Eine Schlüsselfigur in der Ideengeschichte des welchen andere solcher bedürfen, so ging ich bald Freikletterns ist zweifellos der Wiener Kletterer auch auf Höhen, welche die Führer, die zünftigen Die Ursprünge Paul Preuß. Er war einer der prominentesten Ver­ wenigstens, nicht zu betreten wagen. Ich durch- treter der sogenannten Wiener Schule des Klet­ streifte Gebirge, in welchen man vergeblich nach terns, die um 1880 von den führenden Alpinisten Führern fragt, – ich erstieg Gipfel, deren Namen man der Donaumetropole begründet wurde. Im Au­ in den umliegenden Thälern nicht kennt. Den Einge- des Freikletterns­ gust 1911 veröffentlichte Preuß in der Deutschen borenen der Alpen, den Jägern und Hirten, mochte Alpenzeitung seinen Epoche machenden Beitrag ich neue Pfade lehren und von dem Gemswild liess Die Bewegung der Führerlosen und die Wiener Schule „Künstliche Hilfsmittel auf Hochtouren“. Einer der ich die meinigen mir weisen.3 >> Nicholas Mailänder Kernsätze lautet: Ich halte die Sicherung durch ein- Von Barth schilderte seine Erfahrungen in dem getriebene Mauerhaken, in vielen Fällen Sicherung Werk „Aus den Berchtesgadener Alpen“. Es enthält überhaupt, sowie das Abseilen und alle anderen Seil- ein flammendes Plädoyer für das selbständige manöver, die so oft die Besteigung von Bergen er- Bergsteigen: Oder wer möchte das schrankenlose, möglichen oder wenigstens dabei angewendet wer- bloß auf eigene Erfahrung, Gewandtheit und Kraft den, für künstliche Hilfsmittel und daher vom Stand- gestützte Umherklettern in den Felsen, bis man nach punkt des Alpinisten wie des Klettersportlers als mancher Mühe, manchem mißlungenen Versuche nicht einwandfrei, als nicht berechtigt.1 den angestrebten Gipfel erreicht hat – nun allein, Wie war Preuß zu diesem seinem Gedanken­ von keinem lebenden Wesen gehört noch gesehen, gut gekommen? Paul Preuß sah sich sehr bewusst auf der schroffen Felsenspitze thront, da und dort in der Tradition des führerlosen ostalpinen Berg­ alte, auf gleiche Weise gewonnene Bekannte grü- steigens, die im letzten Drittel des 19. Jahrhun­ ßend – wer möchte dies nicht als das Ideal des Berg- derts entstanden war. Nicht umsonst hingen in steigens betrachten?4 seinem Zimmer die Fotografien von Georg Wink­ Es war allerdings eine Idee, für die sich vorerst ler und Emil Zsigmondy – zwei von Preuß beson­ kaum jemand begeistern konnte. Erst Ende der ders verehrte Pioniere dieser alpinsportlichen Be­ 1870er-Jahre entstand in München eine kleine wegung.2 Gruppe besonders leistungsfähiger Alpinisten. Initiator des führerlosen Bergsteigens in den Franz Kilger, Heinrich Schwaiger und Dr. Alois Zott Unter alpinhistorisch bewanderten Menschen in Ostalpen war der Jurist und Geograf Hermann wurden allgemein als die Erben Hermann von Deutschland und Österreich hält sich bezüglich des Freiherr von Barth gewesen, der sich als Erschlie­ Barths gesehen und folgten seinen Spuren führer­ ßer und Erforscher der Nördlichen Kalkalpen ei­ los im Karwendel und Wettersteingebirge. Entstehens und der Verbreitung des Freiklettergedankens nen Namen gemacht hatte (siehe auch Berg­ In Wien waren es die Brüder Emil und Otto ein zählebiger Mythos. Demnach soll das Freiklettern Welten, Seite 41 ff.). Im Sommer 1868 hatte der Zsigmondy, die mit der selbständigen Erklette­ gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Sachsen entstanden 23-jährige Rechtspraktikant in Begleitung eines rung schwieriger Grate und Wände in den Enns­ und das Elbsandsteingebirge der erste alpinsportliche Berg­führers den Hochkalter und die Watz­mann- taler Alpen und in der Hochschwabgruppe auf Mittelspitze bestiegen, um die Touren dann selb­ sich aufmerksam machten. Im Sommer 1879 sorg­ Kulturraum gewesen sein, in welchem die „Freikletterei“ ständig zu wiederholen. Bald machte er sich von ten die Brüder mit der Besteigung des als unmög­ ab 1913 „absolut gebietsumfassend“ durchgesetzt den Führern so weit wie möglich unabhängig. Wir lich geltenden Feldkopfes in den Zillertaler Alpen wurde.* Das Sichten der historischen Quellen führt lassen Hermann von Barth am besten selbst von für eine Sensation. Bald versammelte sich um die jedoch auf eine andere Spur. seinem Abnabelungsprozess berichten: Und rasch Zsigmondy-Brüder eine Gruppe Gleichgesinnter entwickelte sich das neue Treiben; brauchte ich an- – Feuerköpfe wie Eugen Guido Lammer, August Kletterer im Bereich des fänglich keine Führer auf Hochgebirgsfahrten, zu Lorria, Louis Friedmann, Demeter Diamantidi, Ro­ Col du Géant im bert Hans Schmitt und Ludwig Purtscheller. Alle­ Mont-Blanc-Gebiet: * de.wikipedia.org/wiki/Freiklettern am 16. August samt brannten sie darauf, den alpinen „Pharisäern“ Das Bild aus dem Jahr 1906 stammt aus dem 2014 sowie Brief von Dietrich Hasse an Walter zu beweisen, dass im Gebirge unwiderruflich ein Fotoalbum des Düssel- Welsch vom 12. Januar 2015. neues Zeitalter angebrochen war. Für Lammer dorfer Bergsteigers 1 Paul Preuß, Künstliche Hilfsmittel auf Hochtouren, Fritz Reimann. Wer der Deutsche Alpenzeitung 1911/1912, S. 242–244, hier Herr im Bild ist und ob S. 242. 3 Hermann von Barth: Aus den Nördlichen Kalkalpen, er ein Freikletterer war, 2 Vgl. Reinhold Messner, Freiklettern mit Paul Preuß, Gera 1874, XIX f. ist nicht bekannt. München Wien Zürich 1986, S. 31 f. 4 Ebd., S. 235. © Archiv des DAV, München

148 | BergSteigen BergSteigen | 149 Adler oder dem Sturm. Nichts mehr ließen wir gelten den Durchstieg durch die Südabstürze des Dach­ ßen. Worauf dieser zurückzuführen ist, muss noch als das ungehemmte Ausleben der starken Persön- steinmassivs mit erheblichem technischen Auf­ untersucht werden. Die Vermutung liegt nahe, lichkeit nach den innersten Gesetzen ihrer eigenen wand zu erzwingen: Wir hatten uns (…) mit allen dass die Nachwuchselite aus der Donaumetropo­ Natur. Denkt an Nietzsche, den treuesten Spiegel sei- nöthigen Instrumenten versehen. Anhäuser hatte le vom englischen Sportsgeist mit seinem von ner Zeit, den ich aber damals noch nicht kannte!5 auch Dynamit bei sich, dass wir nöthigenfalls spren- Mummery propagierten „by fair means“ beein­ Das von Wiener Alpinrebellen propagierte Le­ gen können. (…) Seile, Eisenstiften und ein Hammer flusst war. 11 ben „auf des Messers Schneide“ war klarerweise zum Stufenhauen waren zur Vorsicht mitgenom- Den Erfolg fuhr schließlich im Sommer 1889 weder am Seil eines allen Anforderungen souve­ men.8 Der Grazer Georg Geyer, Verfasser des Über­ ihr Kollege Robert Hans Schmitt ein. Obwohl er rän gewachsenen professionellen Führers zu ha­ sichtsartikels, in welchem der Bericht von Johann einige Haken zur Rettung aus brenzligen Situatio­ ben noch an künstlichen Steighilfen, sondern nur Knauss veröffentlicht wurde, kommentierte die­ nen dabeihatte, so blieben sie bei seinem Durch­ im selbstverantwortlichen Vorstoß in die Gefah­ sen lakonisch: Es hat sich somit gezeigt, dass ohne stieg doch im Rucksack: Abermals stand ich unter renzone des unerschlossenen alpinen Ödlands. Anwendung künstlicher Hilfsmittel die Südwand des dem Überhange und trachtete dem glatten, rundbu- Kein Wunder, dass für Lammer der Alleingang die Dachsteins nicht ersteigbar ist.9 Damit prägte Geyer ckeligen Gestein Halt abzugewinnen; genau über- bergsportliche Idealform darstellte: Ist es nicht ein einen Begriff, dem bis heute in der sportethischen legte ich, wie hoch ich mich aufziehen müsste, um ritterliches Kämpfen? Zu den Gefahren und Schau- Diskussion des Felskletterns eine Schlüsselrolle das Knie in den Riss zu klemmen; dass ich mich dann ern, die das Gebirg über alle hinschüttet, die ihm na- zukommt. würde halten können, wusste ich. Langsam, um das hen, fügt der Alleingeher aus freier Wahl noch alle Der damalige Präsident des Österreichischen Gleichgewicht nicht zu stören, zog ich mich, eng an Schauer der Verlassenheit hinzu, eh‘ der Kampf be- Alpen-Klubs, Julius Meurer, unterschied 1882 in die Wand geschmiegt, empor und gelangte in den ginnt. Alle Trümpfe dir, mein Berg. Mir allein die Kraft.6 seinem Bericht über die Erstbesteigung des Dent Riss, durch den ich mich weiter hinaufarbeitete. End- Den Einsatz von Haken lehnte Lammer vehe­ du Géant zwischen den „technischen Hilfsmitteln“ lich langte ich am Beginn der Felsrinne an, wo ich Eugen Guido Lammer, ment ab: Einst – bis in die Neunziger Jahre hob sich und den „usuellen Bergsteiger-Utensilien Gletscher- mich auf einem Block zur Rast niederließ, von dem Vordenker der Führerlo- die Leistung des Alleingehers viel weniger ab als die Seile, Eispickel und Steigeisen“ 10. In diesem Sinn aus ich den Sack samt Pickel und Stock heraufziehen sen (oben), und Julius des Seiltouristen: Wenn der Vorankletternde an ge- verstanden die Vertreter der Wiener Schule des konnte.12 Meurer, Gründungspräsi- dent des Österreichi- fährlichen Stellen 10, 15, 20 Meter höher stand als Bergsteigens unter „künstlichen Hilfsmitteln“ – Zwei Jahre danach, im August 1891, hatte sich schen Alpenklubs der Zweite, so blieb er sich beständig bewusst: „Erst außer Seil, Eispickel und Steigeisen – alle Gerät­ der meinungsstarke und sprachgewaltige Eugen (unten). und die meisten seiner Mitstreiter war das Berg­ nach einem Sturz von 20, 30, 40 Meter kann mich schaften und alles Material, die zur Besteigung ei­ Guido Lammer die Erstbegehung des Nordwest­ © Laternbildsammlung, Archiv steigen viel mehr als Sport – nämlich praktizierte das Seil halten, vermutlich als Schwerverletzten, nes Berges eingesetzt werden konnten. Zum Bei­ grates des früheren Feldkopfes im Abstieg zum des ÖAV, Innsbruck Lebensphilosophie. Lassen wir ihn das am besten wenn es dann nicht reißt. (…) Sobald er jedoch be- spiel Hammer, Haken, Fixseile, in den Fels geschla­ Ziel gesetzt. Der Berg war nach dem Tod Emil Zsig­ selbst erklären: Rotglühend lohte in meinem Busen gann, sich durch fest eingetriebene Ringhaken zu si- gene Stufen, Trittstangen aus Eisen, Leitern oder mondys im Jahr 1885 ihm zu Ehren in Zsigmondy­ die Sehnsucht nach alpiner Tat, unlöschbar der Durst chern, übertölpelte er jede Berggefahr und zugleich Sprengstoff. Zahlreiche Tourenberichte belegen, spitze umgetauft worden. Am Seil des „Chefideo­ nach Abenteuer und Todesgefahr. Ich war entschlos- sein eigenes Gefühl, er verwandelte sich durch den dass die meisten Vertreter der Wiener Schule aber logen“ der Wiener Schule war der 18-jährige Gym­ sen, das Höchste zu wagen, mein Leben wieder und Trick gleichsam in den Seilzweiten, der nur wenige durchaus bereit waren, ihre „usuellen Utensilien“ nasiast Oscar Schuster aus Dresden, der zwei Jah­ wieder auf des Messers Schneide zu setzen. Das hatte Meter stürzen kann.7 auch findig zur Fortbewegung einzusetzen. re zuvor als Internatsschüler in Davos die Berge weit tiefere Gründe als bloße Sportlust oder blasierte Haken zur Absicherung von Kletterstellen wa­ 1884 scheiterten auch die Wiener Spitzenberg­ kennen und lieben gelernt hatte. Stumpfheit der Nerven, doch kann ich hier nicht in ren für die Wiener Schule des Kletterns ein absolu­ steiger Emil Zsigmondy, Carl Diener, A. Böhm und Lammer sicherte den gewandten Jungen über der nötigen Breite darlegen, mit welcher Wucht der tes No-Go und wurden den verachteten „techni­ Daniel Inthaler beim Versuch, die Südabstürze des schwierige Stellen hinab. Beide waren der schwie­ schaurige Zweifel auf meiner jungen Seele lastete schen“ oder „künstlichen“ Hilfsmitteln zugeord­ Dachsteinmassives zu durchsteigen. Allerdings rigen Kletterei wegen in Strümpfen unterwegs. Die bayerischen Bergsteiger Franz Kilger und die Zersetzung aller Menschheitsgüter, worunter net, wie sie 1882 bei der ersten Ersteigung des lässt die grundsätzliche Abkehr von den brachia­ Hinter der zweiten Gratscharte standen sie vor ei­ (oben), Heinrich in den Achtziger und Neunziger Jahren alle tieferen Dent du Géant im Mont-Blanc-Gebiet hemmungs­ len Methoden ihrer Vorgänger hin zu einem be­ ner für sie unkletterbaren Stelle. Weiter im O-Ton Schwaiger (Mitte) und Naturen litten. Ich war ein wilder Bursche und ein los und umfangreich eingesetzt worden waren. wussten Verzicht auf künstliche Hilfsmittel auf ei­ Lammer: Was thun? Da wendete ich eine an sich Alois Zott (unten) wagten Dies war in Wien und auf wenig Begeiste­ als Erste, die kühnen echtes Kind jener Zeit der geistigen Märzenstürme: nen entscheidenden Paradigmenwechsel schlie­ sehr bedenkliche, in unserem Falle aber durchaus Besteigungen Hermann Damals in den Achtziger Jahren zertrümmerten wir rung gestoßen. correcte Technik an: den Seilwurf. (…) ich fasste un- von Barths (rechts) in den alles, was unseren Vätern heilig war, wir verspotteten Bereits im Oktober 1881 hatten die Ramsauer ser Seil doppelt zu einer Schlinge und begann nach Nördlichen Kalkalpen 8 Johann Knauer: Bericht in: Georg Geyer, Touristi- all ihre verwelkten Ideale, alles was sie für gut und Führer Steiner, Anhäusler und Knauss versucht, einem offenbar festen, scharfen vorspringenden Za- führerlos zu wiederholen. sches über die Dachsteingruppe, Zeitschrift des © Laternbildsammlung, Archiv schön und wahr hielten: ihre Dichtung und ihre Bau- Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins des ÖAV, Innsbruck ten und Bilder; wir verneinten ihre Religion und ihr 5 Eugen Guido Lammer: Jungborn, München 1926, 1881, S. 240–310, hier S. 286 f. 11 Vgl. Robert Hans Schmitt: Erste Durchkletterung S. 109. 9 Ebd. S. 287. der Dachstein-Südwand, Österreichische Vaterland, jedwede Autorität, die Ehe und vor allem 6 Eugen Guido Lammer: Jungborn, München 1935, 10 Julius Meurer: Dent du Géant, Österreichische Alpen-Zeitung (OeAZ) 15. 11. 1889, S. 277–286, die überlieferte Vätermoral. Ich war nicht unmora- S. 215. Alpenzeitung (OeAZ) 22. 9. 1882, S. 251–252, hier hier S. 278. lisch, sondern amoralisch gleich der Eiche oder dem 7 Ebd., S. 214. S. 251. 12 Ebd., S. 281.

150 | BergSteigen BergSteigen | 151 Am 4013 Meter hohen Oscar Schuster, die Wiener, Mummery Dent du Géant verzichte- und Fehrmann ten die Wiener Heinrich Wie die meisten guten Ostalpenbergsteiger sei­ Pfannl, Thomas Maisch- berger und Fritz Zimmer ner Zeit trat auch der Dresdner Oscar Schuster in im Sommer 1900 bewusst den Österreichischen Alpenklub ein und wurde auf künstliche Hilfsmittel. bald zu einem seiner aktivsten Mitglieder. Sein in © Archiv des DAV, München der Österreichische Alpenzeitung (OeAZ) 1896 veröffentlichter Tourenbericht umfasst rund 140 Bergfahrten. Im selben Jahr 1891, in dem Oscar Schuster mit seinem Lehrmeister Lammer an der Der von Oscar Schuster (oben) erstbestiegene Zsigmondyspitze unterwegs war, startete er den Falkenstein ist einer der ersten Versuch einer sportlich einwandfreien Be­ klassischen Gipfel des steigung des Falkensteins im Elbsandsteingebir­ Elbsandsteingebirges. Die Besteigungsszene ge. Von seinem Misserfolg lassen wir Schuster am diente bereits um 1900 besten selbst berichten: Da aber das Wetter mise- als Postkartenmotiv rabel, der Fels nass war, so gelang der Versuch nicht (rechts). – vielleicht ist ein Hinaufkommen ohne künstliche © Laternbildsammlung, Archiv 14 des ÖAV, Innsbruck (oben), Hilfsmittel sogar ganz ausgeschlossen. Archiv des DAV, München Die Verwendung dieses Schlüsselbegriffes der (rechs) Wiener Schule weist auf eine geistige Nähe des Gymnasiasten zu dieser dem hilfsmittelfreien herauszufinden, inwiefern die von frühen Impuls­ war. Im Jahr 1880 hatte der englische Bergsteiger Klettern verpflichteten Bewegung hin. Dass gebern des Sächsischen Bergsteigens wie Hugo Albert Frederick Mummery hier am höchsten von Schuster dann bei seiner Besteigung des Falken­ Kurze und Oscar Schuster eingeleiteten Neuerun­ ihm erreichten Punkt seine Visitenkarte hinterlegt, steins am 27. September 1892 im unteren Teil eine gen auf deren Verwurzelung in einer lokalen Tradi­ mit dem Vermerk „Absolutely inaccessible by fair Leiter benutzte, hätte sein Mentor Lammer be­ tion zurückzuführen waren oder von der Wiener means“ – absolut unbezwingbar mit fairen Mit­ stimmt nicht befürwortet. Ansonsten verhielt sich Schule beeinflusst wurden. Denn es könnte einen teln. Die drei Spitzenkletterer aus Wien hatten sich cken den Lassowurf. (…) Zum fünften Mal ausge- Schuster in den Anfangsjahren seiner kletter­ ursprünglich selbständigen Strang der sächsi­ vorgenommen, diese Behauptung zu widerlegen. holt! – Hurrah! Fest und sicher saß die Schlinge um sportlichen Betätigung im Elbsandsteingebirge schen Freiklettertradition geben, der sich vielleicht Pfannl, Zimmer und Maischberger gelangten den Felskopf – ich sah es deutlich (…) und schon zuallermeist wie seine ostalpinen Kollegen: Im später mit Einflüssen von außen verband.17 am 20. Juli 1900 nur mit Händen und Füßen klet­ baumelte ich am rechten Ende über der Floitenwand Normalfall kletterte er frei, hie und da arbeitete er Die junge Garde der Wiener Kletterer scheint ternd über die Nordwand und den Nordwestgrat und klomm am Seil empor. (…) Die neue Technik mit Seilwurf oder benutzte den Eispickel zur Fort­ es um die Jahrhundertwende mit dem Verzicht auf den Riesenzahn. Eine zuvor ins Auge gefasste hatte gesiegt. Rasch kommt auch Schuster mit Seil- bewegung; nur ausnahmsweise verwandte er ein auf künstliche Hilfsmittel recht genau genommen Route verwarfen sie, weil hier Haken zur Siche­ hilfe nach. Was soll uns jetzt nach solchen Stellen Drahtseil (beim Aufstieg auf den Einser).15 Dietrich zu haben. So reisten die Wiener Extremen Hein­ rung notwendig gewesen wären. Aus ihrem Be­ noch hindern?13 Hasse dürfte wohl mit seiner Beurteilung von rich Pfannl, Fritz Zimmer und Thomas Maischber­ richt: Der nächste Gratabsatz ist fast senkrecht und Aus ihren Tourenberichten wird deutlich, dass Schusters Einstellung zu den künstlichen Hilfsmit­ ger im Sommer des Jahres 1900 eigens nach Cha­ würde zu seiner Überwindung unbedingt in halber Lammer und seine Freunde den Seilwurf, den teln richtig liegen: Bei genauerer Betrachtung fällt monix, um den Nachweis zu erbringen, dass der Höhe die Sicherung durch einen Mauerhaken erfor- Schulterstand, das „Drytoolen“ am im Fels verhak­ auf, dass für Oscar Schuster Höherbewertung hilfs- Dent du Géant doch „by fair means“ zu besteigen dern, welches Mittel wir vermeiden wollten, da der ten oder verklemmten Pickel sowie das Abseilen mittelfreien Kletterns ohne Einschränkung galt; eine gewöhnliche Anstieg uns eben deshalb herausgefor- am Doppelseil – alles Verfahren, die bei dieser so kompromisslose Haltung, wie sie Rudolf Fehr- dert hatte, dem herrlichen Berg ohne künstliche 17 Spektakuläre Einzelaktionen wie die Bezwingung 18 Tour zum Einsatz kamen – als durchaus „correcte mann später einnahm, ist bei ihm jedoch noch nicht des Steilabbruches der Festung Königstein durch Hilfsmittel zu Leibe zu rücken. Techniken“ betrachteten. Dagegen lehnten sie festzustellen.16 Sebastian Abratzky im Jahr 1848 dürften diese Im Elbsandsteingebirge wurde die konsequen­ den Einsatz von Leitern, Fixseilen oder Mauerha­ Bezüglich der Frühzeit des Kletterns in Sachsen Tradition jedoch kaum begründet haben. Solche te Limitierung von künstlichen Hilfsmitteln erst Taten, die ihrer Zeit voraus waren, gab es in vielen ken sowie das Schlagen von Stufen ins Gestein sind noch weitere Untersuchungen notwendig, um zehn Jahre später von Arymund Fehrmann öffent­ Felsgebieten. So hatte auch die Begehung des aus tiefster Überzeugung ab. schwierigen und moralisch anspruchsvollen lich propagiert und von dessen Bruder Rudolf von 14 Zitiert nach: Dietrich Hasse: Wiege des Freiklet- Verbindungsgrates vom Katzenkopf zur Mittleren 1913 an durchgesetzt. Rudolf Fehrmann begann terns – sächsische Marksteine im weltweiten Jägerkarspitze (Karwendel) im Alleingang durch 1903 mit dem Klettern – also drei Jahre nach der Alpinsport bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Hermann von Barth im Jahr 1870 keine unmittel- ersten sportlich einwandfreien Erkletterung des 13 Eugen Guido Lammer: Die Zsigmondy-Spitze München 2000, S. 50. bare Wirkung auf das klettersportliche Verhalten (3030 m), OeAZ 25. 12. 1891, S. 313–318, hier 15 Vgl. Hasse 2000, S. 56. seiner Zeitgenossen, mag aber durch ihr Vorbild S. 315. 16 Ebd. die Entwicklung langfristig beeinflusst haben. 18 OeAZ 567 1900, S. 247–248, S. 248.

152 | BergSteigen BergSteigen | 153 Schlüsselstelle zwei Ringe zur Sicherung in Felsrit­ Preuß handelte gezielt: Am 24. Juli durchstieg zen getrieben wurden. Zufrieden mit seiner Leis­ er im ungesicherten Alleingang die Piazführe in tung, beurteilte Fehrmann seinen Nordwandweg der Totenkirchl-Westwand, vier Tage später ge­ an der Kleinen Zinne: Die klettertechnischen lang dem Überflieger – ebenfalls free solo – die Schwierigkeiten sind meinem und meines Freundes Erstbegehung der lotrechten Ostwand des Cam­ Empfinden nach die bedeutendsten, auf die wir bis- panile Basso in den Brenta-Dolomiten mit freiem her in den Alpen gestoßen sind.19 Der Stolz war be­ Abstieg über den kniffeligen Normalweg, der üb­ rechtigt: Schwierigeres dürfte damals im Alpen­ licherweise mit Hakensicherung erstiegen wurde. raum nicht geklettert worden sein. Es folgte eine für seine Zeit einmalige Serie Das sollte sich schon wenige Monate später schwierigster Felsfahrten, die Preuß im Oktober ändern. Nämlich mit der Ersteigung der West­ mit einer hakenfreien Begehung der gefürchteten wand des Totenkirchls durch Tita Piaz, Josef Klam­ Ödstein-Nordwestkante im Gesäuse abschloss. mer, Rudolf Schietzold und Franz Schroffenegger. Dieser kurz zuvor von dem bedeutenden Dolomi­ Dabei dürften erstmals im Hochgebirge Schwie­ tenführer Angelo Dibona eröffnete Kletterweg rigkeiten im Bereich des sechsten Grades geklet­ war die einzige Route in den Wiener Hausbergen, tert worden sein. Auch bei diesem Durchstieg deren Schwierigkeit an das inzwischen im Wilden wurden Haken zur Sicherung eingesetzt. Und – Kaiser erreichte Niveau heranreichte. nebenbei gesagt – auch die Technik des Schulter- Was Preuß mit diesen „Argumenten der Tat“ und Kopfstandes (Piaz stieg Schietzold aufs zum Ausdruck bringen wollte, war klar: Wenn die Haupt).20 schwersten Touren in den Ostalpen gänzlich ohne Rudolf Fehrmann (oben) künstliche Hilfsmittel geklettert werden konnten, und Oliver Perry-Smith Paul Preuß, der Mauerhakenstreit und dann waren damit solche Behelfe in leichteren (unten) waren vor dem die Fehrmann’schen Kletterregeln Routen ad absurdum geführt. Parallel zu seinen Ersten Weltkrieg das führende Team im Der Piazweg durch die Totenkirchl-West blieb im­ Fakten schaffenden Aktionen startete Preuß mit Elbsandsteingebirge. merhin rund drei Jahre lang das Maß aller Dinge in seiner Kampfschrift „Künstliche Hilfsmittel auf Ihnen gelang 1908 die den Ostalpen. Und es ist kein Zufall, dass Paul Hochtouren“, die im August 1911 in der Deut­ Erstbegehung der Südwestverschneidung Dent du Géant und 23 Jahre nach Mummerys für Preuß im Jahr 1911 genau diese Route auswählte, schen Alpenzeitung veröffentlicht wurde, seine misse einzugehen. So erklärte sich Hans Dülfer des Campanile Basso die Entwicklung der Sportethik des Kletterns so um seine Forderung nach stilreinem Klettern alpinideologische Offensive. Nachdem sich die zwar zum Anhänger der Preuß’schen Lehre, was (Guglia di Brenta). Die wichtigem Verzicht. Zusammen mit dem Amerika­ durch ein Argument der Tat zu untermauern. Als Alpenvereinssektion Bayerland am 31. Januar ihn aber nicht daran hinderte, auch mal in Eisen Ostwand dieses markanten Felsturms ner Oliver Perry-Smith bildete Fehrmann von 1905 Preuß im Sommer 1911 im Wilden Kaiser auf­ 1912 unter der Leitung von Georg Leuchs auf ei­ und Manilahanf zu greifen, wenn es anders nicht (rechts) wurde 1911 von an eine der kreativsten Seilschaften des Elbsand­ kreuzte, scheint es ihm ein Anliegen gewesen zu nem „Sprechabend“ um die Schlichtung des Mau­ weitergehen wollte. Siehe die Seilquergänge in Paul Preuß (Seite 155, steingebirges, der eine Vielzahl an Erstlingsfahr­ sein, deutlich zu machen, was es hieß, wirklich auf erhakenstreits bemüht hatte (mit Preuß als Haupt­ seiner Fleischbank-Ostwand oder in der Dülfer­ Mitte) free solo erstbe- gangen. ten im Elbsandsteingebirge gelang, von denen künstliche Hilfsmittel zu verzichten. referent und Hans Dülfer als Protokollführer), wur­ route an der Totenkirchl-Westwand. Rudolf Schietzold, Franz © Archiv des DAV, München einige mit dem UIAA-Grad VI zu bewerten sind. Denn nach und nach war der Einsatz von Ha­ de die Frage der künstlichen Hilfsmittel zum The­ Aber auch wenn nicht jedermann bereit war, in Schroffenegger, Josef Am 27. September 1908 durchstieg die Seil­ ken – wenn auch ausschließlich zur Sicherung – ma Numero eins in der Szene. der Praxis der reinen Preuß’schen Lehre zu folgen, Klammer und Tita Piaz schaft unter der Führung von Perry-Smith die immer hoffähiger geworden. Bereits Ampferer Die Preuß’sche Forderung, Haken nur zur Ret­ so bewirkte die Ethik-Offensive des Klettergenies 1908 in Heldenpose nach der Erstbegehung der Südwestverschneidung des Campanile Basso in und Berger hatten sie 1899 am Campanile Basso tung aus einer lebensbedrohlichen Situation und doch, dass das freie Klettern als Ideal erhalten Totenkirchl-Westwand der Brenta, die seitdem fälschlicherweise als „Fehr­ ganz selbstverständlich eingesetzt. Auch Tita Piaz nicht als Basis einer Arbeitsmethode einzusetzen, blieb und dass praktisch alle Erschließer neuer (oben rechts). mannverschneidung“ bekannt ist. Nicht umsonst und sein Kollege Angelo Dibona fanden nichts da­ fand viel Zustimmung. Kein Wunder! Denn der Wege versuchten, mit einem Minimum an Haken In der Direkten Toten- machte Fehrmann diese wichtige Erstbegehung bei, einen Ringhaken in den Fels zu dreschen, von Preuß geforderte Verzicht auf jegliche künstli­ und Seilmanövern auszukommen. So setzte Hans kirchl-Westwand (links) in der Österreichischen Alpenzeitung bekannt, wenn es ihnen zu gefährlich wurde. Es dürfte chen Hilfsmittel war schließlich die konsequente Dülfer bei der Solo-Erstbegehung des nach ihm setzte Hans Dülfer (rechts unten) Haken zur dem Publikationsorgan der Wiener Schule: Der kaum ein Zufall gewesen sein, dass sich Preuß Umsetzung des von Lammer und seinen Freun­ benannten Risses zwischen Christaturm und Fortbewegung ein. sächsische Felsmann wusste genau, wo damals im ausgerechnet die Prüfstücke seiner ideologischen den bereits ein Vierteljahrhundert zuvor propa­ Fleischbank ganze zwei (!) Haken ein. Der erste, © Archiv des DAV, München ostalpinen Klettern die Musik spielte. Widersacher vorknöpfte, als er 1911 zum Rund­ gierten Prinzips Alle Trümpfe dir, mein Berg. Mir al- der sie nach ihm klinken sollte, war mehr als zehn (links), Laternbildsamm- lung, Archiv des ÖAV, Wenig später erkletterte das amerikanisch- schlag ausholte. lein die Kraft. Und damit konnten sich die meisten Jahre später ein gewisser Fritz Wiessner aus Dres­ Innsbruck sächsische Team erstmals die Nordwand der Klei­ im Geist der Wiener Schule sozialisierten ostalpi­ den. Von seiner Felsheimat an der Elbe war Wiess­ nen Zinne in den Sextener Dolomiten – die heute nen Spitzenleute voll und ganz identifizieren. Zu­ ner gewohnt, sich beim Klettern auf die eigenen 19 Hasse 2000, S. 145. mit V+ (UIAA) bewertet wird –, wobei in Anbe­ 20 Vgl. Fritz Schmitt: Das Buch vom Wilden Kaiser, mindest in der Theorie. In der Praxis waren einige Fähigkeiten zu verlassen. Dafür hatte nicht zuletzt tracht der erheblichen Schwierigkeiten an der München 1942, S. 243. der führenden Kletterer jedoch bereit, Kompro­ Rudolf Fehrmann im Jahr 1913 durch die Formu­

154 | BergSteigen BergSteigen | 155 Die Achse Wien – London und die auch beeinflusst! Unter dem Stichwort „Mountai­ britische Schule des Freikletterns neering without Guides“ machte das Londoner Die Wiener und die Sachsen waren jedoch nicht „Alpine Journal” im November 1884 das Treiben die Einzigen, die sich über Fragen der alpinen der jungen Österreicher um Zsigmondy und Lam­ Sportethik intensiv Gedanken machten. Der engli­ mer international bekannt, denen die Monte-Ro­ sche Alpinist Albert Frederick Mummery mit sei­ sa-Ostwand, die Überschreitung des , nem „absolutely inaccessible by fair means“ wur­ das Zinalrothorn, das Zermatter Weißhorn sowie de bereits erwähnt. Was Mummery unter „fair das Bietschhorn auf neuem Weg gelungen waren ­means“ verstand, machte er in einem Vortrag über – alles ohne Führer.23 Im Folgejahr veröffentlichte die Beinahe-Erstersteigung der Aiguilles des das Organ des Londoner Alpine Club eine lange Grands Charmoz deutlich, den er am 3. Mai 1892 Liste von Erfolgen der Lammertruppe. Der Bericht beim altehrwürdigen Alpine Club in London vor­ endete mit dem Statement: Es dürfte heute kaum trug. Venetz wurde ohne zu zögern auf Burgeners noch einen bedeutenden Gipfel geben, der nicht Schultern gehievt. (…) Der verachtete Herr musste schon führerlos erstiegen wurde.24 The Alpine Jour­ dann dafür herhalten, diese Leiter zu verlängern, nal vom August 1890 enthält eine ausgesprochen wodurch Venetz einen schwach ausgeprägten Griff positive Beurteilung des Treibens der Wiener Füh­ zu fassen bekam und schließlich den Gipfel erreichen rerlosen: Es [das führerlose Bergsteigen, Anm. d. konnte.21 Bauen im sächsischen Stil war für den Verf.] ist bei weitem die erfreulichste Art des Klet- Engländer offenbar Fairplay. Und er hatte auch terns; es kann als die höherwertige Form des Sports nichts dagegen einzuwenden, als Burgener im eingestuft werden, so wie es beim Hochseesegeln sige Amateur stand zum professionellen Bergführer Abstieg am Doppelseil in die Tiefe schwebte. schwieriger und faszinierender ist, die Segel selbst zu in einem ähnlichen Verhältnis wie der Scharfschütze Weiter unten, in einem vereisten Couloir kam es bedienen und dein Boot selbst zu steuern, als wenn mit einer Rifle zum Manne mit dem Steinbeil.26 Ganz zur ethischen Debatte über den Einsatz von mitge­ du es vom besten Fachmann der Welt segeln lässt.25 gleich, ob dieses Urteil korrekt ist oder nicht: Es führten Holzkeilen zur Verankerung des Abseil­ Es fällt auf, dass Mummerys bedeutende führerlo­ wirft ein Schlaglicht auf das nicht eben unterent­ stricks: Jemand warf die Frage auf, ob der Einsatz se Unternehmungen 1892 mit der Ersteigung der wickelte Selbstbewusstsein der jungen Wilden un­ solcher Keile nicht einem Kniefall vor dem Abgott Grands Charmoz im Mont-Blanc-Gebiet begin­ ter den britischen Bergsteigern der 1890er-Jahre. Baal gleichkäme und damit der erste Schritt auf dem nen. Der zeitliche Zusammenhang mit der zitier­ Crowley hatte dazu auch allen Grund: Ihm wa­ Am 3. September 1913 stieg Hans Dülfer im Weg ins Verderben sei, der mit einer unauflösbaren ten Besprechung in The Alpine Journal ist bemer­ ren 1894 einige spektakuläre Erstbegehungen an Alleingang durch den lierung von Kletterregeln gesorgt, die sicherstell­ Vermengung der Kunst des Bergsteigens mit jener des kenswert, ob ein inhaltlicher besteht, ist offen. den Kreidefelsen des Beachy Head an der briti­ teilweise überhängenden ten, dass die Wände des Elbsandsteingebirges Turmarbeiters enden würde. Worauf wir einhellig er- Nach Einschätzung des Extremkletterers, Alpi­ schen Kanalküste gelungen. Besonders eindrucks­ Riss zwischen Christa- An der Aiguilles des turm und Fleischbank. nicht mit Haken vollgepflastert wurden. klärten, dass die Charmoz keinesfalls durch fixe Holz- nisten und Schwarzmagiers Aleister Crowley hat­ voll muss die erste Seillänge des „Cuillin Crack“ Grands Charmoz (oben) © Archiv des DAV, München Diese Regeln waren vor dem Hintergrund des keile entweiht werden dürfte. Wir fanden eine unsi- ten die Führerlosen im Laufe der 1890er-Jahre den gewesen sein. Der erste Wiederholer dieser Länge reflektierte Albert voll entbrannten Mauerhakenstreits formuliert chere Felsknolle, um die wir das Doppelseil schlan- Bergführern gar den Rang abgelaufen: Mummery, war in den frühen 1980er-Jahren der bekannte Frederick Mummery (unten) über das Für und 22 worden. Wie Preuß, so forderte auch Fehrmann gen, an welchem sich Venetz hinabgleiten ließ. Collie und Hastings aus England, zusammen mit Londoner Extremkletterer und Alpinist Mick Fow­ Wider von künstlichen den Verzicht auf künstliche Hilfsmittel, definierte Wohlgemerkt: Das geschah am 15. Juli 1880. Eckenstein und einem oder zwei kleineren Lichtern ler, der sie mit britisch 5a, also UIAA 6/6+ einstuf­ Hilfsmitteln. diese aber grundsätzlich anders als die Wiener: Also zwanzig Jahre vor der ersten Clean-Free-Bege­ auf der einen Seite und Purtscheller, Blodig und ande- te. Crowley hatte diese 30-Meter-Länge gänzlich © Archiv des DAV, München (oben), Laternbildsamm- Gemäß den in der Sächsischen Schweiz gültigen hung des Dent du Géant und mehr als dreißig Jah­ re aus Deutschland waren dabei, einen vollkommen ohne Sicherung vorgestiegen. Am Ausstieg – ei­ lung, Archiv des ÖAV, Regeln gelten die zur Sicherung in den Fels gedü­ re vor den Preuß’schen Thesen! Mummerys Den­ neuen Standard des Alpinbergsteigens zu etablieren. ner zu viktorianischen Zeiten noch unabsicherba­ Innsbruck (unten) belten Ringe nicht als künstliche Hilfsmittel. Für ken und Wirken wurden in Wien sehr wohl wahr­ Es waren Männer von Bildung und Intelligenz; sie ren englischen 5b (7– /7) – hatte sich Crowley ein Paul Preuß wäre das Bohren eines Loches in den genommen. Eugen Guido Lammer konnte ausge­ hatten die physikalische Theorie der Bedingungen Seil zuwerfen lassen, weshalb er den „Cuillin Fels einer Kletterroute, um einen Eisenring einzu­ zeichnet Englisch und äußerte wiederholt seinen am Berg studiert; sie hatten Techniken entwickelt, um Crack“ auch nie für sich reklamierte.27 bleien, eine geradezu frevelhafte Baumaßnahme tiefen Respekt vor dem britischen Sportsgeist. mit diesen Bedingungen situationsentsprechend um- Auch sonst nahm es Crowley in Sachen Kletter­ gewesen. Aber auch in anderer Richtung war man beein­ zugehen. Sie führten Bergfahrten durch, von denen ethik recht genau: 1896 hatte der walisische Klet­ Fehrmanns Sprachregelung hatte wohl ihre druckt – und man wurde höchstwahrscheinlich kein alpiner Bergführer geträumt hätte. Der erstklas- terer Owen Glynne Jones den rund 20 Meter ho­ guten Gründe: Die in den Fels gedübelten Ringe können als sinnvolles Zugeständnis gewertet wer­ 23 Vgl. The Alpine Journal XII, 1886, S. 128 f. 21 Albert F. Mummery: The Aiguilles des Charmoz 24 The Alpine Journal XII, 1886, S. 424. Übersetzung 26 Aleister Crowley: The Confessions of Aleister den an die Weichheit des sächsischen Sandsteins and de (sic!) Grépon, The Alpine Journal XVI, 1893. NM. Crowley, London 1929, S. 121. Übersetzung NM. unter seiner verfestigten Oberfläche sowie an die Übersetzung NM. 25 The Alpine Journal XV, February 1890 to Novem- 27 Vgl. Mick Fowler: Vertical Pleasure, Seattle, 1995, Schwierigkeit der dort begangenen Wege. 22 Ebd. S. 165. Übersetzung NM. ber 1891, S. 229. Übersetzung NM. S. 75 ff.

156 | BergSteigen BergSteigen | 157 hen „Kern Knotts Crack“ im nordenglischen Lake die Ostwand des Tryfan auf einer neuen schwieri­ In den genannten Kletterregionen dienten an­ „Insider“ – verdeutlicht die Einstellung dieser District (UIAA 5+/6–) toprope erstbegangen und gen Route, die heute „ Climb“ genannt fänglich Zacken- und Klemmblockschlingen so­ Schule zum Mauerhaken: Der Wiener Bergsteiger dabei auch noch „gebaut“ und einen Eispickel zu wird. Trotz der Aufforderung einheimischer Klet­ wie ab 1926 in Risse platzierte Steine den Aktiven verwendet Haken nur zur Sicherung und höchstens Hilfe genommen. Dann hatte Crowley in dem Riss terer, dies zu unterlassen, schlug der Vorsteiger zur Sicherung beim Vorstieg. Ab Mitte der 1950er- zum Abseilen. Auch wir aus der älteren Zeit trugen einen Klemmblock versenkt, ihn zur Fortbewe­ Teufel zwei Haken, von denen einer im Fels blieb. Jahre kamen mit Reepschnurschlingen versehene bei Neutouren zwei bis drei Haken und Karabiner gung hergenommen und seine Tat im Routen­ Das ließen die Engländer nicht lange auf sich sit­ Schraubenmuttern zum Einsatz, später auch spe­ vorsintflutlicher Form und beträchtlichen Gewichtes buch der Climbing Pub dokumentiert. Er berichtet zen: Der britische Spitzenmann Wilfrid Noyce ent­ ziell gefertigte Metallkeile – bis 1961 der klettern­ und später auch einen Hammer mit, doch ließen wir weiter: … und am nächsten Tag folgte ein Mann fernte das frevelhafte Eisenteil und kletterte den de Schmied John Brailsford aus Sheffield die erste diese Dinge lieber ungebraucht. Erst nach dem Krie- namens H. V. Reade – möglicherweise etwas skep- Weg „clean“.30 Die Ordnung in „good old England“ Serie von Klemmkeilen produzierte.33 Haken gal­ ge sind im Gesäuse einige gefährliche Stellen auf al- tisch gestimmt – in meinen Fußstapfen. Er fand mei- war wiederhergestellt, und der alpinsportliche ten und gelten beim britischen „Trad-Climbing“ ten Wegen und ein neuer Anstieg mit Haken verun- nen verklemmten Block, schmiss ihn voll Verachtung Historienschatz auf der Insel um ein Epos reicher. als „not Cricket“ – sportlich unakzeptabel. Die staltet worden. Diese Zeugen eines sportlichen Fort- in die Tiefe, kletterte die Seillänge ohne und vermerk- spartanische englische Ethik war nicht nur für den schrittes, aber auch eines bergsteigerischen Verfalles 28 34 Eduard Pichl – bedeuten- te das im Routenbuch. So streng waren die Sitten Verzicht auf künstliche Hilfsmittel – Klettersport im gesamten Vereinigten Königreich sollten wieder entfernt werden. der Bergsteiger und bereits 1896 im nordenglischen Lake District! nur graue Theorie? bestimmend, sondern prägte auch das Felsgehen Es steht außer Frage, dass die von Pichl darge­ militanter Antisemit. Der Austausch zwischen den führenden Berg­ Der erste dokumentierte „Free Climb“ im Elbsand­ in den britischen Überseekolonien und im Osten stellte Einstellung der Wiener zum Mauerhaken in © Archiv des DAV, München steigern in London und Wien beschränkte sich steingebirge war die der Steilwand des König­ der USA. der Frühzeit des kontinentaleuropäischen Kletter­ nicht auf die gegenseitige Würdigung. Von ihren steins durch Sebastian Abratzky im Jahr 1848. Otto Britische Spitzenbergsteiger wie George Mal­ sports die Entwicklung im gesamten Alpenraum Aufenthalten in Zermatt kannten sich die Herren Ewald Ufer aus Pirna und H. Frick bestiegen 1874 lory, Joe Brown, Don Whillans, Chris Bonington, maßgeblich beeinflusste. Neufahrten wie Admon­ auch persönlich. Brückenbauer zwischen den bei­ den Ostweg am Mönchstein ebenfalls unter Ver­ Dougal Haston, Doug Scott, Stephen Venables ter Reichenstein-Nordwand (Friedmann/Zsig­ den Zentren des Bergsports war Oscar Eckenstein, zicht auf künstliche Hilfsmittel. Oft wurde damals und Mick Fowler haben sich ihre Sporen an den mondy 1884), Fünffingerspitze Schmittkamin dessen aus Bonn stammende jüdische Familie jedoch noch unbedenklich mit Eisenspreizen, Lei­ Crags und Cliffs und in den Gullies des United (Schmitt/Santner 1890), Hochtor-Nordwand (Kei­ aufgrund der Demokraten-Verfolgung von 1848 tern, gehauenen Stufen und Holzkeilen gearbei­ Kingdom verdient, ehe sie in den Weltbergen ihre del/Maischberger/Pfannl/Wessely 1896), Erstbe­ Oscar Eckenstein (oben) nach London ausgewichen war. Im Jahr 1902 or­ tet. Weitere Ansätze, sich von den leidigen künstli­ unauslöschlichen Spuren hinterließen. Die Erstbe­ steigung Campanile Basso (Ampferer/Berger ist heute wegen der von ganisierte Eckenstein eine Expedition zum K2, an chen Hilfsmitteln zu emanzipieren, gehen laut Ru­ steigungen von Mount Everest, Kangchenjunga, 1899), 1. hakenfreie Begehung Große Ödstein- ihm propagierten Vertikalzacken-Steig­ der zusammen mit Eckenstein und Crowley auch dolf Fehrmann auf Hugo Kurze, Adolf Matthäi und Ogre und dem Großen Trangoturm durch briti­ Nordkante (Preuß/Relly 1911), Laliderer-Nord­ eisentechnik bekannt, die Bergsteiger Pfannl aus Wien und Wessely aus Begleiter zurück.31 Aber erst Oscar Schuster führte sche Teams sind genauso wenig ein Zufall wie die wand (Dibona/Mayer/Rizzi, 1911), Mitterkaiser- sein Bergfreund Aleister Linz teilnahmen. Zehn Jahre danach war es Oscar nach 1890 die Wende herbei hin zum immer kon­ Erstbegehungen des Freneypfeilers am Mont Nordgipfel Nordschlucht (Preuß im Alleingang Crowley als der okkultis- tische Bürgerschreck Eckenstein, der durch die Vermittlung von Karl sequenter durchgehaltenen Verzicht auf die Blanc, der Everest-Südwestwand und der Anna­ 1913) und die bereits erwähnte erste freie Bestei­ „Beast 666“. Blodig aus Bregenz den Felsspezialisten Paul künstlichen Hilfsmittel. Es sollte jedoch bis in die purna-Südwand. Diese Taten stehen ebenso im gung des Dent du Géant (Maischberger,/Pfannl/ © Wikipedia Preuß in die Kunst des Westalpenbergsteigens 1920er-Jahre dauern, dass sich diese Haltung in unmittelbaren Zusammenhang mit der inzwi­ Zimmer 1900) – um nur eine kleine Auswahl zu einführte. Es bestand also eine ausgeprägte alpin­ der Sächsischen Schweiz durchsetzen konnte. schen mehr als 130-jährigen Freiklettertradition nennen – sind alles richtungsweisende Leistun­ kulturelle Achse zwischen London und Wien, die Das „Clean Climbing“ auf den Britischen Inseln auf der Insel wie die mental und technisch äußerst gen.35 durch hundertprozentige Übereinstimmung in geht auf die frühen 1880er-Jahre zurück und wur­ anspruchsvollen modernen Trad-Climbs im High- Bis zum Ersten Weltkrieg gab die Wiener Schu­ Fragen der Kletterethik gekennzeichnet war. de bis in die 1950er-Jahre in allen britischen Klet­ End-Bereich. le in den Ostalpen den Ton an.36 Und es gibt zahl­ Während die Wiener in den 1930er-Jahren vor tergebieten lupenrein praktiziert – an der Südküs­ Ebenfalls kein „Gedanke mit relativ geringer reiche belastbare Hinweise darauf, dass das säch­ der übermächtigen Münchner Schule in die Knie te, in Wales, an den Gritstone-Massiven in Derby­ Wirkung“ war die von Lammer und seinen Wiener sische Klettern damals kein abgetrenntes Eigenle­ gingen, blieb der gänzliche Verzicht auf Haken in shire und Yorkshire, im Lake District, in den schotti­ Freunden vertretene Ablehnung der künstlichen ben führte, sondern mit dem ostalpinen Bergstei­ England bis in die Zeit nach dem Zweiten Welt­ schen Highlands und auf der Isle of Skye. Es trifft Hilfsmittel. Vielmehr bestimmte diese ethische gen außerordentlich eng verbunden war. krieg ein fest etabliertes Prinzip, das eisern vertei­ also nicht zu, dass die außerhalb der Sächsischen Vorgabe ab etwa 1884 die klettersportliche Er­ digt wurde. Das bekamen auch einige Münchner Schweiz (und damit auch in England) propagierten schließung in der Rax, am Schneeberg, im Gesäu­ 34 Eduard Pichl: Wiens Bergsteigertum, Wien 1927, Kletterer zu spüren, die im Sommer 1936 im Lake Gedanken zum möglichst hilfsmittelfreien Klettern se, im Dachsteingebirge und in den Julischen Al­ S. 154 f. District und in den walisischen Bergen zu Gast wa­ … in all der Zeit relativ geringe Wirkung erzielten …32. pen – um nur die wichtigsten Gebirgsstöcke „un­ 35 Vgl. Robert Hans Schmitt: Fünffingerspitze, OeAZ 5. 9. 1890, S. 215/216; Karl Berger: Erste Ersteigung ren.29 Am 1. Juli des Jahres durchstiegen Hans Teu­ ter Wiener Hoheit“ aufzuführen. Eduard Pichl – des Campanile Basso, OeAZ 26. 4. 1900, fel, Max Sedlmayr und ihr Gastgeber J. R. Jenkins 30 Vgl. Ronald W. Clark und Edward C. Pyatt: trotz seiner persönlichen Widerwärtigkeit als S. 100–104; Paul Preuß: Die Nordkante des Großen in Britain, London 1957, S. 181. aktiver Antisemit doch ein kenntnisreicher Wiener Ödsteins, in: Reinhold Messner: Freiklettern mit 28 Aleister Crowley: The Confessions of Aleister 31 Vgl. Rudolf Fehrmann: Geschichte des Bergstei- Paul Preuß, München, Wien, Zürich 1986, Crowley, New York 1971, S. 71. Übersetzung NM. gens im Elbsandsteingebirge, zitiert nach Hasse S. 97–101; Luis Trenker: Angelo Dibona, in: Der 29 Vgl. Englische Reise der Sektion Bayerland des 2000, S. 127–137, hier S. 130. 33 Vgl. Stéphane Pennequin: Nuts’ Story: 2001, a Nut Bergsteiger 12 1976, S. 734–736. DuÖAV, 27. Jahresbericht 1937, S. 28–29; Der 32 Schreiben von Dietrich Hasse an Walter Welsch Odyssey, www.needlesports.com/NeedleSports/ 36 Vgl. Pichl 1927 und Josef Hasitschka, Ernst Kren, Bayerländer, 53. Heft, München 1936, S. 5–11. vom 19. 12. 2014. nutsmuseum/nutsstory.htm am 6. 2. 2015. Adolf Mokrejs: Gesäuse-Pioniere, Alland 2008.

158 | BergSteigen BergSteigen | 159 Dem Delagoturm (links) „Hakenkletterer“ wie Herzog, Fiechtl und Dülfer Standings fanden diese Regeln mit der Zeit in der rückten die Kletterer der galten im ostalpinen Mainstream vor dem Ersten Sächsischen Schweiz sowie in den benachbarten Wiener Schule vor dem Weltkrieg als Abweichler. Keiner von ihnen melde­ böhmischen Sandsteinrevieren allgemeine Aner­ Ersten Weltkrieg hakenlos zu Leibe. Auch te sich beim Mauerhakenstreit zu Wort. Der wurde kennung. die 1920 von Gunther nur zwischen Leuten ausgetragen, die wie Preuß Die allgemeine Akzeptanz des Verzichts auf Langes und Erwin Merlet den Haken (zumindest theoretisch) grundsätzlich künstliche Hilfsmittel zur Fortbewegung in Sach­ erstbegangene „Schleier- ablehnten, und anderen, die den Haken in mehr sen erfolgte also erst zu einer Zeit, als sich die Ak­ kante“ an der Cima della Madonna (rechts) war oder weniger großem Umfang zur Sicherung zu­ tiven in der Einflusssphäre der Wiener Schule und ursprünglich eine kühn lassen wollten.37 Die Befürwortung des Hakens in England bereits seit Jahrzehnten auf allgemein­ abgesicherte Freiklette- zur Fortbewegung begann sich erst nach dem Ers­ gültige Normen für die Ausübung des Kletter­ rei. © Laternbildsammlung, Archiv ten Weltkrieg im Ostalpenraum zu verbreiten und sports geeinigt hatten. des ÖAV, Innsbruck; Archiv „hoffähig“ zu werden. Die Frage, wo der Freiklettergedanke erstmals des DAV, München Bis 1910 waren sich die führenden Kletterer in entwickelt wurde, bedarf einer differenzierten Be­ den Ostalpen hinsichtlich der Ablehnung des Ha­ antwortung. Da die Spitzenleute in den Ostalpen kens zur Fortbewegung einig. Ihre englischen bewusst auf Haken, Fixseile und in den Fels ge­ Bergfreunde gingen noch weiter und lehnten den meißelte Stufen verzichteten, wurden die schwie­ Haken grundsätzlich ab. In beiden Fällen herrsch­ rigsten Schlüsselstellen der frühen ostalpinen te ein Konsens, welcher eine schriftliche Fixierung Klettergeschichte – der Winklerriss an der Cima der Regeln überflüssig machte. Eine ähnliche Mei­ della Madonna (1886)41, der Schmittkamin an der nungsgleichheit hatte sich im Elbsandsteingebir­ Fünffingerspitze (1890)42 und der Pichlriss am De­ ge zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun­ lagoturm (1899)43 – im Preuß’schen Sinne frei erst­ dert noch nicht entwickelt.38 Selbst nach Druckle­ begangen. Zu jener Zeit waren aber der Seilwurf gung des Fehrmann‘schen Führers im Jahr 1908 und der Schrägzug mit dem Seil gängige, wenn gab es in der sächsischen Erschließerszene keine auch seltene Praxis, da – wie bereits erwähnt – das einheitliche Meinung in sportethischer Hinsicht. Seil nach dem Verständnis der Wiener Schule zu So bestiegen Perry, Hünig, Hoyer und Henning am den „usuellen Bergsteiger-Utensilien“ zählte, wel­ der Meinung von Paul Preuß unzulässige Einsatz Schulen streng genommen als – wenn auch hoch­ 11. Oktober 1908 den Hauptdrilling mit künstli­ ches der Bergsteiger auch erfindungsreich zur von künstlichen Hilfsmitteln löste höchstwahr­ entwickelte – Vorformen des heutigen Freiklet­ chem Bauen.39 In seinen „Vorbemerkungen“ zum Fortbewegung benutzen durfte.44 Erst ab 1899 scheinlich den Mauerhakenstreit aus. Zu dem von terns bezeichnet werden. Kletterführer-Nachtrag von 1913 machte Fehr­ begannen die ostalpinen Spitzenkletterer mit Preuß propagierten gänzlichen Verzicht auf die In weitgehender Reinkultur konnte sich der mann deutlich, es sei … nicht zu verhehlen, dass größter Zurückhaltung Haken zur Sicherung und künstlichen Hilfsmittel war jedoch in Kontinental­ von Preuß gutgeheißene Stil – das Freiklettern die Erstbesteiger zum großen Teil (…) in der Wahl der zum Abseilen einzusetzen. In wenigen Fällen – europa außer Preuß selbst kaum jemand bereit. ohne Zuhilfenahme von Haken zur Sicherung und Mittel immer bedenkenloser geworden sind. Ich z. B. durch Adolf Schulze und Oscar Schuster 1903 Zusammengefasst: Sowohl beim Klettern im Fortbewegung – nur auf den Britischen Inseln habe geglaubt, dieser Richtung nicht folgen zu dür- bei der Erstbesteigung des Uschba – auch zur Un­ Modus der Wiener Schule als auch gemäß der Pra­ durchsetzen. Allerdings bewirkte der sportethi­ fen, und habe, unbekümmert der Meinung Anders- terstützung durch Schrägzug bei Quergängen45. xis im Elbsandsteingebirge waren die Aktiven zu­ sche Purismus in England, dass das Niveau der auf denkender, alle die Neubesteigungen (…) keiner nä- Als größter „Nagler“ seiner Zeit galt Angelo Dibo­ allermeist freikletternd unterwegs, wobei sie oft den (Britischen Inseln gekletterten Spitzenschwie­ heren Beschreibung gewürdigt, bei denen künstliche na aus Cortina, der als Führer der Brüder Mayer schwierige und bisweilen auch hochriskante Pas­ rigkeiten lange im Bereich des sechsten Grades Hilfsmittel angewendet worden sind.40 Erst durch aus Wien ab 1908 zahlreiche große Wände in den sagen bewältigten. Bei beiden Stilrichtungen war stagnierte. Einer solchen Zurückhaltung unter­ die Formulierung seiner Kletterregeln im Jahr Ost- und Westalpen erstmals durchstieg. Nach ei­ aber der Schulterstand erlaubt. Und bei den „Wie­ warfen sich die kontinentaleuropäischen Kletterer 1913 konnte Fehrmann die von ihm favorisierte gener Aussage setzte er dabei insgesamt 15 (!) Ha­ nern“ galt es als vollkommen in Ordnung, im Be­ nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg griffen die ostal­ Stilrichtung nach und nach etablieren. Also: Die ken ein, wie er selbst anmerkte, „ausschließlich zur darfsfall das „usuelle Bergsteiger-Utensil“ des Pi­ pinen Spitzenleute immer weniger verschämt in sächsischen Kletterregeln wurden gerade wegen Sicherung, nie zum Weiterkommen“ 46. Dieser nach ckels zur Fortbewegung einzusetzen sowie sich Eisen und Manila, während sächsische Kletterer eines fehlenden Konsenses in der lokalen Kletter­ mit Seilwurf und Schrägzug weiterzuhelfen. Die die Möglichkeiten ihrer listig begründeten Me­ szene von Fehrmann formuliert und kraft seiner Sachsen wiederum hatten ihre wohldimensio­ thode ausreizten. 41 Vgl. Erich König (Hsg.): Empor, 1906, S. 33. Persönlichkeit durchgesetzt. Aufgrund seines 42 Vgl. Schmitt: Fünffingerspitze 1890. nierten Bohrhaken schlau als „nichtkünstliche“ Beides hat zweifellos zur Weiterentwicklung 43 Vgl. Eduard Pichl: Eine neue Modetour in den Hilfsmittel definiert. An ihnen konnten sie Stand des Bergsports beigetragen: In den Alpen wurden 37 Vgl. Messner 1986, S. 31–46. Dolomiten, OeAZ 24. 5. 1900, S. 125–133. bauen und sich ausruhen, um Finger- und Ner­ bald Wände durchstiegen, von denen Preuß nicht 38 Rudolf Fehrmann: Der Bergsteiger in der Sächsi- 44 Vgl. Meurer, 1882. venkraft zu tanken für die nächste haarsträuben­ einmal geträumt hätte. Und in Sachsen etablierte schen Schweiz, Dresden 1908, S. 28 ff. 45 Vgl. Stefan Meineke: Ein Leben voll Abenteuer, 39 Vgl. Hasse 2000, S. 114. Alpenvereinsjahrbuch 2001, S. 105. de Passage. Bei aller Achtung vor den erbrachten sich ein Schwierigkeitsniveau, das auf der Welt 40 Zitiert nach Hasse 2000, S. 115. 46 Trenker 1976, S. 734. Leistungen müssen deshalb die Methoden beider jahrzehntelang einzigartig war.

160 | BergSteigen BergSteigen | 161