Zürcher Journalistenpreis 12

Gion Mathias Cavelty «Hö» – das letzte Opernrätsel

Daniel Ammann Fall Holenweger

Julia Hofer Unter der Haube

Joel Bedetti Der Baron ist mit seinem Latein am Ende

Journalistenpreis 2012 1 Der Zürcher Grussadresse des Präsidenten Journalisten- preis

Es gibt nicht wenige Medienpreise in der Preisträger 2012 Der Zürcher Journalistenpreis ist der wichtigste Weiter im Stiftungsrat Schweiz. Kaum einer aber hat eine so lange Medienpreis der Schweiz. Daran ändert auch Tradition wie der Zürcher Journalistenpreis, Kategorie Zeitung die Tatsache nichts, dass es mittlerweile eine Dr. Esther Girsberger der vom Zürcher Presseverein ( ZPV ) ins Leben Vielzahl ähnlicher, wenn auch regional anders freie Journalistin/Publizistin gerufen und 1981 erstmals verliehen worden Gion Mathias Cavelty 6 gelagerter Preise gibt. In Zürich sind die wich‑ ist. Trägerin ist heute die Stiftung Zürcher Jour‑ tigsten und grössten Publikationen des Landes Kaspar Loeb nalistenpreis. Ihr Zweck ist es, über die Aus‑ Kategorie Zeitschrift beheimatet. Und der ZJP hat die längste Tradi‑ Kommunikationsberater schreibung und Vergabe eines Preises einen Daniel Ammann tion, er wird heuer zum 32. Mal vergeben. konkreten Beitrag zur Förderung der journa- David Strohm listischen Qualität zu leisten. Die Prämierung Fall Holenweger 12 Diese Tradition allerdings verpflichtet. Sie darf NZZ am Sonntag von herausragenden Arbeiten soll Journalistin‑ nicht zu einer Erstarrung führen, indem sich nen und Journalisten ermutigen, ihre unter Kategorie Zeitschrift Stiftungsrat und Jury der Sache in gleicher Wei‑ immer anspruchsvolleren Bedingungen zu se annehmen wie damals, als man die Drucklet‑ Geschäftsführung leistende Aufgabe inhaltlich wie auch stilistisch Julia Hofer tern noch in Blei gegossen hat. Für den Preis ab auf hohem Niveau zu meistern und journalis- Unter der Haube 24 dem Jahre 2013 haben wir deshalb einige Ände‑ Monika Menne tische Werke zu schaffen, die über den Tag hin‑ rungen eingeführt : Neu sollen auch Online- aus in Erinnerung bleiben. Texte die Möglichkeit einer Auszeichnung erhal‑ Kategorie Nachwuchs Die Arbeiten, die in Produkten von Medien‑ ten. Nachdem andere Medienpreise mit dieser Jury verlagen der Kantone Zürich und Schaffhausen Joel Bedetti verhältnismässig neuen Publikationsform nega‑ publiziert worden sind oder die von Autorinnen Der Baron ist tive Erfahrungen gemacht haben, sind wir ge‑ Fredy Gsteiger (Präsident) und Autoren stammen, die hauptsächlich in spannt, wie sich die Zürcher Online-Journalis‑ Schweizer Radio DRS diesen Kantonen tätig sind, werden von einer mit seinem Latein am Ende 30 tinnen und -Journalisten diesbezüglich schlagen unabhängigen, sich aus Journalisten und werden. Ferner werden die Preiskategorien Susan Boos Publizisten zusammensetzenden fünfköpfigen ( Zeitung, Zeitschrift, Nachwuchs ) abgeschafft. WOZ Die Wochenzeitung Jury begutachtet. Jährlich gehen weit über Es können maximal drei Preise sowie ein Preis 100 Arbeiten ein, die in einem mehrstufigen für das Gesamtwerk gesprochen werden. Damit Marco Meier Verfahren ausgewertet werden. wird die Flexibilität der Juryarbeit erhöht und Publizist und Philosoph Die Preisgelder stammen von einer ganzen die Auswahl der Besten wird nicht durch Kate‑ Reihe von Sponsoren. Bewusst verzichtet die gorie-Vorgaben eingeschränkt. Margrit Sprecher Stiftung auf einen Hauptsponsor, um die Publizistin Unabhängigkeit des Journalistenpreises auch Auch in diesem Jahr ist der Jury die Auswahl in dieser Hinsicht zu gewährleisten. Einen nicht leicht gefallen. Es wurden sehr viele und Alain Zucker namhaften Beitrag erhält die Stiftung jedes Jahr viele sehr gute Arbeiten eingereicht. Das allge‑ Tages-Anzeiger aus dem Erlös des Schweizer Medienballs & meine Gejammer über die schwindende journa‑ Zürcher Presseballs. listische Qualität können weder Jury noch Stif‑ tungsrat nachvollziehen. Nach wie vor wird in Zürich und wird in der Schweiz hervorragender Journalismus gemacht. Wenn Sie es nicht glau‑ ben, lesen Sie diese Broschüre !

Andrea Masüger CEO Südostschweiz Medien Präsident der Stiftung Zürcher Journalistenpreis

2 Journalistenpreis 2012 Journalistenpreis 2012 3 Die Jury Fredy Gsteiger Susan Boos Marco Meier Margrit Sprecher Alain Zucker (Präsident)

Fredy Gsteiger wurde 1962 Susan Boos ist 1963 in Marco Meier, geboren 1953 Margrit Sprecher wurde in Alain Zucker wurde 1967 in Bern geboren. Schon als Zürich geboren und danach im luzernischen Sursee, Chur geboren und studierte in Zürich geboren. Nach 19-jähriger Gymnasiast in St. Gallen aufgewachsen. studierte Philosophie und in München und Wien den Schulen in Zürich liess er sich mit dem Jour‑ Nach der Ausbildung zur Theologie an der Univer‑ Zeitungs- und Theaterwis‑ studierte er Geschichte nalismus ein, der ihn seit‑ Primarlehrerin im Seminar sität Fribourg. Er war von senschaft. Bis 1999 leitete und Volkswirtschaft an der her nicht mehr losliess. Rorschach stieg sie 1984 bei 1980 bis 1984 Redaktor bei sie das Ressort Leben heute Universität Zürich und an Während des Studiums der der « Ostschweizer AZ » in der « Weltwoche » und – bei der « Weltwoche »; seit‑ der Washington Uni‑ Wirtschaftswissenschaften den Journalismus ein und nach einer längeren Stu‑ her arbeitet sie als Reporte‑ versity in St. Louis, USA. in St. Gallen und später der Politikwissenschaft studierte gleichzeitig an der Universität Zürich dienreise durch die USA und Lateinamerika – rin für Zeitschriften im In- und Ausland sowie Danach absolvierte er ein Volontariat beim in Lyon und im kanadischen Québec arbeitete Ethnologie, Politologie und Publizististik. von 1985 bis 1987 Redaktor bei der Zeitschrift als Buchautorin. Zu ihren Werken gehören « Brückenbauer » und schloss berufsbegleitend Gsteiger als Werkstudent für den Berner 1989 wurde sie Redaktorin der « Ostschweizer « Magma ». 1988 bis 1995 war Meier stellvertre‑ unter anderem: « Leben und Sterben im Todes‑ den Journalismus-Diplomkurs am Medienaus‑ « Bund » und für das « St. Galler Tagblatt », in AZ » und wechselte 1991 als Redaktorin zur tender Chefredaktor der Zeitschrift « Du » unter trakt » ( Haffmanns Verlag ) ; « Ungebetene bildungszentrum in Luzern ab. 1996 wechselte dessen Auslandredaktion er später eintrat. Nach « WOZ Die Wochenzeitung » ; seit 2005 ist Boos Dieter Bachmann, danach bis 1998 Direktor Besuche », Reportagen und Porträts ( Suhrkamp er zur « Weltwoche », zuerst als Wirtschaftsre‑ einer Hospitanz bei der deutschen Wochenzei‑ in der Redaktionsleitung. Sie hat verschiedene des Medienausbildungszentrums ( MAZ ) in Verlag ) ; « Sich aus der Flut des Gewöhnlichen daktor, dann als Leiter der Reporter und tung « Die Zeit » wechselte er nach Hamburg. Bücher publiziert, das neuste ist unter dem Titel Luzern. Als Chefredaktor kehrte er zum « Du » herausheben – die Kunst der grossen Reportage » schliesslich als Leiter der Wirtschaftsredaktion. Dort war er zuerst viereinhalb Jahre lang für die « Fukushima lässt grüssen. Die Folgen eines zurück, das er bis Ende 2002 leitete. Von 2003 ( Picus Verlag ) ; « Die Mitte des Volkes – Expe‑ 2003 verliess er die « Weltwoche » und wurde Nahostberichterstattung zuständig, danach Super-GAUs » ( Rotpunktverlag ) im März 2011 bis 2008 war Marco Meier Redaktionsleiter der ditionen in die Welt der SVP » ( Edition Patrick Autor für « Das Magazin » und die « ». ging er als Korrespondent nach Paris. 1997 erschienen. « Sternstunden » beim Schweizer Fernsehen. Frey ) und « Das andere Radio – DRS 2 » ( NZZ Dann Rückkehr zur « Weltwoche » als USA- übernahm Fredy Gsteiger die Chefredaktion Von März 2008 bis Ende 2010 arbeitete Marco Libro ). Korrespondent. Aus den USA berichtete er der « Weltwoche » in Zürich, 2002 wechselte er Meier als Programmleiter von DRS 2 in Basel. Margrit Sprecher erhielt etliche Preise, später für Zeitungen und Zeitschriften aus vom Zeitungs- zum Radiojournalismus und Im Rahmen der Fusion von Radio DRS und darunter den deutschen Kisch-Preis ( 1992 ), dem ganzen deutschsprachigen Raum, unter wurde Produzent des « Echo der Zeit » von Fernsehen SF zur neuen Unternehmung SRF den Zürcher Journalistenpreis für ihr Gesamt‑ anderem als Wirtschaftskolumnist. Schweizer Radio DRS. Seit 2006 kümmert er hat er seine Position verloren. Marco Meier werk ( 2003 ) und den Bündner Literaturpreis Mitte 2008 kehrte er in die Schweiz zurück sich als dessen diplomatischer Korrespondent wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in ( 2008 ). Margrit Sprecher lebt in Zürich und und übernahm im Zuge einer Neuausrichtung um Themen der internationalen Aussen- und Luzern. Graubünden. die Leitung des Hintergrundressorts des Sicherheitspolitik. Gsteiger ist Vorstandsmit‑ « Tages-Anzeigers ». Heute ist Alain Zucker glied des International Press Institute IPI und Blattmacher beim « Tages-Anzeiger ». seit 2005 Präsident der Jury des Zürcher Jour‑ nalistenpreises.

4 Journalistenpreis 2012 Journalistenpreis 2012 5 Preisträger Laudatio

Laudatio für den Artikel «Hö» – das letzte Opernrätsel von Gion Mathias Cavelty erschienen im Tages-Anzeiger, 10. Dezember 2011

Gion Mathias Cavelty

Ich wurde am 4. 4. 1974 in Chur geboren und habe Die Oper hat es nicht leicht in Zeiten eines Jens-Daniel Herzog und Dirigent Ingo Metz‑ bisher sechs Romane publiziert – mein Debüt heftig waltenden Erlebnisproletariats. Selbst ins macher mit. Aber nicht nur sie und die Solisten «Quifezit oder Eine Reise im Geigenkoffer» er- Feuilleton hinein schafft sie es immer spär‑ haben hier ihren Auftritt. Bühnen- und Kos‑ schien 1997 und machte mich zum jüngsten Suhr- licher, darüber hinaus – in journalistische tümbildner, die Dramaturgin, die Korrepetito‑ kamp-Autor aller Zeiten (was meines Wissens im- Gefilde der aktuellen Berichterstattung – schon ren und die Souffleusen sind in diesem Erzähl‑ mer noch Gültigkeit hat); am bekanntesten wurde gar nicht. Beim «Tages-Anzeiger» vom stück prominent mit dabei, und die Chöre; mein Buch «Endlich Nichtleser – die beste 10. Dezember letzten Jahres war für einmal Orchesterprobe, Generalprobe – alles da. Und Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören»; alles anders. Zwei volle Seiten breitete sich im ohne Bühnenarbeiter ginge gar nichts: «Ach‑ vor wenigen Wochen erschien mein erstes Kin- Ressort Zürich in Bild und Text ein Proben‑ tung, Füsse, Füsse!» derbuch «Nemorino und das Bündel des Narren». protokoll zur Premiere der Oper «Palestrina» In diesem Text ereignet sich in zeitgemässer Dann habe ich drei Theaterstücke (u.a. «Das Ver- von Hans Pfitzner aus: «Hö» – das letzte Aufmachung die Wiedergeburt des Opernbe‑ lorene Wort», Uraufführung 1998 im Schauspiel Opernrätsel. richterstatters alter Schule. Und manchmal Frankfurt), ein Hörspiel («Jupiter auf Argos» für Diese Tatsache allein wäre schon eine besondere könnte man lesend meinen, man höre aus alter DRS 1) und diverse Schreckmümpfeli für DRS 1 Erwähnung wert. Dann war hier aber auch Zeit noch einmal jenen hohen Bariton, der «ins geschrieben sowie fünf Jahre lang «Cavelty’s noch ein Autor, von dem man zwar sehr wohl Tenorale schimmerte», die Stimme des Opern‑ Literaturshow» im Moods im Schiffbau moderiert, wusste, dass er über eine gute Feder verfügt, der kenners par excellence: N.O. Scarpi alias Fritz zusammen mit der sprechenden Topfpflanze aber im journalistischen Unterholz der ganz Bondy, der bis in die siebziger Jahre regelmässig Marvin. kommunen Berichterstattung nur noch selten, auf Radio Beromünster seine Operneinführun‑ Journalistisch-satirisch bin ich bis jetzt mit Arti- wenn überhaupt je wieder, schreibend in Er‑ gen sprach. Dieses legendäre Genre leuchtet in keln und regelmässigen Kolumnen unter anderem scheinung trat. Den Werkstattbericht aus dem Caveltys Reportage brillant noch einmal auf in der «» (Kolumne «Cavelty»), Opernhaus Zürich hat der Schriftsteller Gion und findet eine eigenständige Form. der «Weltwoche» (fünf Jahre lang die wöchentli- Mathias Cavelty verfasst. Man war gewarnt, Hier macht hohe Kunst sogar Spass. Dafür che Kolumne «Fernsehkritik der reinen Ver- wusste, dass dieser Schreiber den kapriziösen zeichnet die Jury Gion Mathias Cavelty mit nunft»), der «SonntagsZeitung» (Reisereportagen, Freiflug liebt und sich ab und zu gerne ohne dem Zürcher Journalistenpreis 2012 aus. u.a. «Voodoo in Südtirol»), dem «» Netz und Seil in den narrativen Sphären des Herzliche Gratulation! (Kolumne «Conspiracy Corner») oder dem «» höheren Blödsinns aufhält. (Kolumne «Tatort Cavelty») in Erscheinung getre- Die Warnung funktioniert. Den Text muss man ten. Mein allererster Beitrag für den «Blick» (das lesen. Und einmal eingestiegen, kommt man Marco Meier satirische «Alle singen, nur das Rindsfilet bleibt nicht mehr heraus. Im Rhythmus von Akten stumm») hat dazu geführt, dass der Sänger Piero und Szenen hievt einen Cavelty mit Eleganz, Esteriore im Oktober 2007 vor Wut mit dem Merce- Humor und Präzision mitten ins menschliche des seiner Mutter in die Eingangstür des Ringier- und technische Tohuwabohu dieser giganti‑ Gebäudes gefahren ist. schen Fiktionsmaschinerie, die sich Oper Momentan mühe ich mich damit ab, das Wald- nennt. Im noch so schrillen Schalk der Bericht‑ hornspiel sowie die russische Sprache zu erlernen erstattung geht der Respekt vor diesem drama‑ (beides bislang erfolglos). Sbasiba! turgischen Artefakt nie unter. Man hört beim Meine Homepage: www.nichtleser.com Konzeptionsgespräch zwischen Regisseur

6 Journalistenpreis 2012 Journalistenpreis 2012 7 « Hö » – das letzte Opernrätsel

Tages-Anzeiger 10. Dezember 2011 1. Akt, 1. Szene Am Konzeptionsgespräch verrät Regisseur Klavierauszug von «Palestrina». Der Korrepe‑ jemals die Opernhausbühne zu betreten, «denn 2. Akt, 3. Szene (appassionato con molto bicicletta) Jens-Daniel Herzog, was er aus dem Stoff ma‑ titor spielt am Flügel, Metzmacher dirigiert und darauf sind schon Menschen richtig gestorben, (oscurissimo) Wie entsteht eigentlich eine Oper? Was kritzelt chen will: nämlich ein Schizodrama, das nur im unterbricht, wenn Einsatz oder Tempo nicht zu Tode gestürzt, erschlagen worden, ver‑ der Dirigent da die ganze Zeit? Und was Montag, 7. November 2011: Tag des Probenbe‑ Kopf von Palestrina spielt. Den Kompositions‑ stimmt. Die Stimmen der Kardinäle dröhnen brannt». Don’t f*** with the Phantom of the Die erste TE (technische Einrichtung) ist ein trägt der Sänger unter der Unterhose? Ein ginns von «Palestrina». Auf 10 Uhr ist das soge‑ auftrag bildet er sich nur ein, Kardinal Borro‑ mächtig, wie die von Hirschen, die ihr Revier Opera! grosser Moment: Die über hundert frisch fertig‑ Probenprotokoll. nannte Konzeptionsgespräch angesetzt, und meo ist gewissermassen Palestrinas Über-Ich, verteidigen. «Du bist der Deutsche, du bist Was kritzelt Metzmacher eigentlich dauernd gestellten und aus den hauseigenen Werkstätten nach und nach trudeln alle an der Produktion alle anschliessend auftretenden Kardinäle sind immer ein bisschen viereckig», weist Metzma‑ in seine Partitur? Während der Meister kurz mal angelieferten Kulissenteile werden auf der Von Gion Mathias Cavelty Beteiligten in den Probebühnen des Zürcher Symptome seiner wachsenden Paranoia. «Der cher Kardinal Madruscht an. austreten muss, enthüllt ein verstohlener Blick Opernhausbühne zum ersten Mal zusammen‑ Opernhauses vis-à-vis des Schiffbaus ein: die Traum vom Auftrag der Kunst wird kontinuier‑ Kardinal Morone hat fürchterliche Hals‑ Kryptisches: Auf Seite 126 steht die Notiz «Hö». gebaut. Sänger, Regisseur Jens-Daniel Herzog, Bühnen- lich zum Albtraum.» Und am Schluss soll sich schmerzen. Kardinal Borromeo macht sich Was in Dreiteufelsnamen bedeutet «Hö»? Wir Die riesige Hinterbühne ist ein einziges Ouvertüre und Kostümbildner Mathis Neidhardt, die Palestrina erschiessen, «vielleicht mit einer Pi‑ frühzeitig vom Acker. Kardinallegat Novagerio werden es nie wissen. Reich der Finsternis. Heerscharen von Bühnen‑ (allegro con molto spirito) Korrepetitoren, die Dramaturgin, die Souffleu‑ stole, die er aus seinem Klavier holt». findet, der Raum sei gut geheizt. Metzmachers technikern – allesamt vorschriftsgemäss schwarz se und so weiter. Die Stimmung ist unaufgeregt Hoppla! Von einem Selbstmord steht nun Laune ist prächtig, er tänzelt zur Musik, lächelt gekleidet – hämmern, bohren, fugen schwere Wer ist Hans Pfitzner ? und locker. rein gar nichts im Libretto. Aber so etwas spitzbübisch, schwingt dynamisch einen als 2. Akt, 2. Szene Teile von Palestrinas Bad herum und rufen dazu Um 9.52 Uhr hat Dirigent Ingo Metzmacher kommt natürlich immer gut. Taktstöckchen fungierenden Bleistift. Fast ein (sotto la sottana) permanent «Achtung, Füsse, Füsse!». A) Der Erfinder von Viagra (soeben von umjubelten Engagements in Tokio bisschen undeutsch-sonnyboyesk. (Seinen rich‑ Die Bühnenarbeiter haben gewaltige Mus‑ B) Ein deutscher Komponist der Spät- resp. und Moskau zurückgekehrt) seinen Auftritt. tigen Taktstock hat er übrigens bei Musik Hug Die Proben schreiten flott voran: Mal beschwert keln und einen Hang zu Furcht einflössenden Postromantik (1869 – 1949) Und zwar radelt er auf seinem Velo an. Ohne 1. Akt, 3. Szene gekauft, von der Form her sieht er genau so aus sich Kardinal Madruscht, dass er wegen eines Tätowierungen. Sie sehen nie das Licht der Helm zu tragen. Ganz schön Rock ’n’ Roll! (tedesco-quadratico) wie der Zauberstab von Bellatrix Lestrange aus einzigen Satzes («Ja, eine Messe wars») dauernd Sonne, nur am Weihnachtsabend dürfen sie Richtig ist Antwort B – der Pharmakonzern, Manch einem 105-jährigen Premierenabon‑ den Harry-Potter-Filmen.) von Luzern nach Zürich anreisen muss, mal kurz ins Freie. Sie essen, was sie mit blossen der Viagra auf den Markt gebracht hat, heisst nenten würde der Herzschlag für mindestens Zum Abschluss des Konzeptionsgesprächs prä‑ kommt ein Choreograph vorbei und studiert Händen fangen können. Pfizer, benannt nach dem Chemiker Karl Pfizer sechzehn Takte aussetzen, wenn er das sähe. sentiert Bühnenbildner Mathis Neidhardt das eine Massenszene mit Statisten ein, mal ist sich (1824–1906). Welch ein fulminanter Auftakt zum ersten Akt! puppenstubengrosse Drehbühnenmodell. Es 2. Akt, 1. Szene der Patriarch von Assyrien nicht sicher, ob es Bravo, maestro! stellt Palestrinas Wohnung dar. Ein ganz kleiner (armonico senza arpione da balena) «wider den Stachel löcken» oder «wider den Sta‑ 3. Akt, 1. Szene An dieser Stelle mag sich der eine oder andere Flügel steht in der Stube, ein winziges Polster‑ chel löken» heisst, mal wird eine Bühnendre‑ (senza colpo di piatti) Leser – von plötzlichem akuten Desinteresse grüppchen, ein Fernseherchen (die Handlung Schwer vorzustellen, dass ein Opernregisseur hung geprobt, mal ein eindeutiges Scherzchen übermannt – abwenden. Das wäre jedoch jam‑ 1. Akt, 2. Szene wurde in die Mitte des 20. Jahrhunderts ver‑ zum Beispiel einem Pavarotti jemals eine andere mit einem Chorknaben gemacht. OA1 (= Orchester Alleine 1) steht für den merschade. Denn Hans Pfitzners Oper «Pale‑ (assai teorico con molto schizodramma) legt), und wenn man das Ganze dreht, kommt Vorgabe gemacht hätte als «Geh auf die Bühne, Was trägt der Papst unter der Soutane? 17. November im Produktionsplan, will heissen: strina», die heute im Zürcher Opernhaus in Palestrinas Küche zum Vorschein, sein Bad und bleib in der Mitte stehen, zieh die Wampe ein Diese Frage wird bei einer Kostümanprobe für Die erste Probe mit dem 80-köpfigen Orchester einer Neuinszenierung unter Stardirigent Ingo Die Handlung von «Palestrina» kann einem sein WC. Das liebevoll gestaltete Kloschüssel‑ bisschen ein und sing». Gross deshalb die Über‑ Seine Heiligkeit Pius IV. endlich restlos geklärt. steht an, ohne Sänger. Im gewaltigen Probe‑ Metzmacher Premiere feiert, ist ein absolutes rasch peinlich erscheinen. Pfitzner hat das chen nimmt sich besonders reizend aus – ach, raschung, wie intensiv die Arbeit von Regisseur Meisterwerk. Sogar Die-hard-Fans von Gölä Libretto selbst verfasst, und im Prinzip ist das wäre man doch bloss so gross wie ein Schlumpf, Herzog mit den Solisten ausfällt. Jede Mimik, oder Cannibal Corpse würden nicht darum Ganze nichts anderes als die Beweihräucherung dann könnte man unzählige Stunden unge‑ jede Geste, jeder Gang wird minutiös festgelegt, herumkommen, das zuzugeben, wenn sie etwa die Motivation für jede Aktion definiert. das Vorspiel zum ersten Akt hörten. Eigentlich Auf der Probebühne 1 sind alle Kulissen‑ das schönste Stück Musik, das je komponiert Und am Schluss soll sich Palestrina erschiessen, wände, Vorhänge und Möbel in vereinfachter wurde – wäre da nicht das Vorspiel zum zweiten Ausführung exakt so arrangiert, wie sie dann im Akt, das noch schöner ist … aber der Reihe «vielleicht mit einer Pistole die er aus seinem Original auf der Opernhausbühne aufgebaut nach. werden. Auch die Sänger tragen provisorische Oper – da denken viele an eine dicke Frau Klavier holt». Kostüme. mit Flügelhelm, die noch eine halbe Stunde Metzmacher ist bei den szenischen Proben weitersingt, nachdem sie von einem Schwert, respektive Bemitleidung des reinen, weltabge‑ trübten Glücks darauf verbringen! Auch einige meistens dabei, diskutiert rege mit den Beteilig‑ einer Lanze oder einer Walharpune durchbohrt wandten, verkannten, institutionell miss‑ Kostümentwürfe werden von Neidhardt vorge‑ ten, macht sich Bleistiftnotizen in seine Partitur wurde. Nun: In «Palestrina» gibt es gar keine brauchten und an allem und jedem leidenden stellt (Soutanen für die Kardinäle – zur weiteren und gibt den Sängern ihre Einsätze, während Frauenrollen (ausser der einer Toten). Dafür Künstlergenies. Als das sich Pfitzner natürlich Inspiration erhält Neidhardts Assistentin den der Pianist mit seinem Spiel das Orchester drei Dutzend Kardinäle, die den ganzen zweiten selber sah. Als Alter Ego wählte er den italie‑ Auftrag, sich die DVD mit der Verfilmung von simuliert. Dirigent und Regisseur bilden ein Akt lang nur irgendwelche Platitüden und nischen Komponisten Giovanni Pierluigi da Dan Browns «Illuminati» zu besorgen). harmonisches Team, was für die Dramatik Pompösitäten von sich geben, gegeneinander Palestrina, der im Jahre 1563 von Kardinal Carlo Danach geht es in medias res: Der gesamte dieses Operntagebuchs natürlich alles andere als intrigieren und sich aufs Dach geben. «Palestri‑ Borromeo den Auftrag für die Komposition zweite Akt wird durchgenommen. Die Haupt‑ von Vorteil ist. Ein massloser Zornesausbruch na» ist eine der kuriosesten Schöpfungen in der einer alles überragenden Messe «zur Rettung kardinalsdarsteller – tolle Sänger wie Alfred wäre mal nett, gefolgt von einem Griff zur Geschichte der Oper. Und das ist wunderbar so. der polyfonen Kirchenmusik» erhält, was ihm Muff, Martin Gantner, Rudolf Schasching oder Hellebarde, Armbrust oder Walharpune, um nach viel Selbstmartyrium schliesslich gelingt Thomas Jesatko – sitzen in Alltagskleidung auf beim klassischen Opern-Waffenarsenal zu und als Höhepunkt den Segen des Papstes ein‑ Stühlen im Halbkreis um den Dirigenten, vor bleiben… Apropos: Dem Autor dieses Textes bringt. sich auf Notenständern den 368-seitigen wurde vor Probenbeginn strengstens untersagt, Eine Oper nimmt Form an: Kulissen schieben vor der Hauptprobe. Bilder: Doris Fanconi

8 Journalistenpreis 2012 Journalistenpreis 2012 9 raum beim Kreuzplatz sitzen respektive stehen kussion über seine üblen politischen Ansichten Bei einer anderen gilt es besonders darauf auf‑ Der Dirigent fungiert nun, wie Metzmacher von den zwei Harfenistinnen über die fünf soll hier verzichtet werden). zupassen, dass die Sologeigen nicht ertränkt es ausdrückt, «als Dreh- und Angelpunkt, als Kontrabassisten bis zum Triangelspieler alle Als Erstes geprobt wird das überwältigende werden. Turm in der Schlacht». Er ist der Einzige, der Musiker bereit. Vorspiel zum zweiten Akt. Aufgeregte Staccato- «Herr Metzmacher, gibt es einen Becken‑ alle sehen kann – und auch der Einzige, der von Gewisse Theorien gehen immer noch in die Achtel zucken in tiefer Lage herum, suchen schlag in Takt 67?», erkundigt sich ein Musiker allen gesehen wird. Tatsächlich ist das Zusam‑ Richtung, dass man als Dirigent ein «diktato‑ bald springend, bald gequält ihren Weg; in un‑ aus der Schlagwerkabteilung, nachdem er seine menhalten der verschiedenen Ebenen eine diffi‑ rischer Kotzbrocken» sein müsse, um die regelmässigen Abständen blitzen dabei Trompe‑ Becken an der unpassendsten aller Stellen zile Angelegenheit: «Wir haben keinen Kontakt «Beamten» vor sich zu motivieren/animieren. tenstösse auf, bis die Trompeten mit den Posau‑ (nämlich einem pianissimo) zusammenge‑ – du bist nicht mit mir zusammen», ruft Metz‑ Tatsächlich ist es genau wie in der Schule, wie nen gegen die Hörner losdonnern. Bald hellt drescht hat, dass es Gott erbarm. Antwort: macher über die Köpfe der Musiker hinweg sich im Verlauf der Probe zeigen wird: Je weiter sich alles auf, doch bald kehrt auch die Aggres‑ Nein, gibt es nicht. einem Solisten zu. Streckenweise haben die weg vom Lehrer/Dirigenten einer sitzt, desto sion zurück, die alles mit einer viel grösser ange‑ Sänger keine Chance gegen das Orchester. Ein mehr Schabernack zu treiben ist er versucht. legten Steigerung in vielzüngig dissonanter in Palestrinas Wandschrank platzierter Schein‑ Besonders in der Schlagwerk-Abteilung, die Mehrstimmigkeit zu einem noch grösseren 3. Akt, 2. Szene werfer (ein sogenannter dicker Fluter) blendet traditionell nicht wahnsinnig viel zu tun hat, Ausbruch des vollen Orchesters führt. (insalatissimo con gelato alla fragola) einen polnischen Bass bei einem komplexen werden vor allem SMS produziert. Metzmacher greift immer wieder einzelne Silhouetteneffekt. Die Requisite muss aufpas‑ Nun: Metzmacher wählt einen herzlich- Instrumente – Posaunen, Trompeten, Waldhör‑ Nach fünf weiteren OA folgt die OSP – die sen, dass sie Palestrinas Gummibaum nicht mit kollegialen Weg, bringt Lebendigkeit und Witz ner – heraus und lässt sie Passagen separat spie‑ Orchestersitzprobe. Darin trifft das Orchester der Palme von Othello verwechselt. Zwischen in die Bude. Gleichzeitig macht er klar, dass len. «Beim Tempo sind Sie ein bisschen hinter‑ zum ersten Mal auf die Sänger. In den vier BO zwei kardinalen Massenschlägereien verschwin‑ «Palestrina» für ihn eine Herzensangelegenheit her», ermahnt er die Hornisten. Die Oboen (Bühnenorchesterproben) kommt endlich alles det ein kompletter Herrenchor. Für ein paar ist – auf seine Initiative gehe die Neuinszenie‑ dürfen ruhig ein bisschen mehr artikulieren. zusammen: Solisten, Chöre, Komparserie und Tönchen werden extra fünf XXL-Monster‑ Das Konzil der Kardinäle versammelt sich auf der Bühne des Opernhauses. rung denn auch zurück. Musikalisch habe sich Ein Motiv will er nicht zu weich, sondern Originalbühnenbild auf der Opernhausbühne glocken herangekarrt. Pfitzner nie kompromittiert (und auf eine Dis‑ streng haben. Eine Stelle klebt so ein bisschen. sowie das Orchester im Graben. In den Pausen werden die Gespräche zwi‑ schen Regisseur und Dirigent eindringlicher, 3. Akt, 3. Szene mand erschrickt. Palestrina will eine schwere die Blicke finsterer, das Händeringen theatra‑ (nirvana con rumore) Metallknarre haben und nicht so ein billiges Pla‑ lischer. Auf der Bühne fällt zum ersten Mal das stikding. Wort «Scheisse» (aus dem Munde des Bischofs In der letzten Probewoche geht es Schlag auf GP (Generalprobe). Ausser wenigen Pannen von Budoja). Hurra, Leidenschaft! Jetzt kann Schlag. Vor der KHP (Klavierhauptprobe) ver‑ läuft alles wie am Schnürchen (ein Sessel fällt man guten Gewissens sagen: Das ist Oper! kündet Regisseur Herzog fiebrig, dass ihm letzte nicht wie geplant um, eine Trennwand schliesst In der Kantine gönnt sich der Kardinal von Nacht ein neues Ende eingefallen sei: Palestrina sich nicht, und ausgerechnet in der Unterhosen‑ Lothringen eine Strawberry Cheesecake Ice soll sich nun nicht mehr erschiessen, sondern szene kommt es fast zum Super-GAU – offenbar Cream von Ben & Jerry’s (eine exzellente mit seiner toten Gemahlin Hand in Hand lang‑ gibt es keine Sicherheitsunterhose unter der Wahl!). Kardinallegat Novagerio hingegen sam ins Nirwana schreiten. Metzmacher hält Unterhose. Ein weiteres Opernrätsel ist gelöst). nimmt sich nur ein Salätchen – figurtechnisch resolut dagegen: «In den letzten Takten steht die Dafür hat Palestrina seine Metallpistole bekom‑ sicher nicht ganz verkehrt. Prominente Künst‑ Musik im Zentrum, nicht die Frau. Ich verstehe men. Natürlich packt das anwesende GP-Publi‑ lerkollegen lästern über den Selbstmord-Schluss das nicht!» Der neue Schluss wird geprobt. kum an den ergreifendsten Szenen möglichst und die «DDR-Mief»-Inszenierung (was absurd Das Licht des Jenseits erstrahlt in waschechter laut Hustenbonbons aus. Oper sollte generell ist, denn gerade der zweite Akt platzt fast vor Stephen-King-Manier, aber leider rumpelt die ohne Publikum stattfinden. 0,0 Prozent Aus‑ Lebendigkeit). Der pensionierte Opernhausbi‑ Schiebewand zum Nirwana entsetzlich. Die lastung wäre ideal. bliothekar – ein guter Geist aus der Vergangen‑ innigen Schlussakkorde kommen unter die heit – haut jede und jeden wegen Taxkarten an. Räder. «Das wäre zum Heulen schön, wenn nur Applaus. Auch das: Oper! dieser Lärm nicht wäre», seufzt Herzog. Erst‑ Auf der Toilette wird man via Inspizienten- mals treten die Sänger in Originalkostümen Metzmacher radelt in den Sonnenuntergang. Lautsprecher von Durchsagen wie «Ich bitte und Maske auf. Palestrina sieht auf einen Schlag Frau Kern zur Bühne» oder «Tamtams zur Büh‑ dreissig Jahre älter aus, Borromeo so richtig Der Vorhang fällt. ne bitte» unterhalten. Oper! (Und, Stand 1. De‑ dämonisch. «Sitzt meine Fliege extra schief?», zember: Palestrina wird im ersten Akt in Unter‑ will Palestrina zutiefst verunsichert wissen. Schade, dass das Spektakel vorbei ist. hosen zu sehen sein. Wie könnte es anders sein. HPO (Orchesterhauptprobe): Unterhose ja Oper halt.) (Herzog: «Die Unterhose übt einfach den nöti‑ gen Druck auf Palestrina aus»), Nirwana nein (Herzog: «Es war einfach zu dick aufgetragen und nicht konsequent»). Palestrina jagt sich also wieder brav eine Kugel in den Kopf. Der Schuss kommt ab Band. Metzmacher lässt die Musiker Das Künstlergenie im Orchestergraben. den Knall in die Partitur eintragen, damit nie‑

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