniger Arbeitsplätze, mehr Umweltbelastung (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Warum und Spaltung der Gesellschaft. Dieser Trend wurde lesen Sie es dann ab?) auch von den Kirchen beschrieben. Die Weichen müssen neu gestellt werden; dieser Trend muß drin- In Deutschland fehlen 5 Millionen Arbeitsplätze, gend gestoppt werden. Herr Wirtschaftsminister. Das ist nur eine einzige Zahl, aber eine, die eine verheerende Bilanz darstellt. Als erstes, meine Damen und Herren, ist es sinnvoll Ihre konkreten Antworten auf dieses den Menschen und notwendig, die Abgaben auf den Faktor Arbeit unter den Nägeln brennende Problem lautet einer- einzufrieren und eine Politik zu verfolgen, die die seits: Expo 2000 und andererseits: Ausweitung des Energiepreise mindestens so stark wie die Inflation Dienstmädchenprivilegs. Ansonsten wirklich nur Ne- wachsen läßt. Mittelfristig ist die Abgabenbelastung belschwaden. umzukehren. Die gesetzlichen Abgaben auf den Vielleicht erinnert sich ja noch die eine oder der Arbeitseinsatz müssen sinken. Steuerliche Anreize für andere an das Wahlprogramm der F.D.P. zum unproduktive Kapitaleinsätze müssen wegfallen, die 13. Deutschen Bundestag. Von der Notwendigkeit Steuern auf den Einsatz natürlichen Ressourcen einer ökologischen Steuerreform kann man dort erheblich steigen, um die geringen Beiträge der etwas lesen. Ich habe noch die Worte des Parteivorsit- Arbeit zum Steueraufkommen teilweise zu kompen- zenden Kinkel im Fernsehen im Ohr, über dem sieren. Abgrund turnend nach der bayerischen Landtags- wahl, als er dem staunenden Wahlvolk mitteilte, die Das sind Konzepte, die heute von weiten Teilen der Industrie diskutiert werden, auch vom BDI. Man hat F.D.P. sei der ökologische Motor dieser Bundesregie- rung und man sei gewillt, sich entlang einer ökologi- den Eindruck, an Herrn Rexrodt kommen diese Debatten überhaupt nicht heran. schen Offensive zu profilieren. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, der Motor hat einen Ich möchte an dieser Stelle noch auf zwei Dinge aus ganz erheblichen Kolbenfresser. der gestrigen Regierungserklärung von Herrn Kohl F-Ierr Rexrodt, dabei sollten Sie wissen, daß Ihre hinweisen. Herr Dr. Kohl, Sie haben gestern gesagt, Politik bisher die falschen Anreize gegeben hat. Das Sie wollten Ihren ganzen Ehrgeiz darauf verwenden, Ergebnis Ihrer Arbeit liegt auf dem Tisch: weniger daß Deutschland das erste Land ist, in dem das Arbeitsplätze, eine Entwicklung, die sich auch durch Fünfliterauto Standard ist. Super! Ich sage Ihnen aber 170 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Margareta Wolf-Mayer — ich komme aus Rüsselsheim, wo die Firma Opel Man kann über einiges davon reden. Ist das aber der ansässig ist —: Gegenentwurf zu unserer Wirtschaftspolitik? ( [F.D.P.]: Jetzt haben wir alle (Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben ja gar durch: Herr Schröder von VW, Sie von Opel! keinen Entwurf!) Audi ist auch ein gutes Auto!) Es ist nichts. Es ist nicht einmal der Ansatz eines Die Konzepte für ein fertigungsfähiges Dreiliterauto Konzeptes, von dem man sagen könnte: Das ist es. liegen bereits seit einem Jahr in der Schublade der Firma Opel. Es wird nur nicht produziert, weil Sie es (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) versäumt haben, die entsprechenden Rahmenbedin- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst gungen zu setzen. — Vielleicht auch Audi, vielleicht einmal sagen: Dieses Land ist trotz aller Schwierigkei- auch VW. Das macht es aber nicht einfacher. — ten im einzelnen eines der leistungsfähigsten der Beeilen Sie sich, meine Damen und Herren. Sie Erde. werden sonst einen weiteren Markt verschlafen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Trotz dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Regierung!) Eine andere Geschichte fand ich gestern in der Rede Wir haben eine gesunde Unternehmensstruktur und von Helmut Kohl sehr bemerkenswert. eine vorbildliche Wirtschaftsverfassung. Wir verfügen über fortschrittliche Technologien. Wir sind eine der führenden Exportnationen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kommen Sie bitte zum Ende, Frau Wolf-Mayer. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Gott sei Dank!) In der letzten Legislaturperiode sind wir mit einer der tiefsten Rezessionen fertiggeworden. Die Wirtschaft Margareta Wolf-Mayer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wächst, und auch die Wende am Arbeitsmarkt ist NEN): Ich komme zum Ende. geschafft. Wir haben zusätzlich den Aufschwung Ost Seit 1989 sagen Wirtschaftsvertreter in Ostdeut- in Gang gebracht. schland, daß es dort nicht an potentiellen Existenz- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gründern fehlt, sondern an Risikokapital. Sie haben gestern signalisiert, daß Sie das Problem erkannt — Nun kommen Sie und verweisen auf den Arbeits- haben. Wir freuen uns darauf, was Sie daraus machen, markt und tun dabei so, als wollten wir die Probleme und hoffen, daß Sie das Problem wirklich ernst neh- dort, die zu hohe Arbeitslosigkeit, unter den Tisch men. wischen. Danke schön. Wir wollen eine leistungsfähige Wirtschaft, die genügend Arbeit bietet, und zwar gleichermaßen für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbständige und für Unselbständige, für Hockquali- sowie bei Abgeordneten der SPD) fizierte und weniger Qualifizierte, für Frauen und Männer, gleichermaßen in Ost und West. Ich weiß sehr wohl, daß es leicht ist, ein solches Ziel zu Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: beschreiben, daß der Weg dorthin aber voller Hinder- der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rex- nisse ist und es eines Konzeptes bedarf, um mit diesem rodt. Problem fertig zu werden. Über die Ursachen für die Arbeitslosigkeit haben Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: wir hier lange diskutiert. Wir haben uns immer wieder Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die damit auseinandergesetzt, und ich glaube, daß unsere Bundesregierung geht in die 13. Legislaturperiode mit Meinungen nicht weit voneinander entfernt liegen. einem klaren Konzept zur Wirtschaftspolitik. Unser Konzept, diese Arbeitslosigkeit zurückzudrän- gen, sie zu beseitigen — das ist das Ziel aller Wirt- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) schaftspolitik —, ist gerade vor wenigen Tagen in seiner Grundrichtung vom Sachverständigenrat zur Das ist der Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick- Herren. Was soll denn das über weite Strecken pole- lung bestätigt worden, meine Damen und Herren. mische und inhaltslose Getöse der Opposition? (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wo das denn? — (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das CDU/CSU — Lachen bei der SPD) hat Herr Schröder übersehen!) Herr Schröder, Sie setzen sich hier in Szene, aber ohne Wir setzen auf weniger Bürokratie und einen Gegenentwurf. schlanken Staat. Haben Sie von der Opposition dem (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ etwas entgegenzusetzen? DIE GRÜNEN]: Wie kann man einen Gegen- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: entwurf haben, wenn es keinen Entwurf Nichts!) gibt?) Sie reden über den Ausstieg aus der Kernenergie, Sagen Sie das doch einmal! Von Herrn Schröder habe über die CO2-Steuer, über die Abwrackprämie, über ich das nicht gehört. das Fünfliterauto und über die Teilzeitarbeit, die wir Wir setzen auf eine Dynamik bei Forschung und ohnehin fördern. Innovation. Gibt es dazu eine Alternative? Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 171

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Wir wollen die Kostenbelastung durch weniger Tiraden derartiger Außenseiter zu eigen machen, Steuern und den Umbau des Sozialsystems meine Damen und Herren. (Zuruf von der SPD: Abbau!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) senken. Sie verkünden ähnliches; konkret haben Sie Herr Schröder, Sie werden, wie ich meine — das allerdings oft das Gegenteil vor. sage ich mit großer Ruhe —, der erste sein, der sich Wir wollen einen flexibleren Arbeitsmarkt, der den hier selbst demontiert. Erfordernissen der Bet riebe und der Arbeitnehmer (Lachen bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gleichermaßen gerecht wird. Sie verkünden ähnli- NEN) ches; hier gibt es auch schon Vorschläge der Gewerk- Sie haben noch nie einen Betrieb von innen gesehen. schaften. Sie haben noch nie Ergebnisverantwortung getra- Wir wollen öffentliche Aufgaben dort, wo dies zu gen. einer besseren Leistungserbringung führt, in private (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Hände überführen. Wollen Sie sich dem entgegenstel- Sie lassen es zu, daß mittelständische Traditionsbe- len? triebe vor die Hunde gehen, während gleichzeitig Wir wollen neue Beschäftigungsfelder im Umwelt- Arbeitsplätze in Lemwerder in fragwürdiger Weise schutz, in der Telekommunikation erschließen. Ist das subventioniert werden, nicht auch Ihr Programm, meine Damen und Her- ren? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mit Subventionen, die ihrerseits Arbeitsplätze in Wir setzen auf mittelständische Existenzen in Ost zugrunde richten. und West. Im Osten haben wir fast 500 000 neue mittelständische Existenzen entstehen lassen. Wollen Ein Ministerpräsident, der mit Stahlsubventionen Sie das leugnen? jongliert, der merkwürdige Gedanken zur Förderung der Autoindustrie entwickelt, der verblüffende Vor- (Zurufe von der SPD) stellungen zum Rüstungsexport entwickelt Was hätten Sie unter den Rahmenbedingungen und (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das kann man wohl mit den Fördermitteln, die von der Bundesregierung sagen!) zur Verfügung gestellt worden sind, anders ge- macht? und den man nach seiner Rolle bei der Auseinander- setzung zwischen Volkswagen und Opel fragen muß, (Beifall bei der F.D.P. — Jörg Tauss [SPD]: ein Tagespolitiker, ein solcher Mann kommt hierher Alles, und besser!) und will uns sagen, wie wir Wirtschaftspolitik — Das ist ein sehr sinnvoller und geistreicher Zwi- machen! schenruf: alles! Das, was Ihr Konzept ausmacht, ist: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — nichts, null! Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND (Jörg Tauss [SPD]: Polemik! — Zuruf von der NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer CDU/CSU: Mauer wieder aufbauen!) Zwischenfrage) Kein alternativer Gegenvorschlag! Nichts, was Esprit hätte und ein bißchen Nachdenken verraten würde. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gibt eine weitere Zwischenfrage.

Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister,- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nein, Frau Präsidentin, ich lasse jetzt keine Zwischen- Jens? frage zu. Lassen Sie mich zum Herrn Ministerpräsidenten Schröder zurückkommen: Ein Ministerpräsident, in dessen Bundesland die Staatsausgaben überdurch- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Nein, Frau Präsidentin, ich möchte mein Konzept schnittlich gewachsen sind, in dem der Wirtschaftsför- gerne zu Ende vortragen. derungsfonds, das Landesdarlehensprogramm und ein Technologieprogramm zu Lasten des Mittelstands Meine Damen und Herren, wir helfen unserer heruntergefahren werden, ein Mann, der für einen Wirtschaft, auf den boomenden Märkten in Asien und Haushalt verantwortlich ist, in dem die Investitionen in Lateinamerika präsent zu sein. Was ist dem entge- unterrepräsentiert sind, ein Mann, der für ein Bundes- genzuhalten? land steht, das im Bundesrat gegen das Planungsver- (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Viel zu spät!) einfachungsgesetz gestimmt hat, Nichts außer aufgesetzter Pose und eitlem Blend- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) werk. das die Gentechnik erschwert und das Standortsiche- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rungsgesetz abgelehnt hat, ein solcher Mann will uns hier sagen, wo es langzugehen hat! Als Zeugen für unser angebliches Versagen berufen sich die einen oder anderen auf selbsternannte Mit- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) telstandspäpste aus dem poujadistischen Lager. Es ist Nicht einmal als Vorsitzender des Vermittlungsaus- eine Schande, daß sich gerade Sozialdemokraten die schusses haben Sie sich durchgesetzt, Herr Schröder. 172 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Bringen Sie Ihr Bundesland in Ordnung, Herr Mini- fekt sehr viel größer ist als der Einkommenseffekt. Das sterpräsident! Inszenieren Sie sich in der Provinz! Sie darf man nicht vergessen. haben kein Konzept, Sie haben keine Prinzipien, Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) haben keine Visionen. Heinz Mundorf hat nicht zu Unrecht gesagt, daß Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mit dieser Kaufkrafttheorie einen Nobelpreis für eine Was kommt von der SPD zusätzlich zur Wirtschafts- Münchhausentheorie verdient hätten. politik, abgesehen von dem in sich nicht schlüssigen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vorwurf von der Umverteilung von unten nach oben, Meine Damen und Herren, ich greife auf, was Sie, festgemacht am Solidaritätszuschlag? Es gibt zu- Herr Schröder, sagen. Als ob ich mich hinstellte und nächst einmal den gebetsmühlenartigen Vorwurf, wir sagte: „Die Löhne müssen herunter"; als ob ich ein Tor wollten den Sozialstaat demontieren. wäre; (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt ja ( [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE auch!) GRÜNEN]: Jetzt nähert sich die Rede der Es ist müßig, darauf einzugehen. Wahrheit!) als ob wir nicht hohe Löhne bräuchten, um den Absatz (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was sagen die von Gütern und Dienstleistungen zu sichern, Kirchen?) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Va Den großen Wurf sehen Sie dann in Ihrem Vorschlag lium!) eines Beschäftigungspaketes zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, Staat und Bundesbank. um den Wohlstand in unserem Land zu erhalten. Das ist doch selbstverständlich. Nur müssen wir in gewis- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eine gute sen Zeiten in einer wirtschaftlichen Entwicklung und Sache!) bei strukturellen Verwerfungen, wie wir sie haben, eine richtige Balance zwischen dem Kosteneffekt und Meine Damen und Herren, abgesehen von dem dem Nachfrageeffekt finden. Wenn unsere Unterneh- gefährlichen Versuch der Vereinnahmung der Bun- men an Wettbewerbsfähigkeit verlieren — das desbank tun Sie so, als ob es den Dialog und die bestreitet doch niemand —, dann müssen wir auch Absprache zwischen den großen gesellschaftlichen — ich betone: auch — darauf achten, daß unsere Gruppen bei uns nicht gäbe. Die hat es gegeben, die Unternehmen von Kosten entlastet werden. Löhne wird es geben, und die werden gerade intensiviert. und Gehälter sind nun einmal Kosten, und deshalb Wir haben diese Gespräche geführt und werden das müssen vernünftige Abschlüsse getätigt werden, weiter tun. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ihr eigentlicher Traum dahinter ist aber der große Gesellschaftsentwurf. Das ist die Industriepolitik, bei nicht mehr und nicht weniger. Alles andere ist inhalts- der im gesellschaftlichen Konsens festgelegt werden lose Polemik, ist Zuspitzung dessen, was unserer soll, was entwickelt, was weniger entwickelt, was Wirtschaftspolitik auch im theoretischen Fundament gefördert und nicht gefördert und was ausgetrocknet zugrunde liegt. werden soll. Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen unser Konzept erläutern, weil Sie ja Schwierigkeiten haben, In diesem großen Gesellschaftsentwurf unterschei- es zu verstehen — vielleicht wollen Sie es auch gar den wir uns. Auch wir führen den intensiven nicht verstehen —, und um Ihnen ein bißchen Ermun- Dialog, - terung zu geben, damit Sie einen Gegenentwurf (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber Wirtschaft machen können und nicht an einigen Stichworten findet in der Wirtschaft statt!) herummäkeln müssen. z. B. zu Fragen der Informationsgesellschaft oder zur Wir machen eine Politik, die auf eine Verbesserung Telekommunikation, zur Energiepolitik und zum Ver- der Rahmenbedingungen setzt, die Freiräume für kehr. Aber diese Absprache, dieser Dialog erfolgen unternehmerisches Handeln sucht und nicht Gänge- vor dem Hintergrund, daß wir den Ausleseprozeß, den lung. Suchprozeß des Marktes, prinzipiell nicht außer Kraft (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was heißt das?) setzen wollen. — Ich komme darauf zu sprechen, Frau Fuchs; sofort. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Wir sind überzeugt, daß Freiräume notwendig sind, um die Ressourcen zu erwirtschaften, die wir brau- Letztlich muß der Markt darüber befinden, was in chen, u. a. um eine überzeugende Sozialpolitik zu unserer Wirtschaft Bestand haben soll oder nicht. machen. Ausnahmen sind immer möglich, aber eben Ausnah- men und nicht Ideologie und nicht der Traum von der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Machbarkeit einer idealen Gesellschaft. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber bitte kon kret!) Lassen Sie mich auf einen dritten, „bedeutenden Vorschlag" Ihrerseits eingehen. Sie kommen immer — Sofort, Frau Kollegin. wieder mit der Kaufkrafttheorie des Lohnes. Aber Sie Visionen müssen Bestandteil unseres gesellschaftli- vergessen in Ihrer Argumentation, daß es auch einen chen Denk- und Suchprozesses sein; ihre Umsetzung Kosteneffekt der Löhne gibt und daß dieser Kostenef unterliegt aber nicht staatlicher Anordnung, sondern Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 173

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt pluralistischer Diskussion. Demokratie und Markt- zu entlasten: in Industrie, in Handwerk, in Handel, wirtschaft sind die überlegenen Prinzipien; das sind Gewerbe, in den freien Berufen. Der Mittelstand ist unsere Prinzipien. Beschäftigungsträger Nummer eins in Deutschland. In ihm arbeiten zwei Drittel der Beschäftigten. Er (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- bildet 80 % unserer jungen Menschen aus. Mittel- ten der CDU/CSU) standspolitische Vorhaben durchziehen alle wirt- Und nun konkret: Wir wollen wettbewerbsfähige schaftspolitischen Abschnitte der Koalitionsvereinba- Betriebe. Wenn es sie gibt, dann brauchen wir uns um rung, meine Damen und Herren. Arbeitsplätze keine Gedanken zu machen, dann wird (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin Arbeit ausreichend nachgefragt. Deshalb konzentrie- gen] [F.D.P.]) ren wir uns im Ansatz unserer Wirtschaftspolitik auf Rahmenbedingungen, die darauf zielen, Wir setzen auf der einen Seite auf die bewährten Instrumente der Mittelstandsförderung, auf Eigenka- (Zuruf von der SPD: Welche denn?) pitalhilfe und die ERP-Kreditprogramme, auf die dieses Land auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten. Unterstützung von Forschung und Entwicklung — das Vieles haben wir in der letzten Legislaturperiode in sind konkrete Programme, mit denen dreistellige Gang gebracht. Daran knüpfen wir an. Millionensummen zur Verfügung gestellt werden — und fügen dem eine Initiative für zusätzliche Existenz- In den Koalitionsvereinbarungen geht es um die gründungen und für mehr Selbständigkeit hinzu. Rückführung öffentlicher Aufgaben und den Abbau steuerlicher Belastungen, letzteres auch und gerade, (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin um die Wirtschaft zu entlasten, um ihre Wettbewerbs- gen] [F.D.P.]) fähigkeit zu erhöhen und um Arbeitsplätze zu erhal- Wir setzen dabei auf die ten. Gleichwertigkeit von beruflicher Ausbildung und akademischer Ausbil- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dung, und wir gießen das in Zahlen, meine Damen und Herren. Unser Ziel ist es, die Staatsquote auf 46 % im Jahr 2000 herunterzubringen. Es geht hier ganz konkret (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — das ist bereits vom Kollegen Waigel und anderen gesagt worden — um die Freistellung des Existenzmi- Es ist doch nicht einzusehen, daß die Ausbildung zum nimums von der Steuerpflicht und die Fortsetzung der Mediziner auf staatliche Kosten erfolgt und die Aus- bildung zum selbständigen Orthopädiemeister nur Unternehmensteuerreform, um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die Rückführung der Gewer- unter erheblichem privaten Verzicht möglich ist. Das beertragsteuer und den Abbau des Solidarzuschlages soll anders werden! so bald wie möglich. (Zurufe von der SPD) Die Kommunen sollen ihre Finanzhoheit behalten; Wenn wir das in der Vergangenheit nicht so gestaltet sie sollen in bezug darauf nicht beeinträchtigt wer- haben, dann zeigt das doch, daß wir lernfähig sind. den. (Zuruf von der SPD: Wie?) (Beifall bei der F.D.P. — Anhaltende Zurufe von der SPD) — Dies wird zu regeln sein. Darüber haben wir zu sprechen. Beispielsweise über die Lohn- und Einkom- — Ich wiederhole: Das zeigt, daß wir die Probleme des mensteuer. Das sind Möglichkeiten und Ansatz- Mittelstandes aufgenommen haben. punkte. Keiner kann erwarten, daß wir dies heute im Eine Bundesregierung — auch eine solche, die Sie Detail vorlegen; das wollen wir mit Ihnen diskutieren, - gestellt haben — muß und wird immer in der Lage mit den Verantwortlichen aus den Gemeinden. Das sein, ihre eigenen Programme zu ergänzen, ihre werden wir voranbringen, weil es sinnvoll ist, weil es eigenen Programme neu einzustellen. Das ist das notwendig ist, um Arbeitsplätze in unserer Wirtschaft Selbstverständlichste der Welt. Wenn wir das eine zu schaffen. unterlassen haben, was notwendig war, und etwas (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — hinzufügen, dann ist das Ausdruck einer vernünftigen Zurufe von der SPD) und realen Wirtschaftspolitik. — Machen Sie doch einen Entwurf! (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Lachen und Zurufe von der SPD) Wir wollen fertigwerden mit den Hauptproblemen — Von Ihnen einmal einen konstruktiven Beitrag und der mittelständischen Unternehmen in den neuen nicht lautes Gegröle zu hören, das wäre sehr hilfreich Bundesländern, mit dem Mangel an Eigenkapital. für das gesamte Parlament. Dazu wird ganz konkret ein Förderprogramm einge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- führt. Wir wollen zusätzliches Eigenkapital in die ten der CDU/CSU) neuen Bundesländer lenken durch zusätzliche An- reize, die wir dafür geben, für Menschen in Ost und in Es sind aber nicht allein die hohen Steuern, die im West. Die Vorbereitungen dafür sind bereits angelau- wahrsten Sinne auf Kosten von Produktion und fen. Wir wollen die Mittelstandsförderung auch trans- Beschäftigung gehen. Nach wie vor verteuern unnö- parenter machen, überschaubarer für den einzelnen tige Gesetze und Regeln die Produktion. Der Mittel- Unternehmer. Ein Mittelstandsbeauftragter in mei- stand ist besonders betroffen, und deshalb gilt es, ihn nem Ministerium soll diese Arbeiten koordinieren. 174 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Die Menschen in den neuen Ländern haben ihr Wir brauchen mehr Technikakzeptanz. Dies muß im Schicksal selbst in die Hand genommen. Die Bundes- übrigen Thema und Inhalt eines sinnvollen technolo- regierung wird sie dabei weiter unterstützen, und giepolitischen Dialogs zwischen Wirtschaft, Wissen- zwar ganz konkret: mit der modifizierten Verlänge- schaft, Gewerkschaft und Staat sein. Diesen Dialog, rung von Investitionszulagen und Sonderabschrei- den wir im übrigen u. a. über die Petersberger Gesprä- bungen, mit dem weiteren Verzicht auf die Erhebung che seit vielen Jahren führen, werden wir intensivie- von Gewerbekapital- und Vermögensteuer, mit der ren. Fortführung des Eigenkapitalhilfeprogramms und mit ( [SPD]: Keine Drohung!) zusätzlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Es ist ein Dialog, bei dem man zuhört, bei dem man Situation und dem zügigen Aufbau der Infrastruktur. lernt, in dem wir aber die Verantwortlichkeiten nicht Von der Opposition habe ich nie ein alternatives verschieben werden. Konzept gehört. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Was bringen (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) Sie denn ein?) Meine Damen und Herren, Sie mäkeln herum an Aber lernen und abstimmen und die Verantwortlich- es werde zuwenig saniert der Arbeit der Treuhand, keit im eigenen Bereich tragen, das wollen wir. Das ist und zuviel und zu schnell privatisiert. Wenn wir nicht unsere Vorstellung von Technologiepolitik und tech- saniert hätten, meine Damen und Herren, dann hätten nologiepolitischem Dialog. wir am 4. Oktober 1990 bereits 95 Prozent der Indu- striebetriebe zumachen müssen. Wir haben dreistel- Meine Damen und Herren, auch im Umweltschutz lige Milliardensummen in die Sanierung der ostdeut- entstehen neue Wachstums- und Beschäftigungsfel- schen Industrie gesteckt. Und es ist in einer Rekordzeit der. Zunächst aber geht es darum, unsere natürlichen und mit einem riesigen Erfolg gelungen, die Privati- Lebensgrundlagen zu bewahren. Wir wissen alle, sierung der ostdeutschen Wirtschaft abzuschließen. Umweltschutz gibt es nicht zum Nulltarif. Damit wir im Umweltschutz vorankommen und die Kosten nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ausufern, setzen wir in der Umweltpolitik auf markt- ten der CDU/CSU) wirtschaftliche Instrumente und auf weniger Verord- Dabei hat es sicherlich Entscheidungen gegeben, nungen und Vorschriften. Wir wollen die Steuerung über die man diskutieren kann. Aber wenn man die über den Preis, und wir setzen mehr als bisher auf Arbeit der Treuhand insgesamt sieht, dann ist es eine freiwillige Vereinbarungen zwischen dem Staat und erfolgreiche, eine noch nie dagewesene Arbeit ohne der Wirtschaft. Dies ist gelungen, dies ist eingeleitet, Modell, für die wir in der ganzen Welt bewundert und dies werden wir fortsetzen. werden, wohin man auch kommt, meine Damen und Herren. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wo ist das gelun (Beifall bei der F.D.P.) gen?) Die Strategie in den neuen Ländern hat sich — Das ist in vielen Bereichen gelungen: beim Kreis- bewährt. 9 % Wachstum in diesem Jahr, 9 % Wachs laufwirtschaftsgesetz, im Automobilbereich bei den tum im nächsten Jahr, Rekordinvestitionen von Batterien, bei der Verbringung von gefährlichen 180 Milliarden DM, und die Pro-Kopf-Investitionen Abfallstoffen ins Ausland und anderem mehr. Machen liegen in den neuen Ländern über den Pro-Kopf- Sie sich sachkundig! Pflegen Sie nicht Ihre Vorurteile! Investitionen in den alten Ländern. Das alles spricht Setzen Sie darauf, daß Menschen selbstverantwortlich für die Arbeit, die dort geleistet worden ist, und es Vereinbarungen herbeiführen können und daß dabei spricht gegen die Miesmachertour, die die meisten mehr herausspringt, als ständig ein neues Gesetz, eine von Ihnen mit Blick auf die Politik in den neuen neue Verordnung zu beschließen, was Ihrem Gesell- - Bundesländern betreiben. schaftsmodell entspricht! (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich füge hinzu: Erfolg kann nur unter Bedingungen Der Beschäftigungsstandort Deutschland ist auf erzielt werden, die politisch stabil und demokratisch eine sichere, kostengünstige und umweltfreundliche sind. Ich greife das auf, was Kollege Glos gesagt hat. Energieversorgung angewiesen. Deshalb brauchen Der Rücktritt von Herrn Gramke zeigt, daß der Schmu- wir — hier geht es wieder um konkrete Wirtschafts- sekurs mit der PDS, den u. a. Sie, Herr Schröder, politik — mehr Wettbewerb in der Energiewirtschaft, betreiben, in ein Desaster — nicht nur für die SPD — bei Strom und bei Gas. Diesen immer noch kartellier- führt. ten Bereich wollen wir im Dialog auch mit den Kommunen und der Europäischen Kommission ange- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hen. Wir brauchen in der Energiewirtschaft verläßli- Neue Beschäftigungsfelder gibt es dann, wenn wir che Bedingungen für Investitionen. Deshalb brauchen uns neuen Technologien zuwenden: in der Telekom- wir endlich den energiepolitischen Konsens in und für munikation, in der Bio- und Gentechnologie, in der Deutschland. Luft- und Raumfahrttechnik, im Umweltschutz. Mor- Herr Ministerpräsident Schröder, die niedersächsi- gen wird im Bundesrat über eine Gentechnikverord- sche Landesregierung redet gebetsmühlenhaft vom nung entschieden. Die Bundesregierung fordert Sie notwendigen energiepolitischen Konsens. Ich sage auf, meine Damen und Herren: Zeigen Sie einmal, wie ganz klar: Die Bundesregierung ist zu diesem energie- Sie zu Technik und zu neuen Technologien stehen! politischen Konsens bereit. Aber zu einem Konsens, Morgen haben Sie dazu Gelegenheit. Herr Ministerpräsident, gehören immer zwei oder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mehrere Parteien, die aufeinander zugehen, die kom- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 175

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt promißbereit sind. Energiepolitischen Konsens und der Kernkraft — ohne Kernkraft lösen können, der Kompromiß kann es u. a. nur dann geben, wenn eine liegt falsch, der ist schief gewickelt. verantwortliche Lösung für die Entsorgung der beste- henden Kernkraftwerke gefunden wird. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Meine Damen und Herren, wir müssen auch in CDU/CSU) Zukunft in Deutschland in der Lage sein, auf der jeweils sichersten Technologie Kernkraftwerke zu Ihre Umweltministerin, Herr Schröder, leitet das Was- bauen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen ser auf die Mühlen der militanten Umweltaktivisten. um den Endlagerstandort Gorleben und den Trans- Sie läuft Gefahr, mit ihrer Kompromißlosigkeit zur port eines Castor-Behälters haben Symbolwert. Ich Entsorgung die Totengräberin eines energiepoliti- hoffe sehr, daß dadurch die Energiekonsensgesprä- schen Konsenses zu werden. che nicht gestört werden. Wir wollen sie wieder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) aufnehmen. Die GRÜNEN und Ihre Landesregierung in Nieder- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als sachsen wollen über den Hebel der Entsorgung den letzten konkreten Punkt — vieles wäre noch hinzuzu- Bund und die Energiewirtschaft zwingen, auf die fügen — darauf hinweisen, daß wir unsere Export- sichere und kostengünstige Kernenergie zu verzich- wirtschaft mit konkreten Hilfestellungen flankieren: ten. Herr Ministerpräsident, wir waren uns in den mit dem Hermes-Instrumentarium, mit den Außen- Konsensgesprächen bereits so weit näher gekommen, handelskammern und mit den Beratungsprogram- daß eine befristete Duldung der Kernenergie von Ihrer men. Seite — wir meinten: zuwenig; aber immerhin — angeboten wurde. Können Sie mir erklären, wie Sie Wir gehen als Bundesregierung — viele Parlamen- sich eine Einigung ohne eine gesicherte Entsorgung tarier sind auch dabei — hinaus in andere Länder. Wir vorstellen? Wie soll es zu einem Energiekonsens verhandeln hart, und wir klopfen auch an. Niemand kommen, wenn wir keine Entsorgung sichergestellt kann uns schelten, wir hätten zuwenig getan. Wir haben? Sie entziehen sich Ihrer Verantwortung, waren in China, in Indien, in Thailand, in Taiwan, in Mexiko, in Saudi-Arabien und in vielen anderen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Staaten. indem Sie Ihrer Umweltministerin freien Lauf lassen, (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Viel zu spät! Nur indem Sie sich nicht dem Widerstand der Umwelt- Aktionismus!) gruppen in Gorleben entgegenstellen, Wir haben Milliarden-Aufträge für unsere Unterneh- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS men hereingeholt: der Bundeskanzler, der Finanzmi- 90/DIE GRÜNEN) nister und der Wirtschaftsminister, mit großen Dele- sondern — im Gegenteil — noch eine Ermunterung für gationen von Unternehmern, diese Gruppen aussprechen. Sie gefährden die Sicherheit unserer Bürger, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Den Außenminister nicht vergessen!) (Detlev von Larcher [SPD]: Der weiß nicht, wovon er spricht!) die über alle Maßen angetan waren von dem, was diese Bundesregierung tut, um im Export die Türen indem Sie eine geregelte und wissenschaftlich abge- aufzustoßen. sicherte Entsorgung seit Jahren blockieren. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So - (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin ist es!) gen] [F.D.P.] sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schon in wenigen Jahren, meine Damen und Her- ren, wird die Zeit gekommen sein, in der wir die Wir sind Exportweltmeister, meine Damen und Her- Versäumnisse der Vergangenheit in der Energiepoli- ren, und viele in diesem Hause und anderswo haben tik bereuen werden. Ich darf daran erinnern, daß auch dazu beigetragen. Niedersachsen zu rund 40 % von der Kernenergie Ich sage zusammenfassend: Unsere marktwirt- abhängig ist. Wir dürfen uns in der Energieversorgung schaftliche Politik ist ohne jede Alternative. Unser nicht allein von den fossilen Energien abhängig Konzept hat sich als richtig erwiesen. Die Beschäfti- machen. gungswende in Ostdeutschland und in Westdeutsch- Die zusätzlichen CO2-Belastungen durch den Aus- land ist eingeleitet. Von einem alternativen Konzept bau von Öl-, Gas- oder Kohlekraftwerken wären für Ihrerseits habe ich nichts gehört, nur ein Herumsto- die Umwelt nicht tragbar. Wir wollen auf regenerative chern an wenigen Themen, keine Visionen und keine Energien setzen, und wir sehen auch in der Energie- Prinzipien. einsparung ein riesiges, zu großen Teilen noch uner- schlossenes Potential. Die Wirtschaft in diesem Land ist auf Wachstums- kurs. Wir haben den Aufschwung Ost in G ang Aber, meine Damen und Herren, wer meint, daß wir gebracht. Wir haben die Kompetenz, und Sie reden die Energieprobleme in Deutschland ohne einen sinn- unsystematisch daher. Dieses Land wird in der Welt vollen Energie - Mix aus allen wichtigen Energieträ- um seinen Erfolg in der Wirtschaftspolitik beneidet. gern — einschließlich Energieeinsparung; einschließ- lich regenerativer Energien; Kohle und Öl, aber auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 176 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Es hat zwar Probleme, aber wir werden diese Pro- Aussichten — ein weiterer Abbau von Sozialstan- bleme lösen. Wir werden Deutschland für das 21. Jahr- dards, ganz auf die kalte Tour. Woher wollen Sie hundert fit machen. übrigens all die vielen zahlungsfähigen privaten (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der Haushalte nehmen, die die Menschen einstellen sol- CDU/CSU) len, die durch den entstehenden Kostendruck bei Privatisierung im Gesundheitswesen, bei Privatisie- rung von kommunalen Dienstleistungsunternehmen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht freigesetzt werden? Frau Dr. Christa Luft. Forschungsergebnisse sollen schneller in verkauf- bare Produkte umgesetzt werden, damit Güter und Dr. Christa Luft (PDS): Frau Präsidentin! Meine Leistungen verkauft werden können. Bravo, kann ich Damen und Herren! Die Bundesregierung will laut nur sagen. Aber haben Sie auch nur einen einzigen Koalitionsvereinbarung und laut den Aussagen des Gedanken darauf verwendet, wie viele Patente von Bundeskanzlers am Ziel festhalten, Vollbeschäfti- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von For- gung zu erreichen. Dies läßt erwartungsvoll aufhor- schern und Ingenieuren der früheren DDR bis heute chen, dies ist sehr bemerkenswert, haben doch bis vor ungenutzt brachliegen? Per 3. Oktober 1990 waren kurzem nicht wenige Politiker Vollbeschäftigung als 138 000 Erfindungen aus Ostdeutschland beim Deut- anachronistisch bezeichnet, sie als Relikt der Plan- schen Patentamt angemeldet. Davon waren zu jenem wirtschaft verpönt. Zeitpunkt zwei Drittel noch nicht in Produkte umge- Wir tragen einen solchen Vollbeschäftigungsan- setzt, Inzwischen werden monatlich 1 000 Patente spruch selbstverständlich mit. Er entspricht unseren gelöscht — künftig sollen es sogar 3 000 in jedem Vorstellungen von einem zivilisierten Gemeinwesen, Monat sein —, weil sich die Autoren und Erfinder ihre in dem alle Arbeitswilligen und alle Arbeitsfähigen Aufrechterhaltung finanziell nicht leisten können. die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu bestreiten und nicht von Alimenten Wer eigentlich kann es verantworten, daß wertvolle leben müssen. Erwerbsarbeit ist die entscheidende Ideen in einem solchen Ausmaß sehenden Auges Grundlage, damit der einzelne an Eigentumsbildung versickern? Warum tun Sie nicht endlich etwas zur teilhaben kann, also an der Grundlage, auf der das Rettung und Ausschöpfung dieses Kreativitätspotenti- marktwirtschaftliche System beruht. als? Der Markt allein, Herr Rexrodt, wird es eben nicht richten. Warum haben Sie nicht längst eine Einkaufs- Wenn Sie nun aber, meine Damen und Herren von offensive Ost für diesen Bereich initiiert? Zum Scha- der Koalition, ehrlich am Erreichen des Vollbeschäfti- den für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für gungsziels arbeiten wollen, weshalb lehnen Sie dann den Ausbau wertschöpfender Produktionen wäre das die Aufnahme eines Rechts auf Arbeit als Staatsziel in gewiß nicht. Gerade Umbruchprozesse, in denen sich die Verfassung ab? Ostdeutschland gegenwärtig befindet, bedürfen eines Während der gesamten Amtszeit dieser Koalitions- Geburtshelfers, bedürfen eines Mitwirkens der öffent- regierung war die Massenarbeitslosigkeit ein Alltags- lichen Hand. problem, eine Alltagserfahrung. Das Phänomen Mas- Kein Wort findet sich in Ihrer Koalitionsvereinba- senarbeitslosigkeit können Sie jedenfalls nicht auf die rung dazu, wie Sie das deutsche Einheit und auf das Hinzukommen des arbeitsplatzschaffende Inno- vationsklima in Deutschland prinzipiell verbessern maroden Ostens schieben, wie Sie das so gern bezeichnen. wollen. Sie sehen zu, wie große Konzerne weiter ihr Kapital in Finanzanlagen stecken und an der New Womit gedenkt denn nun die neue/alte Regierungs- Yorker Börse spekulieren, statt langfristige Innova- mannschaft das deklarierte Vollbeschäftigungsziel tionsrisiken zu wagen. Ohne das Finanzkapital zu anzusteuern? Die einzigen, die in Ihrer Beschäfti- entprivilegieren, wird es einen innovativen Nachfra- gungspolitik wirklich ins Kraut schießen sollen, sind geschub nicht geben können. die privaten Haushalte, die Sie verstärkt für den regulären Arbeitsmarkt und für sozialversicherungs- Ein angemessenes Signal für eine wirksame arbeits- pflichtige Beschäftigungsverhältnisse gewinnen wol- marktpolitische Offensive könnten Sie angesichts len. Also stellen Männer ihre eigenen Partnerinnen dessen, daß auch der Sachverständigenrat für die ein oder umgekehrt. Besserverdienende engagieren nächste Zeit keine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt Dienstmädchen und nutzen die steuerlichen Abzugs- angekündigt hat, setzen, indem Sie sich endlich zum möglichkeiten. Uns steht nicht der Ausbau einer Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungs- Dienstleistungsgesellschaft ins Haus, die Herr Glos sektors bekennen. Soziale Dienste, Umweltschutz, vorhin gefordert hat, sondern es erscheint der Ausbau Jugendarbeit, Stadt- sowie Landschaftsgestaltung einer Dienstbotengesellschaft am Horizont. und -sanierung könnten dafür Schwerpunkte sein. Das sind Bereiche, die nicht im internationalen Wett- (Beifall bei der PDS) bewerb stehen. Eine solche Gesellschaft frei von Tarifen, frei von gewerkschaftlicher Interessenvertretung und ohne Ein solcher Sektor, gemischt finanziert aus Mitteln Einfluß von Personal- oder Betriebsräten würde das der Bundesanstalt für Arbeit, aus Lohnkostenzuschüs- Gesicht dieser Republik tatsächlich verändern, aber sen, Sachkostenzuschüssen und Selbstbeteiligung nicht das, was Sie uns ständig unterschieben. privater Unternehmen, kann von vornherein mit Merkmalen des ersten Arbeitsmarktes gestaltet wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Heiße Luft!) den, also mit tariflicher Entlohnung, ohne zeitliche Diese Dienstbotengesellschaft wird vorrangig weib- Limitierung der Arbeitsverhältnisse à la ABM, mit lich, jugendlich und ostdeutsch sein. Das sind schöne Wettbewerb verschiedener Anbieter, mit individuel- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 177

Dr. Christa Luft len Initiativen und mit effizienter, unbürokratischer Ich erinnere daran, daß private Konsortien sich Organisation. Öffentliche Förderung, meine Damen inzwischen mit einem Clearinghandel beschäftigen, und Herren, und unternehmerisches Engagement was die Bundesregierung für ihre Ebene von Anfang können doch verbunden werden, wenn wir alle uns an abgelehnt hat. von ideologischen Dogmen trennen. Drittens ist ein Bekenntnis zur industriellen Wieder- Die Förderung der Wirtschaft in den neuen Bundes- aufforstung der neuen Länder notwendig. Das ist die ländern soll fortentwickelt werden, der erfolgreich entscheidende Grundlage, um auch industriellen Mit- begonnene wirtschaftliche Aufbau fortgesetzt wer- telstand zu befördern. Herr Rexrodt, Sie haben hier den, ist eine These der Regierung. Was geht nun wiederum beeindruckende Zahlen der entstandenen jemandem, der aus dem Osten kommt, durch den mittelständischen Firmen genannt, aber Sie dürfen Kopf, wenn er solches hört? Es trifft zu: Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern, die diese Debatte inzwischen ein buntes, vielfältiges Warenangebot, wir verfolgen, doch nicht verschweigen, was das für haben neue Straßen, wir haben schönere Häuserfas- Firmen sind. Es sind doch im allergeringsten Maße saden, wir haben bessere Telefonnetze. Dies alles Firmen aus dem industriellen Bereich. Es sind wird geschätzt, und das möchte auch niemand mehr überwiegend Würstchenbuden, Versicherungsmak- missen. Aber das allein kann doch nicht für den ler, Erotikshops. wirtschaftlichen Aufschwung stehen! (Beifall bei der PDS) Herr Rexrodt, es nützt auch nichts, wenn Sie für den Viertens geht es um die Ingangsetzung neuer Wirt- Osten beeindruckende Zuwachsraten nennen, ohne schaftskreisläufe im ländlichen Raum und um die zu sagen, von welchem Ausgangsniveau das gesche- Gewährleistung der Chancengleichheit aller Formen hen ist. landwirtschaftlicher Produzenten. (Beifall bei der PDS) Das ganze Deutschland — nicht nur Ostdeutsch- land — wird ärmer, wenn sein östlicher Teil lediglich Ich erinnere mich bei solchen Aussagen immer an als Altlast entsorgt wird, statt als ökonomisches Poten- einen Satz meines Statistikprofessors, der sagte: Im tial begriffen zu werden. Und das kann selbst ein Durchschnitt war der Bach 80 cm tief, und trotzdem ist schlanker Staat leisten, meine ich, dieses ökonomi- die Kuh ersoffen. sche Potential mit seinen vielen qualifizierten Men- Wir sind in Ostdeutschland Zeuge der größten schen im Osten zu nutzen und die Weichen zu stellen, damit sie sich an der Zukunftsentwicklung in diesem Vernichtung von Industrie - und Forschungspotentia- len, die es in Friedenszeiten und in so kurzer Zeit je Lande beteiligen können. gegeben hat. Meine Damen und Herren, das müssen Danke schön. wir doch festhalten. Ein selbsttragender Aufschwung (Beifall bei der PDS) ist nicht in Sicht. Nach wie vor fließen siebenmal mehr Güter und Leistungen aus den alten Bundesländern in die neuen Länder, als umgekehrt von Ost nach West Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat jetzt gehen. der Abgeordnete Dr. Paul Krüger. In der Landwirtschaft sind 80 % der Arbeitsplätze abgebaut worden. In Mecklenburg-Vorpommern Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! — um nur ein Beispiel zu sagen blieb von ehemals Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer von sechs Arbeitsplätzen auf dem Lande noch ein einziger uns hätte vor fünf Jahren gedacht, daß wir am Ende übrig. dieses Jahrhunderts die Chance haben werden, die Zukunft in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit all (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- unseren Nachbarn zu gestalten? Wer hätte noch vor mer) einigen Jahren gedacht, daß wir den Kalten Krieg Besonders die Frauen sind von dieser negativen schnell und endgültig friedlich überwinden werden? Entwicklung betroffen. Wer hätte es für möglich gehalten, daß im Deutschen Bundestag Debatten über die Entwicklung im wieder- Sie versündigen sich, meine Damen und Herren, am vereinigten Deutschland stattfinden, so, als ob die west- wie am ostdeutschen Steuerzahler, wenn Sie die Teilung schon weit hinter uns läge? wahrlich beeindruckenden Finanztransfers nicht end- (Beifall bei der CDU/CSU) lich in Beschäftigungswirkungen umsetzen. Dabei bleibt, meine Damen und Herren, bezüglich (Beifall bei der PDS) der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost in der Tat noch viel zu tun. Es ist gut, sich Dazu gehört erstens, die Qualifikationspotentiale in diesem Zusammenhang gelegentlich zu vergegen- im Osten für einen selbsttragenden Aufschwung nutz- wärtigen, wie es vor fünf Jahren im Ostteil Deutsch- bar zu machen, zweitens, die traditionellen Beziehun- lands aussah und welche Zustände zum Zusammen- gen ostdeutscher Unternehmen mit mittelosteuropäi- bruch des alten Systems führten. Meine Vorrednerin schen Ländern wieder in Gang zu bringen. Das erinnert mich an diese Zustände. Instrument der Hermes - Bürgschaft, das auf den Osten ausgedehnt wurde, war natürlich unverzichtbar; aber (Beifall bei der CDU/CSU) es war unverantwortlich, daß nicht neue Instrumente, Denken Sie, meine Damen und Herren, an verfal- die für die Bewältigung dieses Umbruchprozesses im lene Häuser, an bröckelnde Häuserfassaden, an men- Außenhandel notwendig gewesen wären, genutzt schenunwürdige Wohnungen dahinter! Denken Sie worden sind. an schlechte und löchrige Straßen! Denken Sie an 178 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr.-Ing. Paul Krüger völlig unzureichende Telefonnetze, wobei — das träge, einen Finanztransfer von West nach Ost gelei- haben wir täglich gespürt — die Gespräche ohnehin stet haben, der in der Geschichte — zumindest mitgehört werden konnten! Deutschlands — einmalig ist. Denken Sie an die maroden und nicht wettbewerbs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fähigen Industriestrukturen! Sozialismus, meine Da- der F.D.P.) men und Herren, heißt Vernichtung von Wirtschaft Die Vollendung der Einheit ist eine Aufgabe, die die und Wirtschaftskraft. CDU/CSU, die Koalition und die von ihr getragene (Beifall bei der CDU/CSU) Regierung voll annehmen. „Aufbau Ost vor Ausbau Denken Sie dabei ganz besonders an das praktisch West" — hinter diesem Schlagwort verbirgt sich doch vollständige Vernichten eines Mittelstandes, der, die Erkenntnis, daß wir in den alten und den neuen soweit noch vorhanden, mit einem Steuerhöchstsatz Bundesländern fundamental unterschiedliche Le- — das sage ich allen Kollegen dieses Hauses — von bensbedingungen hatten und trotz der bisherigen 97 % belastet wurde! Aufbauleistung zum Teil noch haben. Denken Sie an eine an vielen Stellen zerstörte oder Die neuen Länder sind heute — auch dank der verseuchte oder vergiftete Umwelt! Anstrengung der Bundesregierung — die wirtschaft- lich dynamischste Region Europas, die Wachstumsre- Denken Sie an die fehlende Freizügigkeit der Men- gion Europas. Die Einkommen der Beschäftigten und schen, und denken Sie an die permanente staatliche insbesondere der Rentner sind beträchtlich gestiegen. Gängelung allenthalben! Denn wir wurden nicht in Der Arbeitsplatzabbau ist gestoppt, und die Beschäf- Ruhe gelassen. tigung beginnt wieder zuzunehmen. Doch von einer Denken Sie an die Präsenz des Staates durch die Angleichung der Lebensverhältnisse kann noch lange bis hinein in die intimsten Bereiche! nicht die Rede sein. Dies müssen wir bei allem, was wir tun, klarmachen. Denken Sie an die willkürliche Beugung des Rechts durch die Schergen des Staates! Viele schwierige Aufgaben liegen vor uns. Hierbei ist es gut, die Sensibilität und die spezifischen Erfah- Denken Sie nicht zuletzt an Menschen mit irrepa- rungen der Ostdeutschen zu nutzen, um die Lage in rablen Lebensperspektiven! Wir haben an diese Men- den neuen Bundesländern bei allen politischen Ent- schen zu denken. scheidungen angemessen berücksichtigen zu kön- Es war und bleibt eine Aufgabe für Ost- und nen. Westdeutsche, gemeinsam die Folgen der 40jährigen Gleichzeitig geht es darum, den notwendigen Pro- zu überwinden. Wir sollten dabei aller- SED-Diktatur zeß der schrittweisen Anpassung der Lebensbedin- dings nicht zu schnell vergessen, wer für diesen gungen nicht einseitig zu vollziehen. Vielmehr sind Unrechtsstaat verantwortlich war und welche Errun- Erkenntnisse und Erfahrungen der Menschen und des genschaft Demokratie und Freiheit für die Menschen Aufbauprozesses im Osten in die Gestaltung unseres im Osten tatsächlich bedeuten. gemeinsamen Vaterlandes einzubeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dies haben wir in der vergangenen Legislaturpe- Meine Damen und Herren, denken Sie auch daran, riode bereits mit Entscheidungen dieses Hauses wie wohin real existierender Sozialismus führt! dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz Vieles ist in den letzten fünf Jahren seit dem oder dem Investitionserleichterungs- und Wohnbau- Mauerfall erreicht worden. Es ist mir wichtig, an dieser landgesetz erfolgreich praktiziert. Stelle all diejenigen hervorzuheben, die mit ihrem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Engagement und ihrer Tatkraft dazu beigetragen- Bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben z. B. haben, daß sich die Lebensverhältnisse in den neuen im Abwasserbereich sind die neuen Bundesländer Bundesländern entscheidend verbessern konnten. mittlerweile Spitzenreiter. Die Veränderung beginnt immer und begann auch vor fünf Jahren nicht mit Opposition. Sie begann (Zustimmung bei der CDU/CSU) bereits damals mit dem Anpacken der Probleme. Die Im Vergleich zu westlichen Bundesländern vorbild- Veränderung begann damit, daß viele, die vor der lich sind auch die Bildungssysteme, die von den Wende der Politik aus guten Gründen fernstanden, CDU-geführten Landesregierungen in Mecklenburg- bereit waren, auf Bundes-, Landes- oder Kommunal- Vorpommern, in Thüringen, in Sachsen-Anhalt und ebene Verantwortung zu übernehmen und am Auf- auch in Sachsen eingebracht wurden, etwa hinsicht- bau mitzuwirken. Dafür möchte ich allen Beteiligten lich der Schuldauer, der Begabtenförderung und auch auch von dieser Stelle ganz herzlich danken: der Rechtsstellung von Schulen in freier Träger- schaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) ( [CDU/CSU]: Können Sie all denen, die damals die Ärmel hochgekrempelt jetzt einmal klatschen, Herr Thierse? — Wolf haben, um den Wiederaufbau zu beginnen; all denen, gang Thierse [SPD]: Nein!) die unternehmerische Initiative und Risikobereit- Meine Damen und Herren, es gibt — ich sprach schaft gezeigt und Arbeitsplätze im Osten geschaffen gerade mit einem Kollegen darüber — hervorragende haben; all denen, die bereit waren, uneigennützige Erfahrungen bei der Beschleunigung von Genehmi- Hilfe zu leisten; und nicht zuletzt all denen, die durch gungsverfahren. Investitionsprojekte werden in den Solidarbeiträge, auch durch Sozialversicherungsbei- neuen Bundesländern fast täglich mit einer Genehmi- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 179

Dr.-Ing. Paul Krüger gungspraxis beschleunigt realisiert, von der sich, mit sende von Arbeitsplätzen im produzierenden Bereich Verlaub gesagt, die alten Bundesländer — das sage entstehen lassen wird. ich besonders in Richtung der Länderbank — eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) große Scheibe abschneiden können. Die Mittelstandsförderung als wichtigste Kompo- (Beifall bei der CDU/CSU) nente des Wirtschaftsaufbaus in den neuen Bundes- Die Bundesregierung und die sie tragenden Koali- ländern wird fortgesetzt. Wichtigster Schwerpunkt tionsfraktionen haben in der Koalitionsvereinbarung dabei bleibt die Verbesserung der Eigenkapital- der Entwicklung in den neuen Ländern einen großen situation der Unternehmen in den neuen Ländern, Raum gewidmet. Viele der dort genannten Schwer- z. B. als notwendige Voraussetzung für Innovatio- punkte beziehen sich darauf, die Lebensverhältnisse nen. der Menschen in den neuen Bundesländern nachhal- Ich darf Sie daran erinnern, daß wir dieses Problem tig zu verbessern und die deutsche Einheit zu vollen- wirklich ganz ernst nehmen müssen. Wir hatten in den den. Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, daß neuen Bundesländern nicht die Voraussetzung der eine gute und umweltverträgliche Wirtschaftspolitik Vermögensbildung, und wir haben immer noch nicht die beste Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik die Einkommensbasen, wie sie in den alten Ländern ist. vorhanden sind. Das Eigenkapitalhilfeprogramm in (Beifall bei der CDU/CSU) den neuen Bundesländern wird deshalb zunächst bis 1998 fortgeführt. Ich halte die Verbesserung des Notwendige Bedingung dafür ist der weitere Aus- Risikokapitalmarktes auch durch Schaffung staatli- bau einer wirtschaftsfreundlichen Infrastruktur. Wir cher Ausfallbürgschaften in den neuen Bundeslän- benötigen darüber hinaus die Entwicklung und dern für besonders wichtig. Markteinführung innovativer Produkte und Dienstlei- stungen — von Innovationen, wie wir sie heute Im Zuge der Deregulierungsoffensive sollen Pla- nennen. Wir brauchen noch mehr unternehmerische nungs- und Genehmigungsverfahren weiterhin ver- Initiativen, und wir brauchen mehr staatliche und vor einfacht und beschleunigt werden. Zudem sollen allem privatwirtschaftliche Investitionen in den neuen Initiativen für mehr Existenzgründungen forciert wer- Bundesländern. den. Auch hier haben wir noch Defizite. Gerade im Osten kommen wir nicht umhin, auf neue Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, daß die Produkte und Technologien zu setzen. Deshalb wer- Investitionen in den letzten Jahren eine Erfolgsstory den wir die kontinuierliche Förderung der Industrie- waren. Ich darf auch daran erinnern, daß wir allein im forschung in den neuen Bundesländern verstärkt staatlichen Bereich 350 Milliarden DM für Infrastruk- fortsetzen. turmaßnahmen eingesetzt haben und daß wir im privaten Sektor 500 Milliarden DM für Investitionen in Ich möchte die Gelegenheit nutzen, von dieser den neuen Bundesländern mobilisieren konnten. Ich Stelle aus den Appell an die Industrie der alten meine, das ist eine beispiellose Bilanz. Schlagworte Bundesländer zu richten wie ich es schon häufig hierbei sind: Infrastruktur, Innovation, Initiative und getan habe —, die Möglichkeiten, die Potenzen, die

Investition — wir nennen das manchmal spaßeshalber bei den Forschern in den neuen Bundesländern, in die vier I —, die ganz wichtig für die Entwicklung im den Entwicklungsabteilungen von Forschungs- wirtschaftlichen Sektor sind. GmbHs und vielen anderen Forschungsinstituten lie- gen, stärker in Kooperation zu nutzen, d. h. auch zu Hier ist wirklich viel erreicht worden. Ich spreche ihrem eigenen Vorteil. auch von dem Neu- und Ausbau von 7 000 km Straßen und 3 000 km Schienen, umfangreichen Ausbaumaß- All diese Maßnahmen, die ich hier nannte, zur nahmen im Bereich der Häfen und der Flugplätze. Förderung der Infrastruktur, zur Förderung der Inno- Man könnte diese Erfolgsstory beliebig fortsetzen. vation, zur Ankurbelung privater Initiativen und zur Verstärkung privater Investitionen haben letztlich Ich sage mit allem Nachdruck: Diese Entwicklung in mehr Arbeitsplätze zur Folge. Dies gilt insbesondere den neuen Bundesländern gilt es weiterhin erfolg- für das produzierende Gewerbe und in immer stärke- reich fortzusetzen. Deshalb begrüße ich es, daß die rem Maße auch für den Bereich der Dienstleistungen Koalitionsvereinbarung auf breitem Raum festhält, und des Umweltschutzes. was wir in den nächsten vier Jahren fortführen und Meine sehr verehrten Damen und Herren, gele- weiter verstärken wollen. gentlich wird, auch von Kollegen aus dem Westteil (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschlands, die Behauptung geäußert, die Men- schen in den neuen Bundesländern seien unzufrieden. Die Vollendung der Verkehrsprojekte deutsche Ich glaube, daß die Menschen in den neuen Ländern Einheit bleibt eine erstrangige Aufgabe. Ich nenne nicht unzufrieden sind. Ich glaube, sie sind eher hier beispielhaft die für die Erschließung des Nordens gelegentlich verunsichert. Wir müssen dafür Ver- ganz entscheidende Küstenautobahn A 20. Ich nenne ständnis aufbringen. außerdem die von der Basis gegen die Pläne einer rot-grünen Landesregierung durchgesetzte Südharz- Sie sind verunsichert bezüglich des möglichen Ver- Autobahn. lustes ihrer Arbeitsplätze. Sie sind verunsichert (Beifall bei der CDU/CSU) bezüglich einer für sie ungewohnten Kriminalität — die es sicher auch früher gab, aber die heute offener Ich nenne natürlich auch den Transrapid, dessen Bau berichtet wird. Sie sind auch bezüglich steigender nicht nur modernste umweltfreundliche Technik in Mieten verunsichert. Die Mieten müssen aber einfach die neuen Bundesländer bringt, sondern auch Tau- notwendigerweise steigen, will man im Wohnbereich 180 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr.-Ing. Paul Krüger etwas verändern. Letztlich sind sie bezüglich vieler schiedlicher Qualifikationen, trotz unterschiedlicher ungewohnter, sich ständig verändernder Bedingun- Vermögens- und Einkommensverhältnisse, trotz un- gen verunsichert, mit denen sie fertigwerden müs- terschiedlicher Erfahrungen, trotz unterschiedlicher sen. Biographien — kurz gesagt: trotz einer unterschiedli- Ich finde es unerträglich, wenn Politiker bestimmter chen Vergangenheit — gleiche Chancen für die Zukunft Parteien diese Menschen weiter verunsichern und bekommen. Das, meine Damen und Herren, ihnen Angst einjagen. Ich halte das für eine schlimme ist ein ganz dringlicher Appell, den ich an Sie richten Sache. möchte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit ist die Vollendung der inneren Einheit Wenngleich es in einer freiheitlichen Demokratie Deutschlands nicht nur eine historische Aufgabe, keine absolute Sicherheit geben kann, ist es doch sondern sie ist auch eine historische Chance für uns besonders wichtig, die Unsicherheitspotentiale unter Deutsche. den noch instabilen Bedingungen der neuen Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) länder weiter abzubauen. Lassen Sie uns diese Chance weiterhin nutzen! Neben der Stärkung der Wirtschaftskraft, über die Vielen Dank. ich soeben sprach, gilt es, die bereits laufenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im notwendi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen Umfang fortzuführen. Arbeitsbeschaffungsmaß- nahmen sind hierbei besonders für ältere Arbeitneh- mer anzuwenden. Die Gewährleistung der inneren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt Sicherheit, die Bekämpfung der Kriminalität und der der Kollege Rudolf Dreßler. Schutz der Bürger bei Achtung ihrer Grund- und Freiheitsrechte sind deshalb insbesondere in den Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine neuen Bundesländern politische Schwerpunktaufga- ben. Damen und Herren! Die Regierungserklärung soll die politischen Absichten der Koalition aus CDU/CSU Die notwendige schrittweise Anpassung der Mieten und F.D.P. für die nächsten vier Jahre deutlich ist unter Berücksichtigung der Einkommensentwick- machen. Die Regierungserklärung soll erläutern, mit lung sozialverträglich zu gestalten. Vor allem das welchen Maßnahmen und Initiativen die Bundesre- Defizit an Wohneigentum ist durch eine Verbesserung gierung unser Land nach der schwersten Wirtschafts- der Förderung der Bildung von Wohneigentum, ins- krise der Nachkriegszeit wieder vorwärts bringen besondere durch eine verstärkte Förderung des will. Eigenheimbaus, abzubauen. Neben der steuerlichen Deutschland müsse für die Zukunft fit gemacht Wohneigentumsförderung und einer verstärkten Bau- werden, heißt es dort. Richtig, das muß es wirklich. Wir sparförderung soll vor allem mit der geplanten brauchen einen Aufbruch in die Zukunft, heißt es Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative ein weiter. Auch richtig. Wer die Regierungserklärung ganz wesentlicher Impuls gegeben werden. Dabei und die ihr zugrundeliegende Koalitionsvereinba- sollen insbesondere Familien mit Kindern begünstigt rung auf diesen Anspruch hin überprüft, wird feststel- werden, was ich für völlig richtig halte. Ich weiß, daß len: Hier geht es nicht um Aufbruch, hier geht es um das die Zustimmung dieses Hauses, insbesondere Abgesang. meiner Fraktion, findet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, das Spektrum der - der PDS) besonderen Bedingungen in den neuen Bundeslän- Wenn Regierungserklärungen Orientierungen bie- dern und der sich daraus ableitenden Notwendigkeit ten sollen, so ist das, was der Bundeskanzler gestern spezieller Maßnahmen ist enorm umfangreich und vorgetragen hat, ein Dokument der Desorientierung, reicht von der verstärkten Förderung von Großgeräten kraftlos, ohne Feuer und ohne Inspiration. der Grundlagenforschung bis hin zur Bundesbeteili- gung an Kultureinrichtungen der neuen Bundeslän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der, wie das in der Koalitionsvereinbarung festge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der schrieben ist. PDS) Ich glaube deshalb, daß mit der vorliegenden Koali- Wir haben eine inhaltlich ausgebrannte und perso- tionsvereinbarung ganz wesentliche Schwerpunkte nell ausgeblutete Regierung vor ihrem letzten für den Aufbau im Ostteil Deutschlands und für die Gefecht, geprägt von der Angst, die fast verlorene Vollendung der deutschen Einheit gesetzt werden. parlamentarische Mehrheit vollends zu verlieren, Auf dieser Basis bleibt die Lösung der vorhandenen erlebt. Probleme allerdings eine langfristige Aufgabe für uns (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie träu und für alle Menschen in Deutschland. men doch!) Dabei bedarf nicht nur die Annäherung der Men- Diese Regierungserklärung, meine Damen und schen in Ost und West, sondern die menschliche Herren, legt offen: Wir stehen vor einer Phase der Dimension dieser Aufgabe überhaupt unserer beson- politischen Lähmung. Keines der drängenden Pro- deren Aufmerksamkeit. Wir haben dabei besonders bleme wird wirklich in Angriff genommen. darauf zu achten, daß die Menschen in Ost und West (Julius Louven [CDU/CSU]: Sachsen-An trotz unterschiedlicher Entwicklungen, trotz unter- halt!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 181

Rudolf Dreßler Von der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, der vorbeigeht, ist die andere und für die Folgen von Sicherung des Standorts Deutschland im internationa- Politik viel entscheidendere. len Wettbewerb bis zu der Ausrichtung des Sozial- (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Wolf staats auf zukünftige Herausforderungen — nichts gang Friedrich Lohmann [Lüdenscheid] wird wirklich begonnen, alles wird hinter wohlfeilen, [CDU/CSU]) vagen Formeln versteckt. — Wissen Sie, Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe Robert Leicht hat recht, wenn er zu dieser Regie- waren schon einmal intelligenter. rung und ihrer Politik jüngst in der „Zeit" feststellt: Die Erwartung, daß sich eine arbeitslose Textilfach- Die handelnden Personen verbergen ihre Un- arbeiterin aus Plauen im Vogtland oder Viersen am schlüssigkeit und Unsicherheit hinter Formel- Niederrhein kompromissen, die vieles beschwören, ohne daß es wirklich zum Schwur kommt. (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie kommen Sie auf Viersen?) (Beifall bei der SPD) unter Ihrer Androhung, Herr Louven, sozialer Ver- Für die SPD-Fraktion steht fest: Würde diese Regie- elendung motivieren ließe, bei einem Stuttgarter rung der politischen Lähmung und der inneren Zahnarzt oder Hamburger Studienrat als Dienstmäd- Schwäche vier Jahre ihres Amtes walten, chen zu arbeiten, ist schlicht absurd. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tut sie nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unserem Land bekäme das nicht gut. Diesem Land des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der würden Belastungsproben abverlangt, die es in sich PDS) haben. Das Schlimme ist: Bei Ihnen von der CDU/CSU und Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht von der F.D.P. beruht das auf einem Menschenbild, es daher als ihre Pflicht an, alles zu tun, um das das mit der Freiheit des einzelnen sehr wenig, aber mit unserem Land zu ersparen. der beliebigen Verfügbarkeit seines Schicksals sehr (Beifall bei der SPD) viel zu tun hat. Der wirtschaftliche Aufstieg unseres Landes und die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bewahrung des sozialen Friedens hängen in entschei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dender Weise davon ab, wie und ob es gelingt, das PDS) Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu Ich frage: Was soll eigentlich der Hinweis in der bekommen und es schrittweise zu lösen. Koalitionsvereinbarung, man müsse den Bereich des Die zentrale Frage lautet: Wie lange wollen und privaten Haushaltes für den Arbeitsmarkt nutzbar können wir uns die vorherrschende gesellschaftspoli- machen und dort die Möglichkeit für neue Stellen tische Praxis des Umgangs mit Massenarbeitslosigkeit schaffen? Soll das ein Beitrag zum Abbau der Massen- eigentlich noch leisten? arbeitslosigkeit sein, Herr Blüm? Entsteht etwa ein neuer Beschäftigungsboom, wenn Kinderfrauen, (Beifall bei der SPD) Hausmädchen und Gartenboys für den p rivaten Haus- Es hängt von der Ernsthaftigkeit ab, mit der nach halt steuerabzugsfähig gemacht werden? Antworten auf die Frage gesucht wird, ob sich ein (Julius Louven [CDU/CSU]: Natürlich!) drohender beschäftigungspolitischer und damit ge- sellschaftspolitischer GAU verhindern läßt. Die Regie- Das glaubt ja in dieser Regierung noch nicht einmal rungserklärung wie die Koalitionsvereinbarung stel- der Herr Rexrodt, und das will allerdings was hei- len unter Beweis, daß die Koalition weder willens noch - ßen. fähig ist, auf diese Frage ernsthafte Antworten zu (Beifall bei der SPD — Hans-Eberhard Urba finden. niak [SPD]: Der glaubt das! — Hartmut Beim Umgang mit dem Problem der Massenarbeits- Schauerte [CDU/CSU]: Neidhammel!) losigkeit haben in dieser Koalition aus CDU/CSU und Dahinter steht eine ganz bestimmte gesellschafts- F.D.P. offenkundig die Anhänger der reinen Lehre das politische Philosophie: Je niedriger die soziale Min- Sagen. Die sagt: Der Preis für die Ware Arbeitskraft destabsicherung, desto höher die Nachfrage selbst muß so weit sinken, daß sich dafür wieder Käufer nach mies bezahlter Arbeit. Diese Regierung will finden. Konjunktur für etwas schaffen, was man in der Fach- Die Kürzungskonzerte im Leistungskatalog des sprache „bad jobs" nennt. Sie will ein Klima, in dem Arbeitsförderungsgesetzes, die diese Regierung seit Arbeitnehmer aus Gründen ihrer Existenzsicherung ihrem Bestehen in jedem Haushaltsjahr veranstaltet, bereit sind, wie es sprichwörtlich heißt, für einen Apfel offenbaren die gesellschaftspolitische Haltung, die und ein Ei zu arbeiten. Das geschieht in der nicht dahintersteht: Sozial Bedürftige und Arbeitslose sol- unberechtigten Erwartung, daß sich dann weitere len finanziell knapper gehalten werden, um dadurch finden, denen aus der Not heraus der Apfel reicht und vermeintliche Eigeninitiative und Arbeitsbereitschaft die auf das Ei verzichten. anzuregen. Einer solchen Politik, meine Damen und Herren, Daß diese „Brotkorb-höher-hängen-Philosophie" in geht es nicht mehr um Menschen, für die Arbeit die gesellschaftspolitische Rumpelkammer gehört, ist zentrales Element einer sinnvollen Lebensführung die eine Sache. Daß sie an den Beweggründen und darstellt, sondern ihr geht es um Menschen, die sich Bewußtseinslagen der betroffenen Menschen völlig gefälligst produktionsgerecht verfügbar zu halten 182 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Rudolf Dreßler haben, wenn sie ihr Existenzminimum verdienen durch Expansion in den noch oder wieder wachsen- wollen. den Wirtschaftssektoren neu entstehen. Wo wird in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der praktischen Politik dieser Regierung oder ihrer Ankündigungen, wo wird in ihren Absichtserklärun- Die Frage, ob das nun der Aufbruch dieser Regie- gen für die nächsten Jahre deutlich, daß sie aus dieser rung in die Zukunft sein soll, ist ja wohl berechtigt. Es Entwicklung ihre Konsequenzen gezogen hat? Ich ist in Wahrheit eine Rückkehr in Produktions- und erkenne nichts. Ich lese nichts. Arbeitsverhältnisse, die wir überwunden haben. Eine Fahrt in diese Vergangenheit macht die sozialdemo- In den alten Bundesländern liegen die Kosten pro kratische Bundestagsfraktion nicht mit. Arbeitslosen bei knapp 40 000 DM. Rechnet man entgangene Steuereinnahmen hinzu, so liegen sie gar (Beifall bei der SPD) noch um einiges darüber. Es macht doch keinen Sinn, Die Regierungserklärung belegt, daß die Koalition meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen aus CDU/CSU und F.D.P. abermals auf eine aktive wie bisher. Aber es macht Sinn, wenn Sozialdemokra- Arbeitsmarktpolitik verzichten und sich statt dessen ten fordern, diese 40 000 DM nicht für die Zahlung von auf das bloße Verwalten von Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, also für beschränken will. Tatsächlich ist sie drauf und dran, in Lohnersatzleistungen, auszugeben, sondern mit die- der Wirklichkeit zu testen, welche Zukunft eine sem Geld Arbeitsplätze zu finanzieren, aus Arbeitslo- Gesellschaft hat, die immer mehr Menschen bestätigt, sen wieder Beitragszahler zu machen. daß ihre Arbeitsleistung nicht mehr gefragt ist. Das wäre ein Test, der nur in einer sozialen Katastrophe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten enden kann. der PDS) Ist Ihnen von der Regierung wirklich nicht klar, was Wir werden dieser Koalition nicht ersparen, darauf Arbeit für den einzelnen, für seine Stellung im gesell- eine Antwort zu geben. Wir werden im Bundestag ein schaftlichen Gefüge, bedeutet? Ich sage Ihnen: Wer Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorlegen, das Arbeit hat, gesichert und einträglich, der zeigt, daß er mit unserer Forderung Ernst macht: Arbeit schaffen etwas „geworden ist". Er verdient sein Einkommen statt Arbeitslosigkeit finanzieren. und kann sich Dinge leisten, die für sein Ansehen in der Familie, bei Nachbarn und Freunden wichtig sind. Wer sich den Tort antut, die Regierungserklärung, Einen Job zu haben sichert Kontakte und Gesprächs- die der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, und stoff, gibt Halt. die Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und Das mögen Banalitäten sein; aber es sind Banalitä- F.D.P. im einzelnen nachzulesen und auf ihre Konse- ten nur bis zu jenem Tag, an dem der Job wegbricht. quenzen hin zu überprüfen, wird feststellen, daß der Sozialstaat bei dieser Regierung in erster Linie die Wer seine Arbeit verliert, der verliert nicht nur einen Teil seiner täglichen Bürde. Er verliert stets auch seine Funktion eines Störenfriedes oder Belastungsfaktors Würde. Ich empfinde es als unerträglich, daß diese hat. Für CDU/CSU und F.D.P. besteht die Welt nur aus Regierung in ihren Reden über Arbeitslosigkeit so tut, Kosten und Preisen, und das war es dann auch als sei das eine Art Zwangsurlaub, Familienpause schon. oder Muße für Nachbarschaftserfahrungen oder Wer fast ausschließlich in ökonomischen Katego- andere angenehme Dinge. rien denkt, wie CDU/CSU und F.D.P. dies tun, dem ist (Beifall bei der SPD) letztlich gleichgültig, wenn sich unsere gesellschaftli- che Wertordnung ins ausschließlich Ökonomische Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Regierung verschiebt; denn er mißt den gesellschaftlichen Erfolg aus CDU/CSU und F.D.P. auch nur näherungsweise oder Mißerfolg von Menschen vorrangig an ihrem die Probleme erfaßt hat, die am Arbeitsmarkt in wirtschaftlichen Ergebnis. Das ist es, was nach zwölf Zukunft auf uns zukommen werden. Das Prognos- Jahren geistig-moralischer Erneuerung übriggeblie- Institut faßt die zu erwartende Entwicklung in einem ben ist. Der Beitrag von Menschen zu unserer Gesell- nüchternen Satz zusammen. Dort liest man: schaft wird in cash gemessen, meine Damen und Der Produktivitätsfortschritt bis zum Jahre 2010 Herren. reicht aus, die Mehrproduktion ohne zusätzliche Arbeitskräfte zu erstellen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Wenn das stimmt — und ich zweifle daran nicht —, dann ist dies für jede verantwortungsbewußte Politik Unter dieser Regierung sind Dynamik, Flexibilität ein Alarmsignal; ein Alarmsignal, das zu höchster oder Deregulierung zu fast uneingeschränkt positiv Aktivität am Arbeitsmarkt veranlassen sollte, aber besetzten Begriffen geworden. Da wird nicht einmal nicht, wie bei dieser Regierung, zum arbeitsmarkt- die Frage gestellt, zu wessen Nutzen dynamisiert, politischen Nichtstun. flexibilisiert oder dereguliert werden soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese Bundesregierung beklagt vordergründig, daß des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der in weiten Kreisen unserer Gesellschaft Gemeinsinn, PDS) Solidarität und Mitmenschlichkeit verkümmert seien. Im Problemdreieck von Rationalisierung, unterlas- Das ist wohl wahr. Aber daß die Ellenbogen zum sener Beschäftigungspolitik und Rezession ver- entscheidenden Körperteil geworden sind, der das schwinden in Deutschland Tag für Tag bis zu 2 000 gesellschaftspolitische Fortkommen und die gesell- Arbeitsplätze, die nur zu einem immer kleineren Teil schaftspolitische Teilhabe sichert, ist zu allererst Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 183

Rudolf Dreßler Ergebnis zwölfjähriger Politik von Konservativen und Er ist deshalb ein Schritt in die Vergangenheit, weil es sogenannten Liberalen. keine Sozialversicherung gibt, in der nur Arme, Alte und Kranke Mitglied sind. Es gibt sie nicht, weil eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sozialversicherung nicht Leistungen auszahlen kann, des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN — ohne daß sie von anderen finanziert werden. Wer Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: dennoch einer Beschränkung auf die eigentlich Wenn man Sie als sogenannten Sozialdemo- Bedürftigen das Wort redet, der soll aufhören, über kraten bezeichnen würde, wären Sie belei- Sozialversicherung zu sprechen. Denn er will in Wahr- digt! Unverschämtheit!) heit eine Bedürftigenfürsorge. Das wollen Sozialde- — Herr Weng, wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, dann mokraten nicht. erinnere ich mich immer an den französischen Dichter Molière. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Dem wird der Satz zugeschrieben: Dem Mensch ist die Sprache gegeben, um seine Gedanken auszudrücken. Der Sozialstaat bedrohe den Standort Deutschland. Wenn er Herrn Weng gekannt hätte, hätte er sich nie Auch das ist eine These dieser Regierung. Sie tut so, zu dieser gewagten Formulierung hinreißen lassen. als ob wir einen Lohn- oder Lohnnebenkostenwettbe- werb mit Billiglohnländern je gewinnen könnten. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir vielmehr durch andere Bedingungen sicherstel- Da wird von Vertretern der Koalition im Gleich- len: Verläßlichkeit der Rahmenbedingungen für die klang mit Unternehmern ständig über die Grenze der Produktion, stabile Sozialbeziehungen, Tarifautono- Belastbarkeit im Hinblick auf Steuern und Beiträge mie, innovative Produkte und Produktionsverfahren fabuliert, die von den aktiv Erwerbstätigen aufge- und günstige Kapitalkosten. Ich möchte wissen, wie bracht werden müssen. Da ist ja etwas dran. Das kann wir diese Bedingungen ohne einen funktionierenden ja keiner wegleugnen. Aber ich frage: Was ist von Sozialstaat je gewährleisten wollen. Die Wahrheit ist einer Regierung zu halten, die die Grenze der Belast- doch eine andere: Ohne einen funktionierenden So- barkeit noch nicht einmal andeutungsweise auch im zialstaat ist der Standort Deutschland nicht mehr viel Hinblick auf jene diskutiert, die auf Grund ihres wert. Lebensschicksals auf Leistungen des Sozialstaates (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten angewiesen sind? Gibt es denn dort keine solche der PDS) Grenze? Im übrigen: Wer die gesicherte Wettbewerbsfähig- Wo sind Absichten dieser Regierung, die endlich keit für die deutsche Volkswirtschaft in dieser Weise den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs in Gang von der Höhe der Lohnnebenkosten abhängig macht setzen, wieviel Geld wir für unseren Sozialstaat und damit indirekt eine Vergleichbarkeit der sozialen zukünftig ausgeben wollen? Diese Diskussion wird Standards zwischen Deutschland und seinen Konkur- doch gar nicht geführt. Statt dessen wird von CDU/ renten einfordert, der billigt unseren Konkurrenten CSU und F.D.P. von vornherein festgestellt, der So- einen maßgeblichen Einfluß auf Ausmaß und Umfang zialstaat sei zu üppig, es werde zuviel für soziale unserer sozialstaatlichen Sicherung zu. Das heißt Zwecke ausgegeben. dann in letzter Konsequenz: Sozialdumping in Malay- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen ihn also sia oder Taiwan führt zu Sozialdumping in Deutsch- ausbauen?) land. Der Sozialstaat ist in unserer Wirtschafts- und (Julius Louven [CDU/CSU]: Herr Dreßler!) Gesellschaftsordnung nicht die Abteilung für Bedürf- — Herr Louven, ich sage nicht, daß diese Regierung tige und Zukurzgekommene, in der es Almosen oder das will, jedenfalls nicht in ihrer erkennbaren Mehr- Gratifikationen zu verteilen gilt. heit. (Zuruf von der SPD: Richtig! — Hans-Ulrich (Julius Louven [CDU/CSU]: Dann lassen Sie Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Aber Miß- es doch sein!) brauch!) Aber ich benutze dieses Beispiel zum nachdrückli- Er mißt den Menschen vielmehr Rechtsansprüche zu, chen Appell gerade an Sie — Herr Louven, Sie sind die zu voller und aktiver gesellschaftspolitischer Teil- nämlich einer der federführenden Verbalakroba- habe ertüchtigen. ten —, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Julius Louven [CDU/CSU]: Was?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der aufzuhören mit derart einschlägigen Redereien, die PDS) andere in ihrer Koalition dann plötzlich mehrheitsfä- Die in der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. hig machen, wenn es wieder ans Rasieren geht. Das ist gängige Forderung — sie findet sich auch in der der eigentliche Punkt. Koalitionsvereinbarung wieder —, der Sozialstaat (Beifall bei der SPD) müsse auf die eigentlich Bedürftigen beschränkt wer- den, ist kein Schritt in die Zukunft, meine Damen und Die sozial- und gesellschaftspolitische Orientie- Herren, er ist ein Schritt in die Vergangenheit. rungslosigkeit der Koalition ist mit den Händen zu greifen — in der Arbeitsmarktpolitik wie bei der (Beifall bei der SPD) Fortentwicklung unserer Systeme der Sicherheit. Sie 184 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Rudolf Dreßler ersetzt gesellschaftspolitische Gestaltung weitgehend Finanz- und der Wirtschaftspolitik. Herr Schröder ist durch eine Politik platter Kostenminimierung. gerade weg. Das Urteil nach dieser Regierungserklärung von (Rudolf Dreßler [SPD]: Herr Kohl ist auch Herrn Kohl mag hart klingen, aber ich finde, es ist gerade weg!) nicht ungerecht: Der Sozialstaat Bundesrepublik — Ja, ich kritisiere das auch gar nicht. Deutschland ist bei dieser Koalition in schlechten Händen. (Rudolf Dreßler [SPD]: Herr Kanther ist auch (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall gerade weg! Wenn ich alle aufzähle, die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gerade weg sind: Herr Kinkel ist auch gerade GRÜNEN und der PDS) weg!) Ich frage nur, wie dieser Vorschlag zu verstehen ist: Die Sicherheit von Tschernobyl soll erhöht werden, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nun indem wir in Deutschland aus der Kernenergie aus- der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, steigen. Kann mir das mal jemand erklären? Dr. Norbert Blüm. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Unsinn!) Den Verkehr in Hamburg sperren, damit die in Bundesminister für Arbeit und Dr. Norbert Blüm, München besser fahren können — das ist ungefähr Sozialordnung (mit Beifall von der CDU/CSU das gleiche Niveau. Wieso steigt die Sicherheit der begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Kernenergie in Tschernobyl, wenn wir in Deutschl and ren! Ich bin nicht so gebildet wie mein Vorredner. aussteigen? (Zuruf von der CDU/CSU: Molière!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er — Molière. Was aber wollte uns der Dichter mit der doch gar nicht gesagt!) Rede, die wir gerade gehört haben, sagen? — Doch, das hat er gesagt. — Teilnahme an der (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Weiterentwicklung auch der Kerntechnologie zu F.D.P.) einem weltweit höheren Sicherheitsstandard, nicht Was sollen wir jetzt tun? Ich habe immer den Bleistift die Augen verschließen, das ist unsere Antwort. gespitzt und auf Vorschläge gewartet. —Ich habe den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Bleistift wieder weggelegt. Meine Damen und Herren, Zuruf von der SPD: Zuhören!) Besprecher haben wir genug, Bearbeiter braucht dieser Staat! Aber, meine Damen und Herren, was kann denn die Sozialpolitik beitragen? Sie schultert das allein auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — nicht. Auch die Arbeitsmarktpolitik schultert nicht die Gilges [SPD]: Sie regieren doch!) Konrad Arbeitslosigkeit, aber sie muß einen Beitrag leisten. Kommt von den Marktplätzen des Wahlkampfes Ich finde, die Sozialpolitik muß sich darauf konzen- zurück in die Werkstatt der Problemlösung! Das ist trieren, Hilfen und Brücken für die Langzeitarbeitslo- meine Einladung. sen zu bauen. Diese haben es am schwersten, wieder In der Tat, in der großen Herausforderung stimmen in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Sie kommen wir überein: Arbeit für alle schaffen. Das ist die große nicht allein und ohne Hilfe in den Arbeitsmarkt Herausforderung. Nur, Frau Luft, wenn ich das neben- zurück. Unser Ziel muß es sein, sie in den ersten bei noch sagen darf: Auf die Idee, daß die Massenar- Arbeitsmarkt, nicht in einen zweiten Arbeitsmarkt als beitslosigkeit der deutschen Einheit anzulasten sei, ist Ghetto einer therapeutischen Selbstbeschäftigung zu noch niemand gekommen. Wenn sie jemandem anzu- führen. lasten ist, dann der SED. Deshalb hört sich das, was Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sagen, merkwürdig an. Auch der Behinderte, auch der Kranke, auch der (Beifall bei der CDU/CSU) Ältere hat einen Anspruch auf einen normalen Dau- Sie haben das Land austrocknen lassen und reden hier erarbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt. wie ein Spezialist für Bewässerung. Sie sind doch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und diejenigen, die das Land im ruinierten Zustand hinter- der F.D.P.) lassen haben. Der zweite Arbeitsmarkt kann nur eine Brücke sein. (Michael Glos [CDU/CSU]: Da bleibt einem ja die Luft weg!) Meine Damen und Herren, Sie dürfen es nicht so Es gibt keine Patentrezepte, sondern nur die machen, daß die Festungsmauern des ersten Arbeits- Anstrengung aller. Wer immer nur nach dem Staat marktes immer höher gezogen werden; denn dann ruft, der versucht eine Lösung, die sich gerade in der bleibt derjenige, der draußen ist, dort. Unsere Sorge muß das Herunterlassen der Zugbrücken sein. Wie DDR als falsch erwiesen hat. schaffen wir das praktisch? Nicht mit den großen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) philosophischen Theorien, die ich gerade gehört Ihre Vorschläge beinhalten an Stelle der Planwirt- habe. Sagen Sie das einmal ganz konkret. schaft eine ABM-Wirtschaft. Ein Vorschlag war beispielsweise — das haben wir Wir brauchen die Anstrengung aller, die der Unter- in der letzten AFG-Novelle durchgeführt —, daß ein nehmer, der Tarifpartner, des Bundes, der Länder, der Langzeitarbeitsloser während der Zeit, in der er sich Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 185

Bundesminister Dr. Norbert Blüm noch qualifizieren, sich noch einarbeiten muß, sein keine Koordination für diejenigen erreicht, die der Arbeitslosengeld bis zu zwölf Wochen behalten kann. Hilfe am meisten bedürfen. Da gehen wir jetzt ran. Das ist eine Brücke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Oder ein anderes Beispiel: Wir machen jetzt den ordneten der F.D.P.) Vorschlag, daß ein solcher Langzeitarbeitsloser von Jetzt komme ich zum Sozialsystem. Ich stimme dem der Bundesanstalt für Arbeit in den Betrieb verliehen Kollegen Dreßler zu — ich halte hier keine Rede wird. Wenn er sich dort bewährt, kann er dort bleiben, schwarz, weiß — : Sozialversicherung hat nichts mit wenn nicht, geht er wieder zurück. Dieser Vorschlag Fürsorge zu tun. --- Kollege Dreßler, hören Sie zu, ist im übrigen, bevor Sie gleich wieder pfui schreien, wenn ich Ihnen einmal recht gebe. — sowohl von den Gewerkschaften wie auch von den Arbeitgebern begrüßt worden. Das sind keine alten (Rudolf Dreßler [SPD]: Nur Mut!) Trampelpfade, diese Phraseologie, die ich gerade Sozialversicherung hat etwas mit Leistung zu tun, 20 Minuten lang gehört habe, sondern ganz konkrete nicht mit Bedürfnis. Vorschläge. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Wer gefährdet denn die Sozialversicherung pau- Eben hat eine Kollegin von Opel erzählt und damit senlos mit Vorschlägen, z. B. eine Grundsicherung von meiner Heimatstadt. Als ich noch bei Opel gelernt einzuführen? Der gefährdet doch den Leistungsbezug habe, gab es neben dem Facharbeiterberuf den unserer Rentenversicherung. Anlernberuf für junge Menschen, die die Qualifika- (Beifall bei der CDU/CSU) tionsanforderungen eines Facharbeiterberufes nicht erfüllen. Dann kamen die Hochseilartisten der Bil- Mit Ihnen, Herr Dreßler, verteidige ich die Lohnbe- dungspolitiker und haben den Anlernberuf gestri- zogenheit der Rente. Ich finde es gut, daß gerade in chen. Die haben vergessen, daß auch am Boden noch dieser Woche durch ein Gutachten von Prognos die ein paar Leute arbeiten. Was ist das Ergebnis? Die sind Äußerungen aller Katastrophenspezialisten, die den jetzt als Ungelernte arbeitslos. Zusammenbruch unserer Rentenversicherung ange- kündigt haben, widerlegt wurden. Deshalb brauchen wir auch Berufsbilder für dieje- nigen, die den Facharbeiterberuf nicht schaffen. Wir Unsere Rentenreform, gemeinsam geschafft, hat müssen heraus aus den alten, starren Berufsordnun- sich als richtig und notwendig erwiesen. Die Beitrags- gen. Das alles ist ganz konkret. sätze sind sogar niedriger, als wir damals geschätzt haben. Sie hat auch genügend Hebel, um auf Heraus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) forderungen zu antworten. Die Diskussion über die Begrenzung der Arbeitslo- Aber ein paar Sachen muß ich nun doch erwähnen: senhilfe auf zwei Jahre ist aus meiner Sicht nur eine Herr Schröder hat heute morgen die Frühverrentun- Stellvertreterdiskussion. In Wirklichkeit geht es gen verteidigt. Meine Damen und Herren, ich habe darum, daß zwei Kassen, die Arbeitslosenhilfekasse beim Vorruhestand ja mitgemacht, mitgepusht, auch und die Sozialhilfekasse, unverbunden nebeneinan- beim Altersübergangsgeld. Ich stelle mit Betroffenheit der bestehen. fest: Was einmal als Ausnahme gedacht war, schleicht sich jetzt als der normale Weg ein, um Personalpro- (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!) bleme von Großbetrieben zu lösen. Da mache ich nicht — Nein, nicht Gott sei Dank; das will ich Ihnen gleich mit. erklären. — Beide Leistungen sind keine Beitragslei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stungen. Die einen werden von den Kommunen - verwaltet, die anderen von der Arbeitslosenhilfe. Erstens mache ich aus Gerechtigkeitsgründen nicht mit. Die Sozialpläne der Großbetriebe werden zu zwei Jeder verwaltet nur seine Kasse; niemand blickt Dritteln von den Sozialkassen bezahlt, also auch von über den Tellerrand der eigenen Zuständigkeit hin- den Arbeitnehmern aus den Kleinbetrieben und aus. So kommt es zu dem völlig unkoordinierten Handwerksmeistern, die selber nicht das Geld für die Verhältnis: Arbeitslosenhilfe bekommst du, wenn du Sozialpläne haben. Das ist aus meiner Sicht eine einmal beschäftigt warst, wenn es sein muß, für den Ungerechtigkeit. Rest des Lebens. Wer dieses Glück nicht hatte, bekommt Sozialhilfe. Dort erhält der Familienvater (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bzw. die Familienmutter viel höhere Leistungen als in Zweitens. Wie wollen Sie, wenn sich die Frühver- der Arbeitslosenhilfe. Dafür ist allerdings die Anrech- rentung einschleicht, Rentensicherheit gewähren? nung des eigenen Eigentums weitergehender als in Wir brauchen doch eher eine Anhebung als eine der Arbeitslosenhilfe. Warum Sie das dauernd vertei- Absenkung der Altersgrenze. digen, weiß ich nicht. Bist du einmal in der Arbeitslo- senhilfe, bekommst du auch Arbeitsmarktmaßnah- Drittens — das hat Herr Schröder heute morgen men. Hast du das Pech gehabt, nie beschäftigt zu sein, klassisch bewiesen —: Wir stabilisieren ein Vorurteil: bekommst du auch keine ABM und keine Qualifizie- Die Jungen sind die Beweglichen, und die Alten sind rung. die Starren. Er selber hat heute morgen gesagt, die Jungen bräuchten Arbeit, sie seien die Bewegliche- Kann mir einmal jemand die Ratio einer solchen ren. Die Schlußfolgerung, dann sind die Alten die Regelung erklären? Das ist ein Tohuwabohu. Weil es Starren, stimmt doch mit der Lebenswirklichkeit nicht die Kassenwarte immer verhindert haben, haben wir überein. Ich kenne Alte, die sehr starr sind, und Junge, 186 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Dr. Norbert Blüm die sehr beweglich sind, und ich kenne Alte, die sehr in der ganzen kommenden Legislaturperiode führen. beweglich sind, und Junge, die sehr starr sind. Dann will ich einmal, um Ihrer Einleitung gerecht zu (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was sind Sie werden, sehen, wer von uns beiden ausgebrannter ist. denn?) Wenn ich schon nicht Molière zitiere, tröste ich Sie mit Goethe: „Es irrt der Mensch, solang er strebt." —Ja, Frau Fuchs, Sie können das Beispiel vom jungen Dreßler und vom alten Blüm nehmen. Ich frage: Wer (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und von den beiden ist beweglicher? der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Heiterkeit bei der SPD) Ich habe noch Meine Damen und Herren, sicherlich können wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine kurze Bemerkung zur ersten Reihe der Regie- die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen rungsbank bzw. an die Adresse des Herrn Waigel — er darauf achten, daß die Solidarkassen nicht unter sitzt jetzt auf seinem Abgeordnetenstuhl — in seiner Erosion leiden, daß neue berufsständische Versor- Eigenschaft als Bundesminister zu machen. Dies ist gungswerke nicht nach der Risikoselektionsmethode das Parlament. Von Ihrem Platz auf der Regierungs- gebildet werden: Die Jungen hauen ab. Das ist nicht bank aus dürfen Sie nicht dazwischenrufen; von Ihrem meine Vorstellung von Solidarität. Solidarität heißt Abgeordnetenplatz aus dürfen Sie es gerne. nicht seitwärts ins Gebüsch abhauen; Solidarität funk- tioniert nicht nach der Aschenputtelmethode: die (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ich weiß Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. es! — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ Solidarität funktioniert nur, wenn gute und schlechte DIE GRÜNEN]: Er hat sich jetzt in Position Risiken, jung und alt eine Solidargemeinschaft bil- begeben! — Joseph Fischer [Frankfurt] den, die seit über 100 Jahren unsere soziale Sicherheit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er darf von garantiert. der Regierungsbank nicht zwischenrufen! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gute Erziehung! — Heiterkeit — Gegenruf des Abg. Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Man sieht, es kommt ein neuer, vornehmer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Ton ins Parlament!) Ihre angemeldete Redezeit ist zu Ende. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ich mache noch einige Bemerkungen und komme dann zum Schluß. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Lachen bei der SPD) NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! — Ich muß ja im Sinne eines Dialogs antworten. Herr Minister Blüm, nun hat mir vier Jahre Ihre rheinische Frohnatur gefehlt. Ich bin richtig erleichtert Wissen Sie, die Sache mit dem Dienstmädchen höre darüber, daß ich Sie hier nun wieder hören darf. ich heute zum 25. Mal. Herr Dreßler hat ein Beispiel Eigentlich müßte diese ganz besonders schwierige gebracht, in dem eine arbeitslose Textilarbeiterin aus Aufgabe, von der ja keine Partei bestreitet, daß sie Plauen oder aus Viersen bei einem Zahnarzt in Ham- gelöst werden muß, nämlich die Beseitigung der burg — habe ich es richtig nacherzählt? — Dienstmäd- Massenarbeitslosigkeit, in der Regierung zur Chefsa- chen wird. Ich will Ihnen, Herr Dreßler, folgendes che erklärt werden. Nun war dieser Chef gestern sagen: Wenn eine arbeitslose Textilarbeiterin aus dermaßen müde, daß ich mir nicht mehr so sicher bin, Plauen oder aus Viersen durch eine Anstellung im ob ich den Betroffenen diese Kompetenzübertragung Haushalt wieder Arbeit bekommt, ist mir das lieber, wirklich wünschen sollte. als wenn sie arbeitslos bliebe. Sie müßte deswegen nicht unbedingt nach Hamburg; es müßte nur dafür Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur den Verlust von gesorgt werden, daß auch die Hauswirtschaft ein Teil Einkommen. In einer Gesellschaft, die den Wert des des Arbeitsmarktes wird. einzelnen so stark über Erwerbsarbeit definiert, bedeutet Arbeitslosigkeit vor allem auch den Verlust Sie kommen immer mit dem 19. Jahrhundert. So von Teilhabe und von Selbstwertgefühl. Deswegen ist viele Direktoren gibt es gar nicht, wie wir Arbeits- es ja auch so unerträglich, wenn immer wieder die plätze in Haushalten brauchen. Was wir nicht brau- Arbeitslosen, also die Opfer, zum Problem gemacht chen, sind Ihre alten, verstaubten Klamotten aus dem werden. 19. Jahrhundert. Wir brauchen auch den Haushalt als Arbeitsmarkt, zumal ja viele Frauen berufstätig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geworden sind und sich somit hauswirtschaftliche In seiner Regierungserklärung hat der Kanzler die Leistungen über den Arbeitsmarkt besorgen können. Bürgermeister zitiert, die vermeintlich zu berichten Früher wurde diese Tätigkeit von der Hausfrau erle- haben, daß die Sozialhilfeempfänger zu einem großen digt. Teil arbeitsunwillig seien. Der Kanzler scheint sein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eigenes BSHG nicht zu kennen; denn es gibt längst die ordneten der F.D.P. —Werner Schulz [Berlin] Möglichkeit, bei sogenannter Arbeitsverweigerung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das eine Kürzung der Sozialhilfe vorzunehmen. Ganze wird steuerfinanziert!) Mit diesen Sprüchen wird an dumpfe Stammtisch- Sie sind im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Es tut gefühle gerührt, und damit wird den Menschen ein mir leid, Herr Dreßler, wir werden diese Debatte noch zweites Mal unrecht getan, um deren Chancen sich Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Marieluise Beck Politik und Gesellschaft nicht ausreichend geküm- wort sein muß? Das rasante Tempo von Rationalisie- mert haben. rung und Produktivitätssteigerung fordert die Vertei- lung von Arbeit geradezu heraus. Die Antwort auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeitslosigkeit kann doch wohl nicht sein, daß die Oder wollen Sie wirklich im Ernst behaupten, daß bei Regierung dem Bürgertum wieder das Hauspersonal etwa 6 Millionen Arbeitslosen jeder von Ihnen eine anbietet. Wir leben doch nicht mehr um die Jahrhun- Möglichkeit hätte, einen Job zu finden, weil die dertwende. gerade so auf der Straße herumliegen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Stimmungsmache dient der Flankierung sowie bei Abgeordneten der SPD) einer Politik, die vor allem daran herumgebastelt hat, wie Arbeitslosigkeit billiger gemacht werden kann. Ich frage Sie, Herr Schäuble — wenn er denn die Möglichkeit hat zuzuhören —: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Dazu mußte das geschundene AFG herhalten. Von GRÜNEN]: Er befindet sich gerade in einer Novelle zu Novelle wurde hier die Schere angesetzt außenpolitischen Konferenz mit Herrn Gen und gleichzeitig damit der Schwarze Peter an Länder -scher!) und Kommunen weitergegeben. Ich habe als Kommu- nalpolitikerin in den letzten Jahren gut mitverfolgen Was ist denn Ihre Teilzeitoffensive anderes als ein können, wie dramatisch sich diese Folgen vor Ort Arbeitsumverteilungsmodell? Ich frage Sie gleichzei- ausgewirkt haben. Qualifizierungsmaßnahmen sind tig: Haben Sie bei dieser Teilzeitoffensive auch an die dramatisch zusammengestrichen worden, Beschäfti- Männer gedacht, die neben der Zeugung an der gungsträger mußten schließen, Selbsthilfeprojekte meistens dann folgenden Familienarbeit vielleicht stellten ihre Arbeit ein. Die Kommunen versuchten auch ihren Anteil leisten sollten? verzweifelt, mit ihren beschränkten Ressourcen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlimmsten Folgen dieser Politik aufzufangen. Die Teilzeitoffensive wird dann falsch, wenn sie sich Die Brückenbildung, von der Sie gesprochen haben, nur an Frauen richtet und das gesellschaftliche Bild Herr Blüm, ist in den Kommunen mit lokaler Arbeits- reproduziert, daß die Frauen die Zuverdienerinnen marktpolitik gerade versucht worden. Das ist aber seien und von ihren Löhnen nicht leben müßten. Die nicht möglich bei dieser Kurzatmigkeit. Ihre ständigen CDU hat offensichtlich noch nicht begriffen, in welch Novellierungen von Gesetzen haben der Planung radikalem Umbruch sich diese Gesellschaft befindet: überhaupt keine Möglichkeit gegeben, sich zu entfal- Mann kann nicht einfach Teilzeit propagieren und es ten den Menschen selbst überlassen, wie sie mit den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Teilzeitlöhnen auskommen. Diese Politik ist bei der wachsenden Belastung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommunalen Haushalte folgerichtig in der Sozialhilfe gelandet. Aber es ist schlichte Denunziation, daß die Es scheint der Koalition nun gedämmert zu haben, Empfänger dieser Sozialhilfe zum Problem gemacht daß das soziale Sicherungssystem und seine Struktu- wurden, bis diese Menschen mit eingezogenem Kopf ren reformiert werden müssen, wenn sich die Arbeits- schließlich selber glaubten, daß sie schuldhaft zum welt radikal ändert. Wie niedlich, daß Sie dazu einen Empfänger dieser Sozialhilfe geworden seien. Die Prüfauftrag in die Koalitionsvereinbarung geschrie- Mißbrauchsdebatte hat in diesem Zusammenhang ben haben, Herr Blüm. offensichtlich die Funktion, einen möglichen Protest (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über Diffamierung im Vorfeld zu ersticken. sowie bei Abgeordneten der PDS) Gleichzeitig gibt der Vorstand der Bundesanstalt für Sie meinen Deregulierung und sagen damit: Jeder Arbeit in dieser Situation großmütig 4 Milliarden DM einzelne soll sich erst mal selber durchschlagen. Das an die Bundesregierung zurück, so als sei im Bereich ist keine Antwort auf eine sich rasant wandelnde der aktiven Arbeitsmarktpolitik nichts mehr zu tun. Arbeitsgesellschaft und erst recht keine moderne Ich möchte mal hören, wie Sie das den Betroffenen Arbeitsmarktpolitik. erklären wollen, Herr Minister Blüm. (Zustimmung des Abg. Otto Schily [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der Tat ist unsere Welt komplizierter gewor- Die sogenannten Fünf Weisen haben es der Regie- den. rung gerade ins Stammbuch geschrieben — auch Herr (Zuruf von der CDU/CSU: Ach nee!) Schäuble hat es gestern von diesem Platz aus gesagt —: Die moderne Industriegesellschaft wird nicht mehr Der gut gebaute leistungsstarke Mann, der 40 Jahre allen Erwerbssuchenden einen vollen Arbeitsplatz seines Lebens 40 Stunden die Woche arbeitet und bieten. Da hilft keine Steigerung des Bruttosozialpro- Frau und Kind ernährt, ist nur noch eine Fiktion. Aber dukts, da helfen kein Wachstum und kein Konjunk- immer noch orientiert sich unser ganzes sozial- und turaufschwung. Der Sockel der Arbeitslosen bleibt. arbeitsmarktrechtliches Instrumentarium an diesem Wie kann man dann weiterhin gegen die Forderung Mythos. Wir brauchen keine Deregulierung, wir brau- nach Arbeitszeitverkürzung einen Kreuzzug führen, chen eine Reregulierung, um diesen veränderten wie das die schwarz-gelbe Koalition tut? gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht zu werden. Wer möchte bestreiten, daß angesichts dieser Situa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion die Umverteilung von Arbeit die zentrale Ant- sowie bei Abgeordneten der SPD) 188 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Marieluise Beck Eine Reregulierung umfaßt die rechtliche Rahmenset- Die Voraussetzungen sind in der Koalition verein- zung für Demokratie im Bet rieb; dazu gehört die bart. Wir wollen eine Art Durchleuchtungskommis- Neugestaltung des Arbeitsverhältnisrechts, das dem sion, die soziale Transferleistungen und deren Ver- gleichberechtigten Geschlechterverhältnis Rechnung zahnung mit den Sozialversicherungen untersucht. In trägt; dazu gehört ein modernes Arbeitszeitgesetz, das diesem Zusammenhang wird auch das von uns vorge- den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zeitliche schlagene Bürgergeldsystem einbezogen, das gerade Optionen eröffnet; und sie bedeutet endlich Regelun- den Sinn hat, Widersprüche und Durcheinander der gen für die sogenannten mindergeschützten Arbeits- staatlichen Hilfeleistungen zu beseitigen. verhältnisse. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Meine Damen und Herren, die größte Aufgabe und SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) geradezu der Schlüssel zum Erfolg in der Sozialpolitik Wenn unsere Gesellschaft immer pluraler, die gesi- liegt in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. cherte Arbeitsbiographie immer brüchiger wird, ist eine Grundsicherung ein unverzichtbares Muß. Wenn (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Brüche im Arbeitsleben, Teilzeit, Zeiten von Arbeits- Wir begreifen die Arbeitsmarktpolitik als eine Flan- losigkeit und Umschulung oder Familienphasen zur kierung. Wir sehen den Kernbereich, in dem verant- Normalität geworden sind, kann die Rente ohne eine wortlich gehandelt werden muß, in der Wirtschaftspo- Sockelung für alle nicht mehr auskommen. litik. Aber ich widerspreche ganz entschieden all (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denjenigen, die glauben, sich mit einem bestimmten sowie bei Abgeordneten der PDS) Bestand an Arbeitslosigkeit abfinden zu können, solange dieser nur finanzierbar ist. Ich stimme mit Ihnen in einem überein, Herr Blüm. Wenn diese Industriegesellschaft vielen Menschen Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine Finanzierungslast. auf Jahre hinaus keinen sicheren lebenslangen Arbeitslosigkeit trifft den gesamten Lebensbereich. Arbeitsplatz mehr bieten kann, müssen Brücken (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) gebaut werden, Brücken zwischen Arbeit und Quali- fikation, Brücken zwischen Transferleistungen und Wer arbeitslos wird, wird durch finanzielle Sorgen, deren Nutzbarmachung in gesellschaftlich sinnvoller den Verlust seines Selbstwertgefühls und seines und notwendiger Arbeit, Brücken zwischen Familien- sozialen Umfelds in mehrfacher Hinsicht aus der Bahn zeiten und Zeiten der bezahlten Beschäftigung, Brük- geworfen. Es leidet oft auch die ganze Familie. Damit ken zwischen Ehrenamt und Bezahlung auch über ist Arbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Problem von öffentliche Kassen. Aber ich sage Ihnen noch einmal: großer und politischer Brisanz. An Hand der lokalen Arbeitsmarktpolitik — wir wer- (Zurufe von der SPD: Dann tun Sie doch den dazu noch Debatten haben — werde ich Ihnen einmal etwas! — Was schließen Sie dar beweisen, daß diese Brücken von dieser Bundesregie- aus?) rung bisher nicht gebaut worden sind. Das wird eine Aufgabe in der bevorstehenden Legislaturperiode Es besteht die Gefahr, daß die Empfänglichkeit für sein. extremistische Botschaften von rechts und links wächst — zumindest der Glaube an einfache Rezepte, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die angeblich aus der Misere herausführen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Es gibt, meine Damen und Herren, in unserer hochentwickelten Sozialen Marktwirtschaft vielleicht einen bezahlbaren, niemals aber einen tolerierbaren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt- Bestand an Arbeitslosigkeit. die Abgeordnete Frau Gisela Babel. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Auch bei der Bezahlbarkeit stoßen wir aber an Gren- Damen und Herren! In der Wirtschafts- und Arbeits- zen. Der Faktor Arbeit kann und darf über die sozialen marktpolitik ist heute viel vom Umbau des Sozialstaa- Sicherungssysteme nicht immer weiter belastet wer- tes die Rede, einem Begriff, der auf der einen Seite den. Das Limit ist erreicht. Abwehr und heftige Polemik auslöst und auf der Aus den genannten finanziellen und gesellschaftli- anderen Seite Hoffnungen weckt, Hoffnungen auf chen Gründen müssen wir unser Handeln in der eine Entlastung bei den Lohnkosten. Die F.D.P. Sozialpolitik auf Rückkehr des Arbeitslosenhilfe- und möchte, daß wir einen Umbau des Sozialstaates in Sozialhilfeempfängers in normale Arbeit ausrichten. Angriff nehmen. Ziel der Sozialpolitik darf nicht der langjährige Unter- (Zuruf von der SPD: Einen Abbau!) halt des einzelnen durch den Staat sein. Wo sich das nicht ändern läßt, ist es klar. Aber es läßt sich an vielen — Lassen Sie es mich erklären! — Ähnlich wie in der Stellen ändern. öffentlichen Verwaltung, ähnlich wie in Teilen der Wirtschaft begegnen wir auch im hochgerüsteten Ziel ist es für die Liberalen stets, den Betroffenen Sozialbereich der Regelungswut, dem Fehleinsatz von eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt zu bauen. Mitteln, dem Mißbrauch, kurz: der mangelnden Effi- Wir wollen keinen staatlich finanzierten zweiten zienz. Das soll sich ändern, das wollen wir verbes- Arbeitsmarkt, in dem dann die schwer Vermittelbaren sern. ghettoisiert und in ABM-Gesellschaften zusammen- (Beifall bei der F.D.P.) gefaßt werden. Diese Art von Beschäftigungspolitik Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 189

Dr. Gisela Babel halte ich sogar für unsozial. Sie ist das Ergebnis einer verleiten andere Strukturen jüngere Arbeitslose, sich Resignation bei den Tarifvertragsparteien und auch aus Bequemlichkeit oft keine Arbeit zu suchen. Die beim Staat, die letztlich die Betroffenen in aussichts- lebenslängliche Arbeitslosenhilfe halte ich für einen lose Positionen treibt. solchen Webfehler. Hinzu kommt, daß die Arbeitslo- senhilfe auch noch jedes Jahr wie die Rente dynami- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- siert wird, was über Jahre ein durchaus verläßliches ten der CDU/CSU) Einkommen sichern kann. Jedenfalls sind ein Anreiz Auch der 55jährige kann am Arbeitsleben wieder zur Arbeitssuche und eine Brücke zur regulären beteiligt werden, Arbeit in diesem System nicht enthalten. (Zuruf von der SPD: Wie denn?) Ich halte aber nichts von einer Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei starre Jahre, nur um den wenn wir das wollen und die Brücken bauen. Ich halte Bundeshaushalt zu finanzieren. daher die Idee des Bundesarbeitsministers, schwer vermittelbare und ältere Arbeitnehmer durch die (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aha! Immerhin!) Bundesanstalt für Arbeit an Arbeitgeber befristet Dies ist politisch sicher auch nicht durchsetzbar. Aber auszuleihen, für gut. Hierdurch wird wenigstens der aus sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gründen Kontakt zum Arbeitsmarkt hergestellt. kann es durchaus sinnvoll sein, die Arbeitslosenhilfe Der Plan macht allerdings auch deutlich, daß wir in Abhängigkeit von der Dauer der Beschäftigung zu diese Gruppe arbeitsrechtlich so geschützt haben, daß befristen oder die automatische jährliche Erhöhung kein Arbeitgeber sie — nicht einmal versuchsweise — allmählich abzumindern. mehr einstellen möchte. Der Staat kann mit Arbeitsmarktpolitik nur eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Hilfestellung geben. Arbeitsplätze entstehen in Unternehmen. Die Arbeitgeber und die Gewerk- Eine Entkrustung wäre auch hier geboten, stößt aber schaften sind gefragt. auf größten Widerstand. Daher begrüße ich den Vor- schlag von Norbert Blüm, der diese selbstgestellte (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Eduard Falle nun umgehen soll. Oswald [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Sie tragen gemeinsam die Verantwortung für beschäf- älteren Arbeitslosen: Die Abwehrhaltung der Arbeit- tigungswirksame Tarifvereinbarungen, die Arbeits- geber gegenüber älteren Arbeitnehmern ist ja nur die plätze schaffen und sichern. Diese Aufgabe kann eine Seite. Der durch die Bundesanstalt für Arbeit ihnen auch niemand nehmen. gesicherte 50jährige oder der 55jährige tut sich auch (Zuruf von der SPD: Die haben mehr gemacht aus anderen Gründen schwer, etwas Neues anzufan- als ihr!) gen. Meist ist er durch ein hohes Endgehalt und einen Sozialplan so gut versorgt, daß die Annahme von — Die Gewerkschaften waren wesentlich besser als gering bezahlter Arbeit oder Teilzeitarbeit seine Lage die SPD. eher verschlechtert. Denken Sie z. B. auch an seine Der Staat muß aber bereit sein, die Tarifpartner bei Rentenansprüche. ihrer Tarifpolitik zu unterstützen. Ein wertvoller Bei- Dennoch halten wir merkwürdigerweise fest, daß trag hierzu wäre eine Entlastung des Faktors Arbeit dieser Arbeitslose dem Arbeitsmarkt weiterhin zur durch den Gesetzgeber, Stichwort: versicherungs- Verfügung zu stehen hat, daß er Meldekontrollen fremde Leistungen. unterliegt und daß jegliche Initiative zur weiteren (Zuruf von der SPD: Machen Sie es doch!) Beschäftigung — etwa im Bereich der Selbständi- gen — bestraft wird durch Gegenrechnen oder Ver- - Hier bin ich angesichts des letzten Griffes des Finanz- minderung erworbener Ansprüche. Das ist im Grunde ministers in die Rentenkasse beim zweiten SED unsozial. Unrechtsbereinigungsgesetz vor einigen Monaten nicht sehr optimistisch. Es wäre schön, wenn es Ich würde dazu neigen, ältere Arbeitslose von jeder gelänge, wenigstens für die Zukunft die Befrachtung Kontrolle zu befreien und ihnen Zuverdienst oder der sozialen Sicherungssysteme mit Fremdleistungen zumindest selbständige Tätigkeit ohne Einschrän- zu vermeiden. kung zu gestatten. Immerhin ist es uns in den Koali- tionsvereinbarungen gelungen, den Weg in eine selb- Aber auch hier sehe ich bereits wieder neue Gefah- ständige Tätigkeit dadurch zu ebnen, daß das Über- ren. Der Bundesarbeitsminister verkündet, daß auch Sozialhilfeempfänger in den Genuß von gangsgeld verlängert wird. Eine weitere Brücke Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gelangen sollen. Dies sehen wir beim Zuverdienst von Arbeitslosenhil- feempfängern und Sozialhilfeempfängern vor, näm- darf nicht auf Kosten der Beitragszahler der Bundes- anstalt für Arbeit, auf Kosten der Arbeitslosenversi- lich die, daß in höherem Maße als bisher zusätzlich cherung gehen. etwas verdient werden kann. (Zustimmung bei der F.D.P. — Joseph (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Auch damit können wir Anreize verstärken, im NEN]: Seit wann sind Sie denn da so zurück Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen und die Selbstän- haltend?) digkei t zurückzugewinnen. Sozialhilfeempfänger haben keine Beiträge an die Während die Arbeitsaufnahme älterer Arbeitneh- Bundesanstalt abgeführt. Sie haben keine Ansprüche mer durch zu hohe Schutzzäune erschwert wird, erworben. Für diese Gruppe kann also die Bundesan- 190 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Gisela Babel stalt für Arbeit nicht etwa nur deshalb aufkommen, gungsfristen, Neufassung des Arbeitszeitrechtes. Hier weil sie z. B. Maßnahmen anbietet, die auch Sozialhil- werden wir sicher weiterarbeiten. feempfänger brauchen können. Es geht also nur um (Konrad Gilges [SPD]: Ich habe immer das die Finanzierung, nicht um das Zurverfügungstellen Gefühl, es wird bürokratischer, solange Sie von Dienstleistungen. da herummachen!) Dasselbe gilt für die Umschulung von Beamten. Es Noch ein Wort zur Rente: Wir führen eine Diskus- gibt dazu eine etwas bedenkliche Entscheidung des sion über die Sicherheit der Renten. Hier gibt es zwei Bundessozialgerichts. Auch hier können wir feststel- Lager. Die einen behaupten, daß angesichts der len, daß die Inanspruchnahme der Bundesanstalt für Prognosen, die unter den denkbar günstigsten Annah- Arbeit ein ordnungspolitischer Sündenfall ist. Hier men zustande kommen, kein Handlungsbedarf muß die öffentliche Hand selbst herangezogen wer- besteht. Bis zum Jahre 2030 wäre noch ausreichend den. Der Staat darf die Solidargemeinschaft der Ver- Zeit, um die Weichen zu stellen. Die anderen sehen sicherten nicht mit Leistungen und Kosten befrachten, die Zukunft so düster, daß sie nun schon glauben, es für die sie nicht einzustehen hat. müsse eine Grundrente kommen, weil die erworbe- nen Ansprüche in der heute berechneten Höhe dann Es gibt kein einfaches Rezept zur Beseitigung der einfach nicht mehr zu bezahlen sind. Sicher ist für Arbeitslosigkeit. Wer ankündigt, er könne über den Liberale nur, daß wir keine Grundrente akzeptie- zweiten Arbeitsmarkt ohne negative Auswirkungen ren. auf den ersten die Anzahl der Arbeitslosen innerhalb Bereits bei der Verabschiedung des Rentenreform- von zwei Jahren halbieren — wie dies die SPD in gesetzes sind wir von steigenden Beitragssätzen zur ihrem Wahlkampfprogramm angekündigt hat —, ist gesetzlichen Rentenversicherung ausgegangen. Aber letztlich ein Gaukler, weil er die Soziale Marktwirt- auch die heute Erwerbstätigen und diejenigen, die schaft nicht versteht. Die Verantwortung, Beschäfti- heute in das Erwerbsleben eintreten — 35 Jahre sind gung — regulär bezahlte, keine staatliche — zu kein so unüberschaubar langer Zeitraum —, haben schaffen und zu sichern, muß von allen deutlich schon heute ein Recht darauf zu wissen, wie ihre gesehen und wahrgenommen werden. Alterssicherung einmal aussehen wird. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß auch da Vertrauenstatbe- (Konrad Gilges [SPD]: Ihr habt doch die stände sind, die es zu schützen gilt, und so erscheint es ABM-Plätze abgeschafft oder reduziert!) mir richtig, sich zumindest Vorüberlegungen hier nicht zu verschließen. Nun zum Thema Bürokratieabbau: Dies liegt den Liberalen besonders am Herzen. Aus dem Arbeits- Sie müssen zum recht entstammen besonders schöne Blüten. Denken Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie an Beispiele wie aus dem Kabarett: Regelung der Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen. Raum- und Wassertemperatur der Betriebstoilette; Anwaltskanzleien, deren Erwerb darauf beruht, daß Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ja. Darf ich noch einen sie Betriebe über die Vorschriften aufklären, die für sie letzten Satz anschließen. Zur Betriebsrente und zu einschlägig sind. Damit hat der Gesetzgeber übrigens den berufsständischen Versorgungswerken planen auf dem Dienstleistungssektor durchaus Arbeitsplätze wir Verbesserungen, um sie für die Zukunft sicherer geschaffen. zu machen. Wir werden dies dann im einzelnen im Parlament vortragen. Die Regelungswut erfährt zusätzlich eine europäi- Meine Damen und Herren, in der Werkstatt der sche Dimension. Hier gibt es keineswegs nur soziale Problemlösungen — wie es der Bundesarbeitsminister Wohltaten, sondern vielmehr auch bürokratische - gerade formuliert hat — sollten wir nicht vollmundige Hochleistungen. Die F.D.P. fordert nachdrücklich, daß Sprüche klopfen, sondern Werkstücke herstellen, also sich die Koalition über europäische Vorlagen wesent- die Ärmel hochkrempeln. lich früher politisch abstimmt als bisher. Ich bedanke mich. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist eine gute (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Idee!) ten der CDU/CSU)

Damit wird vermieden, Veränderungen erst im nach- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: In der sozialpoli- hinein bei den mühsamen Verhandlungen in der tischen Runde haben wir offenbar eine Frauenrunde, parlamentarischen Beratung erkämpfen zu müssen. und da hat als nächste die Abgeordnete Heidi Knake- Werner das Wort. Aus dem Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik kann ich sagen, daß die Brüsseler Entscheidungsab- (Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen wir läufe dringend transparenter gemacht werden müs- auch noch den einen Schriftführer auswech sen. Der Verdruß über die Brüsseler Bürokratie hat seln!) bereits zu einer spürbaren Europamüdigkeit geführt. Die Akzeptanz des europäischen Rechts droht hierun- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! ter zu leiden. Meine Damen und Herren! Geld allein macht nicht glücklich — so etwa läßt sich der Sozialpolitikteil in Meine Damen und Herren, wir haben den Weg der der Regierungserklärung auf Sprichwortdeutsch zu- Deregulierung und Entbürokratisierung in der letzten sammenfassen. Nun weiß ich ja, daß das für viele Wahlperiode begonnen, Stichworte: Entgeltfortzah- stimmen mag, vor allem für die, für die genug davon lung im Krankheitsfall, Neuregelung der Kündi- vorhanden ist. Für andere, bei denen es am Nötigsten Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 191

Dr. Heidi Knake-Werner fehlt, klingt diese Botschaft allerdings eher zynisch. vor allem aber die davon Betroffenen. Dazu wollen Sie Sie können diese Menschen nicht damit beeindruk- den Staat umbauen. ken, daß Sie ihnen vorrechnen, daß ein Drittel des Wer die letzten zwei Jahre Ihrer Politik verfolgt bzw. Bruttosozialprodukts für Sozialleistungen ausgege- erlitten hat, weiß, was das heißt. Es heißt Abbau von ben wird, wenn diese Leistungen für sie gleichzeitig Sozialleistungen, weiterer Ausstieg aus dem solida- immer dürftiger ausfallen und wenn diese Leistungen risch finanzierten sozialen Sicherungssystem. Die auf immer mehr Menschen verteilt werden müssen. Pflegeversicherung war hier nur der Einstieg, und mir Die Bundesregierung verschließt die Augen vor der ist bis heute noch schleierhaft, warum das so schnell, Alltagswirklichkeit und versteckt sich hinter abstrak- so unzulänglich und mit Zustimmung der SPD getan ten volkswirtschaftlichen Größen. Begriffe wie Armut werden mußte. und Obdachlosigkeit kommen weder im Koalitions- vertrag noch in der Regierungserklärung überhaupt Der Staat soll schlanker werden — auch so eine vor, und schon gar nicht kann man davon ausgehen, neumodische Floskel Ihrer Entsorgungssprache. daß Sie sich in Zukunft ernsthaft mit diesen Problemen Wenn es dabei um Abbau von Bürokratie ginge, beschäftigen wollen. Sie werden das an die Kirchen, gerne! Der Staat muß nicht alles selber tun, wofür er an die Wohlfahrtsverbände und an die Gewerkschaf- Verantwortung trägt, aber er muß die Bedingungen ten weiterverweisen. dafür, daß es getan wird, bereitstellen und darf sich nicht nach dem Motto „geringstmögliche Fürsorge Genau deshalb möchte auch ich einen Satz aus der des Staates zu Lasten privater Vorsorge" aus der gestern schon bemühten Broschüre der Kirchen zitie- Verantwortung stehlen. ren, und zwar einen, der mir wichtig ist. Man kann das ja offensichtlich immer beliebig wenden. Da heißt es Aber Sie bauen nicht Bürokratie ab, sondern Sie z. B.: schaffen neue in Form von Kommissionen, wie Sie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt haben. Armut darf nicht als Randproblem unserer Gesell- Ich kann mir vorstellen, daß diese Art von Spesen schaft mißdeutet und bagatellisiert werden. sozialpolitisch wesentlich sinnvoller einzusetzen wä- Was von Ihnen kommt, geht genau in diese Richtung. ren. Dankenswerterweise haben DGB und Paritätischer Auch bei den Renten müssen Sie erst einmal prüfen. Wohlfahrtsverband in ihrem ersten gesamtdeutschen Nicht einmal der wahltaktisch geschickt plazierten Armutsbericht in diesem Jahr diese Position der Kir- Bundesratsinitiative, die ja auch von CDU-regierten chen mit handfesten Zahlen untermauert. Es war Ländern unterstützt wurde, mochten Sie sich anschlie- schon peinlich, zu verfolgen, wie die damalige Mini- ßen. Apropos Wahlkampf: Ich habe fast keine Wahl- sterin Rönsch, die selbst jede Armutsberichterstattung veranstaltung erlebt, wo nicht quer durch alle Parteien verweigerte, über die dort ermittelten Zahlen das „Rentenstrafrecht" gegeißelt wurde. Ich bin feilschte. gespannt, welche Taten darauf folgen. (Zuruf von der CDU/CSU: Lassen Sie die (Beifall bei der PDS) Kollegin in Ruhe!) Sogar in der regierungseigenen Sozialpolitischen Aber Sie wollen der Frühverrentung entgegenwir- Umschau vom November läßt sich nachlesen, daß in ken. Abgesehen davon, daß dies arbeitsmarktpoli- Ostdeutschland 32 % der Familien mit Kindern monat- tisch völlig unsinnig ist, frage ich Sie, wie Sie es lich über weniger als 3 000 DM verfügen. Ich weiß: machen wollen, wenn Sie nicht einmal die Gründe für Das heißt natürlich nicht hungern, aber das heißt Frühverrentung benennen und wenn vom Arbeits- Immobilität, das heißt Verlust von Sozialbeziehungen, schutzgesetz hier kein Wort geredet wird, obwohl Sie die Abwesenheit von Kultur-, Freizeit- und Urlaubs- es in der vergangenen Legislaturperiode vier Jahre erlebnissen. Und auch das ist eine Form von Verar- lang erfolgreich verhindert haben. mung, wie wir das verstehen. Die PDS wird jedenfalls Zum Stichwort „Reform des Arbeitsförderungsge- an ihrem Konzept für eine soziale Grundsicherung setzes": Ich habe nicht erwartet, daß Sie sich endlich festhalten und es erneut einbringen. der Aufgabe annehmen, die frauendiskriminierenden (Beifall bei der PDS) Elemente zu beseitigen. Aber daß Sie wieder nur die Idee haben, Arbeitslosenhilfeempfängerinnen mit Das hohe Sozialbudget verhindert Armut nicht, weil Leistungskürzungen zu bedrohen, wenn sie sich nicht es nicht dazu aufgewendet wird, den Sozialstaat auf ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse einlas- sicherer zu machen, sondern dazu, die tiefgreifenden sen, finde ich einfach skandalös. Das gleiche gilt für Fehler in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarkt- Sozialhilfeempfängerinnen. politik zu kompensieren, ohne die Ursachen zu bekämpfen. Ich weiß natürlich, daß Sie alle einen Sozialhil- feempfänger kennen oder mindestens einen oder eine Es ist Ihnen ja offensichtlich nicht einmal peinlich, in kennen, der oder die einen kennt, der Leistungsmiß- Ihrer Koalitionsvereinbarung zu schreiben, daß in der brauch betreibt. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, Zeit von 1983 bis 1992 3 Millionen Arbeitsplätze neu die Millionen zu diffamieren, die tagelang von geschaffen wurden. Sie müssen mir nur einmal erklä- Schmalz und Aldi-Brot leben, weil es zu mehr nicht ren, wie Sie es trotzdem geschafft haben, in den reicht. Einigungsprozeß mit einer Sockelarbeitslosigkeit von knapp zwei Millionen zu gehen. Weil Sie die Ursachen (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ des Problems der Massenarbeitslosigkeit nicht in den DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Griff bekommen, bekämpfen Sie ihre Auswirkungen, SPD) 192 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Heidi Knake-Werner Wo beweisen Sie Phantasie und Mut zu neuen schaftspolitik und nicht sozialer Klimbim, der zu teuer Wegen bei den Chancen für besonders benachteiligte ist. Gruppen des Arbeitsmarktes? Was bieten Sie den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hunderttausend inzwischen langzeitarbeitslosen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frauen Ostdeutschlands, was den Jugendlichen ohne Zukunft und den Menschen mit Behinderungen? Wenn wir uns so verständigen, Frau Babel, dann Weder Phantasie noch Mut, aber eine gehörige Por- haben wir auch eine ganze Menge mehr Gemeinsam- tion Unverfrorenheit ist vonnöten für Ihr Programm keiten in der Frage: Wie nutzen wir die Instru- zur Wiedereingliederung von Schwervermittelbaren. mente? Sie werden den Arbeitgebern zum Ausprobieren Allerdings müssen wir erst einmal begreifen: Wir angeboten und können bei Nichteignung zurückge- wissen, daß der technologische Schub — auf den geben oder vielleicht sogar umgetauscht werden. komme ich nachher noch einmal zwar neue, aber Langzeitarbeitslose zur Spielmasse von Arbeitgeber- nicht genügend Arbeitsplätze bietet. Wir wissen auch, interessen zu machen ist menschenverachtend und daß Arbeitszeitverkürzung auf der Tagesordnung ste- unmoralisch. hen muß, daß auch sie allein aber nicht genügend (Beifall bei der PDS) Arbeitsplätze schafft. Diese Teilzeitarbeitsinitiative, Im übrigen finde ich, daß diese Merkmale für Ihre die wir durchaus unterstützen wollen, darf nicht so gesamte Politik in dem Maße kennzeichnend werden, aussehen, daß die Herren der Schöpfung die Vollzeit- wie Sie den Sozialabbau durch Muskelspiel in der arbeitsplätze behalten und die Frauen die nicht so- inneren Sicherheit zu kompensieren suchen. zialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeitsplätze be- kommen. Danke schön. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) So können wir das alle miteinander nicht wollen. Hier müssen andere Initiativen ergriffen werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat das Wort die Kollegin Anke Fuchs. Sie bringen als neues Instrument die privaten Dienstleistungen; darauf komme ich gleich noch zurück. Aber auch dann, wenn wir alles täten, was Sie gern hätten, bliebe nach dem Gutachten eine nicht Anke Fuchs (Köln) (SPD): Frau Präsidentin! Meine hinnehmbare Massenarbeitslosigkeit. Die werden Damen und Herren! Ich möchte in meinem Beitrag Sie nicht ohne einen vernünftig gesteuerten, öffent- noch einmal auf die Wirtschaftspolitik dieser Bundes- lich finanzierten zweiten Arbeitsmarkt abschaffen regierung zurückkommen; denn ich stelle nach diesen können. Sie müssen sich den Instrumenten stellen. Tagen der Debatte fest: Jeder tut so, als ob er Wir müssen fragen: Wie finanzieren wir das? Arbeitslosigkeit abbauen wollte; aber wenn man Rudolf Dreßler hat doch völlig recht: Das Teuerste, genau hinhört, erkennt man, daß kein Instrument was wir uns leisten, ist Massenarbeitslosigkeit. genannt worden ist, wie Herr Rexrodt die von den Sachverständigen als nicht hinnehmbar bezeichnete (Beifall bei der SPD) hohe Arbeitslosigkeit eigentlich bekämpfen will. Kein Es ist besser, mit den 40 000 DM für Arbeit zu sorgen, Wort davon bei ihm! statt weiterhin Arbeitslosigkeit zu finanzieren. (Beifall bei der SPD) Ich finde Ihre Anregungen ganz interessant. Ich Herr Kollege Blüm, ich will Sie insofern an meine freue mich darüber: Plötzlich gibt es Lohnkostenzu- Seite nehmen, als ich glaube, es macht keinen Sinn, schüsse. Wenn wir ein paar Jahre zurücksehen, stellen daß die Sozialpolitiker sich mit dem Arbeitsminister wir fest, daß wir eine ganze Menge dazugelernt immer darüber zanken müssen, wie die Arbeitsbe- haben. Ich bin pragmatisch und dafür offen und sage schaffungsmaßnahmen und das Arbeitsförderungsge- nur: Es macht nichts, Herr Blüm, wenn Sie das immer setz auszusehen haben, und die Wirtschaftspolitiker als ABM-Sozialismus verteufeln, denn Sie laufen doch sich zurücklehnen und sagen: Das ist sozialer Klim- in das Messer Ihrer Wirtschaftspolitiker. bim, zu teuer! So kann es nicht weitergehen, meine (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Ich habe Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle- doch gar nichts gegen ABM!) gen. Die Arbeitslosen werden der Sozialversicherung doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor die Tür gekarrt. Dann müssen wir Sozialpolitiker des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) uns damit auseinandersetzen. Das greift zu kurz. Deswegen finde ich es so falsch, wenn Sie immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von ABM-Sozialismus reden. Sie sollten vielmehr auf der PDS) Ihre Wirtschaftspolitiker zugehen, Wenn Sie sagen, es dürfe keinen Vorruhestand (Zuruf von der SPD: Die haben die ja mehr geben, dann spielen Sie wiederum mögliche nicht!) ältere Arbeitslose gegen jüngere Arbeitslose aus. So wie ich es getan habe, damit sie endlich begreifen: kann das nicht weitergehen. Deswegen sage ich: Die Arbeitsmarktpolitik ist ein wirtschaftspolitisches In- Wirtschaftspolitik ist gefordert; sie muß für Arbeits- strument einer beschäftigungsorientierten Wirt- plätze sorgen. Wenn es nicht genügend sind, brau- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 193

Anke Fuchs (Köln) chen wir einen öffentlich finanzierten zweiten einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik Arbeitsmarkt, sonst bleiben wir auf der Massenar- auch diese Fragen aufgreift. beitslosigkeit sitzen, und das kann keiner von uns Die Frage ist doch: Welche Alternative haben wir wollen. denn? Wenn wir keinen Vorruhestand mehr wollen: (Beifall bei der SPD) Was machen wir mit den Menschen, denen Sie keinen Arbeitsplatz anbieten können? Was Frau Babel von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, Ihnen möchte — daß sie mit niedrigen Löhnen, Ver- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten sicherungen und Pensionen irgendwo unterkrie- Blüm? chen —, kann wohl nicht der wahre Jakob sein. Deswegen sage ich: Solange Sie uns nichts Besseres Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. anbieten können, werden wir bei dieser Vorruhe- standsregelung bleiben müssen. Aber wir sind offen Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Verehrte Frau Kolle- für andere Antworten. gin Fuchs, ich habe doch nichts gegen ABM. Aber Sie Nun kommen Sie auf die Idee mit den privaten stimmen doch sicherlich mit mir darin überein, daß wir Dienstleistungen. Da habe ich einen Gedanken, der das Arbeitslosenproblem nicht gänzlich über ABM wird mißbraucht, und ich wollte Herrn Schäuble lösen können. Dann hätten wir nämlich eine ABM- bitten, das dem Bundeskanzler zu sagen. Ich halte es Wirtschaft. für geradezu perfide oder absurd — wie immer Sie (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei wollen —, daß Sie diese Arbeitsmarktlücke zu einem der SPD) großen Teil — mehr ist es nicht, das weiß ich — durch Arbeitsleistungen im privaten Haushalt kompensie- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Genau das ist die Diskri- ren wollen. Sie hätten gern wieder den Kammerherrn, minierung, Herr Kollege Blüm. Sie lassen doch zu, daß den Gärtner usw. und das soll dann neue Arbeits- Ihnen all die Arbeitslosen vor die Tür gekehrt werden, plätze geben. Ich bin dagegen. wenn Sie nicht auf Ihre Wirtschaftspolitiker eingehen Ich habe ein anderes Thema im Kopf. Wenn wir die und sagen: Nun bastelt doch mit uns zusammen einen Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen, dann vernünftigen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt, taucht die Frage auf: Wie gehen wir mit der Kinder- damit wir einer nennenswerten Zahl von Leuten betreuung um? Wenn wir über die Kinderbetreuung Arbeit geben können, statt sie in der Arbeitslosigkeit sprechen, stellen sich die Fragen nach Kindergärten- zu lassen! beiträgen und den Öffnungszeiten von Kindergärten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dann taucht auch die Frage auf: Was machen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) steuerlich mit diesem Problem? Wenn dabei heraus- kommt, daß auch private Hilfe im Haushalt steuerlich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Noch eine Zwi- entlastet wird, dann bin ich in einem solchen Gesamt- schenfrage? zusammenhang nicht mehr dagegen. Das sage ich ausdrücklich. Aber das muß ein Gesamtkonzept sein. Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. Es kann nicht behauptet werden, daß ich dafür sei, private Dienstleistungen zu entlasten, um vorzudu- (Konrad Gilges [SPD]: Der hat keinen Einfluß seln, wir hätten dadurch eine Chance, viele Arbeits- auf die Wirtschaftspolitik! Das ist das Pro plätze zu schaffen. blem!) (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Frau Kollegin DIE GRÜNEN) - Fuchs, stimmen Sie mir zu, daß sich die Sozialpolitiker Aber ich will nicht auf dem Thema Arbeitsmarkt nicht zur Reparaturkolonne einer gescheiterten Wirt- beharren. Ich muß noch einmal auf den Wirtschafts- schaftspolitik degradieren lassen dürfen, wobei ihnen minister zurückkommen. Er hat gesagt, die Gutachten vorgeworfen wird, sie seien auch noch an der Früh- hätten seine Politik bestätigt. Er hat aber offensichtlich verrentung schuld? das Gutachten nicht gelesen, denn darin steht, es gebe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eine nicht hinnehmbare Massenarbeitslosigkeit. Das hat er einfach weggesteckt. Er hat überhaupt nichts Anke Fuchs (Köln) (SPD): Richtig! Herr Kollege dazu gesagt, wie er eigentlich die Arbeitslosigkeit Urbaniak, ich stimme Ihnen zu. Ich will bei diesem überwinden will. einen Punkt bleiben, damit wir in der Sache wissen, Nun hat er den Mittelstand entdeckt. Ich weiß nicht, worüber wir reden. ob Sie das mitbekommen haben. Als er vom besonde- Natürlich ist es falsch, daß die Beitragszahler die ren Beauftragten für Mittelstand geredet hat, da ist Vorruheständler bezahlen. Herr Hinsken fast im Quadrat gesprungen. Offen- (Konrad Gilges [SPD]: Richtig!) sichtlich haben Sie da nicht genau abgestimmt, was Das hat sich bei den großen Unternehmen eingebür- diese neue Bundesregierung nun eigentlich will. gert. Das finden wir nicht in Ordnung. Das war der Ich bin froh, daß auch Herr Rexrodt den Mittelstand Punkt, bei dem ich sage: Sie müssen auf Ihre Wirt- entdeckt hat. Denn er hat ihn in der letzten Legisla- schaftspolitiker zugehen. Ich habe das in meinem turperiode in einer Art und Weise geärgert, die uns, Bereich geschafft: Die Wirtschaftspolitiker haben end- CDU und SPD, Freude gemacht hat. Ich nenne nur lich begriffen — wenn es auch immer wieder Rück- die Stichworte Ladenschlußgesetz, Rabattgesetz, schläge gibt, das will ich gern zugeben —, daß ein Teil Zwangsbeiträge zur IHK. Das alles waren Ärgernisse 194 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Anke Fuchs (Köln) für den Mittelstand. Diesen Vertrauensschwund wird nen das nicht alles leisten. Also, ich finde unsere Herr Rexrodt auch mit einem Parlamentarischen Politik durchaus in Ordnung und bleibe dabei: Staatssekretär nicht so schnell wieder aus der Welt schaffen. Wir werden kräftig dabei bleiben: Wir (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Ihr bleibt Sozialdemokraten haben das richtige Konzept, um dabei!) kleinen und mittleren Betrieben zu helfen. Wir sind auf der Seite der kleinen und mittleren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Betriebe. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der SPD — Eduard Oswald [CDU/ Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da müssen Sie CSU]: Wir haben die Wähler, und ihr habt das selber schmunzeln!) Programm!) Herr Hinsken, es ist empfohlen worden, CDU oder Ich will in der Wirtschaftspolitik noch einen etwas SPD zu wählen. F.D.P. sollte der Mittelstand nicht weiteren Bogen schlagen und komme damit zur mehr wählen. Das war eindeutig. Das war eine wun- Europapolitik sowie zur internationalen Politik im derschöne Schlachtordnung in diesem Wahlkampf. Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwick- Wir haben seit Jahren Mittelstandsförderung betrie- lung. Es geht um die Frage: Welche wirtschaftliche ben. Ich will nur an die Hilfen erinnern, die Sie immer Entwicklung wollen wir eigentlich vorantreiben? abgelehnt haben. Ich bin gespannt, wie Herr Rexrodt Zunächst bleibe ich bei Europa. Ich bedauere sehr, nun zu Rande kommen will. Sie waren es doch, die die daß von uns eigentlich keiner weiß, was bei der Finanzierung der Meisterkurse abgeschafft haben. Präsidentschaft dieser Bundesregierung für Europa Sie haben doch all die Dinge, die wir immer wieder herausgekommen ist. vorgeschlagen haben, für verfehlt gehalten. (Beifall bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Nichts! — Abg. Dr. Nor bert Blüm [CDU/CSU] meldet sich zu einer Deswegen freue ich mich auf diese Auseinanderset- Zwischenfrage) zung und bin gespannt, wie Herr Hinsken mit diesem Problem weiter umgeht. — Ich habe Sie doch provo- — Jetzt kommt Herr Blüm mit seinen Betriebsräten! ziert, Herr Kollege. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Setz dich hin, Norbert, ich komme gleich darauf zurück! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin (Heiterkeit bei der SPD) Fuchs, der Kollege Hinsken möchte eine Zwischen- frage stellen. Sie haben nicht die wirtschaftlichen Impulse gege- ben, die wir brauchen, um mit Delors' Initiative für Wachstum und mehr Beschäftigung zu sorgen. Das Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. haben Sie abgelehnt, weil Sie die Finanzierung so nicht wollten.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Fuchs, Und Sie haben immer noch nicht die Entsendericht- wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der linie verabschiedet — ein dringendes Problem. Mittelstand nach jüngsten Umfragen zu über 75 % bei der Wahl am 16. Oktober dieses Jahres diese Regie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Hans rungsparteien wiederum gewählt hat, weil er weiß, Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Finger weg!) daß er bei ihnen und der Politik, die hier aufgelegt Um was geht es? Wir wollen, daß Bauarbeiter aus wird, am besten aufgehoben ist? - Portugal bei uns arbeiten können, aber bitte zu den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Löhnen, die auf deutschen Baustellen gezahlt wer- Eine ganz kurze Zusatzfrage: In welchen sozialde- den. mokratischen Ländern wurde in Sachen Fortbildung (Beifall bei der SPD) und Weiterbildung zur Meisterprüfung etwas ge- macht, wie es z. B. im Lande Bayern der Fall ist? Sie sind mit der Verabschiedung der Entsenderichtli- nie in Verzug. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Was Ihren „grandiosen Erfolg" bei der Mitbestim- mung der Betriebsräte anbelangt, so weise ich darauf Anke Fuchs (Köln) (SPD): Erstens hat jeder seine hin: Diese Regelung ist natürlich weit weniger als Wahlanalyse, wie er sie braucht. Auch wir haben eine unsere; sie beinhaltet nur Informationsmöglichkeiten gute, was den Mittelstand betrifft. von Betriebsräten. Aber selbst wenn Sie dieses (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) magere Ergebnis befriedigt, dann hoffe ich, daß Sie es Zweitens kenne ich viele Mittelstandspolitiker, die umsetzen. In den Koalitionsvereinbarungen steht zu uns gewählt haben. Ich will das nur noch einmal dieser Frage nichts. wiederholen. Unsere Mittelstandspolitik hat immer (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unglaub auch die Meisterkurse beinhaltet. Wir waren immer lich!) für Investitionserleichterungen, weil uns völlig klar war, daß in diesen Bereichen die zukunftssicheren Wir werden sehr darauf achten, daß wenigstens dieses Arbeitsplätze sind. Wir waren immer für überbetrieb- magere Ergebnis auch für unsere Belange umgesetzt liche Angebote für Technologieentwicklungen und werden kann. -hilfen, weil wir wußten, die einzelnen Betriebe kön- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 195

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gen will. Das ist die Haltung dieser Bundesregie- würden Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordne- rung. ten Blüm erlauben? (Beifall bei der SPD) Ich bleibe noch bei Europa, weil ich es spannend Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. finde, wie diese Bundesregierung mit europäischen Fragen umgeht. Erinnern Sie sich noch an die Vig- Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Frau Kollegin Fuchs, nette von Herrn Wissmann? Sie sollte den ganzen ist Ihnen bekannt, daß unter unserer Präsidentschaft Güterverkehr verändern. Er hat sich da so richtig über zum erstenmal energisch Politik für die Entsendericht- den Tisch ziehen lassen. Sie ist viel zu billig, und wir linie gemacht wurde? sehen jetzt schon, daß umweltfreundliche Anbieter (Beifall bei der CDU/CSU) wie Bahn und Schiff auf dem Markt deswegen nicht billiger fahren können, weil die Mitgliedstaaten die nationalen Kraftfahrzeugsteuern gesenkt haben. Da- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Aber wie denn, wo denn, was denn? Wo ist sie denn? Sie hätten sie doch jetzt mit wurde das Ganze kompensiert. durchsetzen können. Das bringt mich zu der Frage: Was ist eigentlich (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Sie kommt ja europäische Verkehrspolitik? Wie gehen wir eigent- noch!) lich an die Kernfrage der ökologischen Erneuerung — Heidemarie Wieczorek-Zeul hat mir gesagt, sie sei durch die Schaffung einer vernünftigen Verkehrs- noch nicht durchgesetzt, Sie hätten sich nicht struktur in Europa heran? Wenn wir einen Verkehrs- bemüht, minister haben, der sich schon in einem solch kleinen Beispiel von seinen Kolleginnen und Kollegen über (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Nein!) den Tisch ziehen läßt, dann läßt die europäische sie liege nur auf dem Tisch. Sie muß verabschiedet Verkehrspolitik nichts Gutes ahnen. werden, damit wir endlich weiterkommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich will noch einmal allen, die es nicht wissen, sagen: Es kann doch nicht sein, daß bei uns Menschen Das gleiche gilt für das Tarifbindungssystem in der zu ausbeuterischen Bedingungen beschäftigt wer- deutschen Binnenschiffahrt. Ich habe mir das erzäh- den. len lassen: Es gab die Sorge um eine Entscheidung des (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Richtig!) Europäischen Gerichtshofs. Also hat man die Bindung schnell aufgehoben. Nun hat aber der Europäische Wenn sie bei uns arbeiten, sollen sie auch zu unseren Gerichtshof anders entschieden. Statt die Bindung Bedingungen, zu unseren Löhnen arbeiten können. wieder einzuführen, um unsere Binnenschiffahrt zu Wenn wir uns einig sind, dann tun Sie endlich etwas schützen, hat man es so gelassen, wie es war. Sehen dafür, daß das verabschiedet wird. Sie sich heute die Verkehrsströme an! Sie gehen auch (Beifall bei der SPD — Wolfgang Zöller in der Binnenschiffahrt zu Lasten des deutschen [CDU/CSU]: Dann müssen Sie bei uns mit- Verkehrs. Das ist ein weiteres Argument für den stimmen!) Dilettantismus, mit dem die Europapolitik von dieser Bundesregierung gemacht wird. Frau Kollegin, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch der Kollege Urbaniak möchte noch eine Zwi- schenfrage stellen. der PDS) Ich will Ihnen gestehen, was mich an der Regie- rungserklärung am meisten geärgert hat. Ich weiß gar Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. - nicht, ob Ihnen das so aufgefallen ist. Da steht: Diese verhindern, Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Frau Kollegin, kön- Bundesregierung will Protektionismus nen Sie mir bestätigen, daß — dies wurde insbeson- auch wenn er mit Umweltstandards und Sozialklau- dere bei der Frage des Kollegen Blüm deutlich — das, seln begründet wird. was bei der Beteiligung der Arbeitnehmer in der (Jörg Tauss [SPD]: Kinderarbeit wollen sie!) Europäischen Gemeinschaft als Fortschritt bezeichnet wird, sich lediglich darauf bezieht, geringe Informa- Dahinter stecken doch die Fragen: Welche wirt- tionsrechte zu schaffen, und die Betriebsräte über- schaftliche Entwicklung wollen wir eigentlich? Wel- haupt keine Mitbestimmung bekommen, die Kapital- ches Angebot machen wir an den Welthandel aus und Wirtschaftsbeziehungen aber so reibungslos lau- unserer bundesrepublikanischen Sicht? Es kann doch fen, daß eine soziale Flankierung, die bitter notwen- nicht wahr sein, daß eine Bundesregierung in ihrer dig ist, überhaupt nicht dagegengestellt wird? Koalitionsvereinbarung sagt: Umweltverhütung, Um- weltschäden und Sozialstandards nehmen wir hin. (Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Frage kann man mit Ja und Nein beantworten!) (Birgit Homburger [F.D.P.]: Wo steht das?) Wir Sozialdemokraten sagen: Es kann nicht ange- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Ich stimme Ihnen zu, daß hen, daß Umweltdumping und Sozialdumping ein das so ist. Das ist eben auch ein Versagen dieser natürlicher Wettbewerbsvorteil anderer Länder blei- Regierung, weil sie sozialen Fortschritt in Europa ben. Hier müssen internationale Standards in die eigentlich nicht will, sondern darauf beharrt, nur WTO eingebracht werden. ökonomisch zu denken und unsere bewährten Instru- mente des sozialen Friedens nicht auf Europa übertra (Beifall bei der SPD) 196 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Anke Fuchs (Köln) Das bringt mich zu der Frage Ihrer Zukunftsvision. daß Sozialstandards und Sozialdumping, soweit dies Man fragt sich ja manchmal: Wo stehen wir eigentlich, nun wirklich vorkommt — und darüber können wir wenn wir nationale Wirtschaftspolitik — ich habe nicht hinwegsehen —, in den entsprechenden Orga- versucht, sie ein wenig europäisch anzutippen — nisationen, u. a. der Welthandelsorganisation, der weltweit betrachten? Dann kann es doch nicht ange- Weltarbeitsorganisation und den Vereinten Nationen, hen, daß wir freien Welthandel über alles fordern, geahndet werden sollen? ohne daß wir uns über die internationale Arbeitsorga- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der nisation und die World Trade Organization mit unse- CDU/CSU) ren bewährten Kriterien auf den langen Marsch — das weiß ich wohl — begeben und sagen: Sozialdumping darf es nicht geben, und die Umweltkriterien müssen Anke Fuchs (Köln) (SPD): Sehr verehrter Minister berücksichtigt werden. Das gehört zum freien, richtig Rexrodt, das waren wieder typische große Töne, und verstandenen Welthandel. Da dürfen wir nicht zu das Handeln in den Gremien sieht ganz anders aus. kleinkariert sein. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich erinnere Sie daran, daß Sie die Initiative der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vereinigten Staaten zu Umwelt- und Sozialproblemen Da hinein paßt auch die Frage, was Sie unter — ich glaube, die Konferenz war in Marrakesch — ökologischer Modernisierung verstehen. Wenn man nicht mitgemacht haben. wie ich zu einem Thema zurückkehrt, das ich als (Zuruf von der SPD: So ist es!) Bundesgeschäftsführerin in der SPD vor vier Jahren mit vorangetrieben habe, dann ist man entsetzt dar- Ich erinnere Sie daran, daß Sie nicht bereit sind, zu der über, wie wenig in Ihren Reihen über diese zentrale Konferenz in Berlin, der Nachfolgekonferenz von Rio, Frage weiterer wirtschaftlicher Entwicklung nachge- international abgestimmte Papiere einzubringen, dacht wird. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Ich sage: Unsere Zukunftschancen, Herr Minister DIE GRÜNEN]: Er hat doch alles blok Rexrodt, liegen nicht in dem, was Sie uns heute kiert!) vorgelabert haben, um in der Frage ökologischer Modernisierung wirk- (Widerspruch bei der CDU/CSU — Ernst lich voranzukommen. Wenn ein F.D.P.-Wirtschaftsmi- Hinsken [CDU/CSU]: Das ist eine Frech nister sagt, er habe einen Beitrag geleistet, um Sozial- heit!) dumping zu verhindern, sondern die Kernfragen werden lauten: Welche öko- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ logische Erneuerung setzen wir durch, und wie schaf- DIE GRÜNEN]: Ausgerechnet Rexrodt!) fen wir es mit einer ökologischen Steuerreform, daß dann muß ich erst einmal sehen, was dahintersteckt. wir wirklich zukunftsorientiert auf den Weltmärkten Das sind wahrscheinlich Peanuts, meine Damen und präsent sein können? Herren. Aber das ist nicht der Ansatz, soziale Belange (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des inneren Friedens konzeptionell als ein Kriterium des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von freiem Welthandel einzubeziehen. Darum geht es mir bei dieser Frage. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, (Beifall bei der SPD) zum ersten: „Labern" ist nicht die hohe Schule der Zur Ökosteuer. Ein Herr Kinkel stellt sich hin und parlamentarischen Ausdrücke. sagt — das müssen Sie sich auf der Zunge zergehen (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat - lassen —: Natürlich werden wir beim Wachstum thäus-Maier [SPD]: Der hat auch nichts zuge darauf achten, daß sich die ökologischen Schäden in lassen! Rexrodt ist ein Feigling!) Grenzen halten. Das war verräterisch, finde ich. Denn Aber es gibt auch noch den Wunsch zu einer Zwi- das zeigt wieder, daß Sie noch immer nicht begriffen schenfrage. haben, daß weiter so Wurschteln, ohne die ökologi- schen Belange am Beginn einer Produktion einzube- ziehen, nicht funktionieren kann. Deswegen nehme Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. ich Ihnen nicht ab, daß Sie diese Denkansätze, wie Sie es mir jetzt vorzutragen versucht haben, vernünftig in Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Frau Kollegin Fuchs, die internationalen Gremien hineingetragen haben. sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Bundesregierung dafür eingesetzt hat, daß bei der Es bleibt dabei: Für Sie ist Ökologie eine Behinde- neuentstehenden Welthandelsorganisation ein inter- rung wirtschaftlichen Wachstums. Wir sagen: Ökolo- national besetzter Ausschuß eingerichtet wird, der gie und Wirtschaft müssen miteinander verzahnt wer- sich mit den Fragen von Umwelt und Handel befassen den, weil die wirtschaftliche Entwicklung sonst insge- soll und der dafür sorgen soll, daß im Falle von samt Schaden nimmt. Umweltdumpingmaßnahmen gegebenenfalls Konse- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ quenzen auch im Handelsbereich gezogen werden DIE GRÜNEN) können? Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu Für mich ist das eine Frage der Wirtschaftspolitik, nehmen, daß wir uns in allen internationalen Organi- Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß wir sationen, namentlich in der OECD, tätig dafür einge- uns darüber im klaren sind: Diese Verzahnung von setzt haben, ökologischen, ökonomischen und verkehrspolitischen (Widerspruch bei der SPD) Problemen muß wieder her. Damit müssen wir bei uns Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 197

Anke Fuchs (Köln) anfangen, notfalls auch vorangehen. Dann müssen Menschen durch einen Solidaritätszuschlag einzuf or wir uns in Europa einklinken und diese Verzahnung-dern, so fordern Sie jetzt im gesamten Umweltbereich zu einem Kriterium für den Welthandel machen, weil die Menschen zu wenig auf, auch ihrerseits einen wir sonst hier kleinkariert sitzen und einem falschen Beitrag zu leisten. Die Menschen warten darauf, daß Protektionismus das Wort reden müssen. So kann die von ihnen etwas verlangt wird und nicht mit den alten größer gewordene Bundesrepublik ökonomisch inter- Rezepten weiter in der Zukunft gearbeitet wird. national nicht agieren. (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!) Für diese größer gewordene Bundesrepublik kann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, es in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr, wie der Kollege Schily möchte eine Zwischenfrage stel- Herr Kinkel meint, um Wachstum gehen, dessen len. ökologische Folgen wir in Grenzen halten wollen, sondern es geht um die Verzahnung von Ökologie und Anke Fuchs (Köln) (SPD): Bitte sehr. Ökonomie. Wir haben es früher einmal „Arbeit und Umwelt" genannt. Man kann es auch noch ein biß- chen einfacher ausdrücken. Aber wenn Sie so weiter Otto Schily (SPD): Frau Kollegin Fuchs, wie beurtei- wurschteln, wie Sie sich das vorstellen, wird es nicht len Sie die Kompetenz des Wirtschaftsministers und funktionieren. In diesem Sinne hoffe ich auch — das sein Selbstbewußtsein, wenn er hier selber Zwischen- biete ich an — auf eine Debatte um die Frage, wie wir fragen ablehnt, aber als Parlamentarier in der Form Konsens erreichen. Wann stellen wir ein Ökosteuer- der Zwischenfrage ganze Beiträge bringt? system vor, bei dem alle sagen: So schlecht ist es doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eigentlich gar nicht? Ich ringe hier um Gesprächsbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) reitschaft. Ich weiß aus meiner langen politischen Erfahrung, daß man Menschen auch zu neuen The- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Kollege Schily, er ist men mitnehmen muß, vor denen sie zunächst einmal so. Angst haben. Aber nehmen wir ihnen die Angst und sagen wir: Wir bieten verläßliche, durchgerechnete, (Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus- sozialverträgliche Konzepte an! Dann werden die Maier [SPD]: Sehr gut!) Menschen diesen Weg auch mitgehen. Wenn wir diese gemeinsamen Anstrengungen unternehmen, dann appelliere ich auch an Sie, daß wir Herzlichen Dank. uns bei dem Thema ökologische Steuerreform klar (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE darüber sind, daß dabei eine ganze Menge zu beden- GRÜNEN und der PDS) ken ist. Das hat Gerhard Schröder heute morgen noch einmal ausgedrückt. Natürlich gibt es soziale Pro- bleme. Natürlich gibt es die Frage des Aufkommens. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt Natürlich gibt es die Frage: Welche Auswirkungen hat der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler. das auf welche Branchen? Aber wir müssen uns auf den Weg machen, das Ganze zu durchdenken, Kon- zepte vorlegen, und zwar alle miteinander in den Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU) (Von Abgeordneten verschiedenen Gremien, und unsere Menschen auf der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! diese neuen, schwierigen Fragen vorbereiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme Die Menschen sind doch schon sehr viel weiter, als auf Frau Fuchs und Herrn Dreßler noch zurück, aber Sie das immer darstellen. Ich will das an zwei Beispie-- ich will auf einen Vorgang eingehen, der heute len klarmachen, die damit bedingt etwas zu tun vormittag doch einer stärkeren Erwähnung bedarf. haben. Die beiden Kirchen haben ein Diskussionspapier Das eine Thema ist die Frage von Mehrwegsyste- vorgelegt. Ich möchte hier nur sagen — auch nach men, Müll und Abfall. Ich finde es unglaublich, wie dem teilweisen Ablauf der Debatte heute morgen —: schnell die Bevölkerung bereit war und gelernt hat, Die Kirchen und die Menschen, die in diesem Papier Müll und Abfall getrennt aufzubewahren bzw. zu angesprochen werden, die betroffen sind, sollen nicht vermeiden. Was hat die Politik dazu beigetragen? Sie den Eindruck haben, daß im Deutschen Bundestag, im hat ein an sich wichtiges öffentliches Thema privat Parlament, die Anliegen, die zu Recht in diesem organisieren und finanzieren lassen. Der Unmut der Papier formuliert und vorgetragen worden sind, in Bevölkerung ist doch groß, meine Damen und Herren. einer parteitaktischen Polemik untergehen. Die Bevölkerung war also weiter als die Instrumente, Wir haben dieses Papier als Diskussionsgrundlage die Sie haben anbieten können. Deswegen ist der bekommen. Es gibt eine Reihe von Anregungen und Unmut der Bevölkerung auf diesem Feld besonders richtigen Situationsbeschreibungen. Es kann auch groß. nicht bestritten werden, daß es Not und Armut in (Beifall bei der SPD) Deutschland gibt. Deswegen sollten wir zusammen Oder denken Sie an den Sommersmog. Was hat uns mit den Kirchen — das ist eine Aufgabe der Bundes- der Sommersmog eigentlich gezeigt? Er hat gezeigt, regierung und aller Fraktionen — darangehen, die daß die Bevölkerung bereit ist, mitzugehen, wenn Armut zu vermindern, wobei wir uns — und das ist klare Vorgaben, nachvollziehbar für den einzelnen, schon ein wichtiger Bestandteil der Koalitionsverein- da sind, auch wenn man von ihr etwas fordert. So wie barungen — natürlich auch darüber Gedanken Sie bei der Wende versäumt haben, die Solidarität der machen müssen, ob alles, was unter Armut subsumiert 198 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Heiner Geißler wird, im eigentlichen Sinne des Wortes auch das ist, über die Droh- und Störpotentiale großer Organisatio- was wir miteinander bekämpfen wollen. nen verfügen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier DIE GRÜNEN]: Jetzt sagt er wieder ,,mitein- [SPD]) ander" !) Ich finde es beschämend, daß wir uns in diesem nach wie vor reichen Land — ich betone: nach wie vor Ich will Sie auf zwei Dinge aufmerksam machen. reichen Land — eine Diskussion erlauben, die darauf Die Sozialhilfe z. B. entzieht sich ganz einfach einer hinausläuft, daß diese Gesellschaft nicht in der Lage pauschalisierenden Beurteilung. Sozialhilfeempfän- sein soll, bei 13 bezahlten Feiertagen, den höchsten ger, wie es manche Sozialromantiker tun, als Opfer Löhnen aller Industrieländer in ganz Europa, auf der Gesellschaft und ihrer Schikanen zu sehen, ist einen Tageslohn zu verzichten, um den Hilflosesten genauso falsch wie die Vorstellung derer, die Not und endlich zu ihrem Recht zu verhelfen. Armut am liebsten aus ihrer Vorstellungswelt ver- drängen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das haben wir gemeinsam gemacht. (Zuruf von der SPD: Warum sagen Sie das?) Beides ist nicht in Ordnung. Aber der Satz: einmal Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Geißler, arm, immer arm, stimmt eben auch nicht. erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreß- ler? (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war doch die neue soziale Frage!) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Bitte schön. Wir haben eine Untersuchung aus Bremen, aus der hervorgeht — ich finde, das ist wichtig —, daß 57 % aller Sozialhilfeempfänger nur bis zu einem Jahr Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Geißler, sind Sie — und die mittlere Bezugsdauer liegt dabei bei zwei bereit, nachdem Sie den Ministerpräsidenten von Monaten — Sozialhilfe empfangen. Nordrhein-Westfalen erwähnt haben, dem Parlament Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß diese mitzuteilen, an welcher Stelle seines Interviews heute Sozialhilfeempfänger Leute sind, die die Sozialhilfe morgen im Herr Rau die Pflegever- als Überbrückung für die Zeit bekommen, in der die sicherung in Frage gestellt hat, reguläre Sozialleistung, z. B. Arbeitslosengeld oder (Detlev von Larcher [SPD]: Das möchte ich Rente, von den zuständigen Ämtern nicht oder nicht auch wissen!) rechtzeitig ausgezahlt worden ist. Deswegen will ich und sind Sie darüber hinaus bereit, dem Deutschen bei allem, was völlig zu Recht über die Reform der Bundestag zuzugestehen, daß die eigentliche Infrage- Sozialhilfe gesagt worden ist — ich sage ausdrücklich: stellung der Pflegeversicherung von Ihren Partei- man muß Sozialhilfe auch verbinden können mit freunden im Bayerischen Landtag und im Sächsischen zumutbarer Arbeit —, Landtag gekommen ist? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der F.D.P.) PDS) darauf hinweisen, daß die Sozialhilfe, die von der Christlich Demokratischen Union im Jahre 1961 als- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ich habe diese Kritik Ablösung der alten Fürsorgerichtlinien aus dem Jahre gleich vorweggenommen, Herr Dreßler. Es ist mir 1924 verabschiedet worden ist, besser ist als ihr Ruf. inzwischen jedoch gleichgültig. Was Herr Rau Sie trägt viele Menschen, vor allem auch alleinste- gemacht hat, ist nichts anderes — lesen Sie das hende Frauen, die in Krisen geraten sind, über Interview nach —, als aus parteitaktischen Gründen Lebenskrisen hinweg und hilft ihnen, einen neuen die Schuld einer einzigen politischen Partei, nämlich Anfang zu machen. der Union, in die Schuhe zu schieben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sachsen und Bay ern!) Mir wäre es lieb gewesen, wir müßten heute, nachdem wir dieses Papier bekommen haben, wenn Statt dessen sollten wir alle gemeinsam — denn wir es um Arme geht und um Menschen, die in Not sind, haben es gemeinsam gemacht — dafür eintreten — — nicht wieder eine Debatte über die Pflegeversiche- (Beifall bei der CDU/CSU) rung führen. Sie ist heute fortgesetzt worden — leider Die Leute lesen es doch in der Zeitung. Was sie lesen, auch vom Ministerpräsidenten von Nordrhein-West- ist nichts anderes, als daß Ministerpräsidenten, IG falen, leider auch von der IG Metall. Leider muß ich Metall und andere Leute offenbar drauf und dran das auch an die Adresse mancher Parteifreunde sind, sagen. Denn durch die Diskussion erwecken wir den Eindruck, als ob wir die Lösung für eine Gruppe der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist unehr Hilflosesten in unserer Gesellschaft wieder in Frage lich! — Detlev von Larcher [SPD]: Nein!) stellen wollten, nämlich die 1,8 Millionen Pflegebe- das, was wir für die Pflegebedürftigen in langer, dürftigen, die keine Lobby hinter sich haben und nicht langer Zeit erarbeitet haben, wieder in Frage zu Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 199

Dr. Heiner Geißler stellen. Man sollte den Mund halten, wenn es um diese Die Union hat von Anfang an den richtigen Stand- Fragen geht, und die Sache realisieren. punkt vertreten. (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Karl-Josef (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Laumann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir die Zwischenfrage — Joseph Fischer [Frankfurt] Sache viel schneller, ohne die Behinderungen, die von [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr sollt den Ihnen bezüglich der Finanzierung fabriziert worden Mund halten, hat er gerade gesagt!) sind, machen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wollen Sie noch eine Zwischenfrage zulassen? Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geißler, sind Sie bereit, auch eine Frage des Kollegen Lau- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Zu diesem Thema mann zu beantworten? haben Sie, Herr Fischer, Gott sei Dank noch nichts gesagt. Ich warte darauf, daß Sie auch noch etwas Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Das wird mir von der sagen. Zeit nicht abgezogen? (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihren Parteikollegen meine Vizepräsident Hans Klein: Nein, nein. ich doch! Er hat sich zu einer Frage gemel- det!) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Gut, bitte schön.

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Kollege Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Geißler, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Geißler, können Sie bestätigen, daß die Koalitions- Dreßler? fraktionen im Bundestag die Pflegeversicherung im Kompensationsteil so verabschiedet haben, daß wir die Aufgabe eines Urlaubstages wollten, Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Bitte schön. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) und daß es den Sozialdemokraten später im Vermitt- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Geißler, ich nehme an, lungsausschuß als konsensfähiger erschien, einen Sie werden mir zugestehen, daß ich beim Thema kirchlichen Feiertag zu streichen, anstatt am Rande Pflegeversicherung sehr sensibel bin, weil ich mich der Tarifautonomie die Frage eines Urlaubstages in zusammen mit anderen viele Jahre um die Realisie- Angriff zu nehmen? Haben wir nicht daher diese rung gekümmert habe. Sind Sie wenigstens bereit, Diskussion um den christlichen Feiertag? zuzugestehen, daß die Verteidigung von Herrn Rau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und der IG Metall gegen das Infragestellen der Pflegeversicherung durch CDU Sachsen und CSU Bayern der eigentliche Konfliktpunkt am heutigen Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ja, das kann ich Tage ist und nicht das Infragestellen der Pflegeversi- ausdrücklich bestätigen. So ist es gewesen. cherung durch IG Metall oder Rau? Es geht wirklich Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe — Herr Geißler, ich bitte Sie, das zuzugestehen — um dieses Thema nur angesprochen — — Ihre eigenen Parteifreunde, die das getan haben. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Weil Bayern und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sachsen sich nicht daran halten! Das ist der Punkt!) — Frau Fuchs, was glauben Sie denn, welchen Ein- (CDU/CSU): Ich bin ganz einfach Dr. Heiner Geißler druck die Leute bekommen, wenn sie das wieder deswegen nicht bereit, Ihnen das zuzugestehen, weil miterleben? Jetzt hören wir einmal auf mit der wir in der gesamten Debatte bis zur Verabschiedung Geschichte und realisieren so, wie es Norbert Blüm der Pflegeversicherung die größten Schwierigkeiten gesagt hat, das, was wir miteinander beschlossen gehabt haben, gerade von der IG Metall und anderen haben, ohne die Sache hinterher immer wieder in einen Beitrag zu bekommen — in der Tat muß dieser Frage zu stellen! Die Leute müssen ja denken: Die aus der Arbeitswelt erbracht werden —, der die haben einen Hau! Pflegeversicherung finanzierbar macht. Das wissen Sie ganz genau. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD) (V o r sitz : Vizepräsident Hans Klein) — Ich habe ausdrücklich gesagt, daß ich meine Rede Wir sind nämlich der Auffassung gewesen, daß es an alle richte. Nehmen Sie es also bitte zur Kenntnis. durch die Einführung einer neuen Sozialversicherung Ich habe auch Ihren Ministerpräsidenten gemeint. — siehe Herr Scharping gestern — nicht zu zusätzli- chen Lohnnebenkosten kommen sollte. Frau Fuchs und Herr Dreßler, ich habe weggelegt, was wir alle miteinander in der letzten Stunde erlebt (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) haben. Ich finde, wir müßten, wenn wir über Fragen Dazu waren Sie nicht bereit: die einen nicht, weil sie in reden, wie es mit der Sozialpolitik weitergehen, wie ihrem Denken verfangen waren, daß es nur um der Sozialstaat aussehen soll, einfach mal zur Kenntnis Kapital und Arbeit geht, die anderen wollten das nehmen, daß es eine gemeinsame Aufgabe ist und daß Kapitaldeckungsverfahren einführen und meinten, wir über den richtigen Weg streiten. Es kann aber die Privatversicherung sei die richtige Lösung. doch wohl nicht wahr sein, daß man der Auffassung 200 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Heiner Geißler ist, man würde selber besser, indem man andere Leute Ab 1. Januar 1992 bekommen alle Frauen pro Kind schlecht macht. Angefangen bei Herrn Scharpings drei Erziehungsjahre anerkannt. Bei einer Wartezeit Rede gestern bis — das muß ich leider sagen — zu von fünf Jahren bekommt eine Frau, die zwei Kinder Ihrem Beitrag heute ist aber genau das gemacht hat, allein auf Grund dieser Tatsache einen eigenstän- worden. digen Rentenanspruch. Ich nehme nur einmal den letzten Teil Ihrer Rede (Beifall bei der CDU/CSU) mit der EG und allem Drum und Dran. Ich könnte den Nicht Sie, wir haben die Anerkennung von Erzie- Spieß umdrehen: Richtig, natürlich haben wir Armut hungsjahren eingeführt. und große Not auf der Welt. Eine Milliarde Menschen (Detlev von Larcher [SPD]: Ach, Herr Geiß muß pro Tag mit dem Gegenwert eines Dollars aus- ler! Das ist ja wirklich lächerlich!) kommen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir dieses Armutsproblem nicht nur mit Entwicklungs- Unter Ihrer Regierungsverantwortung gab es das hilfe, sondern auch mit Außenhandels- und neuer Mutterschaftsgeld treu marxistisch nur für diejenigen, Außenwirtschaftspolitik lösen. die sich im Produktionsprozeß befanden, nicht für die mithelfende Handwerkerfrau, nicht für die Winzerin, Richtig ist doch aber auch, daß Ursache z. B. für die nicht für die Bäuerin. Migration nicht nur die Armut, sondern auch die (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei immer stärker zunehmende Zahl von Bürgerkriegen der SPD) ist. Wenn wir die Ursachen für die Migration beseiti- gen wollen, ist es infolgedessen auch eine Aufgabe, Heute gibt es das Erziehungsgeld für alle Mütter. daß wir unseren Beitrag zur Beendigung der Bürger- Wir haben das Mehrklassenrecht für Mütter und kriege leisten. Recht haben Sie, wenn Sie an die Frauen beseitigt, das wir von Ihnen geerbt haben. moralische Verantwortung der EG und Deutschlands (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge in der Außenhandels- und Außenwirtschaftspolitik ordneten der F.D.P.) erinnern. Genauso richtig ist es aber auch, daß es eine Herr Dreßler beklagt, daß der Aufschwung am moralische, nicht eine nationalstaatliche Frage ist, ob Arbeitsmarkt vorbeigehe — sozialdemokratische Be- wir bereit sind, mit der Bundeswehr im Rahmen der hauptung! Wollen Sie denn amerikanische und engli- UNO unseren Beitrag dazu zu leisten, daß Bürger- sche Verhältnisse mit „hire and fire" bei uns einfüh- kriege schneller und eher beendet werden und der ren Frieden gesichert werden kann. (Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Entschuldigung! Der Sachverständigenrat hat in Sie sprechen von den Entsenderichtlinien. Zur seinem jüngsten Jahresgutachten das amerikanische Wahrheit gehört doch, daß Sie sagen müßten: Daß die und das deutsche Beschäftigungssystem verglichen. Entsenderichtlinien am 6. Dezember auf der Tages- Natürlich stellen die Amerikaner schneller ein, wenn ordnung stehen, ist das Ergebnis dieser Bundesregie- der Aufschwung kommt; aber die feuern auch schnel- rung, von Norbert Blüm. Wir können die Entsende- ler. richtlinien doch nicht alleine machen, sondern sie Umgekehrt ist es natürlich genauso: Wir haben eine müssen von allen verabschiedet werden. Sozialordnung, wir haben Arbeitsschutz, Kündi- gungsschutz, geregelte Arbeitszeiten. Dann geht es Infolgedessen — wir wollen sie ja; es steht auf der eben mit „hire" nicht so schnell wie dort, wo auch Tagesordnung — können Sie doch nicht dem Norbert gefeuert wird, wenn kein sozialer Schutz vorhanden Blüm vor dem Fernsehen die Schuld geben, ist. Sie müssen doch konsequent bleiben in Ihrer (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch, der setzt Argumentation. sich nicht durch!) - Wir wollen keine englischen Verhältnisse — das ist sondern Sie müssen den Leuten sagen: Wir wollen es. richtig, die wollen wir wirklich nicht. Aber die anderen müssen eben mitmachen, z. B. auch (Zuruf von der SPD: Die haben wir schon!) Ihre sozialistischen Parteifreunde in anderen Län- — Nein, die haben wir nicht; auch dies ist die dern. Unwahrheit. — Wir wollen keine englischen Verhält- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nisse, auch wenn das von dem einen oder anderen mit flexiblem Arbeitsmarkt und niedrigen Löhnen vorge- Machen Sie das einmal über die Sozialistische Inter- schlagen wird. Das wollen wir nicht. Wir wissen: nationale! Erfüllen Sie Ihre Pflichten! England ist zunehmend eine Nation von Gelegen- Herr Dreßler, ich habe meinen Augen nicht getraut heitsarbeitern geworden, ein Drittel der Erwerbstäti- — und meinen Ohren wollte ich auch nicht trauen —, gen — 8 Millionen — sind in Teilzeit- und befristeten was Herr Scharping gestern zum Sozialstaat darge- Arbeitsverhältnissen. Das alles wollen wir nicht. stellt hat: Man hat gerade den Eindruck, als stünden wir am Rande des Abgrunds, unmittelbar davor, ins Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geißler, da Chaos zu stürzen; der Sozialstaat werde aufgelöst. gibt es noch ein Zwischenfragebegehren. Herr Scharping sagte gestern zu Helmut Kohl: Sie haben in den letzten zwölf Jahren den Beweis dafür Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ja. angetreten, daß Sie z. B. bei der Förderung der Kinder und der Familien, Gleichberechtigung der Frau immer wieder genau das Gegenteil von dem getan haben, Jörg Tauss (SPD): Vielen Dank. — Habe ich es was Sie hier verkünden. richtig verstanden, Herr Geißler, daß die Deregulie- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 201

Jörg Tauss rungsabsichten, die gestern und auch heute mehrmals auf die Äußerungen >Herrn Gramkes und bei vielen an diesem Pult vorgetragen worden sind, sich nicht auf anderen Dingen. Fragen der Arbeitszeit, sich nicht auf Fragen der (Zuruf von der SPD: Ach Gott, ach Gott!) sozialen Gestaltung, sich nicht auf Fragen des Kündi- Man muß sich schon, Entschuldigung, Gedanken gungsschutzes erstrecken sollen, auf daß man nicht zu darüber machen, was geistesgeschichtlich dahinter- diesen von Ihnen beklagten Verhältnissen wie in steckt. Wenn Gerhard Schröder erklärt, die PDS sei in England kommt? manchem der SPD näher als die CDU, und wenn sagt, daß diejenigen, die den Weg in die SED gegangen seien, wieder zurück zur großen Mutterpar- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Entschuldigung, mit tei sollten, dann erinnert mich das an eine Überle- keinem Wort ist davon die Rede gewesen. Sie müssen gung, die immer wieder vorgebracht wurde, nämlich nicht immer alles absichtlich mißverstehen. Natürlich an den Traum von der Wiedervereinigung der gespal- sind wir für Deregulierung; wir sind auch für Einstiegs tenen Arbeiterklasse. Das ist auch damals von Ehmke tarife. Aber wir wollen die Arbeitnehmerinnen und in bezug auf den Eurokommunismus als Chance Arbeitnehmer nicht schutzlos stellen. Das geht nicht gesehen worden. Nur, der Arbeitnehmer und die gegen die Gewerkschaften und die Betriebsräte, son- Arbeitnehmerin in Deutschland fühlen sich nicht als dern nur mit den Tarifpartnern. Angehörige einer gespaltenen Klasse, die durch PDS und SPD wiedervereinigt werden muß, sondern sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind Bürgerinnen und Bürger in einer freien Gesell- Das alles ist klar gesagt worden. Deswegen unter- schaft. Eines allerdings ist wahr: Wir haben zusammen scheiden sich die Verhältnisse bei uns von den engli- mit ihnen eine soziale und wirtschaftliche Ordnung schen. geschaffen, die die Sozialisten auf der ganzen Welt, obwohl sie 70 Jahre dazu Zeit gehabt haben, nie Was wollen wir denn tun? Ich will Ihnen folgendes haben nachmachen können. sagen: Die westdeutsche Arbeitslosenquote ist zwi- schen 1970 und 1990 in zwei Schüben angestiegen, (Beifall bei der CDU/CSU) zuerst in den Jahren 1974 und 1975 — da waren Sie an der Regierung —, sodann in den Jahren 1981 bis 1983. Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist um. In diesem Zusammenhang reden wir immer von der „Sockelarbeitslosigkeit"; ein nicht sehr humaner Begriff, den wir da immer wieder verwenden. Diese Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Der Gegensatz Zahlen zeigen doch, daß dieses Problem für die zwischen Kapital und Arbeit ist heute nicht mehr der Polemik so gut wie nichts taugt. dominierende Konflikt. Wir sind den Weg der Konflikt- entschärfung durch Partnerschaft zwischen Arbeitge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bern und Arbeitnehmern gegangen; die Kommuni- der F.D.P.) sten haben den Weg der Konfliktverschärfung durch Vielmehr gibt es in diesem Land Arbeit; es ist eigent- den Klassenkampf beschritten. Das Kapital wurde lich Geld da, und es sind Arbeitskräfte vorhanden. ideologisch wegdefiniert; die Eigentümer wurden Trotzdem gibt es Arbeitslosigkeit. Jetzt geht es doch eliminiert. Die Kommunisten haben gedacht, sie hät- darum, daß wir versuchen müssen, alle drei Kompo- ten damit das Problem gelöst. In Wirklichkeit sind sie nenten auf einen Nenner zu bringen. Natürlich ist das daran gescheitert. Deswegen ist die DDR zusammen Wichtigste das hat Norbert Blüm gesagt —, daß wir mit dem übrigen kommunistischen System zusam- wettbewerbsfähige Arbeitsplätze haben. Das ist rich- mengebrochen. Unsere Lösung, auch in der Zukunft, tig. Aber auf der anderen Seite muß ich doch überle- ist die Soziale, ich füge hinzu — das haben wir in der gen, ob ich nicht intelligente Lösungen finde — ob Sie- CDU beschlossen —: die Ökologische Marktwirt- das „zweiten Arbeitsmarkt" oder sonstwie nennen, ist schaft. Wir wollen darüber hinaus, daß es auch eine ja im Grunde genommen egal , so daß ich bei einer internationale Ökologische, Soziale Marktwirtschaft steigenden Zahl von Arbeitslosen auch diesen Perso- gibt. Das ist die Konzeption, die sich bewährt hat; es ist nen die Möglichkeit der Beschäftigung gebe. Im die Konzeption der Zukunft. „Übergang zum ersten Arbeitsmarkt" — oder wie Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge es nennen wollen — muß man intelligente Lösungen ordneten der F.D.P.) finden, die das ermöglichen. Das haben wir ja getan. Was wir bei der Neufassung des § 249h AFG gemacht haben, Lohnkostenzuschüsse z. B., ist doch genau das, Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr was Sie selber gerade gesagt haben. Aus Arbeitslo- Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel. sengeld wird Lohnkostenzuschuß; aus Arbeitslosen werden Arbeitnehmer, die Jobs verrichten, die sonst Dr. Uwe - Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Meine liegenbleiben würden. Das haben wir getan. sehr verehrten Damen und Herren! In der Bundesre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) publik Deutschland besitzen 10 % der Bürgerinnen und Bürger über 50 % des vorhandenen Geldvermö- Das z. B. ist eine vernünftige Lösung gewesen, und in gens. Andererseits macht gerade das jüngste gemein- dieser Richtung müssen wir weiterarbeiten. same Wort der Kirchen — darauf ist bereits mehrfach Es handelt sich also, Herr Dreßler, nicht um ein hingewiesen worden auf den großen Umfang von kapitalistisches System, wie Sie es an die Wand malen. Armut im reichen Deutschland aufmerksam. Etwa Aber wir wollen auch jenes andere System nicht. Ich 150 000 Obdachlose leben zur Zeit auf der Straße und bin schon aufmerksam geworden bei Ihrer Reaktion weitere 800 000 Menschen in Notunterkünften. 202 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Uwe-Jens Rössel Die Bundesregierung will — das zeigt auch die nur ein Alarmsignal und sollte uns im Bundestag Debatte — ganz offensichtlich an ihrem rigorosen Kurs ernsthaft zu Konsequenzen veranlassen. der Privilegierung der Vermögenden bei gleichzeiti- Für die zunehmende Finanznot der Kommunen ger weiterer Schröpfung sozial- und einkommens- trägt auch der Bund neben den Ländern ein gerüttelt schwacher Bürgerinnen und Bürger festhalten. Die Maß an Mitverantwortung. Mit Steuerrechtsänderun- Bundesregierung will fortsetzen — ich nenne nur das gen seit 1982 hat sich der Bund Mehreinnahmen von Stichwort Abschaffung der Gewerbesteuer — eine über 46 Milliarden DM gesichert, Gleichzeitig wurden Politik des finanziellen und damit auch sozialen und den Kommunen Einnahmemöglichkeiten in einem kulturellen Ausblutens der Kommunen. Umfang von rund 55 Milliarden DM entzogen. (Beifall bei der PDS) Nun will die Regierung auch die Gewerbesteuer Ich pflichte hier ausdrücklich den Ausführungen von weiter demontieren und danach ganz abschaffen. Kollegin Beck von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Damit würde die von der Bundesregierung viel GRÜNEN bei. beschworene kommunale Finanzautonomie wahr- scheinlich in der Tat zu einer Farce und das bisher Meine Gruppe lehnt diese Politik der Bundesregie- enge Band zwischen Rathäusern und Wirtschaft zer- rung ab, eine Politik, die die Reichen immer reicher schnitten werden. Die Kommunen blieben wie bisher und die Armen immer ärmer macht, die auch den zur Anbietung öffentlicher Dienstleistungen ver- Fortbestand kommunaler Selbstverwaltung gefähr- pflichtet, während sich die Unternehmen aus deren det. Sie verlangt statt dessen eine in der Tat grundle- Mitfinanzierung zurückzögen. Das sollte nicht zuge- gende Reform des Finanz - und Steuersystems in der lassen werden. Bundesrepublik, auch um den Sozialstaat zu sichern, indem mehr Steuergerechtigkeit hergestellt wird Nach der Koalitionsvereinbarung sollen die Kom- durch den radikalen Abbau von Steuerprivilegien der munen für den Wegfall der Gewerbesteuer einen dort Reichen und Besserverdienenden sowie durch ent- nicht näher bestimmten Ausgleich erhalten. Offen- schiedene Steuerentlastungen für Bürgerinnen und sichtlich hat die Bundesregierung aber kein realisti- Bürger mit niedrigem Einkommen. sches Konzept, wie das passieren soll. Ich erinnere nur an den heutigen Diskussionsbeitrag von Bundeswirt- Doch die Bundesregierung setzt, wie gesagt, auf das schaftsminister Rexrodt. Ein Hebesatzrecht bei der Gegenteil. Sie boxte im 12. Bundestag die Wiederein- Einkommensteuer kommt doch offensichtlich kaum in führung eines Solidaritätszuschlages durch, wodurch Frage, geht es doch um einen Fehlbetrag — ich greife insbesondere Menschen, die ohnehin wenig Geld in Dr. Schäuble auf — von zumindest 25 Milliarden DM, der Lohntüte haben, immens belastet werden, anstatt der zusätzlich zum bisherigen kommunalen Einkom- nur die sogenannten Besserverdienenden zur Mitfi- mensteueranteil aufgebracht werden müßte und eine nanzierung dieses Transfers des Bundes in die neuen Einbeziehung der Kommunen in die Umsatzsteuer Länder heranzuziehen. würde doch zur Folge haben, daß Bund und Land auf Die Bundesregierung will einerseits die Haushalts- ihren entsprechenden Anteil verzichten. Das scheint konsolidierung fortsetzen, läßt andererseits jedoch zu, mir völlig unrealistisch zu sein. Die Folge dieses ' daß den öffentlichen Kassen durch Steuerhinterzie- Vorschlags wäre wohl eine Anhebung der Mehrwert- hung, Subventionsbetrug und sogenannte Schatten- steuer. Das muß doch entschieden auf Ablehnung wirtschaft jährlich gigantische 130 Milliarden DM stoßen. durch die Lappen gehen. Das ist wahrlich kein Güte- Meine Gruppe verlangt statt dessen eine umfas- siegel für den Wirtschafts- und Finanzstandort sende Reform der Kommunalfinanzierung, die nicht, Deutschland, möchte ich Herrn Rexrodt sagen. wie von der Bundesregierung vorgesehen, ein bloßes (Beifall bei der PDS) Anhängsel einer Unternehmensteuerreform ist, son- dern in der Tat kommunale Selbstverwaltung garan- Die Bundesregierung verschließt weiterhin die tieren kann. Die Gewerbesteuer sollte demzufolge als Augen davor, daß Spekulationsgewinne aus dem eine bedeutende kommunale Einnahme auch langfri- schwunghaft gestiegenen Handel mit sogenannten stig erhalten bleiben und dort, wo möglich, sogar Finanzderivaten — das sind Optionen, Futures u. ä. — schrittweise wiederbelebt werden. nur äußerst lückenhaft besteuert werden. Aus diesen Spekulationsgewinnen könnte gerade so manches für die Aufrechterhaltung des Sozialstaates genommen werden. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- Die Verschuldung der Kommunen nimmt in einem zeit ist um ein gewaltiges Stück überschritten. Ich bitte schwindelerregenden Umfang und Tempo zu. Ende um einen Schlußsatz. 1994 werden die Kreditmarktschulden der Kommu- nen bereits 170 Milliarden DM, fast 20 Milliarden mehr als zum Jahresende 1993, betragen. Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Ich komme zum (Zuruf von der CDU/CSU: Ist Ihre auch Schluß. dabei?) Um die akute Finanznot speziell der Kommunen in Um die Öffentlichkeit auf die prekäre Finanzsituation Ostdeutschland zu mildern, würde ich vorschlagen, aufmerksam zu machen, haben die Stadtmütter und mit dem Haushalt 1995 die bewährte kommunale Stadtväter im thüringischen Gotha dieser Tage die Finanzpauschale für Ostdeutschland in einem Um- städtischen Uhren anhalten lassen. Das ist mehr als fang von rund 5 Milliarden DM wieder aufleben zu Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 203

Dr. Uwe-Jens Rössel lassen. Wir werden dazu in der Haushaltsdebatte Gestern hat Herr Kinkel in Reaktion auf die Rede einen Antrag einbringen. von Herrn Fischer sinngemäß gesagt: Herr Fischer, Sie (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Auch über täuschen sich, wenn Sie den Eindruck erwecken, als die Finanzierung?) drehe sich alles nur um das Thema Umwelt. Ich habe den Eindruck, daß Herr Kinkel die Dimension des — Auch über die Finanzierung. Wir legen die Vor- schläge vor. Themas nicht begriffen hat. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der PDS) Denn das Eigentliche, was mit dem Thema Umwelt, besser gesagt: mit dem Thema Ökologie verbunden Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem ist, ist in einer Welt, die immer unsicherer, immer Kollegen Michael Müller. instabiler geworden ist, die Frage: Wie können wir morgen leben? Das ist der Ke rn der ökologischen Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! Frage. Das ist keine nationale Frage mehr. Das ist eine Meine Damen und Herren! Wir beginnen jetzt mit globale Frage. Insofern sollte man gerade vom Außen- dem Teil Umwelt. Da bin ich in der paradoxen minister verlangen, zumindest erhoffen, daß er wenig- Situation, über ein sehr wichtiges Thema reden zu stens die Dimension des Themas erkannt hat. müssen, aber dafür von der Regierung keine Vorlage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bekommen zu haben. Es gibt dünne Sätze in der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Koalitionsvereinbarung, fast überhaupt keine Aussa- gen in der Regierungserklärung, und dann gibt es Ich glaube, daß die ökologische Frage zwei zentrale noch Frau Merkel. Ich will dabei aber klar sagen: Aspekte jeder modernen Gesellschaft in sich bündelt, Unsere Kritik an dieser Gesetzgebung richtet sich nämlich erstens: Was ist Fortschritt?, und zweitens: nicht gegen Frau Merkel. Die Verantwortung trägt der Wie kann eine Gesellschaft zusammengehalten wer- Bundeskanzler. den? Es handelt sich also einerseits um die Integration (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der sozialen, ökologischen und ökonomischen Fragen DIE GRÜNEN) und andererseits um die Antwort auf die Frage, wie es weitergehen kann. Integration und Fortschritt sind Allerdings, das sei hinzugefügt, führt der Start von demnach die Kehrseiten der ökologischen Frage. Frau Merkel dazu, daß wir ihr keine Schonzeit geben können. Sie hätte eine Riesenchance gehabt, wenn sie Vor diesem Hintergrund muß ich feststellen: Eine erklärt hätte: In dem Streit um Gorleben werde ich alle Regierung, die auf die ökologische Frage keine Ant- Beteiligten an einen Tisch holen und noch einmal über wort gibt, ist auch nicht in der Lage, in der Gesellschaft die Entscheidung nachdenken; das wäre ein Schritt in einen neuen Konsens, eine neue Verständigung zu Richtung auf Zusammenarbeit gewesen. schaffen. Das ist aber das Entscheidende überhaupt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Das hat sie nicht getan. Insofern kann sie auch nicht Eine moderne Gesellschaft, die nicht fähig ist, in mit Schonzeit rechnen. zentralen Fragen einen neuen Konsens zu finden, Das Wichtigste in der Umweltpolitik ist, daß sie kann keine Zukunftsfähigkeit, keine Zukunftsver- durch die Regierungserklärung offenkundig auf ein träglichkeit haben. Ich will dies an einigen Aspekten Nebengleis gestellt wurde. Jetzt wird sogar nicht deutlich machen. einmal mehr verbal das aufrechterhalten, was — — Wir alle müssen uns Sorgen machen, daß wir zunehmend in unserer Gesellschaft in eine Entwick- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, darf ich Sie lung geraten, in der wir zwar immer häufiger Mehr- eine Sekunde unterbrechen. — Meine verehrten Kol- heiten für politische und gesellschaftliche Auffassun- legen da oben im Gang, wenn sie Ihre Gespräche gen über das haben, was wir nicht wollen, aber daß es außerhalb des Plenarsaals führen würden, hätte es kaum noch einen Konsens über das gibt, was notwen- Kollege Müller leichter. dig ist und getan werden müßte. (Beifall bei der SPD) Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Gleichwohl wäre Was ist das eigentlich für eine — Entschuldigung, es für den Kollegen Blüm gut, wenn er noch etwas aber ich will das hier ganz deutlich sagen — perverse mehr von der Ökologie mitbekommen würde. Gesellschaft, die auf der einen Seite von der Klimaka- (Beifall bei der SPD) tastrophe redet, aber auf der anderen Seite nicht Auch das ist nämlich eine soziale Frage, eine zutiefst einmal in der Lage ist, so relativ einfache Fragen soziale Frage. wie eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung durchzusetzen? Was ist das für eine Gesellschaft? ( [CDU/CSU]: Sie reden den ganzen Saal hier leer!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jetzt wird nicht einmal mehr verbal das aufrechter- DIE GRÜNEN — Dr.-Ing. Dietmar Kansy halten, was zumindest in den letzten vier Jahren von [CDU/CSU]: Denken Sie jetzt an Herrn Herrn Töpfer verbal aufrechterhalten wurde, nämlich Schröder?) der Anschein von Umweltpolitik. Das macht es noch — Ich spreche uns alle an, übrigens auch Sie, denn von schwieriger. Ihnen habe ich auch noch nie gehört, wie Sie zu 204 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michael Müller (Düsseldorf) diesem Thema stehen. Geschwindigkeitsbeschrän- immer mehr abfallen oder daß bei uns in der Gesell- kungen sind nicht allein eine technische Entschei- schaft immer mehr Menschen arm werden. Dasselbe dung, sondern es geht dabei um die Frage, ob unsere Prinzip gilt auch für die Ökologie. Wir können es uns Gesellschaft noch zur Rücksichtnahme fähig ist. Das nicht erlauben, daß die Zukunft immer mehr durch ist die entscheidende Botschaft bei einer Geschwin- Ungleichgewichte gefährdet wird. Wir brauchen ein digkeitsbegrenzung — neben dem Ziel, damit auch Mindestmaß an Gleichgewicht, und der Schutz der die Umwelt zu entlasten. Ökologie ist auch nur mit einem Mindestmaß an (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Welche Ge- Gleichgewicht zu erreichen. schwindigkeit schlagen Sie vor?) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich glaube — und das ist Insofern ist dies eine kulturelle Herausforderung. der zweite Punkt —: Die Ökologie ist eine Chance, aus der Krise der Gesellschaften herauszukommen. Ich glaube, daß die Hinwendung zu ökologischen Umweltschutz ist eben nicht nur Schadstoffkon- Zielen auch kulturell eine Riesenchance ist. trolle. Moderne Gesellschaften sind davon geprägt, wie Ralf Dahrendorf das sagt, daß es eine immer größere Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Müller, Option für den einzelnen gibt, aber einen immer gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lip- stärkeren Wertverfall für die Gesellschaft insgesamt. pold? Er spricht von dem Verlust an Ligaturen durch die Zunahme von individuellen Optionen.

Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Immer, klar, ich Dieses Problem, das wir an dem Beispiel der Indivi- bin doch nicht der Herr Rexrodt. dualisierung der Gesellschaft erleben, führt dazu, daß (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist wir als Gesellschaft immer weniger handlungsfähig wahr! — Beifall bei der SPD) sind, obwohl gerade die Gesellschaft das Allgemein- wohl braucht und dort mehr denn je durchgesetzt — Ja, Gott sei Dank. werden müßte. Aus meiner Sicht ist die Ökologie nur machbar, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr wenn jeder sich erstens verantwortlich fühlt und Kollege Müller, nachdem Sie gerade das Tempolimit zweitens jeder zu mehr Solidarität fähig wird. Auch und die Notwendigkeit, daß sich alle bundesdeut- deshalb ist Ökologie ein Prinzip, nach dem Zukunfts- schen Bürger daran halten, angesprochen haben: War probleme gelöst werden können. Ihre Aussage so zu werten, daß dieses eine absolute Absage an den baden-württembergischen Umweltmi- Drittens ist Ökologie immer auch mit Pluralität, mit nister war, der, während er von anderen ein Tempo- vielfältigen kreativen Ansätzen verbunden. limit forderte, mit 180 km/h über die Autobahn Vorhin wurde von Herrn Bundesminister Rexrodt ging? über Marktwirtschaft und Wettbewerb gesprochen. (Widerspruch bei der SPD) Wer sich die Entwicklung auf dem Abfallmarkt DSD hat das entscheidend zu verantworten —, die Entwick- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Lippold, ich lung auf dem Entsorgungsmarkt oder die Entwicklung kann Ihre Frage verstehen. Ich muß Ihnen aber sagen: im Handel ansieht, kann doch nur sagen, daß diejeni- Vor dem Hintergrund unserer globalen Probleme und gen, die heute auf der Regierungsseite sitzen, die unserer ökologischen Herausforderungen finde ich größten Konzentrationsförderer sind. Ihre Politik hat sie absolut kleinkariert. wahrlich nichts mit Wettbewerb zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich komme jetzt wieder zu dem entscheidenden Eine ökologische Politik bedeutet immer Pluralität Ausgangspunkt, daß Ökologie eine Chance aus der von Lösungen. Wir werden keine Energieeinsparwirt- Krise ist: schaft erreichen, wenn wir nicht mehr Pluralität von Erstens. Das Thema Ökologie ist verbunden mit der Antworten und Lösungswegen ermöglichen. Das ein- Leitidee der Dauerhaftigkeit. Jede moderne Gesell- seitige Setzen auf Großkraftwerke wird keine Lösung schaft kann nur existieren, wenn sie Nachhaltigkeit sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-, Atom- oder und Dauerhaftigkeit in ihrer Entwicklung erreicht. andere Kraftwerke handelt. Die Ökologie ist insofern ein entscheidendes Vorbild für die Zukunftsverträglichkeit jeder Gesellschaft, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weil sie nämlich auf Dauerhaftigkeit aufgebaut ist. DIE GRÜNEN) Das ist das erste Prinzip. Dies bedeutet einen anderen Umgang mit Kreativität, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit Pluralität. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, diese ökologischen Zweites Prinzip ist: Ökologie funktioniert nur auf Ideen müssen vor allem vor dem Hintergrund der sich der Basis von Gleichgewicht. Die entscheidenden dramatisch zuspitzenden globalen ökologischen Pro- Zukunftsherausforderungen für jede Gesellschaft bleme und der wachsenden Zwänge aus der Interna- sind die wachsenden Ungleichgewichte — beispiels- tionalisierung der Ökonomie gesehen werden. Meine weise die sozialen Ungleichgewichte. Wir können es Kollegin Fuchs hat völlig zu Recht darauf hingewie- uns auf Dauer nicht leisten, daß zwei Drittel der Welt sen, daß vor dem Hintergrund des Ungleichgewichtes Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 205

Michael Müller (Düsseldorf) auf den Weltmärkten Sozial- und Umweltdumping ern. Das ist eine völlig andere Philosophie, in den dramatisch zunimmt. Dadurch stehen wir im Grund- Strukturen der Energieeinsparung, also der Vermei- satz vor zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen uns dung von Kraftwerken zu denken als in den alten den Zwängen eines zunehmend ungleichen ungere- „Höher-Schneller-Weiter-Vorstellungen". gelten Weltmarktes an — mit allen Konsequenzen für soziale Leistungen oder für Umweltschutz —, oder wir (Beifall bei der SPD und der PDS) versuchen, den Weltmarkt und die Volkswirtschaft über ökologisch-soziale Reformen zu gestalten. Es Das ist ökologisch und ökonomisch auf jeden Fall der wird keinen dritten Weg geben. sinnvollere Weg, der auch in der Bundesrepublik möglich ist; man muß es allerdings wollen. (Beifall bei der SPD) Wenn man es allerdings — so wie dies meist bei Dies erfordert vor allem mehr Politik. Dies kann Ihnen diskutiert wird — bei der Alternative „Kohle nicht Deregulierung heißen. Das ist völliger Unsinn, oder Kernenergie" beläßt, wird man natürlich zu denn es geht um die Beseitigung von Fehlregulierun- keinem Ergebnis und Konsens kommen. Wir kämpfen gen. Natürlich haben wir heute ein viel zu hohes Maß nämlich an völlig falschen Fronten. Wir müssen statt an Bürokratisierung und Schwerfälligkeit in Staat und dessen dafür sorgen, Strukturen zu schaffen, unter Verwaltungen. Aber umgekehrt: Wie soll eine Gesell- denen wir möglichst optimal die Energieeinsparpo- schaft angesichts dieser Herausforderungen ohne tentiale, die in der Bundesrepublik bei fast 50 % eine Institution existieren, die das Allgemeinwohl liegen, mobilisieren und umsetzen können und damit formuliert und durchsetzt? neue Arbeitsplätze schaffen und auch die Märkte der Das Problem ist, daß unsere heutigen Regulierun- Zukunft öffnen können. Die Märkte der Zukunft gen im wesentlichen aus Philosophien vergangener werden nicht ineffiziente Großkraftwerke sein, son- Jahrhunderte stammen. Beispielsweise steht unser dern es werden intelligente, angepaßte, effiziente Umweltrecht in der Tradition des Preußischen Land- Systeme sein. rechts mit dem Glauben, man könne jederzeit die Kette zwischen Ursache und Wirkung unterbrechen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und damit die Probleme lösen. DIE GRÜNEN) Was wir brauchen, ist eine moderne, zielorientierte, Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das auch die Probleme von Anfang an lösende Philosophie der noch an einem zweiten Beispiel deutlich machen. Wir Regulierung. Das bedeutet, daß wir von vornherein werden die Klimaprobleme, die vielleicht größte beispielsweise zu Kreisläufen in der Chemie kommen Menschheitsherausforderung, nur lösen können, müssen oder Energieeinsparungen direkt wieder auf wenn wir uns von den alten Denkkategorien lösen. die Investitionsentscheidungen verlagern und diese Alle weltweiten Szenarien, auch die, die auf eine Ziele nicht erst am Ende dem Staat aufbürden. Dies ist ungeheure Erweiterung der Atomenergiekapazitäten die entscheidende Herausforderung. setzen, kommen nicht zu der für das Klima notwendi- gen Reduktion der Kohlendioxidemissionen, Grund: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie bleiben ganz einfach in der Logik eines ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schwenderischen Energiesystems. Meine Damen und Herren, dies ist eine Idee, die in vielen Ländern bereits weithin konkretisiert wird. (Beifall bei der SPD) Man hat allerdings den Eindruck, daß sie in der Die weltweiten Klimaprobleme sind nur zu lösen, Bundesrepublik von großen Teilen vor allem derjeni- wenn wir auch intellektuell begreifen: Wir müssen gen, die politische Verantwortung tragen, noch gar weg von einer Politik, die immer nur über einen nicht begriffen wurde. Energiemix diskutiert, bei der es also nur um die Frage Ich möchte ein Beispiel nennen: Das größte ameri- geht, welche Energieträger angeboten werden, und kanische Energieunternehmen, die Gas and Electric hin zu einer Politik, die fragt: Wie kann der Einsatz von Pacific, praktiziert eine Investitionspolitik, die lautet: Energie unter dem Gesichtspunkt der Restenergie Vor jeder Investitionsentscheidung des Unterneh- gesehen, also stetig minimiert werden? mens wird abgewogen ob das Geld, das ausgegeben werden soll, statt für den Zubau nicht sehr viel (Beifall bei der SPD) sinnvoller für die Energieeinsparung, die Solarener- gie oder die Effizienzsteigerung eingesetzt werden Das ist auch für die Entwicklungspolitik und die sollte. Industriepolitik der beste Ansatz. Es gibt nirgendwo (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein so günstiges Verhältnis zwischen Kapitaleinsatz und Arbeitsplatzeffekten wie bei Energieeinsparin- Die Folge dieser Denkweise ist, daß dieses Energie- vestitionen. Nirgendwo sind die Beschäftigungsim- unternehmen bis zum Jahr 2010 den prognostizierten pulse so hoch wie hier. Dafür müssen allerdings die Zuwachs weitgehend durch Energieeinsparung ab- politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. decken kann. Die Konsequenz innerhalb des Unter- Es wird nicht reichen, alles so zu lassen wie bisher und nehmens war, daß es seine Abteilung für Kraftwerks- nur ein bißchen mehr von Energieeinsparung zu planung aufgelöst hat. Das größte Energieunterneh- reden. Wir stehen in den nächsten Jahren vor großen men der USA plant keinen Zubau von Kraftwerken Herausforderungen. Wir werden vor dem Hinter- mehr, sondern will die Entwicklung über den Ausbau grund, vor allem der globalen Gefahren konstruktiv der Effizienz, über die Erhöhung von Energieeinspa- mitarbeiten. Aber wir werden klar sagen, was wir rung und durch die Förderung der Solarenergie steu- wollen. 206 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michael Müller (Düsseldorf) Vielen Dank. Schritt war. Seien Sie ehrlich, Sie wollten mir keine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Chance geben. Ich werde sie mir selber geben. Tun DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie nicht so, als hätten Sie es bei einer anderen PDS) Entscheidung in der Frage des Castor-Transports getan. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Meine verehrten Kolle- ginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen zunächst eine Meine Damen und Herren, Umwelt und Technik, Information geben. Die Parlamentarischen Geschäfts- Naturschutz und Nutzung der Ressourcen, Umwelt führer haben sich darauf geeinigt, daß wir diesen und Wettbewerb — dies alles sind für mich verschie- gesamten Themenbereich, der die Landwirtschaft dene Seiten je einer Medaille und sich nicht ausschlie- einschließt, zu Ende debattieren. Das bedeutet, daß ßende Bereiche. Umweltpolitik zeigt doch mehr als wir zu der namentlichen Abstimmung über den Ent- andere Bereiche der Politik, daß nationale Anstren- schließungsantrag der Fraktionen von SPD und gungen allein nicht weiterhelfen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schätzungsweise gegen Die globale Verantwortung muß Ausgangspunkt 14.15 Uhr, 14.20 Uhr kommen werden. Ich sage das unseres politischen Denkens und Handelns sein, und auch für die Kolleginnen und Kollegen, die der die Bundesregierung hat dies durch die Konferenzen Debatte im Moment nur an den Lautsprechern in ihren von Rio und des GATT — ich möchte diese nur als Büros folgen können. Beispiel nennen — in beispielhafter Weise gezeigt. Ich erteile als nächster der Kollegin Michaele Insbesondere Klaus Töpfer als mein Vorgänger war Hustedt das Wort. hier Motor einer internationalen Entwicklung. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge DIE GRÜNEN]: Wieso? Erst die Bundesregie- ordneten der F.D.P.) rung!) Frau Fuchs, ich wundere mich schon, wenn Sie und — Verzeihung. Man darf sich auch einmal irren. Ich Herr Müller hier immer wieder sagen, daß wir die erteile das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Menschen gemeinsam zu neuen Wegen bringen müs- Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Mer- sen, auf der anderen Seite Sie aber nichts weiter zu tun kel. haben, als Fortschritte auf einem richtigen Weg zu diskreditieren und in Abrede zu stellen, obwohl Sie Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, nicht einmal daran mitgearbeitet haben. Das finde ich Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! abenteuerlich. Ich kann nur sagen, daß das auch von Meine Damen und Herren! Im Art. 20a des Grundge- einer gewissen Arroganz zeugt; denn die letzte Kon- setzes ist am Ende der vergangenen Legislaturperiode ferenz zum Artenschutz in Fort Lauderdale hat uns der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als wieder einmal gezeigt, was wir immer wieder erleben: Staatsziel aufgenommen worden — ein großer Fort- Nicht wir sind diejenigen, die alles besser wissen, schritt, der überparteilich erzielt wurde — — sondern wir müssen mit den anderen Völkern gemein- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sam Wege zum Nutzen unserer Umwelt gehen und DIE GRÜNEN — Joseph Fischer [Frankfurt] ihnen nicht etwas vorbestimmen, so wie sich das bei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Ihnen heute angehört hat. Widerstand der CDU/CSU-Fraktion!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge — Meine Damen und Herren, niemand wird bestrei- ordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD) ten, daß Grundgesetzänderungen nur überparteilich - Was heißt, Verantwortung für unsere Umwelt wahr- und selbstverständlich niemals gegen die CDU/CSU nehmen? Richtig ist, wenn es als erstes heißt: sparsa- durchgeführt werden können. Trotz Bedenken ist uns mer Verbrauch der Ressourcen. das gelungen, und ich halte das für einen ganz wichtigen Schritt. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie ist das mit dem Tempo Meine Damen und Herren, dieses Staatsziel muß limit?) jetzt durch Gesetze, Verordnungen sowie politisches und gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden. — Lassen Sie mich erst einmal ausreden, Herr Ich kann für die Bundesregierung sagen: Wir wer- Fischer. den das Prinzip der umweltgerechten und nachhalti- Die Bundesregierung bekennt sich dazu auch im gen Entwicklung Schritt für Schritt und mit den Koalitionspapier: Wärmeschutzvorschriften, die Ent- Menschen, Frau Fuchs, so, wie wir es gefordert haben, wicklung eines Fünfliterautos, konkret einer Auto- zum Maßstab unseres Handelns machen. flotte, die im Durchschnitt aller neuen Autos fünf Liter Die vergangenen Tage allerdings haben mir verbraucht. Auch das ist heute wieder in abenteuerli- gezeigt: Umweltpolitik darf dem Streit nicht aus dem cher Weise falsch interpretiert worden. Es geht um Wege gehen, aber Umweltpolitik wird aus meiner neue technische Effizienz, um neue und bessere Sicht nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht Kon- Wirkungsgrade in allen technischen Bereichen. Das frontation um jeden Preis sucht. ist Sparsamkeit in bezug auf Ressourcen, und dieser Lieber Herr Müller, Sie haben hier scheinheiliger- Aufgabe werden wir uns stellen. weise so getan, als hätten Sie mir eine Chance geben Wer aber den Menschen weismachen will, allein wollen. Sie haben noch vor meiner Ernennung zum durch Sparen sei es möglich, eine ökologisch sinnvolle Bundesminister bereits erklärt, daß dies ein falscher Politik zu betreiben, der lügt. Ich meine, es ist ganz Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 207

Bundesministerin Dr. Angela Merkel unabweisbar und wichtig, daß wir zu Energiekonsens- Frau Fuchs hat uns geziehen, wir würden die CO2 gesprächen kommen und uns nicht gegenseitig Belastung nicht senken wollen, was der Realität bezichtigen und beschuldigen. überhaupt nicht entspricht. Tun Sie nicht so, als An dieser Stelle lassen Sie mich nach den Erlebnis- bestünden Gefahren nur in einer Richtung. sen der letzten Tage folgendes bemerken.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Bundesministerin, Vizepräsident Hans Klein: Frau Bundesministerin, es gibt hier, soweit ich es erkennen kann, vier Zwi- darf ich Sie für eine Minute unterbrechen. schenfragebegehren. Wenn es die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon für richtig halten, hier in Maskerade zu erscheinen, was in diesem Haus nicht üblich ist Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, — Sie können sich ja bei dem Kollegen Fischer Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident, erkundigen, ob er es zum stellvertretenden hessischen die Vertreterinnen und Vertreter der Oppositionsfrak- Ministerpräsidenten mit Hilfe solcher Kinkerlitzchen tionen haben sich in den vergangenen Tagen häufig oder mit anderen Mitteln gebracht hat —, beschwert, sie hätten bisher keine Beiträge von mir gehört. Sie sollen hierzu heute die Chance bekom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und men. Dann haben wir noch vier Jahre Zeit, miteinan- der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] der zu diskutieren. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Turnschuhe waren nicht schlecht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wenn Sie sich also schon so verkleiden und das für gut ordneten der F.D.P.) oder interessant oder was auch immer halten, dann Meine Damen und Herren, das Ordnungsrecht wird müssen Sie sehen, daß die Rückseite auf irgendeine auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Umwelt- Weise ins Fernsehen kommt, aber nicht dadurch, daß politik sein. Die, die das Umweltrecht mit dem Preu- Sie dem Redner den falschen Körperteil zukehren. ßischen Landrecht verbinden, haben noch Chancen, Sonst ist nicht klar, womit Sie zuhören. auch auf anderem Weg voranzukommen. Aber Ord- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und nungsrecht wird wichtig sein. Das Bodenschutzgesetz der F.D.P. — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/ muß erarbeitet werden; das Naturschutzrecht muß CSU]: Das ist bei denen der wichtigste!) fortentwickelt werden. Bitte fahren Sie fort. Aber: Ich glaube, wir sind uns einig, daß die eigentliche Weiterentwicklung darin bestehen muß, daß wir die Soziale Marktwirtschaft um eine ökolo- Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, gische Komponente erweitern. Naturschutz und Reaktorsicherheit: Meine Damen (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: und Herren, lassen Sie mich fortfahren. Sehr gut!) Wenn es um den Energiekonsens und die Gesprä- Diesen Weg sind die CDU/CSU und die Koalition in che dazu geht, bitte ich auch hier um eine redliche der vergangenen Legislaturperiode Schritt für Schritt Argumentation. Sie als Sozialdemokraten haben zu gegangen. Nur so — das ist meine tiefe Überzeugung; einem bestimmten Zeitpunkt den Energiekonsens ich bin in der Planwirtschaft aufgewachsen — werden aufgekündigt. Sie drücken sich heute vor den Fragen wir den eigentlichen Umbau unserer Gesellschaft der Entsorgung bei den Kernkraftwerken. Sie argu- gestalten und schaffen. Er wird zu Deregulierungen mentieren unredlich, wenn Sie die kerntechnischen führen, das ist richtig. Aber er wird vor allen Dingen Risiken in der Bundesrepublik Deutschland in den - auch zu mehr Eigenverantwortung und Selbstkon- Mittelpunkt stellen. Warum eigentlich fordern Sie und trolle führen. So wie wir im sozialen Bereich gute die GRÜNEN die Demonstranten in Gorleben nicht Erfahrungen damit gemacht haben, werden wir es auf, einmal mit uns gemeinsam etwas dafür zu tun, auch im ökologischen Bereich tun. Das heißt: Wir daß die Kernkraftwerke in Rußland und Mitteleuropa werden Umweltaspekte verstärkt in das Steuerrecht sicherer werden? Do rt liegen die Gefahren. einbringen; wir werden erweiterte Abschreibungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) möglichkeiten haben; wir werden Subventionen Ich bitte Sie, da Initiativen zu ergreifen. Dann disku- abbauen, die heute dem Umweltschutz entgegenste- tieren wir über die eigentlichen Dinge. hen; wir werden mehr private Initiativen haben, so wie das schon heute bei 40 Kläranlagen an der Elbe Zweitens. Bei den Energiekonsensgesprächen, die realisiert wird. wir hoffentlich wieder aufnehmen werden, Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ — deshalb, Herr Müller, verstehe ich die Bemerkung DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das denn zum Preußischen Landrecht überhaupt nicht — aufgeschrieben?) bitte ich Sie auch darum, daß Sie mit den Menschen (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Der weiß nicht nur über die Risiken von Kernkraftwerken, die doch gar nicht, was das ist!) natürlich verantwortungsvoll diskutiert werden müs- mit der Verpackungsverordnung und dem Kreislauf- sen, sondern auch über den CO2-Ausstoß bei der wirtschaftsgesetz wesentliche Schritte in Richtung Energiegewinnung aus Kohle sprechen, da auch hier einer vollkommen neuen Entwicklung in der Umwelt- sehr wohl Gefahren liegen. politik getan. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]) 208 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Sie wissen es, aber Sie sagen es nicht — und das macht in denen die Ökologische und Soziale Marktwirtschaft uns die Sache so schwer, wenn wir mit den Bürgerin- unter Beweis gestellt wird. nen und Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/ diskutieren. Ich fordere Sie auf, im Sinne Ihrer Ver- CSU]) antwortung diese Dinge so zu benennen, wie sie sind. Ich freue mich ganz besonders darüber, weil es hier gelungen ist, die gesamte Bundesrepublik moderner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu machen, und das in einem Gebiet, in dem verhee- ordneten der F.D.P. — Joseph Fischer rende Schäden an der Umwelt angerichtet wurden. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, diesen Weg müssen wir in ganz Deutsch- Schlecht!) land konsequent weiter beschreiten. Dann wird näm- Eigenverantwortung in der Ökologischen und lich die deutsche Einheit nicht nur eine Last sein, wie Sozialen Marktwirtschaft wird auch ermöglichen, daß man es manchmal heute hört, sondern sie wird etwas Selbstverpflichtungen der Wirtschaft bei gleichen sein, was uns allen in Ost und West Fortschritt bringt Anforderungen in der Sache — das unterstreiche und was uns gemeinsam voranbringt. ich — Vorrang haben. Wir werden diesen Weg wei- (Beifall bei der CDU/CSU) tergehen — in den Bereichen Altautos, Elektronik- schrott, Batterien —, wenn es um die Verordnungen Umweltpolitik wird auch in den nächsten Jahren im im Zusammenhang mit dem Kreislaufwirtschaftsge- Widerstreit mit kurzfristigen Interessen einer ver- setz geht. meintlich schnelleren Entwicklung liegen. Deshalb werden die vereinten Anstrengungen aller Politiker (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ benötigt, die sich dem Umweltschutz verpflichtet DIE GRÜNEN]: Da sind wir mal gespannt!) fühlen. Ich lade Sie ein, kritische, aber konstruktive Meine Damen und Herren, es geht auch um ein und kreative Umweltpolitik zum selbstverständlichen modernes Verständnis von Naturschutz. In diesen Bestandteil unseres Handelns zu machen. Ich freue Tagen beginnt die erste Konferenz der Vertragsstaa- mich meinerseits auf die zukünftige Zusammenarbeit. ten der in Rio gezeichneten Konvention zum Schutz Ich denke, Sie werden die Freude langsam mit mir der biologischen Vielfalt. Neben dem Erhalt und teilen. Schutz der Artenvielfalt sind hier zum erstenmal auch Herzlichen Dank. die nachhaltige Nutzung eben dieser Artenvielfalt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und die gerechte Verteilung der daraus gewonnenen Erträge zur Diskussion gestellt worden. Ich denke, wenn wir auf diesem Wege eines moder- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- nen Naturschutzverständnisses vorangehen, muß es ordnete Michaele Hustedt. auch möglich sein, das Naturschutzrecht bei uns im Lande zu verbessern. Dann werden wir auch die Möglichkeit eröffnen, für Landwirtschaft und Natur- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schutz Wege zu finden, die der gesamten Ökologie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Frau helfen. Merkel komme ich später. Ich möchte mit Herrn Bundeskanzler Kohl anfangen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie war das mit der Land (Lachen bei der CDU/CSU) -wirtschaftsklausel?) Wie seltsam bescheiden sind Sie auf einmal in Ihren Meine Damen und Herren, eine ökologische Kom- umweltpolitischen Äußerungen in der Regierungser- ponente in der Marktwirtschaft — Ökologische und klärung geworden. Früher hörte sich das völlig anders Soziale Marktwirtschaft — bedeutet nicht nur eine an. Ich zitiere aus Ihrer Rede auf dem Erdgipfel in Verbesserung des Lebensstandorts Bundesrepublik Rio: Deutschland, sondern eben auch eine Verbesserung Deutschland hat als erstes großes Industrieland des Wirtschaftsstandorts Deutschland. für das Jahr 2005 das Ziel einer Reduzierung der Wir haben es in der Bundesrepublik Deutschl and in CO2-Emissionen um 25 bis 30 Prozent beschlos- Bereichen der Umwelttechnik schon heute zu einem sen. Wir sehen dies als Signal für ein gemeinsa- Weltmarktanteil von 21 % gebracht. mes Vorgehen aller Industriestaaten. Ich lade zur ersten Folgekonferenz der Klimaschutzkonven- (Beifall der Abg. Dr. Renate Hellwig [CDU/ tion nach Deutschland ein. CSU]) Ich frage Sie: Wo ist der nationale Maßnahmenka- Aber niemand darf denken, daß wir uns hier auf talog zur Durchsetzung dieses Zieles? dem Erreichten ausruhen können und dürfen. Japan (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und die USA haben gemeinsam zu einer Umwelttech- nologieoffensive aufgerufen, um bis zum Jahr 2000 Wo war Ihr Handeln in Genf? Was haben Sie mit der Deutschlands Spitzenstellung in der Welt zu brechen. EU-Präsidentschaft durchgesetzt? Wir dürfen nicht nachlassen, unseren Spitzenplatz zu Von den starken Worten, mit denen Sie die Welt behaupten, um langfristige und dauerhafte Arbeits- nach Berlin eingeladen haben, ist nichts, aber auch plätze im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in gar nichts übriggeblieben. unserem Lande zu haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben in den neuen Bundesländern in den sowie bei Abgeordneten der SPD und der letzten Jahren vielleicht die besten Projekte gehabt, PDS) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 209

Michaele Hustedt Mit der Koalitionsvereinbarung und der Regie- — Eine gute Frage! In der Abfallpolitik ziehen Sie sich rungserklärung verabschiedet sich die Bundesregie- auf den Vorwand der Selbstverpflichtung der Wirt- rung nun endgültig von der Aufgabe, den Treibhaus- schaft zurück, anstatt die Produktverantwortung kon- effekt zu begrenzen. Es fehlt das Reduktionsziel. Es sequent durchzusetzen. Im Verkehrsbereich fällt fehlen konkrete Initiativen für die Klimakonferenz in Ihnen nur die Senkung des durchschnittlichen Ben- Berlin. Es fehlt das Ziel, Energie zu reduzieren. Es zinverbrauchs ein. Gleichzeitig planen Sie das größte fehlt die Entschlossenheit, die Sonnenenergie zu för- Straßenbauprogramm in der Geschichte der Bundes- dern. Und Herr Rexrodt blockiert gegen die republik Deutschland! Beschlüsse seiner eigenen Partei die ökologische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerreform. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie setzen nur auf Risikotechnologien wie Gentechno- sowie des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) logie und Atomkraft. Und Ihr Hauptpunkt auf der Das ist überhaupt kein Zufall, sondern hat Methode. Tagesordnung Umweltpolitik in den Koalitionsver- Inzwischen ist deswegen der anfängliche internatio- einbarungen ist die Deregulierung der Genehmi- nale Enthusiasmus über die Vorreiterrolle durch gungsverfahren. Auch wir sind nicht dafür, daß Ernüchterung abgelöst. Die Angeberei ohne Konse- Bürokraten die Akten unnötig lange hin- und her- quenzen demontiert die Dynamik des internationalen schieben. Aber Deregulierung bedeutet bei Ihnen Klimaschutzprozesses aufs schwerste. Nebenbei wird bisher lediglich den Abbau von Beteiligungsrechten damit noch eine neue Facette in das negative Bild von von Bürgerinnen und Bürgern. Das machen wir nicht den Deutschen eingefügt. Wenn die Klimakonferenz mit. in Berlin keinen Erfolg zeitigt, tragen Sie mit Schuld, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Bundeskanzler. sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) PDS) Meine Damen und Herren, an dem Credo der Ich möchte daran erinnern: Beim Klimaschutz geht es mindestens um den Erhalt der zivilen Gesellschaft. Bundesregierung für die Atomenergie sind die Ener- Wir haben nur diesen einen Planeten. Wir — das sage giekonsensgespräche gescheitert. Töpfer ist als ich auch als Mutter einer kleinen Tochter — haben Musterknabe der Atomlobby aufgetreten und damit diese Erde von unseren Kindern nur geborgt. Wir weit über das Ziel eines Musterschülers der gesamten werden uns dafür einsetzen, daß sich dieser Bundes- Energieindustrie hinausgeschossen. Auch die Bretter, tag damit auseinandersetzt. Wir werden uns dafür die man vor dem Kopf hat, können eben die Welt bedeuten. einsetzen, daß Deutschland den Entschließungsan- trag der Inselstaaten unterschreibt und sich damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch vor den Augen der Welt verbindlich auf das Ziel Frau Merkel, Herr Kohl, nun ist es wieder soweit: Sie der Reduktion der Treibhausgase festlegt. müssen Ihre Pro-Atompolitik mit Gewalt gegen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bürger und Bürgerinnen durchsetzen. Vorläufig konnten Sie noch durch die Gerichte gestoppt werden. Auch ich weiß: In den Regierungsfraktionen gibt es Aber ich warne Sie: Wer Wind sät, wird auch wieder Mitglieder, die den Klimaschutz sehr ernst nehmen. Widerstand ernten. Doch sie sind in der Minderheit. Ich appelliere an Ihr Gewissen, fraktionsübergreifenden Anträgen z. B. zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Förderung der Sonnenenergie zuzustimmen. Für Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich auch vor den Deutschlands Rolle in der Welt ist nicht zuallererst der deutschen AKWs nicht sicher, und die Mehrheit der UN-Weltsicherheitsrat entscheidend, sondern der Bevölkerung ist gegen die Atomkraft. Ein Konsens Nachfolgeprozeß von Rio, u. a. die Berliner Konferenz ohne Atomausstieg ist deshalb kein Konsens. zum Klimaschutz. Nicht Militär ist entscheidend, son- dern die ökologische Innovation. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- PDS) SES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind die drittstärkste Im Umweltschutz bedeutet Stillstand Rückschritt: Der Kraft. Ohne uns gibt es keinen Konsens, der belastbar Wald stirbt weiter, das Ozonloch wird größer, die und tragfähig ist. Das sage ich auch ganz deutlich in Allergien nehmen weiter zu. Deshalb ist das, was die Richtung der SPD und von Herrn Schröder: Bundesregierung betreibt, eine ökologische Gegenre- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ formation. DIE GRÜNEN]: Wo ist der denn?) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ein Konsens ohne Atomausstieg und ohne Einstieg in SES 90/DIE GRÜNEN) eine Energiewende ist mit uns, mit den Umweltver- Frau Merkel, Sie wollen das Naturschutzgesetz bänden und sicherlich auch mit den Gewerkschaften schon seit acht Jahren novellieren, tun es aber nicht zu haben. nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sowie bei Abgeordneten der PDS) DIE GRÜNEN]: Warum nicht? Wegen der Wenn Sie — wie Sie das in Ihren Koalitionsverein- Landwirtschaftsklausel!) barungen aufgeschrieben und hier auch einmal 210 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Michaele Hustedt benannt haben — wirklich Konsensgespräche wollen, Sie müßten sich mit Herrn Wissmann, Herrn Rexrodt fordere ich Sie auf, als ersten Schritt sofort die Bun- und letztlich auch mit Herrn Kohl öffentlich anlegen. desweisung für die Einlagerung von Atommüll in das Die Alternative ist, daß Sie sich endgültig zur pflege- Zwischenlager von Gorleben zurückzuziehen. leichten Alibiministerin machen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn Sie nicht aufpassen, Frau Merkel, wird es sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ihnen dabei wie Herrn Töpfer ergehen: vom aner- PDS) kannten Minister zum Ankündigungsminister. Statt Das ist eine überflüssige politische Provokation. Die im Rhein zu schwimmen, badet er jetzt im Schürmann Lager in Philippsburg sind nicht voll. Sie wollen das Bau. ungelöste Problem der Endlagerung radioaktiver (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abfälle durch die Hintertür lösen. Ich fordere alle sowie bei Abgeordneten der SPD) Mitglieder der die Bundesregierung tragenden Frak- Hoffentlich, Frau Merkel, gehen Sie nicht unter. tionen auf, dem gemeinsamen Antrag von SPD und Ihnen und uns steht beim Umweltschutz das Wasser BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen. Geben Sie bis zum Hals. Frau Merkel, ich wünsche Ihnen Rück- Ihre Blockadepolitik in der Energiepolitik endlich grat. Sie werden es bitter brauchen. auf! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) PDS) Frau Merkel, jetzt komme ich zu Ihnen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin Sie werden in Ihrem neuen Amt sehr viele Daten und Birgit Homburger das Wort. Fakten auf den Tisch bekommen, die schnelles und entscheidendes Handeln dringend anraten. Wir brauchen eine Abfallpolitik, die endlich die Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Vermeidung zur Priorität macht und die mit einer Damen und Herren! Ich wundere mich schon darüber, anderen Produktpolitik an den Ursachen ansetzt. Wir was heute morgen hier und da über die Koalitions- brauchen eine Wende in der Energiepolitik, die den vereinbarung im Umweltbereich gesagt wurde, auch Atomausstieg mit einer Effizienzrevolution und der von Ihnen, Frau Fuchs. Sie sagten, darin stehe: Wir Förderung der Sonnen- und Windenergie verknüpft. nehmen Umweltschäden in Kauf. Das steht da nir- Wir brauchen eine Wende in der Verkehrspolitik, die gends. Wenn Sie die Vereinbarung richtig lesen, auf Busse und Bahnen und die Veränderung der werden Sie feststellen, daß diese Koalitionsvereinba- Siedlungsstrukturen setzt und eine Mobilität ohne rung ein Durchbruch für die ökologische Marktwirt- Auto ermöglicht. Wir brauchen eine ökologische schaft ist. Steuerreform, auch im nationalen Alleingang, damit (Beifall bei der F.D.P. — Lachen bei der SPD finanzielle Anreize zur Vermeidung von Umweltschä- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den entstehen. — Hören Sie erst einmal zu! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Frau Merkel, als Ministerin aus Ostdeutschland DIE GRÜNEN]: Bleiben Sie ruhig!) erwarten wir von Ihnen zumindest, daß Sie sich dafür einsetzen, daß die fünf neuen Bundesländer nicht die — Zu Ihnen komme ich noch, Herr Fischer. Warten Sie Müllkippe dieser Nation werden. - erst einmal ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Es kann einfach nicht angehen, daß wir in West- DIE GRÜNEN]: Heilig's Blechle!) und Ostdeutschland zweierlei Umweltstandards und Unser Konzept der ökologischen Marktwirtschaft zweierlei Bergrecht haben. nutzt nämlich die Kräfte des Marktes durch ehrliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Preise für den Umweltverbrauch. Sie setzt auch auf die Eigenverantwortung der Wirtschaft für umweltge- Auch wenn die DDR ein Umweltsünder ohneglei- rechtes Verhalten und auf besseren und kosteneffi- chen war, deutsche Einheit verwirklichen heißt auch: zienteren Umweltschutz durch mehr Wettbewerb. gleiches Recht auf eine intakte Umwelt. Aufbau Ost heißt vor allem: die Chancen nutzen, um eine ökono- Wir wollen, daß die Instrumente der ökologischen mische Entwicklung auf der Basis umweltverträgli- Marktwirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt eingesetzt cher Strukturen zum Erfolgskonzept zu machen und werden. Deshalb hat die F.D.P. durchgesetzt, daß in Ostdeutschland als Vorbild für die Ökonomie der dieser Legislaturperiode durch praxisbezogene Pilot- Zukunft zu entwickeln. projekte weitere marktwirtschaftliche Instrumente Wenn Sie Ihr Amt wirklich ernstnehmen sollten, erprobt werden. Frau Merkel, können Sie nicht mehr die Lieblings- (Beifall bei der F.D.P.) ministerin des Herrn Kohl bleiben. Die F.D.P. wird dazu bald konkrete Vorschläge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen. Auch die Enquete-Kommission „Schutz des sowie bei Abgeordneten der SPD und der Menschen und der Umwelt" arbeitet in diese Rich- PDS — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- tung. Sie werden schon noch merken, daß wir Liberale NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) dafür sorgen werden, daß Entwicklung und Einsatz Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 211

Birgit Homburger marktwirtschaftlicher Instrumente zu einem zentralen er zu erwarten hat, nämlich Stoffflußwirtschaft, Gän- Thema dieser Legislaturperiode werden. gelung, mehr Staat, mehr Bürokratie und damit auch mehr Monopole. Das ist Ihre Art der Umweltpolitik. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU — Detlev von Larcher Wir verfolgen weiter mit Nachdruck das Ziel einer [SPD]: Das ist Ihr Vorurteil!) europäischen CO2 - /Energie - Steuer, die allerdings aufkommensneutral sein muß. Wir wollen die Unter- Ich weiß, daß Ihnen das zu wenig ist. Aber, Frau nehmen an anderer Stelle steuerlich entlasten. Hustedt, wenn Sie den ehemaligen Umweltminister Töpfer hier als Ankündigungsminister angreifen, Wenn aber SPD und GRÜNE davon reden, dann dann schauen wir uns doch bitte erst einmal an, was meinen sie eine Steuererhöhung zur Finanzierung Ihr Herr Fischer von den GRÜNEN in Hessen gemacht staatlicher Subventionen ohne Ausgleich an anderer hat. Stelle. Das ist etwas anderes. Das ist mit uns nicht zu (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Gar machen. nichts!) (Beifall bei der F.D.P. — Detlev von Larcher 1991 wollten Sie den Abfallentsorgungsplan Hes- [SPD]: Hören Sie lieber zu, wenn wir sen ändern. Nachdem die Bundesregierung im Juni reden!) 1993 die Grundlagen mit der TA Siedlungsabfall Wir wollen die Abgabenquote senken und nicht gelegt hatte, haben Sie Ende des Jahres unter Miß- erhöhen. Wir wollen Ökonomie und Ökologie in achtung der gesetzlichen Vorgaben einen Teilplan I Einklang bringen. Die Diskussion über die CO2-/ vorgelegt. Der Main-Kinzig-Kreis sowie die Land- Energie-Steuer und deren Ausgestaltung zeigt mei- kreise Gießen, Wetterau und Marburg können ein nes Erachtens klar, wie Sie von der SPD den Wirt- Lied von Ihrer Umweltpolitik in Hessen singen. In schaftsstandort Deutschland verunsichern und ka- diesem Teilplan I zur Abfallentsorgung sagen Sie puttmachen. zwar, daß die Entsorgungskapazität in jenen Land- kreisen zu Ende geht. Sie sagen diesen Landkreisen Das gilt auch für Ministerpräsident Schröder, der aber nicht, wie sie die Entsorgung bewerkstelligen hier heute morgen eine Abwrackprämie neu auslobte. sollen. Sie haben gleichzeitig ein Verbot des Haus- Das ist nichts anderes als ein kurzfristiges Anheizen müllexports erlassen und die erste Klage des Main- einer Kaufwelle, aber kein Instrument der Wirtschafts- Kinzig-Kreises gleich verloren. politik. Teilplan II zum Sondermüll, im August 1994 vorge- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) legt, ist ebenfalls kein schlüssiges Konzept. In der Über die umweltpolitischen Auswirkungen des Drucksache 13/2536 des Hessischen Landtags ist von Abfallberges durch eine Abwrackprämie denkt er erst Ihnen zu lesen, daß außerhessische Entsorgungspfade gar nicht nach. Aber, meine Damen und Herren, das für Engpässe nötig sind. wundert niemanden bei einem Ministerpräsidenten, Das ist keine Umweltpolitik, Herr Fischer, das ist der nein sagt zum Transrapid, weil dieser in Hessen eine Verweigerungspolitik. Deswegen werden Sie mit produziert wird, aber ja sagt zu U-Booten, die in Ihrem Konzept keinerlei Erfolg haben. Niedersachsen produziert werden. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. — Ulrich Irmer [F.D.P.]: Hört! Hört!) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- Da gibt es kein Konzept. Die Maxime heißt: Regieren zeit ist um. nach Gutsherrenart und Beliebigkeit. Außerdem redet - Herr Schröder in Platitüden über den Ausstieg aus der Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident, ich Kernenergie, obwohl der Vorgänger von Herrn Schar- komme zum Ende. ping im Amt des Parteivorsitzenden der SPD dort Es gibt noch eine ganze Reihe von Punkten, die man gerade eingestiegen ist. hier ansprechen müßte. Aber wir werden ja noch viel Wir werden als weitere bedeutende Maßnahme die Zeit haben, uns miteinander zu unterhalten. Produktverantwortung für Hersteller im Bereich Unser Regierungsprogramm kann sich sehen las- Altautos, Elektronikschrott und Batterien verwirkli- sen, wenn auch nicht alles enthalten ist, was sich die chen. Während Herr Fischer vom BÜNDNIS 90/DIE F.D.P. gewünscht hat. Ich freue mich allerdings, daß GRÜNEN in Hessen Modellprojekte für Recycling wir mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Hirche ankündigte und kein einziges umsetzte, treiben wir im Bundesumweltministerium jemanden haben, der das Thema voran. tatkräftig an der Realisierung der ökologischen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Marktwirtschaft mitarbeiten wird. Frau Kollegin ten der CDU/CSU) Hustedt, ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden das gemeinsam und in guter Zusammenarbeit mit Bun- Dazu haben wir in der letzten Legislaturperiode trotz deswirtschaftsminister Rexrodt tun. Ihres Widerstands mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz die Grundlage geschaffen. Danke. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wenn Herr Müller hier sagt: „Wir von der SPD werden klar sagen, was wir wollen", dann kann ich darauf nur antworten: Hätten Sie doch heute klar Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Klaus gesagt, was Sie wollen, dann hätte jeder gewußt, was Lippold, Sie haben das Wort. 212 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Vizepräsident Hans Klein An Ihre Adresse, verehrte Kolleginnen und Kolle- als GRÜNE und SPD, hat der Direktkandidat weitaus gen: Die namentliche Abstimmung wird ungefähr um mehr Stimmen als SPD und andere. Ich füge hinzu: 14.35 Uhr stattfinden. Eure herangekarrten Akklamateure stellen nicht die Bitte. örtliche Bevölkerung dar. Das war schon in Biblis so. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein Dann kommen hier die Angriffe gegen die Umwelt- Auftakt nach Maß. Michael Müller als umweltpoliti- politik. Ich habe nichts gegen die grüne Kollegin scher Sprecher der Opposition, der sonst im Soziolo- Hustedt, der der Herr Fischer hat aufschreiben lassen, gen-Kauderwelsch viel Unverständliches sagt, hat was sie sagen soll. Sie ist noch nicht lange hier im heute einmal einen klaren Satz gesagt — dafür bin ich Haus. ihm dankbar —: keine Schonzeit für Angela Merkel. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn Sie erwartet haben, daß ich darüber lamentiere NEN) und mich weinerlich verhalte, dann muß ich Sie enttäuschen. Erst hat euch der Töpfer verdroschen, Deshalb setze ich mich damit nicht auseinander, weil und in ihrer Antrittsrede hat euch Angela Merkel wir ein bißchen fairer sind als Sie. gezeigt, daß sie euch verdrischt. Das ist genau das, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ was wir brauchen. Es gibt keine Schonzeit für diese DIE GRÜNEN]: Werter Herr!) lasche Opposition! Das muß das Thema sein: keine Schonzeit! Das können wir uns nicht vorhalten lassen. Diejeni- gen, die anfangen, genießen unseren Schutz. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — bleiben fair. Wir setzen uns mit denen auseinander, Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die als Scheinprofis in der ersten Reihe sitzen. DIE GRÜNEN]: Wir haben Arbeitsschutzbe- stimmungen! Das ist ja viel zu laut! Da fallen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ einem ja die Ohren ab! — Zurufe von der DIE GRÜNEN]: Frau Hustedt schreibt ihre SPD: Helau!) Reden im Gegensatz zu Frau Merkel selbst! — Herr Fischer, ich verstehe ja, daß wir Sie getroffen Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen! haben. Sie hat das nicht nötig!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ — Herr Fischer, setzen Sie doch nicht die hessische DIE GRÜNEN]: Ich verstehe Sie aber Debatte hier mit unzulänglichen Mitteln fort. So läuft nicht!) dieses hier nicht. Wenn ich sehe, daß Sie Ihren Kinderkram, den Sie (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ 1983 gemacht haben, heute nicht mitmachen, dann DIE GRÜNEN]: Es täte Ihnen einmal ganz sage ich, da sitzt einer in der ersten Reihe, der jetzt ein gut, wenn Sie überlegten, bevor Sie Jackett trägt. Die anderen haben diese Hemdchen an. reden!) Er hat gelernt oder will zeigen, als hätte er gelernt. Dazu muß dann auch einmal ein Satz gesagt wer- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ den. DIE GRÜNEN]: Damals habe ich einen Len- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ denschurz getragen!) DIE GRÜNEN]: Echte hessische Knalltüten Die anderen haben es immer noch nicht gelernt. Über rede!) diese Kinderkrankheiten kommen wir weg. So ein- fach ist das. Keiner von Ihnen ist darauf eingegangen, daß wir in - der letzten Legislaturperiode trotz wirtschaftlich wid- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) riger Umstände das Kreislaufwirtschaftsgesetz, die Abfallvermeidung, das Umweltstatistikgesetz, das Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lippold, Umweltinformationsgesetz, das Chemikaliengesetz eine Kollegin vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weitergebracht haben. möchte gerne eine Frage stellen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nehmen Sie die Hände aus der Tasche!) Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Sie Sagen Sie das einmal Ihren Leuten, bevor sie hier wissen, daß ich es sonst immer zulasse, Herr Präsident, antreten und nicht wissen, worüber sie reden. aber ich habe heute unendlich wenig Zeit, denn hier muß etwas rüberkommen. Das ist kein Kneifen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hier vorne saß heute ein Ministerpräsident, der Ich sage Ihnen, wir werden das, was unter Herrn etwas zur Kernkraft gesagt hat, der jetzt schon wieder Töpfer offensiv angegangen wurde, mit Angela Mer- abgereist ist, weil er die Diskussion nicht bis zum Ende kel genauso offensiv weiter vertreten. Das wird sein: durchsteht. eine aktive Politik für internationalen Umweltschutz. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lohnt sich bei Wer hat denn den internationalen Umweltschutz, die Ihnen nicht!) globalen Konferenzen erst hoffähig gemacht? Das war Der hat auch etwas zur Akzeptanz gesagt. Dann Herr Töpfer. Angela Merkel wird in diese Spuren wollen wir doch einmal etwas zur Akzeptanz feststel- treten. len. An dem Ort, wo dieses Lager errichtet werden soll, Wir hätten international überhaupt nicht dieses hat die Union mit den Zweitstimmen mehr Stimmen Bewußtsein, wenn dieser ehemalige Minister das Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 213

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) nicht so vorangetrieben hätte und es heute noch als , Bundesminister für Ernährung, Chef der Sustainable commission tut. Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, Sie haben ganz sicher nicht dabei geholfen. Dort, wo Sie im Konkreten versagt haben, müssen Es ist auch besser, wenn Sie sich auf den Verzehr von wir natürlich sehen, daß wir das IMA-Programm Nahrungsmitteln beschränken. fortsetzen werden, daß wir das, was wir angefangen haben, zu Ende bringen werden. Ich sage auch ganz (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und deutlich — dabei können Sie uns unterstützen —, daß der F.D.P.) wir ein Energieeinsparprogramm für den Altbaube- stand brauchen. Meine Damen und Herren, Ziel der Agrarpolitik der Wir können eine Fülle konkreter Punkte auch für Bundesregierung und der Koalition ist es, den Agrar- die Zukunft nennen, bei denen ich Sie bitte, daß Sie standort Deutschland für die Zukunft zu rüsten und zu dieses einmal konkret mit aufgreifen, uns begleiten, sichern. weil diese Probleme wirklich allgemeine Probleme (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sind. Hier geht es nicht um Parteipolitik, sondern wir DIE GRÜNEN]: Da kenne ich aber noch müssen sehen, daß wir erstens deutsch, dann euro- einen, für den das gilt! Er ist nicht allein beim päisch und dann im internationalen Bereich weiter- Verzehr der Nahrungsmittel!) kommen. Ich meine, das ist eine richtige Vorgehens- weise. Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, der Herr Fischer, Sie haben gesagt: Wir wollen das Weiterentwicklung der Strukturpolitik, differenziert betrachten. Das habe ich heute morgen aber nicht erlebt. Sie haben es angekündigt. Lassen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Sie uns in die differenzierte Einzeldiskussion eintre- DIE GRÜNEN]: Herrn Borchert täte es gut, ten. Ebenso, wie mein Fraktionsvorsitzender zu sagen wenn er ein bißchen zunähme!) pflegt, schließe ich mit dem Satz: Wir laden Sie dazu dem Ausbau der Agrarsozialpolitik und dem Abschluß ein. der GATT-Verhandlungen sind wichtige Weichen- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der stellungen bereits vorgenommen worden. — Wenn F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- Sie ein bißchen lauter sprechen könnten, Herr Fischer, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine jammervolle würde ich gern darauf antworten. Ich habe Sie nicht Rede!) verstanden.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lippold, in DIE GRÜNEN]: Ich wollte sagen: Ihre Figur diesem Hause ist in der Vergangenheit vielhundert- wirbt nicht für die deutschen Lebensmittel fach von einem Kollegen über den anderen per Zuruf hersteller! — Heiterkeit) oder auch in der Rede erklärt worden: „Was man Ihnen aufgeschrieben hat ...", oder: „Was Ihnen Ihre — Doch, Herr Kollege Fischer, für die Qualität und die Büchsenspanner aufgeschrieben haben ..." Das ist Gesundheit der Nahrungsmittel. Insofern will ich das nichts Unübliches. gern mit Ihnen vergleichen. Ihr Vorwurf an die Kollegin Hustedt ist eine Formel, die hier x-mal gebraucht wurde. Gleichwohl würde (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Kanzler!) ich sagen: Wenn eine Kollegin zum erstenmal spricht und dann ihre Rede doch wohl selber geschrieben- Auch beim Aufbau und bei der Umstrukturierung hat, der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern sind (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wir einen kräftigen Schritt weitergekommen. DIE GRÜNEN]: Für eine Jungfernrede hat er ordentlich reagiert!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wohin?) trifft dieser Vorwurf ein bißchen schmerzhafter als bei Wir haben die Interessen der neuen Länder, Frau einem Routinier im Hause. — Diese Bemerkung Kollegin Fuchs, erfolgreich vertreten, während die wollen Sie mir bitte erlauben. SPD-regierten neuen Bundesländer der Landwirt- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schaft einen Teil der Anpassungshilfe vorenthalten. GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Hier zeigt sich der Unterschied in der Interessenver- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) tretung der Landwirtschaft. Ich erteile dem Bundesminister für Ernährung, Deshalb steht unsere agrarpolitische Arbeit der Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert, das nächsten Jahre unter dem Motto: das Erreichte stabi- Wort. lisieren, verläßliche Rahmenbedingungen sichern (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ und weitere Entwicklungsperspektiven eröffnen. DIE GRÜNEN]: Er hat seine Rede auch selbst Deutschland braucht eine wettbewerbsfähige, markt- geschrieben, nehme ich an! — Heiterkeit orientierte und umweltverträgliche Landwirtschaft, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD die hochwertige Nahrungsmittel und nachwachsende und der PDS — Joseph Fischer [Frankfurt] Rohstoffe erzeugt und die die natürlichen Lebens- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie grundlagen erhält und die Kulturlandschaft pflegt, die Ihre Rede selbst geschrieben?) die wirtschaftliche und soziale Stabilität ländlicher 214 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Jochen Borchert Räume sichert. Damit leistet die Landwirtschaft einen schaft vor abrupten währungsbedingten Preissen- wichtigen Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung. kungen geschützt wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu all diesen Punkten findet man im sogenannten Regierungsprogramm der SPD kein Wort: kein kon- CDU/CSU und F.D.P. treten für die strukturelle kretes Wort zur Notwendigkeit der Förderung nach- Vielfalt in traditionell gewachsenen Familienbetrie- wachsender Rohstoffe, kein Wort zum Außenschutz ben im Voll-, Zu- und Nebenerwerb, in Kooperationen und in anderen Betriebs- und Rechtsformen ein. (Zuruf von der SPD: Stimmt doch überhaupt nicht!) CDU/CSU und F.D.P. treten für die bewährte bäu- erliche Produktionsweise ein, die sich an der Nachhal- — dann lesen Sie das doch noch einmal nach —, kein tigkeit der Erträge und an der Flächenbindung in der Wort zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen. Tierhaltung orientiert. Statt dessen hat die SPD gefordert, das Landwirt- schaftsministerium auf der Bundesebene aufzulösen; (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die Landwirtschaftsministerien in den Ländern wer- DIE GRÜNEN]: Sie sehen aus wie der den nach und nach abgeschafft. Das heißt: Die SPD hat Zustand der deutschen Landwirtschaft ins- sich aus der Agrarpolitik verabschiedet. gesamt: schlecht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — — Wo er schlecht ist, Herr Kollege Fischer — ich kann Detlev von Larcher [SPD]: Hören Sie doch verstehen, daß Sie da aus der hessischen Erfahrung auf! So ein Quatsch!) sprechen —, ist dies ein „Erfolg" der hessischen rot-grünen Landesregierung. Wenn ich mir das ansehe, vermute ich, daß wir in diesem Bereich auch noch die Rolle der Opposition zu (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ übernehmen haben. CSU]) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie geht das In Hessen findet die Förderung fast nicht mehr statt, denn? — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND unterbleiben Investitionen in der Landwirtschaft NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nun überfordern Sie wegen der Agrarpolitik der Landesregierung. Es wäre sich mal nicht! Es reicht ja, wenn Sie sich des besser, Sie hätten sich in Hessen gründlich informiert, Regierens mühen!) ehe Sie hier solche Zwischenrufe machen. Die Bundesregierung sieht in der Bewahrung von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Natur und Umwelt sowie im Tierschutz eine beson- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dere Verantwortung. Wir werden hierbei auch in DIE GRÜNEN]: Nein, Herr Borchert, Hessen Europa eine Vorreiterrolle übernehmen. Denken Sie geht es insgesamt glänzend! — Jochen etwa an unseren Kampf zum Schutz der Tiere beim Feilcke [CDU/CSU]: Herr Fischer ist nicht Transport. Wir werden europaweit einen besseren lernfähig!) Schutz durchsetzen. — Ich hoffe immer noch, daß er lernfähig ist. Das Gleiches gilt auch für den Umweltschutz. Wir müs- werden die nächsten vier Jahre zeigen. sen und werden dafür eintreten, daß die Landwirt- Die Bundesregierung wird den eingeschlagenen schaft ihre Aufgaben für Natur und Umwelt erfüllen Weg der europäischen Agrarpolitik zur Marktentla- kann. Die Landwirtschaft muß daher für besondere stung mit Ausgleichszahlungen konsequent fortset- Anforderungen der Gesellschaft, für ökologische und zen. Wir werden dabei alles unternehmen, um die landespflegerische Maßnahmen, die über die Vorga- Agrarreform zu vereinfachen, um sie für Bäuerinnen - ben einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung hinaus- und Bauern transparenter zu gestalten und um damit gehen, einen finanziellen Ausgleich erhalten, und ihre Akzeptanz zu verbessern. zwar als Rechtsanspruch, den der einzelne auch gegenüber den SPD-Regierungen einklagen kann. Wir wollen die Fortführung und die marktorientierte Umweltleistungen müssen leistungsgerecht entlohnt Ausgestaltung der Garantiemengenregelung Milch, werden. d. h. wir wollen stabile und wieder steigende Erzeu- gerpreise durch eine Anpassung der Milchquoten. Wir (Abg. Horst Sielaff [SPD] meldet sich zu einer werden aber auch ein langfristiges Verbot von Lei- Zwischenfrage) stungsförderern wie BST durchsetzen. Die Bundesregierung wird die Landwirtschaft dar- Wir werden bei der Reform der Weinmarktordnung über hinaus gezielt fördern, um die Wettbewerbsfä- in Europa, bei der Überprüfung der europäischen higkeit der Betriebe zu verbessern. Wir wollen die von Marktordnung für Zucker sowie für Obst und Gemüse Brüssel her jetzt mögliche Anhebung der Förderober- die Interessen der deutschen Landwirte nachdrück- grenzen und die Förderung von Teilfusionen in der lich vertreten. Um neue Märkte zu erschließen, wer- Milchtierhaltung schon 1995 umsetzen. den wir die Erforschung und Markteinführung von Für die einzelbetriebliche Investitionsförderung wettbewerbsfähigen nachwachsenden Rohstoffen wird die Bundesregierung durch Umschichtungen in verstärken. der Gemeinschaftsaufgabe insgesamt 100 Millionen Agrarstandort sichern bedeutet für uns auch den DM zusätzlich zur Verfügung stellen. Diese Mittel Abbau von wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen in werden dann ausgezahlt, wenn die Länder über die Europa und in Deutschland. Deshalb werden wir Förderung 1994 hinaus zusätzliche Mittel einsetzen. weiter dafür kämpfen, daß die deutsche Landwirt- Damit haben wir die Möglichkeit zu prüfen, ob die Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 215

Bundesminister Jochen Borchert Länder bereit sind, die Landwirtschaft stärker zu Die Bundesregierung sieht — ich wiederhole das — fördern und zu unterstützen. in der Bewahrung von Natur und Umwelt sowie im Wir werden an Hand der Ergebnisse diskutieren, ob Tierschutz eine besondere Verantwortung. die SPD in den Ländern dieser Aufgabe nachkommt (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was oder ob sie sich auch hier der Aufgabe verweigert, wie tun Sie dafür?) sie das beim soziostrukturellen Einkommensaus- Es kommt auch der Möglichkeit einer Nutzungsän- gleich gemacht hat. Da haben Sie doch die Mehrein- derung in der Landwirtschaft eine besondere Bedeu- nahmen aus der Mehrwertsteuer genutzt, um Haus- tung zu. Sie kann zur Einkommensverbesserung vie- haltslöcher zu finanzieren. Sie haben diese Mittel der ler Betriebe und zur Erhöhung der Attraktivität des Landwirtschaft vorenthalten. ländlichen Raumes insgesamt beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Neben den Aufgaben der Landwirtschaft wird einer Über die gezielte Strukturförderung hinaus wird die unserer Schwerpunkte die Forstwirtschaft sein. Hier Bundesregierung den schwierigen Anpassungspro- geht es vor allen Dingen um die Verbesserung der zeß der Landwirtschaft auch künftig sozial flankieren Situation beim Holzabsatz, um so der Forstwirtschaft und durch steuerliche Maßnahmen erleichtern. zu helfen. Zu nennen sind auch die notwendigen Maßnahmen Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, in der Fischereipolitik. Kollege Sielaff würde gern eine Zwischenfrage stel- len. Meine Damen und Herren, ich rufe alle auf, die Bundesregierung bei der Erfüllung der schwierigen agrarpolitischen Aufgaben zu unterstützen. Es geht Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, um die Zukunft der deutschen Landwirtschaft in einer Landwirtschaft und Forsten: Aber gern. schwierigen Zeit. Wir müssen den Agrarstandort Deutschland sichern. Deutschland braucht eine starke Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege Sie- Landwirtschaft, eine Landwirtschaft, die sich im euro- laff. päischen Wettbewerb behaupten kann und die gleichzeitig Natur und Umwelt erhält. Horst Sielaff (SPD): Ich bitte um Nachsicht, Herr Vielen Dank. Landwirtschaftsminister, aber ich habe vom Präsiden- ten ein bißchen zögerlich das Wort erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie haben eben behauptet, daß Sie besondere Umweltauflagen für die Landwirtschaft besonders Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege honorieren wollen. Ist es richtig, daß es eine Milch- Dr. Gerald Thalheim. mädchenrechnung ist, wenn die Bundesregierung diese Kosten auf die Länder verteilen will? Sie selbst haben auf eine entsprechende Frage von Dr. Gerald Thalheim (SPD): Herr Präsident! Meine mir geantwortet: sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesmi- Im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständig- nister Borchert, die Erwiderung auf Ihre Rede fällt relativ leicht. Man muß dieser Rede der Ankündigun- keit sollen diese Ausgaben finanziell ausgegli- chen werden. gen und Versprechungen nur die Wirklichkeit entge- genhalten. Heißt das, daß jetzt die Bundesregierung diese Kosten trägt, oder wer soll sie tragen? (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und das sagen Sie! Das ist doch unverschämt!) Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Sielaff, — Herr Kollege Hornung, Ihre Zwischenrufe sind Milchmädchenrechnung — Milchmädchen hätten bekannt. — Ich will das mit einem Zitat tun. In der bei eine bessere Rechnung aufgemacht als Sie. Aber ich Landwirten sehr beliebten Zeitschrift „top agrar" war will gern darauf antworten. im Novemberheft zu lesen: Ich habe gesagt, daß Umweltleistungen der Land- Das größte Problem für uns und unsere Betriebe wirtschaft, die über die ordnungsgemäße Bewirt- ist inzwischen das Politikrisiko. Wie soll man schaftung hinausgehen, entschädigt werden müssen. unter diesen Umständen noch eine halbwegs Es muß selbstverständlich sein, daß derjenige ent- sichere Existenz in der Landwirtschaft aufbauen? schädigungspflichtig ist, der solche Auflagen ver- Wo immer man mit jungen, zupackenden Hof- hängt. nachfolgern über ihre Zukunft diskutiert, steht Wenn die Länder für Naturschutzgebiete und diese Frage im Mittelpunkt. Und die jungen andere Bereiche weitergehende Auflagen beschlie- Bauern haben recht. ßen, dann müssen sie diese natürlich auch finanzie- Das Thema dieses Heftes lautete bezeichnender- ren. Wenn wir von diesem Prinzip abgehen würden weise: „Die unberechenbare Politik". Kollege Hor- — ich kann verstehen, daß Sie das gerne möchten —, nung, gemeint war mit dieser „unberechenbaren dann hätten wir in Kürze flächendeckend Auflagen, Politik" die Politik der alten und der neuen Bundes- die die SPD-Landesregierungen beschließen, und der regierung. Bund müßte zahlen. So kann die Aufgabenverteilung (Beifall bei der SPD) sicher nicht sein. Man kann es auch anders sagen, Herr Bundesmini- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ster: Ihre Politik ist gescheitert. Herr Bundeskanzler, 216 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Gerald Thalheim wenn man Ihrer Regierungserklärung und dem Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Egon Sus- Koalitionspapier Glauben schenkt, soll diese Politik set, Sie haben das Wort; es ist das letzte Wort zu fortgesetzt werden. Auch dazu kann ich aus „top diesem Themenbereich. agrar" zitieren. Wortwörtlich ist dort zu lesen: (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Borcherts Konzept „Der neue Weg" ist das, was es Egon Susset sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein bisher ist, eine einladende Straße, die als Sack- Armutszeugnis, Herr Kollege Dr. Thalheim, wenn Sie gasse endet. an Stelle eines Agrarprogramms der SPD, aus dem Sie Ich denke, dieses Zitat sagt alles, was die Landwirte jetzt hätten zitieren können, „top agrar" brauchen, um denken. klarzumachen, was für die zukünftige Agrarpolitik (Beifall bei der SPD) wichtig ist. Das ist ein vollkommenes Armutszeug- In den Koalitionsvereinbarungen schreiben Sie nis. jetzt: (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn von einem Kollegen aus den neuen Ländern Wir werden den eingeschlagenen Weg zur Probleme der Landwirtschaft angesprochen werden, Marktentlastung und weiteren Einkommenssi- dann hätte ich erwartet, Herr Kollege Dr. Thalheim, cherung fortsetzen. daß Sie das, was man von unbefangenen Mitbürgern Nur, wo geht dieser Weg hin? Er hat auf alle Fälle zu in den neuen Ländern immer wieder erfahren kann, mehr Bürokratie geführt, ohne die entscheidenden nämlich daß gerade die L and- und Ernährungswirt- Ziele zu erreichen. schaft der Wirtschaftszweig ist, der sich in der Zwi- schenzeit entsprechend entwickelt hat, in Ihrem Dazu drei Beispiele. Redebeitrag ansprechen. Dies ist geschehen a) durch Das erste Ziel ist, die Einkommen zu sichern. Was die europäische Agrarpolitik, in die sie von Anfang an geschieht? Der Preisverfall hält an mit der Folge, daß eingebunden war, und b) durch die Agrarpolitik der die Einkommen der Landwirte und ihrer Familien in Bundesregierung. Ich glaube, das müssen wir hier klar katastrophaler Weise hinter denen der anderen sagen. Berufsgruppen zurückliegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Zweites Beispiel: Prämienzahlungen. In der Koali- ordneten der F.D.P.) tionsvereinbarung ist zu lesen, daß diese sicher sind. Die Koalitionsvereinbarung zum Agrarbereich ist Herr Bundesminister, wenn ich den jüngsten Informa- eine gute Grundlage für die weitere Arbeit in einem tionen aus Brüssel Glauben schenken darf, dann sehr schwierigen Politikbereich. Wir wissen, daß die beabsichtigt die Kommission, auch die Ausgleichs- Landwirtschaft mit einer Vielzahl von Herausforde- zahlungen für die EG-Agrarreform vom Währungs- rungen fertigwerden muß. Sie ist durch die neuen ausgleich auszunehmen. Das heißt, Änderungen der Weichenstellungen in der europäischen Agrarpolitik Parität über 5 % würden die Landwirte voll zu spüren einem durchgreifenden Wandel ausgesetzt. Daher bekommen. Ich möchte in diesem Haus die Forderung muß die Agrarpolitik den Landwirten durch geeignete erheben, daß Sie sich dem entgegenstellen. Wir wer- Rahmenbedingungen helfen, den enormen struktu- den Sie dabei unterstützen. rellen Anpassungsprozeß zu bewältigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Einen Moment, Kollege Ich denke, Kollege Hornung, diese Forderung ist Susset! Eine Kollegin der Gruppe der PDS möchte eine legitim und seriös. Nicht seriös ist es, wenn im Frage stellen. Koalitionspapier steht, daß man Nachfolgeregelun- gen für den sogenannten Switch-Over finden will. - Dr. Christa Luft (PDS): Ich wollte Sie gerne fragen, Herr Bundesminister, Sie wissen — es ist in jeder ob Sie nicht meinen, daß der Aufschwung der L and- einschlägigen Zeitschrift zu lesen —, daß der Switch- wirtschaft in den neuen Bundesländern noch größer Over ausläuft und daß Sie, wenn Sie tatsächlich hätte sein können, wenn z. B. die Milchquoten in Nachfolgeregelungen treffen wollten, nationale Mit- Brandenburg wenigstens den gleichen Umfang hät- tel einsetzen müßten. Sie müßten mir das Geheimnis ten wie in den alten Bundesländern und wenn der lüften, wie Sie das in einem Haushalt mit erheblichen Großviehbesatz pro 1 000 Hektar in den neuen Län- Finanzkürzungen tun wollen. dern gegenüber den alten Ländern nicht extrem Drittes Beispiel: Flächenstillegungen. Wieviel nun geschrumpft wäre, was völlig unverständlich ist. wirklich stillgelegt werden muß, steht bis heute nicht fest. Die Herbstbestellung ist jedoch weitestgehend Egon Susset (CDU/CSU): Frau Kollegin Luft, jeder, vollzogen. Herr Bundesminister, auch hier sind Sie der ein bißchen Ahnung von der Landwirtschaftspoli- den Landwirten eine Erklärung schuldig, wie man mit tik in den neuen Ländern hat, weiß, daß die Milchquo- solchen Politikvorgaben seriös arbeiten kann. ten weder in Brandenburg noch sonst irgendwo aus- geschöpft werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das heißt, es gibt dort genügend Möglichkeiten zur Für die alte und die heute neu konzipierte Agrar- Produktion. — Dazu, meine Damen und Herren, politik kann nur das gelten, was in „top agrar" stand: bedarf es der Unterstützung durch politisches Han- „eine einladende Straße, die als Sackgasse endet". deln. Wir sind dankbar, daß in der Koalitionsverein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten barung die Bedeutung der Landwirtschaft deutlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zum Ausdruck gebracht wurde. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 217

Egon Susset Wir sind auch dankbar, daß der Bundeskanzler und Brüssel unterstützen. Ich hoffe natürlich, daß auch die unser Bundeslandwirtschaftsminister durch ihre Ar- SPD sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat beit in der Vergangenheit, aber auch durch das, was in angesichts ihrer dann und wann doch als landwirt- den Koalitionsverhandlungen zum Ausdruck kommt, schaftsfeindlich empfundenen Politik in nächster Zeit deutlich gemacht haben, daß für uns die Landwirt- etwas umdenkt. schaft kein Bereich ist, den man in der Hinterstube Ich bedanke mich. eines anderen Ministeriums macht. Man muß viel- mehr klar und deutlich sagen: Hier geht es um einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wirtschaftsbereich, der den strukturellen Anpas- sungsprozeß bewältigen muß. Vizepräsident Hans Klein: Keine weiteren Wortmel- (Große Unruhe und Zurufe) dungen zu diesen Themenbereichen. Zur Umweltpolitik liegt auf Drucksache 13/41 ein — Also, ich würde sagen, meine sehr verehrten Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Damen und Herren, es warten so viele Leute auf die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vor. Die Entschlie- Abstimmung, daß wir die Diskussion endweder im ßungsanträge der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuß weiterführen oder bei der Agrardebatte, GRÜNEN auf den Drucksachen 13/37 und 13/38 wenn nur 20 oder 30 Leute anwesend sind. wurden zurückgezogen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen damit zur Abstimmung. Es ist nament- liche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführe- Dann können wir vielleicht zu den Dingen Stellung rinnen und Schriftführer, ihre Plätze an den Urnen nehmen. einzunehmen. Im Mittelpunkt landwirtschaftlicher Tätigkeit wird Ich eröffne die Abstimmung. auch weiterhin die standortgerechte Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel stehen. Wir wissen, (Vorsitz:: Vizepräsident Hans-Ulrich daß die Produktion noch stärker an den Absatzmög- Klose) lichkeiten orientiert werden muß. Aber hierzu bedarf es der politischen Hilfestellung. Wir wissen, daß 80 % Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Haben alle Mit- der Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland glieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? — Hat lieber Waren nachfragen, von denen sie wissen, wo sie ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht produziert und wie sie produziert wurden. Dann aber abgegeben? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. ist es Aufgabe der Politik, entsprechende Rahmenbe- Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die dingungen zu schaffen. Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Eines unserer großen Anliegen ist es, den verant- Ergebnis der Abstimmung wird später bekanntgege- wortungsbewußten Umgang mit Natur und Tieren zu ben.*) stärken, Land- und Forstwirtschaft besser in Einklang Wir fahren mit der Aussprache fort. Ich darf Sie mit dem Erhalt einer intakten Umwelt zu bringen. bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder Platz zu nehmen. (Anhaltende Unruhe — Glocke des Präsiden- ten) Ich rufe den Themenbereich Familie und Frauen auf. Deshalb sind wir unserem Bundesminister Borchert Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Schmidt (Aa- dankbar, daß er in Brüssel, was die Fragen des chen). Tiertransportes anbelangt, alles Menschenmögliche versucht hat. Ich weiß, auch der Kollege Wissmann hat sich als Verkehrsminister in der Sache entsprechend Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) (von der SPD mit engagiert. Dadurch ist es gelungen, das, was heute in Beifall begrüßt): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Europa noch nicht möglich ist, zumindest durch eine und Kollegen! Ich weiß gar nicht, ob ich der neuen nationale Richtlinie in eine akzeptable Richtung zu Bundesfrauenministerin wirklich ehrlichen Herzens bringen. zu ihrem Amt gratulieren soll. Landwirtschaftliche Tätigkeit ist natürlich eng mit (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Warum dem ländlichen Raum insgesamt verbunden. Deshalb denn nicht?) ist es wichtig, immer wieder klarzumachen, daß auch Schließlich bleibt nach der Regierungserklärung des heute noch rund jeder siebte Arbeitsplatz in der Herrn Bundeskanzlers und nach den Koalitionsver- Bundesrepublik Deutschland mit dem Agrarbereich einbarungen zumindest für die Bundesfrauenministe- wirtschaftlich verbunden ist: mit der Landwirtschaft, rin nicht viel zu tun. Ich habe dem entnommen, daß mit der Forstwirtschaft, mit dem Weinbau und mit dem Deutschland fit gemacht werden soll für das Jahr 2000, Gartenbau. Dies ist das Rückgrat des ländlichen aber offensichtlich soll dieses Jahr 2000 ohne die Raumes. Frauen stattfinden. Die Bürgerinnen und Bürger, die in diesen Wirt- (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre aber schaftsbereichen tätig sind, haben einen Anspruch auf ein tristes Jahrtausend!) entsprechende politische Unterstützung. Die Bürge- Für mich hat Politik immer bedeutet, etwas gestal- rinnen und Bürger des ländlichen Raumes wissen, daß ten zu können. Für mich ist Politik ein Ort der sie sich auf uns und die Bundesregierung verlassen Innovation. Aber ich muß Ihnen ehrlich sagen, meine können. Die Koalitionsfraktionen werden die Bundes- regierung national, aber auch bei ihrem Bemühen in *) Siehe Seite 221D 218 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ulla Schmidt (Aachen) Damen und Herren von der Koalition: Bei allem, was Privathaushalten zerstören, den Wettbewerb verzer- bisher gesagt worden ist, habe ich von Innovationen ren. sehr wenig verspürt; zumindest von Innovationen, die Aber wenn man den gegenwärtigen unbefriedigen- eine tatsächliche Veränderung der ungleichen Chan- den Zustand ändern möchte, muß man irgendwann cen in dieser Gesellschaft bewirken. sagen, was man will. Wir laden Sie ein, mit uns dafür (Michael Glos [CDU/CSU]: Seien Sie nicht so zu kämpfen, ungeschützte Arbeitsverhältnisse zu gefühllos!) beseitigen, sowohl in der Industrie als auch in privaten Haushalten. Auf diese Weise wird erreicht, daß Ich meine die tatsächliche Veränderung der unglei- Frauen einen Anspruch erhalten, der sie in die Lage chen Verteilung von Einfluß, von Macht, von Geld versetzt, mit ihrer eigenen Arbeit ihre Existenz bis ins oder von traditionellen Arbeitsstrukturen, die bisher hohe Alter zu sichern. nur mit einem einzigen — völlig unwesentlichen — (Beifall bei der SPD und der PDS) Fakt korreliert: der Geschlechtszugehörigkeit. Dann brauchen sie nicht die Erfahrung zu machen, Wir wissen, daß die heutige Arbeitsteilung zwi- daß ein Leben voller Arbeit offensichtlich keine schen bezahlter und unbezahlter Arbeit im Klartext Garantie dafür ist, daß man im Alter ohne Existenz- heißt, daß ca. 60 % aller erwerbstätigen Frauen kein sorgen leben kann. existenzsicherndes Einkommen haben. Wir wissen Ich bin für den Ausbau des Dienstleistungssektors. alle, daß mit dieser Tatsache zusammenhängt, daß Ich stimme Ihnen zu, daß gerade auch im Dienstlei- Armut im Alter vor allen Dingen Frauen betrifft. In den stungssektor Arbeitsplätze der Zukunft für Frauen alten Bundesländern leben über eine Million Frauen liegen. Aber Dienstleistung ist mehr als nur Dienst- über 65 Jahre von weniger als 1 200 DM im Monat. mädchen. Wir brauchen eine Frauenförderung im Wenn man die Entwicklung in den neuen Bundeslän- Bereich der Forschung, der Lehre und der Bildung. dern betrachtet, werden die Frauen der mittleren oder Hier gibt es viele qualifizierte Frauen. jungen Generation auch in diese Altersarmut hinein- geraten, weil man ihnen verwehrt, existenzsichernde Wir sind der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß wir Arbeitsplätze einzunehmen und dort ihre Arbeit aus- etwas unternehmen müssen, damit Frauen endlich zuüben. vorwärtskommen. Wir müssen Gesetze schaffen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) GRÜNEN und der PDS) Gehen Sie doch mit uns und lassen Sie uns gemeinsam Wenn man all die schönen Worte beiseite läßt, die in Vorgaben für die Privatwirtschaft machen! Mehr als den Koalitionsvereinbarungen stehen und die gestern 70 % der Arbeitsplätze von Frauen sind dort. Dort sind hier mit der Aufforderung „Gleiche Rechte und Chan- aber auch die am schlechtesten bezahlten Arbeits- cen für Frauen und Männer" vorgetragen wurden, plätze. bleiben für die Frauen drei Dinge übrig, die ich hier gern aufzählen möchte. (Zuruf von der CDU/CSU: Lassen Sie den Mann doch in Ruhe! — Weitere Zurufe von Das erste sind Teilzeitarbeiterinnen, das zweite sind der CDU/CSU) Dienstmädchen, und das dritte ist, daß sich die Frauen Gehen Sie mit uns den Weg, Frauenförderung über an Erwerbslosigkeit in dieser Gesellschaft gewöhnen die öffentliche Auftragsvergabe zu initiieren! Gehen müssen. Sie mit uns den Weg, die Wirtschaftsförderung an Dienstmädchen: Herr Bundeskanzler, es ist sicher frauenfördernde Maßnahmen zu knüpfen! Dies alles richtig, daß wir über den Ausbau des Dienstleistungs- sind Möglichkeiten, um die Situation von Frauen in sektors private Haushalte diskutieren müssen. Ich- der Arbeitswelt zu verbessern. bezweifle aber, daß sich die Masse der ungeschützten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitsverhältnisse in den Privathaushalten durch der PDS) steuerliche Abzugsmöglichkeiten reduzieren läßt. Sie wissen selbst, daß der jetzt vielfach beschworene (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aufschwung nicht automatisch Arbeitsplätze für der PDS) Frauen schafft, sondern daß die Frauen da nach wie vor benachteiligt sind. Wenn man wirklich sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten schaffen (Abg. Waltraud Schoppe [BÜNDNIS 90/DIE möchte, dann muß man ein Gesetz zum Verbot der GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen ungeschützten Arbeitsverhältnisse einführen. frage) — Ja, wenn das nicht auf meine Zeit angerechnet (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wird. GRÜNEN und der PDS) Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist nicht einmal ein halbes Jahr her, daß wir an dieser Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das wird nicht auf Stelle über dieses Problem diskutiert haben. Die SPD die Zeit angerechnet. Ich stoppe das jetzt sofort. hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Ein- Frau Schoppe, bitte. dämmung der ungeschützten Arbeitsverhältnisse vor- sah und forderte, daß Arbeitsplätze in Privathaushal- ten versicherungspflichtig werden. Von Ihrer Seite ist Waltraud Schoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mir entgegnet worden, ich wolle die Arbeitsplätze in Frau Kollegin, ich habe mit Erstaunen und mit Freude Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 219

Waltraud Schoppe gehört, daß die SPD-Fraktion die Vergabe öffentli- ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. Dazu brau- cher Aufträge an Frauenförderung knüpfen will. Ich chen wir entsprechende gesetzliche Maßnahmen. Sie möchte Ihnen aber dazu sagen, daß die SPD auf sind die Voraussetzung dafür, daß Teilzeitarbeit nicht Länderebene, dort, wo die SPD in der Lage wäre, das weiterhin eine Domäne der Frauen bleibt mit der zu machen, nicht dazu bereit ist. Das sage ich Ihnen Folge, daß sie sozialversicherungsrechtlich immer hier als ehemalige Landesministerin, die in Nieder- weniger abgesichert sind; eine Domäne der abrufba- sachsen vier Jahre dafür gekämpft hat. ren Arbeitsplätze, was letztendlich dazu führt, daß die Verdienste so gering sind, daß manch eine Frau und alleinerziehende Mutter zwei, drei oder vier Teilzeit- Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Frau Kollegin arbeitsverhältnisse eingehen muß, damit sie über- Schoppe, ich kann hier nicht für alle SPD-regierten haupt leben kann. Länder antworten. Ich sage Ihnen nur eines: In Bran- (Beifall bei der SPD) denburg wird die Auftragsvergabe an Frauenförde- rung gebunden. Nordrhein-Westfalen ist dabei, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abge- (Zurufe von der SPD) ordneten Blüm? — Ist schon geschehen? — In Hessen und Sachsen- Anhalt arbeitet man daran. Es ist im übrigen so, Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Gern, wenn es mir Kollegin Schoppe, daß bestimmte Widerstände zu nicht auf die Redezeit angerechnet wird. überwinden sind, was nicht so leicht ist. (Beifall bei der SPD) Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Frau Kollegin Schmidt, ist Ihnen bekannt, daß wir die Teilzeitarbeit Auch die Frauen in sozialdemokratisch geführten schon 1986 im Beschäftigungsförderungsgesetz der Ländern kämpfen um ein entsprechendes Gesetz. Die Vollerwerbstätigkeit gleichgestellt haben, daß Ihre SPD hat diese Forderung in ihrem Regierungspro- Forderung also acht Jahre zu spät kommt? gramm, und wir werden einen geeigneten Gesetzent- wurf einbringen. Sie alle sind eingeladen, ihn mit uns gemeinsam umzusetzen. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Nein, Herr Kollege Blüm, ich bin nicht acht Jahre zu spät. Es ist acht Jahre (Beifall bei der SPD) zu spät, wenn man davon ausgeht, daß wir wirklich Zweitens: Teilzeitarbeit. Ich weiß, daß heute viele etwas hätten ändern können, und zwar dahin gehend, Menschen — über 2 Millionen — gern weniger daß wir existenzsichernde Teilzeitarbeitsplätze ha- arbeiten wollen oder auch teilzeitarbeiten wollen. Ich ben, daß ich als Teilzeitarbeitende genauso an beruf- weiß auch, daß viele Frauen zumindest einen Teilzeit- lichen Qualifikationen teilnehmen kann wie andere arbeitsplatz haben würden. Aber; Herr Bundeskanz- und daß ich einen Anspruch darauf habe, wirklich ler, es darf auf Dauer nicht so sein, daß Teilzeitarbeit genauso gefördert zu werden wie andere. weiterhin vor allem eine Angelegenheit für Frauen (Beifall bei der SPD) ist. Ich bin elf Jahre Personalrätin gewesen und weiß, (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Da sind wir wie lange wir im öffentlichen Dienst haben kämpfen einer Meinung!) müssen, ehe überhaupt einmal eine Schulleiterstelle Sie haben in Ihren Koalitionsvereinbarungen etwas in Teilzeitarbeit wahrgenommen werden konnte. ganz Wichtiges geschrieben, daß nämlich Teilzeitar- (Beifall bei der SPD) beit auch in Führungspositionen möglich sein muß, Da gibt es noch ein breites Aufgabenfeld; aber die daß Teilzeitarbeit keine Beschränkung der Qualifika- Diskussion haben wir ja schon geführt. tionsmöglichkeiten zur Folge haben soll. Nur, Herr Mein dritter Punkt ist die Arbeitslosigkeit, das Bundeskanzler: Heute morgen hat der Herr Wirt- Akzeptieren der Arbeitslosigkeit von Frauen. Ob- schaftsminister geredet und gesagt, bei der Teilzeitar- wohl die Erwerbsquote von Frauen und Männern in beit müsse die SPD endlich Farbe bekennen; alle der ehemaligen DDR fast gleich groß gewesen ist, rechtlichen Hemmnisse müßten endlich beseitigt wer- stieg die Zahl der erwerbslosen Frauen stetig an und den. Ich sage Ihnen: Wenn wir gemeinsam in diesem liegt heute bei 19,5 %. Bei den Männern beträgt die Hause wollen, daß Teilzeitarbeit für Frauen und für Arbeitslosenquote dagegen 8,9 %. Es handelt sich Männer eine Möglichkeit wird, Beruf und Familie zu hierbei nicht um einen freiwilligen Rückzug aus der vereinbaren, daß sie die Möglichkeit bietet, einerseits Erwerbsarbeit, wie vielfach gesagt wird. Das zeigen erwerbstätig zu sein und sich andererseits weiterzu- auch die Zahl der arbeitslos gemeldeten Frauen und bilden, dann müssen wir auch gesetzliche Vorschrif- die Zahl der Frauen, die einen Erwerbsarbeitsplatz ten machen, nämlich dahin gehend, daß ein Teilzeit- suchen. arbeitsplatz gegenüber einem Vollzeitarbeitsplatz nicht mehr mit Benachteiligung verbunden ist. Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich feststelle, daß beide etwa gleich sind und bei ca. 2,5 Millionen (Beifall bei der SPD) Menschen liegen. Das ist bei den Frauen ebenso wie Dann brauchen wir Anreize, daß tatsächlich diejeni- bei den Männern. Wenn man bei den Langzeitarbeits- gen, die ein höheres Einkommen haben, diejenigen, losen die Zahl der Männer mit der Zahl der Frauen die eine höhere Qualifikation oder auch höhere Posi- vergleicht, sieht das Ganze noch trüber aus. 1992 tionen inne haben, für eine bestimmte Zeit auf die stellten die Frauen rund 68 % derjenigen, die länger Ausübung ihres Berufes verzichten. Das ist Solida- als ein Jahr ohne Beschäftigung waren. Jetzt, Ende rität: daß man denen eine Chance gibt, die erst einmal 1994, hat sich diese Zahl auf 76,8 % erhöht. 220 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ulla Schmidt (Aachen) In allen Wirtschaftsbereichen in Ostdeutschland kum?" immer die Mädchen in die Boutiquen und die zeigt sich, daß die Frauen auch aus den sogenannten Jungen in die Industrie schicken. All dies ist ein Anlaß, Frauenberufen durch Männer verdrängt werden. Ich in unserer Gesellschaft über Reformen wirklich nach- weiß, daß Sie, Herr Bundeskanzler, ein sehr energi- zudenken und etwas zu verändern. scher Verfechter der deutschen Einheit sind. Ich sage (Beifall bei der SPD) Ihnen eines: Mir liegt das am Herzen. Ich bin sehr viel Lassen Sie uns doch offen darüber diskutieren und in den neuen Bundesländern und führe dort sehr viele Gespräche mit den Frauen. Mir liegt ganz besonders nicht immer nur unter dem Aspekt — wie es leider die am Herzen, daß wir die soziale und innere Einheit jetzige Bundesfrauenministerin in der Debatte im April getan hat —, dies sei alles schädlich für die Deutschlands bewerkstelligen. Wirtschaft. Frau Nolte, ich sage hier: Wenn es uns Aber wenn dem so ist, dürfen wir nicht zulassen, daß gelänge, in dieser Gesellschaft diese Probleme und ganz große Teile der Biographien der Frauen einfach Fragen so zu lösen, daß allein die Qualifikation, die negiert werden, auch das, was für sie lebenslang eingebracht wird, und nicht das Geschlecht zählt, selbstverständlich war, daß sie nämlich das Recht wäre dies ein enormer Antrieb und eine Innovation hatten, ihr eigenes Geld zu verdienen, wenn sie es auch für die Wirtschaft und für die Wirtschaftskraft wollten, dieses Landes, weil viel Produktivität, Kreativität usw. (Beifall bei der SPD und der PDS) darin enthalten sind. daß sie Beruf und Familie vereinbaren konnten. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stück Freiheit, zu entscheiden, ob man mit Kindern der PDS) allein leben will oder ob man in der Ehe leben will — Ich würde dies z. B. gern den Landfrauen in Meck- all dies dürfen wir nicht einfach so wegschieben; denn lenburg-Vorpommern zur Antwort geben, wenn die es hat auch etwas damit zu tun, daß uns diese innere sich an mich wenden: „Hören Sie, wir haben doch Einheit gelingt und daß wir es gemeinsam schaffen, immer viel organisieren müssen. Wir haben aus nichts den Glauben an die Demokratie und das Vertrauen in etwas gemacht. Wir haben hier auch die Steine von sie zu stärken. den Feldern geholt. Warum brauchen Sie uns jetzt Deshalb brauchen wir verstärkte Anstrengungen nicht beim Aufbau Deutschland?" — Ich glaube, und gesetzliche Maßnahmen, damit den Frauen der dahinter stecken so viel Phantasie, Ideen und Kraft von Frauen, daß dies wirklich der Zukunft zugewandt Weg in die Erwerbsarbeit ermöglicht wird. Wir müs- sen es schaffen, Beruf und Familie zu einer Angele- wäre und daß wir ins Jahr 2000 aufbrechen könnten, genheit von Frauen und Männern zu machen. Wir weil wir alles, was an Qualifikation in diesem Land müssen es schaffen, daß Frauen und Männer wirklich vorhanden ist, endlich einmal in diesen Prozeß einbe- die gleichen Chancen und Rechte haben. ziehen würden und nicht zwischen Männern und Frauen und Osten und Westen aufteilen usw. wür- Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern davon den. gesprochen, daß wir gleiche Chancen bei der berufli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen Bildung verwirklichen wollen; aber heute ist es eine Tatsache, daß trotz aller Appelle immer noch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der 55 % der Mädchen sich auf die zehn typischen Frau- PDS) enberufe konzentrieren. Dagegen hätte ich ja nichts, Lassen Sie mich abschließend sagen — ich hätte wenn es den Mädchen so gut gefiele. Ich habe aber gern noch andere Bereiche angesprochen — etwas dagegen, weil es die Berufe sind — Sie kennen (Zuruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) sie alle; da sitzt nie ein Mann, wenn man herein- — Der Herr Kollege Glos hat eben gesagt: "Ein kommt —, wo die Rolle der Frau als Dazuverdienerin bißchen leiser! " Das ist nicht böse gemeint: Ich werde geprägt wird und wo es keine Aufstiegschancen manchmal etwas lauter, weil es mir ein Herzensanlie- gibt. gen ist. (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Bei der Gleichstellung von Frau und Mann müssen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir wirklich davon ausgehen, daß dies nicht die Idee GRÜNEN) von ein paar verrückten Weibern in diesem Land ist, Wer das wirklich beseitigen will, den lade ich ein, die nichts anderes im Sinn haben, als sich selber zu mit uns zumindest einmal offen darüber zu diskutie- verwirklichen, sondern daß es die Idee von Demokra- ren, ob unsere Auffassung, wir müßten eine Reservie- tie, von Gerechtigkeit und von einem sinnvollen rung von Ausbildungsplätzen für Mädchen vorneh- Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen ist. men, der richtige Weg ist. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Ich glaube, nach allem, was hier diskutiert wird, Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE muß es so sein: Wir müssen die Plätze nicht nur GRÜNEN und der F.D.P.) deshalb freihalten, weil dies eine Chance dafür ist, daß auch Frauen und Mädchen in Berufen mit Zukunft - Frau Kollegin und mit der Aussicht, daß sie sich davon ernähren Vizepräsident Hans Ulrich Klose: können, ausgebildet werden, sondern auch deshalb, Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage? weil dies eine Form ist, durch die wir endlich etwas in den Köpfen der Eltern verändern, die z. B. sagen: „Das Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Ja. ist doch nichts für dich, Automechaniker zu werden" , und in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer, die bei der Frage: „Wer geht hin und bekommt ein Prakti- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Glos, bitte. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 221

Michael Glos (CDU/CSU): Frau Kollegin Schmidt, ration, die es in dieser Republik je gab, draußen vor gestatten Sie mir eine Richtigstellung. Es mag heute den Türen stehen lassen, hinter denen Geld verdient mit meiner Stimme zusammenhängen, daß mein Zwi- wird, hinter denen Ideen entwickelt werden und schenruf nicht richtig angekommen ist. Ich hatte Sie hinter denen Politik gestaltet wird. Es sind hohe gebeten, auch mit uns zu sprechen und nicht nur mit Kosten für ihre Ausbildung und ihre Qualifikation dem Herrn Bundeskanzler. Das war mein Anliegen. angefallen. Wir können nicht sagen, daß es reicht, (Heiterkeit im ganzen Hause) wenn die Frauen nachher in niedrig bezahlten Beru- fen oder nicht ihrer Ausbildung gemäß eingesetzt werden. So bringen wir auch die Finanzen dieses Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Sehen Sie mal, Herr Landes nicht in Ordnung. Kollege Glos, Sie habe ich so oft hier, aber mit dem Herrn Bundeskanzler kann ich viel seltener reden. Ich hoffe, daß wir jetzt gemeinsam einen Start Lassen Sie mir doch das Vergnügen! wagen. Ich bringe die Anträge der SPD-Fraktion ein. Dann diskutieren wir über die einzelnen Punkte, wie (Beifall im ganzen Hause — Bundeskanzler wir die Situation der Frauen in diesem Land verändern Dr. Helmut Kohl: Sehr gut!) können. Das ist eine Frage der Demokratie; um das kurz zu Vielen Dank. sagen, weil ich fest davon überzeugt bin. Demokratie heißt Entscheidung einer Mehrheit auch für die anderen. (Anhaltender Beifall bei der SPD, dem Man beugt sich dann diesen Mehrheitsentscheidungen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) und lebt damit. Diese Entscheidung für die Mehrheit unseres Volkes kann aber nur dann gefaßt werden, wenn die Entscheidungen von Frauen und Männern in diesem Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Meine Damen Land gleichberechtigt getroffen werden, weil ansonsten und Herren, ich gebe jetzt das von den Schriftführern immer ein Geschlecht entscheidet, was gut für das ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung andere Geschlecht ist. Das ist halt nicht die Mehrheit. Wir über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sind die Mehrheit des Volkes. und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 13/41 bekannt. Abgegebene Stimmen: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der 623. Mit Ja haben gestimmt: 292. Mit Nein haben F.D.P. und der PDS) gestimmt: 331. Enthaltungen: Keine. Der Entschlie- Gerechtigkeit ist notwendig, weil es so ist, daß ßungsantrag ist abgelehnt. Frauen in diesem Land — wie überall auf der Welt — sehr viel geleistet haben und sehr viel leisten. Was ihnen verwehrt bleibt, ist eine gerechte Anerkennung Endgültiges Ergebnis Dr. Däubler-Gmelin, Herta ihrer Leistungen. Statt dessen werden Frauen Deichmann, Christel bestraft. Weil sie sich für Familie, die Pflege und viele Abgegebene Stimmen: 623; Diller, Karl andere Dinge entscheiden, sind sie es, die immer davon: Dr. Dobberthien, Marliese finanziell abhängig sind und nicht selber über sich Dreßen, Peter entscheiden können. ja: 292 Dreßler, Rudolf nein: 331 Duve, Freimut Sie können mir glauben: Ich bin selber alleinerzie- Eich, Ludwig hende Mutter. Ich weiß, was es heißt, berufstätig zu enthalten: 0 Enders, Peter sein und ein Kind zu erziehen und zu versorgen, und Ernstberger, Petra welche Schwierigkeiten das macht. Ich hatte Glück. Faße, Annette Ich hatte das Glück einer guten Ausbildung und auch Ja Ferner, Elke eines Berufs, bei dem ich so viel Geld verdiente, daß Fischer (Homburg), Lothar das ging. Aber Millionen von Alleinerziehenden in SPD Fograscher, Gabriele diesem Land haben das nicht. Follak, Iris Adler, Brigitte Freitag, Dagmar Deshalb, Herr Bundeskanzler, ist es notwendig, daß Antretter, Robe rt Fuchs (Köln), Anke wir uns über die Zahl unterhalten: Bis zu welchem Bachmaier, Hermann Fuchs (Verl), Katrin Einkommen wird denn Kindergeld gezahlt? Die Bahr, Ernst Fuhrmann, Arne Masse der Alleinerziehenden lebt doch von weniger Barnett, Doris Gansel, Norbert als 2 000 DM im Monat. Denen nützt es doch nichts, Barthel, Klaus Gilges, Konrad wenn wir die Kinderfreibeträge in der Steuer erhöhen. Becker-Inglau, Ingrid Gleicke, Iris Behrendt, Wolfgang Denen nützt nur etwas bar auf die Hand. Gloser, Günter Berger, Hans Dr. Glotz, Peter (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Bernrath, Hans Gottfried Graf (Rosenheim), Angelika GRÜNEN und der PDS) Bertl, Hans-Werner Grasedieck, Dieter Bindig, Rudolf Ich weiß, Herr Präsident, daß meine Redezeit abge- Großmann, Achim Blunck (Uetersen), Lieselott Haack (Extertal), laufen ist. Aber als drittes möchte ich noch diesen Dr. Böhme (Unna), Ulrich Karl-Hermann einen Satz sagen. Börnsen (Ritterhude), Arne Hacker, Hans-Joachim Wenn wir uns hier in diesem Bundestag darüber Brandt-Elsweier, Anni Hagemann, Klaus unterhalten, wie denn eine Verschlankung des Staa- Braune, Tilo Hampel, Manfred Eugen tes aussieht, wie wir denn unsere Haushalte sanieren, Dr. Brecht, Eberhard Hanewinckel, Christel Burchardt, Ursula wie wir denn sinnvoll mit unserem gesellschaftlichen Hartenbach, Alfred Bury, Hans Martin Dr. Hartenstein, Liesel Reichtum umgehen, dann sage ich Ihnen: Es ist eine Caspers-Merk, Marion Dr. Hauchler, Ingomar ungeheure Verschwendung von gesellschaftlichem Catenhusen, Wolf-Michael Heistermann, Dieter Reichtum, wenn wir die bestqualifizierte Frauengene- Conradi, Peter Hemker, Reinhold 222 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Hempelmann, Rolf Rennebach, Renate Welt, Jochen Dr. Jacob, Willibald Dr. Hendricks, Barbara Reuter, Bernd Wester, Hildegard Jelpke, Ulla Heubaum, Monika Dr. Richter, Edelbert Westrich, Lydia Jüttemann, Gerhard Hiksch, Uwe Rixe, Günter Wettig-Danielmeier, Inge Dr. Knake-Werner, Heidi Hiller (Lübeck), Reinhold Robbe, Reinhold Wieczorek-Zeul, Heidemarie Kutzmutz, Rolf Höfer, Gerd Rübenkönig, Gerhard Wittich, Berthold Lederer, Andrea Hoffmann (), Jelena Dr. Schäfer, Hansjörg Dr. Wodarg, Wolfgang Lüth, Heidemarie Hofmann (Volkach), Frank Schaich-Walch, Gudrun Wohlleben, Verena Dr. Luft, Christa Holzhüter, Ingrid Schanz, Dieter Wolf, Hanna Dr. Maleuda, Horn, Erwin Scharping, Rudolf Wright, Heide Günther Johannes Ibrügger, Lothar Scheelen, Bernd Zapf, Uta Müller (Berlin), Imhof, Barbara Dr. Scheer, Hermann Zumkley, Peter Manfred Walter Irber, Brunhilde Scheffler, Siegfried Neuhäuser, Rosel Iwersen, Gabriele Schild, Horst Dr. Rössel, Uwe-Jens Jäger, Renate Schily, Otto BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schenk, Christina Janz, Ilse Schloten, Dieter Tippach, Steffen Dr. Jens, Uwe Schluckebier, Günter Altmann (Aurich), Gisela Warnick, Klaus-Jürgen Jung (Düsseldorf), Volker Schmidbauer (Nürnberg), Altmann (Pommelsbrunn), Dr. Wolf, Winfried Kaspereit, Sabine Horst Elisabeth Zwerenz, Gerhard Kastner, Susanne Schmidt (Aachen), Ursula Beck (Bremen), Marieluise Kemper, Hans-Peter Schmidt (Meschede), Dagmar Beck (Köln), Volker Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Beer, Angelika Kirschner, Klaus Nein Klappert, Marianne Schmidt-Zadel, Regina Berninger, Matthias Klemmer, Siegrun Schmitt (Berg), Heinz Buntenbach, Annelie CDU/CSU Klose, Hans-Ulrich Dr. Schnell, Emil Dietert-Scheuer, Amke Dr. Knaape, Hans-Hinrich Schöler, Walter Eichstädt-Bohlig, Franziska Adam, Ulrich Körper, Fritz Rudolf Schreiner, Ottmar Fischer (Berlin), Andrea Altmaier, Peter Kolbow, Walter Schröter, Gisela Fischer (Frankfurt), Joseph Augustin, Anneliese Kressl, Nicolette Dr. Schubert, Mathias Grießhaber, Rita Augustinowitz, Jürgen Kröning, Volker Schütz (Oldenburg), Dietmar Häfner, Gerald Austermann, Diet rich Krüger, Thomas Schuhmann (Delitzsch), Hermenau, Antje Bargfrede, Heinz-Günter Kubatschka, Horst Richard Heyne, Kristin Basten, Franz Peter Dr. Küster, Uwe Schulte (Hameln), Brigitte Höfken-Deipenbrock, Ulrike Dr. Bauer, Wolf Kuhlwein, Eckart Schultz (Everswinkel), Hustedt, Michaele Baumeister, Brigitte Kunick, Konrad Reinhard Dr. Kiper, Manuel Belle, Meinrad Kurzhals, Christine Schultz (Köln), Volkmar Knoche, Monika Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Lange, Brigitte Dr. Schuster, R. Werner Dr. Köster-Loßack, Angelika Bierling, Hans-Dirk von Larcher, Detlev Dr. Schwall-Düren, Angelica Lemke, Steffi Dr. Blank, Joseph-Theodor Lehn, Waltraud Schwanhold, Ernst Lengsfeld, Vera Lennartz, Klaus Schwanitz, Rolf Dr. Lippelt, Helmut Blank, Renate Dr. Leonhard, Elke Seidenthal, Bodo Metzger, Oswald Dr. Blens, Heribert Lörcher, Christa Seuster, Lisa Müller (Köln), Kerstin Bleser, Peter Lohmann (Witten), Klaus Sielaff, Horst Nachtwei, Winfried Dr. Blüm, Norbert Lotz, Erika Simm, Erika Özdemir, Cern ria Dr. Böhmer, Ma Dr. Lucyga, Christine Singer, Johannes Poppe, Gerd Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Maaß (Herne), Dieter Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Probst, Simone Dr. Bötsch, Wolfgang Mante, Winfried Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Dr. Rochlitz, Jürgen Bohl, Friedrich Marx, Dorle Sorge, Wieland Scheel, Christine Borchert, Jochen Mascher, Ulrike Spanier, Wolfgang Schewe-Gerigk, Irmingard Bosbach, Wolfgang Matthäus-Maier, Ingrid Dr. Sperling, Dietrich Schlauch, Rezzo Brähmig, Klaus Mattischeck, Heide Spiller, Jörg-Otto Schmidt (Hitzhofen), Albe rt Braun (Auerbach), Rudolf Mehl, Ulrike Steen, Antje-Marie (Langenfeld), Schmitt Breuer, Paul Meißner, Herbert Stiegler, Ludwig Wolfgang Brudlewsky, Monika Mertens, Angelika Dr. Struck, Peter Schönberger, Ursula Brunnhuber, Georg Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Tappe, Joachim Schoppe, Waltraud Bühler (Bruchsal), Klaus Mogg, Ursula Tauss, Jörg Schulz (Berlin), Werner Büttner (Schönebeck), Mosdorf, Siegmar Dr. Teichmann, Bodo Steenblock, Rainder Hartmut Müller (Düsseldorf), Michael Terborg, Margitta Sterzing, Christian Buwitt, Dankward Müller (Völklingen), Jutta Teuchner, Jella Such, (Emstek), Manfred Müller (Zittau), Christian Dr. Thalheim, Gerald Dr. Vollmer, Antje Carstensen (Nordstrand), Neumann (Bramsche), Volker. Thierse, Wolfgang Wilhelm (Amberg), Helmut Peter H. Dr. Niehuis, Edith Thieser, Dietmar Wolf-Mayer, Margareta Dehnel, Wolfgang Dr. Niese, Rolf Thönnes, Franz Dempwolf, Gertrud Oesinghaus, Günter Titze-Stecher, Uta Deß, Albert Onur, Leyla Tröscher, Adelheid PDS Diemers, Renate Opel, Manfred Urbaniak, Hans Eberhard Dietzel, Wilhelm Ostertag, Adolf Verheugen, Günter Bierstedt, Wolfgang Dörflinger, Werner Palis, Kurt Vogt (Pforzheim), Ute Böttcher, Maritta Doss, Hansjürgen Papenroth, Albrecht Voigt (Frankfurt), Karsten D. Bulling-Schröter, Eva-Maria Dr. Dregger, Alfred Dr. Penner, Wilfried Wagner, Hans Georg Graf von Einsiedel, Heinrich Eichhorn, Maria Pfannenstein, Georg Dr. Wegner, Konstanze Dr. Elm, Ludwig Engelmann, Wolfgang Dr. Pick, Eckhart Weiermann, Wolfgang Dr. Enkelmann, Dagmar Eppelmann, Rainer Poß, Joachim Weis (Stendal), Reinhard Dr. Fuchs, Ruth Eßmann, Heinz Dieter Purps, Rudolf Weisheit, Matthias Dr. Gysi, Gregor Eylmann, Horst Rehbock-Zureich, Karin Weißgerber, Gunter Dr. Heuer, Uwe-Jens Eymer, Anke von Renesse, Margot Weisskirchen (Wiesloch), Gert Heym, Stefan Falk, Ilse Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 223

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Dr. Faltlhauser, Ku rt Krziskewitz, Reiner Dr. Reinartz, Bertold Dr. Töpfer, Klaus Jochen Feilcke, Dr. Kues, Hermann Reinhardt, Erika Tröger, Gottfried Dr. Fell, Karl H. Kuhn, Werner Repnik, Hans-Peter Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Fink, Ulf Dr. Lamers (Heidelberg), Richter, Roland Uldall, Gunnar Fischer (Hamburg), Dirk Karl A. Richwien, (Duren), Wolfgang Fischer (Unna), Leni Lamers, Karl Dr. Rieder, Norbert Dr. Waffenschmidt, Horst Frankenhauser, Herbert Dr. Lammert, Norbe rt Dr. Riedl (München), Erich Dr. Waigel, Theodor Dr. Friedrich, Gerhard Lamp, Helmut Johannes Riegert, Klaus Graf von Waldburg-Zeil, Alois Fritz, Erich G. Laschet, Armin Dr. Riesenhuber, Heinz Dr. Warnke, Jürgen Fuchtel, Hans-Joachim Lattmann, Herbe rt Rönsch (Wiesbaden), Wetzel, Kerstin Geiger, Michaela Dr. Laufs, Paul Hannelore Wilhelm (Mainz), Hans-Otto Geis, Norbert Laumann, Karl Josef Röttgen, Norbe rt Willner, Gert Dr. Geißler, Heiner Lensing, Werner Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm Wilz, Bernd Glos, Michael Lenzer, Christian Dr. Rose, Klaus Wimmer (Neuss), Willy Glücklich, Wilma Letzgus, Peter Rossmanith, Kurt J. Wissmann, Matthias Dr. Göhner, Reinhard Limbach, Editha Roth (Gießen), Adolf Wittmann (Tännesberg), Götz, Peter Link (Diepholz), Walter Dr. Ruck, Christian Simon Dr. Götzer, Wolfgang Lintner, Eduard Rühe, Volker Wöhrl, Dagmar Gres, Joachim Dr. Lippold (Offenbach), Dr. Rüttgers, Jürgen Wonneberger, Michael Grill, Kurt-Dieter Klaus W. Sauer (Stuttgart), Roland Wülfing, Elke Gröbl, Wolfgang Dr. Lischewski, Manfred Schätzle, Ortrun Würzbach, Peter Kurt Gröhe, Hermann Löwisch, Sigrun Dr. Schäuble, Wolfgang Yzer, Cornelia Grotz, Claus-Peter Lohmann (Lüdenscheid), Schauerte, Hartmut Zeitlmann, Wolfgang Grund, Manfred Wolfgang Schemken, Heinz Zierer, Benno Günther (Duisburg), Horst Louven, Julius Scherhag, Karl-Heinz Zöller, Wolfgang Haschke (Großhennersdorf), Lummer, Heinrich Scheu, Gerhard Gottfried Dr. Luther, Michael Schindler, Norbert FDP Hasselfeldt, Gerda Dr. Mahlo, Dietrich Schlee, Dietmar Haungs, Rainer Marschewski, Erwin Schmalz, Ulrich Albowitz, Ina Hauser (Esslingen), Otto Marten, Günter Schmidbauer, Bernd Dr. Babel, Gisela Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Schmidt (Fürth), Christian Braun (Augsburg), Heise, Manfred Martin Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Hildebrecht Dr. Hellwig, Renate Meinl, Rudolf Horst Joachim Bredehorn, Günther Hinsken, Ernst Dr. Meister, Michael Schmidt (Mülheim), Andreas van , Jörg Hintze, Peter Dr. Merkel, Angela Schmiedeberg, Hans-Otto Dr. Feldmann, Olaf Hörster, Joachim Merz, Friedrich Schmitz (Baesweiler), Frick, Gisela Hollerith, Josef Meyer (Winsen), Rudolf Hans Peter Friedhoff, Paul K. Dr. Hornhues, Karl-Heinz Michelbach, Hans von Schmude, Michael Friedrich, Horst Hornung, Siegfried Michels, Meinolf Schnieber-Jastram, Birgit Funke, Rainer Hüppe, Hubert Dr. Müller, Gerd Dr. Schockenhoff, Andreas Genscher, Hans-Dietrich Jacoby, Peter Müller (Kirchheim), Elmar Dr. Scholz, Rupe rt Dr. Gerhardt, Wolfgang Jaffke, Susanne Nelle, Engelbert Freiherr von Schorlemer, Günther (Plauen), Joachim Janovsky, Georg Neumann (Bremen), Bernd Reinhard Dr. Guttmacher, Karlheinz Jawurek, Helmut Nitsch, Johannes Dr. Schuchardt, Erika Dr. Haussmann, Helmut Dr. Jobst, Dionys Nolte, Claudia Schütze (Berlin), Diethard Heinrich, Ulrich Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Olderog, Rolf Schulhoff, Wolfgang Hirche, Walter Dr. Jüttner, Egon Ost, Friedhelm Dr. Schulte Dr. Hirsch, Burkhard Jung (Limburg), Michael Oswald, Eduard (Schwä-bisch Gmünd), Homburger, Birgit Junghanns, Ulrich Otto (Erfurt), Norbert Dieter Dr. Hoyer, Werner Dr. Kahl, Harald Dr. Päselt, Gerhard Schulz (Leipzig), Gerhard Irmer, Ulrich Kalb, Bartholomäus Dr. Paziorek, Peter Schulze, Frederik Dr. Kinkel, Klaus Kampeter, Steffen Pesch, Hans-Wilhelm Schwalbe, Clemens Kleinert (Hannover), Detlef Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Petzold, Ulrich Sebastian, Wilhelm-Josef Kohn, Roland Kanther, Manfred Pfeifer, Anton Seehofer, Horst Dr. Kolb, Heinrich L. Karwatzki, Irmgard Pfeiffer, Angelika Seibel, Wilfried Koppelin, Jürgen Kauder, Volker Dr. Pfennig, Gero Seiffert, Heinz-Georg Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Keller, Peter Dr. Pflüger, Friedbert Seiters, Rudolf Lanfermann, Heinz von Klaeden, Eckart Philipp, Beatrix Selle, Johannes Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Klaußner, Bernd Dr. Pinger, Winfried Siebert, Bernd Sabine Klein (München), Hans Pofalla, Ronald Sikora, Jürgen Lühr, Uwe Klinkert, Ulrich Dr. Pohler, Hermann Singhammer, Johannes Möllemann, Jürgen W. Köhler (Hainspitz), Polenz, Ruprecht Sothmann, Bärbel Nolting, Günther Friedrich Hans-Ulrich Pretzlaff, Marlies Späte, Margarete Dr. Ortleb, Rainer Königshofen, Norbert Dr. Probst, Albert Spranger, Carl-Dieter Dr. Rexrodt, Günter Dr. Kohl, Helmut Dr. Protzner, Bernd Steiger, Wolfgang Dr. Röhl, Klaus Kolbe, Manfred Pützhofen, Dieter Steinbach, Erika Schäfer (Mainz), Helmut Kors, Eva-Maria Rachel, Thomas Dr. Freiherr von Stetten, Schmalz-Jacobsen, Cornelia Koschyk, Hartmut Raidel, Hans Wolfgang Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard Koslowski, Manfred Dr. Ramsauer, Peter Dr. Stoltenberg, Gerhard Dr. Schwaetzer, Irmgard Kossendey, Thomas Rau, Rolf Storm, Andreas Dr. Solms, Hermann Otto Kraus, Rudolf Rauber, Helmut Straubinger, Max Dr. Stadler, Max Krause (Dessau), Wolfgang Rauen, Peter Harald Stübgen, Michael Thiele, Carl-Ludwig Krautscheid, Andreas Regenspurger, Otto Dr. Süssmuth, Rita Dr. Thomae, Dieter Kriedner, Arnulf Reichard (Dresden), Christa Susset, Egon Türk, Jürgen Kronberg, Heinz-Jürgen Reichardt (Mannheim), Teiser, Michael Dr. Weng (Gerlingen), Dr.-Ing. Krüger, Paul Klaus Dieter Dr. Tiemann, Susanne Wolfgang 224 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat die Wir brauchen dringend ein kinderfreundliches Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Wohnumfeld und preiswerte Wohnungen für Fami- Jugend, die Kollegin Claudia Nolte. lien mit Kindern. (Zuruf von der SPD: O ja!) Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, daß die Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- Wohnungseigentumsförderung für Familien mit Kin ren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Meine sehr -dern verstärkt, kostensparendes Bauen gefördert und geehrten Damen und Herren! Die Debatten gestern mehr Bauland neu erschlossen wird. und heute machten deutlich: Uns geht es darum, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sichern. Ich finde ordneten der F.D.P. — Abg. Gerd Höfer [SPD] es gut, daß auch Frau Schmidt das so verstanden meldet sich zu einer Zwischenfrage) hat. Aus gutem Grund haben die Koalitionsparteien deshalb die Familienpolitik als eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre bezeichnet. Martin Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, Luther hatte in seinen Tischreden u. a. darauf verwie- gestatten Sie eine Zwischenfrage? sen, daß die Familie die Quelle des Segens, aber auch des Unsegens der Völker sein kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend: Wir werden vier Jahre Zeit Das war damals richtig, und das ist heute richtig. haben, miteinander zu reden. Ich wünsche mir, daß ich in meiner ersten Rede einmal das Gesamtkonzept Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, daß in meinem darstellen kann. Elternhaus menschliches Miteinander selbstverständ- lich war und ich dadurch Halt und Orientierung (Beifall bei der CDU/CSU) erfahren konnte. Wie junge Menschen in ihrer Familie Nicht nur der Bund, auch Länder und Kommunen aufwachsen, hat großen Einfluß auf ihre Entwicklung sind gefordert, ihren Beitrag dazu zu leisten. Das gilt und die Zukunft unserer Gesellschaft. auch für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz. Nicht nur, weil der Kontakt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu Gleichaltrigen für die Entwicklung von Kindern Wir wollen die Familie stärken. Sie ist das Funda- wichtig ist, Kindergärten und Kinderbetreuungsein- ment unserer Gesellschaft. Nirgendwo sonst wird der richtungen insgesamt erleichtern auch die Vereinbar- unauflösliche Zusammenhang zwischen Freiheit und keit von Familie und Beruf und stellen eine wichtige Verantwortung deutlicher. Nirgendwo ist die Not- Erziehungshilfe dar. wendigkeit von mehr Eigenverantwortung und mehr Zu einer familienfreundlichen Gesellschaft gehört Solidarität anschaulicher als in der Familie. für mich der bessere Schutz ungeborener Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Und der geborenen!) Wenn die Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt Die Auseinandersetzungen darüber sind sehr emotio- wird, gewinnt der Staat Handlungsspielräume zurück, nal geführt worden. Mit gegenseitigen Vorurteilen, um denen zu helfen, die dringend Unterstützung Unterstellungen und Beschimpfungen werden wir brauchen. - dem Auftrag, eine verfassungsgemäße Regelung zu Unser Ziel ist es, den Familienlastenausgleich zu entwickeln, nicht gerecht. Der Gewissensentschei- einem Familienleistungsausgleich weiterzuentwik- dung des anderen sollten wir mit Respekt begeg- keln. Wir wollen, daß Familien mit Kindern weniger nen. Steuer zahlen müssen als Kinderlose. Deshalb heben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wir den Kinderfreibetrag deutlich an und erhöhen ihn stufenweise. Wir müssen gemeinsam in einer großen Kraftan- strengung dafür eintreten, daß es zu einem Gesetz (Zuruf von der SPD: Na wunderbar!) kommt, das Rechtssicherheit schafft, das ungeborene Leben schützt, den Frauen gerecht wird und dem Eltern und Alleinerziehende können sich darauf ver- Selbstverständnis einer pluralen Gesellschaft ent- lassen, daß wir das, was für den Unterhalt der Kinder spricht. notwendig ist, nicht wegsteuern. Die Höhe des Kin- dergeldes muß sich stärker am Einkommen und an der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann können Sie Kinderzahl orientieren. ja unserem Antrag zustimmen!) Die gemeinsame Basis dafür bietet das Urteil des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Bundesverfassungsgerichts. Mir persönlich wird ein ordneten der F.D.P.) Konsens viel abverlangen; das bekenne ich ausdrück- Die finanzielle Absicherung alleinerziehender Matter lich. Aber ich biete Ihnen meine Bereitschaft dazu und Väter wollen wir verbessern, indem wir im an, Unterhaltsvorschußgesetz die bisherigen Altersgren- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist aber zen für Kinder erhöhen. nett!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 225

Bundesministerin Claudia Nolte weil mir viel daran liegt, daß es in dieser Frage zu einer Wenn ich Ihren Worten glauben darf, Frau Schmidt, möglichst breiten Übereinstimmung in Staat und kann ich auf Ihre Unterstützung rechnen. Gesellschaft kommt. Unsere Bemühungen, daß Frauen und Männer alle (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens gleich- berechtigt gestalten können, setzen wir fort. Dem Ich bin davon überzeugt, daß dem ungeborenen diente die Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes, Kind niemand einen besseren Schutz geben kann als die wir gemeinsam verabschiedet haben. In unserer die Mutter. Mit Ihrer Unterstützung möchte ich errei- Gleichberechtigungspolitik wird es keinen Stillstand chen, daß die Bedingungen für Familien mit Kindern geben. in unserem Land besser werden. Das macht auch der Bericht der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. für die vierte Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking Ulrich Irmer [F.D.P.]) deutlich. Er zeigt zum einen eindrucksvoll, welche Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer kinder- Fortschritte in den vergangenen zehn Jahren gemacht und familienfreundlichen Gesellschaft gehört auch worden sind, aber er benennt auch die Defizite, die die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbs- angegangen werden müssen. arbeit für Frauen und Männer. Ob sich junge Paare für Im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz arbeiten Hun- Kinder entscheiden, hängt wesentlich davon ab, wie derte Frauen aus den verschiedensten Organisationen im Alltag und in der Arbeitswelt den Bedürfnissen von an der Vorbereitung des deutschen Beitrags mit. Familien und Kindern Rechnung getragen wird. Hier Diesen Frauen möchte ich für ihr Engagement dan- sind durch die Anerkennung von Erziehungszeiten im ken. Rentenrecht, durch das Erziehungsgeld und den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Erziehungsurlaub in den vergangenen Jahren ent- ordneten der F.D.P.) scheidende Weichenstellungen erreicht worden. Partnerschaft, meine Damen und Herren, be- Für besonders wichtig halte ich eine Flexibilisie- schränkt sich nicht nur auf die Beziehungen zwischen Des- rung der Arbeitszeit und Arbeitsorganisation. Männern und Frauen. Eine partnerschaftliche Gesell- halb werden wir mit den Arbeitgebern und Arbeitneh- schaft muß gerade auch im Miteinander der Genera- mern im Gespräch bleiben, praxisnahe Modelle star- tionen ihren Ausdruck finden. Ältere Menschen ten und unsere Offensive für mehr Teilzeitarbeit haben eine Lebensleistung einzubringen, auf die wir fortsetzen. jungen Menschen aufbauen können. Sie haben eine Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode im Fülle von Erkenntnissen und Erfahrungen, die wir Gleichberechtigungsgesetz für den öffentlichen nutzen sollten, auch wenn es um die Sicherung des Dienst des Bundes beschlossen, daß auch bei Teilzeit- Wirtschaftsstandorts Deutschland geht. arbeit Höherqualifizierung, Aufstieg sowie die Aus- Es gibt genügend Beispiele, in denen gerade ältere übung von Leitungsfunktionen möglich sind. Menschen in sozialen Diensten oder auch beim Auf- (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber nur ein bau neuer Betriebe in den neuen Bundesländern Prozent!) wesentliche Beiträge leisten. Darin sind auch die Nachteilsverbote enthalten, die Mit dem Bundesaltenplan ist ein zentrales Förderin- Sie gefordert haben. Mittel- und langfristig muß dies strument des Bundes für die Seniorenpolitik entstan- Eingang auch in die Privatwirtschaft finden. Es geht den. Auf kommunaler Ebene gibt es zunehmend nicht an, daß für sieben Männer und Frauen, die einen Seniorenbeiräte, die ihren Einfluß auf die Kommunal- Teilzeitarbeitsplatz suchen, nur einer zur Verfügung politik ausüben. Diese Strukturen müssen wir in steht. - Zukunft stärken. Daneben muß die Alternsforschung intensiviert und müssen ihre Erkenntnisse in die Berufstätigkeit von Frauen ist heute in der Regel Praxis umgesetzt werden. etwas Selbstverständliches. Viele Frauen wollen auch dann im Beruf bleiben, wenn sie es finanziell nicht Wir aus der jüngeren Generation tun gut daran, auf nötig haben, sei es, weil sie im erlernten Beruf auch den Rat und die Erfahrung der Älteren zu hören. Ich arbeiten und vorwärtskommen wollen, eigenständig verspreche Ihnen eine aktive Seniorenpolitik. und sozial abgesichert sein wollen oder weil sie ganz (Beifall bei der CDU/CSU) einfach Freude daran haben. Auf ihrem Lebenswerk bauen die Jüngeren auf, Es ist aber leider eine Tatsache, daß es Frauen oft wenn auch mit dem der Jugend eigenen kritischen schwerer haben als Männer, Blick und eigenen Lebensvorstellungen. Wir Politike- (Zuruf von der SPD: Das liegt doch nicht an rinnen und Politiker müssen die Anliegen der Jugend den Frauen, sondern an den Strukturen!) ernst nehmen und sie als verantwortungsbewußte und mündige Staatsbürger fördern und fordern. sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, insbeson- Für die Perspektive junger Menschen ist die Sicher- dere dann, wenn Arbeitsplätze knapp sind. Das zeigt stellung eines Ausbildungsplatzes von besonderer sich besonders schmerzhaft in den neuen Bundeslän- Bedeutung. Das ist in den letzten Jahren gelungen. dern, in denen die Frauenarbeitslosigkeit doppelt so Das wollen wir auch in Zukunft erreichen. hoch ist wie die der Männer. Deshalb müssen im arbeitsmarktpolitischen Bereich weiterhin besondere Jugendliche brauchen Bewährungsfelder. Sie sind Anstrengungen unternommen werden, um Frauen zum Engagement bereit, ob es sich um den Einsatz für Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Behinderte oder Kranke, für die Bewahrung der 226 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesministerin Claudia Nolte Schöpfung oder um Projekte der Dritten Welt handelt. fest. Wir werden sie in den nächsten Jahren insbeson- Diese Bereitschaft wird auch in der Nachfrage nach dere in den neuen Bundesländern, wo gegenwärtig dem freiwilligen sozialen Jahr und dem freiwilligen 25 000 Zivildienstleistende ihren Dienst versehen, ökologischen Jahr deutlich. aufbauen. Die internationale Jugendarbeit wird in dieser Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor fünf Jahren Legislaturperiode weiter an Bedeutung gewinnen. habe ich mich im Neuen Forum mit familienpoliti- Neben das deutsch-französische Jugendwerk ist das schen Problemen in der ehemaligen DDR beschäftigt. deutsch-polnische Jugendwerk getreten. Allein 1993 Daß ich heute daran arbeiten darf, in der Familien-, haben 40 000 junge Deutsche und Polen an seinen Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik die innere Ein- Programmen teilgenommen. heit unseres Vaterlandes vollenden zu helfen, ist für mich Herausforderung und Verpflichtung. Der Austausch mit den mittel- und südosteuropäi- schen Ländern wird sich verstärken. Diese Staaten (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und sind daran interessiert, daß wir ihnen beim Aufbau der F.D.P.) von Jugendverbandsstrukturen und bei der Gestal- tung der Jugendarbeit helfen. Gerade beim Aufbau von Jugendverbänden und Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die einer modernen Struktur für die Jugendarbeit sind in Kollegin Rita Grießhaber. den letzten Jahren wichtige Erfahrungen in den neuen Bundesländern gesammelt worden, die jetzt international genutzt werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir macht die Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sorgen. Viele dieser Jugendlichen kommen mit einer Sehr geehrte Frau Nolte! Die frauenpolitische Land- komplizierter gewordenen Lebenswirklichkeit nicht schaft ändert sich langsam, aber unaufhaltsam. Wir zurecht. Gewalt ist auch ein Zeichen von Unsicher- sind bekanntlich die Partei, die als allererste die Quote heit, für das Gefühl, keine Perspektive zu haben. eingeführt hat. Manche suchen dann Zuflucht bei denen, die einfache (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr müßt dem Antworten parat haben: bei Pseudosekten oder in nächst die Männerquote einführen!) links- oder rechtsradikalen Gruppen. Diese Jugendli- chen dürfen wir nicht abschreiben. Das Ergebnis dieser Quote können Sie hier sehen: Unsere Fraktion hat den höchsten Frauenanteil aller Als Ursachen jugendlicher Gewalt werden häufig Fraktionen und besteht zu fast 60 % aus Frauen. Orientierungslosigkeit und Bindungsunfähigkeit ge- nannt. Eine wertorientierte Erziehung ist die entschei- Jetzt hat diese Diskussion auch die CDU eingeholt. dende Vorsorge gegen Extremismus und Gewalt. Selbst der Bundeskanzler — auch wenn er mir jetzt den Rücken zudreht — und sein Generalsekretär (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge können sich den Zeichen der Zeit nicht mehr ver- ordneten der F.D.P.) schließen. Etwas Angst vor der eigenen Courage Die Schulen haben dabei nicht nur eine Verpflich- haben sie ja wohl doch; denn sie nennen ihr halbher- tung zur Wissensvermittlung, sondern auch zur Erzie- ziges Vorgehen ganz vorsichtig und verschämt Quo- hung. Die Hauptverantwortung für die Erziehung der rum. Immerhin ist es schon einmal etwas. Kinder haben aber die Eltern. Das Erziehungsrecht ist Die Beweggründe für den Schwenk in der Union auch eine Erziehungspflicht. - liegen aber wohl weniger in der Hinwendung zu einer (Beifall bei der CDU/CSU) neuen qualitativen Frauenpolitik. Ich glaube, das Motiv ist viel schlichter: die Unzufriedenheit der Meine Damen und Herren, die menschliche Gestal- Frauen in den eigenen Reihen und das Ausbleiben der tung unseres sozialen Netzes ist ohne die anderthalb jungen Wählerinnen. Aus diesem Grund haben wir Millionen ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer jetzt auch die neue Ministerin für Familie, Senioren, nicht denkbar. Sie tragen in den Wohlfahrtsverbän- Frauen und Jugend, die rein formal sogar eine vierfa- den dazu bei, daß der Gemeinsinn gestärkt wird. Für che Quote erfüllt: jung, Frau, Mutter und aus den mich ist es eine wichtige Aufgabe, zusammen mit den neuen Bundesländern. Trägern der freien Wohlfahrtspflege das Ehrenamt in unserer Gesellschaft zu erhalten und zu stützen. (Zuruf von der CDU/CSU: Und klug!) Es wird sich zeigen, ob mehr hinter dem PR-Gag Wir werden das Modellprogramm der Förderung steckt. Was ich allerdings bis jetzt von Ihnen, Frau sozialer Selbsthilfe in den neuen Bundesländern fort- Nolte, insbesondere zum § setzen. Dort sind bereits 5 500 Selbsthilfegruppen 218 gehört habe, macht mich im höchsten Maße skeptisch. Die Diskussion um entstanden, in denen sich ca. 160 000 Menschen sozial die Abtreibung ist sicherlich, wie Sie richtig benannt engagieren. Das ist eine erfreuliche Entwicklung zur haben, mit sehr starken Emotionen verbunden. Nun Eigeninitiative, wenn man bedenkt, daß in der ehe- hat der Bundeskanzler in einem Fernsehinterview maligen DDR die freie Vereins- und Verbandsarbeit unerwünscht war. behauptet, daß Sie, Frau Nolte, in dieser Frage eine eigene persönliche Meinung hätten. Wenn es nur das Die freien Wohlfahrtsverbände leisten auch einen wäre, wären die öffentlichen Wogen der Entrüstung erheblichen Beitrag bei der Durchführung des Zivil- nicht so hoch gegangen. Aber daß Sie mit genau dienstes. An den Strukturen dieses Dienstes halten wir dieser Einstellung Frauenministerin dieses Landes Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 227

Rita Grießhaber geworden sind, gibt Ihrer angeblich privaten persön- Leistungen, die die Familien für die Gesellschaft lichen Meinung wohl ein ganz anderes Gewicht. erbringen, und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu beschwören. Was zählt, sind Taten. Doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerade die familienpolitische Bilanz nach 12 Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD) konservativ-liberaler Regierung ist dürftig. Daran nehmen vor allem auch die Frauen in den neuen Bundesländern Anstoß, denn gerade dort ver- Sogar das Bundesverfassungsgericht bescheinigt treten Sie eine Minderheitenmeinung, die reichlich der Bundesregierung, daß sie in 12 Jahren nicht in der exotisch ist. Lage war, den Familien zumindest das Existenzmini- mum zu garantieren, das die Sozialhilfe Kindern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zubilligt. Der Finanzminister wird vom Verfassungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) gericht gezwungen, etwas zu tun. Dutzende von Frauen wird für ihre Lebensplanung eine Menge Experten haben Modelle vorgelegt. Die Regierung ist abverlangt. Sie haben sich, je nach Bedarf, sehr längst am Zug. flexibel bewegt. Sie sind zum großen Teil aus der Noch immer sieht die Realität für viele Frauen so traditionellen Frauenrolle ausgebrochen, in Schule aus, daß sie unfreiwillig ihre Erwerbstätigkeit aufge- und Beruf schneiden sie vielfach besser ab als die ben müssen, wenn sie Mütter werden. Der Bundes- Männer, und viele sind für einen hohen persönlichen kanzler hat in seiner Regierungserklärung — ich Preis in Männerdomänen eingebrochen. Die Verant- finde, mit ganz neuen und ungewohnten Tönen — wortung, die Frauen in Familie und Beruf tragen, ist familienfreundliche Arbeitszeiten gefordert. Wir sind groß. Aber eine ganz grundlegende Frage ihres sehr gespannt, ob er diese Forderung auch an die Lebens sollen sie nicht frei entscheiden dürfen, näm- Wirtschaft richten wird, wenn es um den Standort lich die, ob sie mit Kindern leben wollen oder können. Deutschland geht. Es ist die Frage, ob sein Kabinett Das Selbstbestimmungsrecht wird uns Frauen mehr- bereit sein wird, die gesetzlichen Rahmenbedingun- heitlich von Männern abgesprochen. Uns wird die gen entsprechend zu verändern, oder ob es nur eine Unfähigkeit zu einer rechtmäßigen eigenverantwort- billige Sprechblase war. lichen Entscheidung unterstellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir werden sicher in anderen Debatten noch aus- Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird von der führlicher über den § 218 sprechen, aber zwei Punkte Koalition immer noch als Frauenthema behandelt. Es möchte ich noch benennen, auf die Sie auch nicht ist aber nur deswegen ein Frauenthema, weil die eingegangen sind. Wer wirklich Schwangerschaftsab- Männer die Verantwortung von sich schieben. Auch brüche verhindern will — und das beteuern alle hier im Parlament ist der Ort, wo gefragt werden muß: hier —, muß zum einen sehr viel mehr tun für eine Sind Vätern ihre Kinder nicht viel mehr Zeit und Kraft umfassende Aufklärung über Verhütung, Sexualität wert? Nur 1,4 % der Väter lassen sich für die Erzie- und Familienplanung, muß auch mehr tun für die hung ihrer Kinder beurlauben. Wir werden um eine Zugänglichkeit von sicheren und unschädlichen Ver- Änderung des Geschlechterverhältnisses noch sehr hütungsmitteln. Zum anderen muß eine Politik viel streiten müssen. Wir werden auch Anreize schaf- gemacht werden, die das Leben mit Kindern, mit alten fen müssen, damit sich Väter für die Erziehung frei- Menschen, mit Kranken und Pflegebedürftigen aktiv stellen lassen. Sie, meine Herren von der Koalition, fördert, statt nur davon zu reden. wissen ja aus eigener Erfahrung um die Bedeutung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Geldes. sowie bei Abgeordneten der SPD) - Warum aber müssen immer die Frauen für die Von konservativer Seite werden der Werteverfall Verbesserung der Rahmenbedingungen kämpfen? dieser Gesellschaft, die Höhe der Scheidungsrate, die Sollten die Herren dieses Thema zu ihrem vordringli- mangelnde Wärme in der Familie und der Geburten- chen Anliegen machen, statt es wie bisher zu blockie- rückgang oft beklagt. In den neuen Bundesländern ren, hätte das Problem endlich den Stellenwert, den es — ich glaube, es wird Ihnen nicht entgangen sein — in der Rhetorik der Regierungserklärung hatte. liegt der Geburtenrückgang seit 1989, territorial unterschiedlich, bei 50 bis 70 %. Die ostdeutschen (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Frauen verweigern sich gleichsam im zivilen Unge- NEN) horsam. Sie verzichten auf den eigenen Kinder- Wie wenig Erziehungsarbeit wert ist, bekommt frau wunsch und greifen sogar immer öfter zum Mittel der noch einmal bei der Rentenrechnung quittiert. Wer Sterilisation, um nur ganz sicher zu gehen. Diese nicht versicherungspflichtig teilzeitarbeitet, um Zeit selbstzerstörerische Tendenz finde ich in höchstem für die Kinder zu haben, bekommt weder die Erzie- Maße alarmierend. Frau Nolte, sorgen Sie sich weni- hungszeit noch aus dieser Erwerbsarbeit eine Rente ger um die Moral, reagieren Sie auf den Hilfeschrei angerechnet. In der letzten Legislaturperiode wurde der Frauen aus dem Osten! eine Entschließung des Bundestages zur Verbesse- (Beifall beim BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN rung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten sowie bei Abgeordneten der SPD und der verabschiedet. In der neuen Legislaturperiode ist das PDS) Problem noch immer ungelöst. Jetzt soll erneut geprüft werden. Herr Bundeskanzler, Sie nannten die Familie in Ihrer Regierungserklärung den Ort, an dem über die Wenn wir vom Thema Familie reden, möchte ich Zukunft entschieden werde. Nun hilft es nicht, die einen Punkt nicht außer acht lassen: Für viele Frauen 228 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode -- 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Rita Grießhaber und Kinder, Frau Nolte, ist Familie auch ein Ort der Kosteneinsparungen sind etwas anderes als Lei- Gewalt. Ich weiß nicht, ob Sie das mit dem lutheri- stungsabbau. Eine Debatte über das Anders und schen Zitat von dem Unsegen gemeint haben und Besser, nicht über das Weniger oder Mehr ist hier warum Sie es nicht ausgesprochen haben. Jedenfalls gefragt, meine Damen und Herren. ist es so, daß Frauenhäuser für mißhandelte Ehefrauen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie Beratungsstellen für mißbrauchte Kinder gro- ßen Zulauf haben. Sie zeigen den dringenden Bedarf Wo die Quotierung nicht mehr greift, weil es keine an einer Politik, die mit Verunsicherung, Angst und Neueinstellungen, sondern Entlassungen gibt, müs- Gewalt anders umgehen muß — nicht nur bei Jugend- sen Arbeitsstrukturen auch im Interesse der Frauen lichen, auch bei Männern. geändert werden. Dies ist ohne allgemeine Arbeits- zeitverkürzung in möglichst großen Schritten nicht zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, verwirklichen. Nur wenn vorhandene Arbeit auf mehr der SPD und der PDS) Schultern verteilt wird, können Fraueninteressen im Arbeitsleben erfolgreicher eingebracht werden. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Frauen ist nicht gewährleistet. Schnelle, kompetente Wenn der Kuchen, der zu verteilen ist, schrumpft, und unbürokratische Hilfe für Opfer ist leider noch geht es nicht um das größte Stück für die Frauen. Es nicht selbstverständlich. Daß Zufluchtstätten für geht darum, die satten Mäuler nicht zusätzlich zu Frauen erstritten wurden, ist ein Fortschritt. Daß aber stopfen und diesen Kuchen nach einem ganz neuen die Frauen mit ihren Kindern für ihre Sicherheit mit Rezept zu backen, so daß Frauen und Männer wirklich dem Verlust der Wohnung bezahlen müssen, das darf gleiche Chancen haben. Ich denke, grüne Frauenpo- nicht so bleiben. litik ist eine geeignete Hilfe dafür. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Nun hat der Bundeskanzler auch davon gespro- chen, daß wir statt von der Risikogesellschaft von der Zu welch extremen Formen die materielle Abhän- Chancengesellschaft reden sollten. Ich will das gerne gigkeit von Frauen führen kann, zeigt das Geschäft aufgreifen und fordere Sie auf: Schaffen Sie bessere mit der Not osteuropäischer Frauen. Viele von ihnen Chancen für ein Leben mit Kindern auch dadurch, daß landen als Prostituierte in deutschen Bordellen. Diese Familien in allen Formen, nicht aber die Ehe steuer- Tatsache wie auch die Tatsache, daß junge Mädchen lich begünstigt wird. und Kinder in Südostasien von deutschen Sextouri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sten mißbraucht werden, paßt nicht in das Erschei- sowie bei Abgeordneten der SPD und der nungsbild, das die Bundesregierung nach außen ver- PDS) mitteln will. Deswegen hat sich auch Frau Merkel nicht getraut, an den offiziellen Bericht über die Lage Die Familie braucht keine moralische Aufrüstung, der Frauen in Deutschland für die Weltfrauenkonfe- sondern finanzielle und soziale Unterstützung. Fami- renz den Bericht der nichtstaatlichen Organisationen, lienpolitik muß dem gesellschaftlichen Wandel Rech- wie versprochen, anzuhängen. nung tragen, indem sie auf die Bedürfnisse der Frauen eingeht. Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, Hier war viel von der Zukunft die Rede. Wenn wir moderne sozialpolitische Konzepte umzusetzen, die sehen, daß 50 000 Kinder in dieser reichen Republik in individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verant- Notunterkünften, Obdachlosenheimen und auf der wortung für beide Geschlechter ganz neu verknüp- Straße leben und immer mehr Kinder in Haushalten fen. aufwachsen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, Ich danke Ihnen. dann ist das kein gutes Zeichen für die Zukunft. Über 30 % aller Sozialhilfeempfänger sind unter 18 Jahren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist kein Problem von Drückebergern, sondern ein und der SPD sowie bei Abgeordneten der gesellschaftlicher Skandal. PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Schmalz - Jacobsen. Junge Menschen brauchen mehr als die Erfahrung, daß Geld und Ellenbogen nützlich sind. Sie müssen das hier schon oft zitierte Wort Solidarität tatsächlich Cornelia Schmalz - Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- real erfahren. Junge Frauen und Mädchen brauchen dent! Meine Kollegen und Kolleginnen! Das Erfreuli- die Erfahrung, daß ihnen die Welt sichtlich offensteht. che an dieser Debatte für die Frauen, die hier rings- Am glaubwürdigsten und direktesten erleben sie das herum sitzen, ist, daß sie gewiß vieles von dem, was durch entsprechende Vorbilder. Frauen aus anderen Fraktionen gesagt haben, unter- schreiben können. Das Erbitternde an dieser Debatte Die Finanzierungsspielräume werden enger. Alle ist, daß mir vieles bekannt vorkommt, weil wir ähnlich beklagen das, und alle weisen darauf hin, wenn es schon vor 20 Jahren geredet haben. ums Sparen geht. Die Rede vom sparsamen und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der schlanken Staat, sie ist in aller Munde. Wir stehen SPD und der PDS) dafür, daß bei dieser Diät nicht die Frauenbelange weggehungert werden. Die Familienpolitik ist nicht ohne Grund ein zentra- ler Bestandteil in der Koalitionsvereinbarung von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU und F.D.P.; denn trotz der vielfältigen sowie bei Abgeordneten der SPD) Anstrengungen der jeweiligen Bundesregierungen in Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 229

Cornelia Schmalz-Jacobsen der Vergangenheit — ich schließe alle ein — fällt die und dann werden Überlegungen zum Familienleben familienpolitische Bilanz immer noch recht zwiespäl- angestellt. Anschließend versuchen Sie, beides mit- tig und in vielem ernüchternd aus. Es ist der ehema- einander in Einklang zu bringen. Männer haben ligen Familienministerin, Frau Hannelore Rönsch, zu damit wenig Probleme. Für sie war es doch immer danken, daß sie die Familienpolitik immer wieder schon so: zuerst der Beruf und dann die Familie. thematisiert hat und daß sie zäh drangeblieben ist. Dafür bin ich ihr dankbar. Die Frauen stoßen auf eine Vielzahl von Fragen und Problemen; das wissen wir. Dazu gehören natürlich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auch materielle Probleme, die zu bisher unbekannten Der neuen Familienministerin wünsche ich eine Abhängigkeiten in einer Partnerschaft führen. glückliche Hand, Durchsetzungsvermögen, Familienpolitik ist eine Gratwanderung, weil wir (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Kompe- entscheiden müssen: Wann trifft die Überschrift „Pri- tenz!) vatangelegenheit" zu, und wann sind Antworten und Regelungen von der Politik gefordert? Ausdauer und die Zähigkeit, die dieser Politikbereich offenbar in ganz besonderem Maße braucht. Antworten brauchen die vielen Alleinerziehenden, die es weiß Gott schwer haben. Aber ich möchte hier (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einmal sagen: Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, Sehen wir uns die Realitäten an, meine Kollegen nicht auch an die „ganz normale Familie" zu denken. und Kolleginnen: Es ist weder in der ehemaligen DDR Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben, daß sie bei uns noch in der heutigen Bundesrepublik annähernd eine aussterbende Art sei und daß sie mehr und mehr gelungen, Familienfreundlichkeit zum übergeordne- an Bedeutung verlöre. ten Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft zu ma- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen. Schon die Vorstellungen darüber, was Famili- enfreundlichkeit eigentlich bedeutet, gehen weit aus- 80 % aller Kinder leben mit beiden leiblichen Eltern einander: Für die einen bedeutet es, daß vom Staat zusammen, und unter allen Familienformen in möglichst viel abgenommen wird. Für einige andere Deutschland machen über 80 % die klassischen Zwei- bedeutet es, daß es reine Privatsache ist, in die sich elternfamilien aus. niemand einzumischen hat. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Der Fünfte Familienbericht drückt es kraß, aber, wie Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das soll man ich finde, zutreffend aus. Er spricht nämlich von einer auch nie vergessen!) „strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft — Ja, das muß man einmal sagen; auch die brauchen gegenüber den Familien". Damit können nicht nur nämlich Antworten. Staat und Politik gemeint sein. Das betrifft die Wirt- schaft, die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wohl- Ebensowenig stimmt es, daß immer weniger junge fahrtsverbände, Vereine, Bildungsinstitutionen, Me- Paare heute heiraten wollen und sich Kinder wün- dien; sie alle sind in der Pflicht sowie auch jeder schen. Wenn man dem Familienbericht Glauben einzelne von uns. schenkt, dann ist eher ein gegenteiliger Trend zu Die Stellung der Familie bemißt sich nicht allein beobachten. nach dem Grad ihrer finanziellen Entlastung, sondern Die Entscheidung für Kinder wird heute natürlich vor allem auch danach, wieweit es gelingt, Strukturen sehr bewußt getroffen; wenn es ratsam erscheint, wird zu schaffen, die der Familie Vorrang einräumen, diese Entscheidung vertagt. Da machen sich eben anstatt sie zu benachteiligen. negative Erfahrungen, wie sie im Zweifel befreundete (Beifall bei der F.D.P.) Familien im Alltag erleben, auch negativ bemerkbar. Das hat etwas mit der schwierigen Situation am Hier sind in diesen Tagen schon Stichworte dazu Arbeits- und auch am Wohnungsmarkt zu tun. gefallen, wie die „Arbeitswelt" oder die „Kinderbe- treuung". Das ist vor allen Dingen für Frauen immer Eine Untersuchung, die mich besonders berührt hat, noch ein Drahtseilakt. Es kann einen wahnsinnig sagt aus: Bei einer Befragung von 20jährigen jungen machen, daß es so schrecklich langsam geht. Frauen, bei denen der Kinderwunsch ziemlich groß war, wurde die Zahl der Kinder weit höher angegeben (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- als bei einer gleichen Befragung derselben Frauen SES 90/DIE GRÜNEN) zehn Jahre später. Da ist der große Wunsch weg; da Ich denke, es sind immer noch die gleichen Forderun- hat die Lebenswirklichkeit zugeschlagen. gen wie diejenigen, die ich vor vielen Jahren stellte, (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) als meine Kinder noch klein waren. Die Koalition hat sich in der Familienpolitik einiges Familienpolitik muß frei von Scheuklappen sein; vorgenommen, um wichtigen Forderungen, wie sie denn es nützt nichts, wenn wir hier von Wunschvor- auch der Familienbericht enthält, gerecht zu werden. stellungen ausgehen. Natürlich ist die Familie von den Zu den Verbesserungen, die wir uns vorgenommen tiefgreifenden Veränderungen berührt, mit denen wir haben, zählt auch eine systematische Verbesserung heute leben. Die heile Bilderbuchfamilie ist wohl der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Mütter ohnehin eher eine Erfindung, als daß sie die Wirklich- und Väter. Das haben auch andere immer wieder keit unserer Großelterngeneration gewesen ist. gesagt. Ich betone: Das „und" ist dabei besonders Junge Frauen entscheiden sich heute zunächst wichtig. Denn Erziehungsurlaub, Teilzeitarbeit, Drei- — wie auch anders? — für eine berufliche Tätigkeit, fachbelastung durch Kindererziehung, Haushalt und 230 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Cornelia Schmalz-Jacobsen Erwerbstätigkeit sind immer noch und immer wieder der Arbeitsalltag den Kindern, den Frauen mit Kin Frauensache. -dern und den Familien anpassen. In der Tat dient es den Frauen, wenn es mehr (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten auch in höher ten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND qualifizierten Funktionen gibt. Und in der Tat: Es dient NISSES 90/DIE GRÜNEN) den Frauen, wenn es bessere Weiterbildungsange- Eine Kinderbetreuung bis zum sechsten Lebensjahr bote während der Kinderpause gibt und der Wieder- ist wunderschön. Aber es wird alles nichts nützen, einstieg dadurch erleichert wird. Auch die finanzielle wenn bei uns die Ganztagsschule nicht zur Regelan- Stärkung von Alleinerziehenden hilft überwiegend gebotsschule wird. Ansonsten gucken die Mütter Frauen. Manche dieser Vorhaben dienten den Frauen wieder in die Röhre. aber noch weit mehr, wenn sie auch von Männern angenommen würden. Das ist leider noch lange nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne selbstverständlich. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE In der jüngeren Vergangenheit wurde einiges auf GRÜNEN) den Weg gebracht. Die Anerkennung von drei Kin- dererziehungsjahren im Rentenrecht für ab 1992 Es gibt in dieser Debatte immer Dinge, die man geborene Kinder wurde schon genannt. Ich ärgere wirklich nicht mehr hören kann, weil man sie sich an mich übrigens sehr darüber, daß dieses immer als den Schuhsohlen abgelaufen hat. Dazu gehört gleich- „versicherungsfremde Leistung" apostrophiert wird. sam wie ein Pawlowscher Reflex, daß dann, wenn man Das mag ja technisch richtig sein, aber psychologisch von Teilzeitarbeit in Führungspositionen redet, sofort ist es mit Sicherheit falsch. gefragt wird: Wie ist das mit dem Teilzeitminister? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Oder es ist vom Topmanager die Rede. Diese wirklich ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ herausgehobenen Positionen sollten doch nicht die DIE GRÜNEN) Meßlatte sein. Aber wie ist es denn bei der Leitung einer Kindertagesstätte? Wie ist es denn bei Führungs- Denn wenn keine Kinder erzogen würden, dann positionen, die weit unter der eines Ministers liegen? würde dieses ganze wunderbare System zusammen- Da gibt es eine Menge zu ändern; dazu braucht man brechen. Es gehören nämlich zwei dazu, die Beitrags- gar nicht so schrecklich viel Phantasie. zahler und die Kinder. Ob das wirklich eine versiche- rungsfremde Leistung ist, das möchten wir doch (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Dann muß man einmal in Frage stellen. aber auch etwas tun!) Eine „Geburtenprämie" — ich will darauf nur kurz Daß dieses „und für Väter" bei Vätern eine so eingehen -- in Form eines Begrüßungsgeldes von geringe Akzeptanz hat, das liegt — das muß um der 1 000 DM, so wie sie Herr Stolpe in Brandenburg Gerechtigkeit willen gesagt werden — nicht nur an vorschlägt, halte ich für eine Luftnummer. Das ist den Vätern, sondern das liegt vor allen Dingen an den keine Familienförderung, meine Damen und Her- Personalabteilungen und den Chefetagen von Unter- ren. nehmen. Dort wird nämlich der Wunsch nach Teilzeit- arbeit des Mannes nicht selten als Ausdruck fehlender (Beifall bei der F.D.P. und beim BÜND Leistungsbereitschaft mißverstanden und womöglich NIS 90/DIE GRÜNEN) sogar mit Karrierenachteilen geahndet. Ich erinnere Das ist die Gießkanne. Sie ist sehr teuer. Das kann man übrigens daran, wie lange die F.D.P. schon die Neu- nur mit neuen Steuern finanzieren. Im übrigen ist das - organisation von Arbeitszeiten und Arbeitsabläufen billig und durchsichtig. gefordert hat (Beifall bei der F.D.P.) Die Probleme beginnen später. Junge Mütter, die aus wohlerwogenen Gründen zu Hause bleiben, und wie heftig der Widerstand von SPD und Gewerk- machen die bittere Erfahrung, daß sie später als schaften dagegen lange Zeit gewesen ist. Das scheint 40jährige keinen Arbeitsplatz mehr finden. Ihre Kom- sich jetzt zu ändern. petenz, die sie in der Familienarbeit erworben haben, fällt unter den Tisch. Das hat zur Folge, daß wir — was (Zuruf von der F.D.P.: Ladenschluß!) wiederum auch positiv ist — sehr viele Existenzgrün- Stichwort: Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- derinnen haben. Sie tun das nicht nur, weil sie Chefs platz. Die Kommunen, die das immer schon als einen werden wollen, sondern auch, weil sie keinen Job wichtigen Politikbereich betrachtet haben, haben die mehr bekommen. Nase vorn. Aber sie sollten doch nicht bestraft werden; Familienpolitik bliebe unvollständig, wenn sie sich die anderen müssen nachziehen und sollten das nicht auch den hier lebenden ausländischen Familien Lamentieren bleiben lassen. widmen würde. Ausländische Familien sind in vielen Fällen Stiefkinder der Familienpolitik, und das, (Beifall bei der F.D.P.) obwohl heute bereits mehr als dreiviertel der auslän- Zum Thema Öffnungszeiten von Kindergärten will dischen Wohnbevölkerung in Familien bei uns leben ich kurz sagen: Ich finde, das ist sehr zwiespältig und — anders als am Beginn der Gastarbeiterzeit. Häufig sehr problematisch; denn es heißt ja in letzter Konse- gibt es bei ihnen Schwierigkeiten beim Ehegatten- quenz nichts anderes, als daß sich die Kinder dem und Familiennachzug. Die Bildungs- und Wohnsitua- Arbeitsalltag anpassen müssen. Eigentlich sollte sich tion ist oft ungünstig. Die Arbeitslosigkeit ist über- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 231

Cornelia Schmalz-Jacobsen durchschnittlich hoch. Der Aufenthaltsstatus ist oft zu — Ich weiß, das gefällt Ihnen nicht. Aber wir müssen unsicher und erschwert damit die Lebensplanung. jetzt sehen, was wir aus dieser Regelung machen. Von der Ungleichbehandlung in Gesetzen und bei (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deren Anwendung ganz zu schweigen. DIE GRÜNEN) Der grundgesetzlich garantierte Schutz von Ehe — Sie müssen mich in diesem Punkt gar nicht „anma- und Familie beschränkt sich aber keineswegs nur auf chen". Aber ich bin gegen Fundamentalopposition, deutsche Ehen und deutsche Familien. wo immer und aus welcher Richtung sie auch (Beifall bei der F.D.P. und beim BÜND kommt. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne (Beifall bei der F.D.P.) ten der CDU/CSU und der SPD) Ich komme zum Schluß, meine Kollegen und Kolle- ginnen. Eine glaubwürdige Familien- und Frauen- Ich kündige für die F.D.P. an, daß dieser Punkt bei der politik ist selbstverständlich auch die Grundvoraus- in der Koalition vereinbarten Novellierung des Aus- setzung für eine sinnvolle Senioren- und Jugendpoli- ländergesetzes eine hohe Priorität haben wird. tik. Wir sollten uns davor hüten, das in Kästchen zu Ausländische Familien sind eine Realität, binatio- tun. Diese Teilbereiche der Politik müssen sehr eng nale Ehen ebenfalls. Der Herr Bundeskanzler hat bei miteinander verzahnt sein, wie das inzwischen ja auch der Benennung der neuen Familienministerin ziem- durch das Ministerium angelegt ist. Diese Bereiche lich wörtlich gesagt, daß sich die Lebenswirklichkeit müssen sich zu einer umfassenden Gesellschaftspoli- junger Frauen von heute am Kabinettstisch wiederfin- tik zusammenfügen. den sollte. Wohl denn! Zu dieser Lebenswirklichkeit Vielen Dank. gehört es auch, daß jede zehnte junge Ehe in der (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie Bundesrepublik eine binationale Ehe ist. Machen wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE es doch diesen Leuten endlich ein bißchen leichter. GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die Abgeordneten der CDU/CSU) Kollegin Christina Schenk. Ein Gespräch mit dem Verband binationaler Fami- lien ist hier sehr empfehlenswert. Achten wir die Christina Schenk (PDS): Herr Präsident! Meine Würde dieser Familien! Vielleicht können wir auch Damen und Herren! Die Dürftigkeit der Koalitions- ein bißchen von dem Zusammenhalt dieser Familien vereinbarung ist nun schon in nahezu allen Punkten lernen. konstatiert worden. Ich muß sagen, daß es in den (Beifall bei der F.D.P. und beim BÜND Bereichen Frauen und Familie besonders deutlich NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne wird. Da heißt es in der Koalitionsvereinbarung: ten der SPD) Die Koalition wird weiter aktiv — weiter aktiv! — Ich möchte, weil Sie das von mir vielleicht auch für gleiche Rechte und gleiche Chancen für erwarten, drei Worte zur Kinderstaatszugehörigkeit Frauen im gesellschaftlichen, politischen und sagen. Sie wissen, daß die Ausländerbeauftragten der wirtschaftlichen Leben eintreten. Länder, ob sie nun der CDU, der F.D.P. oder der SPD Ich meine, das ist nichts als blanke Blasphemie. Der angehören, gesagt haben: Das reicht nicht, das ist Ausdruck „weiter aktiv " soll Kontinuität vorspiegeln. halbherzig, das ist zuwenig. Ich frage mich nur: Kontinuität wovon? Es gab schon in (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Bei der letzten Legislaturperiode nichts, was auch nur fall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE - annähernd in den Verdacht hätte kommen können, GRÜNEN) wirklich eine Politik der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Gesellschaft zu sein. Ich Ich sage das auch. Aber das ist jetzt die Situation. erinnere hier nur an das Gleichberechtigungsgesetz, Ich habe aber etwas dagegen, wenn hier total das in der vergangenen Legislaturperiode verabschie- abgelehnt wird, wenn gesagt wird: Es ist schlimmer det worden ist und das das Papier nicht wert ist, auf als gar nichts, es ist ganz fürchterlich. Die, die das dem es steht. Frauen als Thema emanzipatorischer sagen, setzen sich nämlich dem Verdacht aus, daß es Politik kommen bei dieser Bundesregierung nicht vor, ihnen ums Prinzip und nicht um die Kinder geht. wie überhaupt, meine ich, emanzipatorische Politik bei dieser Bundesregierung nicht vorkommt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ich habe mir die Koalitionsvereinbarung mit beson- ten der CDU/CSU — Widerspruch beim derer Aufmerksamkeit in bezug auf die die Frauen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) betreffenden arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen — Doch! angesehen. Dabei stelle ich fest, daß als ein entschei- dendes Instrumentarium zur Bewältigung des Ar- Ich bin ja gar nicht glücklich darüber. Nur, ich bin beitsmarktdesasters, von dem Frauen besonders gegen diesen Justament-Standpunkt. Denn für die betroffen sind — ich erinnere daran, daß die Arbeits- Erleichterung im Alltag dieser Kinder macht es eben losenquote von Frauen im Osten doppelt so hoch ist doch etwas aus. Die Reisen werden möglich, die ein wie die der Männer —, der Bundesregierung nichts großes Kümmernis für Schulen, die ein Kümmernis für anderes einfällt als die Fortsetzung der Sportverbände waren. Teilzeitoffen- sive. Diese Teilzeitoffensive ist bereits in der letzten (Widerspruch bei der SPD) Legislaturperiode heftig kritisiert worden. Sie wurde 232 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Christina Schenk zum einen deshalb kritisiert, weil sie, solange sie nicht Viel Pathos wird bemüht, wenn es in der Koalitions- mit einer entschiedenen Antidiskriminierungspolitik vereinbarung um Familie und um Kinder geht. „Kin- verbunden ist, den Status von Frauen als Dazuverdie- der sind unsere Zukunft" , heißt es da. Die Gegenwart, nenden zementiert, weil sie, zumindest in der her- meine Damen und Herren, ist eine andere. Heute kömmlichen Form, nicht existenzsichernd ist und weil leben in der Bundesrepublik Deutschland bereits sie damit auf die Ehe als Versorgungsinstitution rekur- mehr als eine Million Kinder von Sozialhilfe. In den riert und so das damit verbundene Armutsrisiko ostdeutschen Bundesländern werden im Vergleich zu Frauen zuteilt, zum anderen deshalb, weil sie das 1988 gegenwärtig nur noch ein Drittel der Kinder Vereinbarkeitsproblem weiter als ein ausschließlich geboren. Dieser dramatische Geburtenrückgang, der, weibliches definiert. wie Experten festgestellt haben, in der überlieferten Menschheitsgeschichte singulär ist, ist die individu- Auch die Absicht der Bundesregierung, die Arbeit- elle Reaktion von Frauen in Ostdeutschland auf die geberfunktion privater Haushalte zu stärken und das Kinder- und Frauenfeindlichkeit dieser Gesellschaft. auch noch als großangelegtes Beschäftigungspro- Das ist — darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen— gramm für Frauen zu verkaufen, ist eine Unver- kein monetäres Problem. Insofern wird ein veränder- schämtheit. ter Familienlasten- oder Familienleistungsausgleich (Beifall bei Abgeordneten der PDS und des — oder wie auch immer man das nennen will — oder BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch eine Gebärprämie von 1 000 DM oder so etwas daran nichts Wesentliches ändern. Frauen als Putz- und Kinderfrau im eigenen und auch noch im Teilzeitjob im Haushalt des Nachbarn, das ist Auch von der Durchsetzung des Rechtsanspruchs ist in der Koalitions- die Antwort der Bundesregierung auf die Tatsache, auf einen Kindergartenplatz daß in Deutschland fast 2 Millionen in der Regel gut vereinbarung nichts zu lesen, ebensowenig davon, qualifizierte Frauen — da rechne ich die stille Reserve wie die Ausgrenzungen, die Frauen allein auf Grund noch .nicht einmal mit — einen Arbeitsplatz suchen. ihrer Gebärfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erfahren und hinnehmen müssen, bekämpft werden könnten. (Dr. [PDS]: Das ist ein Ich meine, es ist symptomatisch, daß sich im Skandal!) Abschnitt Frauenpolitik, der in der Koalitionsverein- Meine Damen und Herren, nach wie vor ist die so- barung lediglich als Unterpunkt der Familienpolitik genannte Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen vorkommt, keine Aussagen zum Selbstbestimmungs- deutlich höher als die im Westen. Nach wie vor recht von Frauen finden. Daher möchte ich noch wünschen nur etwa 3 % der Frauen im Osten ein einmal an das erinnern, was hier auf der Tagesord- Dasein als Hausfrau. Man kann es in Anbetracht der nung steht: Es geht um die Regelung des Schwanger- konservativen Mehrheit in diesem Haus nicht oft schaftsabbruchs, und zwar in einer Weise, die die genug betonen: Frauen im Osten und — das möchte noch verbliebenen Spielräume, die das Bundesverfas- ich dazusagen — zunehmend auch im Westen erhe- sungsgericht in seinem Urteil gelassen hat, voll aus- ben den Anspruch auf eine qualifizierte Erwerbstätig- schöpft. Wenn ich dann sehe, daß eine katholische keit, auf ein Einkommen, mit dem sie ihre Existenz Fundamentalistin zur Ministerin in diesem Bereich eigenständig sichern können. Ich meine, das ist eine gemacht worden ist, bin ich skeptisch, was unsere Frage der Menschenwürde und der Humanität einer Möglichkeiten in diesem Parlament anbelangt. Las- Gesellschaft. sen wir es darauf ankommen. (Beifall bei Abgeordneten der PDS, der SPD (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Die zweite Sache, um die es mir geht: Es muß eine Die Umsetzung dieses Anspruchs erfordert ent- Änderung des Strafgesetzbuches in der Weise stattfin- schlossenes Handeln in zwei Richtungen: einmal in den, daß endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe der Beziehung, daß es um die Umverteilung von unter Strafe gestellt wird. Arbeitsplätzen gehen muß, und zum anderen, daß es um die Schaffung von Arbeitsplätzen gehen muß. (Beifall bei Abgeordneten der PDS, der SPD Beides muß Aufgabe von Bundespolitik sein. Von und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beidem lese ich in der Koalitionsvereinbarung nichts Es muß ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für aus- Ernsthaftes. ländische Ehefrauen geschaffen werden, und es muß Ich meine, die Herstellung einer wirklichen Chan- die Verfolgung wegen des Geschlechts oder der cengleichheit von Frauen und Männern im Bereich sexuellen Orientierung als Asylgrund anerkannt wer- der Erwerbsarbeit ist ohne eine Antidiskriminierungs- den. politik, die Männern und Frauen einen gleichberech- (Beifall bei Abgeordneten der PDS, der SPD tigten Zugang zu den vorhandenen Ausbildungs- und und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erwerbsarbeitsplätzen sichert, nicht denkbar. Dar- über hinaus muß endlich auch die Wirtschaftspolitik Ich meine generell, daß in dieser Gesellschaft dar- zur Kenntnis nehmen, daß sie bislang eben nicht über nachgedacht werden muß, wie insbesondere für geschlechtsneutrale Wirkungen zeitigt und daß es Frauen die Möglichkeiten verbessert werden können, deshalb erforderlich ist, die Frage der Chancengleich- tatsächlich zu eigenen Lebensentwürfen zu kommen heit von Frauen und Männern in den Zielgrößenkata- und diese auch umzusetzen. Lesbische Frauen kön- log von Wirtschaftspolitik zu integrieren. Wir werden nen ein Lied davon singen, wie schwer es ist, zu einer dazu parlamentarische Initiativen einbringen. eigenen Identität in dieser Gesellschaft zu kommen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 233

Christina Schenk Der Bundesregierung liegen eine klare Analyse der Die Leistungen der Familien für unsere Gesellschaft Situation von Frauen und entsprechende Schlußfolge- sind groß. Sie werden aber oft als selbstverständlich rungen vor. Es ist ja nicht so, daß man hier sagen betrachtet und zuwenig anerkannt. So gilt es, Rah- könnte, man wüßte von nichts. In Vorbereitung auf die menbedingungen zu schaffen, die auch den Familien 4. Weltfrauenkonferenz in Peking haben zahlreiche eine gleichberechtigte Teilhabe an der allgemeinen Vertreterinnen nichtstaatlicher Organisationen einen Wohlstandsentwicklung gewährleisten. umfassenden Bericht zur Situation der Frauen in der Eltern mit Kindern vergleichen ihren Lebensstan- Bundesrepublik erarbeitet. Ursprünglich sollte dieser dard und ihre Chancen zur Lebensgestaltung nicht Bericht gemeinsam mit dem Regierungsbericht bei nur mit anderen Müttern und Vätern, sondern auch der Weltfrauenkonferenz eingereicht werden. Das mit jenen, die keine Kinder zu versorgen haben. Ein wurde nun von der Bundesregierung abgesagt. Der Leben mit Kindern hat seinen eigenen Wert, gibt ihm Grund ist klar: Das, was die Vertreterinnen der NGOs Sinn und Erfüllung und ist auch nicht ersetzbar. Eltern dort erarbeitet haben, erschüttert das Selbstbild der leisten aber auch viel, um ihren Kindern gute Start- Bundesregierung gerade in dem Punkt, den wir hier chancen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, und behandeln, offenbar nachhaltig. müssen dabei auf manches verzichten. Ein letztes: Die Zusammenlegung des Ministeriums für Frauen und Jugend mit dem für Familie und Die Entscheidung für Kinder wird von jungen Senioren zeigt, daß die Bundesregierung auch von der Paaren mehr und mehr bewußt getroffen. Diese Ent- strukturellen Seite her jeden Anspruch auf eine eigen- scheidung wird auch zukünftig um so leichter fallen, je ständige Frauenpolitik aufgegeben hat. „Frau" ist nur deutlicher Staat und Gesellschaft Kindererziehung als noch das Etikett in einem Ministerium, das Frauen Leistung anerkennen. nicht als eigenständige Subjekte, sondern nur als In der letzten Legislaturperiode haben wir den Objekte familienpolitischer Maßnahmen wahr- Kinderfreibetrag, das Kindergeld und den Kinder- nimmt. geldzuschlag erhöht. In dieser Legislaturperiode ist Meine Damen und Herren von der Regierungsko- die Verbesserung des Familienleistungsausgleichs alition, Sie kündigen in der Koalitionsvereinbarung ein wesentlicher Punkt der Familienpolitik. Ziel ist die eine grundlegende politische Erneuerung an, präsen- volle steuerliche Freistellung des Existenzminimums tieren jedoch in Ihrem Regierungsprogramm nur den von Kindern, wie es das Bundesverfassungsgericht in sattsam bekannten Mangel an Intelligenz und Kreati- seinen Entscheidungen von Mai und Juni 1990 gefor- vität. Ich kann mich daher nur dem hier an dieser dert hat. Stelle schon oft zum Ausdruck gebrachten Wunsch Die Union hält am dualen Familienleistungsaus- anschließen, daß diese Stümperei nicht volle vier gleich fest. Das Verfassungsgericht hat in seinem Jahre so weitergeht. Urteil 1990 ausgeführt, daß Kinderfreibeträge sozial Danke. gerecht sind und einer leistungsgerechten Besteue- (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ rung entsprechen. Der Kinderfreibetrag bewirkt, was DIE GRÜNEN) nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts erforderlich ist, um Eltern gegenüber Kinderlo- sen mit gleich hohem Einkommen gerecht zu besteu- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn. ern. Die finanzielle Belastung der Eltern mit Kindern darf im Verhältnis zu jeweils gleichviel verdienenden Kinderlosen nicht höher sein. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Frauen- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Familienpolitik gibt es sicher viele Gemeinsamkeiten der F.D.P.) zwischen den Parteien, aber man darf nicht verken- Nach unseren Vorstellungen soll der Kinderfreibe- nen, daß es durchaus unterschiedliche Ausgangs- trag so angehoben werden, daß er auch ohne Hinzu- punkte gibt, und so beruht die Politik der CDU/CSU rechnung des Kindergeldes die volle Höhe des Exi- auf dem Grundsatz: Jeder Mensch soll sein Leben in stenzminimums eines Kindes abdeckt. eigener Verantwortung gestalten. Männer und Frauen sollen ihr Lebensmodell selbst wählen. Der Das Kindergeld muß bedarfsgerecht ausgebaut und Staat darf die Rollenverteilung nicht vorschreiben, darf nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt wer- sondern muß die Rahmenbedingungen schaffen, den, wie die SPD es möchte. Es muß um so höher sein, damit individuelle Lebensplanungen verwirklicht je geringer das Einkommen der Familie und je größer werden können. Männer und Frauen haben das Recht die Kinderzahl in der Familie ist. So verstehen wir auf freie Entscheidung für die Familie, für den Beruf soziale Gerechtigkeit. oder für beides, nämlich für Familie und Beruf. (Beifall bei der CDU/CSU — Wilhelm Nach wie vor ist der Wunsch, eine Familie zu Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Davon haben Sie gründen und Kinder zu haben, das wichtigste Ziel in doch noch nie etwas verstanden!) der Lebensplanung einer großen Mehrheit aller jun- Familiengerechtes Wohnen ist eine der wichtigsten gen Menschen. Der Stellenwert der Familie ist immer Voraussetzungen für die Entfaltung von Familien. noch sehr hoch. Doch haben sich Familienformen und Deswegen ist die Schaffung preiswerter Wohnungen Familienleben stark verändert. So gibt es immer mehr ein wichtiges Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Alleinerziehende, immer mehr Alleinstehende. Die Zahl der Ehescheidungen nimmt zu. Familien haben (Detlev von Larcher [SPD]: Und wie machen immer weniger Kinder. Sie das?) 234 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Maria Eichhorn Wir brauchen mehr Familienfreundlichkeit auf dem - Frau Schmidt, wir haben ja als Bundesregierung Wohnungsmarkt, in der Arbeitswelt und in unserer und Bundestag nur die Möglichkeit, für den Bund Gesellschaft. Gesetze zu machen. Die Länder sind jetzt aufgefor- dert, dies nachzuvollziehen, und erfahrungsgemäß (Detlev von Larcher [SPD]: Und wie stellen wird einem Beispiel im Bund dann auch die Wirtschaft Sie das her?) folgen. Davon gehen wir auf jeden Fall aus. Das veränderte Rollenverhalten von Frauen, das Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist Bemühen um gleiche Bildungs- und Ausbildungs- ein weiterer Schwerpunkt im Gleichberechtigungsge- chancen und gleiche Mitwirkungsrechte hat die Fami- setz die Frauenförderung, ferner die gleichberech- lienpolitik nicht unwesentlich beeinflußt. Früher war tigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien es selbstverständlich, daß Frauen die Versorgungs- des Bundes und ein eigenständiges Beschäftigungs- aufgaben in den Familien übernahmen, daß sie Lei- schutzgesetz gegen sexue lle Belästigung am Arbeits- stungen für die Gesellschaft erbrachten, ohne Gegen- platz. leistungen einzufordern. Das veränderte Bildungsver- Mit der Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes halten, eine andere Einstellung zum Leben, aber auch wurde eine Klarstellung des Gleichberechtigungs- finanzielle Erfordernisse, die eine höhere Erwerbsbe- grundsatzes erreicht. teiligung von Frauen notwendig machen, führen zu neuen Herausforderungen, zu neuen Belastungen für All diese politischen Konzepte und Erfolge haben die Familie, sind aber auch eine Herausforderung für aber immer noch nicht zu einer echten Partnerschaft die Gesellschaft gegenüber den Familien. von Frau und Mann geführt. Deshalb wird die Koali- tion weiter aktiv für gleiche Rechte und gleiche Mit verbesserten Bildungs - und Ausbildungschan- Chancen für Frauen im gesellschaftlichen, im politi- cen verband sich in der Frauenpolitik der 70er Jahre schen und im wirtschaftlichen Leben eintreten. Sie die Hoffnung, daß Frauen dann auch bessere Chancen wird in dieser Legislaturperiode die Maßnahmen zur auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben hätten. In Erleichterung der Wiedereingliederung von Frauen den 80er Jahren erkannte man, daß der gewünschte nach einer Erziehungsphase intensiv fördern und die Durchbruch nicht erreicht worden war. So erging der Weiterbildungsmöglichkeiten während der Erzie- Ruf nach neuen Konzepten, nach gezielter Frauenför- hungsphase fördern. derung und nach der Vereinbarkeit von Familie und Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist längst Beruf. kein Frauenanliegen mehr, sondern ein zentrales In den letzten zehn Jahren wurde dazu durch diese Thema für die Zukunft unserer Familien und ein Regierung einiges erreicht. zentrales Thema für die ganze Gesellschaft. (Zuruf von der SPD: Was denn? Jetzt mal (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und konkret!) der F.D.P.) Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist dabei, unsere Wir haben das Erziehungsgeld und den Erziehungs- Arbeitswelt so zu gestalten, daß die Lebensbereiche urlaub eingeführt. Familie und Beruf individuell aufeinander abge- (Zuruf von der SPD: Und gekürzt!) stimmt werden können und nicht allein die Arbeits- welt das Leben der Familien bestimmt. Wir haben die Anerkennung von Erziehungszeiten bei der Rentenversicherung, die Freistellung von der Ansätze zu einer familienfreundlichen Gestaltung Arbeit zur Betreuung von kranken Kindern, die Besei- des Arbeitslebens dürfen nicht bei den Frauen halt- tigung diskriminierender Bestimmungen bei Teilzeit- machen, sondern müssen sich an den Bedürfnissen beschäftigungen und berufliche Wiedereingliede- aller Familienmitglieder orientieren; das sind Mütter, rungsprogramme nach der Familienphase einge- Väter und Kinder. Die Verbesserung der Situation von führt. Frauen allein ändert noch nichts an den herkömmli- (Zurufe von der SPD) chen Strukturen. Eine familiengerechte Arbeitszeit wird sich für jede Familie anders darstellen, da die Wir haben in der letzten Legislaturperiode Kinder- Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. berücksichtigungszeiten und Pflegeberücksichti- Gleichberechtigung und Partnerschaft in der Fami- gungszeiten eingeführt, um gerade jene Frauen, die lie setzt Gleichberechtigung und Partnerschaft in geringe Renten bekommen, damit unterstützen zu Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Frauen müssen können. mehr Beteiligungsmöglichkeiten im Erwerbsleben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und in der Politik bekommen, Männer mehr Engage- ment in der Familie zeigen, die Wirtschaft muß mehr Und wir haben im Zweiten Gleichberechtigungsge- auf die Erfordernisse und Bedürfnisse von Familien setz festgelegt, Frau Kollegin Schmidt, daß Teilzeitar- eingehen. Dies weiter zu verwirklichen ist unsere beit wegen Kindererziehung nicht zu beruflicher Aufgabe, und dafür setzen wir uns ein. Benachteiligung führen darf. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Christel Hanewinckel [SPD]: Es ist doch aber ein Fakt, daß es so ist!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Dieses Gesetz ist seit dem 1. September in Kraft. Kollegin Christel Hanewinckel. (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Für 1 % der erwerbstätigen Frauen! Das haben Sie ver- Christel Hanewinckel (SPD): Herr Präsident! Meine gessen!) Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 235

Christel Hanewinckel Zur Debatte steht jetzt und hier die zukünftige Politik In den neuen Ländern und Berlin (Ost) gab es Ende dieser Bundesregierung für die Frauen, für die 1992 rund 140 400 Sozialhilfehaushalte. Das waren Jugendlichen, für die Senioren und Seniorinnen und schon damals 37 % mehr als 1991. In Westdeutschland für die Familien. Im Koalitionspapier und in der sind etwa 30 % der Sozialhilfebezieherinnen und Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers gab -bezieher Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, in es zur Frauenpolitik keine Aussage, zur Jugendpolitik Ostdeutschland knapp 44 % aller Sozialhilfeempfän- keine Aussage, zur Altenpolitik keine Aussage, zur ger. Familienpolitik vage Aussagen, Sie müssen sich einmal klarmachen, wohin Ihre (Beifall bei der SPD) Regierung geführt hat. Was hat das noch mit sozialer Sicherung und sozialer Gerechtigkeit zu tun? dafür aber Klagen und Forderungen, die der Opposi- tion gut anstünden und nicht einem Regierungschef, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der das, was er beklagt und fordert, seit zwölf Jahren DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zu verantworten hat. PDS)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Armut darf nicht als ein Randproblem unserer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Gesellschaft mißdeutet und bagatellisiert wer- PDS) den. Armut ist nicht einfach Schicksal, es gibt Dabei stellt er sich, die Regierung, durch die Art der vielmehr neben der Eigenverantwortlichkeit stets Larmoyanz als Opfer und das Volk als Täter dar. Ich auch eine Mitverantwortlichkeit der Gemein- werde Ihnen bei den einzelnen Politikfeldern Kostpro- schaft für die Lebenssituation der in ihr lebenden ben aus der Regierungserklärung in Erinnerung Benachteiligten ... Armut ist ein strukturelles rufen. Problem. Deshalb muß auch nach Wirkungen unserer gesellschaftlichen, sozialen und wirt- Zuvor aber noch etwas Grundsätzliches zu diesem schaftlichen Ordnung gefragt werden, die in neuen Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und unheilvoller Weise selektierend und armutsför- Jugend! Auf den ersten Blick scheint das ein immens dernd sein können und die Zielbestimmung unse- wichtiges gesellschaftspolitisches Ministerium zu res sozialen Rechtsstaates latent unterlaufen. sein. Auf den zweiten Blick, meine Damen und Herren, wird deutlich, daß die neue Ministerin vorran- Dies ist ein Zitat aus dem „Gemeinsamen Wort" der gig zur Verwaltung von Ideologie vorgesehen ist. evangelischen und der katholischen Kirchen. Ich denke, hier wird etwas sehr deutlich: Wenn die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesregierung immer wieder danach fragt, was des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn gemeint sei, wenn wir von Armut sprechen, ist es Wie zu hören war, wird ein ganz wichtiger Bereich, wirklich an der Zeit, daß Sie sich mit dem Bundes- kanzler und der neuen Ministerin an der Spitze dazu nämlich die Bundessozialhilfegesetzgebung, dem bequemen, endlich zu definieren, was Armut in die- Gesundheitsminister zugeschlagen. Ein Deal zwi- schen Männern? Zwischen Männern der CSU? Was sem Lande ist. Denn das sind Sie uns und den auch immer, in jedem Fall ist es so, daß dieser Bereich Menschen in diesem Land nach wie vor schuldig. aus dem Ministerium, in das er sachgemäß gehört, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn er schon nicht bei Arbeit und Soziales ist, in DIE GRÜNEN) Zukunft weg sein wird. Meine Damen und Herren, Armut darf nicht weiter Befürchten denn die Herren der Regierungsriege, verdrängt werden. Deshalb fordern wir von der Bun- daß Frau Nolte es nicht packen wird, sich gegen den desregierung erneut, eine Armutsberichterstattung zu massiven Widerspruch der SPD, der Länder, der erstellen, die alle relevanten Faktoren von Armut Kirchen, der CDA, der Wohlfahrtsverbände durchzu- beschreibt, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betrei- setzen, wenn es an den Abbau von Sozialleistungen ben, die den Weg zu sicheren Arbeitsplätzen bereitet, gehen wird? Oder vermutet man, daß die Masse von endlich einen verfassungsgemäßen und sozial ge- Armut und Elend, die durch das BSHG eigentlich rechten Familienleistungsausgleich auf die Beine zu verhindert werden soll, aber nach Theo Waigels stellen, bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Absichten und den Absichtserklärungen des Kanzlers Sozialhilfe keine Kürzungen vorzunehmen, den Woh- vergrößert werden wird, von einer jungen, zarten Frau nungsbau endlich anzukurbeln, insbesondere durch nicht verkraftet werden kann? den zusätzlichen Bau von jährlich mindestens 100 000 Meine Damen und Herren, die Armut, die in unse- Sozialwohnungen mit langfristiger Bindung, und den rem reichen Lande herrscht, ist in der Tat kaum Einstieg in eine soziale Grundsicherung in die Wege vertretbar und verkraftbar. Die neuesten Zahlen des zu leiten, damit die Sozialhilfe ihrer ursprünglichen Statistischen Bundesamtes vom 14. Oktober 1994 Aufgabe, nämlich der Hilfe im Einzelfall, wieder belegen das. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger für nachkommen kann. 1993 lag sage und schreibe bei 4 945 000. Das ist gegenüber 1992 eine Zunahme von 4,8 % bundesweit, Wenn Sie keine eigenen Vorschläge und Entwürfe in den alten Bundesländern eine Steigerung von haben, meine Damen und Herren: Alle diese Punkte 3,7 %, in den neuen Bundesländern eine Steigerung können Sie mit uns beschließen. Wir haben entspre- von 11,6 %. chende Anträge und Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht. (Zuruf von der SPD: Das ist ja schrecklich!) (Beifall bei der SPD) 236 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Christel Hanewinckel Die Zahlen der Sozialhilfeempfänger machen deut- Das, was Sie vorhaben, ist für Familien allerdings lich, wie massiv Kinder und Jugendliche, Familien weiterhin entmutigend: in der Regierungserklärung und Alleinerziehende, vor allen Dingen Frauen, vage Aussagen zum Familienleistungsausgleich, da- betroffen sind. Für diese von der Sozialhilfe Betroffe- für aber Versprechungen zur Steuerentlastung für nen war bisher das ehemalige Ministerium für Familie Besserverdienende; keine Vorschläge für die Verein- und Senioren zuständig. Jetzt ist — dies steht eigent- barkeit von Familien- und Berufsarbeit, ausgenom- lich schon lange an — eine Novellierung des Bundes- men das nette Teilzeitarbeitsangebot für Mütter; sozialhilfegesetzes notwendig. Aber das wird Ihrem keine Aussage zur Bundesverantwortung für die Ressort, Frau Nolte, jetzt entzogen und kommt völlig Finanzierung des Rechtsanspruchs auf einen Kinder- sachfremd zum Gesundheitsministerium. Ich frage gartenplatz. noch einmal, was es dort soll, welchen Einfluß Sie (Editha Limbach [CDU/CSU]: Da gibt es hierbei überhaupt noch haben bzw. haben werden keine Bundesverantwortung, das ist und welche Möglichkeiten Sie in Ihrer Fraktion sehen, Landes verantwortung!) diese Punkte so auf den Weg zu bringen, daß die Familien, die Alleinerziehenden und die Jugendli- — Das mußte jetzt ja kommen; darauf war ich schon chen in Ihnen in Zukunft tatsächlich eine Lobbyistin vorbereitet. Wir haben immer wieder versucht, end- haben. Ich vermisse das bisher. In der Regierungser- lich die Protokollnotiz von Ihnen zu bekommen. Alle klärung und auch in Ihrer Rede vorhin war davon an zuständigen Ministerien stellen fest, daß es in der Tat keiner Stelle die Rede. von Ihrer Seite — entgegen dem, was Sie immer behauptet haben — überhaupt keine Regelung gibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb gibt es auch keine Protokollnotiz. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Es ist Landessache!) Nun möchte ich mein Versprechen einlösen, mit Kostproben der Larmoyanz des Kanzlers die vier Titel Meine Damen und Herren, Familien brauchen des Ministeriums genauer zu besehen und jeweils mit keine Almosen und Geschenke und Freundlichkeiten. einem Zitat von ihm einzuführen. Familien brauchen Rechte und Gerechtigkeit; und Familien brauchen vor allem Arbeit — es macht ihnen Erstens zur Familienpolitik. Der Kanzler sagt — Zi- nämlich keinen Spaß, auf der Tasche anderer zu tat 1 —: liegen , um ihren Lebensunterhalt selbst verdienen Jeder weiß, daß Kinder unsere Zukunft sind, aber zu können. gegen Spielplätze in Wohnvierteln wird gericht- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich vorgegangen, und Kinder zu haben wird des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der immer mehr zum Nachteil bei der Wohnungs- PDS) suche. Meine Damen und Herren, die Forderungen der Zitat 2: Sozialdemokratie nach einer verfassungsgemäßen Wir wollen, daß unsere Gesellschaft familien- und und sozial gerechten Familienpolitik kennen Sie. In kinderfreundlicher wird. diesem Internationalen Jahr der Familie haben wir nur durch Anfragen und Anträge der SPD im Juni 1994 Zitat 3: eine familienpolitische Debatte in diesem Haus gehabt. Sie haben schnell noch den Familienbericht Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstüt- hineingemogelt, der aber kein Verdienst Ihrer Seite zung und Ermutigung. gewesen ist. Recht so, Herr Kanzler! Aber was sollen das Gejam- - Heute wie damals gibt es von der Koalition keine mere und die Forderungen an andere? Meines Wis- konkreten Vorschläge, nach denen die Familien tat- sens sind Sie seit zwölf Jahren in der Regierungsver- sächlich gerecht behandelt werden. Mit Ihren vagen antwortung. Aussagen werden Sie nichts in diesem Lande, aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch nichts kinder- oder familienfreundlicher gestal- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ten. Da müssen Sie schon zupackendere Dinge auf PDS) den Tisch dieses Hauses legen. Sie bleiben mit Ihrer Politik immer wieder in den alten Strukturen. Wieso kommt dann immer wieder von dieser Stelle die Forderung an die Gesellschaft, an die bösen anderen, Im „Gemeinsamen Wort" der Kirchen bekommen womöglich noch an die Opposition, doch endlich ein Sie konkrete politikfähige Vorschläge für eine bißchen familienfreundlicher zu sein? gerechte Familienpolitik. Wenn Sie nicht bereit sind, diese Vorschläge von der SPD anzunehmen, dann Wenn Sie das so feststellen, dann haben Sie in den sind Sie hoffentlich in der Lage und bereit, sie von den letzten zwölf Jahren offenbar nichts für die Kinder- Kirchen anzunehmen. freundlichkeit in diesem Land getan. (Beifall bei der SPD) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es! — Weiterer Zuruf von der SPD: Es ist schlim Zweitens zur Altenpolitik. Der Kanzler sagt: mer geworden!) Jeder wird gebraucht. Wir sind angewiesen auf Offenbar gab es bisher keine Ermutigung und keine die Lebenserfahrung der älteren Generation. Stützung für Familien, wenn jetzt plötzlich Ermuti- Leider ist der Herr Bundeskanzler jetzt nicht mehr da, gung und Stützung erforderlich sind. sonst hätte er mir vielleicht spontan antworten kön- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 237

Christel Hanewinckel nen. Wo in Ihrem Regierungskonzept geben Sie etwas auf dem Arbeitsmarkt. Wissen Sie eigentlich, was es auf diese Erfahrung der alten Generation? Wo kommt für Frauen im Osten Deutschlands bedeutet, aus die ältere Generation denn vor? Ich habe in Ihrer einem Bereich ausgegrenzt zu werden, der sie früher Regierungserklärung nichts entdeckt. Wo gibt es unabhängig und eigenständig gemacht hat? Jetzt sind Aussagen zur Problematik des Wohnens im Alter? Wo viele von ihnen nicht nur arbeits- und chancenlos sind Aussagen zu einer eigenständigen Alterssiche- — weil sie einmal Frau sind und womöglich auch noch rung von Frauen? Wo steht etwas zur bundeseinheit- Kinder haben —, sondern sie sind jetzt sogar abhängig lichen Altenpflegeausbildung? Wo steht etwas zur von der Sozialhilfe. sozialen Grundsicherung im Alter oder bei Berufs- In Ihrer Regierungserklärung steht, daß Anreize und Erwerbsunfähigkeit? Diese Liste ist fortsetzbar. geschaffen werden müssen, die Sozialhilfe, wenn es Ich will das gar nicht alles wiederholen. Wir haben das irgend geht, freiwillig wieder zu verlassen. Ich emp- in den letzten Jahren immer und immer wieder hier finde das als eine Verhöhnung all derer, die von der durchgekaut. Es ist langsam wirklich langweilig, Sozialhilfe leben müssen, weil die Strukturen dieses Ihnen immer wieder das gleiche erzählen zu müssen. Landes, die Sie maßgeblich mitbestimmt haben, diese Trotzdem gibt es keine Aussage zu alledem. Menschen überhaupt erst dort hineingeschoben (Beifall bei der SPD) haben. Das ist eine Verhöhnung der Frauen, Kinder und Jugendlichen, die überhaupt nicht mehr anders Es kann natürlich sein, daß die Koalition deshalb können, als von diesem Geld leben zu müssen. Ich nichts dazu sagt, weil sie unseren Initiativen und finde, das ist ein Unding. Das sagt etwas aus über das Anträgen folgen will. Ich denke, da sind wir schnell Menschenbild und das Frauenbild, das offenbar in dabei. Ihrer Fraktion vorherrschend ist. (Zuruf von der SPD: Das ist Optimismus!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der — Ja, manchmal habe ich noch einen Rest Optimis- PDS) mus. Den will ich an dieser Stelle auch nicht verheh- Wissen Sie nicht, was es für Frauen bedeutet, auf len. Familie und Kindererziehung begrenzt zu werden, ohne daß von Ihnen hier auch nur ein Signal ausgeht? Ich komme zum dritten Bereich, zur Frauenpolitik. Es wäre z. B. demokratisch und gerecht, auf dem Dazu ist heute schon einiges gesagt worden. Aber Arbeitsmarkt wirklich gleiche Chancen für Frauen zuvor möchte ich wieder ein Wort vom Kanzler zitie- und Männer zu schaffen, etwa durch die Neuauftei- ren: lung von Arbeit. Sie fordern aber Teilzeitarbeit für die Die Gleichberechtigung von Frauen und Män- Frauen, wahrscheinlich damit sie auch weiterhin ihre nern ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen Mehrfachbelastung zugunsten der Männer unter unbestritten. Aber es wird im Alltag oft zu wenig einen billigen Hut bekommen. dafür getan, Frauen gleiche Chancen zu geben. In der Tat, Herr Bundeskanzler und Frau Ministerin: Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Kollegin In Ihrem Alltag spielt Frauenpolitik keine Rolle und im Hanewinckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Alltag der Unionsfraktionen vermutlich auch nur zu Kollegen Link? 14 %, wenn wir nachrechnen bzw. wenn wir dem Ergebnis glauben dürfen, das ausgerechnet worden Christel Hanewinckel (SPD): Ja, bitte, Herr Kol- ist. lege. Ich bin heute fürbaß erstaunt, wie oft ich aus Ihrem Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- Munde hören mußte, wie toll das doch mit Art. 3 der lege. Verfassung geworden ist. Ich glaube, Sie haben eine Erinnerungslücke. Ich war dabei und kann mich gut Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Kollegin erinnern, daß es fast zu nichts gekommen wäre, weil Hanewinckel, sind Sie bereit zuzugeben, daß es beim nämlich die Gespräche der Berichterstatterinnen Empfang der Sozialhilfe auch Mißbrauch gibt? Wenn geplatzt sind. Der Grund war nicht, daß die Frauen aus ja, dann haben wir dies damit gemeint. Ihrer Fraktion nicht wollten. Das war in der Tat nicht der Punkt. Aber es war offenbar nicht möglich, die Christel Hanewinckel (SPD): Ich gebe Ihnen zu, daß Männer der CDU/CSU dahinzubringen, endlich zu es bei der Sozialhilfe Mißbrauch gibt. Wie die Wohl- akzeptieren, daß Frauen gleichberechtigte Wesen fahrtsverbände, die vorrangig damit zu tun haben, sind und nicht etwas Unmenschlicheres als Männer. festgestellt haben, gibt es bei der Sozialhilfe einen Was haben wir denn zustande bekommen? Einen Mißbrauch von einem Prozent. Ich finde es langsam Minimalkonsens, bei dem das Wörtchen Gleichstel- wirklich unerträglich, daß wir an dieser Stelle immer lung nicht einmal in der Begründung fallen durfte. wieder in die Mißbrauchsdebatte eintreten, Stolz können wir wahrlich nicht darauf sein. Was (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE allerdings richtig ist: Das ist ein kleines Hoffnungszei- GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. chen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.] Mit dieser Regierungserklärung wird zwar die und Roland Kohn [F.D.P.]) Gleichberechtigung nicht bestritten — wie man auch wo wir doch von einem einzigen Prozent reden. Von an diesem Satz sehen kann —, aber Frauen haben den 99 %, die die Sozialhilfe zu Recht bekommen, weil darin keine Chancen. Sie haben ein Gleichberechti- dies nach unserem Grundgesetz für Menschen in gungsgesetz passieren lassen, das dem anfangs zitier- schwierigen Lebenslagen so vorgesehen ist, redet bei ten Satz alle Ehre macht. Keine Chancen für Frauen Ihnen offenbar kaum noch jemand. 238 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Christel Hanewinckel Was haben Frauen, vor allen Dingen die im Osten Jugendarbeit einen besonderen Schwerpunkt darstel- Deutschlands, von Ihnen, Frau Nolte, bei der Neure- len; es ist vermutlich mit das wirksamste Mittel zur gelung des § 218 zu erwarten? Sie wissen, daß Frauen Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt. in Ost und West sehr wohl in der Lage sind, verant- Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers ist wortlich Kinder zu erziehen. Vater Staat läßt sie dabei, auf all diese Forderungen — die er vermutlich kennt, wenn die Kinder erst einmal da sind, bekanntlich auch weil ihm der Jugendbericht ja schon vorliegt — nicht ziemlich alleine hantieren. Aber bei der Frage der eingegangen, er ist uns hier eine Antwort schuldig eigenverantworteten Entscheidung für ein Kind ist geblieben. Auch Frau Nolte hat diese Forderungen Frau plötzlich beratungs- und strafbedürftig. nicht aufgenommen, obwohl sie als ehemalige Ihre Forderung — Sie haben sie zwar nicht heute jugendpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion aufgemacht, aber wir haben ein ganz gutes Erinne- hier einiges hätte bieten müssen. — An dieser Stelle rungsvermögen —, für eine Abtreibung ein Jahr bin ich sehr enttäuscht von Ihnen. Arbeit im Krankenhaus, quasi als Strafversetzung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) leisten zu müssen, ist für mich abenteuerlich. Da werde ich an das Mittelalter erinnert. Wen wundert es nach dieser Regierungserklärung, wenn junge Menschen das Gefühl haben, die Politik (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christina kümmere sich nicht um sie, sondern vorrangig um sich Schenk [PDS]) selbst, sie sei inkompetent und den tatsächlichen Ich hoffe sehr — Sie haben das ja vorhin auch Herausforderungen für die Gestaltung ihrer Zukunft angedeutet —, daß Sie an dieser Stelle, auch wenn nicht gewachsen? Die Jugendpolitik dieser Bundesre- Ihnen das schwerfällt dies kann ich akzeptieren , gierung — wenn sie überhaupt stattfindet — reagiert umschwenken werden. Wenn Sie, Frau Nolte, das nur noch administrativ, um angefallenen Schaden aber nicht schaffen, dann werden Sie die Erfahrung soweit wie möglich in Grenzen zu halten. Nicht das machen, daß Sie nicht die Ministerin der Frauen Prinzip der Prävention, sondern das hilflose Reagieren Deutschlands sind, sondern bestenfalls die Ministerin auf soziale Eklats, z. B. in Ihrer Forderung, Frau Nolte, einer Randgruppe. das Jugendstrafrecht zu verschärfen, bestimmt die staatliche Förderungs- und Forderungspolitik. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es wird höchste Zeit, meine Damen und Herren, daß Ich kann Ihnen hier und heute versprechen, daß die die verhängnisvolle Politik in diesen vier Bereichen, Frauen der SPD-Bundestagsfraktion eine demokra- die das Haus in Zukunft zu verhandeln haben wird, tisch verantwortete und gerechte Gleichstellungs- umgekehrt wird. Ob dazu seitens der Mehrheit dieses politik für dieses Land mitmachen werden — aber Hauses auch nur graduell Bereitschaft besteht, wer- unter dem sind wir nicht zu haben. den wir spätestens bei den bald anstehenden Haus- haltsberatungen erfahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Ja!) Zum letzten, der Jugendpolitik. Herr Kohl sagt: „Wir brauchen die Träume und die Dynamik der Träume und Dynamik der jungen Frau Nolte, Erfah- Jugend. " Schon die Lektüre der Koalitionsvereinba- rung vom alten Kanzler: Meine Damen und Herren, in rung unter dieser Überschrift war sehr enttäuschend. der Regierungserklärung stand beides nicht zur Ver- Wer irgendeinen Hinweis auf Jugendpolitik gesucht fügung. Wir sind gespannt, Frau Nolte, auf Ihre ersten hat, hat ihn vergeblich gesucht. Nix von Traum, nix hundert Tage. Dann werden wir Sie sehr ernst neh- von Dynamik! men, und dann werden Sie uns auch hier und anderswo Rede und Antwort stehen müssen. Wer Böses denkt, dem fällt spätestens jetzt wieder ein, daß sich die Bundesregierung mit Erfolg davor Vielen Dank. gedrückt hat, dem Bundestag den 9. Jugendbericht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bis zum Ablauf der letzten Legislaturperiode zuzulei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ten, wie sie es gemußt und auch gekonnt hätte; denn PDS) die Sachverständigen waren bereits im März 1994 mit ihren Arbeiten dazu fertig. Dieser Bericht, der sich schwerpunktmäßig mit der Situation in den neuen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Kollegin Ländern beschäftigt, macht das Versagen der Bundes- Ortrun Schätzle hat das Wort. regierung hinsichtlich der Angleichung der Lebens- bedingungen von Jugendlichen in Ost und West drastisch deutlich und richtet gleichzeitig hohe Erwar- Ortrun Schätzle (CDU/CSU): I Zerr Präsident! Meine tungen an künftiges Regierungshandeln. lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie in der Regie- Einige zentrale Forderungen: Die Förderung der rungserklärung des Bundeskanzlers deutlich wurde, .Jugendarbeit muß deutlich verbessert werden. Die nimmt die Familienpolitik im Bereich der einzelnen Jugendverbände sind zu unterstützen in ihrem Bemü- Politikbereiche eine zentrale Stellung ein. Ich meine, hen, Interessen und Bedürfnisse Jugendlicher aufzu- Frau Hanewinckel, zur Familie gehören Kinder, gehö- greifen und sie zu vertreten. Das ehrenamtliche Enga- ren Erwachsene und Senioren. Damit umfaßt die gement in Jugendverbänden ist anzuerkennen und zu Familienpolitik praktisch alle Generationen und fördern. Und es ist notwendig, den freien Zusammen- Lebensbereiche. schluß junger Menschen zu Selbsthilfegruppen anzu- Es muß dabei bleiben, daß Familienpolitik in diesem regen und zu unterstützen. Ein ganz wichtiger Punkt Bündel einer Politik für alle Generationen auch in ist: Die politische Bildung muß im Rahmen der Zukunft eine Schlüsselfunktion einnimmt. Sie muß Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 239

Ortrun Schätzle unbedingt eine der wichtigsten Aufgaben der näch- Alt gelebt wird. Das Beziehungsnetz hält. Gegensei- sten Jahre bleiben. tige Hilfe und Unterstützung, Pflege und Fürsorge werden oft über kilometerweite Strecken hinweg (Zuruf von der SPD: Das hätte sie schon in garantiert und in einem großen Ausmaß erbracht. Der den letzten Jahren sein müssen!) Wille, dies zu tun, diese Leistungen und Pflichten im — Das war in den letzten Jahren schon so. Familienverband zu übernehmen, ist weiterhin vor- In dieser Überzeugung hat auch die bisherige handen. Das ist etwas sehr Positives. Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Rönsch, gearbeitet. Ich möchte ihr dafür danken, daß ordneten der F.D.P.) sie die Familienpolitik und eine neuformulierte Senio- renpolitik mit sehr großem Geschick und überzeugen- Als Vertreterin der bisherigen Arbeitsgruppe „Fa- der Menschen- und Sachkenntnis gestaltet hat. milie und Senioren" möchte ich die Eckpunkte nen- nen, die für eine zukünftige Familienpolitik wichtig (Beifall bei der CDU/CSU) sind. Zum ersten muß Politik weiterhin den hohen Ich wünsche der neuen Ministerin für Jugend, Wert der Familie immer wieder bewußt machen und Frauen, Familie und Senioren, Frau Claudia Nolte, die gesamten Rahmenbedingungen so gestalten, daß auch eine gute Hand, diese an den Lebenswelten sie den stark veränderten heutigen Lebens- und unterschiedlicher Generationen orientierte Politik Arbeitsmustern in ganz unterschiedlichen familialen erfolgreich fortzusetzen. Konstellationen gerecht werden. Das sind die Eltern mit Kleinkindern, mit Heranwachsenden, die alleiner- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ziehenden Väter und Mütter, die Großeltern, die der F.D.P.) alleinlebenden Senioren, die Adoptiv- und Pflegeel- Ich finde die Kritik, die gerade von seiten der tern, Familien in den alten und neuen Bundesländern Opposition und vorrangig von Ihnen, Frau Hane- und Ausländerfamilien. winckel, kam, im Vorfeld einer solchen Aufgabe sehr Zum zweiten. Wir Christdemokraten, gerade die unloyal. Mitglieder der Arbeitsgruppe „Familie und Senio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren", möchten auch in der kommenden Legislatur- Sie verderben einem Neuling - ich darf in diesem periode — hierbei stehen wir auf dem Boden der Falle sagen: einer jungen Frau, für die Sie eigentlich Regierungserklärung — Politik nach christdemokrati- immer verantwortungsvolle Ämter einfordern — eine schen Grundsätzen vollziehen. Dies äußert sich darin, Chance, indem Sie die Chance zerreden. daß wir berücksichtigen wollen, wie es der 5. Famili- enbericht deutlich gemacht hat, daß über 80 % unse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rer Bevölkerung zu Ehe, Familie und Kindern stehen. der F.D.P.) Wir wollen außerdem eine Familienpolitik auf dem Ich glaube, es gehört nicht zur politischen Kultur Boden des Grundgesetzes. Das heißt für uns: Ehe und dieses Hauses, daß wir so verfahren. Familie stehen unter dem Schutz des Staates ebenso wie jedes einzelne Menschenleben. Das ungeborene Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Familienpoliti- Kind, Kranke, Behinderte, Gebrechliche oder Ster- kerin sehe ich einen sehr wichtigen Teil unserer bende, die auch zur Familie gehören: jeder hat ein Zukunftspolitik in der Familienpolitik. Ich war dafür Recht auf Unverfügbarkeit seines Lebens. dankbar, daß unser Bundeskanzler in seiner Regie- rungserklärung die Wertigkeit der Familie so hervor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gehoben hat; denn allen Unkenrufen zum Trotz und der F.D.P.) das muß immer wieder öffentlich gesagt werden — hat Zum dritten. Wir fordern eine kinder- und familien- auch die Familie in der heutigen Gesellschaft nichts - freundliche Gesellschaft, die Kinder als Bereicherung an Bedeutung verloren. unseres Lebens anerkennt, die Rücksicht nimmt, die Junge Menschen wollen Familie. Also machen wir Toleranz übt und sich solidarischer und verantwor- Politik für junge Familien, indem wir eine gute Fami- tungsvoller verhält, als dies bisher manchmal der Fall lienpolitik machen. war. (Jörg Tauss [SPD]: O Gott! O Gott!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auf Die Familie hat trotz einschneidender wirtschaftlicher Ihrer Seite!) und sozialer Veränderungen und trotz eines starken Zum vierten. Wir wollen die Erziehungsfähigkeit Funktions- und Strukturwandels, auch trotz ihrer junger Eltern fördern; denn wir kennen ihre Unsicher- Mängel und Schieflagen, die junge Menschen erken- heit gerade in einer Gesellschaft, die von Individuali- nen, nichts von ihrem Wert verloren. sierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist. Die Sie hat sich gerade für junge Menschen als die Ministerin hat vorhin eine wertorientierte Erziehung beständigste und krisenfesteste Form menschlichen als Ziel genannt hat. Auch das ist es, was junge Eltern Zusammenlebens bewährt. Der Bundeskanzler hat suchen und wo sie Leitbilder brauchen. noch einmal betont, daß sie gerade der Ort ist, an dem Zum fünften. Wir wollen an der dualen Familienför- Liebe, Zuneigung und Verläßlichkeit, auch Toleranz derung festhalten. Wir unterstützen eine Politik, die erfahren und gelebt werden können. den Familienlastenausgleich zum Familienleistungs- Wenn wir in die heutigen Lebenswelten von Fami- ausgleich fortentwickelt — die Inhalte sind vorhin lie hineinsehen, dann stellen wir fest, daß trotz der genannt worden —, denn neben der steuerlichen räumlichen Trennung Solidarität zwischen Jung und Entlastung von Familien durch Anhebung des Kinder- 240 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ortrun Schätzle freibetrags muß auch das Kindergeld, eventuell in Regierungserklärung darauf abgehoben. Denn ge- Form von ausgleichenden Transferleistungen, stärker rade im Arbeitsleben und in der Arbeitswelt wird den am Einkommen und an der Kinderzahl orientiert Bedürfnissen von Familien noch zuwenig Rechnung werden. getragen. Dazu kommt auch das, was der Bundes- kanzler im Hinblick auf das öffentliche Leben und die

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Kollegin, Dienstleistungsbetriebe genannt hat. Kindergärten gestatten Sie eine Zwischenfrage? und Betriebe und Geschäfte haben zu starre Öff- nungszeiten. Da brauchen wir genauso wie in der Ortrun Schätzle (CDU/CSU): Ich darf gerade diesen Arbeitswelt flexiblere Lösungen, um eine Koordina- Satz zu Ende führen. tion von Familienbetreuung und Arbeitswelt besser zu Wenn die Kritik darin bestand, daß wir Not und gewährleisten. Wir brauchen auch und das wissen Armut von Familien definieren müßten, dann kann ich wir, obwohl das mehr die Kommunen betrifft — mehr nur sagen: Das kann nicht auf Grund eines Sozialhil- und vielfältigere Kinderbetreuungseinrichtungen, fesatzes geschehen; denn auf Sozialhilfe besteht in denn gerade dadurch, daß wir den Rechtsanspruch unserem Land ein Rechtsanspruch, und sie will gerade auf einen Kindergartenplatz aufrechterhalten, muß die Armut verhindern. auch vor Ort die Einrichtung dazu angeboten wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU) Achtens. Wir plädieren dafür, Eigenverantwortung und zu fördern, Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Sie gestatten die Eigenvorsorge im Gesundheitswesen Zwischenfrage von Frau Kollegin Schmidt? stellen uns aber gegen eine Abschaffung der Fami- lientarife in der Krankenversicherung, wie es ver- Ortrun Schätzle (CDU/CSU): Frau Schmidt, bitte. schiedentlich in den letzten Tagen in der Presse angekündigt wurde. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Frau Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU) Schätzle, vielleicht können Sie, da Sie dieses Thema gerade noch einmal ansprechen, mir vielleicht meine Neuntens. Wir fordern eine Familienpolitik für die Frage beantworten. Sie sagen, Sie halten am dualen Mehrgenerationenfamilie, denn gerade die Senio- System der Familienförderung fest. Sie wollen den renpolitik, die von der bisherigen Ministerin Hanne- Kinderfreibetrag in der Steuer erhöhen. Sie wissen lore Rönsch hervorragend aufgebaut wurde und sich genausogut wie ich, daß eigentlich nur diejenigen das auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit als wichtiger voll in Anspruch nehmen können, die in diesem Land Baustein unserer Gesellschaftspolitik gefestigt hat, wirklich auch ausreichend Steuern bezahlen dürfen; muß weitergeführt werden. denn sonst kann ich nichts einsparen. Sie sagen, daß das Kindergeld auf die wirklich Bedürftigen reduziert (Beifall bei der CDU/CSU) werden soll. Dürfte ich von Ihnen einmal wissen, in Alt sein und alt werden hat heute nichts mehr aus- welcher Höhe das Einkommen einer wirklich bedürf- schließlich mit krank sein und gebrechlich sein zu tun, tigen Familie ungefähr liegt? Mich macht es immer sondern es geht heute um eine Politik für aktive etwas mißtrauisch, wenn davon die Rede ist, daß Senioren, eigentlich schon die Sozialhilfeempfänger zu denen, die ausreichend versorgt sind, gehören: Wo ist die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Grenze zu setzen? der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) die ihre Selbständigkeit bewahren wollen, die weiter- hin am gesellschaftlichen Leben Anteil haben wollen. Ortrun Schätzle (CDU/CSU): Liebe Frau Schmidt, Deshalb dürfen wir eine Politik für Senioren nicht nur Sie wissen so gut wie ich, daß weder die Armut auf eine Politik für die Pflegebedürftigen reduzie- definiert ist noch wir das Existenzminimum definiert ren. haben. Sie wissen, daß dies eine Aufgabe dieser Legislaturperiode wird. Wenn Sie nun die Transferlei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stungen an einer Bemessungsgrenze ermittelt haben Dadurch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wollen, dann darf ich Sie nur auffordern, in dieser sehen Sie, verengt sich Familienpolitik nicht auf Legislaturperiode tüchtig mitzuarbeiten, damit wir Finanzpolitik für Familien, sondern Familienpolitik auch hier zu einem gerechten Ansatz von Bemes- hat ihre eigenen gesellschaftspolitischen Schwer- sungsgrundlagen kommen. punkte in den einzelnen Zielgruppen Jugend, (Beifall bei der CDU/CSU) Erwachsene und Senioren. Familienpolitik ist aber Ich möchte gerne weiterfahren. gleichzeitig auch eine Querschnittsaufgabe aller poli- Sechstens. Ich begrüße auch die Absicht der Koali- tischen Bereiche und der gesellschaftlichen Gruppie- tionsvereinbarung, daß Wohneigentumsförderung, rungen. vor allen Dingen für Familien mit Kindern, verstärkt (Beifall bei der CDU/CSU) wird. Es wurde schon einige Male gesagt: Junge Ich fordere uns deshalb auf, alle, auch die Opposi- Familien und Alleinerziehende brauchen mehr, fami- tion, mit allen Kräften daran zu arbeiten, um auf die liengerechtere und preisgünstigere Wohnungen. drängenden Fragen unserer familialen und gesell- Siebtens. Wir unterstützen jede Anstrengung, die schaftlichen Veränderungen durch eine zukunftstra- Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätig- gende Familienpolitik die richtigen Antworten zu keit zu erleichtern. Helmut Kohl hat auch hier in seiner geben. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 241

Ortrun Schätzle Vielen Dank. schen nach wie vor einen hohen, wenn nicht den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) höchsten Stellenwert bei ihrer Lebensplanung der Familie zumißt. Für sie ist die Familie unverändert das Zusammenleben von Eltern mit Kindern, von G enera- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die tionen, auch wenn vom großen Haus, dem Zusam- Kollegin Ilse Falk. menleben von ein bis vier Generationen, nicht mehr übriggeblieben ist als die moderne Kleinfamilie. Mehr Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen noch: Einelternfamilien, Alleinerziehende mit Kin- und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Auch dern, Patchworkfamilien — alle diese Fachausdrücke ich sage etwas zur Familienpolitik. belegen die gewandelte familiäre Struktur. Selbst (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie soll innerhalb der traditionellen Familienform haben sich ten etwas tun!) immense Veränderungen ergeben. Zu den neuen Die mich kennen, haben das sicherlich auch nicht Familienformen haben sich vielfältige Lebensformen anders erwartet. Zur Frauenpolitik ist schon soviel ohne Kinder gesellt, die früher eher ein Rand- oder gesagt worden. Sie ersparen uns auch keine Wieder- Ausnahmedasein führten. holungen. Deswegen ist es nötig, zum Abschluß der Debatte noch einmal deutlich zu machen, warum wir Das sind Tatsachen das betone ich —, die wir zur immer wieder das Feld Familienpolitik ansprechen Kenntnis zu nehmen haben, weil wir sie mit Sicherheit und das, was Sie als Ideologie bezeichnen, so heraus- nicht zurückdrehen können und auch nicht zurück- stellen: was den Wert für die Gesellschaft insgesamt drehen wollen sollten. Aber diese Komponenten ausmacht. schaffen veränderte Bedingungen für das Zusammen- leben in der Familie wie auch in der Gesellschaft Ich will es an zwei Beispielen festmachen, die mir insgesamt. bei den ganzen Diskussionen erheblich zu schaffen machen, und zwar schlagwortartig. Kinder scheinen Viele Selbstverständlichkeiten, die früher von sich bei uns erstens immer mehr zu lästigen Karriere- Familien und in der Familie geleistet wurden, von hindernissen zu entwickeln und zweitens zu unerträg- Kinderbetreuung über Pflege von Angehörigen, Ein- lichen finanziellen Belastungen, die ihre Eltern zu heit von Haus- und Arbeitsbereich, Kontakt und Hilfe unsäglichem Verzicht auf viele liebgewonnene in der Nachbarschaft, solidarische Einbindung von Gewohnheiten zwingen. Man liebt sie zwar und sorgt Randpersonen, sind heute aus dem Funktionsbereich dafür, daß sie an allen Angeboten, die ihrer optimalen der Kleinfamilie verdrängt. Zunehmend ist der Staat, Entwicklung dienen, teilhaben können, aber gleich- d. h. die Politik, gefordert, hier Ersatzfunktionen zu zeitig ist nur der Staat ein guter Staat, der möglichst übernehmen: Kindererziehung in Krippe, Tagesstätte früh ein umfassendes Angebot der Betreuung zur und I fort, Lebensversicherung von der Wiege bis zur Verfügung stellt, damit Mann und Frau möglichst Bahre, Dienstleistungsangebote rund um die Uhr, wenig von den freiheitsbeschränkenden Auswirkun- ausgefeilte Bildungs- und Freizeitangebote in Verei- gen des Kindes zu spüren bekommen. Dazu wird nen und Verbänden und schließlich weil dabei so suggeriert, daß bereits der rechnerische sprich: einiges schiefgeht — umfassende Beratungsangebote materielle — Gegenwert des Kindes, ausgezahlt in für alle Problembereiche. Mark und Pfennig, endlich wieder die Glückseligkeit in den Familienalltag bringt. Familienpolitik, meine Damen und Herren, darf Meine Damen und Herren, sind Kinder wirklich nicht entmündigen. Vielmehr sollten Eltern zur Erzie- nicht mehr als ein CD-Player, den wir auf die Liste der hung ihrer Kinder ermutigt werden und nicht unter Luxusgüter zur Komplettierung des Haushalts setzen dem Druck stehen, nur pädagogisch geschulte Kräfte könnten Optimales für die Entwicklung ihrer Kinder und uns irgendwann leisten können? Natürlich bin ich - auch dafür, daß wir die Lasten aus der Erziehung von erreichen. Ich schlage vor: Wo ihnen die Erfahrung Kindern durch einen gerechteren Familienleistungs- fehlt, sollte man über geeignete Formen der Vermitt- ausgleich deutlich verringern. Aber sind wir uns lung von Grundbegriffen und Werten in der Erzie- eigentlich im klaren darüber, wieviel Leistung der hung durch Schulungsangebote nachdenken. Staat inzwischen erbringen soll und muß, weil sich die Schließlich können wir für fast alles amtliche Zertifi- gesellschaftlichen Gewohnheiten und Zusammen- kate erwerben; nur zur Erlernung der Grundbegriffe hänge grundlegend geändert haben, weil wir sehr der Erziehung und Konfliktlösung im Alltag ist uns viele individuelle Lebensformen ohne Rücksicht auf bisher noch nicht viel Praktikables eingefallen. das Ganze ausleben? Hier ist auch anzusiedeln, daß Sozialhilfe an viel mehr Stellen eintreten muß, als es Wenn Eltern mit Kindern allerdings unter Ausgren- früher der Fall gewesen ist: weil wir uns Individualität zung und finanziellen Benachteiligungen leiden, leisten. Das ist keine Diskriminierung der Frauen, die wenn sie die Geringschätzung der Leistungsträger mit ihren Kindern Sozialhilfe bekommen, sondern es und derer, die sich dafür halten, spüren, dann steht es ist eine Hilfe, die der Staat an dieser Stelle leistet. schlecht um die Zukunft der Familie, dann steht es schlecht um unser Land, um unser aller Zukunft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Deshalb, so finde ich, verdient das wiedervereinigte ordneten der F.D.P.) Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ich will auf die Notwendigkeiten eingehen, die sich Jugend die Bezeichnung Zukunftsministerium zumin- aus dem veränderten Gebilde Familie für die zukünf- dest ebenso wie das so genannte. tige Politik ergeben, und an den Beginn stellen, daß trotz aller Schwarzmalerei von dem Verfall herkömm- (Beifall bei der CDU/CSU — Beifall der Abg. licher Familienstrukturen die Mehrheit der Deut Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]) 242 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Ilse Falk Es ist das einzige Ressort, das schon in der Bezeich- Beförderungen und Leitungsfunktionen abgekoppelt nung Menschen in den Mittelpunkt stellt, Bevölke- ist, hat ihren Sinn verfehlt. rungsgruppen, deren Interessen auf Grund zahlrei- In der Bereitstellung von zukunftssicheren Arbeits- cher gesellschaftlicher und struktureller Benachteili- plätzen, der Garantie wirtschaftlicher Sicherheit und gungen besonders wahrgenommen und gefördert der Ermöglichung praktikabler Familienlösungen werden sollen. Insofern ist es allen anderen Bereichen kann sich der Querschnittsbereich Jugendpolitik übergeordnet; seine Aufgaben sind nur als Quer- allerdings nicht erschöpfen. Rechtliche Rahmenbe- schnittsaufgaben zu bewältigen, was an der Politik für dingungen und wirtschaftliche Eckdaten allein junge Menschen besonders deutlich wird. machen junge Menschen nicht glücklich. Ohne Heils- Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Frie- botschaften oder Allheilmittel zu verkünden, ohne der dens- und Verteidigungspolitik, der Umwelt, der Gefahr zu erliegen, antiquierte oder starre Lebensvor- inneren Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit stellungen zu vermitteln, muß Politik jungen Men- wirken sich unmittelbar auf die Situation junger schen Orientierung anbieten. Menschen in Staat und Gesellschaft aus. Alle hier Auch in wirtschaftlich angespannter Zeit muß gel- gefällten Entscheidungen sind Politik für die Jugend, ten, daß Begabung und Begeisterung eine Chance Politik für junge Menschen, ist Investition in die erhalten und junge Menschen das Recht haben, Zukunft, in ihre und in unsere eigene. In alle hier Umwege zu gehen und sich auszuprobieren, ohne daß genannten Bereiche sollten wir uns also immer wieder ihnen dadurch berufliche oder gesellschaftliche mitberatend einmischen. Nachteile entstehen. Mut zur Zukunft zu vermitteln soll dabei unser Ziel Wenn man fragt, was sie heutzutage Jugendliche sein, zu verhindern, daß sich orientierungsschwache am meisten bedrückt, so ist es neben allgemeinen Jugendliche gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen und Sinn- und Orientierungsschwierigkeiten häufig die in die Isolation flüchten. Sorge um die eigene berufliche und damit auch um die familiäre Zukunft. Jungen Menschen Zukunftschan- Der Zulauf, den Jugendsekten erfahren, steigender cen zu eröffnen heißt deshalb auch, ihnen Ausbil- Drogenkonsum und die zunehmende Akzeptanz oder dungs- und Arbeitsplätze bereitzustellen. Nur wenn gar Anwendung von zielloser oder zielgerichteter wir die beruflichen Perspektiven für die heranwach- Gewalt sind Alarmsignale, sind Zeichen dafür, daß sende Generation verbessern — dazu gehört im enge- unsere Gesellschaft ihren Schutzverpflichtungen nur ren Sinne die Aufwertung der beruflichen Bildung unzureichend gerecht wird. genauso wie die Entlastung und Reform der Hoch- Gesprächsbereitschaft und Zeit zum Zuhören müs- schulen —, erleichtern wir jungen Menschen auch das sen hier bei Erwachsenen ganz dringend Vorrang Ja zur Familie. haben vor Freizeitpark, Health-Center, Joggingbahn und Shopping-Mall — Räume, die immer größer Dieses Ja zur Familie, einer der Schwerpunkte der werden und in denen Kinder und Jugendliche stö- Regierungspolitik der nächsten vier Jahre, stellt leider ren. immer noch vor allem junge Mädchen und Frauen vor Die Förderung von Jugendarbeit sowie Jugendver- schwierige Entscheidungskonflikte. Zugegeben, hier bandsarbeit muß kontinuierlich fortgeführt werden. kann der Staat nicht alle Probleme lösen; denn eine Das Engagement von Jugendlichen im politischen, zielorientierte Lebensplanung ist nun einmal durch sozialen, kirchlichen, kulturellen und sportlichen die seit der Schöpfung unveränderte Biologie des Bereich bietet Orientierungsmöglichkeiten und ver- Kinderkriegens für Frauen schwerer. Sie müssen mittelt einen verantwortungsvollen Umgang mitein- Berufsausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung ander. usw. parallel hinkriegen oder sich entscheiden, an welcher Stelle sie zunächst Verzicht leisten. Vizepräsident Dr. : Frau Kollegin, Daß Männer demgegenüber eine Zeitspanne bis Sie müssen zum Abschluß kommen. zum 35., 40. Lebensjahr ohne wachsenden Entschei- dungsdruck zwischen Beruf und Familiengründung (CDU/CSU): Ich bin sofort fertig. verstreichen lassen können — biologisch problemlos Ilse Falk natürlich noch viel länger — sollte man sich ab und zu Das Erlernen und Erfahren von Gemeinsinn stiften- einmal klarmachen. Allein dieses gibt ihnen bessere den Werten wie Menschlichkeit, Toleranz und Solida- berufliche Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten. Selbst rität ist der beste Schutz gegen Gewaltbereitschaft wenn in dieser wichtigen Phase Kinder geboren und Intoleranz. werden, bleibt die Karriere in der Regel ungestört, Dabei müssen die Rahmenbedingungen zur Ent- weil die Wirklichkeit noch immer vom Bild des Man- wicklung junger Menschen so gefaßt sein, daß ein nes als dem Ernährer der Familie geprägt ist. Dabei Höchstmaß individueller Entwicklung und sozialer möchte ich betonen, daß die Frauen diese Aufgabe in Erfahrung erlebbar wird. Schranken aufzuzeigen und aller Regel mit großer Freude annehmen. Trotzdem Werte zu vermitteln und dabei gleichzeitig zu Kreati-

sollte man bei dem Hinweis „Aber Kinder bereichern vität und zu Nonkonformismus zu ermutigen, — doch das Leben ungemein" das tun sie nun wirk- lich — nicht vergessen: Das muß dann gleichermaßen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, für Frauen und Männer gelten. ich muß Sie bitten, zum Abschluß zu kommen. Der Wiedereinstieg nach der Familienphase ohne Karriereverlust ist ein nach wie vor nur in Ansätzen Ilse Falk (CDU/CSU): — fit zu machen für die gelöstes Problem. Eine Teilzeitoffensive, die von Übernahme von Verantwortung zum Mitdenken und Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 243

Ilse Falk Mitgestalten ist die, wie ich meine, schwierigste daß höhere Zuzahlungen fällig werden, oder da rin, Herausforderung einer zukunftsorientierten Jugend- daß auf medizinisch notwendige Leistungen verzich- und Familienpolitik. tet werden muß. Sie verstecken ihre Absichten hinter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nebulösen Begriffen wie „Eigenverantwortung und ordneten der F.D.P.) Eigenvorsorge im Gesundheitswesen müssen ge- stärkt werden". (Zuruf von der F.D.P.: Das ist gar nicht Das Wort hat der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: nebulös!) Abgeordnete Kirschner. Oder auch: „Neubestimmung von Subsidiarität und Solidarität". Klaus Kirschner (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn der Debatte (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Klaus, wir sind über den gesundheitspolitischen Teil der Koalitions- doch ehrlich!) vereinbarungen wollte ich Sie, Herr Kollege Seehofer, — Ja, ich sagte es ja auch. zu Ihrer Wiederberufung als Gesundheitsminister Damit soll der Systemwechsel des Gesundheitswe- eigentlich beglückwünschen. Ich würde Ihnen gerne sens aus der Sicht der Regierungskoalition, aus der eine glückliche Hand bei der Weiterentwicklung des Sicht eines Teils der Leistungsanbieter und aus der Gesundheitswesens und vor allem bei der Bewahrung Sicht der Arbeitgeber vorbereitet werden. Ganz sicher der sozialen und solidarischen Krankenversicherung aber ist, daß das Leistungsniveau des Gesundheitswe- wünschen, vor allem aus der Verantwortung heraus, sens aus der Sicht der Versicherten und der Patienten daß Gesundheit ein Gut ist, das sowohl für den dann nicht um-, sondern abgebaut wird. einzelnen Menschen wie für unsere gesamte Gesell- schaft von herausragender Bedeutung ist. Die medizinisch notwendige Vollversorgung, die Wenn ich mir allerdings die Koalitionsvereinbarun- wir bisher im Leistungskatalog der gesetzlichen Kran- gen dazu durchlese, Herr Gesundheitsminister, dann kenversicherung haben, kann sich dann nur noch bin ich mir sicher, Sie können gar keine glückliche derjenige leisten, der dafür auch das notwendige Hand haben; denn Ihnen sind schon jetzt die Hände Kleingeld im Portemonnaie hat. gefesselt. (Zuruf von der SPD: Das wollen sie doch! — (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gegenruf von der CDU/CSU: Gott, hat der eine Ahnung!) Meine Damen und Herren, stellen Sie sich folgen- des Szenario vor: Im Jahre zweitausend X werden die Meine Damen und Herren, daß Sie dieses Szenario Leistungsanbieter jährlich beträchtliche Einkom- weit von sich weisen, ist nichts anderes als eine mens- und Gewinnzuwächse verbuchen können. Die Pflichtübung; der Text Ihrer Koalitionsvereinbarung gesetzlichen Krankenkassen haben soeben den zu dem Thema „Weiterentwicklung des Gesundheits- Sprung in den Verband der Privatversicherer wesens", der zwar vage ist, läßt jedoch ohne Zusam- geschafft. Die Beiträge für eine Mindestgesundheits- menarbeit mit der SPD nur dieses Szenario zu. Denn versorgung sind kontinuierlich gesunken. Der Arbeit- gerade wegen fehlender sozial gerechter Perspekti- geberpräsident kann wieder durchatmen, weil sich ven und ausgesparter Lösungsansätze zu dem zwei- die Arbeitgeber endlich nach Jahrzehnten des Aus- fellos vorhandenen Problem der Knappheit der Mittel stiegskampfes aus der gesetzlichen Krankenversiche- und der immer noch herrschenden strukturellen Ver- rung verabschieden. Als Belohnung für die Versicher- werfungen auf der Leistungsanbieterseite ist klar, ten, die noch in Brot und Arbeit stehen, gibt es zu wohin die Koalitionspolitik gehen soll. Es geht um die Weihnachten kleine Aktiengeschenke der in Aktien- Rationierung von Leistungen, und es geht Ihnen um gesellschaften umgewandelten gesetzlichen Kran- eine Privatisierung von Gesundheitsrisiken. Damit ist kenkassen. Und statt eines vollwertigen Versiche- mit all seinen sozialen, gesellschaftlichen und wirt- rungsschutzes halten die Versicherten ein wertloses schaftlichen Konsequenzen der Weg in die Mehrklas- Bonusheft in der Hand. senmedizin vorgezeichnet. Ihre Koalitionsvereinba- Meine Damen und Herren, das ist die Richtung, die rung enthält keinen einzigen konkreten Hinweis Sie mit Ihrer Koalitionsvereinbarung einschlagen. darauf, daß das zum 1. Januar 1993 auf den Weg gebrachte Gesundheitsstrukturgesetz in seinen Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) formmaßnahmen konsequent Schritt um Schritt Ich sage Ihnen, Herr Bundesgesundheitsminister, umgesetzt wird. Sie haben nur zwei Optionen: Entweder Sie erarbei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten im Konsens weitere Vorschläge zur Weiterent- wicklung der gesetzlichen Krankenversicherung, wie Wenn aber, meine Damen und Herren, über die wir sie in Lahnstein gemeinsam erarbeitet und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens disku- beschlossen haben, oder Sie beschließen hier mit Ihrer tiert wird, dann muß diese Diskussion auf der Grund- Mehrheit Leistungskürzungen. lage der im Gesundheitsstrukturgesetz angelegten In Ihrer Koalitionsvereinbarung heißt es — ich Reformen geschehen. Wir, d. h. alle in Lahnstein zitiere —: Beteiligten, haben dieses Gesetz gemeinsam erarbei- tet und beschlossen. Die Bundesregierung, insbeson- Ausgabenentwicklung und Aufgabenumfang dere Sie, Herr Bundesgesundheitsminister Seehofer, bleiben einnahmeorientiert. sind in der Verantwortung. Die Umsetzung dieses Das heißt im Klartext: Die Zeche, die die Versicher- Gesetzes fordere ich namens der SPD ein. Das war und ten bezahlen müssen, besteht dann entweder darin, ist die Geschäftsgrundlage unserer Zusammenarbeit 244 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Klaus Kirschner und der Zustimmung zu diesem Gesundheitsstruktur- und die Ankündigungen ab, auf der Grundlage des gesetz. Sachverständigenberichts die gesetzliche Kranken- versicherung umzugestalten. Ich empfehle dem Bun- Meine Damen und Herren, Ihre Ankündigung in desgesundheitsminister, der diese Zeitungsmeldun- der Koalitionsvereinbarung, auf der Grundlage des gen ja nur dem Zeitpunkt nach, nicht dem Inhalt nach Endberichts des Sachverständigenrats für die Konzer- mit den Worten dementiert hat, der Inhalt habe mit der tierte Aktion im Gesundheitswesen eine dritte Wahrheit so viel zu tun wie eine Schildkröte mit dem Reformstufe vorzubereiten, bedeutet nichts anderes Stabhochsprung, sehr schnell geeignete Schildkröten als einen weiteren Abbau der sozialen Krankenversi- zum Trainieren zu suchen und vor allem die Latte cherung. Denn entsprechend den bei den Regierungs- nicht zu hoch zu legen. parteien in Mode gekommenen Begriffen wie z. B. „Eigenverantwortung und Eigenvorsorge sollen ver- (Beifall bei der SPD) stärkt werden" sind die Fragen vom Bundesminister Ich sage Ihnen: Wir werden es nicht zulassen, daß für Gesundheit an den Sachverständigenrat formuliert die gesetzliche Krankenversicherung einer Gesund- worden. Der Sachverständigenrat antwortet also nur heitspolitik zum Opfer fällt, bei der das Gemeinwohl auf die tendenziösen Fragen, die er vom Bundesmini- auf der Strecke bleibt. Denn das ster für Gesundheit vorgegeben bekommen hat. So Solidaritätsprinzip fordert die Solidarität der Starken mit den Schwachen wird z. B. von Ihnen gefragt: Was kann ausgegrenzt ein, während hier die Solidarität der Schwachen mit werden? Wo sind die Grenzen bei den Leistungen der den Starken eingefordert wird. Solidargemeinschaft? Welche Einkommensarten der Versicherten können neben ihren Löhnen zusätzlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) herangezogen werden? Welche Wahltarife können den Versicherten angeboten werden, ohne daß dabei Meine Damen und Herren, Solidarität kennt ein die Arbeitgeber belastet werden? Oder: Wie kann der eindeutiges Prüfungsmerkmal: Wie wirken die Maß- reduzierte Grundleistungskatalog der gesetzlichen nahmen auf die sozial Schwächeren, auf die Älteren Krankenversicherung aussehen? und auf die chronisch kranken Menschen? Das ist auch der Maßstab, den wir Sozialdemokraten an Ihre (Zuruf von der CDU/CSU: Man wird ja noch Politik anlegen werden. Den Weg, den Sie offensicht- fragen dürfen!) lich ohne jegliche Not gehen wollen, den müssen Sie alleine gehen. Die SPD sieht jedenfalls keinen Grund Das sind die Fragen, die Sie gestellt haben. zum Abbau des sozialen Krankenversicherungsschut- Und prompt will auch der Sachverständigenrat zes, dann das vorhandene Problem der Knappheit der Die Behauptung, aufgrund der demographischen Mittel ausschließlich in der Sphäre der Versicherten sei die gesetzliche Krankenversicherung lösen. Folgt man den bereits in einem Zwischenbe- Entwicklung nicht mehr zu finanzieren, ist verantwortungslose richt dargelegten Vorschlägen das ist ja eine der Panikmache. Alle entsprechenden Bevölkerungspro- wenigen klaren Aussagen in Ihrer Koalitionsverein- barung —, dann werden die Grundprinzipien der jektionen gehen davon aus, daß die Alterspyramide für unser Sozialleistungssystem frühestens in 15 Jah- gesetzlichen Krankenversicherung ausgehebelt. ren zu Problemen führt. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na, na!) Die Gefahr für die Finanzierung der gesetzlichen Danach stehen der bisherige Arbeitgeberanteil bei Krankenversicherung geht in viel stärkerem Maße der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversiche- von der offenen und versteckten Massenarbeitslosig- rung, das Solidarprinzip, das Finalprinzip — das heißt, keit aus, der Lohnentwicklung sowie der herrschen- daß die Leistungen unabhängig von der Verursa- den Verteilungspolitik. Seit 1982, also seit diese chung der Erkrankung erbracht werden —, das Sach- Koalition an der Regierung ist das ist ja auch ihr leistungsprinzip und die medizinisch vollwertige Ver- erklärtes Ziel —, ist die Lohnquote ständig gesunken. sorgung zur Disposition. Angesichts sinkender Reallöhne und Renten droht sich dieses Problem, das Sie mit zu verantworten Meine Damen und Herren, dies steht ganz eindeu- haben, weiter zu verschärfen. tig im Zwischenbericht des Sachverständigenrates drin, schön umschrieben mit so Formulierungen wie Also weder die demographische Entwicklung noch Zwiebelmodell, Pfirsichmodell oder Tortenmodell. der medizinische oder der medizinisch-technische Kollege Zöller, Sie wissen es genau, das steht im Fortschritt und erst recht nicht der Wandel des Krank- Sachverständigenbericht drin. Wenn Sie sagen, auf heitsspektrums rechtfertigen das, was Sie in Ihre der Grundlage dieser Vorschläge wollen Sie die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben gesetzliche Krankenversicherung aus Ihrer Sicht wei- und was trotz aller Dementis von Ihnen bestellte terentwickeln, dann bedeutet das eben den Abschied Sachverständige längst vorbereiten. von der bisherigen solidarischen Krankenversiche- Ich biete Ihnen an, in Kooperation mit uns Sozialde- rung. mokraten eine moderne, finanzierbare und sozial (Beifall bei der SPD) ausgewogene Gesundheitspolitik zu konzipieren. Das Meine Damen und Herren, ich finde, die Schlagzei- Gesundheitsstrukturgesetz, zu dem wir Sozialdemo- len vom vergangenen Sonntag haben es auf den Punkt kraten uns im Gegensatz zur Koalition immer noch gebracht, indem in einer Sonntagszeitung formuliert eindeutig bekennen, ist eine historische Weichenstel- wurde: „Das sind Folterwerkzeuge für die Versicher- lung und die einzige Strukturreform in der Geschichte ten" oder „Die Koalition berät über Horrorliste". der Bundesrepublik Deutschland, was unser Gesund- Genau darauf zielen Ihre strategischen Überlegungen heitswesen betrifft. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 245

Klaus Kirschner Für die Ausgestaltung des Systems der Gesund- stelle ich fest: Diese Bundesregierung hat nichts heitsversorgung und deren Finanzierung sind die hinzugelernt. Ich sage Ihnen, Fehlentwicklungen im strukturellen Reformelemente in diesem Gesetz von Gesundheitswesen können nicht nach der neoklassi- entscheidender Bedeutung. Hierdurch werden beste- schen Wirtschaftstheorie, der Markt wird es richten, hende Strukturmängel abgebaut und das Selbststeue- behoben werden. Ich halte Ihnen entgegen, was der rungspotential der gesetzlichen Krankenversiche- Jesuitenpater Professor Hengsbach festgestellt hat: rung gestärkt. Viele dieser Elemente bedürfen erst (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der wird noch der weiteren Konkretisierung und der Umset- immer zitiert!) zung durch die Selbstverwaltungsorgane oder sie bedürfen noch der Verordnungen durch die Bundes- Mehr Markt macht nicht gesund. Das werden Sie mir regierung. doch wohl zugeben. Positive Auswirkungen werden dabei insbesondere Im übrigen lassen Sie mich an all diejenigen, die ausgehen von der Aufhebung des Selbstkostendek- immer so viel mehr Markt fordern, sagen: Werfen Sie kungsprinzips im Krankenhaus und der Ablösung des doch einmal einen Blick über den Zaun, nämlich den tagesgleichen Pflegesatzes durch Sonderentgelte und Zaun zwischen der gesetzlichen Krankenversiche- Fallpauschalen oder der Verzahnung der Kranken- rung und der privaten Krankenversicherung. Bei der häuser mit der ambulanten Versorgung oder der letzteren verlief die Ausgabenentwicklung geradezu neuen Grundlagen für die Vergütungsregelungen in dramatisch. Von 1975 bis 1993 stiegen die Ausgaben der ärztlichen Versorgung, wie z. B. die Zusammen- in der Vollversicherung der privaten Krankenversi- fassung von ärztlichen Leistungen zu Leistungskom- cherung von 4,7 Milliarden DM auf 18,8 Milliarden plexen, oder der Organisationsform der ärztlichen DM. Die Anzahl der in der privaten Krankenversiche- Versorgung mit der Möglichkeit zur Anstellung von rung vollversicherten Mitglieder stieg dagegen im Ärzten durch Vertragsärzte, oder auch der unbefriste- selben Zeitraum lediglich von 4,2 Millionen auf ten Zulassung der noch bestehenden Polikliniken in 6,9 Millionen Versicherte an. Dabei ist noch zu den neuen Bundesländern. berücksichtigen, daß bis 1989 privat Versicherte ohne größere Schwierigkeiten in das GKV-System wech- Denken Sie aber auch an die Steuerung ärztlich seln konnten, was meist ältere Versicherte in verordneter Arznei- und Heilmittel mit der Erstellung Anspruch nahmen. Hierbei wurde die private Kran- einer Positivliste durch ein unabhängiges Institut kenversicherung um teure Risiken entlastet. Um so „Arzneimittel in der Krankenversicherung". Dies sind stärker ist dieser Ausgabenanstieg, der viel stärker ist echte Reformmaßnahmen, so wie es das Gesundheits- als in der gesetzlichen Krankenversicherung, zu strukturgesetz vorsieht. Dies ist alles erst in der bewerten. Umsetzungsphase. Anstatt Rationierung von Leistungen und damit Hier ist der Ansatz für die Modernisierung und Verlagerung von Gesundheitsrisiken in den p rivaten Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens. Dar- Bereich, wohlgemerkt ohne Not und noch mit ausrei- auf muß auch weiterhin aufgebaut werden. Dieser chenden Wirtschaftlichkeitsreserven im System, Reformkurs ist fortzusetzen. Bei der Koalitionsverein- barung kann man sich jedoch des Eindrucks nicht (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wo?) erwehren, daß bei der Koalition wenig Interesse erwarten die Menschen in unserem Land eine vorhanden ist, das GSG konsequent umzusetzen. Gesundheitspolitik. (Beifall bei der SPD) Lieber Kollege Dr. Thomae, ich sage es noch einmal: Setzen wir doch zuerst einmal das Gesundheitsstruk- Wir hatten in und nach Lahnstein zunächst die turgesetz konsequent um! Hoffnung, daß die Koalitionäre nach der gescheiterten Jahrhundertreform Norbert Blüms (Beifall bei der SPD) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Oberlehrer!) Das ist doch unser gemeinsamer Wille. Es geht hier darum, die Wirtschaftlichkeitsreserven auszuloten. durch kräftigen Nachhilfeunterricht der SPD die wirk- Danach werden wir das prüfen. Wir können doch gar lichen Ursachen der Probleme, nämlich mannigfaltige nicht sagen, wo, wenn das Gesetz noch nicht einmal in Ineffektivitäten und Ineffizienzen in allen Versor- seinen Strukturelementen umgesetzt ist. gungsbereichen, erkannt hätte. — Das ist nicht ober- lehrerhaft. Liebe Frau Kollegin Babel, vielleicht erin- (Bundesminister Horst Seehofer: 1996!) nern Sie sich daran, was Sie für einen Gesetzentwurf Wir haben es nicht umsonst gemacht, wenn ich im Jahre 1992 vorbereitet hatten. Dieser Gesetzent- beispielsweise an den Krankenhausbereich denke. — wurf hat doch keinerlei Strukturelemente beinhaltet, Ja, das ist in Ordnung. Aber reden Sie nicht von einer sondern ausschließlich höhere Selbstbeteiligungsre- dritten Reformstufe, bevor wir nicht einmal dieses gelungen für Versicherte und Budgetierung. Alles Gesetz konsequent umgesetzt haben! Darum geht es andere — deshalb ist es nicht oberlehrerhaft —, was an doch. Erst dann können Sie davon reden, wo wir noch Strukturelementen in Lahnstein vereinbart wurde und Defizite haben, wo wir Nachholbedarf haben, wo was heute im Gesetz steht, sind Dinge, die von der SPD Nachbesserungsbedarf ist. Sie senden ständig Signale durchgesetzt worden sind. Das können Sie wohl nicht an diejenigen aus, die dieses Gesetz sowieso nicht ableugnen. wollten; so als ob wir oder Sie es mit dem Gesetz nicht (Beifall bei der SPD) ernst meinten, Herr Bundesgesundheitsminister. Da es in Ihrer Koalitionsvereinbarung nicht um Meine Damen und Herren, es geht darum, daß wir Umbau, sondern um Abbau des Sozialstaates geht, eine Gesundheitspolitik benötigen, die den veränder- 246 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Klaus Kirschner ten Anforderungen und Erwartungen gerecht wird. Wir werden auch dafür sorgen, daß dieses System zu Damit komme ich zu einem weiteren Punkt. Diese tragbaren Beitragssätzen für Arbeitnehmer und Bundesregierung nimmt überhaupt nicht zur Kennt- Arbeitgeber finanzierbar bleibt, und wir werden auch nis, wie fatal die Folgen einer fehlenden zielorientier- dafür sorgen, daß die gesetzliche Krankenversiche- ten Prävention und Gesundheitsförderung sind. Sie rung nach vorne weiterentwickelt und nicht abgebaut haben es in den vergangenen Jahren versäumt, eine wird. gezielte gesellschaftlich-präventive Gesundheitspo- Zu diesen Zielen bieten wir Ihnen die Zusammen- litik zu gestalten. Offensichtlich nimmt der Bundesmi- arbeit an. Alles andere ist für uns nicht diskussionsfä- nister für Gesundheit nicht zur Kenntnis, was in hig, und dies wird auf den entschiedensten Wider- der deutschen Sozialmedizin und für Länder mit stand der SPD — sowohl hier im Bund als auch in den einer epidemiologischen Gesundheitsberichterstat- Ländern — stoßen. tung längst gesicherte Erkenntnis ist, nämlich die Vielen Dank. soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. (Beifall bei der SPD und der PDS) Diese Bundesregierung entfaltet, wenn überhaupt, vorwiegend Aktivitäten bei den verhaltensbedingten Gesundheitsrisiken. Die verhältnisbedingten Ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat sundheitsrisiken, also z. B. die Bedingungen, die in Bundesminister Horst Seehofer. der Arbeitswelt oder in der Umwelt oder auch im sozialen Umfeld zu suchen sind, werden so gut wie Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: völlig ausgeblendet. Die Bundesregierung nimmt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und damit in Kauf, daß die Zugehörigkeit zu sozialen Herren! Ich bin zunächst dem Kollegen Kirschner sehr Schichten über die Krankheitsrisiken und Lebenser- dankbar für die gebremsten Glückwünsche, für die wartungen mitbestimmt. Die Prävention und die Barmherzigkeit, mit der er wieder einmal mit mir Gesundheitsförderung werden wohl auch weiterhin umgegangen ist. Ich möchte allerdings den Verdacht nach dem Motto „Weiter so Deutschland" betrie- des Bundesfinanzministers zurückweisen, daß ich ihm ben. vorher Valium verabreicht hätte. Diesen Verdacht hat der Bundesfinanzminister gerade geäußert. Ich weise (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Bartho- das ausdrücklich zurück. lomäus Kalb [CDU/CSU]: Weil wir so erfolg- reich waren!) Lieber Herr Kirschner, Sie haben über Dinge gesprochen, die nirgendwo stehen und die niemand Der Bundesgesundheitsminister wird weiterhin beabsichtigt. Das deutsche Gesundheitswesen ist das seine wesentlichen Energien darauf verschwenden, leistungsfähigste auf der Welt, und es wird in dieser die Probleme zu verniedlichen, zu leugnen oder sogar Legislaturperiode auch das leistungsfähigste auf die- so zu definieren, ser Welt bleiben. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wo leben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie denn?) Damit Sie nicht nachlesen müssen, sondern es unmittelbar von mir hören, sage ich Ihnen hier noch daß er nicht zuständig sei, wie in der Antwort auf die einmal zwei Dinge, die ich seit Wochen immer klar Große Anfrage zur Prävention nachzulesen ist. Herr formuliert habe und die auch Bestandteil meines Kollege Kalb, ich empfehle Ihnen einmal die Antwort Dementis vom Wochenende waren. Es bleibt bei der auf die Große Anfrage der SPD zur Prävention nach- beitragsfreien Familienversicherung in der gesetzli- zulesen. Vielleicht sollten Sie dies tun, bevor Sie hier chen Krankenversicherung unter den Bedingungen, einen Zwischenruf machen, zu dem ich Ihnen sagen die wir dort formuliert haben; muß: Sie haben diese Antwort nie nachgelesen. Viel- leicht wissen Sie nicht einmal, daß die SPD eine solche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Große Anfrage gestellt hat. denn es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn diese Koalition auf der einen Seite überlegt, wie man (Beifall bei der SPD — Bartholomäus Kalb die Familien mit Kindern und die Frauen, die zu Hause [CDU/CSU]: Die war unbedeutend!) Kinder erziehen und nicht berufstätig sind, stärken — Ich sage Ihnen: Wenn Sie dies nachlesen, und wenn kann, und auf der anderen Seite gleichzeitig überle- Sie das vergleichen, dann ist so etwas angesichts von gen würde, die beitragsfreie Familienversicherung in millionenfach verlorenen und beschädigten Lebens- der gesetzlichen Krankenversicherung abzuschaffen. jahren geradezu zynisch. Es entspricht der Ideologie Dies findet nicht statt. Dies ist logisch. der Bundesregierung, einer Individualisierung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gesundheitsrisiken bzw. des Präventionsgedankens, der F.D.P.) die die Bedeutung von Verhaltenswirkungen nicht Meine Damen und Herren, das andere wird auch nur herunterspielt, sondern auch zu einer Schuldzu- nicht stattfinden — das habe ich immer wieder weisung gegenüber dem einzelnen Menschen führt. gesagt —, nämlich daß es in der Bundesrepublik Meine Damen und Herren, wir werden dafür sor- Deutschland für die ärztliche Dienstleistung eine gen, daß die soziale Krankenversicherung — das ist Selbstbeteiligung geben wird. Der Besuch eines Arz- unsere Zielsetzung — erhalten bleibt. Wir werden tes oder einer Ärztin darf nicht zum Privileg eines auch dafür sorgen, daß die gesetzliche Krankenversi- größeren Geldbeutels werden. Deshalb wird es keine cherung auch in Zukunft einen vollwertigen Kranken- Selbstbeteiligung bei einem Arztbesuch geben. versicherungsschutz den Versicherten anbieten wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 247

Bundesminister Horst Seehofer Diese beiden Dinge sind klar und auch immer zusammengebunden haben. Das ist die Grundlage für wieder gesagt worden. Sie, Herr Kirschner, und Ihr die Leistungsfähigkeit dieses Systems. Kollege Dreßler sowie viele andere führen eine reine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Phantomdiskussion, indem Sie sich mit Dingen aus- Zuruf von der SPD: Was wollen Sie denn einandersetzen, die bei uns niemand beabsichtigt, ändern?) schon gar nicht der Bundesgesundheitsminister. Wir haben überhaupt keinen Grund, uns nach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) anderen Systemen umzuschauen. Alle Versuche, mit Es wird jetzt immer wieder gesagt: Vollziehen wir anderen Grundprinzipien das Risiko der Krankheit doch zuerst das GSG, und überlegen wir dann, ob abzusichern, sind in der Menschheitsgeschichte weiterer Reformbedarf besteht. Ist es in der Bundes- gescheitert. Die Amerikaner sind mit ihrem Versuch republik nicht einmal möglich, eine Reform einzulei- gescheitert, das Krankheitsrisiko zu privatisieren. Sie ten, bevor uns die Verhältnisse dazu zwingen? Jeder, dürfen in Amerika alles werden, nur nicht krank. Das der sich mit dieser Materie auskennt, weiß, daß wir andere Extrem, jedes Lebensrisiko in jeder Veräste- mittelfristig, also 1995/96, weiteren Reformbedarf lung zu sozialisieren, ist auch gescheitert. Unter die- haben werden. Dies stellen wir nicht erst heute fest, sem System waren zwar alle Menschen gleich, aber sondern das sage ich seit Mai 1992, nachdem wir das alle gleich arm. Deshalb können diese beiden Pole, GSG eingeleitet hatten. Wenn man die verschiedenen Privatisierung oder Sozialisierung von Lebensrisiken, Umstände addiert, ergibt sich, daß sie zu dieser für uns kein Vorbild sein. Reform zwingen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie werden mit mir, Herr Kirschner, in den nächsten Tagen und Wochen erleben, wie sich die aktuelle Wir wollen die bewährten Prinzipien der gesetzli- Situation hinsichtlich der Finanzen der gesetzlichen chen Krankenversicherung weiterentwickeln. Wir Krankenversicherung darstellt. Der Sparwille nimmt brauchen keine Revolution, sondern eine Fortent- dort deutlich ab. Wir werden froh sein, wenn wir bis wicklung des Systems mit Augenmaß und Vernunft. Ende 1995 mit den Sparwirkungen des GSG zu Rande In den letzten zwei Jahren haben wir pausenlos den kommen. Dazu kommen die ständig steigende Vorwurf von Medizinern, Apothekern, Pharmaher- Lebenserwartung, die ständig steigende Erwartungs- stellern, Krankenkassen und Krankenhäusern gehört, haltung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit dieses wir hätten seinerzeit im Jahre 1992 viel zu schnell Systems, der medizinische Fortschritt und der medi- gehandelt. Die Beteiligten seien nicht ausreichend in zintechnische Fortschritt. Nicht einer dieser Gründe, die Vorbereitung der Gesundheitsreform des Jahres aber die Addition aller dieser Gründe zwingt die 1992 einbezogen worden. Politik zu einer Reform. Nun haben wir den großen Vorteil, daß die gesetz- (Rudolf Dreßler [SPD]: Was ist daran neu?) liche Krankenversicherung momentan finanziell kein Notfallpatient ist. Deshalb können wir in den nächsten Ich sage noch einmal: Wir sollten die Reformüber- Monaten in aller Ruhe mit den Beteiligten, und zwar legungen anstellen, bevor uns die Verhältnisse dazu mit allen Beteiligten, die neue Reform vorbereiten. zwingen. Das erwarten die Menschen von uns, die uns Wir beginnen bereits in der zweiten Januarwoche mit gewählt haben. den Krankenkassen und mit den Medizinern. Wir (Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Dreßler werden mit allen Beteiligten des deutschen Gesund- [SPD]: Sie haben doch etwas ganz anderes heitswesens sprechen. vor!) Wir haben für diese Gespräche keine Schubladen- Der Reformbedarf besteht. Herr Kirschner, ich ver- pläne, keine Geheimpläne, keine Vorgaben. Wir mag nicht nachzuvollziehen, wieso Sie ihn immer führen diese Gespräche ohne Tabu. Denn wir wollen wieder in Frage stellen, wieso Sie das Tempo, mit dem jetzt einmal die Nagelprobe machen, ob diejenigen, wir diese neue Reform angehen möchten, in Frage die ständig beklagen, daß sie bei Reformen in der stellen, nachdem Sie selbst von seiten der SPD eine Gesundheitspolitik nicht ausreichend beteiligt wor- Kommission eingesetzt haben, die diesen weiteren den sind, wirklich über eigene Alternativen und Reformbedarf formulieren soll, und nachdem Sie eigene Vorschläge verfügen. Das wollen wir ab selbst erst vor kurzem in der Öffentlichkeit erklärt Januar bei unseren Gesprächen einmal sehen. Wer haben, daß weiterer Reformbedarf spätestens 1996 sich bei diesen Gesprächen nicht beteiligt oder bei und 1997 besteht. Sollen wir erst dann reformieren, diesen Gesprächen nicht ausreichende Alternativen wenn das Jahr 1996 bereits da ist, oder sollten wir nicht auf den Tisch legt, der meldet sich bei der Gestaltung die Zeit bis zum Jahre 1996 nutzen, um diese Refor- der nächsten Gesundheitsreform ab. men vorzubereiten? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Bundesmi- nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Es geht nicht darum, die bewährten Prinzipien der neten Dreßen? gesetzlichen Krankenversicherung auf den Kopf zu stellen. Die Tatsache, daß die gesetzliche Krankenver- sicherung die leistungsfähigste auf dieser Welt ist, ist Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: auch darauf zurückzuführen, daß wir die bewährten Bitte, Herr Dreßen. Prinzipien von Solidarität und Eigenverantwortung, von Selbstverwaltung, Therapiefreiheit und freier Peter Dreßen (SPD): Herr Bundesgesundheitsmini- Arztwahl in der gesetzlichen Krankenversicherung ster, wenn Sie sparen wollen: Würden Sie vielleicht 248 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Peter Dreßen jetzt schon abschätzen können, wie Sie die Grund- Ich sage jetzt vorsorglich für das nächste halbe Jahr: lohnsummensteigerung im Jahr 1995 veranschlagen, Alles, was da gemeldet, gesendet oder gesagt wurde, nachdem Sie sich ja im Jahre 1994 total verschätzt ist falsch. Es gibt in meinem Hause bisher keinen haben, indem Sie den Kassen 3,2 % vorgegeben Punkt, kein Komma, kein Wort, keinen Satz mit Bezug haben, die damit immense Ausgaben tätigen mußten, auf den möglichen Inhalt der nächsten Gesundheits- die nicht notwendig gewesen wären, wenn Sie eine reform. Alles, was bisher dazu gesagt oder veröffent- richtige Prognose abgegeben hätten? licht wurde, ist falsch. Deshalb war der Vergleich mit Wollen Sie in diesem Jahr wieder so überhöhte der Schildkröte und dem Stabhochsprung zutreffend. Prognosen abgeben? Ich meine, das wäre ja ganz gut. Die Meldungen der letzten Tage hatten mit der Dann geben wir diese Prognosen einmal an die Wahrheit soviel zu tun wie eine Schildkröte mit dem Gewerkschaften weiter. Vielleicht sind die Ihnen Stabhochsprung, und dabei bleibt es. dafür dankbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun gehört zu meinem Hause künftig auch die Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Sozialhilfe. Ich weiß nicht, warum das besonders Lieber Herr Kollege Dreßen, man sollte immer auf der kritisiert wird. Solange ich zurückdenken kann, hat Höhe der Zeit diskutieren. Ihre Fragestellung geht auf die Sozialhilfe früher immer zum Gesundheitsministe- Einlassungen des DGB und der Gewerkschaften rium gehört, auch zur Zeit von Heiner Geißler. zurück, die Mitte des Jahres richtig waren. (Rudolf Dreßler [SPD]: Quatsch!) (Peter Dreßen [SPD]: Im Februar war das!) Ich sage auch hier ganz deutlich: Die Sozialhilfe ist Heute habe ich die neuesten Zahlen. und bleibt neben der Versicherung und der Versor- — Haben Sie einmal die bayerische Geduld! Die gung die dritte wesentliche Säule unseres sozialen Bayern sagen immer: Man soll das Wasser halten Netzes. Wenn wir jetzt eine Diskussion über die können. — Hören Sie mir jetzt einmal zu. Fortentwicklung der Sozialhilfe führen, müssen wir vornweg eine Diskussion über das Image und eine Ich habe heute die neuesten Zahlen. Wir haben für Imageveränderung der Sozialhilfe führen. Es muß sich das ganze Jahr 1994 eine Grundlohnsummensteige- niemand schämen, der die Sozialhilfe und damit die rung von 3,2 % prognostiziert. In den ersten drei dritte Säule unseres sozialen Netzes in Anspruch Quartalen des Jahres 1994 waren es 2,9 %. Nun weiß nimmt. jedes Milchmädchen, daß die Grundlohnsummenent- wicklung im vierten Quartal nach oben gehen wird, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. weil im vierten Quartal die 13. Monatsgehälter und Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) die Sonderzahlungen ausbezahlt werden. Herr Dre- Nirgendwo steht das, Herr Kollege Dreßler, was Sie ßen, wenn Sie mit Ihrer Partei bei Ihren Prognosen am Wochenende in allen Interviews gesagt haben, auch nur annähernd so an der Wirklichkeit liegen daß wir nämlich die Sozialhilfesätze linear kürzen würden, wie wir mit unserer Prognose für das Jahr wollten. Das ist nicht beabsichtigt. Die Sozialhilfe 1994, dann würde ich Ihnen noch zu Lebzeiten eine bleibt die dritte stabile Säule des sozialen Netzes. Freifahrt auf dem Chiemsee in Bayern bezahlen. Daß die Regierung dies nicht erst heute sagt, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) sondern schon zehn Jahre ernstgenommen hat, Wir brauchen keine Revolution. Meine Damen und mögen Sie allein aus der Zahl ersehen, daß der Herren, wir wollen die Reform zusammen mit allen Realwert der Sozialhilferegelsätze in den letzten zehn Beteiligten vorbereiten. Nur: Einige Eckpunkte sind Jahren um 19 % gestiegen ist, während die Nettoreal- auch dafür klar. Es bleibt bei der einnahmeorientier- verdienste der Arbeitnehmer nur um 10,5 % gestiegen ten Krankenversicherungspolitik. Das heißt, die Aus- sind. Das heißt, der Nettowert der Sozialhilferegel- gaben werden auch künftig nicht stärker steigen sätze ist fast doppelt so stark gestiegen wie die dürfen als die Einnahmen. Denn, meine Damen und Realwerte der Nettoarbeitseinkommen. Deshalb kann Herren, alles können wir uns leisten, nur nicht stei- diese Regierung mit Fug und Recht davon reden, daß gende Beiträge in der gesetzlichen Krankenversiche- sie die Sozialhilfe als eigenständigen Pfeiler der rung. Deshalb bleibt es bei diesem Eckpfeiler. sozialen Absicherung in unserer Sozialpolitik ernst nimmt. Es bleibt bei einer sozialen Krankenversicherung. Das heißt, daß kranke Menschen das medizinisch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Notwendige in bester Qualität auch in Zukunft erhal- Nun zu Ihnen, lieber Herr Kollege Dreßler. Ich muß ten müssen. Sie ansprechen, weil Sie am Wochenende über man- Es bleibt bei der qualitätsorientierten Krankenver- che Radiosender Unsägliches von sich gegeben sicherungspolitik, es bleibt bei der Selbstverwaltung, haben. Offensichtlich ist es nicht sehr häufig gehört und es bleibt bei der freiheitlichen Gesundheitspoli- worden, denn es hat in der Presse nur sehr, sehr tik, also bei freier Arztwahl und Therapiefreiheit bei ärmlich Niederschlag gefunden. den Ärzten. Meine Damen und Herren, für Hilfe zur Pflege Mehr Vorgaben wollen wir für diese Gespräche gar gibt die Sozialhilfe 16,4 Milliarden DM aus. Aus der nicht machen. Denn sonst bekommen wir wieder den Zahl der Leistungsbezieher kann man aber nicht Vorwurf, wir würden den Beteiligten eine Lösung Rückschlüsse auf eine neue Armut in der Bundesre- vorlegen, ohne sie ausreichend an diesen Gesprächen publik Deutschland ziehen. Denn wenn jemand sta- zu beteiligen. tionär gepflegt wird, kann es sein, daß er auch bei Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 249

Bundesminister Horst Seehofer einer Pension von 3 000 oder 4 000 DM auf Sozialhilfe die Beispiele nur, um deutlich zu machen, daß man angewiesen ist, weil es bisher bei diesem Risiko die manche Folgen, die man aus der Sozialhilfestatistik gesetzliche Absicherung in der Sozialversicherung abliest, nicht mit Maßnahmen im Sozialhilferecht nicht gab. Da liegt der Grund doch nicht im zu beseitigen kann, sondern nur mit Maßnahmen in niedrigen Einkommen, sondern in den zu hohen anderen Bereichen unserer Gesellschafts-, Wirt- Kosten, meine Damen und Herren. Deshalb haben wir schafts- und Finanzpolitik. eine eigenständige soziale Pflegeversicherung ge- braucht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Man kann doch nicht aus der Zahl der Pflegebedürf- Was die Arbeitslosigkeit betrifft, stimme ich Ihnen tigen Rückschlüsse auf eine neue Armut in der zu. Da gibt es Probleme. Ich halte sehr viel von dem Gesellschaft ziehen. Vorschlag von Norbert Blüm zum Brückenbau zwi- schen einem Leistungsbezug und einer Vermittlung (Rudolf Dreßler [SPD]: Wer hat denn das auf dem Arbeitsmarkt. Man sollte den Gedanken gemacht?) weiterverfolgen, ob man nicht für eine Überbrük- Meine Damen und Herren, ich sage auch dies mit kungszeit einen Sozialhilfeempfänger, einen Arbeits- vollem Ernst und mit vollem Bedacht: Jeder dritte losenhilfeempfänger gewissermaßen vom Sozialamt, Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik vom Arbeitsamt aus vermittelt — er bliebe dann Deutschland ist Ausländer. Ich bewerte das nicht. Sozialhilfe- bzw. Arbeitslosenhilfeempfänger —, da- Man muß aber hinzufügen: Man kann nicht auf der mit dem Arbeitgeber die Angst, er würde es vom einen Seite Menschen in der Bundesrepublik ersten Tag an mit unüberwindlichen Schranken und Deutschland integrieren, Bürgerkriegsflüchtlingen in Hürden des Arbeitsrechts zu tun haben, genommen der Bundesrepublik Deutschland helfen, aber dann, wäre. Dann wäre dieses Alibiargument nicht mehr wenn sie Sozialhilfe beziehen, diesen Umstand auf der möglich. Meine Damen und Herren, ich halte davon anderen Seite als Maßstab für neue Armut in der sehr viel. Bundesrepublik Deutschland heranziehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Aber es gehört auch zur Wahrheit, daß es Menschen ordneten der F.D.P.) bei uns im Lande gibt — ich sage nicht, daß dies eine Ich werde bei der Fortentwicklung der Sozialhilfe Mehrheit ist, aber es ist eine nennenswerte Größe —, sehr stark auf eine integrierte und differenzierte die lieber Sozialhilfe als ein Arbeitseinkommen bezie- Betrachtungsweise dieses Problems Wert legen. hen. Auch das gehört zur sozialen Gerechtigkeit; die Aufwendungen für diese Menschen sind von den leistungsbereiten Arbeitnehmern mitzufinanzieren. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, Ich bin dafür, daß wir dies auch in der Öffentlichkeit gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten aussprechen. Tauss? Ich sage noch einmal: Das ist keine Mehrheit. Aber Jörg Tauss (SPD): Darf ich Ihnen den Fall eines auch diesem Problem müssen wir zu Leibe rücken. Da Arbeitnehmers tunesischer Herkunft nennen, der hilft nur eines: Überwindung der Sozialhilfebedürftig- 35 Jahre in Deutschland tätig war, Sozialhilfe bezogen keit, verstärkte Anstrengungen der Kommunen, der hat und anschließend ausgewiesen worden ist? Viel- Landkreise und der Städte, damit diese Menschen mit leicht sollten auch solche Dinge mit einfließen. Haben Unterstützung der Arbeitsverwaltung wieder in Sie das bei den Zahlen berücksichtigt, die Sie hier Arbeit kommen. vortragen und die möglicherweise zu Irrtümern füh- ren? - Es wird immer gefragt: Gibt es für diese Menschen denn überhaupt Arbeit? — Ich möchte Sie nur auf Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: einen Gesichtspunkt hinweisen. Es gab im Jahre 1993 Herr Kollege Tauss, lernen Sie Geduld! Ich komme annähernd 200 000 Menschen in der Bundesrepublik noch darauf. Ich will eine differenzierte und eine Deutschland, die sogenannte Saisonbeschäftigte wa- integrierte Betrachtung. Ich komme auf das Problem ren. Es gibt in Deutschland 1,3 Millionen Arbeitser- der Arbeitslosigkeit. laubnisse, davon über 900 000 allgemeine Arbeitser- laubnisse, d. h. solche, bei denen das Arbeitsamt Ich beginne mit der integrierten Betrachtung, meine zuerst prüfen muß, ob nicht Deutsche für diese Arbeit Damen und Herren. Das Hauptziel bei der Fortent- zur Verfügung stehen. Von diesen 900 000 Inhabern wicklung der Sozialhilfe muß die Vermeidbarkeit von allgemeiner Arbeitserlaubnisse, bei denen das Sozialhilfebezug sein. Ein Hauptgrund für Sozialhilfe- Arbeitsamt erst einmal prüfen muß, ob deutsche Pflegebedürftig- bezug war in der Vergangenheit die Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, sind 200 000 Ich sagte es. Das Problem wird ganz entschei- keit. Saisonbeschäftigte. Sie alle kennen die Fälle bei der dend durch die gesetzliche Pflegeversicherung redu- Weinlese, beim Spargelstechen und ähnlichem ziert. mehr. (Peter Dreßen [SPD]: Und was ist mit der Arbeitslosigkeit?) Jetzt möchte ich, ohne sofort in die Ecke des Jeder sechste Sozialhilfebezieher ist ein Kind unter Unsozialen oder des sozialen Kahlschlägers gedrängt sieben Jahren. Deshalb ist es notwendig und auch zu werden, die Frage stellen, ob es bei dieser Sachlage Bestandteil der Koalitionsvereinbarung, den Famili- von über 900 000 allgemeinen Arbeitserlaubnissen enleistungsausgleich massiv zu verbessern. Ich nenne nicht auch notwendig ist, verstärkt Bezieher von 250 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Bundesminister Horst Seehofer Sozialhilfe für diese Arbeitsplätze mit ins Gespräch gar nicht weit auseinander. Gerade zu dem Komplex und in die Vermittlung zu bringen. „Arbeitsmarkt", den ich zuletzt angesprochen habe, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sagen die Kirchen: Soziale Gerechtigkeit verlangt, ordneten der F.D.P.) daß diejenigen, die nicht in der Lage sind, eine eigene ausreichende Arbeitsleistung zur Wirtschaft beizu- Herr Dreßler, auch wenn Sie nur ein Ohr frei haben: Niemand von uns denkt an eine lineare Kürzung der steuern, von der Gesellschaft soviel erhalten, daß sie menschenwürdig leben können. Sozialhilfe. Aber eine sinnvolle Fortentwicklung des Sozialhilferechts aus dem Jahre 1961 ist, wie ich Das ist absolut richtig. Dabei ist darauf zu achten denke, eine Notwendigkeit. — das ist jetzt diese differenzierte Betrachtung —, daß (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dadurch nicht eine falsche Bequemlichkeit Platz greift, die das notwendige Arbeitsethos in der Gesell- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, schaft aushöhlt. Wir müssen bei der Verteilung von gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeord- sozialen Transferleistungen darauf achten, daß nicht neten Tauss? die Bescheidenen das Gefühl bekommen, daß sie von den Cleveren ausgenutzt werden. Auch das gehört zur Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ja. sozialen Gerechtigkeit. Das wird ja alles nicht angerechnet. Oder? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nein, es wird nicht angerechnet. Ein letzter Gedanke. Eine dritte große Reform wird die Neuordnung des Transplantationsrechtes in der Jörg Tauss (SPD): Ist Ihnen bekannt, daß ein Groß- Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand ha- teil der Sozialhilfeempfängerinnen alleinerziehende ben. Der Bund hat durch die letzte Grundgesetzände- Frauen und ältere Frauen sind? Können Sie mir sagen, rung dafür die Gesetzgebungskompetenz. Es wird das wie wir die bei der Spargelernte und ähnlichen erste Gesetz sein, das wir auf diesem Sektor einbrin- Arbeiten einsetzen sollen? gen. Es ist ein unwürdiger Zustand, daß die Deut- schen, was die Transplantationen betrifft, Importland Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: sind. Das heißt, daß Deutschland als reiches Land Ihre Eigenschaft ist wie die des Herrn Kirschner: Sie mehr menschliche Organe für Transplantationen problematisieren etwas, was ich überhaupt nicht importiert als umgekehrt. angesprochen habe. Ich habe zu Beginn meiner Aus- führungen über den Sozialhilfebereich ausdrücklich Deshalb, denke ich, haben wir hier eine zweifache gesagt: Die Sozialhilfe ist ein eigenständiger Zweig Aufgabe: Erstens müssen wir dafür sorgen, daß mehr unseres Sozialsystems. Niemand muß sich schämen, Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bereit wenn er Sozialhilfe bezieht. Es ist so und es wird auch sind, Organe für schwerkranke Menschen zur Verfü- künftig so sein, daß Menschen in einer Lebenssitua- gung zu stellen, für Menschen, für die die Transplan- tion sind, in der sie auf Sozialhilfe angewiesen sind, tation die einzige Chance zum Überleben ist. Das ist und wir nicht das Recht haben, mit dem Finger auf praktizierte Nächstenliebe. Die Diskussion der letzten diese Menschen zu zeigen oder sie zu verurteilen. Monate, die Diskussion insbesondere auf Grund der Verunsicherung durch den Gesetzentwurf in Rhein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und land-Pfalz, hat leider Gottes dazu geführt, daß die der F.D.P.) Spenderbereitschaft massiv zurückgegangen ist. Es Dazu zählt natürlich auch eine alleinerziehende ist ein unwürdiger Zustand, wenn wir mehr importie- - Frau mit fünf Kindern, die nicht berufstätig sein kann. ren als umgekehrt. Wir brauchen dafür eine saubere Dazu zählt jemand der krank, aber nicht krankenver- rechtliche Grundlage. Die Vergabe der Organe darf sichert ist. Auf diese Fälle habe ich mich überhaupt nur nach medizinischen und nicht nach ökonomischen nicht bezogen. Ich habe gesagt: Es gibt externe und finanziellen Kriterien erfolgen. Wir werden ganz Probleme, die wir lösen müssen, um die Sozialhilfebe- massiv verfolgen, daß es keinen Organhandel in der dürftigkeit zu vermeiden — Stichwort Pflege, Stich- Bundesrepublik Deutschland geben darf. wort Verbesserung des Familienleistungsausgleichs. Ich habe gesagt, daß wir uns den Menschen zuwenden (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Das ist ganz müssen, die wegen Arbeitslosigkeit Sozialhilfe bezie- wichtig!) hen. Bei diesem Sachverhalt habe ich angeführt, daß es darunter auch Menschen gibt, die gar nicht so Ein weiterer Schwerpunkt dieser Reform wird sein, unglücklich darüber sind, daß sie Sozialhilfe an Stelle daß wir die Menschenwürde und das Selbstbestim- eines Arbeitseinkommens beziehen. Alles gemein- mungsrecht der Betroffenen achten. Wir dürfen in der sam gehört zur Wahrheit und ermöglicht nur so eine Bundesrepublik Deutschland nicht soweit kommen, differenzierte und gerechte Betrachtungsweise. daß die Daten eines Personalausweises durch das Ich begrüße das Papier der Kirchen genauso wie Recht stärker geschützt sind als die menschlichen Heiner Geißler. Das Papier ist eine sehr gute Diskus- Organe. Deshalb halte ich bei der Reform des Trans- sionsgrundlage für die nächsten Monate auch bei der plantationsrechts sehr viel davon, daß wir das Bestim- Fortentwicklung der Sozialhilfe. Ich werde in den mungsrecht des Verstorbenen oder seiner Angehöri- nächsten Wochen beide Kirchen zu einem Gespräch gen achten. Ich bin ein entschiedener Gegener einer über die Fortentwicklung des Sozialhilferechts einla- Widerspruchslösung, die gewissermaßen zum Inhalt den. Ich denke, in den Grundfundamenten sind wir hat, daß man von der Zustimmung desjenigen ausge- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 251

Bundesminister Horst Seehofer hen darf, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich wider- Diese Regierung muß begreifen, Herr Seehofer, daß sprochen hat. ihre Drogenpolitik samt dem Abstinenzdiktat ge- scheitert ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der . SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Oha!) Ich denke, hinsichtlich der Organe müssen wir positiv Legalisierung weicher, Entkriminalisierung harter formulieren. Drogen — damit bekommt der Schlag gegen die Die Zukunft kommt nicht durch jene, die wie die Drogenmafia ein humanes Gesicht. Es ist notwendig, SPD die Augen vor den Problemen schließen, sondern Gesundheitspolitik von moralisch verbrämten Irratio- die Zukunft kommt durch jene, die die Probleme nalismen freizuhalten; denn sie soll die Diskriminali- anpacken. Das Gesundheitsministerium wird auf die- sierung Kranker überwinden. sem Gebiet mit der Gesundheitsreform Nummer 3, Das galt und gilt insbesondere für HIV-Infizierte (Rudolf Dreßler [SPD]: Wann war denn die und Aidserkrankte. Die Finanzmittel für die Aidsprä- zweite Reform?) vention zu kürzen wäre ein folgenreicher Fehler. mit der Reform des Transplantationsrechts und mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer Fortentwicklung des Sozialhilferechts drei ganz sowie bei Abgeordneten der PDS) herausragende Arbeitsschwerpunkte haben. Dane- Die politisch Verantwortlichen, Ärzte in Blutbanken ben gibt es viele andere Punkte, z. B. die Aufarbeitung und Pharmaindustrie haben beim HIV-Blutskandal in der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses HIV. kaum faßbarem Maß versagt. Internationaler Bluthan- Vielen Dank. del, deutsch-deutsches Blutgeschäft über Schalck Golodkowski sind in meinen Augen bislang nicht ausreichend aufgeklärt.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abgeordnete Monika Knoche. Das Geschäft mit dem Blut, das Geschäft mit der Krankheit haben Menschen mit dem Leben bezahlt. Der Untersuchungsausschußbericht ist fertig, die poli- Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr tische Befassung hier im Bundestag beginnt erst. geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Im Koalitionsvertrag ist die Fortsetzung der Damen! Herr Minister Seehofer, das, was Sie vorge- Gesundheitsreform angekündigt. Die breite öffent- tragen haben, war sehr sympathisch. liche fachliche Kritik am Gesundheitsstrukturgesetz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fordert die Verteidigung des Sozialen im Gesundheit- der F.D.P. — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: lichen als einen Wert an sich in einer zivilen Gesell- Der ist auch sympathisch!) schaft. Das zu betonen scheint mir trotz Ihrer Rede sehr wichtig. Es fragt sich nur, weshalb Sie mittels Ihrer Anfrage an die Sachverständigen so ausdrücklich wissen wollen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) welche Leistungen im Jahre 2000 noch von der Wir haben unter dieser Regierung keine Gesund- gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt wer- heitsreform, sondern eine Deformation der Solidarge- den sollen. Auch Ihre Koalitionsvereinbarungen spre- meinschaft von oben erlebt, die hervorragend korre- chen an allererster Stelle von Eigenverantwortung, spondiert mit einem generellen Sozialabbau als frei- Eigenvorsorge und Wettbewerb im Gesundheitswe- marktwirtschaftliche Antwort auf die Strukturkrise. Ist sen. - Armut und Existenzangst an sich schon ein Krank- Wovon sie nicht sprechen, ist, daß Gesundheitspo- heitsrisiko, so droht das neue System der Gesund- litik ein ganzheitliches Verständnis von Mensch und heitsversorgung nach der dritten Stufe des GSG Natur braucht; sonst greift sie zu kurz. Wer soziale, seinerseits zu einer krankmachenden Armutsfalle zu kulturelle, diskriminierende Einflüsse, die krankma- werden. chen, leugnet, läuft Gefahr, in einer inhumanen Selbstverschuldungsideologie zu landen. Der zuneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) menden Zerstörung der Umwelt kann sich der Mensch Vor dem Hintergrund der angestrebten Leistungs- allein durch individuelle Verhaltensänderungen nicht kürzungs- und Ausgrenzungsvorhaben im gesetz- entziehen. lichen Krankenversicherungssystem von Selbstver- Wir denken nicht in den Kategorien Schuldzuwei- schulden und Eigenverantwortung zu reden kann sung und Leistungsausgrenzung und wehren uns angesichts der Lebenswirklichkeit dann doch schon in entschieden dagegen, daß mit dem Leid und der Zynismus abgleiten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wol- medizinischen Unterversorgung von spritzdrogenab- len eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der hängigen Menschen Politik für den starken Staat Patientinnen und Patienten. In diesem Sinn wollen wir gemacht wird. Das ist der eigentliche Mißbrauch. Demokratisierung des Gesundheitswesens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Kranke gehören in ärztliche Hände und nicht hinter Gefängniswände. Eine Reprivatisierung der sozialen Daseinsvorsorge lehnen wir ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 252 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Monika Knoche Die Gesundheitsversorgung selbst auf den Markt Das ist auch eine notwendige Schlußfolgerung, des freien Wettbewerbs zu werfen führt unumgäng- wenn wir von Demokratisierung und Zivilität in dieser lich in die Zweiklassenmedizin. Wer sich wie die Gesellschaft sprechen. Bundesregierung von marktideologischen Prämissen Danke. leiten läßt, kommt zu abstrusen Schlüssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Autoversicherungskonzept von Voll- und Teil- sowie bei Abgeordneten der PDS) kasko analog auf das Krankenversicherungssystem zu übertragen kann nur dem passieren, der letztlich den Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Warencharakter der Krankheit in den Mittelpunkt Kollege Dr. Dieter Thomae. rückt und nicht den Menschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sowie bei Abgeordneten der PDS) sehr geehrten Damen und Herren! Vier Gesetzespa- Staatliche Gesundheitspolitik muß eine bedarfsge- kete möchten wir in dieser Wahlperiode durch das rechte, optimale Infrastruktur garantieren und muß in Parlament bringen. diesem Sinne regulierend wirken. Über eine monisti- Erstens. Wir möchten die Thematik des GKV- sche Finanzierung des Krankenhausbereichs entle- Anpassungsgesetzes mit seinen Schwerpunkten wie- digt sich der Staat weiterer gesamtgesellschaftlicher der aufgreifen. Aufgaben zu Lasten der Beitragszahlerinnen und Zweitens. Das Psychotherapeutengesetz ist heute Beitragszahler. noch nicht erwähnt worden. Ich denke, es lohnt sich, Das gilt um so mehr, weil von den Konservativ- daß wir auch dieses Gesetzeswerk wieder neu anpak- Liberalen die Diskussion auf die Lohnzusatzkosten ken, damit es endlich einen Abschluß findet. zugespitzt wird, und da zählen vordringlich die (Beifall bei der F.D.P.) Arbeitgeberinteressen. Sie sind es auch, die — und das haben Sie nicht dementiert, Herr Seehofer — die Drittens. Ein weiterer Schwerpunkt ist das schon Mutterschaftsleistungen aus der gesetzlichen Kran- erwähnte Transplantationsgesetz. Auch hier ist es kenversicherung werfen wollen. höchste Zeit, daß wir in der Bundesrepublik Deutsch- land einen gesetzlichen Rahmen finden. Mutterschaft könnte bald wie in vordemokratischer Zeit wieder zur reinen Privatsache der Frau werden. Viertens. Die dritte Stufe des Gesundheits - Reform- Dem Selbstverschuldungsprinzip folgend dürfte es gesetzes wird ebenfalls ein großer Schwerpunkt sein. nicht mehr lange dauern, bis uns die private Versiche- Es ist notwendig, und wir können es nicht, wie von rungswirtschaft das erste private Empfängnisunfall- seiten der SPD vorgeschlagen wurde, ewig hinaus- versicherungsangebot offeriert. schieben. Ende 1995 endet die Budgetierung, wie wir es alle im Gesetz festgesetzt haben, auch Sie von der Es würde mich schon interessieren, wie sich unsere SPD. Frauenministerin, die die Eigenfinanzierung des Was bedeutet Budgetierung? Wir haben kurzfristig Schwangerschaftsabbruchs so vehement begrüßt, die Kosten gesenkt. Wir haben die Ausgaben im Griff. diesen rational-logischen Argumenten der Arbeitge- Wir haben sogar das Glück, daß wir die Beiträge ber in diesem Fall widersetzen will. Sie sitzt in der senken konnten. Aber es bedeutet auch kontinuierli- Falle ihrer eigenen Mutterschaftsideologie. che Kostendämpfung, so daß auf die Dauer gesehen Im Erlanger Menschenversuch mit einer hirntoten erhebliche Gefahren entstehen und eine gesundheit- schwangeren Frau sind die Grenzen des Ethischen liche Benachteiligung für die Patienten eintreten und Moralischen von der Medizin überschritten wor- könnte. Weil wir die Herausforderungen und die den. Wer das uneingeschränkte Selbstbestimmungs- demographische Entwicklung sehen, aber auch weil recht der Frau nicht respektiert, kann die Frau vor der wir die Zunahme der Zahl von chronisch-degenerati- Verdinglichung ihrer Gebärfähigkeit und ihrer Redu- ven Krankheiten, den medizinisch-technischen und zierung auf ein fötales Umfeld nicht schützen. den medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritt se- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- hen, müssen wir jetzt anfangen, damit wir ab 1996 die SES 90/DIE GRÜNEN) Kosten im Griff haben.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Thomae, darf ich Sie unterbrechen. Ich möchte die Sie müssen zum Abschluß kommen. Abgeordneten im Bereich der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN bitten, ihre Gratulationscour nach Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie draußen zu verlegen. haben das Organtransplantationsgesetz angespro- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der chen. Ich hätte gerne noch in diesem Zusammenhang CDU/CSU) über die Gen- und Reproduktionstechnologie gespro- chen. Was unbedingt erforderlich ist, ist eine breite Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Hier, meine Damen und gesellschaftliche Auseinandersetzung, eine Ethik- Herren, müssen wir die strukturellen Veränderungen und Wertediskussion, damit die Entwicklung in die- sehr sorgfältig auf den Weg bringen. sen Bereichen nicht den Pharmakonzernen und den Es ist gut, daß der Sachverständigenrat das Gutach- Experten überlassen bleibt. ten im Frühjahr auf den Tisch legt. Wir werden (Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des unterschiedliche Vorschläge bekommen. Wir alle wis- Abg. Otto Schily [SPD]) sen, auch Sie, daß dieses Leistungspaket auf Dauer Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 253

Dr. Dieter Thomae nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn wir die Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Ich achte jeden Kolle- Beitragssätze stabil halten wollen. Wir müssen dar- gen, der aus dem Sachgebiet kommt. Bitte schön, Herr über diskutieren, welche Leistungen in diesem Kirschner. System auf Dauer finanziert werden oder nicht. (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das ist der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön, Sie falsche Ansatz!) haben das Wort. — Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich aufregen. Wenn wir in der Wahlkampfphase mit Ihrer soge- Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Dr. Thomae, da nannten Schattenministerin, Frau Schüller, diskutiert Sie die versicherungsfremden Leistungen bemän- haben, lag sie mit uns immer auf einer Linie. geln, frage ich Sie: Haben Sie eigentlich der zusätzli- (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Gisela Babel chen Belastung der gesetzlichen Krankenversiche- [F.D.P.]: So ist es!) rung durch das Mutterschaftsgeld zugestimmt, ja oder nein? Ich weiß gar nicht, welche Politik von seiten der SPD und ihrer Schattenministerin vertreten wird, die Sie immer als die Frau herausgestellt haben, die im Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Kirschner, Sie Gesundheitssektor großen Erfolg haben würde. Sie wissen ganz genau, daß ich zugestimmt habe. Sie sagt selber: Die Leistungen können auf Dauer nicht wissen auch, daß es in dieser Phase aus ökonomischen mehr finanziert werden. Also bitte, was wollen Sie? Gründen keine andere Möglichkeit gibt. Aber ich Sagen Sie einmal konkret, wie Ihre Vorhaben ausse- gehe davon aus, daß ab 1996, wenn die Wiederverei- hen. nigung wirklich Erfolg — auch ökonomischen Erfolg — hat, die Steuereinnahmen so fließen, daß wir Meine Damen und Herren, wir wollen das medizi- eine Chance haben, die versicherungsfremden Lei- nisch Notwendige sichern. Da gibt es keine Diskus- stungen herauszunehmen. Dies möchte ich massiv sion. Wir wollen aber die Diskussion über die Frage unterstützen. eröffnen, welche Leistungen auf Dauer nicht unbe- (Beifall bei der F.D.P.) dingt notwendig sind. Meine Damen und Herren, die Redezeit läuft davon. (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das ist genau Nur noch einige Stichworte, die in dieser Koalitions- der Punkt! — Joseph Fischer [Frankfurt] vereinbarung für mich sehr wichtig sind. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da schmerzt Erstens: der Wettbewerb zwischen den Kassen. Der der Backenzahn, mein Lieber!) Wettbewerb kann sich nicht nur auf den Bereich der Ich möchte eines betonen: Wir haben in einem Werbung beziehen. Der Wettbewerb muß vielmehr großen Umfange versicherungsfremde Leistungen im auch bei der Vertragsgestaltung erfolgen. System. Ich möchte auch darüber diskutieren; denn (Beifall bei der F.D.P.) sie gehören nicht in die Krankenversicherung. Sie gehören in die Steuerpolitik. Ich denke, da sind wir Es kann nicht so sein, wie es die SPD will: einheitliche, uns einig. Laßt uns also schrittweise überlegen, wel- gemeinsame Vertragsgestaltung. Das ist kein Wettbe- che versicherungsfremden Leistungen aus dem Versi- werb. Die Kassen müssen die Chance haben, indivi- cherungssystem herausgenommen werden sollten, duell nach Kassenart Verträge abzuschließen. D ann damit die Lohnzusatzkosten gesenkt werden und werden wir nämlich Beitragssenkungen ermöglichen. der Standort Bundesrepublik Deutschland gesichert Wir werden die daraus entstehenden Möglichkeiten wird! weitergeben können. Dann haben Sie die Punkte Eigenverantwortung (Beifall bei der F.D.P.) und Eigenvorsorge in der Koalitionsvereinbarung kri- Hier sollten Sie sich anschließen, damit wir Wettbe- tisiert. werb zwischen Krankenkassen erfahren und realisie- (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer ren. Zwischenfrage) Ein weiterer Punkt: Wir haben uns dafür eingesetzt — und ich bin froh, daß wir das in der Koalitions- vereinbarung so deutlich gesagt haben —, daß wir die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, traditionellen Arzneimittel weiter so behandeln wer- gestatten Sie eine Zwischenfrage? den, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Da gibt es kein Abweichen. Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Nein. Ihnen beantworte ich keine Frage. Ich habe Sie heute den ganzen Tag Ein entscheidender Punkt, gegen den Sie immer waren und zu dem Sie jetzt auf einmal reumütig beobachtet. Bei jedem Sachgebiet meinen Sie, Sie zurückkommen, ist: Sie wollen auf einmal die könnten mitsprechen. Ich muß sagen, es fällt mir sehr for- schwer, dies zu verstehen. schende Industrie nennenswert unterstützen, damit sie nicht abwandert. Meine Damen und Herren, vor (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Wahl haben Sie Gespräche mit diesen Industrie- zweigen geführt und nennenswerte Zusagen ge- macht: Wenn Sie die Regierung übernehmen, wollen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Sie sie massiv unterstützen. Dies haben wir nun in der gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koalitionsvereinbarung festgelegt, und wir werden Kirschner? diesen Weg gehen. 254 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Dr. Dieter Thomae Meine Damen und Herren, die Grundlagen für die dieses Gremiums hauptsächlich darauf gerichtet, wie nächsten vier Jahre sind gut. Wir müssen jetzt schon man im nächsten Reformschritt die Krankheitskosten mit der Arbeit beginnen, so wie es eben von Minister noch stärker als bisher den Versicherten übertragen Seehofer gesagt wurde. Wir müssen die Zeit nutzen, kann. konkrete Vorschläge zu erarbeiten, um dann in Ruhe Schließlich war es dieser Sachverständigenrat, der das Gesetzeswerk anzugehen. Wir Liberalen sind in sehr detaillierter Form die verschiedensten Modelle dazu bereit. von Regel- und Wahlleistungen erarbeitete. Regel- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und Wahlleistungen bedeuten aber die Aufgabe des sozialen Charakters der gesetzlichen Krankenversi- cherungen und die Rückkehr zur Zweiklassenmedi- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die zin: Für mehr Geld gibt es bessere, für weniger Geld Abgeordnete Frau Dr. Fuchs. schlechtere Medizin. Das ist die Realität, und Schön- reden ändert daran nichts. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der PDS) Damen und Herren! Zweifellos ist das Gesundheits- Demgegenüber entspricht es dem grundlegenden wesen in unserem Land dringend reformbedürftig. Gebot der Sozialstaatlichkeit, auch weiterhin zu Insofern wäre die nun auch in der Koalitionsvereinba- gewährleisten, daß jeder Mensch das gleiche Recht rung enthaltene Absicht, sich weiterhin der Reform auf gesundheitliche Fürsorge und den Schutz seiner dieses Systems zu widmen, nur allzu verständlich. Gesundheit in Anspruch nehmen kann. Dies als wich- Zwei Aussagen versprechen allerdings wiederum tigen Ausdruck sozialer Gerechtigkeit, Chancen- nichts Gutes: erstens die Ankündigung, daß man die gleichheit und Mitmenschlichkeit in unserer Gesell- bisherigen Reformen fortsetzen, also offensichtlich an schaft zu erhalten sollte das Ziel einer wirklichen ihrem Geist und ihrer Zielrichtung festhalten will, und Reform sein. zweitens die Tatsache, daß man das Reformkonzept Zweifellos ist es richtig, daß die finanziellen Auf- ausdrücklich auf der Grundlage des Endberichtes des wendungen für das Gesundheitswesen künftig weiter Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion erar- wachsen werden. Andererseits sind aber die gegen- beiten will. wärtigen Kosten in nicht unbeträchtlichem Maße Nimmt man hinzu, daß — so der Text der Koalitions- durch zahlreiche Struktur- und Steuerungsfehler des vereinbarung — Eigenverantwortung und Eigenvor- bestehenden Systems geprägt. sorge weiter verstärkt werden sollen, dann wird Meine Damen, meine Herren, notwendig wäre eine vollends deutlich, wohin die Reise auch nach dem tiefgreifende Strukturreform im Gesundheitswesen, Willen dieser neuen Regierung gehen soll. Bekannt welche zuerst die vorhandenen Rationalisierungsre- ist, daß sich unter dem Begriff Eigenverantwortung serven erschließt. immer wieder die Absicht verbirgt, steigende finan- zielle Lasten allein auf die Versicherten und Patienten abzuwälzen. Leider wird auf diese Weise die anson- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, sten uneingeschränkt zu begrüßende Aussage, daß darf ich Sie unterbrechen. — Herr Kollege Schlauch, die gesetzliche Krankenversicherung dem Grundsatz wenn Sie sich zur Ruhe betten wollen, gibt es außer- der Solidarität verpflichtet bleiben soll, beträchtlich halb des Hauses angenehmere Möglichkeiten. relativiert. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Das bisherige Herangehen an die Reform im CDU/CSU und der F.D.P. — Joseph Fischer Gesundheitswesen hat die bestehenden Probleme [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: keineswegs gelöst. Das Ziel bestand einseitig in einer Herr Präsident, das hat mit Ruhe nichts zu finanziellen Entlastung der gesetzlichen Kranken- tun, sondern mit Konzentration!) versicherung. Erreicht wurde es bisher vor allem Bitte fahren Sie fort. durch die strikte Budgetierung, durch die deutlich erhöhte Zuzahlung im Rahmen der Selbstbeteiligung der Kranken und auch durch eine verstärkte bürokra- Dr. Ruth Fuchs (PDS): Ich erwähnte, daß eine tische Reglementierung medizinischer Arbeit oder Strukturreform im Gesundheitswesen notwendig sei, durch Zulassungsbeschränkungen für ärztliche Nie- welche zuerst die vorhandenen Rationalisierungsre - derlassungen. serven erschließt, ohne dabei eine qualitativ hochste- Im Ergebnis dessen hat sich die Situation nicht nur hende Versorgung zu gefährden. Hier, Herr Minister für die Patienten, sondern auch für die Beschäftigten Seehofer, gebe ich Ihnen recht: Das deutsche Gesund- im Gesundheitswesen verschlechtert. Auch prägen heitswesen hat wirklich eine hohe Qualität. Es wäre verstärkt innerärztliche Verteilungskämpfe und dra- gut, wenn diese qualitativ hochstehende medizinische stisch verminderte berufliche Perspektiven vor allem Betreuung für alle Menschen erhalten bleiben der jungen Ärztegeneration das Bild. In Ostdeutsch- könnte. land sehen sich nicht wenige der neu niedergelasse- Zuzahlung und Selbstbeteilung, Regel- und Wahl- nen Ärzte von akuter Existenzgefährdung bedroht. leistungen oder Kostenerstattungssysteme erwiesen Nun soll der Endbericht des Sachverständigenrates sich nicht als Steuerungsinstrumente und sind so für zu einem wichtigen Ausgangspunkt weiterer Verän- die PDS inakzeptabel. Sie sind nicht nur unwirksam, derungen werden. Vor nicht allzu langer Zeit war sondern darüber hinaus vor allem unsozial und für die Gelegenheit, den Zwischenbericht zur Kenntnis zu medizinische Qualität der Versorgung sogar kontra- nehmen. Ganz offensichtlich sind die Überlegungen produktiv. Anders ausgedrückt: Reformen ja, aber Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 255

Dr. Ruth Fuchs nicht nach dem Rezept, das Koalition und Regierung Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, bisher erkennen lassen. Sie müssen eine Frage stellen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der PDS) Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ CSU): Ich habe von Ihrer und von anderer Seite Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der gehört, Sie hätten nichts von dem gewußt, was von Abgeordnete Lohmann (Lüdenscheid). den Medizinern mit Ihnen gemacht worden ist. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Ich habe zugegeben, DIE GRÜNEN]: Sie sind nicht so empfindlich, daß ich es gewußt habe!) wenn wir uns ein bißchen fläzen? Wir versi- chern Ihnen: Wir sind völlig nüchtern!) — Sie haben es doch gewußt. Dann sind Sie das Risiko selbst eingegangen. Dann können Sie später auch nicht auf Staatskosten Gesundheitsleistungen bean- (Lüdenscheid) (CDU/ Wolfgang Friedrich Lohmann spruchen. CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer versichert, daß auch er sich Die Schwerpunkte dessen, was wir heute angespro- zur Ruhe legen will. Das kann er meinetwegen tun. Es chen haben, nenne ich stichwortartig ohne Anspruch hängt vielleicht damit zusammen, daß einige der auf Vollständigkeit. Wir wollen die Fortführung des zuletzt gehörten Reden außerordentlich langweilig Reformprozesses im Gesundheitswesen. Wir wollen waren. vor allen Dingen den weiteren Ausbau der Arzneimit- telsicherheit einschließlich abschließender Regelun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen der Entschädigung für HIV-infizierte Bluter. Ich will versuchen, das nicht zu tun. Frau Kollegin Knoche vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ NEN, Sie haben u. a. davon gesprochen, das Geschäft DIE GRÜNEN]: Jetzt geht's los!) mit Blut und ähnlichem sei nicht ausreichend aufge- Frau Dr. Fuchs, Sie haben soeben u. a. von einer klärt worden. Nun waren Sie in der vorigen Legisla- Zweiklassenmedizin gesprochen: Für mehr Geld gebe turperiode noch nicht in diesem Hause. Aber wenn Sie es mehr Gesundheit. Eigentlich hätten Sie dann auch von Nichtaufklärung sprechen, sagen sollen, daß in dem System, in dem Sie große (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sportliche Leistungen erbracht haben, für weniger NEN]: Das hat sie nicht gesagt!) Geld auf Staatskosten medizinische Leistungen gege- ben wurden, die alles anderes als gesund gewesen rufe ich viele andere hier zum Zeugen an, daß sind. stunden- und tagelang aufgeklärt worden ist. Wenn Sie sich die Mühe machen würden, den Schlußbericht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — des Untersuchungsausschusses zu lesen, dann könn- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten Sie zu einer anderen Einschätzung kommen. DIE GRÜNEN]: Das kommt bei uns aber auch vor! Doping ist kein Ostproblem! Das gibt es Im übrigen haben wir die von Ihnen geforderte im Westen auch!) breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Ih- nen hier im Hause immer nur gelegentlich führen können. Denn in den Ausschüssen waren Ihre Gruppe Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der nie vertreten. Abgeordneten Fuchs? (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es! — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ - DIE GRÜNEN]: Sie wollten es doch spannen CSU): Ja, bitte. der machen!) In dem Untersuchungsausschuß, in dem ich das zwei- Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Kollege, ich habe felhafte Vergnügen hatte, der Obmann meiner Frak- Hochleistungssport betrieben. Ich habe im Sportaus- tion zu sein, ist Frau Wollenberger nur ein einziges schuß und überall, seitdem ich hier im Hause bin, Mal erschienen, hatte also offensichtlich kein weiteres gesagt, daß Hochleistungssport nicht in erster Linie Interesse an einer, wie es von Ihnen heißt, breiten die Gesundheit zum Ziel hat, sondern Höchstleistung. gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Wir sind daher verpflichtet, eine medizinische Betreu- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ung zu schaffen, die die Hochleistungssportler mit den DIE GRÜNEN]: Die wird Ihnen nachts geringsten medizinischen Schäden aus dieser lei- erscheinen, wenn Sie nicht achtgeben! Sie stungssportlichen Tätigkeit herauskommen läßt. kriegen sogar nachts eine Erscheinung! Da (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Aber es gab einige wird Ihnen ein pausbäckiger Engel erschei medizinische Schäden!) nen, mal Kohl, mal Fischer! Können Sie sich dann aussuchen!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, — Da ist mir Kohl lieber. Sie müssen eine Frage stellen.

Dr. Ruth Fuchs (PDS): Ich weiß, was Sie gemeint Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, haben. Aber dazu habe ich auch eine Position. Hier ich muß Sie unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwi- brauchen wir nicht über den Osten zu reden. schenfrage der Abgeordneten Knoche? 256 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ und Kompromißunfähigkeit, daß die SPD innerhalb CSU): Ja, natürlich. Wenn ich sie anspreche, muß ich dieses Verhandlungsprozesses Ihren versuchten Ein- das zulassen. stieg zur Erhöhung der Selbstbeteiligung kompromiß- los abgelehnt hat? Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein! — Weitere Werter Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Zurufe von der F.D.P.) Meinung, daß vorausgesetzt werden kann, daß sich eine Fraktionssprecherin, die sich zum erstenmal im Deutschen Bundestag zu einer sehr speziellen Thema- tik äußert, hinreichend fachkundig gemacht hat, um Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ die Aussagen, die sie trifft, treffen zu können? CSU): Nein. Wenn es überhaupt um den Einstieg in die Selbstbeteiligung geht: Das hat die SPD erstmalig (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So schnell geht das in Lahnstein getan. Bis dato hatte sie es immer st rikt in der Regel nicht!) abgelehnt. Vielleicht sind Ihnen der ganze Umstand und die (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) Tatsachen des deutsch-deutschen Stasi-geleiteten Bluthandels ausführlicher bekannt. Dann könnten Sie Wir haben das nicht für unlogisch gehalten und ja die Frage beantworten, warum sich die Bundesre- deshalb gemeint, man könnte auch in anderen Berei- gierung dazu nicht äußert. chen über diese Dinge sprechen, Herr Dreßler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Rudolf Dreßler [SPD]: Was denn nun?) sowie bei Abgeordneten der SPD) — Deswegen waren Sie ja so unbeweglich. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ F.D.P.) CSU): Um die Frage zu beantworten: Natürlich dürfte man voraussetzen, daß sich eine Sprecherin, die Das wollten Sie doch von mir hören. erstmalig hier redet, ausführlich sachkundig gemacht (Rudolf Dreßler [SPD]: Jetzt habe ich das hat. Ich sage: Sie hätte es machen sollen. Darüber, ob verstanden!) sie es gemacht hat, bin ich mir aber doch sehr im — Das ist die Hauptsache. Es ist für uns Westfalen Zweifel. Im übrigen: Von Stasi-geleiteten Verkäufen — Sie sind in Wuppertal an der Grenze — einfacher, usw. steht im Schlußbericht des Untersuchungsaus- wenn man Klartext redet. schusses nichts. Ich möchte Ihnen von der CDU/CSU-Fraktion aus (Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch einmal versichern, daß wir bereit und willens NEN]: Eben! Das ist es ja, was ich anspreche! sind, uns hier vor allen Dingen ergebnisorientiert — Gegenruf des Abg. [CDU/ sachlich und politisch auseinanderzusetzen. Es hat CSU]: Frau Wollenberger hätte ja kommen keinen Sinn, wie es vorhin Herr Kirschner getan hat, können!) den Menschen beispielsweise mit Reformüberlegun- Meine Damen und Herren, ich fahre dann fort: Die gen von vornherein Angst zu machen und sie zu bereits vor den Bundestagswahlen geführten Beratun- verunsichern. So geschieht es aber laufend. Sie bauen gen — ich nehme beispielhaft die Beratungen zum Pappkameraden auf, arbeiten mit Unterstellungen, Gesetz zur Anpassung krankenversicherungsrechtli- und wenn der Pappkamerad nach einer gewissen Zeit cher Vorschriften und zum Psychotherapeutengesetz, mühsam entstanden ist, schlagen Sie auf ihn ein und das heute schon einmal genannt worden ist, heraus — wissen zum Schluß überhaupt nicht mehr, warum Sie haben deutlich belegt, daß im Grunde Ihre Unbeweg- ihn aufgebaut haben. lichkeit, ja Kompromißunfähigkeit, Herr Kirschner und Herr Dreßler, das Ganze im Vermittlungsaus- Wir sollten zusammen zu vernünftigen Lösungen schuß haben scheitern lassen. Das können wir uns kommen. Das hat sich die Koalition fest vorgenom- nicht leisten; denn die Menschen erwarten von uns, men. Sie können sich unserer Auffassung nach nicht daß wir für diese Bereiche Lösungen finden und den ausschließen. Deswegen fordern wir Sie auf, Konzepte Bundesrat und auch den Vermittlungsausschuß nicht einzubringen und mitzuarbeiten. als Blockadeinstrument mißbrauchen. (Rudolf Dreßler [SPD]: Wir? Uns fordern Sie auf? Das ist doch wohl ein Treppenwitz!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Meine Damen und Herren, die Orientierungsdaten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten für diesen Reformdialog, den wir Ihnen anbieten, Dreßler? haben wir mit der Koalitionsvereinbarung geschaffen. Diesen Rahmen gilt es nun durch die Arbeit zu konkretisieren. Ich hoffe also, daß wir in diesem Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/ Deutschen Bundestag zu gemeinsamen Ergebnissen CSU): Ich bin wirklich dankbar für die Zwischenfra- kommen werden. Da helfen, Herr Kirschner, die gen, da dies zeigt, daß Sie jetzt zuhören. Parolen, die Sie vorhin ausgegeben haben, überhaupt nicht weiter. Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Lohmann, mei- Mit der CDU/CSU, mit der Koalition wird es einen nen Sie mit den Begriffen Bewegungsunfähigkeit Abschied von der solidarischen sozialen Krankenver- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Herr Dreßler, Sie sicherung, wie Sie es genannt haben, auf keinen Fall sind sehr beweglich!) geben. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 257

Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) Wer reformunfähig ist und sich uns auch als unfähig Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegen keine zeigt, Positives für die Zukunft zu leisten, dem ist weiteren Wortmeldungen vor. Wir sind damit am natürlich nicht zu helfen. Die Menschen werden Schluß unserer heutigen Sitzung. daraus ihre Schlüsse ziehen. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 25. November 1994, 9.00 Uhr ein. Schönen Dank. Die Sitzung ist geschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Schluß der Sitzung: 18.25 Uhr)

Berichtigung

Plenarprotokoll 13/5, Seite 149B, letzter Absatz: In der zweiten Zeile ist statt „ Verführer' " „Verschwö- rer" zu lesen. 258e Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 mich gegen die Zusammenlegung der Ausschüsse Frauen und Jugend einerseits und Familie und Senio- Liste der entschuldigten Abgeordneten ren andererseits aussprechen möchte.

entschuldigt bis Abgeordnete(r) In der Praxis der Bundesrepublik Deutschland ist einschließlich die Gleichstellung von Frau und Mann trotz der Beucher, Friedhelm SPD 24.11.94 Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes Julius im Grundgesetz noch immer nicht verwirklicht. Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24.11.94 Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 24.11.94 Nach wie vor bestehen hinsichtlich der sozialen 90/DIE Stellung, in bezug auf die soziale Sicherung und GRÜNEN hinsichtlich der Chancen von Frauen und Männern im Beruf, im politischen Leben, in Bildung und Ausbil- Graf (Friesoythe), Günter SPD 24.11.94 dung und in der Familie sowie hinsichtlich der Mög- Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 24.11.94 lichkeit, zu selbstbestimmten Lebensentwürfen zu Carl-Detlev kommen und diese auch umzusetzen, gravierende Hasenfratz, Klaus SPD 24.11.94 Ungleichheiten. Dr. Höll, Barbara PDS 24.11.94 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24.11.94 Eine wachsende Frauenerwerbslosigkeit in Ost und Labsch, Werner SPD 24.11.94 West, die deutliche Zunahme von Gewalttaten gegen Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 24.11.94 Frauen und nicht zuletzt die Negierung des Rechts Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 24.11.94 auf selbstbestimmte Schwangerschaft durch das Erich Bundesverfassungsgericht zeigen sogar einen deut- Meckel, Markus SPD 24.11.94 lichen Trend zur Verschlechterung der Lage der Neumann (Gotha), SPD 24.11.94 Frauen. Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 24.11.94 Um die Selbstbestimmung und Gleichstellung der 90/DIE Frauen gegenüber den gefestigten patriarchalen GRÜNEN Strukturen unserer Gesellschaft besser durchzuset- Saibold, Hannelore BÜNDNIS 24.11.94 zen, ist auf Bundesebene eine Politik erforderlich, die 90/DIE die Frage der Gleichstellung oder besser: Chancen- GRÜNEN gleichheit von Frau und Mann in all en Politikfel- Schumann, Ilse SPD 24.11.94 dern behandelt. Eine solche Politik ist jedoch nur Vergin, Siegfried SPD 24.11.94 umsetzbar, wenn es in der Regierung und natürlich Volmer, Ludger BÜNDNIS 24.11.94 auch im Parlament eine strukturelle Grundlage dafür 90/DIE gibt. GRÜNEN Daher fordert die PDS hier an dieser Stelle die Vosen, Josef SPD 24.11.94 Einsetzung eines Ausschusses des Bundestages für Wallow, Hans SPD 24.11.94 die Gleichstellung der Geschlechter. Dr. Wieczorek, Norbert SPD 24.11.94 Wieczorek (Duisburg), SPD 24.11.94 Dieser Ausschuß sollte, wie bereits angedeutet, im Helmut Querschnitt zu allen anderen Ausschüssen des Bun- Dr. Zöpel, Christoph SPD 24.11.94 destages tätig werden und deshalb auch in die Arbeit aller anderen Ausschüsse einbezogen werden und in diesen Mitspracherecht haben. Anlage 2 Die Einordnung der Gleichstellungsproblematik in Erklärung nach § 31 GO die Fragen, die die Situation von Kindern, Jugend- der Abgeordneten Christina Schenk (PDS) lichen und Senioren betreffen, wird weder ihrer Kom- zur Abstimmung über den Antrag plexität noch ihrem Umfang gerecht. Ich werde daher auf Drucksache 13/35: Einsetzung von Ausschüssen die vorgeschlagene Zusammenlegung der Aus- (Zusatztagesordnungspunkt 2) schüsse ablehnen, und ich verbinde das mit der Bitte um Zustimmung zu unserem Antrag auf Einrichtung Abg. Christina Schenk (PDS): Ich werde gegen den eines Ausschusses für Gleichstellungsfragen auf genannten Antrag stimmen, insbesondere weil ich Drucksache 13/33.