Das Offene Geheimnis Des Wahlerfolgs Der Linkspartei Ist Heterogener Protest Die Landtagswahl in Niedersachsen
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Das offene Geheimnis des Wahlerfolgs der Linkspartei ist heterogener Protest Die Landtagswahl in Niedersachsen Niedersachsen ist das zweitgrößte Flächenland in Deutschland. In der Fläche dominiert die Agrarwirtschaft; es gibt eine Vielzahl von kleinen, bäuerlich geprägten Ortschaften. In der Summe leben dort die meisten Einwohner dieses strukturkonservativen Bundeslandes. Zwar fallen bei Wahlen auch Großstädte wie Hildesheim, Braunschweig, Osnabrück oder Wolfsburg ins Gewicht; aus der Region Hannover, in der rund ein Achtel der gesamten Einwohner (ca. eine Million Menschen) leben, kommen allein 14 % aller Wahlberechtigten – das sind konkret ca. 630.000 Wähler. i Dennoch gilt für das »Land der Schweinezüchter und Kartoffelbauern«: Die Wahlen werden auf dem Lande gewonnen. Wie also ist möglich geworden, was so von niemandem erwartet worden war: DIE LINKE ist bei den Wahlen vom 27. Januar 2008 mit 7,1% (+6,6%) in den niedersächsischen Landtag eingezogen.ii DIE LINKE erreichte in Niedersachsen ein deutlich besseres Ergebnis als in Hessen am selben Tag und im Stadtstaat Hamburg knapp vier Wochen später. In 80 von 87 niedersächsischen Wahlkreisen liegt DIE LINKE deutlich über 5%. Wir haben es also mit einem flächendeckenden Phänomen zu tun, das nicht damit vollends zu erklären ist, dass hier ein besonders guter Wahlkampf geführt wurde. Zwar schreiben die Landesvorsitzenden Tina Flauger und Dieter Dehm im Landesinfo nach der Wahl: »Die überraschend guten Ergebnisse in bäuerlich geprägten Gegenden und die Stimmen von sieben Prozent der Selbständigen legen den Schluss nahe, dass wir inzwischen auch mit Themen wie der Forderung ländlicher Räume und der gezielten Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen verbunden werden.« iii So perfekt auch der Wahlkampf gewesen sein mag, niemals hätte er aber bei den finanziellen und personellen Ressourcen, die der Linkspartei zur Verfügung standen, zu einem derart flächendeckend homogenen Ergebnis führen können, wenn nicht ein allgemeiner Trend, der von der Bundesebene ausgeht und über die Medien transportiert wird, ohnehin wirkmächtig gewesen wäre. Es sind die brennenden Themen auf Bundes- und Länderebene (Sozialstaat, Arbeitslosigkeit, Rente, Bildungs- und Familienpolitik, Bürgerrechte und Militärpolitik), auf die numerisch bedeutsam gewordene Schichten eine alternative Antwort suchen, die sie von den etablierten bürgerlichen Parteien nicht mehr bekommen, nicht einmal – und wenn, dann nur heuchlerisch – problematisiert finden, sich deshalb wütend oder auch nur enttäuscht abwenden. In der Linkspartei wird zunächst eine Partei gesehen, die zumindest aus Protest heraus wählbar geworden ist – nicht zuletzt wegen des professionellen Auftretens der Bundestagsfraktion in der Öffentlichkeit, sei es durch Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine, Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch oder Lothar Bisky, Petra Pau oder Jan Korte, Klaus Ernst oder Wolfgang Nescovic, Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer und andere. Den Medien kommt diesbezüglich eine wichtige Rolle zu. Im Niedersachsenwahlkampf haben sie DIE LINKE zuerst ignoriert und dann binnen der letzten zwei Wochen vor der Wahl regelrecht hochgeschrieben. Das ließe sich im Einzelnen anhand einer Zeitungenanalyse belegen. In Niedersachsen schien schon vor der Wahl alles entschieden. Nichts Spektakuläres würde vorfallen. Es stand ein äußerst langweiliger Wahlkampf bevor, in dem der SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner nicht das Format eines Herausforderers gegen Christian Wulff hatte. Dennoch können die Medien nicht regulieren, was ansonsten nicht im Schwange wäre. Eine Große Koalition auf Bundesebene, so heißt es, macht die kleinen oppositionellen Parteien stark – in den 1960er Jahren die APO, heute die Linkspartei. Ist damit alles erklärt? Nein, nur das allerwenigste! Durch Deutschland gehen zwei unsichtbare Grenzen, gleichsam ehemalige Mauern. Nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd herrscht ein signifikantes Gefälle: Der Norden ist tendenziell sozialdemokratisch, preußisch- protestantisch, weniger wohlhabend; der Süden ist tendenziell schwarz, römisch- katholisch, eher reich. Diese Scheidelinie deckt sich in etwa mit dem historischen Limes, also der Grenze, die die Römer bauten, um ihr Territorium vor den Barbaren zu schützen. Ist es nur ein Zufall, dass sich DIE LINKE in Westdeutschland zuerst im Norden ausbreitet? Selbst in der tiefschwarzen Hochburg Vechta erreichte DIE LINKE einen Stimmenanteil von 3,1%. Das beste Wahlergebnis freilich erreichte die Partei im Wahlkreis Hannover-Linden mit 13,3%; nimmt man nur den Stadtteil Linden-Nord, dann sind es sogar 21,1%. Das dürfte im Westen Deutschlands bisher einmalig sein. Ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Wahlergebnisse für DIE LINKE in den hannoverschen Wahlkreisen gibt exemplarischen Aufschluss darüber, welche Wählerschichten der Linkspartei zu ihrem Wahlerfolg verholfen haben – mit einem Verallgemeinerungswert für sämtliche großen Städte und auch für kleinere Städte, Gemeinden und Landkreise in ganz Niedersachsen. Der Soziologe Daniel Gardemin vom Sozialforschungszentrum agis e.V. an der Universität Hannover hat die Wahlergebnisse der Landtagswahl in Niedersachsen mikrosoziologisch und milieutheoretisch beleuchtet und auf einer Veranstaltung der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen e.V. in Hannover vorgetragen. iv Exemplarische Mikroanalyse: Hannover Im Westen von Hannover, wo DIE LINKE stark ist, befinden sich die dicht besiedelten Stadtteile mit deutlich unterprivilegierten Bodenquartieren (z.B. Calenberger Neustadt: 12%, Nordstadt: 15,8%, Hainholz: 12,4%, Stöcken: 11,4%, Mühlenberg: 11,1%). Dort hat auch die SPD ihre Hochburgen. Im Osten dagegen, wo CDU und FDP ihre Hochburgen haben, befinden sich die reicheren Viertel mit besserer Infrastruktur und größeren Grünflächen. Dort hat DIE LINKE unterdurchschnittlich schwach abgeschnitten (z.B. in Kirchrode: 3,3%, Wülferode: 3,8% und Isernhagen- Süd: 2,7%). DIE LINKE ist überdurchschnittlich stark (ca. 11-13%) in Stadtteilen, wo diese Faktoren zusammenkommen: eine geringe Wahlbeteiligung (z.B. Hainholz: 37,9%), hohe Arbeitslosigkeit, ein hoher Anteil an Menschen mit akademischer Ausbildung oder Migrationshintergrund. Das sind in der Regel die sozial benachteiligten Stadtteile, in denen der Anteil der Alleinerziehenden und Ledigen besonders hoch ist (z.B. in Hannover: 26,5%, Garbsen: 25,0% und Laatzen: 24,8%), ebenso der Ausländeranteil. Allein in sieben solcher Stadtteile ist DIE LINKE drittstärkste Kraft geworden (z.B. in Hainholz, Stöcken, Linden und Mühlenberg), indem sie sehr erfolgreich der SPD Wähler abgeworben hat. Aber auch insbesondere in den Stadtteilen, wo die Hochburgen der GRÜNEN sind (Linden, List, Oststadt und Nordstadt), insbesondere in den universitätsnahen Wohnvierteln, ist DIE LINKE sehr erfolgreich gewesen. Typologie der Linkswählerschaft Fasst man diese Merkmale zusammen, erhält man eine Typologie der Linkswählerschaft. Demnach wählen ehemalige Nichtwähler und ehemalige SPD- Wähler, die man als Protestwähler zusammenfassen kann, DIE LINKE. Ferner ehemalige Wähler der GRÜNEN und Bewohner universitätsnaher Quartiere, die als akademische Linke gelten. Außerdem Gewerkschafter und gut situierte Personen, die aus solidarischen Gründen gegenüber den sozial Benachteiligten der Linkspartei ihre Stimme geben, bzw. weil sie in der Linkspartei den verlängerten politischen Arm der Gewerkschaften sehen. Last not least Arbeitslose, insbesondere ältere Langzeitarbeitslose, Alleinstehende und Alleinerziehende, die zur Gruppe des Prekariats oder zur Schicht der drop outs gehören. Die Wähler der Linkspartei sind überwiegend männlich und im Alter zwischen 35 und 59 Jahren. DIE LINKE war als einzige Partei imstande, Nichtwähler zu mobilisieren. In der Landeshauptstadt sind es allein über 6.700, landesweit 30.000 Stimmen, während die anderen Parteien zwischen 2003 und 2008 knapp 40.000 Wähler, die zu Nichtwählern wurden, verloren haben, landesweit sogar 451.000. Von den anderen Parteien wechselten in Hannover zusätzlich über 10.000 und landesweit 165.000 Wähler zur Linkspartei. Mit anderen Worten: Die Erfolge der Linkspartei basieren zu einem sehr hohen Anteil auf Protest, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Gardemin schätzt vorsichtig das Protestwählerpotential der Linkspartei auf bis zu 50%. Der Rest teilt sich auf die akademische Linke (ca. 10%), die Solidarischen (ca. 20%) und auf diejenigen auf, die von Sozialabbau und Arbeitslosigkeit unmittelbar betroffen sind (ca. 30%), wobei hier eben auch Überschneidungen möglich sind, weshalb man nicht auf 100% komme, wenn man die prozentualen Anteile addiert. Blick zurück: Die Niederungen der »Westentwicklung« Von Politikern unterschiedlicher Couleur, Parteienforschern und Journalisten hörte man zur PDS beinahe unisono über ein ganzes Jahrzehnt nach der deutschen Einheit hinweg, dass sie ein Übergangsphänomen sei: ein Ostphänomen, das verschwinden werde, spätestens wenn die Landschaften zu blühen anfangen. Die PDS verschwand aber nicht, im Gegenteil: sie wurde im Osten Deutschlands von der Bevölkerung fest verankert; sie ist dort Volkspartei. Als sich die PDS anschickte, sich auch im Westen ausbreiten zu wollen, wurde dem strategischen Ansinnen ein unabdingbares Scheitern vorausgesagt, gemäß der Annahme, dass die dem Charakter nach ostdeutsche Partei im Westen aufgrund kultureller Fremdheit niemals wird Fuß fassen können. Das schien auch tatsächlich zunächst zu stimmen. Im Juni 2003 gestand Lothar Bisky: »[Im Westen] treten wir erfolgreich auf der Stelle. Leute kommen, Leute