Inhalt Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005 1

EDITORIAL PULSSCHLAG ...... 2 Strategisches Niemandsland 98 Helmut Martens Institution und soziale Bewegung: Strategi- AKTUELLE ANALYSE ...... sche Herausforderung der Gewerkschaften 5 Gerd Mielke 105 Silke Brauers Auf der Suche nach der Gerechtigkeit Erfahrungswissen Älterer hoch im Kurs – Anmerkungen zur Programmdiskussion der ein internationaler Vergleich SPD in einer Zeit der Identitätskrise 110 Konstantin von Normann THEMENSCHWERPUNKT ...... Die Evolution der Deutschen Tafeln 18 Rudolf Speth / Thomas Leif Eine Studie über eine junge Nonprofit- Thesen zum Workshop Organisation ,Strategiebildung und Strategieblockaden‘ 116 Marius Haberland 20 Rudolf Speth Protest und Vernetzung am Beispiel der Strategiebildung in der Politik ‚Initiative Berliner Sozialforum‘

38 Andrea Nahles TREIBGUT Der Strategiebildungsprozess der SPD ...... 121 Materialien, Notizen, Hinweise 44 Hans-Jürgen Urban Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler LITERATUR Kontexte und Probleme gewerkschaftlicher ...... Strategiebildung 125 Politische Strategieanalyse (Peter H. Feindt, Hamburg) 61 Christiane Zerfaß Strategiebildung in Umbruchzeiten 127 Demokratie ist nicht planbar Das Beispiel DGB (Karin Urich, Mannheim) 68 Uwe Schwarzer Strategieentwicklung wettbewerbs- 128 Die Welt durch erklären orientierter Wohlfahrtsverbände (Stephanie Schmoliner, Flensburg)

76 Gerwin Stöcken 130 Und sie bewegen sich tatsächlich Die strategische Neuausrichtung der AWO (Jens Kastner, Wien) in Deutschland

80 Gerd Billen 132 ANNOTATIONEN ...... Die Strategieentwicklung des NABU 134 AKTUELLE BIBLIOGRAPHIE 85 Stephan Krug ...... Kampagnenstrategie und Strategiebildung 138 ABSTRACTS bei Greenpeace ...... 142 IMPRESSUM 90 Warnfried Dettling ...... Strategiebildung und Strategieblockaden Ein Resümee 2 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Strategisches Niemandsland tegie damit verbunden und die Parteiführung Der lange Weg zur Nachhaltigkeit als scheint auch die Reaktionen der Öffentlichkeit politischer Methode kaum einkalkuliert zu haben. Jedenfalls wird peinlich darauf geachtet, dass für die Regierungs- Strategiefähigkeit ist unter den sich heute politik keine Konsequenzen daraus entstehen. immer schneller ändernden inneren und äuße- Gleiches gilt auch für die Politik der Union, ren Bedingungen für Organisationen wichti- deren politische Konzepte nach Jahren der Op- ger denn je. Es gibt aber in politischen Orga- position auch heute noch eher durch interne nisationen, in Parteien, Regierungen und Ver- Machtkämpfe als durch eine klare und lange bänden kein ausreichendes Bewusstsein für Linie bestimmt zu sein scheinen. Diese mühsa- die Bedeutung sowie kaum einen erkennbaren men Prozesse zeigen, wie kompliziert der Stra- Willen zur Strategiebildung. Vorherrschend ist tegiebildungsprozess ist. Gerade die Parteien ein intuitives Herangehen an Politikentwürfe werden durch die Verlockungen der tagesaktu- und eine Politik des sich Durchwurschtelns ellen betriebenen Taktik beherrscht, denn Feh- (Muddling through). Notwendig aber ist eine lervermeidung und kurzfristige Stimmenmaxi- zukunftsorientierte Politik der ‚langen Lini- mierung scheinen immer noch wichtiger zu sein en‘, wie in Anlehnung an eine These von Matt- als nachhaltige Problemlösungen. hias Machnig formuliert werden kann. Dem Planungs- und Grundsatzabteilungen wer- mächtigen Chor der Vetospieler aus den Inter- den schon seit Jahren ausgedünnt oder erst gar essengruppen müsse durch eine strategisch nicht in die Politikformulierung mit einbezo- angeleitete Politik entgegengetreten werden. gen. Aus dem Zusammenbruch der Planungs- Wenn Politik noch gestalten wolle, bleibe dies euphorie der 70er Jahre wurde nichts gelernt. der einzige Ausweg: Politik müsse strategi- Ein wichtiger Schritt wäre es schon gewesen, scher werden. Eine Politik, die grundlegende die Differenz zwischen Strategiebildung und und drängende Probleme zu lösen hat, muss Planung zu erkennen. von einer durchdachten und langfristig ange- Auch Verbände und Gewerkschaften tun legten Strategie bestimmt sein. sich sichtlich schwer, unter den sich ändern- Doch die Reformpolitik wird gegenwärtig den Umweltbedingungen eine klare Linie zu eher durch Zufälle und Machkonstellationen verfolgen. Das zeigt sich bei den Gewerkschaf- bestimmt. Langfristig angelegte Strategiebil- ten in der gegenwärtigen Diskussion um Ar- dung spielt im politischen Alltagsgeschäft kaum beitszeitverlängerung, Kündigungsschutz und eine Rolle. Strategisches Denken kommt hier den widersprüchlichen Antworten auf die um- nicht zum Zuge. Die fehlende strategische fassenden Angriffe aus dem Unternehmerla- Orientierung zeigte sich beispielsweise im Jahr ger. Eine konsistente Strategie ist bei den Ge- 2002 beim Start der rot-grünen Bundesregie- werkschaften nicht erkennbar. Gerade auch rung in die zweite Legislaturperiode. Erst all- nicht bei den zwischen Radikalität und Anpas- mählich schälte sich nach harten internen Kon- sung schwankenden Aktionen gegen die Agen- flikten und mit der Rede Schröders im Bundes- da 2010 im Jahr 2004.Nach Informationen des tag zur Agenda 2010 eine Richtung heraus, die SWR hat die DGB-Spitze mit Hilfe eines von außen als erkennbare Linie der Regierungs- McKinsey-Beraters in der Studie „Turna- politik zu identifizieren war. Aktuelle werden round!“ die Defizite benannt und Vorschläge die Defizite durch die vom Parteivorsitzenden für eine strategische Neuorientierung gesam- Franz Müntefering losgetretene Kapitalismus- melt. Strukturkrise und Dauerdefensive könn- debatte bestätigt. Es ist keine erkennbare Stra- ten nur überwunden werden, wenn neue Wege Editorial 3

beschritten und die Gewerkschaften sich auf lernenden Organisation erweitertes Strategiever- das Wesentliche konzentrieren würden, lautet ständnis. eine der Thesen. Vielfach wird strategisches Denken mit lang- Auch in anderen Verbänden gibt es unter- fristigem Denken übersetzt. Herangezogen wird schiedlich erfolgreich verlaufende Anpassungs- hierbei die Klage, dass kurzfristiges Denken, in und Strategiebildungsprozesse. Gerade Groß- allen politischen und ökonomischen Bereichen organisationen haben mit Mitgliederverlusten überhand nehmen würde. Strategisches Den- zu kämpfen. In mitgliederbasierten Organisati- ken wäre dagegen Nachhaltigkeit als politische on kann eine strategische Neuorientierung nicht Methode. einfach von oben verordnet werden. Gefragt Der Strategiebegriff umfasst aber mehr als sind Führung in Kombination mit einem strate- nur die zeitliche Dimension zwischen Kurz- und gischen Lernen der Organisation Langfristigkeit. Bei strategischen Fähigkeiten Die Wurzeln des Strategiebegriffs liegen im geht es viel um Logik, Planung und das Erken- Militärischen. Clausewitz und Sun Tsu (chine- nen und Lösen der zentralen Probleme. Im Grun- sischer Philosoph und Militärberater) sind hier de haben wir es mit zwei unterschiedlichen Po- als Gewährsmänner zu nennen. Aber auch Ma- litikbegriffen oder Verständnissen von Politik chiavelli gehört dazu, der gerade nicht Militär zu tun. Die lange dominierende Policy-Orien- war, sondern Berater. Strategie und Taktik sind tierung hat gerade in der Wissenschaft verdeckt, die beiden großen Begriffe, die jedem Militär dass es einen gegnerorientierten Politikbegriff geläufig sind. Während die Taktik die Führung gibt. Bei diesem Modell geht es darum, dass der Gefechte betrifft, kümmert sich, nach Clau- das eigene Handeln immer auch am Handeln sewitz, die Strategie um die Verbindung der des Gegners ausgerichtet wird. Konkurrenz und Gefechte und um die Führung des Krieges sich verändernde Umweltbedingungen stehen insgesamt. Die Strategie hat also das große Ganze beim gegnerorientierten Politikbegriff im Mit- im Auge. Der Strategiebegriff ist wegen seines telpunkt. Sozialen Bewegungen, Gewerkschaf- militärischen Ursprungs innerhalb demokrati- ten und Parteien sowie vielen anderen Organi- scher Politik nicht sehr beliebt. Er hat es auch sationen dürfte dieser Politikbegriff eigentlich deshalb schwer, weil gerade innerhalb von De- bekannt sein. Strategische Orientierung ist da- mokratien die Auffassung vorherrscht, Politik her mehr als Planung, die vor allem in Gestalt folge einer anderen Handlungslogik als Kriegs- der „politischen Planung“ Anfang der 1970er führung. Dieser militärisch inspirierte Strate- Jahre das politische Handeln beherrschte. giebegriff ist vor allem bei externen Beratern, Das Bestreben von Organisationen, strate- bei Planern und bei einer hierarchiebetonten giefähiger zu werden, mündet meist auch in Unternehmensführung beliebt. Einher damit geht Maßnahmen zur Organisationsentwicklung. die Illusion, eine fertige Strategie müsse nur Strategiefähigkeit hängt an bestimmten Voraus- noch umgesetzt, implementiert werden. setzungen, die Organisationen schaffen müs- Viele Organisationen sind anders struktu- sen. Sie ist keine Geheimwissenschaft, sondern riert und nur die wenigsten ausgearbeiteten Stra- hat viel mit analytischen und handwerklichen tegien bleiben bei ihrer Anwendung unverän- Fähigkeiten zu tun. Dabei richtet sich der ver- dert. Zudem besteht zwischen strategischer Steu- gleichende Blick immer wieder auf Unterneh- erung von Politik und Partizipationsansprüchen men, weil dort strategische Unternehmenspla- in demokratischen Organisationen ein schwer nung integraler Bestandteil des Managements auflösbares Spannungsverhältnis. Solche Or- ist. Fraglich ist allerdings, ob politische Orga- ganisationen brauchen ein um den Begriff der nisationen einfach Verfahren von Wirtschafts- 4 Editorial

unternehmen kopieren können. Die Debatte über tegiefähigkeit auch mit Leadership zu tun. Eine Gemeinsamkeiten und Differenzen beginnt erst. politische Führung ist etwas anderes als das Zu den Voraussetzungen in beiden Bereichen heute übliche bonapartistische Verhalten. gehört, dass eine Klarheit über die anzustreben- Grundlage sind Themenmanagement, Respon- den Ziele herrscht, die als eindeutige Botschaf- sivität und Kommunikation von Zielen und ten nach innen und außen kommuniziert wer- Werten. den müssen. Die Beiträge des Themenschwerpunktes Zu den Voraussetzungen gehört weiterhin, gehen zurück auf den Workshop „Strategiebil- dass es in den Organisationen eine Bereitschaft dung und Strategieblockaden“ am 19./20 No- für Strategiebildung und -fähigkeit gibt. Ohne vember 2004 im Sony-Center in . Der einen gewissen Leidensdruck durch Mitglieder- Workshop wurde von Dr. Thomas Leif und Dr. und Einflussverlust, ohne Siegeswillen und Rudolf Speth entwickelt und vom Forschungs- ohne harte Marktkonkurrenz, so sagen Prakti- journal Neue Soziale Bewegungen und der Hans ker, versanden solche Prozesse relativ schnell. Böckler Stiftung in Kooperation mit der IG Strategiefähigkeit hat damit zu tun, dass man Metall und C:MM Connect Media Marketing sich über die Lage der eigenen Organisation im veranstaltet. Das Forschungsjournal dankt al- Klaren ist, ihre Stärken und Schwächen kennt len Veranstaltern, die den Workshop durch ihr und Perspektiven entwickelt. Neben diesen ana- Engagement ermöglicht haben. Unser Dank gilt lytischen Fähigkeiten gehört auch konzeptio- insbesondere den Förderern des Workshops, nelle Gestaltung, formale Planungsprozesse und der Hans Böckler Stiftung und der IG Metall, kooperative Lernprozesse zur Strategiebildung. die das Forschungsjournal durch Abnahme von Hinzu kommen muss die Fähigkeit, in den ent- Kontingenten des vorliegenden Heftes weiter scheidenden Momenten das richtige zu tun. unterstützen. Zur Strategiefähigkeit gehört heute auch ein Rudolf Speth (Berlin), Thomas Leif (Wies- Bewusstsein für die kommunikative Dimensi- baden), Tobias Quednau, (Berlin), Nele Boeh- on der Strategiebildung. Nicht zuletzt hat Stra- me (Berlin) Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005 5

Gerd Mielke

Auf der Suche nach der Gerechtigkeit Anmerkungen zur Programmdiskussion der SPD in einer Zeit der Identitätskrise

1 entwurf auf den Weg gebracht, der in seinen zentralen gesellschaftspolitischen Bausteinen Wenn nicht alles täuscht und wenn sich kein eine deutliche Abkehr von dem bisherigen sozi- Wunder mehr ereignet, wird die SPD wohl die aldemokratischen Politikverständnis bedeutet. kommende Bundestagswahl verlieren. Das Man könnte auch sagen: Die mittelfristige Ope- Ende der rot-grünen Bundesregierung wird den rationalisierung des neuen SPD-Programms, vorläufigen Schlusspunkt einer langen und quä- also die Konkretisierung des philosophisch lenden Serie von sozialdemokratischen Wahl- Gemeinten, liegt bereits vor. Die jetzt in Gang niederlagen bilden, die in der Geschichte der gebrachte Programmdebatte hat eigentlich nur Bundesrepublik ohne Beispiel ist. Acht Jahre den Zweck, für die einzelnen Elemente dieser nach dem triumphalen Wahlsieg der SPD von Reformpolitik ein passendes theoretisches Dach, 1998 wird sich dann nicht nur eine massive ein konzeptionelles Fundament oder, vielleicht Einschwärzung der politischen Landkarte besser noch: einen programmatischen Rahmen Deutschlands vollzogen haben. Stärker noch als nachzuliefern. die Verluste an Mehrheiten, Mandaten und Mit- gliedern in den letzten Jahren wird die Sozial- Die zunächst eher beiläufig formulierte Auf- demokraten die bittere Erkenntnis schmerzen, gabe des programmatischen Nachsitzens scheint im Zuge der so genannten Reformpolitik ihr allerdings unerwartet die Züge eines spannen- traditionelles Selbstverständnis einer auf sozia- den, politisch brisanten Projekts anzunehmen. len Ausgleich und Gerechtigkeit ausgerichteten Ausgelöst hat diese Neubelebung der Pro- politischen Kraft, gewissermaßen ihren Mar- grammdiskussion eine Grundsatzrede des Par- kenkern und zugleich die Grundlage für ihr In- teivorsitzenden Franz Müntefering am 13. April tegrations- und Mobilisierungsvermögen ver- 2005 auf dem 3. Programmforum zum Thema loren zu haben. ‚Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Ge- Dies keineswegs sonderlich pessimistische rechtigkeit‘, die in der SPD, aber auch im wei- Szenario sollte man bei einem Blick auf die jetzt teren öffentlichen Umfeld großes Aufsehen er- in Gang gekommene Programmdebatte der SPD regte. Vor allem die Passagen, in denen sich als perspektivische Rahmenbedingung für den Müntefering dagegen verwahrte, dass die Öko- Diskursverlauf im Auge behalten: Die SPD dis- nomie das „Sozialwesen Mensch … nur in kutiert ihr neues Grundsatzprogramm in einer Funktionen: als Größe in der Produktion, als Atmosphäre nachhaltiger Verunsicherung. Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt“ Dabei findet diese programmatische Standort- einkalkuliere, und die „international wachsende bestimmung überhaupt unter bemerkenswerten Macht des Kapitals“ Müntefering (2005: 5) kri- Begleitumständen statt; denn eigentlich ist – wie tisierte, sowie sein kämpferisches Bekenntnis man im Badischen so schön sagt – ‚der Käs’ zu einem starken und aktiven Staat stifteten Ver- schon gevespert‘. Die deutschen Sozialdemo- wirrung, weil sie in einem deutlichen Gegen- kraten haben ja unter Gerhard Schröder und satz zu dem unternehmerfreundlichen Kurs und Franz Müntefering seit 1999 auf der Ebene des Ton der Bundesregierung, aber auch Müntefe- praktischen Regierungshandelns einen Politik- rings selbst während der letzten Jahre standen1. 6 Gerd Mielke

Sogleich kamen Spekulationen über mögli- Verlauf der politischen Entwicklung gerade der che Hintergründe und Absichten der unerwar- deutschen SPD im Vergleich zu anderen euro- teten Kritik Münteferings auf. Während zunächst päischen Sozialdemokratien zurück2. In zahl- etwa Vertreter des Arbeitnehmerflügels der SPD reichen anderen europäischen sozialdemokrati- die programmatische Rede des Vorsitzenden bit- schen Parteien waren Ende der 1980er, Anfang ter als ‚grotesk‘ abtaten, werteten andere Kom- der 1990er Jahre lange und tief greifende pro- mentatoren Münteferings Rede im Willy-Brandt- grammatische Auseinandersetzungen einem Haus als Versuch, mit einer traditionellen sozi- dann auch praktisch-politischen Neuansatz vor- aldemokratischen Intervention in letzter Minute gelagert. Man nutzte längere Oppositionspha- das drohende Unheil bei der nordrhein-westfä- sen zu dieser Neubestimmung und war dadurch lischen Landtagswahl abzuwenden. Eine dritte imstande, die große Mehrheit der jeweiligen Interpretation schließlich sah in der Kapitalis- Parteimitglieder in die programmatischen muskritik des sozialdemokratischen Parteivor- Schwenks bei der Transformation der europäi- sitzenden vor allem eine Gegenposition zu der schen Sozialdemokratie zu integrieren. Dabei Grundsatzrede des Bundespräsidenten auf dem spielte das Bemühen, die neuen Wege der Sozi- Arbeitgeberforum ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ aldemokratie etwa in Skandinavien, den Nie- in Berlin vom 15.März 2005, in der Horst Köh- derlanden oder England auf bereits vorhandene ler zu einer Fortsetzung, ja Beschleunigung des Traditionen zu beziehen und auch neuartige po- Reformkurses aufgerufen hatte und sich dabei litische Instrumente auf ihre Kompatibilität mit wegen des wie gewohnt überaus wirtschafts- der politischen Kultur zu überprüfen, eine be- freundlichen Duktus seiner Rede harsche Kri- deutsame Rolle. Nicht zuletzt standen am Ende tik aus dem Gewerkschaftslager, aber auch von der jeweiligen Neuorientierungen den innerpar- vereinzelten sozialdemokratischen Vertretern teilich siegreichen Protagonisten der neuen ‚Drit- eingehandelt hatte. Wie auch immer die politi- ten Wege‘ die zurück gedrängten vormaligen schen Beweggründe hinter Münteferings Rede Eliten gewissermaßen als ‚Gegeneliten im War- beschaffen gewesen sein mögen, er intonierte testand‘ und als verbleibende Identifikationsfi- jedenfalls an exponierter Stelle und zu einem guren der eher reformskeptischen Kreise in den exponierten Zeitpunkt genau die Kernelemente Parteien gegenüber. Vor allem jedoch waren die eines traditionellen sozialdemokratischen Poli- anderen europäischen Sozialdemokratien nach tikverständnisses, die man in den vergangenen ihren programmatischen Transformationen mit Jahren in Reden an der Parteispitze kaum noch ihren neuen Politikangeboten in Wahlen erfolg- vernommen hatte. Man kommt nach der Rede reich gewesen; die programmatische Neubesin- des Parteivorsitzenden nicht umhin festzustel- nung hatte sich auch politisch gelohnt. Keiner len, dass die SPD angesichts ihrer niederschmet- dieser Begleitumstände trifft bislang auf die ternden Wahlbilanz und im Blick auf ihre zu- Umorientierung der deutschen Sozialdemokra- künftige Rolle im deutschen Parteiensystem nun tie zu. offensichtlich von der Notwendigkeit einer Die langen Jahre der sozialdemokratischen grundsätzlichen programmatischen Standortbe- Opposition in der Bundesrepublik erbrachten stimmung eingeholt wird. zwar ebenfalls mit dem ‚Berliner Programm‘ von 1989 eine programmatische Erneuerung. Sie reflektierte jedoch wesentlich stärker öko- 2 logische Aspekte und neue Formen der gesell- Diese Notwendigkeit einer nachholenden Stand- schaftlichen Teilhabe als die wachstums- und ortbestimmung geht auf den eigentümlichen arbeitsmarktrelevanten Problembereiche, die die Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 7

Politikentwürfe zu den ‚Dritten Wegen‘ der So- Globalisierung, des demographischen Wandels zialdemokratie in anderen europäischen Ländern oder der bedrohlichen Haushaltslage als Begrün- prägten. Zudem wurden das ‚Berliner Pro- dungen für einschneidende Veränderungen im gramm‘ und sein Gestaltungsanspruch durch gesellschaftspolitischen Bereich ins Spiel ge- die deutsche Vereinigung förmlich überrollt. Eine bracht. Der nahe liegende Einwand, dass eine ernsthafte Aufarbeitung dieser neuen Heraus- jede dieser ins Feld geführten Begründungen forderung, aber auch der sich verschärfenden gleichwohl erhebliche Interpretations- und auch Folgen der Globalisierung und Europäisierung Reaktionsspielräume zulässt und damit sehr fiel weitgehend den fortwährenden Wechseln wohl Gegenstand politisch-programmatischer an der Parteispitze und ihren Auswirkungen auf Diskurse sein sollte, ja, sein müsste, wurde von die innerparteiliche Stabilität und Diskussions- der Parteispitze abgeblockt. bereitschaft zum Opfer. Mit Willy Brandt, Hans- Diese Objektivierungs- und Immunisie- Jochen Vogel, Björn Engholm, dem kurzfristi- rungsstrategie sowohl des Bundeskanzlers als gen kommissarischen Vorsitzenden Johannes auch der Parteispitze insgesamt gegenüber den Rau, Rudolf Scharping und schließlich Oskar Ansätzen eines kritischen Diskurses im Um- Lafontaine hatte die SPD in den 16 Oppositi- feld der SPD erfuhr durch drei, die Agenda – onsjahren zwischen 1982 und 1998 mehr Vor- Politik flankierende Entwicklungen zusätzliche sitzende als in dem Jahrhundert davor. Unterstützung4. Der eigentliche Paradigmenwechsel der deut- Zum einen erweckte die von Gerhard Schrö- schen sozialdemokratischen Politik erfolgte der voran getriebene Verlagerung der zentralen nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines vom Par- gesellschaftspolitischen Problemfelder in den teivorsitz ab dem Sommer 1999 und mit beson- Diskussions- und Entscheidungsraum von Ex- derer Zuspitzung durch die ‚Agenda 2010‘ im pertenkommissionen den Eindruck, als seien die März 2003 durch Gerhard Schröder und Franz Schicksalsfragen der deutschen Gesellschafts- Müntefering aus der Regierungsposition heraus politik in erster Linie sozialtechnologische Op- und gewissermaßen als programmatischer timierungsprobleme, von denen die Nicht-Ex- Putsch von oben. Die Agenda-Politik konnte perten und bloß Betroffenen in ihrer Unkennt- sich dabei weder auf ein bekräftigendes Wäh- nis gefälligst die Finger zu lassen hätten. Zwei- lervotum stützen – sowohl 1998 wie auch 2002 fellos hat dieser Hang des Bundeskanzlers zum war die überwältigende Mehrheit der SPD- politischen Outsourcing sowohl delegitimieren- Wähler für eine Fortsetzung einer auf Gerech- de Folgen für die Entwürfe der verschiedenen tigkeit und traditionelle Wohlfahrtsstaatlichkeit Sachverständigenkommissionen und als auch ausgerichtete Politik eingetreten3 –, noch waren demoralisierende Folgen für die SPD selbst die Parteimitglieder in die tief greifende pro- gehabt. grammatische Umorientierung einbezogen. An Zum zweiten war und ist die Entwicklung die Stelle einer Programm- oder doch zumindest und Durchsetzung der Agenda-Politik in ein Richtungsdebatte, wie sie in den anderen Län- mediales Meinungsklima eingelagert, das durch dern stattgefunden und innerparteiliche Unter- ein beispielloses Trommelfeuer gegen die Tra- stützung des Kurswechsels befördert hatte, trat ditionen des bundesrepublikanischen Sozialstaa- in Deutschland das Bemühen der sozialdemo- tes und seine Verdienste geprägt wird. Eine bunt- kratischen Parteispitze, den politischen Kurs- scheckige Interessenallianz mit größter Medi- wechsel in den Rang einer objektivierten enresonanz hat es sich seit dem Wahlsieg von Zwangsläufigkeit zu erheben. Abwechselnd Rot-Grün mit größtem publizistischen und Ka- wurden vermeintlich unabweisbare Zwänge der pitaleinsatz ganz offensichtlich zur Aufgabe ge- 8 Gerd Mielke

macht, die in der Bundesrepublik über lange verlaufen, die der Partei flächendeckend Mehr- Jahrzehnte gewachsenen politischen Maßstäbe heitspositionen in der Wählerschaft entzogen einer wohlfahrtsstaatlich abgesicherten, ‚sozi- haben und vielen Mitgliedern und Aktivisten aldemokratisierten‘ Gesellschaft systematisch zu den von oben verfügten Kurswechsel als diffamieren und im Gegenzug das Leistungs- Marsch in den Abgrund erscheinen lassen. Vor und Wettbewerbsethos einer möglichst unge- diesem Hintergrund wird die ursprüngliche Vor- bremsten, individualisierten Marktgesellschaft stellung von einer Programmarbeit, die sich auf zu popularisieren5. Dass die Bundesregierung die Nachlieferung eines programmatischen bzw. diese überaus wuchtige sozialethische Flur- theoretischen Rahmens für die Agenda–Politik bereinigung hin zu einem neuen ‚Reform- beschränkt, schwerlich durchzuhalten sein. Sie schwung‘, die vor allem zunächst die wirt- gliche dem Auftrag zu einem Hochglanzpros- schafts- und sozialpolitischen Spielräume der pekt für ein Fahrzeug, das sich bereits als fahr- Unternehmer erweitern wie auch die strategi- untauglich erwiesen hat. Damit wird jedoch die schen Wahlchancen eines dermaßen ‚ökonomi- Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm sierten‘ Bündnisses aus CDU/CSU und FDP potenziell aufgewertet. Sie kann sich nun ohne erhöhen sollte, zur Absicherung der Agenda– Vorgabenzwang der Frage widmen, wie denn Politik gegenüber traditionellen sozialdemokra- eine sinnvolle Transformation der deutschen tischen Kritikern instrumentalisierte, gehört zu Sozialdemokratie ohne die Gefahren der Selbst- den ebenso skurrilen wie tragischen Aspekten zerstörung durch die bisherige Reformpolitik der Regierungspolitik seit 1999. beschaffen sein müsste. Diese prinzipielle Op- Schließlich erschwerte die Vetomacht der tion wieder eröffnet zu haben, ist das eigentli- Opposition einen kritischen Diskurs der Re- che Verdienst der Müntefering-Rede vom 13. formpolitik unter Schröder und Müntefering im April 2005. Dass dabei die Rede des SPD-Par- sozialdemokratischen Umfeld. Wesentliche Teile teivorsitzenden – nolens volens – neben allen dieser Politik konnten nur durch intensive Mit- anderen denkbaren taktischen Kalkülen de fac- wirkung der Unionsparteien im Bundesrat die to eine deutliche kritische Spitze gegen die bis- parlamentarischen Hürden nehmen. Dabei wuch- herige politische Linie der Bundesregierung sen paradoxerweise die Einflussmöglichkeiten enthielt, verweist auf die unterschiedlichen Hand- der Union in dem Maße, in dem die Agenda– lungshorizonte von Müntefering und dem Bun- Politik der SPD bei der eigenen Anhängerschaft deskanzler. Für den Parteivorsitzenden hat bei auf Skepsis und Ablehnung stieß und zu Wahl- aller Loyalität zur sozialdemokratisch geführ- niederlagen führte. So trat die neue sozialdemo- ten Bundesregierung die Devise Vorrang: Es kratische Sicht auf die gesellschaftspolitischen muss ein Leben auch nach 2006 geben6. Kernfragen gar nicht in Reinkultur zu Tage, son- dern manifestierte sich stets nur mit erheblichen 3 Beimischungen aus dem Arsenal der Oppositi- on; diese Melange wurde aber dennoch als der Die Erarbeitung eines tragfähigen Grundsatz- gesellschaftspolitischen Weisheit letzter Schluss programms ist sowohl vom Inhalt als auch vom präsentiert und öffentlich tabuisiert. Ablauf her ein äußerst komplizierter Prozess; Mithin erfolgte die Transformation der deut- ihn hier vorweg skizzieren zu wollen, wäre des- schen Sozialdemokratie im Vergleich zu ihren halb anmaßend. Allerdings lassen sich aus den europäischen Schwesterparteien nicht nur ver- bisherigen Diskussionsansätzen einige kritische spätet, sie ist überdies in Formen, unter Begleit- Problemfelder benennen, auf die bei der weite- umständen und mit politischen Festlegungen ren Programmdebatte einzugehen sein wird. Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 9

Dies ist zum einen auf der Ebene der Grund- Gerechtigkeit und anhand einer auf sozialen werte die Frage nach dem Verhältnis von Frei- Ausgleich bedachten, aktiven Wohlfahrtsstaats- heit und Gerechtigkeit. Sodann geht es zum politik zu bemessen7. Dieser gesellschaftspoli- zweiten um die Bestimmung des Gerechtigkeits- tische Grundkonsens im Sinne einer breit ver- verständnisses. Drittens schließlich wird für die ankerten ‚Sozialdemokratisierung‘ der Bevöl- Ausstrahlungs-, Integrations- und Mobilisie- kerung ist durch die Vereinigung noch einmal rungskraft des Programms von großer Bedeu- zusätzlich gestärkt und bekräftigt worden, eine tung sein, welche politischen Konzepte und Folge der sozialistischen ,Untertanenkultur‘ in empirisch überprüfbaren gesellschaftlichen Zu- der früheren DDR. Er hat sich auch, wie ein- stände und Entwicklungen mit den sozialethi- schlägige Untersuchungen immer wieder be- schen und philosophischen Festlegungen des stätigen, trotz der massiven ‚reeducation-Kam- Programms verknüpft sein sollen. Mit anderen pagnen‘ der Leistungs- und Marktapostel in den Worten: Welche konkreten sozialen, wirtschaft- letzten Jahren weitestgehend erhalten. Die über- lichen und kulturellen Entwicklungen spiegeln wältigende Zustimmung, die Müntefering für am Ende der Programmdebatte für die Bürger seine kapitalismuskritischen Äußerungen in und Wähler die programmatische Zuverlässig- Umfragen erhielt, belegt einmal mehr die große keit und Ausrichtung der SPD wider und ma- Diskrepanz zwischen den Werthaltungen und chen die Sozialdemokratie erkennbar? ‚belief systems‘ der Bevölkerung und der me- Diese drei zentralen Problemfelder der Pro- dial vermittelten Elitensicht. Man kann dies be- grammdebatte sind allerdings nicht allein in ei- dauern oder für unsinnig halten; man mag auch nem losgelösten akademischen und analytischen voller Sehnsucht auf Normen- und Einstellungs- Diskurs abzuklären. Die Diskussion hat vor al- muster und politische Kulturen in anderen mo- lem auch das öffentliche Verständnis der im Pro- dernen Gesellschaften hinweisen; es gilt gleich- gramm behandelten Fragen zu berücksichtigen. wohl: Die Sozialdemokratie wäre schlecht be- Damit rückt die politische Kultur mit ihrer sich raten, diesen kulturellen Sachverhalt als prägen- kontinuierlich fortentwickelnden Mischung aus de Kraft für ihre Programmdebatte nicht ausrei- Traditionen und gewachsenen Orientierungen chend berücksichtigen zu wollen. Sie hat bei als Deutungskultur für das Programmgesche- der Entwicklung und auch der symbolischen hen ins Blickfeld; denn „Politiken gewinnen Inszenierung der Agenda-Politik in den letzten nämlich nur dann Legitimität, wenn sie einen Jahren immer wieder die notwendige Einbet- glaubwürdigen Anschluss an den Gerechtig- tung ihrer Politik in die gewachsene Deutungs- keitsdiskurs finden und dadurch Mehrheiten kultur vernachlässigt. überzeugen können“ (Meyer 2005: 40). Diese Betrachten wir vor diesem Hintergrund Deutungskultur gibt, wenn man so will, einen nunmehr die drei vorab angesprochenen Pro- sozialethischen Korridor vor, innerhalb dessen blemfelder des Verhältnisses von Freiheit und sich die Fortentwicklung des sozialdemokrati- Gerechtigkeit, der Bestimmung des Gerechtig- schen Programms vollziehen sollte. Nun kann keitsbegriffs und seine angemessene Operatio- man sich gewiss über die Ränder des Korridors nalisierung. streiten, es bestehen jedoch keine Zweifel über Die Grundwertedebatten in den 1970er Jah- den breiten Mittelstreifen dieses Korridors in ren haben die enge Verflechtung von Freiheit der Bundesrepublik. In der Bundesrepublik hat und Gerechtigkeit – und auch von Solidarität – sich über die Jahrzehnte ein überaus stabiler eindrucksvoll herausgearbeitet. Eine Trennung Konsens entwickelt, die Legitimität von Politik und Abgrenzung zwischen diesen beiden fällt vor allem anhand des Kriteriums der sozialen mithin schwer und erscheint auch nicht sinn- 10 Gerd Mielke

voll. Gleichwohl fiel in den programmatischen heiten mit Leben, mit kultureller und sozialer Diskussionen, die die Entwicklung der Agen- Substanz gefüllt. Man sollte bei der sich nun da–Politik begleiteten, die plötzliche Neigung entfaltenden Programmdiskussion die höchst auf, die Instrumente der Agenda-Politik dadurch unterschiedlichen politischen Aggregatzustän- zu rechtfertigen, dass eine bis dahin unterschätz- de, in denen sich die Geschichte der deutschen te, ‚eigentliche‘ Verpflichtung der Sozialdemo- Sozialdemokratie vollzogen hat, angemessen kratie gegenüber dem Grundwert der Freiheit berücksichtigen und die Traditionslinie einer betont wurde. Verschiedene Redner etwa auf vorrangig auf Gerechtigkeit ausgerichteten Par- dem Sonderparteitag vom 2. Juni 2003 in Ber- tei in einer freien Gesellschaft nicht ohne Not lin, der über die Agenda 2010 abzustimmen hat- oder aus taktischen Erwägungen verlassen. te, äußerten sich in dieser Hinsicht. ‚Liberty Andernfalls läuft die SPD Gefahr, im deutschen first‘, so die dort propagierte These, sei die wich- Parteiensystem eine bedrohliche Repräsentati- tigste philosophische Maxime der SPD. Die onslücke zu erzeugen, mit allen denkbaren Fol- damit verbundene Relativierung der Gerechtig- gen der politischen Exklusion und Marginali- keit als Leitwert der Sozialdemokratie erscheint sierung beträchtlicher Wählergruppen. Die SPD allerdings fragwürdig. Zweifellos hat der Wert sollte also unter keinen Umständen von der his- der Freiheit über lange Jahrzehnte eine beherr- torisch gewachsenen „Überzeugung des All- schende Rolle im politischen Selbstverständnis tagsverstands“ abweichen, „dass die Gerech- der deutschen Sozialdemokratie eingenommen, tigkeit die erste Tugend der gesellschaftlichen aber dies war doch im Wesentlichen den in Institutionen sei“ (Rawls 1975: 636). Deutschland gegebenen vor- oder explizit anti- Die nähere Bestimmung des für die Sozial- demokratischen Zuständen des politischen Sys- demokratie angemessenen Gerechtigkeitsver- tems geschuldet, die ein demokratisches politi- ständnisses, das zweite hier zu behandelnde sches Leben abdämpften und verhinderten. In Problemfeld, muss von der Konkurrenz ver- diesem Sinne erklärt sich auch der innige Frei- schiedener Gerechtigkeitsvorstellungen im öf- heitsbezug der deutschen Sozialdemokraten, war fentlichen Diskurs ausgehen. Neben den klas- doch die SPD sowohl im Kaiserreich als auch sischen Begriffen der Verteilungs- und Leis- unter dem Nationalsozialismus – und ebenfalls tungsgerechtigkeit haben sich im Gerechtigkeits- in der DDR – stets ein erstes Opfer der Unfrei- diskurs der letzten Jahrzehnte eine Reihe neuer heit. Ihre großen Vorsitzenden August Bebel, Gerechtigkeitskonzepte etabliert, auch wenn die- Kurt Schuhmacher und Willy Brandt haben in se bei genauerem Hinsehen durchaus auf ältere diesem Sinne ihre politische Statur und ihr Cha- staatsphilosophische Traditionen zurückgehen. risma ganz wesentlich im Kampf für die Frei- So sind die Begriffe der Chancengerechtigkeit, heit und gegen Unterdrückung und Diktatur Teilhabegerechtigkeit und Generationengerech- entwickelt. Anders verhält sich jedoch die Zu- tigkeit vor allem als kritische Differenzierun- ordnung der SPD zu den Grundwerten unter gen und Distanzierungen im Blick die Vertei- den systemischen Bedingungen und konstituti- lungsgerechtigkeit entstanden. Sie hat bislang onellen Freiheiten der liberalen Demokratie, in der Form eines ‚linearen Egalitarismus‘ das wenn man so will: im demokratischen Alltag. programmatische Selbstverständnis der SPD Hier hat sich die Sozialdemokratie, ohne des- beherrscht und liegt auch dem ‚Berliner Pro- halb jemals den Wert der Freiheit gering zu schät- gramm‘ zugrunde. Die Verteilungsgerechtigkeit zen, stets in erster Linie als Hüterin und Förde- erscheint in den Augen der Verfechter dieser rin der sozialen Gerechtigkeit empfunden und neueren Gerechtigkeitsvorstellungen als ein zu auf diesem Wege die verfassungsmäßigen Frei- statisches, die Verantwortung des Einzelnen, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 11

aber auch die langfristigen Perspektiven nur da-Politik plausibler zu legitimieren vermag, drei unzureichend berücksichtigendes Konzept, ab- Wege der Annäherung an die Gerechtigkeit ab, gesehen von der fast durchgängigen Kritik an nämlich der Rückgriff auf universalistisch gül- der praktischen Überforderung des ver- und tige Grundrechtsprinzipien, wie sie etwa in den zuteilenden Staates und seiner Bürokratie bei sozialen und ökonomischen Grundrechten ver- dem Versuch, soziale Schieflagen und Proble- schiedener UN-Pakte, aber auch in verschiede- me durch nachträgliche Verteilungsakte mit dem nen Verfassungen niedergelegt sind, die Be- Ziel von mehr Gleichheit beheben zu können. rücksichtigung der einschlägigen wissenschaft- Umgekehrt räumt allerdings Thomas Mey- lichen Debatten zur sozialen Gerechtigkeit, so- er, ein profilierter Theoretiker der deutschen wie schließlich ein empirischer Vergleich ähnli- Sozialdemokratie, ein, dass die Reformpolitik cher Länder anhand plausibler und durchgän- Gerhard Schröders und Franz Münteferings die gig überprüfbarer Kriterien8. Alle drei Annähe- SPD vor dem Maßstab der traditionellen und rungen an die Gerechtigkeit liefern, das ist un- immer noch gültigen, ‚parteioffiziellen‘ Gerech- strittig, wichtige Einsichten in die theoretischen tigkeitsvorstellung in eine prekäre Lage manöv- und philosophischen Dimensionen der Gerech- riert hat. Meyer bekräftigt damit – diesmal aus tigkeit und zu den historischen Ausprägungen der Perspektive der Programmdebatte – unse- von Strukturen und Instrumenten, die in unter- ren eingangs präsentierten Befund einer sozial- schiedlichen gesellschaftlichen und politischen demokratischen Regierungspolitik wider die ei- Kontexten der Gerechtigkeit zugeordnet wer- genen Traditionen. In einem kürzlich erschiene- den. Über diesen für eine Programmdebatte nen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit der Agen- notwendigen Erkenntnisgewinn hinaus enthal- da – Politik stellt Meyer fest: „ ... ein solches ten diese Annäherungen an den Gerechtigkeits- Gerechtigkeitsverständnis“ (nämlich der klas- begriff, so scheint es, jedoch konzeptionelle sische sozialdemokratische Grundsatz der Ver- Tücken und Fallstricke, die auch schon die Agen- teilungsgerechtigkeit, G.M.) ist „nicht in der da-Politik kennzeichnen, die sie ja nun legiti- Lage ..., die in der Agenda 2010 angestrebten mieren sollen. Maßnahmen zu legitimieren. Keine von ihnen Betrachtet man die beiden eher ideenge- lässt sich ... durch ein Mehr an Gleichheit be- schichtlichen und philosophischen Annäherun- gründen, für die meisten gilt das Gegenteil. Eine gen über die Grundrechtsdiskussionen und den Begründung der Agenda nach Gerechtigkeits- akademischen Gerechtigkeitsdiskurs, in dem kriterien lässt sich mit ... dem Gerechtigkeitsbe- bislang vor allem Vorstellungen von John Rawls griff) ... im sozialdemokratischen Grundsatz- dominieren, so eröffnen diese gewissermaßen programm nicht stützen ...“; vielmehr, so fährt einen theoretischen ‚Gerechtigkeitskorridor‘, Meyer fort, „leistet er unter den gegenwärtigen der durch seine universalistische Ausrichtung Handlungsbedingungen eher einen Beitrag zur für die Formulierung eines sozialdemokrati- Entlegitimierung wichtiger Teile der rot-grünen schen Gerechtigkeitsverständnisses zu breit und Regierungspolitik“ (Meyer 2004: 183ff). zu umfassend angelegt ist. Oder anders gewen- Wie aber soll nun das neue, mit der Agenda det: Auf dieses Gerechtigkeitsverständnis, das 2010 kompatible Gerechtigkeitsverständnis der sich durch den Rekurs auf universalistische deutschen Sozialdemokratie aussehen, und ist Grundrechte und den bei Rawls vorgelegten es dann auch wirklich unproblematischer als Klärungs- und Bestimmungsprozess einer all- das alte, von Meyer und anderen kritisierte? gemeinen Gerechtigkeit konstituiert, können Gegenwärtig zeichnen sich bei der Suche nach sich im Rahmen einer demokratischen Verfas- einem Gerechtigkeitsverständnis, das die Agen- sung politische Gruppierungen mit recht unter- 12 Gerd Mielke

schiedlichen ideologischen Positionen berufen. ben die Notwenigkeit aktiven Handelns hervor, Wir erkennen also: Auch konservative und libe- ein Anliegen, das ja völlig zu Recht unter dem rale Parteien legitimieren sich in erheblichem Stichwort der ‚Zivilgesellschaft‘ immer wieder Maße durch soziale Gerechtigkeit; sie ist auch die sozialdemokratischen Programmdis- allerdings anders konturiert. Der Rekurs der kussionen durchzieht. Beide Annäherungen SPD auf diese Grundrechte und den akademi- machen übrigens auf eine Funktion des Pro- schen Gerechtigkeitsdiskurs garantiert keines- gramms aufmerksam, die bei den Programmde- falls die viel beschworene Anschlussfähigkeit batten der SPD in der Vergangenheit kaum eine des neuen Programms an die Traditionen und Rolle spielte, nämlich die politische und kultu- Identitäten der Partei. relle Integration der Gesellschaftsbereiche, für Es geht eben nicht um die Fortentwicklung die überhaupt Politik gemacht werden soll. Hier des Gerechtigkeitsverständnisses an sich, son- konnte die SPD, wie auch andere Traditions- dern um die Fortschreibung der Gerechtigkeits- parteien in Deutschland, lange Zeit ein hohes vorstellungen in der deutschen Sozialdemokra- Maß an sozio-kultureller Integration ihrer po- tie in einer bestimmten historischen Situation. tenziellen Anhängerschaft voraussetzen, das sie Man sollte also auch die ideengeschichtlichen für weite Bereiche der Programmatik – ge- Annäherungen an die Gerechtigkeit nutzen, die wissermaßen selbstverständlich – empfänglich Gerechtigkeit im Zusammenhang mit komple- machte. Angesichts der Traditionslosigkeit vie- xen, auf die Lebenswelt bezogenen Normenge- ler gegenwärtiger sozialer Gruppen und Mili- fügen für den Aufbau einer politischen Ord- eus werden die programmatischen Debatten der nung und für den Zusammenhalt von Teilpopu- Zukunft immer stärker auch die Funktion ha- lationen nutzen. Hier bietet sich vor allem der ben, die Anhängerschaft der SPD zu ‚erfin- Rückgriff auf Theorien des ‚guten Lebens‘ und den‘11. Insgesamt sollten also die theoretischen der Subsidiarität an. Theorien des ‚guten Le- Annäherungen an die Gerechtigkeiten stärker bens‘ gehören zum Kernbestand der europäi- als bisher ein breites Spektrum von Theorien schen Geistesgeschichte. Sie setzen im Zeitalter als Steinbruch nutzen, die dem notwendiger- der griechischen Polis ein und führen über das weise partikularistischen Selbstverständnis der christliche Mittelalter bis in die Moderne, in der deutschen Sozialdemokratie Rechnung tragen. sie als Theorien über kleine und komplexe Ge- Dies bedeutet ausdrücklich nicht, eine Nationa- meinwesen Verbindungen auch mit Gedanken lisierung der Sozialdemokratie in einem Zeital- des Gesellschaftsvertrags eingehen und sich ter der Globalisierung als Ziel der Debatte an- dadurch von der Anbindung an ontologische zustreben; aber es wird entscheidend darauf an- und theologische Wertsysteme befreien. Ge- kommen, das neue Programm theoretisch rechtigkeit erscheint in ihnen jeweils einem Ka- zunächst an ‚principles‘(Walzer) und Erfahrun- non anderer Normen zugeordnet9 und ist dabei gen anzuknüpfen, auf die sich die SPD, ihre zugleich auch immer mit dem in der gegenwär- Mitglieder und Anhänger – und dann auch die tigen Programmdebatte diskutierten Thema der politischen Gegner – gemeinsam beziehen kön- Rechte und Pflichten des Einzelnen eng ver- nen. knüpft. Ähnliches gilt für die Theorien zur Sub- Neben den ideengeschichtlichen und theo- sidiarität10. Sie schärfen den Blick für Freiheits- retischen Annäherungen an die Gerechtigkeit, und Verantwortungsspielräume von Teilberei- die sich auf die wissenschaftlichen Debatten der chen, ermuntern zu einer konstruktiven Abgren- letzten Jahrzehnte beziehen, besteht ein wesent- zung gegenüber anderen, potenziell konkurrie- licher Schritt bei der Erarbeitung eines neuen renden gesellschaftlichen Gruppen, und sie he- Gerechtigkeitsverständnisses für das kommen- Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 13

de Grundsatzprogramm in einem „empirischen ten Indikatoren jedoch problematisch. Gerech- Vergleich ähnlicher Länder anhand operationa- tigkeit, gemessen in den hier vorgeschlagenen lisierter Kriterien sozialer Gerechtigkeit“ (Mey- Kriterien, ist als begriffliches Konzept nämlich er 2004: 181ff). Zu diesem Zweck wird in der zu weit von der Erfahrungs- und Lebenswelt Programmdebatte gegenwärtig vorwiegend auf derjenigen entfernt, mit denen ein Einverständ- einen von Wolfgang Merkel (2002; 2005) erar- nis über neue Gerechtigkeitsdimensionen erzielt beiteten Kriterienkatalog mit fünf Gerechtig- werden muss. Die Akzeptanz der Agenda–Poli- keitsdimensionen zurückgegriffen. Diese Kri- tik bemisst sich eben nicht oder nur unwesent- terien sind: Armutsquote, Aufwendungen für lich an der relativen Position Deutschlands im Bildung, Inklusion in den Arbeitsmarkt, sozial- Vergleich zu anderen Industrieländern, sondern staatliche Aufwendungen und Einkommensun- im Vergleich zu der Distanz zum status quo ante gleichheit. Misst man nun die einschlägigen Ele- und an dem Maße der Konsistenz der neuen mente der Agenda-Politik an den Werten dieses Politiken mit den vorherrschenden Gerechtig- internationalen Vergleichs, so fällt das Urteil zur keitsvorstellungen. Auch ist es notwendig, zwi- Gerechtigkeitsbilanz weitaus vorteilhafter aus schen verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, als beim Vergleich mit dem Maßstab der Vertei- Gruppen und Schichten und ihren ‚belief sys- lungsgerechtigkeit. Thomas Meyer etwa fasst tems‘ zu differenzieren, um nicht eine Gerech- zusammen, „dass die meisten der in der Agenda tigkeitsidee für die ‚falschen‘ Wähler zu entwi- vorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung ckeln. Nötig sind mithin empirisch überprüfba- der Gerechtigkeitsbilanz der Bundesrepublik re Gerechtigkeitskonzepte und – operationali- beitragen werden“ (Meyer 2004: 186). Wie sierungen, die näher an die historisch gewach- kommt es dann aber dazu, dass die Wähler so senen und ‚gefühlten‘ Gerechtigkeitsverständ- ‚uneinsichtig‘ auf eine noch gerechtere Politik nisse in Deutschland herankommen. Nur durch reagieren? In der Diskrepanz zwischen diesem die systematische Einbeziehung der je spezifi- analytisch fundierten, objektiviertem Messbe- schen Deutungsmuster der nationalen politischen fund und der Ablehnung dieses vermeintlichen Kulturen wird man frühzeitig Haarrisse im Kon- Mehr an Gerechtigkeit durch die Wählerschaft sens erkennen und Entfremdungen vermeiden werden genau die Probleme sichtbar, die sich können. Die europäischen politischen Kulturen aus der Nichtberücksichtigung kultureller Deu- weisen, dies wird sehr häufig in vergleichenden tungsmuster für die Entwicklung politischer Forschungsprojekten ‚übersehen‘ bzw. mess- Strategien wie auch für deren programmatische technisch nur unzureichend erfasst, zum Teil Begründung ergeben. höchst unterschiedliche Bewertungsmuster und Zunächst ist es ohne jeden Zweifel notwen- Duldungspotenziale auf, was die Thematik der dig, die philosophischen Annäherungen durch sozialen Gerechtigkeit angeht. Für eine empiri- empirische Abbildungen der Gerechtigkeitsbi- sche Fundierung der Gerechtigkeitsdebatte in lanzen zu ergänzen. Allerdings bewegen sich der SPD käme es also vor allem darauf an, die die von Merkel vorgeschlagenen Operationali- Begleitforschung an Projekten auszurichten, sierungen der Gerechtigkeit auf hoher Aggre- wie sie über Jahre hinweg etwa von Edeltraud gatebene, eine Forschungskonzession an den Roller oder Michael Vester und seiner For- Wunsch, verschiedene Länder vergleichen zu schungsgruppe zur sozialen Schichtung oder wollen. Als Messinstrumente für die Wahr- zu den Einstellungen zum Sozialstaat bearbeitet scheinlichkeit, in der jeweiligen nationalen Wäh- worden sind. Die aus diesen beiden Forschungs- lerschaft Zuspruch für neue Verständnisse von traditionen seit geraumer Zeit konstant vermel- Gerechtigkeit zu erhalten, sind die hier gewähl- deten Tendenzen zur sozialen ‚Exklusion und 14 Gerd Mielke

Prekarität‘12 einerseits und die ungebrochene Strategien sein. Die Übernahme von erfolgrei- und überwältigende Orientierung an einer wohl- chen institutionellen Arrangements etwa aus fahrtsstaatlich abgestützten Verteilungsgerech- Holland, Finnland oder Dänemark in den deut- tigkeit andererseits hätten für die SPD von An- schen Kontext ohne eine gründliche Diskussi- fang an unübersehbare Warnschilder bei der on der kulturellen Voraussetzungen und Funkti- Entwicklung der Agenda-Politik sein können. onsbedingungen dieser Arrangements im Vor- Die Abkehr von der Tradition der Verteilungs- feld der Transplantation kann mächtig ins Auge gerechtigkeit und die gleichzeitige Umorientie- gehen, eine Einsicht, die spätestens seit Max rung auf die Dimensionen der Chancen- oder Webers Untersuchungen über die protestanti- Generationengerechtigkeit in einem gesellschaft- sche Ethik zu den Grundweisheiten der Sozial- lichen Klima der Statuspolarisierung ist ein wissenschaften gehört. höchst unwahrscheinliches Verhaltensmuster für die sozialen Gruppen, in denen Exklusion und 4 Prekarität droht. Hier werden von der SPD ge- genüber den ihr nahe stehenden Gruppen Wech- Welche Folgen ergeben sich aus der knappen sel auf die Zukunft mit höchsten Risiken einge- Betrachtung der hier herausgestellten Problem- fordert. felder des Verhältnisses zwischen den Grund- Zu den Erfordernissen im Vorfeld program- werten Freiheit und Gerechtigkeit, der philoso- matischer Neuorientierungen sollte aber auch phischen Annäherung an die Gerechtigkeit und der Versuch gehören, die empirischen Zusam- ihrer empirischen Messung? Sowohl bei der menhänge zwischen den derzeit diskutierten philosophischen Annäherung an die Gerechtig- Gerechtigkeitsvarianten, also Verteilungs-, Leis- keit als auch bei der empirischen Analyse sollte tungs-, Chancen-, Teilhabe- und Generations- die SPD im Sinne der kritischen Selbstreflexi- gerechtigkeit, systematisch zu analysieren. Hier on die Felder stärker würdigen, die sie bislang gibt es Ansätze und Ergebnisse etwa im Bereich – aus welchen Gründen auch immer – eher rand- der Bildungs-, Partizipations- und Mobilitäts- ständig behandelt und vernachlässigt hat. Eine forschung, die die seit Gerhard Schröders Kanz- Programmdebatte sollte auch hier immer ein lerschaft in der SPD so in Verruf geratene Ver- kritischer Diskurs sein und sich nicht auf die teilungsgerechtigkeit als eigentliche ‚Mutter al- ‚Absegnung‘ einer bereits vorformulierten Po- ler Gerechtigkeiten‘ in hellerem Lichte erschei- litik verpflichten lassen. nen lassen. In der Summe läuft diese Selbstverpflich- Mit dem Blick auf die so zu Tage geförder- tung zum kritischen Diskurs auf eine Hinwen- ten nationalen Traditionen lassen sich dann zum dung vor allem zu Fragen nach der kulturellen einen solide Einschätzungen über die zukünfti- Kompatibilität der Agenda-Politik und der auf ge Akzeptanz neuer Gerechtigkeitsvorstellun- ihre Legitimation ausgerichtete Gerechtigkeits- gen im dynamischen Kontext gesellschaftlicher debatte hinaus. Man sollte sich nach dem Ak- Erfahrungen und Entwicklungen formulieren zeptanzdesaster für die Agenda-Politik in den und zum anderen die Verortung Deutschlands letzten Jahren die programmatische Verbrämung im Reigen der anderen Industriegesellschaften dieses Desasters ersparen. vornehmen. Aber nicht nur das: Die stärkere Franz Müntefering hat mit seiner Rede vom Berücksichtigung der je nationalen Deutungs- 13. April dieser grundsätzlichen Ausweitung kulturen kann auch eine wichtige Hilfe bei der der Programmdebatte den Weg gebahnt. Er ist – in den letzten Jahren bei den Sozialdemokraten neben allen wahltaktischen Überlegungen, die so stark in Mode gekommenen ‚best practices‘- dabei im Spiel gewesen sein mögen – dabei der Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 15

unabweisbaren Handlungs- und Überlebenslo- Anmerkungen gik des fürsorglichen Parteivorsitzenden ge- 1Pikanterweise trat fast gleichzeitig der Bun- folgt. Müntefering hat de facto die Diskussion deskanzler auf einem von Wirtschaftsverbän- über Modifikationen des sozialdemokratischen den veranstalteten Forum zum Thema ‚Familie Politikangebots der Agenda-Jahre eröffnet, um – Erfolgsfaktor für die Wirtschaft‘ auf und lie- so der Partei, ihren Mitgliedern und Anhängern ferte damit unfreiwillig ein treffendes Beispiel die Entwicklung eines mehrheitsfähigen sozi- für die von Müntefering kritisierte Funktionali- aldemokratischen Zukunftsprojektes über 2006 sierung des ‚Sozialwesen Mensch‘ innerhalb hinaus zu ermöglichen. Dabei wird die Rück- des Produktionsprozesses. kehr der Sozialdemokratie zu einem breit getra- 2Siehe hierzu als grundlegende Darstellungen genen Gerechtigkeitsverständnis die Schlüssel- Kitschelt (1994) und Merkel (2001). rolle spielen. Manches spricht also dafür, in 3Siehe hierzu: Eith/Mielke (2000) und Mielke Münteferings Rede den Anfang vom Ende der (2003a). Ära Schröder zu sehen. 4Siehe hierzu Mielke (2003b). 5Der auffällige publizistische Schwenk zur Fa- Gerd Mielke war von 1992 bis 2004 in der vorisierung sozialstaatskritischer, markt- und rheinland-pfälzischen Staatskanzlei in Mainz für leistungsorientierter Positionen ist einerseits ei- politische Analysen und Grundsatzfragen zu- ner seit längerem auf die europäische Bühne ständig; seit 2004 ist er Dozent am Institut für überschwappenden Rezeption neoliberaler wirt- Politikwissenschaft der Universität Mainz; er schaftswissenschaftlicher und politischer Posi- ist zugleich Mitglied der Arbeitsgruppe Wahlen tionen aus den Vereinigten Staaten geschuldet; Freiburg. andererseits geht er jedoch auch nachweisbar 16 Gerd Mielke

auf gezielte professionelle Kampagnenarbeit ter, den zahlreiche sozialdemokratische Leiti- zurück, die vor allem nach der Bundestagswahl deen haben, und der einen gewissen Gegensatz von 1998 die dort zur Wirkung gekommene zum Vertrags- und ‚Erfindungscharakter‘ vieler Dominanz einer wohlfahrtsstaatlichen Grund- Aufklärungstheorien, so auch bei Rawls, bil- orientierung zurückdrängen sollte. Überdies ist det. Er nennt ‚individual freedom, dignity, re- diese PR-Arbeit zugleich auch bedeutsames sponsibility, equality, mutual respect, hard work, Lobbying für eine Umstellung der sozialen Si- craftsmanship, honesty, and loyalty‘, aber auch cherungssysteme auf den Grundsatz der priva- ‚authority and property‘ als ‚radical principles‘, ten Fürsorge, wie er etwa in der Riester-Rente die bei sozialdemokratischen Debatten der Ge- zum Ausdruck kommt. Hier kommen die Inter- rechtigkeit gewissermaßen als Obertöne stets essen etwa der Versicherungswirtschaft ins mitschwingen. Dieser Syndromcharakter von Spiel, die um den politisch gesteuerten und aus- Gerechtigkeit und den ihr beigeordneten ‚prin- gelösten Zugriff auf gigantische Summen der ciples‘ macht die sozialdemokratischen Färbung Privatversicherten bemüht ist. Eine hervorra- des Gerechtigkeitsbegriffs am Ende aus und gende und detaillierte Fallstudie zu dieser stra- hebt ihn gegenüber einem eher liberalen oder tegischen Einflussnahme auf die öffentliche christdemokratischen Gerechtigkeitsverständnis Meinung in gesellschafts- und wirtschaftspoli- ab. Man muss Walzers grundsätzliche Distanz tischen Belangen ist die von der gewerkschafts- zur ‚deep theory‘, die ihn etwa von Rawls, aber verbundenen Hans Böckler Stiftung online ab- auch von vielen Ökonomen abhebt, nicht teilen, rufbare Analyse der aktivsten PR-Initiative, der um gleichwohl seine Sichtweise im Blick auf Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft; siehe das sehr pragmatische Problem einer Pro- hierzu Speth 2004. grammerstellung für die SPD für sinnvoll zu 6Zu den nicht auflösbaren Rollenkonflikten erachten Haus (2000: 16). Die politische Philo- zwischen Parteivorsitzendem und Bundeskanz- sophie Michael Walzers. Kritik, Gemeinschaft, ler bei fortlaufenden Wahlniederlagen siehe Gerechtigkeit. Wiesbaden 2000, S. 16. Mielke (2004). 10Der Verweis auf die Diskussionen zum Sub- 7Einen sehr anschaulichen und beeindrucken- sidiaritätsprinzip soll hier bei der sozialdemo- den Überblick über den Stellenwert der sozia- kratischen Programmdebatte ausdrücklich nicht len Gerechtigkeit als Legitimität stiftendes Fun- eine methodische oder theoretische Nähe zur dament der deutschen Nachkriegsgeschichte und katholischen Soziallehre insinuieren, sondern den fahrlässigen Umgang mit dieser sozialmo- vor allem den Aspekt von Gerechtigkeitsvor- ralischen Ressource in den letzten Jahren gibt stellungen und ihrem Kontext in gesellschaftli- in einer brillanten Streitschrift von Heribert chen Teilbereichen hervorheben. Prantl (2005). 11Eine genauere historische Betrachtung zeigt 8Neben dem bereits erwähnten Beitrag von allerdings, dass auch ein wesentlicher Teil der Meyer (2004) siehe hierzu in ähnlicher Argu- vormaligen Kohärenz der traditionellen Milieus mentation den Beitrag von Merkel 2005 zum 3. keineswegs ‚naturwüchsig‘ erfolgte, sondern Programmforum der SPD am 13. April 2005, ein mühsam erarbeitetes politisches Integrati- insbesondere Abschnitt 1. zu der Frage: Aus onsprojekt war. Siehe hierzu die klassische Stu- welchen Dimensionen besteht soziale Gerech- die von Thompson (1963). tigkeit heute?. 12Siehe hierzu den Beitrag von Vester (2005: 2) 9Michael Haus etwa verweist in seiner Arbeit zum 3. Programmforum der SPD am 13. April über die politische Philosophie Michael Wal- 2005. Sein Fazit lautet: „Durch neue Schiefla- zers auf den kulturellen Überlieferungscharak- gen der Leistungs- und Chancengerechtigkeit Auf der Suche nach der Gerechtigkeit 17

und durch zunehmende Risiken entsteht nicht lution of Globalisation and Knowledge Society. nur eine erneuerte unterprivilegierte Klasse, Amsterdam, Berlin, Wien , 27-62. sondern auch eine neue prekäre Mitte, die ihre Meyer, Thomas 2005: Die Zukunft der So- erarbeiteten sozialen Standards gefährdet sieht zialen Demokratie. Bonn (unter Mitarbeit von ...“. Nicole Breyer). Meyer, Thomas 2004: Die Agenda 2010 und die soziale Gerechtigkeit. In: Politische Viertel- Literatur jahresschrift, Jg. 45, H. 2, 181-190. Eith, Ulrich/Mielke, Gerd 2000: Die soziale Mielke, Gerd 2004 Zwänge und Chancen. Frage als ‚neue‘ Konfliktlinie? Einstellungen Die SPD und ihr neuer Parteivorsitzender. In: zum Wohlfahrtsstaat und zur sozialen Gerech- Berliner Republik, Jg. 5, H. 3, 68-75. tigkeit und Wahlverhalten bei der Bundestags- Mielke, Gerd 2003a: Wahlsieger ohne Kom- wahl 1998. In: van Deth, J./Rattinger, H./Rol- pass? Zur politischen Rhetorik der SPD im ler, E. (Hg.): Die Republik auf dem Weg zur Wahljahr 2002.In: Forschungsjournal Neue Normalität? Wahlverhalten und politische Ein- Soziale Bewegungen, Jg. 16, H. 1, 37-42. stellungen nach acht Jahren Einheit. Opladen , Mielke, Gerd 2003b: Adieu les enfants – Die 93-115. SPD auf dem Weg ins Ungewisse. In: Berliner Haus, Michael 2000: Die politische Philo- Republik, Jg. 4, H. 3, 20–32. sophie Michael Walzers. Kritik, Gemeinschaft, Müntefering, Franz 2005: Ms. zur Rede auf Gerechtigkeit. Wiesbaden. dem 3. Programmforum der SPD ‚Demokratie, Kitschelt, Herbert 1994: The Transformati- Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit‘ am on on European Social . Cambridge. 13. April 2005 in Berlin. Merkel, Wolfgang 2005: Ms. Zum Referat Prantl, Heribert 2005: Kein schöner Land. auf dem 3. Programmforum der SPD ‚Demo- Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit. kratie, Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtig- München. keit‘ am 13. April 2005 in Berlin. Speth, Rudolf 2004: Die politischen Strate- Merkel, Wolfgang 2002: Social Justice and gien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Social Democracy at the Beginning of the 21th Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Düs- Century. Herzliya. seldorf. Merkel, Wolfgang 2001: The Third Ways of Rawls, John 1975: Eine Theorie der Gerech- social democracy. In: Cuperus, R./Duffek, K./ tigkeit. Frankfurt/M. Kandel, J. (Hg.): Multiple Third Ways. Euro- Thompson, Edward Palmer 1963: The Ma- pean Social Democracy facing the Twin Revo- king of the English Working-Class. 18 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Rudolf Speth/Thomas Leif

Thesen zum Workshop ,Strategiebildung und Strategieblockaden‘

1. piert wurden. Zudem hat sich die Politikwis- Es gibt einen wachsenden Bedarf und eine kon- senschaft mehr mit abstrakten Fragen als mit zeptionelle Notwendigkeit für eine intensivere Fragen der politischen Organisationsentwick- Strategiebildung in politischen Organisationen. lung beschäftigt. Die Tendenz zur Verwissen- Allerdings fehlt ein ausgeprägtes Bewusstsein schaftlichung hat von der Praxis weggeführt. dafür und es gibt kaum professionelle Arbeits- Die bekannte Realitätsferne hat diesen Prozess strukturen, die Strategiebildung ermöglichen noch beschleunigt. würden. Die Nachfrage nach Strategieberatung von außen ist kaum entwickelt. Komplementär 4. dazu ist auch die Angebotseite sehr schwach Den Defiziten in der Wissenschaft entsprechen aufgestellt. Defizite in der Praxis. In vielen politischen Or- ganisationen gibt es inzwischen zwar Ansätze 2. zur strategischen Planung, doch es überwiegt Der Strategiebegriff ist sozialwissenschaftlich immer noch eine Scheu vor langfristig angeleg- bislang wenig begründet. Es gibt hier einen blin- tem strategischen Denken. Hinzu kommt die den Fleck. In der Politikwissenschaft hat man wissenschaftliche Skepsis gegenüber der Steu- sich bislang kaum mit der Analyse von politi- erbarkeit politischer Prozesse und der Strate- schen Organisationen und ihren Strukturen be- giefähigkeit politischer Akteure. schäftigt. Es fehlen nicht nur eine analytische Erdung des Begriffs, sondern auch Differen- 5. zierungen zwischen ,grand strategy‘, strategi- Eine Konzeption strategischer Politikplanung schem, taktischem und operativem Handeln. muss den unterschiedlichen Typen politischer Lediglich im Bereich der Wirtschaftswissen- Organisationen Rechnung tragen. Parteien ha- schaften wird der Begriff der strategischen ben andere Bedingungen für die politische Steu- Unternehmensplanung verwendet und gele- erung und Strategiebildung als Verbände oder gentlich mit operationalisierbaren Inhalten ge- NGOs. Wieder anderen Bedingungen unterlie- füllt. gen Strategieanstrengungen in staatlichen Insti- tutionen (Staatskanzleien, Kanzleramt, Minis- 3. terien). Die Akteure auf diesen Ebenen verhal- Defizite in der strategischen Politikplanung ten sich meist zurückhaltend, weil effektive Stra- haben mehrere Gründe. Innerhalb der Sozial- tegiebildung Konflikte und ungelöste Fragen wissenschaften hat sich nach der Planungseu- offen legt. Zurückhaltung und Verlagerung von phorie der 1970er Jahre eine Planungsskepsis wichtigen Strategiefragen ist bequem. breit gemacht. Zielgerichtetes Handeln von po- litischen Organisationen wurde lange Zeit kaum mehr für möglich gehalten. Dieser Haltung der 6. Wissenschaft entsprach die politische Praxis der Weil der Begriff der strategischen Politikpla- vergangenen Jahrzehnte, in der Reformen nur nung unbekannt oder kaum ausgefüllt ist, gibt im Sinne von Anpassungen und Nachjustie- es kaum handwerkliche Vorgaben zu den wich- rungen an den vorhandenen status quo konzi- tigsten Elementen von Strategieplanung. Wenn Thesen zum Workshop ,Strategiebildung und Strategieblockaden‘ 19

es Veröffentlichungen gibt, dann sind diese viel men. Hier wird die Strategiebildung oft ausge- zu abstrakt und theoretisch angelegt. Es fehlen lagert und zeitlich auf wenige Monate des Wahl- handhabbare Konzepte, die die Praxis reflektie- kampfes alle vier Jahre eingeschränkt. ren. 10. 7. Kampagnenführung und -fähigkeit von politi- Politische Führung ist ein wesentliches Element schen Organisationen sind kaum Themen wis- von Strategiefähigkeit. Wissenschaftlich-kon- senschaftlicher Reflexion. Die vorhandene Li- zeptionell ist der Begriff der politischen Füh- teratur wurde zum großen Teil von Praktikern rung kaum ausgefüllt. Auch in der Praxis gibt geschrieben. Hier fehlt es an einer wissenschaft- es Defizite in der Geradlinigkeit, am Festhalten lichen Bearbeitung und analytischen Durchdrin- von gewählten Zielen und Botschaften. Politi- gung der Kampagnenpraxis politischer Organi- ker fühlen sich eher als Situationisten und agie- sationen. Es gibt wenige Analysen, teilweise ren nach ihrem Instinkt und nach dem Prinzip auch langfristig angelegte, die sich mit dem der Konfliktvermeidung. Über Strategien redet Umgang mit Informationen und Kommunikati- man nicht, man handelt strategisch. on in politischen Organisationen beschäftigen. Es fehlen Akteurs- und Organisationsanalysen; 8. aber auch Analysen, die die Verbindung von Kernpunkt von Strategiebildung in politischen strategischer Planung und Kommunikation zum Organisationen ist die Werteprofilierung. Wer- Gegenstand haben. tefragen werden aber immer noch zu selten the- matisiert und für eine strategische Ausrichtung 11. von Organisationen genutzt. Entscheidungen zu Strategiebildung kostet Zeit, braucht Kompe- Wertefragen sind Teil der Profilierungs- und tenz, Erfahrung, Konflikt- und Kommunikati- Führungskompetenz. onsfähigkeit. Die Bündelung dieser Ressour- cen im täglichen Macht- und Anerkennungs- 9. spiel ist selten anzutreffen. Am weitesten fortgeschritten ist die strategi- sche Ausrichtung in der politischen Kommuni- Rudolf Speth ist Privatdozent am FB Politik- kation und insbesondere in der Wahlkampfkom- und Sozialwissenschaften der FU Berlin; Tho- munikation. Hier werden Anleihen bei den mas Leif ist Journalist und Mit-Herausgeber Wahlkampfführungen in den USA gemacht, und des Forschungsjournals Neue Soziale Bewe- es werden vielfach Konzepte aus den Feldern gungen. des Marketing und der Public Affairs übernom- 20 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Rudolf Speth

Strategiebildung in der Politik

1 Einleitung eine Planungseuphorie, die sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt hat. „Es gibt keine wirklich vorausschauende, keine Im Anschluss an die begriffliche Klärung antizipierende Politikplanung, weil man daran wird versucht zu bestimmen, was unter strate- zweifelt, in dem schnelllebigem Politikgeschäft gischer Politikplanung verstanden werden kann. solche Linien überhaupt aufbauen zu können.“ Daran schließt sich eine allgemeiner gehaltene (Machnig 2003) „Die Politikwissenschaft hat Beschreibung der praktischen Schwierigkeiten sich nie systematisch mit politischer Strategie mit politischer Strategieplanung an. befasst.“ (Raschke 2002: 207) Im nächsten Schritt steht Kommunikation Zwei Feststellungen – eine aus der Praxis, als politisch-strategisches Mittel im Zentrum. die andere aus der Theorie – ein Ergebnis: Stra- Im Bereich der politischen Kommunikation ist tegiefragen gewinnen an Gewicht, doch weder das strategische Denken und die Praxis der Stra- die politische Praxis noch die Wissenschaft sind tegiebildung weiter fortgeschritten. darauf vorbereitet. In dem sich daran anschließenden Abschnitt Die Skepsis gegenüber strategischem Den- werden Praxisfelder der strategischen Politik- ken hat auch damit zu tun, dass die Politik in planung und der strategischen Kommunikation der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg auf behandelt. Hier wird die Praxis bei Parteien, bei die Philosophie der kleinen Schritte orientiert NGOs und Verbänden und in Wahlkämpfen war. Es ging nur darum nachzujustieren, An- analysiert. passungen vorzunehmen und Lücken zu schlie- ßen. Große Entwürfe, Reformvorhaben wur- 2 Der sozialwissenschaftliche den nicht gewagt. Kontext des Strategiebegriffs Da politische Strategiebildung mit der Aura 2.1 Herkunft des Geheimnisvollen versehen ist und zum Ar- kanbereich der Politik gehört, dringt wenig von Der Begriff Strategie stammt wie viele Begriffe möglichen Strategie-Praxen nach außen. Dies der politischen Sprache aus dem Griechischen. verstärkt den Eindruck, Strategiebildung sei Der Stratege war der gewählte Heerführer (stra- eine Sammlung von Geheimpraktiken. Dabei tos = Heer, agein = führen). Die Herkunft des wird der handwerkliche und evidenzbasierte Begriffes aus dem Militärischen erstreckt sich Charakter einer jeden Strategiebildung unter- auch auf den Gegenbegriff, den der Taktik. Das belichtet. Verhältnis von Strategie und Taktik lässt sich Dieser Beitrag geht zu Beginn auf den Stra- vor allem anhand von militärischen Planungen tegiebegriff und seine Verwendungsweisen ein. verdeutlichen. Während im Begriff der Strate- Ein Schwerpunkt liegt dabei auf seiner Verwen- gie das zielorientierte Vorgehen mittels eines dung in politikwissenschaftlichen Kontexten. langfristigen Planes im Zentrum steht, ist Tak- Die Skepsis gegenüber strategischer Pla- tik stets kurzfristiges Handeln. nung war in der Politikwissenschaft nicht immer Clausewitz hat die Begriffe Taktik und Stra- vorhanden, noch in den 1970er Jahren gab es tegie wie folgt unterschieden: Taktik ist die „Leh- Strategiebildung in der Politik 21

re vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht“, sichtbar gemacht werden. Von daher geht es – Strategie dagegen die „Lehre vom Gebrauch der im Gegensatz zu den ersten beiden Sichtweisen Gefechte zum Zweck des Krieges“. (von Clau- – nicht mehr nur um Besitzstandswahrung, son- sewitz 1994:84) Im Strategiebegriff ist aber nicht dern um organisatorischen Wandel. nur die Differenz zwischen kurzfristigem und In den internationalen Beziehungen wird der langfristigem Denken enthalten. Strategische Strategiebegriff vor allem zur Analyse des Ver- Fähigkeiten haben viel mit Planung und Logik haltens von Staaten als den Akteuren der inter- zu tun, nicht so sehr mit Intuition und Erfah- nationalen Politik verwendet. Berechtigung er- rung. fährt diese Verwendungsweise beispielsweise In den sozialwissenschaftlichen Hand- durch die ‚Nationale Sicherheitsstrategie der lungstheorien ist strategisches Handeln ‚erfolgs- Vereinigten Staaten von Amerika‘ (National orientiertes soziales Handeln‘. Habermas (Ha- Security Strategy, NSS) von 2002, in der eine bermas 1981) hat diesem Handlungstyp seinen, übergeordnete grand strategy für die globalen von ihm präferierten Handlungstyp des ‚ver- Ziele der USA entworfen wird. Diese grand ständigungsorientierten Handelns‘ gegenüber- strategy beruht auf einer bestimmten, durch gestellt. Die Erfolgsorientierung des strategi- politische Akteure vorgenommenen Interpreta- schen Handelns ist aber genauer zu bestimmen tion der Weltlage. Sie hat das Vorrecht der rei- als die Orientierung an möglichen Erfolgspo- nen politisch-militärischen Zielbestimmung, der tenzialen, die es noch zu nutzen gilt. sich dann die verschiedenen Politiken unterord- Am weitesten ist der Strategiebegriff in den nen müssen. Wirtschaftswissenschaften verbreitet, insbeson- dere in der Literatur zur Praxis der Unterneh- 2.2 Der Planungsbegriff mensführung. Auch hier waren die Verwen- dungsweisen der Militärtheoretiker Ausgangs- Der Planungsbegriff ist im Gegensatz zum Stra- punkt des Begriffs. Wenn es um die Ziele und tegiebegriff sehr stark von rationalistischen Zwecke eines Unternehmens geht, um die Grundannahmen geprägt. Planung ist zielorien- Marktpositionierung, um die Produktauswahl tierte Handlungsvorbereitung und Koordinati- oder die Finanzplanung sind strategische Ent- on von verschiedenen Handlungszielen über scheidungen notwendig. Der Doyen der strate- einen längeren Zeitraum hinweg. gischen Planung im Bereich der Wirtschafts- Rationale Politiksteuerung durch Planung wissenschaften, Henry Mintzberg, sieht in der war das Ziel der Planungseuphorie Ende der Planung ein „formalisiertes Verfahren zur Er- 1960er und Anfang der 1970er Jahre (siehe: zielung artikulierter Ergebnisse, in Form eines Mayntz/Scharpf 1973). In dieser Phase hatte integrierten Systems von Entscheidungen.“ die Theoriediskussion noch Einfluss auf die (Mintzberg 1995:16) Wesentliche Elemente der politische Praxis. Nach Dietrich Fürst (o.J.) las- Planung sind Rationalität, analytisches Vorge- sen sich drei Stränge der Planungstheorie un- hen, Artikulation und Formalisierung. Die Stra- terscheiden: tegie ist daher ein ‚Muster‘, die „Beständigkeit a) entscheidungstheoretische Konzepte: Diese des Verhaltens über einen gewissen Zeitraum“ Ansätze kommen aus der Betriebswirt- (Mintzberg 1995:30). Bei der Strategiebildung schaftslehre und befassen sich unter ande- geht es darum, Handlungsmuster in einer Orga- rem mit Budgetierung und aufgabenbezoge- nisation zu erkennen und zu verfolgen. Strate- nen Planungssystemen. gisches Management soll ‚mögliche Welten‘ er- b) Theorien politischer Planungsprozesse: Hier öffnen, in dem Sinne, dass Erfolgspotenziale wurden vor allem die normativen Anforde- 22 Rudolf Speth

rungen von politischer Planung in pluralisti- 2.3 Von der Planungseuphorie zur schen demokratischen Systemen themati- Planungsskepsis siert. In diesen Theorien herrschte die Skep- Die Visionen eines „demokratisch gesteuerten sis, ob sich in demokratischen Systemen Kapitalismus“ (Scharpf 1987:17), wie sie staatliche Planung überhaupt realisieren Scharpf und andere in den 1960er Jahren ent- lässt.1 wickelten, vertrauten auf politische Planung mit c) Kybernetische Planungstheorien: Sie ver- dem Ziel einer Rationalisierung der Politik. Die- standen Planung als eine Form der Steue- ser Planungsoptimismus war verbunden mit ei- rung komplexer Systeme, fanden aber auf- ner Sichtweise des demokratischen Staates als grund der hohen theoretischen Abstraktion umfassender Planungs- und Steuerungsinstanz kaum Verbreitung. für gesellschaftliche Prozesse und für die Vor- Ein wesentlicher Aspekt der Planungsdis- bereitung und Durchführung politischer Pro- kussion in Deutschland war die Auseinander- gramme. Die Reformprogramme aus den 1960er setzung zwischen den an amerikanischen und und 1970er Jahren atmeten diesen Geist vom spieltheoretischen Entscheidungstheorien orien- Primat der Politik. tierten Planungstheoretikern (Scharpf, Mayntz, Dieser Optimismus war in zweierlei Hin- Böhret) und marxistischen Staatstheoretikern sicht naiv. Einmal rechnete er nicht mit den Pro- (Offe, Hirsch, Naschold, Narr, Habermas). Letz- blemen der Rationalität, die sich aus unvoll- tere fragten nach der Rolle des Staates im kapi- ständigen Informationen, aus der Einbeziehung talistischen Prozess und seiner Steuerungskraft. von Werten und aus der organisatorischen Ei- Durch diese Fixierung auf den Staat wurde die genlogik ergeben. Zum zweiten wurde politische Seite der Planung in den Mittelpunkt insbesondere die formale Rationalität funktio- gestellt. Die Skepsis dieser Autoren gegenüber nierender Staatsbürokratien überschätzt. Haber- der Planung als Methode der gesellschaftlichen mas hat im Anschluss an Max Weber die unter- Steuerung wurde in der Regel mit der Eigendy- schiedlichen Dimensionen von Rationalität her- namik des kapitalistischen Produktions- und ausgearbeitet und in Modernisierungsprozes- Verwertungsprozesses begründet und die Au- sen die Entkopplung von formal organisierten tonomie des Staates deshalb als gering veran- Handlungsbereichen von anderen lebensweltli- schlagt. chen Bereichen aufgezeigt. Politische Planung bedeutet die konkrete Im Laufe der 1970er Jahre wurde deutlich, Ausarbeitung von strategischen Entwürfen. dass der staatlichen Interventions- und Hand- Sie ist von daher der zweite Schritt nach der lungsfähigkeit deutliche Grenzen gesetzt sind. Strategiebildung. In der Politikwissenschaft Die Planungsdiskussion brach Mitte der 1970er ist allerdings meistens Planung nicht in stra- ab und viele Politikwissenschaftler widmeten tegisches Denken eingebettet worden. Der sich stattdessen dem Vollzug politischer Pro- grundlegende Unterschied zwischen Strate- gramme und Entscheidungen (Mayntz 1980; gie und Planung bleibt aber bestehen. Denn Mayntz 1983). Diese sogenannte Implementa- Planung arbeitet mit einem Begriff von Rati- tionsforschung verdeutlichte die Diskrepanz onalität, der eindimensional ist, während im zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Poli- Strategiebegriff immer auch die Möglichkeit tikprogrammen und fand damit ein weiteres unvollständiger Rationalität mitgedacht wird. Argument gegen die Ansprüche der Politiksteu- Zudem geht es bei Strategiebildung immer erung. Politik, so war das Ergebnis dieser For- auch um die sich verändernden Umweltbe- schungsrichtung, ist gegenüber den komplexen dingungen. Problemen eher ohnmächtig. Strategiebildung in der Politik 23

Mit dem Markt wurde ein anderer Steue- zusetzen und politische Strategien sind nicht rungsmechanismus entdeckt, der nun immer stär- einfach aus militärtheoretischen Kalkülen abzu- ker in Konkurrenz zu staatlichem, hierarchisch- leiten. Aus der Managementliteratur kann aber bürokratischem Handeln trat. In der Folge davon eine Anleitung für die Operationalisierung stra- kam es immer mehr zum Einbau von Wettbe- tegischer Planung entnommen werden. werbselementen in staatliches Handeln und zur Es gibt zudem bereits wichtige praktische Verlagerung von Staatsaufgaben auf private Versuche, Strategiebildung stärker zu formali- Akteure. Der Staat organisierte Quasi-Märkte sieren. So hat der britische Premierminister Tony und privatisierte Teile des Staatsapparates. Blair eine Strategy Unit gegründet, die sich mit Die Steuerungsdebatte in der Politikwissen- politischer Strategiebildung auch konzeptionell schaft in den 1980er und 1990er Jahren hat eine befasst und einen Strategy Survival Guide her- grundlegende Skepsis erbracht. Die Gestaltungs- ausgegeben. Dort werden politische Strategien möglichkeiten der Politik würden gegen Null sehr allgemein definiert (Prime Minister´s Stra- tendieren und übrig bliebe eine Politik der klei- tegy Unit 2004:5). nen Schritte (Nullmeier/Saretzki 2002). Im Folgenden sollen wesentliche Elemente Unterstützung bekam die Skepsis gegenü- strategischer Politikplanung diskutiert werden. ber strategischer Steuerung durch die Luhmann- Sie versuchen dabei, den Begriff der politischen sche Systemtheorie, die schon aufgrund ihrer Strategie zu umreißen und zu erklären. Den- Anlage Handlungen und Entscheidungen von noch bleibt mit Raschke festzuhalten: „Wir wis- Akteuren nicht mehr thematisierte. Vielmehr sen fast nichts drüber, was strategische Politik- ging es um Systemlogiken und um die Wech- akteure in strategischer Hinsicht wirklich tun selwirkungen zwischen den unterschiedlichen und denken“ (Raschke 2002:215). Systemen. „Die funktional differenzierte Ge- sellschaft operiert ohne Spitze und ohne Zen- 2.4.1 Zielfestlegung, Situationsanaly- trum. In dieser Theorierichtung gibt es daher se und Strategieformulierung kein „Steuerungszentrum“ aber auch keine „Zen- tralagentur für die Behandlung von Umweltfra- Bei einer politischen Strategieplanung geht es gen.“ (Luhmann 1997:803) nicht nur um den Wahlsieg, sondern auch dar- Die im Fach Politikwissenschaft sehr ver- um, was man mit dem Wahlsieg erreichen möch- breitete Skepsis korrespondierte mit dem realen te. Die Zielfestlegung kann in der Gewinnung Geschehen auf der politischen Bühne in von Machtpositionen, Mehrheiten, Koalitionen, Deutschland. Bündnissen bestehen, aber auch in Inhalten, die über politische Programme (Reformen) erreicht werden sollen. 2.4 Strategische Politikplanung Sie wird oft mit der ersten Phase der Strate- Aus der Sprache der Militärtheoretiker und der giebildung verbunden. In diese Phase fällt dann Wirtschaftswissenschaftler können zwar be- neben der Festlegung dessen, was man errei- stimmte Anregungen übernommen werden, chen möchte, auch die Wahl des Weges und der doch um die Formung eines Begriffs von stra- Mittel, wie man es erreichen möchte. Strategi- tegischer Politikplanung und die Füllung des sche Politikplanung muss praktikabel sein, des- Konzepts ‚strategische Politik‘ (Raschke 2002) halb sind allgemein anwendbare, d.h. operatio- müssen sich Politikwissenschaftler und Prakti- nalisierbare Kriterien notwendig. Bereits in die- ker selbst bemühen. Denn politisches Handeln ser frühen Stufe ist die Verschriftlichung der ist nicht mit unternehmerischem Handeln gleich- Ergebnisse mittels eines Projektplanes notwen- 24 Rudolf Speth

dig, der alle wichtigen Elemente enthält. Denn, profile, Einstellungen, Wahlverhalten etc.) be- „eine Strategie – egal für was – heißt zunächst zieht sich meistens auf die eigene Umwelt (Geg- einmal einen Plan zu haben. Mehr noch: einen ner, Kooperationspartner, etc.), muss dabei aber Plan aufzuschreiben, an den man sich halten auch die Zielgruppe und die eigene Organisati- kann und will“ (Althaus 2002:14). on oder das eigene Team im Blick behalten. Jede strategische Planung beginnt mit einer In der Phase der Strategieformulierung geht Situationsanalyse. Dazu gehört die Bewertung es darum, auf der Basis der Ziele und der Wis- des Umfeldes, der politischen Konkurrenzsitu- sensakkumulation die Strategie auch tatsächlich ation, der Stärke der eigenen Organisation und zu formulieren. Wichtigster Teil ist dabei das des politischen Gegners, eine Bewertung der übergeordnete Ziel und die Art und Weise, wie Mobilisierungsfähigkeit der Mitglieder, der po- dieses Ziel erreicht werden soll. Für politische tenziellen Medienreaktionen. Zu einer umfas- Strategiebildung entscheidend sind daneben senden Situationsanalyse gehört aber auch die auch die zentralen Überzeugungen, Visionen, Bewertung der medialen Landschaft und der Werte und Prinzipen der Partei, der Regierung Stimmungen in der Bevölkerung. Ein weiteres oder des Verbandes. wesentliches Element der Situationsanalyse ist Die Formulierung der Strategie muss so be- die Beschaffenheit des Informationsmanage- schaffen sein, dass Risiken, Unwägbarkeiten ments, die Gewinnung, Auswertung und Inter- und unkalkulierbare Veränderungen miteinbe- pretation von Informationen. Da Strategiebil- zogen werden können. Clausewitz hat dafür den dung ein formalisierter und kein intuitiver Pro- Begriff der ‚Friktion‘ geprägt. zess ist, kommt es vor allem auf die analyti- An die Strategieformulierung schließt sich schen Kapazitäten an, die zur Verfügung stehen die Konzeption von realistischen Schritten der oder mobilisiert werden können. Umsetzung an. Aus einer gründlichen Situationsanalyse er- wachsen dann nach Raschke „Ziel-Mittel-Um- 2.5 Voraussetzungen für strategi- welt-Kalküle“. (Raschke 2002:210) Es fehlt die- sche Politikplanung sen Kalkülen aber die Operationalisierbarkeit, weil es dafür bislang keine theoretische Model- Die Fähigkeit zur strategischen Politikplanung lierung noch verallgemeinerungsfähige prakti- ist in politischen Organisationen nicht einfach sche Erfahrungen gibt. Hier kann auch nicht vorhanden. Strategische Planung hängt von or- einfach auf die strategische Planung von Unter- ganisatorischen und von persönlichen Kompe- nehmen zurückgegriffen werden. Operationali- tenzen der beteiligten Akteure ab, die erworben sierbare Strategien erfordern in dieser Phase eine werden können. An diesen Voraussetzungen strikte Evidenzbasierung. Dies bedeutet, dass mangelt es in vielen Organisationen. Hinzu kom- hier intensiv mit empirischen Daten gearbeitet men muss die Bereitschaft, die eigenen Organi- werden muss. „Evidence based strategy“ nennt sationsstrukturen auch verändern zu wollen. es der „strategy survival guide“ (Prime Mi- Die Summe der folgenden Elemente – Poli- nister’s Strategy Unit 2004:18) der Blair-Re- tische Führung, Profilierungskompetenz sowie gierung. organisatorische Voraussetzungen – bedingt die Jede Situationsanalyse beginnt also mit der Strategiefähigkeit eines politischen Akteurs. Sammlung von Daten, Informationen und Wis- „Strategie heißt gezielte politische Führung.“ sen. Die Wissensbeschaffung (demoskopische Matthias Machnig (Machnig 2002a) hat damit Daten, Forschungsergebnisse, Rechercheergeb- einen Begriff ins Spiel gebracht, der in der Wis- nisse, Surveys über soziales Verhalten, Werte- senschaft und auch in der Praxis nur mit spitzen Strategiebildung in der Politik 25

Fingern angefasst wird. Politische Führung kann vorstand oder bei der Verbandsführung. Dort als die Fähigkeit verstanden werden, Probleme werden die Entscheidungen getroffen, die dann frühzeitig zu erkennen, einen Entwurf für die weiter verfolgt und auf den unteren Handlungs- Zukunft zu haben und die Aufgaben anzupa- ebenen diskutiert und umgesetzt werden sollen. cken. Politische Führung muss in der Demo- Ein strategisches Zentrum umfasst wenige Per- kratie in ‚einen öffentlichen Diskurs eingebettet sonen, die in den relevanten Positionen sitzen sein‘ (Dittgen 2001). und die auch die persönlichen Voraussetzungen Politische Führung meint neben einer fun- besitzen. Für Raschke ist das „strategische Zen- damentalen Art der Richtungsentscheidung auch trum“ ein „informelles Netzwerk aus drei bis viel handwerkliches Können in der Umsetzung fünf Personen“ (Raschke 2002:218). einmal gewählter Strategien. Über Fragen der politischen Führung wird in der Parteienfor- 2.6 Die Unfähigkeit zu strategi- schung zunehmend diskutiert (Walter 1997; schem Handeln in der Praxis Walter/Müller 2002). Die Führungsmethoden, die sich aus der Politikwissenschaftler beobachten einen gene- Praxis ablesen lassen, sind demgegenüber eher rellen internen und externen Steuerungsverlust als „Interdependenzmanagement“ zu begreifen in der Politik. Die Frage nach den Möglichkei- (Korte 2001:530f). Von der Politik ist damit aber ten der strategischen Steuerung der öffentlichen keine Orientierung mehr zu erwarten, weil sie Kommunikation fasst der Grünen-Politiker Fritz selbst nicht führt, sondern Entscheidungen nur Kuhn in ein Bild: „Man sitzt auf einem Baum- noch auf Sichtweite trifft. stamm, der in einem Hochwasser oder gar in Zu den Voraussetzungen für Strategiebildung einem reißenden Fluss treibt, und stellt sich die gehört außerdem die Fähigkeit der Organisati- Frage: Kannst Du den steuern? Die Frage der on, Orientierungen bereitzustellen. Die Profi- Öffentlichkeitssteuerung führt zunächst einmal lierungskompetenz als ein zentrales Element des zu der Erkenntnis: Man kann vieles eben nicht strategischen Denkens umfasst nach Machnig steuern, man ist allen möglichen Zufälligkeiten, am Beispiel der Parteien die Fähigkeit zur Strömungen und Widrigkeiten des Flusses aus- • Personifizierung: Vermittlung von Lösungs- gesetzt. Aber zu sagen, man hätte selbst keinen und Zukunftskompetenz durch ein Gesicht Einfluss darauf, ob man durchkommt oder her- • Verdichtung: Bildung klarer und verständli- unterfällt, wäre auch ignorant. Eine falsche Be- cher Botschaften wegung und man liegt im Wasser. Es gibt ein • Markenbildung: Wiedererkennbarkeit, Ori- paar stabilisierende Bewegungen, die man entierung und Vertrauen durch Leitbilder gemeinhin als Steuerung ausgibt, wenn man (Machnig 2002a:167). durchkommt.“ (Kuhn 2002:97) Andere Organisation wie Gewerkschaften und Elmar Wiesendahl betrachtet die Parteien gar NGOs stärken ihr Werteprofil durch Themen- als „Fehlkonstruktionen“, weil sie als „organi- wahl, Kampagnen und durch Kommunikation. sierte Anarchien ein untaugliches Objekt strate- Dies bedeutet auch, dass Zuspitzungen vorzu- gischer Führung bilden“ (Wiesendahl nehmen sind, die das Werteprofil und damit die 2002:202). Die Beobachtung des politischen Identität der Organisation stärken. Betriebs führt rasch zu dem aktuellen Befund, Strategische Politikplanung hat zudem or- dass es eine vorausschauende politische Pla- ganisatorische Voraussetzungen. Sie ist ange- nung nicht gibt. Stattdessen dominiert kurzfris- siedelt in den Führungsstrukturen, im Kanzler- tiges Denken. Die Kurzatmigkeit von Themen- amt, beim Parteivorstand, beim Gewerkschafts- konjunkturen, die bei den Medien zu beobach- 26 Rudolf Speth

Workshop ,Strategiebildung und Strategieblockaden‘ am 19./20. November im Sony-Center, Berlin ten ist, spiegelt sich in der Hektik von Vor- Dass neben der inhaltlich-programmatischen schlägen und Gegenvorschlägen, die der poli- Planung noch die strategische Planung der Kom- tische Betrieb in Berlin jeden Tag hervorbringt. munikation der Politik zu berücksichtigen wäre, Dennoch gibt es bei Parteien, Gewerkschaf- zeigt sich sowohl bei der Regierung als auch ten, Unternehmensverbänden eine prinzipielle bei der Opposition. Für die Agenda 2010 be- Einigkeit über grundlegende Fragen. Es ist steht bis heute kein strategisches Kommunika- schnell klar, welche Aufgaben anzupacken tionskonzept. Es fehlt eine übergreifende, ori- sind, doch weitere Schritte erfolgen nicht. Auch entierende Botschaft, ein Rahmen, der die vie- weil strategisches Denken unterentwickelt ist, len Einzelmaßnahmen der eigenen Anhänger- werden dringend notwendige Entscheidungen schaft, aber auch den Betroffenen näher bringt. nicht getroffen. Strategische Politikplanung Auch bei der Opposition gibt es kaum An- wird immer noch als Überforderung und vor sätze einer Planung politischer Prozesse und allem noch als Geheimwissenschaft empfun- Themen in einer längeren Linie: auf eine strate- den. Dies hat damit zu tun, dass strategisches gische Analyse der eigenen Defizite bei der letz- Denken im Zusammenhang mit Politik sus- ten Bundestagswahl wurde verzichtet, es gibt pekt erscheint und die Werkzeuge strategi- gravierende inhaltliche Differenzen in der Uni- scher Politikplanung gar nicht in der Vorstel- on in den gegenwärtig entscheidenden Politik- lungswelt der Akteure der politischen Arena feldern. Von einer strategisch orientierten Ge- vorkommen. genmacht kann nicht die Rede sein. Strategiebildung in der Politik 27

2.7 Ergebnisse strategischen Politikplanung, auf die strategi- sche Politikkommunikation, eingegangen. Die Wissenschaft hat bislang kaum einen Bei- trag zur Verbesserung der Strategiefähigkeit der politischen Akteure geleistet, weil das Thema 3.1 Politische Kommunikation strategische Politikplanung in den Sozialwis- Politische Kommunikation ist für die Vermitt- senschaften kaum behandelt wird. Dies hängt lung von Politik unerlässlich. „,Kommunikati- auch damit zusammen, dass sich beispielsweise on‘ bezeichnet den Vorgang der Bedeutungs- die Politikwissenschaft vornehmlich mit Poli- vermittlung, ,Politik‘ ist jenes gesellschaftliche cy-Fragen und nicht mit Organisationsfragen Teilsystem, das allgemein verbindliche Entschei- beschäftigt. Die Organisationsentwicklung und dungen generiert. ,Politische Kommunikation‘ die Struktur politischer Organisationen stehen ist ein zentraler Mechanismus bei der Herstel- nicht im Mittelpunkt der fachlichen Aufmerk- lung, Durchsetzung und Begründung dersel- samkeit. In den Wirtschaftswissenschaften spielt ben. Daher ist politische Kommunikation nicht der Strategiebegriff in der Managementtheorie nur ein Mittel der Politik. Sie ist selbst Politik.“ eine zentrale Rolle. Dieser kann aber nicht ein- (Saxer 1998:25) fach in die Politikwissenschaften übernommen Der Bedeutungszuwachs von politischer werden. Die Politikwissenschaft sollte sich künf- Kommunikation hat auch mit der Medialisie- tig verstärkt mit Fragen der Strategiebildung in rung von Politik zu tun. Ohne die Kenntnisse politischen Organisationen befassen. der Mediengesetze kommt politische Kommu- Theorie und Praxis bewegen sich aber nicht nikation heute kaum mehr aus. Da Politik heute immer im Gleichschritt. Helmut Wiesenthal sieht nicht mehr allein von staatlichen Akteuren ge- gegenwärtig die Vermutung bestätigt, dass die macht wird, öffnet sich das Feld der politischen „Konjunktur des wissenschaftlichen Raisonne- Kommunikation auf viele verschiedene Akteu- ments über die Bedingungen anspruchsvoller re. Begründungs- und Darstellungsansprüche Reformen einer anderen Rhythmik folgt als die werden von unterschiedlichen Akteuren vorge- Konjunktur des Selbstvertrauens politischer bracht, so dass wir einen kommunikativen Wett- Akteure“(Wiesenthal 2002:78). Daher warnt er bewerb beobachten können, bei dem es darum seine wissenschaftlichen Kollegen davor, die geht, das Publikum von der Richtigkeit des ei- ‚gesellschaftlichen Selbstgestaltungspotenziale’ genen Handelns zu überzeugen und die eigene zu unterschätzen. Position in die Nähe der Adressaten zu rücken.

3 Kommunikation als politisch- 3.2 Entwicklungen und Defizite strategisches Mittel In der Entwicklung der politischen Kommuni- Die inhaltliche Festlegung von politischen Zie- kation lassen sich Trends beobachten, die man len, das Agenda-Setting, die organisatorische mit dem Begriff der Strategisierung beschrei- Ausrichtung auf diese Ziele sind ohne Kommu- ben kann. Bentele prognostiziert für die politi- nikation nicht zu erreichen. Für politische Or- sche Kommunikation, dass sie „insgesamt zu- ganisationen ist Kommunikation ein wesentli- nehmend unter strategischen Aspekten, also lang- ches und unverzichtbares Element. Die politi- fristig geplant, angegangen und umgesetzt wird“ sche Kommunikation muss in die Strategiebil- (Bentele 1998:144). Es gibt aber auch Defizite, dung mit einbezogen werden. Im Folgenden wird die deutlich machen, wie politische Akteure hin- deshalb auf die andere Seite der Medaille der ter den Möglichkeiten und Erfordernissen poli- 28 Rudolf Speth

tischer Kommunikation hinterherhinken. Die gezielt versuchen, ihre Binnen- und Außenkom- Zunahme der ‚Darstellungspolitik‘ gegenüber munikation zu verändern. der ‚Entscheidungspolitik‘ hat zu einer Kon- Auf der Ebene der Akteure sind Anstren- zentration der Aufmerksamkeit auf die medien- gungen zu beobachten, Kommunikation als po- vermittelte ,symbolische Politik‘ (Sarcinelli litisch-strategisches Mittel einzusetzen. Dies 1987; Korte, Hirscher 2000) geführt. drückt sich in der Regel im spektakulären Aus- Wenn Entscheidung und Darstellung von bau der Öffentlichkeitsarbeit aus. Dieser Aus- Politik tendenziell auseinander treten, so ver- bau beruht nicht immer auf einer überlegten Stra- schwinden Fragen des institutionellen Arrange- tegiebildung hinsichtlich der Kommunikation, ments, der Verfahren und der Legitimation von noch ruht er auf einer fundierten politischen Entscheidungen allzu leicht, während das „sym- Strategiebildung. Doch zeigt die Ausweitung bolische Repertoire strategisches Allgemeingut“ der Öffentlichkeitsarbeit von Institutionen und (Saxer 1998:37) wird. Organisationen, dass das „symbolpolitische Die gesteigerte Komplexität des politischen Repertoire strategisches Allgemeingut wird“ Geschehens wird auf der Seite der Kommuni- (Saxer 1998:37). Professionelle Öffentlichkeits- kation verstärkt durch den Wandel hin zur Me- arbeit ist einerseits eine zwingende Notwendig- diengesellschaft. Dieser Wandel geht einher mit keit von politischen Akteuren, andererseits zeigt der Herrschaft von bestimmten medialen Ge- der Alltag der politischen Kommunikation, dass setzen von Darstellung und Transport von po- sie nur wenigen gelingt und die Praxis be- litischen Botschaften und auf der Seite der Re- herrscht wird von Pannen und Unzulänglich- zipienten mit bestimmten Erwartungshaltun- keiten. gen und Bedürfnissen. Diese Herrschaft der Zu beobachten ist, wie immer mehr Kom- Medien setzt politische Institutionen und Or- munikationsexperten Dienste anbieten und dass ganisationen unter Druck und erwartet von ih- die Nachfrage nach solchen Diensten steigt. Die nen eine Anpassungsleistung an diese Gesetze Arbeit dieser Experten wird nicht immer öffent- und Regeln. Die politische Kommunikation lich gemacht, doch zeigt sich die Wirkung der wird damit wesentlich vom Mediensystem mit- Experten darin, dass sich die Kommunikations- bestimmt und die Informations- und Kommu- strategien angleichen. Wahlkampfstrategien nikationskonzepte der Akteure werden durch werden nachgeahmt und Inszenierungen kopiert, die medialen Bedingungen mitgeformt.Dieser so dass die wettbewerblichen Vorteile verloren Veränderungsdruck auf politische Institutio- gehen. nen und Organisationen macht sich in verstärk- Da der Anspruch an Politik und politische ten Professionalisierungsanstrengungen be- Organisationen als Lösungsinstanz für unter- merkbar. schiedlichste Probleme zunimmt, die Ansprü- che nach Partizipation und Gemeinwohlorien- tierung steigen und aufgrund der gesellschaftli- 3.3 Die Ebene der Akteure chen Segmentierung immer mehr Teilöffentlich- Auf der Seite der Politikwissenschaft und der keiten angesprochen werden müssen, steigen politischen Kommunikationsforschung gibt es die Anforderungen an die Presse- und Öffent- allerdings einen „Mangel an systematischer lichkeitsarbeit und an strategische Kommuni- Analyse von Organisationen unter Kommuni- kation. Saxer kommt vor diesem Hintergrund kationsaspekten“ (Jarren, Sarcinelli 1998: 18). zu dem Ergebnis, dass die Presse- und Öffent- Es gibt jedoch in den letzten Jahren zahlreiche lichkeitsarbeit trotz aller Professionalisierungs- Entwicklungen, die zeigen, dass Institutionen tendenzen „unzureichend als Handlungsfeld Strategiebildung in der Politik 29

organisiert ist und die in ihm tätigen Personen publikum zu erreichen. Die verstärkte Inszenie- nicht hinreichend für eine strategisch ausgerich- rung hat sich nicht ausgezahlt. Neue Kampag- tete Öffentlichkeitsarbeit qualifiziert sind“ (Sa- nenformen sind notwendig, um die Bürger xer 1998: 4). wieder stärker miteinzubeziehen und Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. 3.4 Strategische Kampagnenführung 4 Praxisfelder strategischer Politikplanung In der Sprache der Werbung, des Marketings, 4.1 Kanzleramt und der Kampagnenführung und der Wahlkampf- Staatskanzleien kommunikation haben die Begriffe der Kriegs- führung Einzug gehalten. Nicht nur der War Bei der Regierungspraxis ist der Bedarf nach Room, das Zentrum jeder Kampagnenführung, strategischer Planung sehr groß, weil Regieren erinnert an den militärischen Ursprung. Kam- vor allem eines heißt: Entscheiden. Wenn nach pagnen sind kommunikative Feldzüge. dem Ort von strategischen Planungsprozessen Kampagnen zu führen, war bislang das gesucht wird, so kommen hier vor allem das Markenzeichen von politischen Organisationen. Kanzleramt und die Staatskanzleien in Frage. Für Gewerkschaften waren Kampagnen ein Steuerungs- und Strategiebildungsprozesse wichtiges Mittel, um die Interessen der Arbeit- hängen aber an den Grundbedingungen des nehmer zu Gehör zu bringen. Die mediale Ins- Regierens in der Bundesrepublik. Die Kanzler- zenierung der Kampagnenführung haben Bür- demokratie mit der starken Stellung des Kanz- gerinitiativen, NGOs und Organisationen wie lers würde strategische Steuerung begünstigen, Greenpeace und Robin Wood perfektioniert. wenn sie nicht durch die Prinzipien der Ko- Das Ziel einer Kampagne als kommunikati- sens- und der Koalitionsdemokratie konterka- ver Initiative ist, „Vertrauen in die Glaubwür- riert werden würde. Hinzu kommen noch Ver- digkeit einer Organisation, Institution oder Fir- handlungssysteme und Politiksteuerung durch ma und Zustimmung zu den eigenen Intentio- verschiedene föderative Ebenen. Mit der These nen zu erzeugen.“ (Schönborn/Wiebusch von der Politikverflechtungsfalle und den daraus 2002:83) Der gezielte und überlegte Einsatz von resultierenden Handlungsproblemen hat Scharpf unterschiedlichen Kommunikationsformen und (1978) schon vor Jahren auf ein ähnliches Pro- Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit erfordert stra- blem hingewiesen. Korte will aber dennoch unter tegische Planung. Denn nur so können Auf- diesen ungünstigen Bedingungen Versuche ent- merksamkeit und Zustimmung zu den politi- deckt haben, wie der Kanzler mit bestimmten schen Botschaften erzeugt werden. Regierungstechniken die Steuerungsproblema- In der Politik ist inzwischen die Tendenz des tik meistert. Denn unter den dargestellten Be- permanent campaigning zu beobachten. Der dingungen bedarf es „umso mehr mächtiger Versuch, professionell medienzentrierte Auf- Zentralinstanzen, als sie allein in der Lage sind, merksamkeit und Akzeptanz in der Öffentlich- die konsensdemokratische Pluralität und Frag- keit herzustellen, ist nicht mehr auf den Wahl- mentierung zu bündeln und einer Entscheidung kampf beschränkt, sondern wird zum Alltag. zuzuführen.“ (Korte 2001:530) Dies erzeugt aber beim Publikum und den Wäh- Korte hat aus der Praxis des Regierens acht lern negative Konsequenzen. Desinteresse macht Versuchsformen destilliert, mit denen der Kanz- sich breit und Politiker haben es zunehmend ler und das Kanzleramt gegenzusteuern versu- schwerer, mit ihren Botschaften das Massen- chen: „gespielte Kohärenz, Machtzentralisie- 30 Rudolf Speth

rung, Stilles Regieren, Netzwerk-Pflege, Chef- rungskommunikation umfassend zu moderni- sachen-Mythos, Telepolitik, Charme der Res- sieren. Dies betraf institutionell das Presse- und source Außenpolitik, Ideen-Management“ Informationsamt der Bundesregierung, das un- (ebenda). Ob allerdings diese Versuche ange- ter Kohl mehr oder weniger „eingefroren“ sichts des Anwachsens partizipativer Ansprü- (Pfetsch 2003:28) war. Inhaltlich bedeutete die che an das Regieren erfolgreich sein werden, Aufwertung eine Übertragung von Marketing- den Verlust von Orientierungsmilieus zu kom- Methoden auf die Politik und speziell auf die pensieren und dem wachsenden Entscheidungs- Regierungskommunikation und die Umstruk- bedarf gerecht zu werden, muss bezweifelt wer- turierung einer Behörde zur PR-Agentur der den. Bundesregierung. Erste Maßnahmen der Re- Wenn es, wie Korte meint, nur noch darauf gierungs-PR waren nicht nur ein einheitliches ankommt, das ein ‚Multi-Options-Kanzler‘ Erscheinungsbild (Corporate Design) herzustel- Spielräume auslotet und Allianzen auf Zeit bil- len, sondern auch die Arbeit auf bestimmte The- det, dann muss nach der Sinn stiftenden Orien- men zu konzentrieren und die politische Kom- tierung und nach der ‚Meta-Erzählung‘ gefragt munikation an bestimmten Zielgruppen auszu- werden, die Politik gerade für Reformprojekte richten. Am Beispiel der Kampagne ‚Familie liefern muss, die mehr wollen als nur inkremen- Deutschland‘ bedeutete dies, dass alle Ressort talistisch nachzujustieren. Diese Diagnose stützt mit einbezogen und die klassischen familienpo- insgesamt die Erkenntnis, dass das heutige Ver- litischen Leistungen der Regierung herausge- ständnis von politischer Planung von „mehr stellt wurden. Bescheidenheit und größerem Wirklichkeits- Die Staatskanzleien der Länder sind ein an- sinn“ (Mertes 2000:71) gekennzeichnet ist. Im derer wichtiger Ort der strategischen Politik- Vordergrund stehen Analysen von Problemen, planung. Hier ist die Praxis uneinheitlich, doch die Ausarbeitung von Problemlösungsstrategi- lässt sich die Tendenz beobachten, dass Pla- en tritt in den Hintergrund und wird den Res- nungs- und Grundsatzabteilungen aufgelöst oder sorts überantwortet. Deutlich wurde unter ausgedünnt werden wie im Falle von Rhein- Schröder, dass die politische Planung mit dem land-Pfalz. Politische Planung in der rheinland- Redenschreiben als Ideenmanagement besser pfälzischen Staatskanzlei basierte auf der Koa- verzahnt wurde. Die Redenschreiber sind Pro- litionsvereinbarung und der Regierungserklä- duzenten von Ideen, die sich der Kanzler und rung. Nach Mielke gab es in der Zeit wischen das Kanzleramt zu eigen machen. 1996 und 2001 vier Kernelemente: erstens den Neben diesen Veränderungen in der Ent- Grundsatz des „permanent campaigning“, zwei- scheidungspolitik wird die Darstellungspoli- tes das „simple story-Prinzip“, drittens das tik wichtiger und besser mit ersterer verzahnt. „Chef-Sachen-Prinzip“ und viertens das „Wä- Tony Blair exerzierte in Großbritannien vor, scheleinen-Prinzip“, das es ermöglichte, die fest- wie die Vermarktung von Politik erfolgen kann. gelegten Planungsschritte einzuhalten, gleich- Zu beobachten ist, dass Regierungskommuni- zeitig aber erlaubte, flexibel die politischen Are- kation wichtiger wird. Durch die Professiona- nen und Ebenen zu wechseln. (Mielke lisierung des Politik-Marketings werden für 2003:128f) Wichtig war es nach Mielke, dass die Regierung Strategien in Bezug auf Mas- es ein ‚politisches Zentrum‘ gab, mit dem Mi- senmedien für erfolgreiches Regieren elemen- nisterpräsidenten, dem Chef der Staatskanzlei tar wichtig. Staatssekretär Klaus Rüther sowie dem Regie- Die Regierung Schröder hat mit ihrem Amts- rungssprecher Walter Schumacher. (Mielke antritt 1998 den Versuch gestartet, die Regie- 2003:131) Die Staatskanzlei Rheinland-Pfalz Strategiebildung in der Politik 31

kann als ein Beispiel genommen werden, wie gierungspolitik mit der Partei verzahnen zu strategische Planung umgesetzt werden kann. müssen und eine breitere Schicht in der Bevöl- kerung anzusprechen, damit die Politik der Re- gierung Akzeptanz auch über die Partei und die 4.2 Parteien SPD-Wähler hinaus findet. Dieses Defizit mach- Parteien sind die wichtigsten politischen Ak- te sich bei der letzten Bundestagswahl allein teure, doch immer deutlicher wird der Eindruck, schon dadurch bemerkbar, dass das Kanzler- dass sie nicht mehr in dem Maße in der Lage amt der Meinung war, man brauche keine Wahl- sind, wie sie es von ihrer verfassungsmäßigen kampagne. Es gab drei Zentren, die Kampa, die Rolle her sein müssten, die politische Agenda Parteizentrale und das Kanzleramt, die alle ver- zu bestimmen, Themen und Probleme aufzu- suchten, den Wahlkampf zu steuern. Hinzu ka- greifen und zu Lösungen zu führen. Diese De- men die fehlende kritische und ehrliche Wahl- fizite bei allen Parteien haben auch mit ihren analyse2 und die fehlende Kohärenz des Regie- Problemen der strategischen Politikplanung zu rungsprogramms zu Beginn der laufenden Le- tun. gislaturperiode. Eine Sammlung von Einzelmaß- Die politikwissenschaftliche Skepsis bezüg- nahmen „ohne Botschaft und ohne kommuni- lich strategischer Politikplanung drückt sich kativen Leitfaden“, resümiert Tretbar (Tretbar insbesondere in der Parteienforschung aus. Hier 2003:5). Im selben Stil ging es dann mit der wird mehrheitlich die These vertreten, dass Par- Agenda 2010 eineinhalb Jahre nach dem Wahl- teien als Sozialgebilde zu strategischem Han- sieg weiter. Die Agenda 2010 wurde ohne kom- deln unfähig seien. Begründet wird diese These munikatives Dach, das eine Begründung und damit, dass Parteien durch Unbestimmtheit, eine Rechtfertigung hätte liefern können, ver- Fragmentierung und lose Kopplung gekenn- kündet. zeichnet seien. Als organisierten Anarchien sei- Die Partei spielte lange Zeit keine Rolle mehr, en sie ‚Fehlkonstruktionen‘ (Wiesendahl 2002) weil man (Kanzleramt, Parteivorstand) in ihr und daher für strategische Führung untaugliche keine strategische Ressource mehr sah. Des- Instrumente. Weil die Mitglieder als Freiwillige halb gab es auch keine gründlich überlegte und andere Ziele hätten als die Parteiführung, seien abgesprochene Strategie und deshalb war auch Parteien keine homogenen politischen Akteure, die Mehrheit bei der Bundestagswahl 2002 eher die sich strategisch verhalten könnten. Parteien zufälliger Natur und nicht das Ergebnis strate- bewegen sich auf immer beweglicher werden- gischer Planung. den Wählermärkten und in Situationen wach- Der SPD fehlt eine klare Linie, die die bei- sender Unsicherheit. Parteien seien nicht führ- den Milieus – die Aufsteiger und die Moderni- bar, lautet daher eine Auskunft der Parteienfor- sierungsverlierer – integrieren könnte. Eine sol- schung. Es fehlt allerdings auch das begriffli- che Linie muss von einem strategischen Zen- che Instrumentarium einer strategischen Partei- trum entwickelt werden, das es in der SPD nicht enanalyse, so dass diese Diagnosen mit Vor- gibt. Aufgabe eines solchen Zentrums wäre sicht zu genießen sind. auch, Partei, Fraktion und Kanzleramt besser zusammenzubinden. Stattdessen wurden die Planungsstäbe im Kanzleramt abschafft und in 4.2.1 SPD der Parteizentrale ausgedünnt. Hinzu kommt der Am offensichtlichsten sind Strategiedefizite bei besondere Stil Gerhard Schröders als Kanzler der SPD festzustellen. Die SPD steht vor der und die Zwänge des Regierens, deren Ergebnis Herausforderung als Regierungspartei, die Re- Korte als „Interdependenzmanagement“ 32 Rudolf Speth

(2001:530) bezeichnet. „Man hat ihn (Schrö- sion über die Auslandseinsätze der Bundes- der, Anm. Red.) noch nie gehört, wie er sich wehr und ihr Engagement im Kosovo, aber eine Gesellschaft in acht bis zehn Jahren vor- auch an den erzielten Atomkonsens, den die stellt“, klagt Tretbar. (2003:9) Das ‚Schröder- Partei und die Wählerschaft mittragen. Des- Blair-Papier‘ aus der ersten Legislaturperiode, halb können die Grünen ohne ein starkes Zen- das eine kommunikative Basis hätte abgeben trum auskommen. können, ist vergessen. Es fehlt der SPD insge- samt eine kohärente Darstellung und ein sicht- 4.3 Kampagnen, Wahlkämpfe barer Kern, aus dem heraus sie ihre Politik ent- wirft. Tretbar nennt dies „sozialdemokratisches Am Weitesten ist das strategische Denken bei Aroma“ (2003:13). Die SPD muss dieses Aro- der Kampagnenführung in Wahlkämpfen ent- ma entwickeln, weil sie sich den veränderten wickelt. Hier konnte man am Vorbild der USA Bedingungen anpassen und neuen gesellschaft- arbeiten, und die politische Kommunikation lichen Herausforderungen stellen muss. steht im Mittelpunkt, die Impulse aus dem Mar- keting von Unternehmen und aus der PR-Bran- che aufnehmen konnte. 4.2.2 Die Grünen Machnig sieht den Wahlkampf als den Vermeintlich leichter haben es die Grünen. Die „Ernstfall aller Regeln politischer Kommunika- Grünen waren lange Jahre dafür bekannt, durch tion“. Aufgabe der Kampagne ist es, in der Öf- widerstreitende Positionen, durch sich befeh- fentlichkeit den größten Kommunikationserfolg dende Parteiflügel und durch Kakophonie in zu ermöglichen. Dazu müssen nach Machnig der Außendarstellung kaum strategiefähig zu die Hauptakteure, d.h. der Spitzenkandidat und sein. Heute präsentieren sich die Grünen in der die weiteren wichtigen politischen Personen, Regierung und im Vergleich zu anderen Partei- koordiniert werden. „Sie müssen sich vor Be- en als kommunikativ diszipliniert und sind in ginn einer Kampagne gemeinsam auf die grund- den Umfragewerten relativ stabil. sätzlichen Kommunikationslinien verständigen Noch 2001 hat Joachim Raschke den Grü- und diese im Verlauf regelmäßig, optimalerwei- nen die Strategiefähigkeit und damit auch die se mehrmals täglich, auf die aktuellen Themen Regierungsfähigkeit abgesprochen (Raschke beziehen.“ (Machnig 2002b:145) 2001:50). Raschkes Modell der strategischen Die Vereinheitlichung der politischen Kom- Parteienanalyse erbrachte für die Grünen nicht munikation betrifft die Wahl der Botschaften, nur eine Strategie-, sondern auch eine Identi- die Verständigung auf die gleiche Sprache, die tätsschwäche. Die Grünen hätten weder ein Zen- ähnliche oder gleiche Bilder benutzt, und die trum und auch „keinen Willen, der die Partei konsistente Inszenierung der Personen und The- repräsentiert“ (Raschke 2001:55), noch hätte sie men. Strategiefragen richten sich primär auf das ein ideelles Zentrum, das Orientierung vermit- Kampagnenmanagement, das sich immer mehr teln könne. professionalisiert. Einher damit geht eine Ver- Die Grünen haben es aber auch vermutlich änderung der Massenparteien, weg von der Bin- deswegen leichter, weil sie aufgrund ihrer an- nenorientierung hin zur Außenorientierung an dersartigen Wählerstruktur, nicht so hart in der den Wählern und auch an den Medien. Hinzu Kritik wie die Sozialdemokraten stehen. Es sind kommt, dass verstärkt die Analyseraster des bei den Grünen auch die erfolgreichen Häu- Marketings auf die Politik übertragen werden. tungen, die die Partei durchgemacht hat. Zu Nach Althaus muss die Botschaft auf jeden erinnern ist hier beispielsweise an die Diskus- Fall „das Maximum aus den eigenen Stärken Strategiebildung in der Politik 33

und den Schwächen des Gegners herausholen“ Richtung zu verdichten und schließlich die Is- (Althaus 2002:16). Die Botschaft muss sich an sues in Kontexte einzuordnen, damit sie auch Zielgruppen orientieren, die vorher ausgewählt kommunizierbar werden. werden, und sie muss auch Strategieoptionen Die Gegnerbeobachtung ist ein weiteres Ele- sichtbar machen können. ment, weil sich Kampagnen nicht nur an die Verknüpft mit der Frage der Botschaften ist Wähler, sondern auch auf den politischen Geg- das Thema Werte. Machnig plädiert dafür, dass ner richten. Opposition Research hat in den USA politische Botschaften symbolische Elemente eine lange Tradition und ist auch von den Wahl- enthalten müssen, Wertorientierungen, für die kämpfen in Deutschland nicht mehr wegzuden- eine Partei oder eine Person stehen. Politische ken. Sie ist die systematische und kontinuierli- Kommunikation muss daher zur Wertekommu- che Beobachtung der politischen Konkurrenz nikation (2002b) werden, denn Wahlen werden und dient dazu, Informationen zu gewinnen, die über Personen und Zukunftskompetenzen ge- für die eigene strategische Planung von Bedeu- wonnen. tung sind. Ein wesentliches Element einer Strategie Für modernes Politikmanagement ist die besteht auch darin, entscheiden zu können, was quantitative Politikforschung mit ihren beinahe man nicht tut, mit wem man nicht kommuniziert täglichen Zahlen zur politischen Stimmung und und für welche Zwecke man die finanziellen zu bestimmten Themen nicht mehr wegzuden- Ressourcen nicht einsetzt. Basis solcher Ent- ken. Teilweise ersetzen Stimmungsberichte aus scheidungen ist das Targeting, das Erfassen und der Demoskopie die eigenen strategischen An- Bedienen der gewünschten und notwendigen strengungen. Noch viel stärker wird das Instru- Zielgruppen. Gerade hier lassen sich neueste ment der Befragung während der Wahlkampag- Methoden aus dem Direktmarketing übertragen nen genutzt. und mit IT-Unterstützung Zielgruppen besser ansprechen. 4.4 NGOs, NPOs und Wichtig ist auch die Identifikation von Mei- Gewerkschaften nungsführern, denn diese sind die Zwischen- glieder zwischen der politischen Elite und dem Für viele Nichtregierungsorganisationen Wahlvolk. Sie sind die entscheidenden Größen (NGOs) und Non-Profit-Organisationen für die Veränderung des Meinungsklimas und (NPOs) ist die politische Strategiebildung über- der politischen Agenda. lebensnotwendig, aber gleichzeitig sehr schwie- Das Issue-Management, der strategische rig. Die Kampagnenführung von Greenpeace Umgang mit Sachthemen, ist ein weiteres zen- ist inzwischen zum Modellfall für Agenturen trales Element von Kampagnen. „Ziel jedes The- und Unternehmen geworden. Andere Umwelt- men-Managements ist die Erlangung der Defi- NGOs stehen Greenpeace nicht sehr viel nach. nitionshoheit über das Thema. Die eigene Es ist die Tendenz zu beobachten, dass sich vie- Sprachregelung, die eigene Sichtweise sollen le NGOs immer mehr professionalisieren und von den anderen übernommen werden.“ (Hin- sich aus dem Milieu der sozialen Bewegungen richs 2002: 45) Hier geht es um mehr als um herausbewegen (Rucht/Roose 2001). Die ver- Verpackung oder Politikdarstellung. Elemente stärkte strategische Ausrichtung der Organisa- des Issue-Managements (Issues sind eigentlich tion ist Teil dieser Professionalisierung ebenso Streitfälle und nicht so sehr Themen) sind, Is- wie das Fundraising und der Umgang mit den sues zu erkennen, nach der Analyse ein strate- Medien. Vielen NGOs fällt dies auch deshalb gisches Profil zu erstellen, die Issues zu einer leicht, weil sie über eine überschaubare organi- 34 Rudolf Speth

satorische Struktur verfügen und in der Regel Führung gezeigt, dass keineswegs eine Road- ihre politischen Ziele auf wenige Themen kon- Map vorhanden ist, wie die Organisation durch zentrieren können. die Umbrüche der Industriegesellschaft gesteu- Der Erfolg von NGOs und NPOs hängt ert und wie dem Mitgliederschwund entgegen- wesentlich von ihrem Kommunikationsverhal- gewirkt werden kann. Die wichtigsten Fragen ten ab. Glaubwürdigkeit ist die Schlüsselkom- der Zukunft sind bekannt; aus diesem Wissen petenz für den Erfolg dieser Organisationen. ist aber bislang kein geschlossener Politikent- Sie muss gegenüber den Spendern verteidigt wurf abgeleitet worden. werden wie auch gegenüber der Öffentlichkeit, die für die Kampagnen mobilisiert werden muss. 5 Ergebnisse Wohlfahrtsverbände sind eine besondere Form von NPOs. Das strategische Problem von 1. Der Begriff der strategischen Politikplanung Wohlfahrtsverbänden – Arbeiterwohlfahrt ist bislang kaum sozialwissenschaftlich ge- (AWO), Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsver- füllt. Es fehlen nicht nur eine inhaltliche Fül- band, Caritas – besteht darin, ihre föderale und lung des Begriffs, sondern auch Differen- segmentierte Struktur so auszurichten, dass der zierungen zwischen grand strategy, strate- Gesamtverband handlungsfähig wird. Sie ha- gischem, taktischem und operativem Han- ben, den Parteien ähnlich, Schwierigkeiten, über- deln. Lediglich im Bereich der Wirtschafts- haupt ein Zentrum zu bilden, von dem aus der wissenschaften wird der Begriff der strate- Verband gesteuert werden kann. Im Falle der gischen Unternehmensplanung verwendet AWO gab es bis vor kurzem keine zentrale Mit- und mit operationalisierbaren Inhalten ge- gliederdatei. Nicht nur in den Wohlfahrtsver- füllt. bänden sind Bemühungen zu erkennen, die stra- 2. Das Fehlen eines Konzepts strategischer tegischen Potenziale des Verbandes zu verbes- Politikplanung hat mehrere Gründe. Inner- sern und durch Strategiebildung auf die Um- halb der Sozialwissenschaften hat sich nach weltveränderungen zu reagieren. Der Bauern- der Planungseuphorie der 1970er Jahre die verband befindet sich gegenwärtig in einem Pro- Planungsskepsis breit gemacht. Zielgerich- zess der Strategiebildung und der Neuausrich- tetes Handeln von politischen Organisatio- tung. Ähnliches steht den Wirtschaftsverbän- nen wurde lange Zeit kaum mehr für mög- den bevor. lich gehalten. Zudem hat sich die Politik- Auch bei den Gewerkschaften gibt es Pro- wissenschaft mehr mit inhaltlichen Fragen bleme bei der Anpassung an die sich verändern- als mit Fragen der Organisationsentwick- de Umwelt. Bei den Gewerkschaften sind gra- lung beschäftigt. vierende Defizite bei der strategischen Politik- 3. Den Defiziten in der Wissenschaft entspre- planung festzustellen. Nicht einmal im DGB chen Defizite in der Praxis. In vielen politi- gibt es abgestimmte Strategien, sondern viele schen Organisationen gibt es inzwischen ad hoc-Entscheidungen. Zudem wird der ‚Bund zwar Ansätze zur strategischen Planung, der Gewerkschaften‘ oft durch die großen Ge- doch es überwiegt immer noch eine Scheu werkschaften, IG Metall und ver.di, neutrali- vor strategischem Denken. Im politischen siert. Diese stecken jedoch selbst in der Krise. Bereich war die politische Praxis der letzten Bei ver.di sind es die Folgen des noch nicht Jahrzehnte bestimmt durch eine Politik des bewältigten Vereinigungsprozesses, bei der IG ‚Muddling Through‘. Metall hat der Streik im Osten 2003 und der 4. Eine Konzeption strategischer Politikpla- (mittlerweile entschiedene) Machtkampf um die nung muss den unterschiedlichen Typen po- Strategiebildung in der Politik 35

litischer Organisationen Rechnung tragen. on in politischen Organisationen beschäfti- Parteien haben andere Bedingungen für die gen. Hier fehlen Akteurs- und Organisati- politische Steuerung und Strategiebildung onsanalysen; aber auch Analysen, die die als Verbände oder NGOs. Wieder anderen Verbindung von strategischer Planung und Bedingungen unterliegen Strategieanstren- Kommunikation zum Gegenstand haben. gungen in staatlichen Institutionen (Staats- kanzleien, Kanzleramt, Ministerien). Rudolf Speth ist Privatdozent am FB Politik- 5. Weil der Begriff der strategischen Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin planung unbekannt oder kaum ausgefüllt ist, gibt es kaum handwerkliche Vorgaben über Anmerkungen die wichtigsten Elemente von Strategiepla- nung und dafür, wie strategische Planungs- 1 Diese Einwände kamen von Charles Lind- prozesse ablaufen sollen. Es fehlen hand- blom, der eher für schrittweise (inkrementale) habbare Konzepte, die in der Praxis ange- Veränderungen plädierte und dafür den Begriff wendet werden können. des ‚Muddling through‘ prägte, sowie von Her- 6. Politische Führung ist ein wesentliches Ele- bert Simon (1993) mit seinem Konzept der ment strategischer Planung. Wissenschaft- ‚bounded rationality‘, das vor allem gegen den lich-konzeptionell ist der Begriff der politi- Anspruch umfassender und unbegrenzter Rati- schen Führung kaum ausgefüllt. onalität der Entscheidungsprozesse Einspruch 7. Kernpunkt von strategischer Planung in po- erhob (Lindblom 1959). litischen Organisationen ist die Werteprofi- 2 Siehe: Forschungsjournal 1/2003. Dort wird lierung. Wertefragen werden aber immer eine umfassende Analyse der Bundestagswahl noch zu wenig thematisiert und für die stra- vorgenommen. Peter Lösche, Gerd Mielke und tegische Ausrichtung von Organisationen Andreas Helle gehen in diesem Heft auf die genutzt. SPD ein. 8. Am weitesten fortgeschritten ist die strate- gische Ausrichtung in der politischen Kom- Literatur munikation und insbesondere in der Wahl- kampfkommunikation. Hier werden Anlei- Althaus, Marco 2002: Strategien für Kam- hen bei den Wahlkampfführungen in den pagnen. In: Althaus. M. (Hg.): Kampagne! Neue USA gemacht, und es werden vielfach Kon- Strategien für Wahlkampf, PR und Lobbying. zepte aus den Feldern des Marketing und Münster, 11-44. der Public Affairs übernommen. Bentele, Günter 1998: Politische Öffentlich- 9. Kampagnenführung und -fähigkeit von po- keitsarbeit. In: Sarcinelli, U. (Hg.): Politikver- litischen Organisationen sind kaum Themen mittlung und Demokratie in der Mediengesell- wissenschaftlicher Reflexion. Die vorhan- schaft. Bonn, 125-145. dene Literatur wurde zum großen Teil von Clausewitz, Carl von 1994: Vom Kriege, 4. Praktikern geschrieben. Hier fehlt es an ei- Aufl. Frankfurt/Main. ner wissenschaftlichen Bearbeitung der Dittgen, Herbert 2001: Wer versteht schon Kampagnenpraxis politischer Organisatio- die Beschlüsse von Nizza?. In: Berliner Repub- nen. lik Jg 3, H. 5. 10. Es gibt wenige Analysen, teilweise auch Fürst Dietrich o.J.:, Der Begriff der Pla- langfristig angelegte, die sich mit dem Um- nung und Entwicklung der Planung in Deutsch- gang mit Informationen und Kommunikati- land, Institut für Landesplanung und Raumfor- 36 Rudolf Speth

schung, TU Berlin (Vorlesungsmanuskript: Nullmeier F./Saretzki, T. (Hg.): Jenseits des www.http://www.laum.uni-hannover.de/ilr/ Regierungsalltags, 167-185. welcome.html). Machnig, Matthias 2002b: Politische Kom- Habermas, Jürgen 1981: Theorie des kom- munikation in der Mediengesellschaft. In: Mach- munikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/Main. nig, M. (Hg.): Politik-Medien-Wähler, 145-163. Hinrichs, Jan-Peter 2002: Wir bauen einen Machnig, Matthias 2003: Interview. In: die Themenpark. Wähler werden doch mit Inhalten tageszeitung, 1. September. (von Thomas Leif). gewonnen – durch Issue-Management. In: Alt- Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz (Hg.) 1973: haus, M. (Hg.) Kampagne! Neue Strategien für Planungsorganisation. Die Diskussion um die Wahlkampf, PR und Lobbying. Münster, 45- Reform von Regierung und Verwaltung des 64. Bundes. München. Jarren, Otfried/Sarcinelli, Ulrich/Saxer, Mayntz, Renate (Hg.) 1980: Implementati- Ulrich 1998: „Politische Kommunikation“ als on politischer Programme. Empirische For- Forschungs- und als politisches Handlungsfeld: schungsberichte. Königstein/Ts. Einleitende Anmerkungen zum Versuch der sys- Mayntz, Renate 1983: Implementation poli- tematischen Erschließung. In: Jarren, O./Sarci- tischer Programme. Aufsätze zur Theoriebil- nelli, U./Saxer, U.(Hg.): Politische Kommuni- dung. Wiesbaden. kation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Mertes, Michael 2000: Führen, koordinie- Handbuch mit Lexikonteil, Wiesbaden, 13-20. ren, Strippen ziehen: Das Kanzleramt als Kanz- Korte, Karl-Rudolf/Hirscher, Gerhard lers Amt. In: Korte, K-R./Hirscher, G. (Hg.): (Hg.) 2000: Darstellungspolitik und Entschei- Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik? dungspolitik? Über den Wandel von Politiksti- Über den Wandel von Politikstilen in den west- len in den westlichen Demokratien. München. lichen Demokratien. München. Korte, Karl-Rudolf 2000: Veränderte Ent- Mielke, Gerd 2003: Politische Planung in scheidungskultur: Politikstile der deutschen der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Ein Werk- Bundeskanzler. In: Korte, K-R./Hirscher, G. stattbericht. In: Hirscher,G./Korte, K-R. (Hg.): (Hg.): Darstellungspolitik oder Entscheidungs- Information und Entscheidung. Wiesbaden, politik? Über den Wandel von Politikstilen in 122-137. den westlichen Demokratien. München. 13- Mintzberg, Henry 1995: Die strategische 37. Planung. München Wien. Korte, Karl-Rudolf 2001: Regieren. In: Kor- Nullmeier, Frank/Saretzki, Thomas 2002: te, K-R./Weidenfelfd W. (Hg.): Deutschland- Einleitung. In: Nullmeier, F./Saretzki, T. (Hg.): TrendBuch. Fakten und Orientierungen. Bonn, Jenseits des Regierungsalltags. Frankfurt, New 515-546. York, 7-21. Kuhn, Fritz 2002: Strategische Steuerung der Pfetsch, Barbara 2003: Regierung als Mar- Öffentlichkeit? In: Nullmeier F./Saretzki,T. kenprodukt. Moderne Regierungskommunika- (Hg.): Jenseits des Regierungsalltags, 85-97. tion auf dem Prüfstand. In: Sarcinelli, U./Ten- Lindblom, Charles 1959: The Science of scher, J. (Hg.): Machtdarstellung und Darstel- Muddling Through. In: Public Administration lungsmacht. Beiträge zur Theorie und Praxis Review 19, 79-88. moderner Politikvermittlung. Baden-Baden, 23- Luhmann, Niklas 1997: Die Gesellschaft der 32. Gesellschaft. Frankfurt/Main. Prime Minister’s Strategy Unit 2004: Strat- Machnig, Matthias 2002a: Strategiefähigkeit egy Survival Guide, Version 2.0. London in der beschleunigten Mediengesellschaft. In: (www.strategy.gov.uk). Strategiebildung in der Politik 37

Raschke, Joachim 2001: Die Zukunft der Schönborn, Gregor/Wiebusch, Dagmar Grünen. „So kann man nicht regieren“. Frank- 2002: Public Affairs Agenda. Politikkommuni- furt/New York. kation als Erfolgsfaktor. Neuwied. Raschke, Joachim 2002: Politische Strate- Simon, Herbert A. 1993: Homo rationalis. gie. Überlegungen zu einem politischen und Die Vernunft im menschlichen Leben. Frank- politologischen Konzept. In: Nullmeier F./ furt/ Main. Saretzki,T. (Hg.): Jenseits des Regierungsall- The President of the 2002: The tags, 207-241. National Security Strategy of the United States Rucht, Dieter/ Roose, Jochen 2001: Zur In- of America, http://www.whitehouse.gov/nsc/ stitutionalisierung von Bewegungen: Umwelt- nss.html verbände und Umweltprotest in der Bundesre- Tretbar, Christian 2003: Ohne sozialdemo- publik. In: Zimmer,A./Weßels, B. (Hg.): Ver- kratisches Aroma. Eine Analyse der strategi- bänden und Demokratie in Deutschland. Opla- schen, organisatorischen und inhaltlichen Pro- den, 261-290. bleme der SPD vor, nach und während der Bun- Sarcinelli, Ulrich 1987: Symbolische Poli- destagswahl 2002 (unveröffentl. Manuskript). tik. Zur Bedeutung symbolische Handelns in Walter, Franz 1997: Führung in der Politik. der Wahlkampfkommunikation der Bundesre- Am Beispiel sozialdemokratischer Parteivorsit- publik Deutschland. Opladen. zender. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Saxer, Ulrich 1998: System, Systemwandel H. 4, 1287-1336. und politische Kommunikation. In: Jarren, O./ Walter, Franz/Müller, Kay 2002: Die Chefs Sarcinelli, U./Saxer,U. (Hg.): Politische Kom- des Kanzleramtes. Stille Eliten in der Schalt- munikation in der demokratischen Gesellschaft. zentrale des parlamentarischen Systems. In: Ein Handbuch mit Lexikonteil. Wiesbaden, 21- Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3, 474-500. 64. Wiesendahl, Elmar 2002: Die Strategie- Scharpf, Fritz W. 1978: Die Theorie der Po- (un)fähigkeit politischer Parteien. In: Nullmei- litikverflechtung. Ein kurz gefasster Leitfaden. er F./Saretzki, T. (Hg.): Jenseits des Regierungs- In: Hesse, J.,(Hg.): Politikverflechtung im fö- alltags, 187-206. derativen Staat. Baden-Baden, 21-31. Wiesenthal, Helmut 2002: Reformakteure in Scharpf, Fritz W. 1987: Grenzen der institu- der Konjunkturfalle – Zur gegenläufigen Ent- tionellen Reform. In: Ellwein, T./Hesse, J./ wicklung von theoretischem „Wissen“ und prak- Mayntz, R./Scharpf, F. (Hg.): Jahrbuch zur tischem Wollen. In: Nullmeier F./Saretzki, T. Staats- und Verwaltungswissenschaft. Band 1. (Hg.): Jenseits des Regierungsalltags. Frank- Baden-Baden. 111-151. furt/Main, 57-83. 38 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Andrea Nahles

Strategiebildungsprozess der SPD

1 Wie funktioniert Strategie? ckelt werden müssen: Dem Entstehen neuer politischer Probleme und dem Veralten bisheri- Wenn von Strategie die Rede ist, wird häufig ger Lösungen, der Neupositionierung anderer Bezug genommen auf den General und Militär- Parteien, der Veränderung von Wählermeinun- theoretiker Carl von Clausewitz. Dieser definierte gen, dem Druck der Mitglieder und in Ausnah- Strategie in Abgrenzung zur Taktik wie folgt: mefällen auch dem Entstehen neuer politischer „Es ist also nach unserer Einteilung die Tak- Parteien. Ähnlich wie in der Wirtschaft braucht tik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im auch eine Partei einen Markenkern und ein Al- Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch leinstellungsmerkmal. der Gefechte zum Zweck des Kriegs.“ Dennoch bleibt die Frage offen, wie eine Strategie ist auf ein übergeordnetes Ziel aus- Anleitung für politische Strategien aussehen gerichtet und erschöpft sich nicht in Einzelmaß- könnte. Blicken wir nach Großbritannien. Dort nahmen. Die Einzelmaßnahmen müssen im verfügt Premierminister Tony Blair über eine Gegenteil daran gemessen werden, ob sie auf ,Strategy Unit‘, die in einem Leitfaden beschrie- das übergeordnete Ziel ausgerichtet sind. ben hat, wie Strategieentwicklung idealtypisch Nun war Clausewitz zwar der Auffassung, aussehen sollte. Am Anfang steht eine Phase dass Krieg die „Fortsetzung des politischen der Begründung eines politischen Vorhabens Verkehrs, ein Durchführen desselben mit ande- einschließlich der Klärung von Ressourcen, ren Mitteln ist“. Aber die Zeiten solcher Sicht- personellen Zuständigkeiten etc. Darauf folgt weisen gehören zum Glück der Vergangenheit eine Phase der Forschung und Analyse, in der an. Näher an der Politik ist vielleicht die Sphäre Wissen gesammelt und ausgewertet wird sowie der Ökonomie. Was wird hier zum Thema Stra- die Meinungen wichtiger Stakeholder eingeholt tegie gesagt? werden. Im Anschluss daran müssen die strate- Einer der bedeutendsten Beiträge zum The- gische Ausrichtung, die Leitprinzipien, die Visi- ma Wettbewerbsstrategie stammt vom Harvard- on und die zu erreichenden Ziele geklärt wer- Ökonomen Michael E. Porter. Seiner Theorie den. Am Schluss steht die Entwicklung und zufolge wird der Wettbewerb in einer beliebi- Bewertung von politischen Optionen zur Errei- gen Branche von fünf Faktoren bestimmt: chung der definierten Ziele. In einer verfeiner- • dem Markteintritt neuer Wettbewerber, ten Betrachtung ist das Ganze zudem als inter- • der Bedrohung durch Ersatzprodukte, aktiver Prozess zu begreifen – mit Rückkopp- • der Verhandlungsmacht der Käufer, lungsschleifen und Lerneffekten. Strategie ba- • der Verhandlungsmacht der Zulieferer, siert also auf der Beantwortung von Fragen nach • dem Wettstreit zwischen existierenden Wett- dem Warum, dem Drumherum, dem Wohin und bewerbern. dem Wie. Übertragen auf eine Partei und die ,Branche‘ Oder anders formuliert: für eine erfolgrei- Politik bedeutet dies, dass politische Strategien che politische Strategie im Sinne der Durchset- vor dem Hintergrund eines komplizierten Span- zung von Anliegen entscheidend sind folgende nungsfeldes von Kräften vorgenommen entwi- Elemente: Strategiebildungsprozess der SPD 39

• eine klare und verständliche Problemanaly- nen, Gruppen und regionalen Gliederungen nicht se, immer auf eine gemeinsame Strategie ausge- • ein definiertes Projekt, richtet sein. Das Sanktionierungspotenzial je- • die Einbettung in eine Wertegrundlage, doch ist begrenzt. • definierte Ziele und Botschaften, Weitere Aspekte ließen sich anführen, war- • Kenntnis der Meinungen der Stakeholder um es einer Partei wie der SPD nur bedingt (vom Lobbyistenverband bis zu wichtigen möglich ist, dem Top-Down-Prinzip klarer stra- Wählergruppen) und der Strategie der Kon- tegischer Masterpläne zu folgen. kurrenz, Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen • ein Prozess, der verbindlich ist, aber Offen- Bemerkungen werde ich auf die Situation der heit und Optionen zulässt, SPD im Jahre 2004 eingehen, um anschließend • eine Dialog- und Kommunikationsstrategie am Beispiel des Themas Bürgerversicherung gegenüber allen relevanten Stakeholdern, zu verdeutlichen, wie ein Strategieprozess prak- • Personen, die diese Strategie glaubwürdig tisch bearbeitet wird. und kompetent politisch umsetzen können, • die Verstärkung des Anliegens durch die 2 Die Ausgangslage Partei und ein unterstützendes Umfeld von Multiplikatoren. Rot-Grün hatte die Wahl 2002 erneut gewon- Diese theoretischen Einsichten helfen zwar, an nen. Die SPD hatte, wenn auch sehr knapp, die Dinge strukturiert und systematisch heran- zum dritten Mal in der Nachkriegsgeschichte zugehen. Sie sind aber keineswegs eine Anlei- nach 1972 und 1998 mehr Zweitstimmen als tung für die praktische Politik einer politischen die Union. Partei. Denn: Jenseits des in der Regel in einer Im wesentlichen waren folgende Gründe Partei gemeinsam getragenen strategischen Ziels dafür ausschlaggebend: Mit Gerhard Schröder der Erringung oder Aufrechterhaltung von poli- stellte die SPD den Bundeskanzlerkanditaten, tischer Gestaltungsverantwortung kann es kon- der in wichtigen Punkten einen klaren Vorsprung fligierende Ansichten und Interessen geben. vor dem Gegenkandidaten hatte. Das klare und Eine Regierungspartei ist eingebunden in das konsequente Handeln bzw. die Positionierung Zusammenspiel von Regierung und Fraktion. der Bundesregierung bei den wichtigen The- Eine Parteistrategie, die auf diese Akteure keine men der Irak-Frage sowie der Flut im Osten. Rücksicht nimmt, wäre töricht und verbietet Mit der Bundestagswahl verband sich auch eine sich von selbst. Für eine Oppositionspartei gilt Werteentscheidung. Die SPD stand stärker als dies ebenso, wenn auch in etwas geringerem die Union für ein gerechtes, liberales und mo- Maße. Eine Regierungspartei wird zudem an dernes Deutschland. Dafür sprechen bspw. die vermeintlichen Erfolgen oder Misserfolgen des überdurchschnittlichen Wahlerfolge in den Groß- Regierungshandelns gemessen. Die Gestal- städten und bei den Frauen. tungsmöglichkeiten bspw. nationaler Regierun- Nur wenige Wochen nach der Wahl brach gen nehmen jedoch im Zuge von Europäisie- das Vertrauen in die SPD ein. Die Umfragewer- rung und Globalisierung ab. Eine Volkspartei ten sackten dramatisch ab. Der Grund lag vor speist sich aus unterschiedlichen Strömungen allem darin, dass die Erwartungen unserer Wäh- und Traditionen. Dies kann, aber muss nicht zu lerschaft und die konkreten Vereinbarungen in programmatischen Zielkonflikten führen. In ei- der Koalition über die politischen Schwerpunk- ner demokratisch verfassten Mitgliederpartei te der Legislaturperiode in Widerspruch zu müssen die Taktiken und Strategien von Perso- einander gerieten. 40 Andrea Nahles

Mit seiner Regierungserklärung zur Agenda lungsstrategie entgegenzusetzen, wuchs das 2010 im März 2003 brachte der Bundeskanzler Vertrauen in unsere Partei wieder. Klarheit über die Planungen der Bundesregie- In einer Zeit, in der die Welt immer kompli- rung in die Debatte. Dass einige Elemente der zierter und die Politik für viele immer undurch- Agenda 2010 für maßgebliche Teile der SPD schaubarer wird, wächst der Informations- und und ihrer Wählerschaft keine einfache Angele- Erklärungsbedarf. Informieren und erklären genheit waren und sind, ist kein Geheimnis. lässt sich am besten im persönlichen Gespräch. Letztlich hat jedoch der Bochumer Bundespar- Politische Kommunikation kann daher nicht al- teitag der SPD im November 2003 der Agenda lein auf gekaufte und werbliche Maßnahmen 2010 zugestimmt. setzen. Auch der sich anschließende Prozess der Es ist kein Zufall, dass im US-Wahlkampf konkreten Umsetzung und Vermittlung der Re- in beiden großen Parteien ein Trend back to the formen unter den Bedingungen roots zu beobachten war: Beide setzten auf Heer- • einer Mehrheit der unionsgeführten Länder scharen von Freiwilligen, die die Wähler im im Bundesrat und somit notwendigen Kom- persönlichen Gespräch zu überzeugen versuch- promissbildungen, ten. • einer nicht freundlichen und gelegentlich Von zentraler Bedeutung sind Akteure, die hysterischen Medienöffentlichkeit, Glaubwürdigkeit und Geradlinigkeit verkörpern. • einer in der ersten Phase sehr zurückhalten- Am deutlichsten wurde dies am Beispiel des den und sich gelegentlich selbst dementie- brandenburgischen Ministerpräsidenten Matt- renden Partei, hias Platzeck, der vor allem in der Endphase • nicht von der SPD oder der Regierung ver- des Landtagswahlkampfs eine klare Haltung zu schuldeter aber dennoch negativ wirkender den Sozialreformen eingenommen und auf Ver- Ereignisse wie der Verschiebung der Ein- mittlung durch direkte Kommunikation gesetzt führung der LKW-Maut hat. war keineswegs einfach. Zudem kann kaum geleugnet werden, dass die gesellschaftlich not- 2.2 Deutlicher Kontrast zum politi- wendigen, aber eben umstrittenen Reformen zu schen Gegner spät und nicht immer optimal erläutert und be- gründet wurden. Das Kalkül von Frau Merkel, dass ihre hohen Inzwischen (November 2004) gibt es Hin- Umfragewerte dauerhaft Bestand haben wür- weise darauf, dass die kurz nach der Bundes- den und sie auf dieser Woge ins Kanzleramt tagswahl einsetzende Abwärtsentwicklung ge- gespült werden würde, ging nicht auf. stoppt und ansatzweise wieder umgekehrt wer- Die Verunsicherungsstrategie der Union hat- den konnte. Wir erfahren dies nicht nur aus den te an dem Punkt ihre Grenze erreicht, als der Umfragen, sondern auch in vielen Gesprächen. sächsische Ministerpräsident Milbradt ankün- Was sind die Gründe dafür? digte, sich an den Hartz-Demonstrationen zu beteiligen. Die Doppelstrategie der Union, im Vermittlungsausschuss Verschärfungen der Ar- 2.1 Die Ziele sind stärker in den beitsmarktreform durchzusetzen und sich gleich- Vordergrund gerückt zeitig in einigen Ländern an die Spitze der Pro- In dem Maße wie es gelang, der Verunsiche- testbewegung zu stellen, hat die Führungsstär- rungsstrategie von Seiten einiger Medien und ke von Merkel und die Glaubwürdigkeit der der Opposition eine Aufklärungs- und Vermitt- ganzen Partei beschädigt. Strategiebildungsprozess der SPD 41

Die Profilierungsstrategie von Frau Merkel Fraktionsvorsitzender führt zu einer engen Ver- war an dem Punkt an ihr Ende gelangt, als deut- zahnung der beiden Bereiche. Nicht zuletzt wird lich wurde, dass es in der Union für ihr Moder- ihm als Person in allen Teilen der SPD viel An- nisierungsprojekt der Kopfpauschale keine erkennung und großes Vertrauen entgegenge- Mehrheit gibt. Zudem wies schon das ursprüng- bracht. liche Vorhaben der Kopfpauschale des Leipzi- ger Parteitags Defizite hinsichtlich Vermittel- 3 Ziele und Wege barkeit und Gerechtigkeit auf. Einer Regierung, die nicht nur populäre, von Klar ist, dass es einen selbsttragenden Auf- einer wachsenden Mehrheit jedoch als notwen- schwung der SPD nicht geben wird. Die Kon- dig erachtete Reformen umsetzt, steht eine zer- kurrenz wird wieder bessere Tage sehen und strittene und schlecht geführte Opposition ge- die Kompliziertheit der Reformen der Sozial- genüber. Der Kontrast von Schröder/Fischer systeme birgt eine Menge Konfliktpotenzial. versus Merkel/Westerwelle tritt deutlicher Daher kommt es auf das Zusammenspiel bervor. folgender Faktoren an: Die Zielrichtung und Begründung des Regierungshandels muss kom- munikativ verstärkt werden. Hierbei geht es 2.3 Erweiterung des eigenen Profils neben der sachlichen Vermittlung auch darum, Klarheit und Standfestigkeit des Regierungs- die Wertorientierung von Politik deutlich zu handelns bei Entzauberung, Opportunismus und machen – nicht durch abstrakte Wertedebatten, Zerstrittenheit der Opposition – dies sind wich- sondern durch die wertebezogene Aufladung tige Faktoren, die durch die SPD kommunika- von Themen. Ein weiterer Faktor sind Einigkeit tiv begleitet und gestützt wurden. und Kooperation der wichtigen handelnden Per- Doch ein weiterer Faktor kommt hinzu: die sonen. Erweitung des Profils der SPD, freilich ohne Wir müssen zudem die Profilerweiterung den Kurs zu verlassen und damit die Klarheit fortsetzen. Der SPD-Parteivorstand hat eine des Regierungshandelns in Frage zu stellen. Reihe von Zukunftsprojekten beschlossen, in Diese Profilerweitung gelang, indem politi- denen gegenwärtig gearbeitet wird. Die wich- sche Projekte in Angriff genommen wurden, tigsten sind: die zum einen eine sinnvolle Ergänzung der • Bürgerversicherung, Reformen der Agenda 2010 unter der Klammer • Einkommensgestaltung im unteren Bereich, der sozialen Erneuerung unseres Landes bedeu- • Bildung, ten und zum anderen für die SPD, aber auch • Gesellschaft des längeren Lebens, beispielsweise die Gewerkschaften, von erheb- • Europäisches Sozialmodell, licher symbolischer und inhaltlicher Bedeutung • Moderne Industriepolitik, sind. Zu nennen sind beispielsweise die Bür- • Abkehr vom Öl. gerversicherung und die Thematisierung einer Ebenso wichtig ist der Dialog mit gesellschaft- Mindestentlohnung von Beschäftigten. lichen Gruppen. Diese Profilerweiterung steht zudem in en- In allen diesen Projekten und auch in den ger Verbindung mit personellen Veränderungen. bewährten Strukturen der SPD – dem Gewerk- Die Tatsache, dass der neue Parteivorsitzende schaftsrat oder den Foren – wird der intensive Franz Müntefering mehr Möglichkeiten hat, den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen geführt. Dialog mit der Partei zu führen, ist ein wichti- Von zentraler Bedeutung für die SPD ist hier ger Faktor. Seine Doppelfunktion als Partei- und der Dialog mit den Gewerkschaften. 42 Andrea Nahles

Zudem ist die programmatische Perspektive Grundzügen auch die theoretischen Hinweise zu klären. Mehr als andere Parteien ist die SPD zur Strategiebildung erkennbar, die ich einlei- eine Programmpartei. Die hohe Identifikation tend dargestellt habe. mit den Grundsätzen und Grundwerten ist keineswegs auf ältere Parteimitglieder be- Ausgangslage schränkt. Eine aktuelle Befragung der neuen Mitglieder hat ergeben, dass für zwei Drittel Ausgangslage war die Erkenntnis, dass eine (66%) ein Motiv darin liegt, mit daran zu arbei- Reform des Gesundheitssystems an der Ausga- ten, dass die Werte der SPD auch weiterhin ben- und an der Einnahmenseite ansetzen muss, Bestand haben. Wichtiger war mit 70% nur das um eine hochwertige und bezahlbare Gesund- Motiv der politischen Teilhabe. Daher ist die heitsversorgung für alle sicherzustellen. SPD in einem intensiven Prozess der Erarbei- Auf der Ausgabenseite hat die Bundesregie- tung eines neuen Grundsatzprogramms. rung – im zähen Ringen mit der Opposition – Diese Debatte bezieht zunehmend auch die mit der Gesundheitsreform 2003 einiges in An- Partei und die Öffentlichkeit mit ein. Mitte nächs- griff genommen. Die Erfolge werden langsam ten Jahres wird ein Entwurf vorliegen. Dieser sichtbar. Auf der Einnahmenseite liegt ein zen- soll Ende 2005 von einem Parteitag beschlos- trales Problem darin, dass nicht alle Einkom- sen werden. Der Prozess der Erstellung eines men und nicht alle Erwerbstätigen in die Soli- neuen Grundsatzprogramms wird und muss darität einbezogen werden. Der wachsende An- auch im internationalen Dialog – vor allem mit teil von Kapitaleinkommen am Volkseinkom- der Sozialistischen Internationale – geführt wer- men bleibt unberücksichtigt. Ebenso können sich den. Erforderlich ist mittelfristig wieder eine ,gute Risiken‘ in die Private Krankenversiche- international abgestimmte Erweiterung des rung flüchten. Handlungsspielraums für sozialdemokratische Politik. Der Auftrag Um all die genannten politischen Ziele zu Ausgehend von dieser Erkenntnis hat der Bun- erreichen, muss eine politische Partei Schritt desparteitag der SPD 2003 beschlossen, eine halten mit dem Wandel der Gesellschaft, den Projektgruppe einzurichten, die ein Konzept für Kommunikationsgewohnheiten und den An- eine Bürgerversicherung entwickeln soll. Die sprüchen an politisches Engagement. Darum Leitung dieser Gruppe wurde mir anvertraut. arbeitet eine Projektgruppe Moderne Mitglie- Sie setzt sich sowohl aus Befürwortern als derpartei daran, die bestehenden Strukturen ei- auch Kritikern der Bürgerversicherung zusam- ner kritischen Überprüfung zu unterziehen. Im men. Das plurale Akteurs- und Meinungsspek- Vordergrund steht hier jedoch weniger, am Reiß- trum einer Volkspartei wurde weitgehend abge- brett eine neue Partei oder einen neuen Parteity- bildet. Einbezogen wurden selbstverständlich pus zu konstruieren, als vielmehr praktische Bundesregierung und Bundestagsfraktion, er- Ansätze zu entwickeln. gänzt durch Wissenschaftler und Vertreter wich- tiger gesellschaftlicher Gruppen. 4 Das Beispiel Solidarische Die Analyse Bürgerversicherung Das zentrale Anliegen war es, einen nicht-öf- Am Beispiel der Reform des Gesundheitssys- fentlichen Raum zu schaffen. Das ist mit viel tems will ich abschließend aufzeigen, wie der Anstrengung gelungen. Dazu war es notwen- Strategieprozess konkret verläuft. Hier sind in dig, eine non-paper-Politik durchzusetzen. So Strategiebildungsprozess der SPD 43

wurde bis hin zum Abschlussbericht kein Pa- Legitimation – Dialog – pier an die Mitglieder der Projektgruppe ver- Kommunikation teilt, sondern alle Informationen ausschließlich Nach intensiver Arbeit hat die Projektgruppe über Beamer vorgestellt. Für diese Strategie war ein Konzept vorgelegt, das im SPD-Parteivor- eine intensive persönliche Kommunikation mit stand beschlossen und der Öffentlichkeit vor- den Teilnehmern erforderlich. gestellt wurde. Dieser Legitimation durch ein demokratisches Gremium schloss sich die lau- Die Vision fende Phase des Dialogs und der Kommunika- Auf Basis dieser Analyse wurde die politische tion an. Auf einer eigenen Internetseite sind alle Vision entwickelt: Wir wollen eine solidarische wichtigen Informationen abrufbar. Die Mitglie- Bürgerversicherung, die alle Einkommen und der der Projektgruppe absolvieren weiter eine alle Erwerbstätigen einbezieht und somit nied- Vortragstour durch die ganze Republik. Der rigere Beiträge ermöglicht. Zudem soll sie das Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen und Ver- alte ständische Gesundheitssystem, mit der ge- bänden wurde intensiviert. Das Willy-Brandt- setzlichen Krankenversicherung auf der einen Haus gewährleistet ein regelmäßiges Themen- und der privaten Krankenversicherung auf der und ‘Stakeholder-Monitoring’. Die Entschei- anderen Seite, überwinden und damit für mehr dungsträger werden über den öffentlichen Mei- Wahlfreiheit, Solidarität und Wettbewerb im nungsbildungsprozess auf dem Laufenden ge- System sorgen. halten. Mit einem Newsletter wird die Partei Zur Vision zählt ganz zentral der Begriff über Neuigkeiten informiert. Der Partei wurden Bürgerversicherung, mit dem wir das Kernan- zudem informative und anschauliche Informati- liegen des Projekts symbolisch verdichten. onsmaterialien zur Verfügung gestellt. Zur Kommunikation gehört nicht zuletzt auch Die Optionen der Ideenwettbewerb. Die Chance, ein nicht ein- Auf dieser Grundlage wurden unterschiedliche faches Projekt wie die Reform eines zentralen Optionen der Umsetzung geprüft. Kriterien Zweigs des sozialen Sicherungssystems in An- waren und sind: die Umsetzbarkeit, die Durch- griff zu nehmen, steigt in dem Maße, wie sie setzbarkeit, die Effektivität, die Effizienz und zum Gegenstand politischer Konflikte wird. Die die Vermittelbarkeit. Zwei Optionen schienen Union hat mit ihrer Kopfpauschale hierzu ein uns machbar. Zum einen die Einführung einer Kontrastprogramm aufgelegt. Die Kommuni- zweiten Beitragssäule für Kapitaleinkommen kation einer Idee der Bürgerversicherung ist vor und zum anderen die Einbeziehung der Kapital- diesem Hintergrund um so mehr ein Beitrag einkommen im Rahmen einer Abgeltungssteu- dazu, das Profil der SPD, d.h. ihre Wertvorstel- er. lungen und Grundsätze, zu vermitteln.

Andrea Nahles ist Mitglied des SPD-Präsi- diums. 44 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Hans-Jürgen Urban

Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler Kontexte und Probleme gewerkschaftlicher Strategiebildung

1 Das strategische Dilemma der mus ersetzen würde, dürfte die erhoffte Pers- Gewerkschaften pektive nicht bieten. Sie wäre zwar durchaus mainstream-kompatibel und könnte dem öffent- Dass sich die Gewerkschaften in der politischen lichen Image der Gewerkschaften zuträglich Defensive befinden, hat sich seit geraumer Zeit sein. Doch letztlich liefe eine solche Strategie herumgesprochen. Die Indikatoren sind eindeu- auf ein Arrangement mit einem sozialökono- tig: Mitgliederzahlen und betriebliche Organi- mischen Entwicklungsmodell hinaus, in dem sationsgrade sinken, die verteilungspolitischen die sozialen Verteilungs- und Beteiligungsin- Anteile der Lohnabhängigen bleiben hinter den teressen der Lohnabhängigen den Wettbe- besitzstandsneutralen Verteilungsspielräumen werbs- und Renditeansprüchen der Unterneh- aus Inflation und Produktivitätswachstum zu- men strukturell untergeordnet und die Vertei- rück und auf betrieblicher Ebene unterliegen lungsrelationen in die gleiche Richtung ver- Belegschaften, betriebliche Interessenvertretun- schoben werden. Auf die Lohnabhängigen und gen und Gewerkschaften ein um das andere Mal ihre Gewerkschaften würde in diesem Modell dem Erpressungsdruck transnationaler Kon- lediglich ein subalterner Status warten. zernleitungen. Wenn aber weder Status-quo-Verteidigung Für die Gewerkschaften und ihr politisches noch Mainstream-Orientierung Erfolg verspre- und wissenschaftliches Umfeld gibt es also chen, rückt eine dritte Strategievariante in den Anlässe genug, über Strategien zu einer um- Blick. Diese sieht ihre Perspektive in der Ent- fassenden Revitalisierung der Gewerkschaf- wicklung eigenständiger Entwürfe einer grund- ten zu forschen und zu debattieren.1 Dabei legenden Sozialreform, die dann als strategi- dürfte weitgehend konsensfähig sein, dass die sche Reformkonzepte mittlerer Reichweite Ori- Aneinanderreihung betrieblicher Abwehrkämp- entierungspunkte für die Ausrichtung und poli- fe und die Verteidigung zentraler Basisinstitu- tische Erweiterung der mannigfachen Tages- tionen des keynesianischen Wohlfahrtsstaates kämpfe liefern könnte. keinen Ausweg aus der gewerkschaftlichen Mit einer solchen politischen Strategiebil- Defensive eröffnen wird. So notwendig be- dung tun sich die Gewerkschaften jedoch schwer. triebliche und gesellschaftliche Widerstands- Dies ist weniger auf das Fehlen eines adäquaten aktionen auch sind, ohne eine Perspektive der Problembewusstsein, als vielmehr auf eine Veränderung der Status-Quo-Bedingungen, die Zwangslage zurückzuführen, die sich als Di- ja die Defensive hervorgebracht haben, ist lemma strategischer Politikplanung in Phasen grundlegende Besserung kaum zu erwarten. der Defensive bezeichnen ließe. Einerseits Aber auch ein strategisches Einschwenken auf wächst mit der gewerkschaftlichen Defensive, den neu-sozialdemokratischen Modernisie- dem erhöhten Problemdruck und der Vehemenz rungskurs, das strukturkonservative Abwehr- der organisationspolitischen Überlebensfragen kämpfe durch eine wettbewerbskorporatisti- die Notwendigkeit systematischer strategischer sche Einbindung in die Strategie des Umbaus Politikplanung als Voraussetzung der Überwin- des Wohlfahrts- zum Shareholder-Kapitalis- dung der Defensive. Zugleich reduzieren Mit- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 45

glieder- und Einnahmeverluste die zur Verfü- können.2 Strategien in diesem, wohlverstande- gung stehenden Ressourcen, die zudem in un- nen Sinne ließen sich als ‚situationsübergrei- verzichtbaren Abwehrkonflikten mit Unterneh- fende, erfolgsorientierte Ziel-Mittel-Umwelt- men, Arbeitgeberverbänden und Bundesregie- Kalküle‘ und strategisches Handeln als ‚darauf rung gebunden sind; und die politische Defen- bezogenes Handeln‘ begreifen (ebd. 210). Auf sive verringert die machtpolitischen Realisie- dieser Grundlage kann zwischen strategischem, rungschancen weitreichender Strategiepläne. operativem und taktischem Handeln unterschie- Diese gegenläufige Entwicklung aus steigen- den werden. „Die Unterschiede liegen auf der dem Bedarf und mangelnder Fähigkeit zur stra- Ebene von Zeit-Raum-Ausdehnungen. Takti- tegischen Politikplanung markiert eine dilem- sches ist situationsspezifisches Handeln, in Zeit matische Problemkonstellation, die sich schnell und Raum am meisten begrenzt. Den Gegenpol auch in einem rückläufigen Zutrauen in die ei- bildet strategisches Handeln, das in zeitlicher gene Strategiefähigkeit und einer Hinwendung und räumlicher Hinsicht den größten Horizont zu einem über-pragmatischen Politikverständ- aufweist. Eine Mittelposition nimmt das fort- nis niederschlagen kann. laufende operative Handeln ein. Es ist ein ziel- Wollen die Gewerkschaften dieses Dilem- rationales Handeln, das sich auf fortlaufende, ma überwinden und verhindern, dass daraus aber auch größere Handlungszusammenhänge ein sich selbst verstärkender Abwärtstrend re- unterhalb der für strategisches Handeln charak- sultiert, so müssen sie trotz aller Widrigkeiten teristischen Zeit-Raum-Ausdehnung bezieht“. ihre Anstrengungen zur Konzipierung und Prak- (ebd. 212) tizierung politischer Krisenüberwindungsstra- Soll strategische Politikplanung in diesem tegien verstärken. Dies erfordert ein zielgerich- Sinne gelingen, setzt dies die Erfüllung von tetes Handeln, dass sich nicht in kurzatmigen zumindest drei Anforderungen hinaus: Erstens Abwehrschlachten spontaner oder struktureller die Definition situationsübergreifender Ziele, Probleme erschöpft. Es setzt, kurz gesagt, stra- wobei der Grad der Zielerreichung als Maßstab tegische Politikplanung und strategisches Han- für den Planungserfolg herangezogen werden deln voraus. Im Folgenden sollen dazu einige kann; zweitens die Analyse der Kontext- und Überlegungen vorgetragen werden. Wirkungsbedingungen, innerhalb derer die Ziele erreicht werden sollen oder müssen; und schließlich drittens die Festlegung operativer 2 Kontextbedingungen gewerk- Aufgaben, deren Bewältigung zur Realisierung schaftlicher Strategiebildung der strategischen Ziele führen würde. Dies gilt In demokratischen Gesellschaften und Organi- selbstredend auch für die gewerkschaftliche Stra- sationen haftet strategischer Politikplanung und tegieplanung. -steuerung mitunter der „schlechte Ruf einer hinterhältigen Schlauheit“ (Raschke 2002: 208), 2.1 Externe Restriktionen der Geruch des Manipulativen an, da ihr die Fähigkeit zugeschrieben wird, einer schlechten, Gewerkschaftliche Entscheidungsfindungen von der Mehrheit nicht gewollten Sache durch vollziehen sich nicht im luftleeren Raum, son- eine geschickte Strategie zum Sieg zu verhel- dern innerhalb spezifischer sozialökonomischer, fen. Und dennoch ist evident, dass politische politischer und ideologischer Konstellationen. Organisationen gerade in organisationspoliti- Diese determinieren Möglichkeiten und Gren- schen Krisenphasen auf eine wohlverstandene zen gewerkschaftlichen Handelns in hohem strategische Politikplanung kaum verzichten Ausmaß. Mit Blick auf den Handlungs- und 46 Hans-Jürgen Urban

Wirkungskontext gewerkschaftlicher Politik worden sind. Der eklatante Bedeutungszuwachs sind folgende Restriktionen unübersehbar.3 der Finanzkapitalmärkte wirkt nicht nur als Re- Zunächst setzt die strukturell verfestigte striktion staatlicher Wirtschafts- und Finanzpo- Massenarbeitslosigkeit mit einem hohen Sockel litik sowie einer beschäftigungsorientierten Geld- von Langzeitarbeitslosen den Mechanismus der politik der Europäischen Zentralbank; im Zuge industriellen Reservearmee in Kraft und der Etablierung der unterschiedlichen Spielar- schränkt durch die Verschärfung der Konkur- ten von Shareholder-Value-Regimen werden renzbeziehungen auf den Arbeitsmärkten die sämtliche betrieblichen und gesellschaftlichen Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Sozialkompromisse zwischen Kapital und Ar- Betrieb und Gesellschaft. Gleichzeitig führt die beit zur Disposition gestellt, um den gestiege- ökonomische Stagnationskrise zu einer Verknap- nen Renditeansprüchen der institutionellen An- pung zusätzlicher Wertschöpfungspotentiale und leger gerecht werden zu können. Erprobte posi- damit zu einer Erhöhung der Konfliktintensität tive Routinen eines betriebs- oder gesellschafts- betrieblicher und gesellschaftlicher Verteilungs- politischen Interessenausgleichs verlieren zu- konflikte. nehmend an Relevanz. Hinzu kommt der sozialökonomische Struk- Schließlich ist die Transformation des key- turwandel und dabei insbesondere der Wandel nesianischen Wohlfahrtstaates zum kapitalori- innerhalb der Berufs- und Sozialstruktur der entierten Wettbewerbsstaat als Restriktion einer Gesellschaft. Während die Sektoren fertigungs- erfolgreichen Gewerkschaftspolitik zu nennen. orientierter Industriearbeit, in denen die Ge- Diese geht mit einem marktorientierten Um- und werkschaften traditionell stark vertreten wa- Rückbau von Arbeitnehmerrechten und sozia- ren, an Bedeutung verlieren, wächst die Bedeu- len Sicherungssystemen einher. Zugleich set- tung jener Sektoren und Beschäftigtengruppen zen ‚aktivierende Arbeitsmarktreformen’ auf wirtschaftlicher Dienstleistungsarbeit, in denen eine Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft und die Gewerkschaften organisationspolitisch reduzieren ihrerseits die Verhandlungsmacht von bisher kaum Fuß gefasst haben. Verstärkt wer- betrieblichen Interessenvertretungen und Ge- den die daraus resultierenden Probleme durch werkschaften (Urban 2004). Den Gewerkschaf- den politisch-kulturellen Wandel, der die gesamte ten tritt diese Politik in Form einer neoliberalen Gesellschaft durchzieht. Die Herauslösung aus Konfrontations- oder einer wettbewerbskorpo- traditionellen Sozialmilieus hat Prozesse einer ratistischen Einbindungspolitik gegenüber. Setzt mentalen Individualisierung in Gang gesetzt und die Konfrontationsstrategie auf eine direkte damit Mentalitäten hervor gebracht, die sich machtpolitische Schwächung der Gewerkschaf- gegenüber kollektiven Interessenvertretungsmo- ten, die in ihren aggressiven Varianten bis zur dellen als recht sperrig erweisen. Unterstützt wird Infragestellung ihrer Existenz gehen kann, so diese Entwicklung durch die gesamtgesellschaft- ist die Einbindungsstrategie im Rahmen institu- liche Hegemonie-Konstellation. Aus dem Sie- tioneller oder informeller ‚Sozialpakte‘ und auf geszug des Neoliberalismus in den 1980er und der Grundlage eines zunehmend asymmetri- 1990er Jahren ist längst eine verfestigte Anti- schen ‚politischen Tausches‘ an einer Beteili- Gewerkschaftsstimmung geworden. gung der Gewerkschaften an der neusozialde- Ebenfalls von Bedeutung sind die Verände- mokratischen Modernisierungspolitik orientiert rungen, die aus regulationstheoretischer Per- (Hassel 2003). spektive als Übergang von der fordistischen Als Gegenleistungen für eine Zustimmung Massenproduktion zu einem Finanzmarkt ge- und aktive Unterstützung des wettbewerbsori- triebenen Akkumulationsregime beschrieben entierten Umbaus des Wohlfahrts- zum Wettbe- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 47

werbsstaat werden den Gewerkschaften politi- aus dem Status der abhängigen Lohnarbeit re- sche Hilfestellungen beim organisatorischen sultieren, generieren diese Soziallagen unter- Überleben in der Krise sowie einige Zugeständ- schiedliche Partikularinteressen, die ihrerseits nisse in wettbewerbsunschädlichen Politikfel- unterschiedliche soziale Präferenzen und Erwar- dern angeboten. Ein Angebot, dass für die durch tungshaltungen an eine gewerkschaftliche Inte- Krise und Mitgliederverluste gebeutelten Ge- ressenvertretung hervorbringen. Unter diesen werkschaften durchaus Attraktivität entfaltet. Bedingungen der politischen und sozialen He- terogenität setzt politische Strategiefähigkeit im Sinne interner Konzertierung ein Maß an Bün- 2.2 Interne Restriktionen delung sozialer Interessenlagen und politischer Ob politische Organisationen in adäquater Wei- Bewertungen voraus, das schwer zu erreichen se auf die sich wandelnden Umweltbedingun- und stets gefährdet ist. gen zu reagieren in der Lage sind hängt nicht Als Restriktion kann sich auch erweisen, zuletzt von ihrer internen Verfasstheit ab. Die dass die Gewerkschaften nicht über ein einzi- Ausstattung mit Ressourcen, die internen Kom- ges, dominierendes strategisches Zentrum ver- munikationsstrukturen sowie die Fähigkeit ex- fügen, sondern als polyzentrale Organisationen terne Anforderungen intern zu verarbeiten und zu begreifen sind. Ihre internen Organisations- gegebenenfalls Strategierevisionen durchzufüh- strukturen sind somit durch eine Vielzahl poten- ren, sind hier von zentraler Bedeutung. Kein zieller Blockadeakteure gekennzeichnet, die der Zweifel: Die Gewerkschaften tun sich nicht nur Implementierung zuvor vereinbarter strategi- wegen der Wucht der auf sie einwirkenden Pro- scher Schwerpunktes entgegen wirken können. bleme schwer. Zusätzliche Restriktionen resul- Gerade in dieser Problemdimension wird das tieren aus ihrer binnenorganisatorischen Ver- aus der Organisationstheorie bekannte Span- fasstheit. nungsverhältnis zwischen demokratischer und Das gilt zunächst für die strategischen Dif- tendenziell dezentraler Willensbildung bzw. ferenzen, mit denen die politischen Strömungen Entscheidungsfindung auf der einen und effizi- innerhalb der Gewerkschaften auf die Heraus- enter und tendenziell zentralistischer Strategie- forderungen des kapitalistischen Formations- planungsprozesse auf der anderen deutlich. Be- wechsel reagieren. Nach der traumatischen Er- greift man aber die Definition politikfeldüber- fahrung des unzulänglichen und letztlich ge- greifender, strategischer Ziele sowie die an- scheiterten Widerstandes gegen den Faschis- schließende Verpflichtung möglichst aller Ebe- mus haben sich die Gewerkschaften nach 1945 nen und Einheiten der Organisation auf diese als politische und soziale Einheitsgewerkschaf- Ziele als Essentials strategischer Planung, so ten konstituiert. Als politische Einheitsgewerk- liegen in der politisch-sozialen Heterogenität und schaften beherbergen sie unterschiedliche poli- der polyzentralen Binnenstruktur potenzielle tisch-ideologische Strömungen unter ihrem or- Blockaden erfolgreicher Strategieplanungen. ganisatorischen Dach. Historisch bündeln sich im Konzept der politischen Einheitsgewerk- 3 Strategische Schlüsselziele schaft die kommunistische, die sozialdemokra- gewerkschaftlicher Politik tische und die christlich-soziale Tradition der deutschen Arbeiterbewegung. Hinzu kommen Trotz dieser internen wie externen Restriktionen unterschiedliche Soziallagen der gewerkschaft- bleibt strategischen Politikplanung zur Überwin- lich organisierten Beschäftigtengruppen. Im dung der gegenwärtigen Defensive notwendig Rahmen der gemeinsamen Basisinteressen, die und auch möglich. Eine Voraussetzung ist jedoch 48 Hans-Jürgen Urban

die Identifizierung der strategischen Schlüssel- scheid/Matthes/Scherbaum 2001). In diesem ziele, die für die gewerkschaftliche Strategiefä- Kontext ist in der industriesoziologischen De- higkeit von besonderer Bedeutung sind. batte eine ,Internalisierung des Marktes‘ im Sinne einer umfassenden Vermarktlichung von Pro- duktions-, Organisations- und Sozialbeziehun- 3.1 Korrektur der Machtverschiebung gen diagnostiziert worden. Unternehmensintern im Kapital-Arbeit-System werden hierarchische Anordnungsregime durch Ein erstes Schlüsselziel besteht in der Korrek- marktförmige Konkurrenzbeziehungen zwi- tur der Machtverschiebung in den Kapital-Ar- schen einzelnen Standorten, Abteilungen, Ar- beit-Beziehungen, die sich seit der Krise des beitsteams oder Beschäftigten ersetzt (oder fordistischen Kapitalismus zugunsten des Ka- zumindest ergänzt). Produkte oder Teilkompo- pitals vollzogen hat. Dieser Machtgewinn des nenten werden mit Höchstpreisen und Min- Kapitals beruht vor allem auf zwei Faktoren. destrenditen versehen und unternehmensintern Zum einen erhöht die Transnationalisierung der als Aufträge ausgeschrieben, um die sich ein- ökonomischen Beziehungen Möglichkeiten und zelne Standorte zu marktähnlichen Bedingun- Wahrscheinlichkeiten der Verlagerung von Pro- gen zu bewerben haben. duktionsstandorten und Arbeitsplätzen. In dem Zugleich greift die Ersetzung von Hierarchi- Maße, in dem sich die räumliche Mobilität der en durch Marktkoordination auch auf die be- Unternehmen erhöht, wächst ihnen die Mög- trieblichen Personalführungs- und Entwick- lichkeit des Ausstiegs aus dem zumeist natio- lungsstrategien über. Einerseits eröffnen die nalstaatlich organisierten Regulierungssystemen implementierten Marktmechanismen neue Au- und damit den Geltungsbereichen sozialstaatli- tonomiespielräume für die Beschäftigten, an- cher Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten dererseits gehen sie mit einem neuen Kontroll- zu. Dabei stärkt das taktische Spielen mit der modus und subtilen Formen der indirekten Steu- Wahrnehmung dieser Exit-Option die Macht- erung einher. Auch die betrieblichen Aushand- und Verhandlungsposition der Unternehmens- lungsroutinen zwischen Belegschaften und be- leitungen auch in den Fällen, in denen Verla- trieblichen Interessenvertretungen sowie Unter- gerungsankündigungen eher Drohungen als re- nehmens- bzw. Standortleitungen verändern sich ale Möglichkeiten sind. Dies resultiert vor al- grundlegend. Entweder werden die eingefahre- lem aus der asymmetrischen Verteilung strate- nen Kompromissstrukturen durch die Arbeit- gisch relevanter Informationen. In der Regel geberseite grundlegend infrage gestellt, um auf fehlen Belegschaften, betrieblichen Interessen- konfrontativem Wege eine Senkung der Arbeits- vertretungen und Gewerkschaften schlichtweg kosten, eine Verlängerung der Arbeitszeiten und die Informationen, um die Relevanz angedroh- die Rationalisierung der Organisationsabläufe ter Verlagerungen beurteilen zu können. durchzusetzen. Oder die Leitungen der jeweili- Eine weitere Tendenz zur Machtverschiebung gen Unternehmensstandorte versuchen über den zu Lasten der Arbeit und zu Gunsten des Kapi- Weg standortspezifischer Wettbewerbskoalitio- tals resultiert aus den Restrukturierungsstrate- nen die betrieblichen Interessenvertretungen in gien, mit denen die Unternehmen auf die inter- die Realisierung ihrer Ziele einzubinden, um nen Produktivitäts- und Rentabilitätskrisen der Kosten zu senken und bei der Konzernzentrale fordistischen Arbeitsorganisation sowie die ein möglichst attraktives Angebot abgeben zu Zwänge des externen ökonomischen Umfelds, können. Auch wenn es sich bei diesen Mecha- insbesondere des Hineinwirkens der Finanzka- nismen vielfach um ‚inszenierte Märkte‘ han- pitalmärkte in die Unternehmen, reagieren (Ehl- delt, so setzen sie doch mit Blick auf Arbeits- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 49

und Sozialkosten betriebsinterne Unterbietungs- Sozialstaates und der Beitrag der neuen Sozial- konkurrenzen frei, die den Druck auf betriebli- demokratie zur Überführung des arbeitsschüt- che und tarifliche Sozialstandards verfestigen. zenden Wohlfahrtstaates in einen kapitalfördern- Wie immer man den Saldo aus produktiven und den Wettbewerbsstaat generieren vielfältige restriktiven Faktoren neuer Produktions- und Spannungen zwischen Gewerkschaften und so- Personalführungsstrategien einschätzen mag, zialdemokratisch geführten Regierungen. für Modelle kollektiver Interessenvertretung Dies gilt auch für Deutschland. Auch hier erhöhen sich die Hürden immens. hat der Konflikt zwischen der strategischen Po- sitionierung der neuen Sozialdemokratie und den Interessenlagen der Gewerkschaften und ihrer 3.2 Rückgewinnung des gewerkschaft- Mitglieder das historisch relativ enge Bündnis lichen Einflusses in den politischen zwischen beiden Akteuren zerrüttet (Urban 2003/ Arenen 2004). Dadurch entsteht für die Gewerkschaften Für gewerkschaftliche Interessenvertretungspo- eine schwierige Konstellation. Da Bündnis-Grüne litik ist Einfluss auf das Regierungshandeln sowie PDS die historische Rolle der Sozialde- insbesondere deswegen unverzichtbar, weil die mokratie nicht übernehmen wollen bzw. können Vertretung der Reproduktionsinteressen der fehlt den Gewerkschaften ein politischer Adres- Arbeitskraft auch auf die Durchsetzung außer- sat ihrer gesellschaftlichen Mobilisierungsbemü- betrieblich allgemeingesetzlicher, vor allem so- hungen. Selbst wenn die gesellschaftliche Mobi- zialpolitischer Regelungen und Gesetze ange- lisierung gelingt, fragt sich, wer die Protest- und wiesen ist. Der gegenwärtig zu konstatierende Gestaltungsimpulse im politischen Raum auf- Einflussverlust der Gewerkschaften in den po- nimmt und sie in Politik und Gesetze umsetzt. litischen Arenen hat vielfältige Ursachen. Das ist für einen Akteur, der auf Regulierungen Zweifelsohne liegt die Defensive der Gewerk- angewiesen ist, die nur im politischen Raum ent- schaften nicht zuletzt darin begründet, dass ih- stehen können, hoch problematisch. nen die notwendigen Machtressourcen zur Mobilisierung gesellschaftlichen Einflusspoten- 3.3 Organisationspolitische tials und damit zu einem aktiven Lobbying im Stabilisierung politischen Feld abhanden gekommen sind. Doch zugleich muss auf den grundlegenden Im engen Zusammenhang mit den Machtver- Wandel im Verhältnis zwischen Gewerkschaf- schiebungen im Kapital-Arbeit-System und der ten und Sozialdemokratie verwiesen werden Schwächung des politischen Einflusspotenzials Im Zuge ihrer programmatischen und strate- steht die drohende organisationspolitische De- gischen Modernisierung haben viele Parteien stabilisierung der Gewerkschaften. Aktuell lei- der europäischen Sozialdemokratie zu einem den alle Gewerkschaften an Mitgliederrückgän- neuen politischen Selbstverständnis gefunden, gen, die ihre Durchsetzungskraft verringern und das mit einer expliziten politischen Distanzie- ihre Finanzprobleme erhöhen. Soll dies korri- rung gegenüber den Gewerkschaften verbun- giert werden, müssen zwei Dinge zugleich erle- den ist. Im Selbstverständnis der neuen Sozial- digt werden. demokratie sind die Gewerkschaften historisch Zum einen geht es um die Stabilisierung und aus dem Rang eines Partners im Rahmen einer perspektivische Erhöhung des Organisations- privilegierten Partnerschaft in den Status einer grades in den Branchen und Sektoren, in denen beliebigen Lobby abgerutscht. Vor allem der die Gewerkschaften traditionell gut vertreten neusozialdemokratische Entwurf eines aktiven sind. 50 Hans-Jürgen Urban

Zugleich müssen die Gewerkschaften die im eine mentale Öffnung gegenüber den genann- Zuge des sozialen Strukturwandels an Bedeu- ten Problemkonstellationen. tung gewinnenden neuen Sektoren- und Be- schäftigungsbereiche organisationspolitisch er- 4 Idealtypen gewerkschaftlichen schließen, um die Kluft zwischen dem sozialen Selbstverständnisses Profil der Mitgliedschaft und der gesellschaftli- chen Sozialstruktur zu überbrücken. Perspekti- Für die Definition strategischer Schlüsselziele visch müssen die strategischen Schlüsselgrup- ist das gewerkschaftspolitische Selbstverständ- pen der traditionellen Wirtschaftssektoren so- nis von entscheidender Bedeutung. Das gilt wie die Beschäftigungssegmente der neuen öko- insbesondere für die Definition der eigenen nomischen Leitsektoren des produktions-, in- Rolle im Prozess der Herausbildung der post- formations- und finanzorientierten Dienstleis- fordistischen Kapitalismusformation. Letztlich tungssektors das organisationspolitische Rück- prägt die Grundhaltung, mit der sich die Ge- grat der Gewerkschaften bilden, wollen sie nicht werkschaften den Veränderungsprozessen stel- wirklich zu Traditionsverbänden der Moderni- len, ihre strategische Defizitanalyse wie die sierungsverlierer degenerieren. Beide Zielset- Formulierung strategischer Zielsetzungen. zungen erfordern massive organisationspoliti- Grundsätzlich lassen sich hier – in der Traditi- sche Anstrengungen, sowohl in Form der Be- on Max Webers – drei Idealtypen gewerkschaft- reitstellung der notwendigen materiellen und lichen Selbstverständnisses unterscheiden (sie- personellen Ressourcen, als auch mit Blick auf he Abbildung).

Idealtypen gewerkschaftlichen Selbstverständnisses

pragmatischer strukturkonservative konstruktiver Modernisierungs- Blockademacht Vetospieler begleiter

Einstellung grundsätzlich grundsätzlich grundsätzlich gegenüber positiv; ablehnend skeptisch; neoliberaler/ Reduzierung auf Anspruch auf neusozialdemo- geringfügige grundlegenden kratischer Moderni- Teilkorrekturen ,Politikwechsel‘ sierungspolitik

Bedeutung eigener gering, da Vorgaben gering, da hoch, da alter- Konstruktionspläne von Unternehmen/ status-quo-orientiert nativer Entwick- für die neue Formation Staat akzeptiert werden lungspfad ange- strebt wird

präferierte Durch- Lobbying im Rahmen Präferenz für strategisches setzungsstrategie des ,Politischen Tauschs‘ Mobilisierung von Handling von Veto-Macht Veto- und Ver- änderungsmacht Quelle: eigene Darstellung Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 51

4.1 Pragmatischer fahrtsstaates. Eine gehörige Portion Struktur- Modernisierungsbegleiter konservatismus wird weniger als Defizit son- dern eher als Zielsetzung gewerkschaftlicher Die Gewerkschaften können sich einerseits als Politik definiert. Daraus ergibt sich die Not- pragmatischer Modernisierungsbegleiter defi- wendigkeit der Mobilisierung von Veto-Macht nieren. Die mit einem solchen Selbstverständ- zur Abwehr gesellschaftspolitischer Verände- nis einhergehende strategische Grundausrich- rungsstrategien. Betriebs- und gesellschaftspo- tung setzt vor allem auf pragmatische Ad-hoc- litischer Mobilisierung kommt ein hoher Stel- Maßnahmen mit geringem Korrekturanspruch lenwert zu. Dieses Selbstverständnis ist mit gegenüber dem aktuellen Modernisierungspro- Modellen der politischen Einbindung der Ge- zess. Insbesondere dem neu-sozialdemokrati- werkschaften in regierungsoffizielle oder staats- schen Modernisierungskurs steht sie prinzipiell nahe, institutionelle oder informelle Bündnisse positiv gegenüber. Sie hält daher in der Regel gänzlich inkompatibel. Vielmehr beruht es es- weder eine grundsätzliche Kurskorrektur für senziell auf einer Abwesenheit politischer An- notwendig noch eine prinzipielle Oppositions- bindungen und definiert gewerkschaftliche Au- politik für sinnvoll. Letztlich akzeptiert sie die tonomie nicht zuletzt als institutionelle Unge- Dominanz und Führungsrolle von Staat und bundenheit. Dabei legt die Status-quo-Orientie- Unternehmen bezüglich der Frage, wie die Ver- rung eine generelle Ablehung von Sozialpakten schärfung der globalen Konkurrenzbeziehun- nahe und bindet Beteiligungsbereitschaft oder gen und die Überwindung der Produktivitäts- -ablehnung nicht an die inhaltliche Ausrichtung und Profitabilitätsklemme angegangen werden der Politik. soll. Institutionell hegt der pragmatische Mo- dernisierungsbegleiter große Sympathien für das Politikmodell der Sozialpakte, das in den 1990er 4.3 Konstruktiver Vetospieler Jahren zu einem Markenzeichen neusozialde- Der dritte Typ eines gewerkschaftspolitischen mokratischer Modernisierungspolitik in Euro- Rollenverständnisses gegenüber den aktuellen pa wurde. Seine prinzipielle Nähe zu dieser Stra- Umbruchprozessen ließe sich mit dem Begriff tegie verhindert Mißtrauen gegenüber wettbe- des konstruktiven Veto-Spielers beschreiben.4 werbskorporatistischen Modernisierungspakten Dieses Selbstverständnis geht davon aus, dass und der Logik des politischen Tausches und sich der Übergang von der fordistischen For- einer aktiven Beteiligung der Gewerkschaften mation zu einem neuen sozial-ökonomischen am wettbewerbsorientierte Umbau des Wohl- Entwicklungsmodell über machtbasierte Vertei- fahrtsstaates. lungs- und Aushandlungskonflikte vollzieht und die Fähigkeit einer hinreichenden Mobilisierung von Machtressourcen die Voraussetzung dafür 4.2 Strukturkonservative darstellt, sich als Mitspieler in den Konfliktare- Blockademacht nen etablieren und behaupten zu können. Inso- Spiegelbildlich steht dem ein Selbstverständnis fern kommt auch hier dem Erhalt bzw. der Er- der Gewerkschaften als strukturkonservativer höhung von Machtressourcen eine strategische Blockademacht gegenüber. Dieses sieht sich in Schlüsselrolle zu. Gleiches gilt für Abwehrkon- mehr oder weniger vollständiger Opposition zu flikte gegen inadäquate Problemlösungsstrate- neoliberalen wie neusozialdemokratischen Mo- gien und dort errungene Erfolge im Rahmen dernisierungsstrategien und präferiert die vor- einer Strategie der schrittweisen Überwindung handenen Strukturen des fordistischen Wohl- der gewerkschaftlichen Defensive. Gleichwohl 52 Hans-Jürgen Urban

wird die darauf beruhende Veto-Macht ‚kon- hältnisse nicht mehr gedeckt ist. Vor allem das struktiv‘ in dem Sinne eingesetzt, als sie nicht Prinzip der Parität, das mit einiger Berechti- auf die Konservierung der Status-Quo-Struk- gung auch als die ‚korporatistische Friedens- turen sondern auf die Präsentation und Durch- formel‘ (G. Lehmbruch) des Modells Deutsch- setzung eigener Beiträge zur Neu-Konstruktion land bezeichnet wurde, stand für das relative des sozial-ökonomischen Entwicklungsmodells Kräftegleichgewicht der Nachkriegsära. In den setzt. Der Mobilisierung von Veto-Macht zur Konzepten der neuen Sozialdemokratie soll das Verhinderung problemverschärfender Moder- Leitbild betrieblicher und gesellschaftlicher Wett- nisierungsstrategien wird die Mobilisierung von bewerbskoalitionen an seine Stelle treten, das Veränderungsmacht zur Durchsetzung problem- jedoch auf einer asymmetrischen Verteilungs- lösender Politikkonzepte zur Seite gestellt. und Privilegienstruktur zu Lasten von Beleg- In diesem Selbstverständnis wird gewerk- schaften und Gewerkschaften beruht. schaftliche Autonomie politikinhaltlich und nicht Wenn bei den aktuellen institutionellen Re- institutionell definiert.5 Da die Vertretung der formen des Wohlfahrtsstaates die paritätische umfassenden Reproduktionsinteressen den in- Verteilung von Finanzierungslasten und Rech- haltlichen Kern dieses gewerkschaftspolitischen ten zwischen Kapital und Arbeit zurückgedreht Selbstverständnisses darstellt, ist es gegenüber und in eine strukturelle Bevorzugung der Kapi- der politischen Form der Beteiligung an tripar- talseite überführt wird, geht es im Kern darum, tistischen Sozialpakten zunächst indifferent. die institutionellen Verhältnisse den geänderten Autonome Gewerkschaftspolitik kann der Sa- Machtverhältnissen anzupassen. Unter diesen che nach innerhalb wie außerhalb korporatisti- Bedingungen konstituiert sich gewerkschaftli- scher Bündnisse praktiziert werden; sie erfor- che Autonomie als Kritik des Um- und Rück- dert sie nicht, schließt sie aber auch nicht aus.6 bau des Wohlfahrtsstaates und als Programm Entscheidend sind die inhaltlichen Kontu- einer anderen, die sozialen Reproduktionsinter- ren und die interessen- und verteilungspoliti- essen der Lohnabhängigen zum Ausdruck brin- sche Drehrichtung des dahinterstehenden poli- genden Modernisierungspolitik. tischen Projektes. Diese Definition von gewerk- schaftlicher Autonomie berücksichtigt nicht 5 Schritte zur Überwindung der zuletzt die Erkenntnis, dass die Gewerkschaf- gewerkschaftlichen Defensive ten in die Institutionen des keynesianischen Wohl- fahrtsstaates bis heute vielfältig eingebunden Es ist evident, dass das Rollenverständnis des waren und sind und dass sie dies im fordisti- konstruktiven Vetospielers der eingangs geschil- schen Kapitalismus durchaus im Interesse der derten Problemkonstellation am ehesten gerecht Lohnabhängigen nutzen konnten. Mehr noch: wird. Diese Einsicht führt zu der Frage, ob die Wahrscheinlich hat die Verankerung der Ge- Gewerkschaften gegenwärtig über die Fähig- werkschaften in den verrechtlichten Regelsys- keiten verfügen, diese Rolle auszufüllen. Die temen des traditionellen Wohlfahrtsstaates, also Rolle des konstruktiven Vetospielers ist durch- in den Sozialversicherungssystemen, der Tarif- aus anspruchsvoll und voraussetzungsreich. Ob autonomie und der betrieblichen und Unterneh- die Gewerkschaften mit eigenen Konzepten an mensmitbestimmung, ein gewerkschaftliches der Konstruktion des neuen Kapitalismusmo- Einflusspotenzial erhalten, das dem sozialen dells mitwirken, ob sie Einfluss auf seinen Ent- Klassenkompromiss der Nachkriegsära ent- wicklungspfad nehmen können, hängt nicht sprach und durch die gegenwärtigen, zu Lasten zuletzt davon ab, ob sie sich in den gegenwärti- der Gewerkschaften verschobenen Kräftever- gen machtbasierten Aushandlungsprozessen be- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 53

haupten können. Das erfordert zunächst eine 5.1 Machtpolitische Neufundierung ausgeprägte Fähigkeit zur Entwicklung gesell- gewerkschaftlicher Kernfelder schaftspolitischer Alternativentwürfe, die über den gesellschaftlichen Status Quo hinaus- und Zunächst geht es um die machtpolitische Neu- auf die Perspektive eines alternativen Entwick- fundierung in den gewerkschaftlichen Kernfel- lungsmodells hinweisen. In diesem Sinne müs- dern. Damit sind insbesondere die Betriebs- und sen die Gewerkschaften zweifelsohne mehr Tarifpolitik gemeint. Die unübersehbare Ten- Energie auf die Frage verwenden, wie die Er- denz zur Verbetrieblichung von tarif- und be- werbsarbeit, das Tarifsystem, die Systeme der schäftigungspolitischen Anforderungen sowie sozialen Sicherung und das Europäische Sozial- die ebenfalls evidente Tendenz zur betriebssyn- modell der absehbaren Zukunft aussehen sol- dikalistischen Abkoppelung der Betriebsräte len. Hier sind politikfeldspezifische Reform- durch ihre Einbindung in betriebliche Wettbe- pläne, ist mehr gesellschaftspolitische Konzept- werbskoalitionen stellt die Gewerkschaften vor kompetenz gefragt. die Aufgabe, über ihre betriebliche Repräsen- Aber neben dem gewerkschaftlichen Wol- tanz und betriebspolitische Verankerung neu len spielt das gewerkschaftliche Können eine nachzudenken. Dabei dürfte eine Politik der ein- ausschlaggebende Rolle. Es ist eine durchaus fachen Reaktivierung der traditionellen gewerk- verbreitete Illusion zu glauben, mit attraktive- schaftlichen Vertrauensleutearbeit unzureichend ren Zukunftsvisionen und besseren Kommuni- und kaum realistisch sein. Gefragt sind viel- kationsstrategien alleine käme die gewerkschaft- mehr neue Formen unmittelbarer gewerkschaft- liche Offensive zurück. In einer Gesellschaft, licher Repräsentanz in den Betrieben und in der über den Ausweg aus einer gesellschaftli- gegebenenfalls neue Modelle einer die gewerk- chen Strukturkrise in beinharten Macht- und schaftliche Durchsetzungskraft stärkenden Ko- Verteilungskämpfen entschieden wird, stößt operation zwischen Gewerkschaften, betriebli- auch die Kraft attraktiver Zukunftsvisionen chen Interessenvertretungen und Belegschaften. schnell an Grenzen. Hier geht es letztlich um Auch im Kernfeld der tarifpolitischen Inter- Machtfragen. Ob dem in die Krise geratenen essenvertretung und mit Blick auf den unver- Fordismus ein vermarktlichter Shareholder- zichtbaren Ausbau tarifpolitischer Konfliktfä- Kapitalismus oder ein neues Modell eines re- higkeit gewinnt die Betriebsebene an Bedeu- regulierten Wohlfahrtskapitalismus folgt, ist tung. Durch die zunehmende Öffnung überbe- letztlich Resultat sozialer Kämpfe und politi- trieblicher kollektiver Tarifregelungen für be- scher Aushandlungsprozesse. Über deren Aus- triebsspezifische Abweichungen stellt sich die gang entscheidet die Fähigkeit der Akteure, Frage nach einem neuen Verhältnis überbetrieb- Machtressourcen zur Durchsetzung ihrer Leit- licher Standards und betrieblicher Diversifizie- bilder und Konzepte zu mobilisieren.7 Mit Max rungen. Dabei dürfte der scheinbar einfache Weber formuliert: Für die Gewerkschaften geht Ausweg, den eine weitere Forcierung der Ver- es um die Fähigkeit, in sozialen Bezügen die betrieblichung tarifvertraglicher Regelungen zu eigenen Zukunftskonzepte auch gegen die Ge- bieten scheint, schnell in die Irre führen. Denn genentwürfe von Kapital und neusozialdemo- nach wie vor erweisen sich Interessenvertre- kratischer Politik durchzusetzen (Weber 1921/ tungen und Belegschaften in krisengeschüttel- 1972: 28). Die Aneignung dieser Fähigkeiten ten Betrieben in der Regel nicht in der Lage, das setzt die Bewältigung einiger Aufgaben voraus, Ausmaß an Vertretungsmacht zu mobilisieren, die im Folgenden eher kurz benannt als aus- das für eine erfolgreiche Interessenpolitik not- führlich diskutiert werden sollen. wendig wäre. Zielführender dürften Strategien 54 Hans-Jürgen Urban

einer betriebspolitischen Stabilisierung tarifli- ßer Acht bliebe. Insbesondere in den Feldern cher Standards und Prozessrechte sein, die vor der aktiven Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs- allem auf eine systematischere und intensivere politik sowie der Ausgestaltung der Systeme Einbeziehung der Belegschaften in die betrieb- der sozialen Sicherung werden Versorgungs- liche Umsetzung und Verteidigung von Tarifre- standards und Beteiligungsansprüche vor allem gelungen setzt. über Verordnungen und Gesetze geregelt, die in Schließlich müssen sowohl eine neue ge- den politischen Arenen und damit außerhalb der werkschaftliche Betriebspolitik als auch die Betriebs- und Tarifpolitik entstehen. Eine Ge- Reaktivierung tarifpolitischer Konfliktfähigkeit werkschaftspolitik auf der Grundlage eines einer erfolgreicheren Interessenvertretung und umfassenderen Interessenbegriffs bedarf also damit der Stabilisierung und mittelfristigen Aus- zwangsläufig einer politischen Orientierung, die weitung der gewerkschaftlichen Mitgliederba- gewerkschaftliches Engagement im Bereich der sis dienen. Sollte den Gewerkschaften die orga- Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpoli- nisationspolitische Erschließung dieser Schlüs- tik erfordert. selgruppen und -branchen nicht gelingen, droht Ein solcher weitgehender Interessenvertre- nicht nur eine finanzielle Auszehrung. Darüber tungsanspruch der Gewerkschaften ist in der hinaus lässt ein permanent sinkender Organisa- Gesellschaft, insbesondere in Phasen neolibe- tionsgrad die korporatismuspolitische Verpflich- ralen wie neusozialdemokratischer Hegemonie tungsfähigkeit der Gewerkschaften und damit keineswegs überall anerkannt und muss heute auch ihrer Attraktivität als Mitspieler in institu- erneut erstritten werden. Die Gewerkschaften tionellen Sozialpakten erodieren. Dies untermi- sind gefordert, im Bewusstsein ihrer histori- niert zugleich die Voraussetzungen der Teilnah- schen und sozialen Funktion in kapitalistischen me an sozialpartnerschaftlichen Modernisie- Marktgesellschaften, diesen Anspruch mit hin- rungskoalitionen in Betrieb und Politik; vom reichendem Selbstbewusstsein einzuklagen und Verlust an Veto- und Veränderungsmacht ganz im Zuge einer politischen Selbstmandatierung zu schweigen. entsprechende politische Konzepte zu entwi- ckeln. Eine solche Reformulierung eines gesell- schaftspolitischen Mandates auf der Grundlage 5.2 Gesellschaftspolitische eines erweiterten Interessenbegriffs konfligiert Selbstmandatierung jedoch mit einem gewerkschaftlichen Selbstver- So zentral die machtpolitische Neufundierung ständnis als ständepolitischer Verbandslobby. in den gewerkschaftlichen Kernfeldern der Be- Vielmehr drängt sie zu einem gewerkschaftspo- triebs-, Tarif- und Organisationspolitik zweifels- litischen Strategieverständnis, das Gewerk- ohne ist, ein strategischer Rückzug auf diese schaften als Teil einer umfassenderen sozialen Politikfelder wäre fatal. Die Gewerkschaften lie- Bewegung (Mahnkopf 2003) sieht und damit fen Gefahr, in der Tat zur Lobby relativ privile- zu dem, was im angelsächsischen Sprachraum gierter Beschäftigtengruppen zu degenerieren als Social-Movement-Unionism beschrieben und damit ihren historisch erkämpften Anspruch wurde (Taylor/Mathers 2002). auf eine klassenübergreifende Interessenvertre- Eine solche strategische Orientierung erfor- tung sowie eine aktive Beteiligung an der Ge- dert zugleich eine neue Debatte über die For- sellschaftsgestaltung preiszugeben. Zugleich mierung strategischer Allianzen mit anderen könnten nicht einmal die vollständigen Repro- Bewegungen, Organisationen und Akteure der duktionsinteressen der Beschäftigten vertreten Zivilgesellschaft (coalition building). Damit werden, solange die Sphäre des Politischen au- geraten Fragen der Kooperation mit Kirchen, Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 55

Wohlfahrtsverbänden aber auch lokalen Selbst- gien der Verschlagwortung politischer Analy- hilfeorganisationen sowie der globalisierungs- sen und Konzepte, der Personalisierung inhalt- kritischen Bewegung in das Blickfeld gewerk- licher Politikforderungen usw. als Essentials schaftlicher Strategieüberlegungen. Dabei geht einer professionellen Medienarbeit anerkennen es zum einen natürlich um Mobilisierungs-Alli- und souveräner als bisher handhaben; und anzen zur Stärkung von Durchsetzungsmacht zugleich bedarf es innerhalb wie außerhalb der in zugespitzten Konfliktsituationen. Die Ge- kommerziellen Medienwelt verstärkter Anstren- werkschaften verfügen durchaus über solche – gungen, der systematischen Entpolitisierung der zumeist sporadische – Erfahrungen. Nicht min- Subjekte im Rahmen der voranschreitenden der bedeutend sind jedoch Konzept-Allianzen, Privatisierung und Kapitalisierung des Medi- in denen unterschiedliche Akteure aus unter- ensektors entgegen zu wirken. Dies ist nicht schiedlichen Interessenlagen und Wertorientie- nur aus legitimen organisationspolitischen Ei- rungen gemeinsam an Konzepten einer alterna- geninteressen, sondern auch aus demokratiepo- tiven, solidarischen Modernisierung der Gesell- litischer Verantwortung geboten, da die Entpo- schaft arbeiten. All dies erfordert die selbstkriti- litisierung weiter Bevölkerungsgruppen sukzes- sche Aufarbeitung bisheriger Erfahrungen so- sive die Funktionsbedingungen der parlamen- wie den systematischen Ausbau von Mobilisie- tarischen Demokratie zu untergraben droht. rungs-, Konzept- und Netzwerkkompetenzen Gleichzeitig ist dies notwendig, um zu verhin- auch auf Seite der Gewerkschaften (Urban 2003/ dern, dass die sozialen Spaltungs- und Exklusi- 2004). onstendenzen im Zuge einer forcierten Polari- sierung der Einkommens-, Vermögens- und Ver- sorgungsverhältnisse abgesichert und anti-ge- 5.3 Mediale Profilierung werkschaftliche Ressentiments systematisch Zweifelsohne ist in einer Mediengesellschaft das verbreitet werden. öffentliche Image eines politischen Akteurs für Darüber hinaus müssen die Gewerkschaf- seine Durchsetzungskraft von hoher Bedeutung. ten den Stellenwert ihrer gewerkschaftseigenen Die Gewerkschaften haben diese Erkenntnis Medien im Rahmen einer strategischen Aufwer- bisher nur unzureichend angenommen. Das ist tung medialer Profilierungsprojekte klären. einerseits wenig verwunderlich. Immerhin kön- Unter dem Druck der finanziellen Krise, aber nen die kommerziellen Medien als zentrale Agen- sicherlich auch auf der Grundlage mangelnden turen der Organisation der neoliberalen Hege- historischen Problembewusstseins haben die monie gelten und sind weit davon entfernt, ge- Gewerkschaften die Pflege ihrer eigenen Medi- gentendenziellen Politikkonzepten und ihren en in den letzten Jahren vernachlässigt. Das gilt Trägern einen einer demokratischen Öffentlich- für die mitglieder- und funktionärsorientierten keit entsprechenden Stellenwert zuzugestehen. Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie für wis- Die Gewerkschaften stehen hier vor einer senschaftliche Diskussionsmedien. Dies muss schwierigen Gratwanderung. Einerseits müs- sich ändern. sen sie die Spielregeln des Mediensystems ak- Auch hier können historische Erfahrungen zeptieren und den Versuch unternehmen, sich als Basis dienen, gleichwohl müssen sie auf- ihrer strategisch zu bedienen; andererseits ste- grund der veränderten Kommunikationsge- hen sie vor der unverzichtbaren Aufgabe, weit wohnheiten und -medien weiterentwickelt wer- stärker als bisher an einer informationellen und den. Insbesondere mit Blick auf die Zielgrup- medialen Gegenöffentlichkeit zu arbeiten. Das pen der jüngeren und höherqualifizierten Be- bedeutet: Die Gewerkschaften müssen Strate- schäftigten haben Online-Medien erheblich 56 Hans-Jürgen Urban

an Bedeutung gewonnen. Hier stellt sich die Gewerkschaftsrechten abgeleitet werden kann, Frage, wie den Gewohnheiten des durchschnitt- so muss auf Seiten der Gewerkschaften ein ek- lichen Medien-Konsumenten im digitalen Zeit- latanter Transnationalisierungsrückstand kon- alter Rechnung getragen werden kann, ohne der statiert werden. kommunikativen Form die emanzipatorischen Diesen zu beheben stellt eine strategische Inhalte zu opfern. Aufgabe ersten Ranges dar. Das gilt etwa für die betrieblichen und tariflichen Interessenver- tretungsstrukturen. Die hier wartenden Aufga- 5.4 Strategische Transnationalisierung ben reichen von einem Ausbau betrieblicher In- Bliebe das Problem der strategischen Transna- teressenvertretungsstrukturen in transnationa- tionalisierung gewerkschaftlicher Strukturen len Konzernen mit dem Ziel der konzernweiten und Politikkonzepte. Wie immer man den hege- Durchsetzung arbeitsorientierter Sozialverfas- monialen Globalisierungsdiskurs im Einzelnen sungen bis hin zur Nutzung der (sicherlich be- einschätzen mag, an der objektiven Transnatio- grenzten) Einflusspotenziale im Rahmen des nalisierung ökonomischer Beziehungen und sozialen Dialogs der Europäischen Gemein- politischer Entscheidungsprozesse kann kaum schaft. Zweifel bestehen. Auch wenn aus diesen objek- Außerdem bedarf es der Transnationalisie- tiven Entwicklungstendenzen kein unentrinn- rung gewerkschaftlicher Organisations- und barer Sachzwang in Richtung Abbau von Ein- Kommunikationsstrukturen. Hier geht es um kommens- und Tarifstandards oder Sozial- und die Intensivierung der Kontakte zwischen na- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 57

tionalen Gewerkschaftsorganisationen sowie nicht um das Fehlen eines eigenen, gar eigen- um den finanziellen und personellen Ausbau willigen gewerkschaftlichen Planes geht. Nicht gewerkschaftlicher Dachorganisationen auf eu- mangelnde Reformphantasie, sondern politische ropäischer und globaler Ebene. Anmaßung lautet der eigentliche Vorwurf. Nicht Schließlich wäre der gewerkschaftliche Bei- zu Unrecht diagnostiziert Oskar Negt daher eine trag zur Konstituierung einer transnationalen generelle „Schlacht gegen die machtpolitische Gegenöffentlichkeit zu nennen. Die seit einigen Stellung der Gewerkschaften“ (2004: 12). Die Jahren durch die transnationalen Nicht-Regie- Verschiebung der machtpolitischen Balance zu- rungsorganisationen mit gewerkschaftlicher lasten der Lohnabhängigen und ihrer Gewerk- Unterstützung organisierten europäischen und schaften im Zuge der sozialökonomischen, po- Weltsozialforen können sich zu wichtigen Kno- litischen und hegemonialen Umbrüche hat die tenpunkte eines Netzwerks öffentlicher Aktivi- Option auf eine grundlegende Schwächung der täten entwickeln. Ähnlich die sozialen Protest- Gewerkschaften geschaffen. Dieser Versuchung initiativen anlässlich der regelmäßigen Treffen können einige nicht widerstehen. Dabei wird der wirtschaftlichen und politischen Eliten der den Gewerkschaften generell die Legitimation entwickelten kapitalistischen Metropolen. Auch zur Mitwirkung an der Neuregulierung des zu- hier werden Elemente einer Alternativkultur und künftigen Entwicklungsmodells mit eigenen -bewegung deutlich, die sich als Träger einer Konzepten und damit letztlich das moralische globalen Gegenöffentlichkeit erweisen könnten. und politische Existenzrecht abgesprochen. Damit werden die Gewerkschaften nicht ledig- lich als gesellschaftliche Reformkraft, sondern 6 Wozu noch Gewerkschaften? letztlich als Organisationen insgesamt infrage Kein Zweifel, mit Blick auf ihr gegenwärtiges gestellt. Agieren können die Gewerkschaften, einem Sollte diese Diagnose zutreffen, wäre neben Bonmot Joseph A. Schumpeters folgend, fachlichen Problemlösungskonzepten eine durchaus „mit einem Reiter verglichen werden, grundsätzliche Überlebensstrategie der Gewerk- der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, schaften gefordert. Dabei dürften Konzepte für so völlig in Anspruch genommen wird, dass er die Zukunft von Erwerbsarbeit, Tarifautonomie keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann.“ und Wohlfahrtsstaat nicht ausreichen. Vielmehr (1950: 456) Und ohne einen Plan, auch das ginge es um diskursiv überzeugende und vor wäre einzugestehen, wird der Ritt durch die allem machtpolitisch unterlegte Antworten auf Stromschnellen des kapitalistischen Formations- die grundlegende Frage ‚Wozu noch Gewerk- wechsels zu einem unkalkulierbaren Unterfan- schaften?‘ (Negt 2004). Dabei sollten die Ge- gen. Doch das Problem erkannt, heißt leider werkschaften weder ein verträgliches Maß an noch nicht, es gebannt zu haben. Natürlich sind ‚Utopie‘ noch einen gewissen ‚Radikalismus‘ die Gewerkschaften gefordert, auf die strategi- scheuen.9 schen Schlüsselprobleme, die sich aus der Trans- Die Aufgabe, Antworten auf diese Frage zu formation des fordistischen Kapitalismus erge- formulieren, kann jedoch nicht ausschließlich ben, adäquate Antworten zu finden. Insofern an die Gewerkschaften adressiert werden. entscheiden sie zu erheblichen Teilen selbst über Schließlich steht hier die soziale Demokratie als ihre zukünftige, gesellschaftspolitische Rolle. Gesellschaftsmodell zur Disposition. Somit sind Doch das ist nur eine Facette des Problems. alle Akteure gefordert, denen der entfesselte Es spricht nämlich einiges für die Feststellung, Shareholder-Kapitalismus, der sich gegenwär- dass es beim gegenwärtigen union-bashing8 tig global Bahn bricht, eher Schreckens- als 58 Hans-Jürgen Urban

Wunschbild ist. Noch vor geraumer Zeit wären insbesondere dem Gebot einer hinreichenden hier umgehend Selbstverständnis und Verant- Transparenz demokratischer Entscheidungspro- wortung von Sozialdemokratie und kritischen zesse und dem Gebot der Mitgestaltung der Sozialwissenschaften zur Sprache gekommen. Wahlbevölkerung an politischen Entscheidun- Doch heute kann nicht einmal umstandslos davon gen. Auch wenn diese Einwände in unterschied- ausgegangen werden, dass diese sich von der licher Gewichtung durchaus ihre Berechtigung hier in Rede stehenden Anforderung überhaupt haben, soll im Folgenden ohne weitere Begrün- angesprochen fühlen. dung von einer ausreichenden operativen Mach- barkeit und einer hinreichenden demokratiepo- Hans-Jürgen Urban ist Leiter des Funkti- litischen Legitimation strategischer Politiksteu- onsbereiches ,Gesellschaftspolitik/Grundsatz- erung ausgegangen werden. fragen‘ beim Vorstand der IG Metall. 3Als Restriktionen sollen Strukturen oder Pro- zesse bezeichnet werden, die organisatorische Ressourcen in anderen Bereichen binden, die Anmerkungen nicht mehr für die Realisierung strategischer 1Zur Debatte über die Revitalisierung der deut- Ziele zur Verfügung stehen. Die gegenwärtigen schen Gewerkschaften vgl. etwa Mahnkopf Restriktionen für gewerkschaftliches Handeln 2003, Funk 2003 und Deppe 2004; zur interna- resultieren aus dem krisenvermittelten Prozess tional vergleichenden Debatte vgl. Hyman 2001, der Transformation des fordistischen Kapitalis- Taylor/Mathers 2002, Panitch 2001 sowie die mus in eine neue Formation. Im Kern vollzieht Beiträge in Huzzard/Gregory/Scott 2004 und sich dieser Prozess auf sozialökonomischer Frege/Kelly 2004 und dem Schwerpunktheft Ebene als Übergang vom industriellen zu einem der WSI Mitteilungen (9/2003) „Strategien zur finanzmarktdominierten Akkumulationsregime, Neubelebung von Gewerkschaften. Ein inter- und auf politisch-institutioneller Ebene als Wan- nationaler Vergleich“. del des marktkorrigierenden Wohlfahrtsstaates 2Zu erwähnen ist, dass in der Literatur grundle- zum marktfördernden Wettbewerbsstaat (dazu gende Einwände gegenüber Machbarkeit und die Beiträge in Bieling u.a. 2001). Wünschbarkeit strategischer Planung und Steu- 4Der Begriff des konstruktiven Vetospielers erung vorgetragen werden. Die Skepsis gegen- wurde von Artur Benz (2003) im Rahmen sei- über der Machbarkeit, die der ‚Planungseupho- ner Analyse politischer Entscheidungs- und rie‘ der 1970/80er Jahre folgte, verweist auf Problemlösungsprozesse in Mehr-Ebenen-Sys- Steuerungsblockaden. Diese resultieren: aus der temen entwickelt. Er rekurriert auf die klassi- funktionalen Ausdifferenzierung der Gesell- sche Veto-Spieler-Theorie, nach der soziale oder schaft in autonome (‚autopoietische’) soziale politische Innovationen umso unwahrscheinli- Systeme, aus dem (zu) hohen Komplexitäts- cher sind, je größer die Zahl der Veto-Spieler grad der Steuerungsaufgabe in entwickelten ist, je größer die ideologische Distanz zwischen Gesellschaften oder aus der Übermacht interes- diesen ist und je homogener die kollektiven senegoistisch handelnder Vetoakteure. Die Skep- Akteure sind, die über Veto-Macht verfügen. sis gegenüber der Wünschbarkeit verweist auf Benz formuliert nun die These, „dass die auf die Gefahr unerwünschter (Neben-)Folgen po- einer Veto-Position beruhende Macht, Entschei- litischer Steuerungsversuche und die damit ver- dungen zu verhindern, in der Regel nicht ausge- bundenen Folgekosten sowie auf die potenziel- übt wird, um politische Prozesse zu blockieren. le Kollision strategischer Steuerung durch poli- Vielmehr setzen Akteure Blockade-Drohungen tische Eliten mit zentralen Demokratiegeboten, strategisch ein, um ihre eigenen Ziele zu errei- Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler 59

chen“. (211) Den Kern der These vom kon- integriert zu werden. Verhindert werden kann struktiven Vetospieler macht die Auffassung aus, dies nur auf der Grundlage eigener, autonomer dass diese eigenen Ziele durchaus mit konstruk- Politikpläne, einer ergebnisorientierten und kon- tiven Beiträgen zur Erhöhung von Problemlö- fliktfähigen Verhandlungsstrategie, einer hinrei- sungsfähigkeiten eines politischen Systems chenden Rückkoppelung an die Interessenla- einher gehen können. Im vorliegenden Zusam- gen der betroffenen Basis sowie einer glaub- menhang soll die These von Gewerkschaften würdigen Exit-Option, verbunden mit der Fä- als konstruktive Vetospieler einerseits die Be- higkeit zu einer bündnisorientierten Mobilisie- hauptung zurückweisen, die Gewerkschaften rungsstrategie (dazu ausführlich: Urban 1998). wirkten im aktuellen Wandel ausschließlich als 7Diese Sicht der Dinge folgt dem ‚machtres- strukturkonservative Blockademächte. Zugleich sourcentheoretischen Ansatz‘ der Analyse wohl- steht das Konzept für ein politikstrategisch be- fahrtsstaatlicher Entwicklung, der in den 1980er gründetes, normatives Konzept eines gewerk- Jahren vor allem durch Gòsta Esping-Ander- schaftlichen Rollenverständnisses, das auf der sen (z. B. 1985) und Walter Korpi (z. B. 1989) Basis gewerkschaftlicher Autonomie einen Bei- entwickelt wurde. trag zur Neudefinition gewerkschaftlicher Poli- 8Eine kleine Auswahl der ‚Gewerkschaftsschel- tik und zur Konstituierung der neuen Kapitalis- ten‘ aus der Tagespresse hat Gesterkamp (2004) musformation leisten könnte. zusammengetragen. 5Unter gewerkschaftlicher Autonomie wird eine 9Vielleicht wäre hier eine Anleihe bei einem der strategische Grundausrichtung gewerkschaftli- Urväter des Neoliberalismus, Friedrich A. v. cher Politik verstanden, die zum einen nicht die Hayek, weiterführend. Dieser hatte 1949 die Wettbewerbszwänge betrieblicher oder volks- Liberalen aufgefordert, im Kampf gegen die wirtschaftlicher Standorte, sondern die umfas- Ausstrahlungskraft des Sozialismus auf die In- senden Reproduktions- und Entwicklungsinte- tellektuellen die Arbeit an einer ‚liberalen Uto- ressen der Lohnabhängigen zum Ausgangs- und pie‘ und einem ‚liberalen Radikalismus‘ zu in- Zielpunkt gewerkschaftlicher Politik nimmt; tensivieren, „der weder die Empfindlichkeiten und die sich zum anderen unter Bezugnahme der bestehenden Interessengruppen schont, auf die positiven Entwicklungspotenziale kapi- noch glaubt, so ‚praktisch‘ sein zu müssen, talistischer Dynamiken um eine grundlegende dass er sich auf Dinge beschränkt, die heute Reform der Institutionen und Regulierungsmo- politisch möglich erscheinen.“ (Hayek 1949/ di des fordistischen Wohlfahrtsstaates bemüht, 1992: 53) Dieser Aufruf stand am Beginn des um den Interessen der Lohnabhängigen jeweils neoliberalen Radikalismus, der in den folgen- ‚auf der Höhe der Zeit‘, also entsprechend der den Jahrzehnten seine ‚Strategiefähigkeit‘ suk- sozialökonomischen Bedingungen (‚Akkumu- zessive verbesserte und in eine globale Hege- lationsregime‘) und den historischen Regulie- moniefähigkeit überführte. Ob ein ‚gewerk- rungsnotwendigkeiten (‚Regulierungssystem‘) schaftlicher Radikalismus‘ ähnliches vollbrin- gerecht werden zu können (Deppe 1979 und gen könnte? 2004). 6Gleichwohl setzt zu viel politische Naivität ge- Literatur genüber der Teilnahme an solchen institutionel- len Bündnissen die Gewerkschaften der Gefahr Benz, Arthur 2003: Konstruktive Vetospie- aus, die politische Eigendynamik dieses Poli- ler in Mehrebenensystemen. In: Mayntz, Rena- tikmodells zu unterschätzen und passiv in den te/Streeck, Wolfgang (Hrg.): Die Reformierbar- wettbewerbspolitischen Modernisierungskurs keit der Demokratie. Innovationen und Blocka- 60 Hans-Jürgen Urban

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Christiane Zerfaß

Strategiebildung in Umbruchzeiten Das Beispiel Deutscher Gewerkschaftsbund

1 Einleitung strategische Neuausrichtung für den DGB. Die- ser Veränderungsprozess führt dazu, dass die Die Bereitschaft in Gewerkschaften nimmt zu, bisher vorherrschenden Muster gewerkschafts- sich wieder mit Fragen der Strategieentwick- interner Strategieentwicklung überprüft und die lung zu beschäftigen. Mit der Erfahrung, dass zumeist um Durchsetzungs- und Machtstrate- geübte gewerkschaftliche Durchsetzungsstrate- gien kreisenden Strategiedebatten erweitert wer- gien und Routinen an Grenzen stoßen, wächst den müssen. auch das Wissen, dass Optimierungsprojekte Es spricht viel dafür, dass die wirtschaftli- nicht ausreichen. Notwendig ist eine grundsätz- chen und gesellschaftlichen Umbrüche der Glo- lichere Reflexion über die gewohnten Abläufe, balisierung in ihrem vollen Umfang noch nicht die auch die Bedingungen für Strategiebildungs- erkannt geschweige denn akzeptiert worden sind prozesse einschließt. Beispiele für gestörte Rou- – von der Gesellschaft im Allgemeinen wie vom tinen zeigen sich u.a. bei der Entwicklung politi- DGB. Bei aller Gefahr, die in Prognosen liegt: scher Positionen im Deutschen Gewerkschafts- Die Politik wird voraussichtlich auch auf wei- bund (DGB): Immer häufiger müssen Stellung- tere Verschärfungen der wirtschaftlichen Lage nahmen auf nationaler wie auf europäischer Ebe- mit den bereits bekannten Medikamenten rea- ne rascher entwickelt werden als dies dem Ta- gieren: Es besteht nur geringe Hoffnung, dass gungsrhythmus und der Arbeitsweise der jewei- der Grundfehler aller von der Politik diskutier- ligen Gremien entspricht. Ein weiteres Indiz für ten Reformen, nämlich ihre mangelnde Nach- Veränderungsbedarf sind Anlaufschwierigkeiten haltigkeit, korrigiert wird. Zu erwarten ist also bei der Integration neuer Standards in gewohnte eine Fortsetzung bestehender Politiken, wo- Geschäftsprozesse wie z.B. bei den Konsultati- durch sich der Druck gerade auf die Gewerk- onsverfahren der EU via Internet. schaften weiter verstärken wird. Weiteren Reformdruck bringt das politische Für diese Entwicklung müssen sich Gewerk- Tagesgeschehen für den DGB mit sich. Unter schaften im wahrsten Sinne des Wortes rüsten. Gewerkschaftsbeschäftigten wie ehrenamtlichen Zeit loszulegen – über die Strategieentwicklung Kräften artikuliert sich deutliches Unbehagen im DGB nachzudenken und dabei auch einen an den laufenden gesellschaftlichen Reformdis- Blick auf ihre Bedingungen zu werfen. kussionen, die oft als aufgezwungen erlebt wer- den. Zugleich wächst der Wunsch nach mehr 2 Das ‚Geschäftsmodell des DGB‘ Offensive der Gewerkschaften, um die Arbeit- nehmerschaft und ihre Familien wieder besser Kennzeichnend für den DGB, aber auch für die zu erreichen. Es geht also um mehr Gestaltung Mitgliedsgewerkschaften1 ist die Parallelität und um weniger Reaktion – und damit um eine unterschiedlicher strategischer Ansätze. Aus der Trendumkehr. Diese Änderung der Blickrich- unterschiedlichen Entstehungsgeschichte der tung ist alles andere als trivial. Der Perspekti- jeweiligen Organisationen ist dies nachvollzieh- venwechsel bedeutet einen Systembruch, eine bar, reflektiert der Strategiebegriff doch immer 62 Christiane Zerfaß

auch die Organisationskultur, die jeweiligen Hülle und Fülle. Sie werden in der Regel eher Traditionen und das Organisationsverständnis implizit denn explizit entwickelt, und sie gelten ebenso wie die Rahmenbedingungen der orga- als Bestandteil der normalen Ablauforganisati- nisierten Branchen. on. Strategische Prozesse begründen demnach Gewerkschaften spiegeln damit auch die die Arbeitsweise in den Fachausschüssen des Geschichte und Entwicklung des Begriffsfel- DGB – wie etwa im Tarifpolitischen Ausschuss des ‚Strategische Planung‘, das als eine Art oder im Sozialpolitischen Ausschuss, um nur Heilslehre in den 1970er Jahren auf dem Höhe- zwei Beispiele stellvertretend für andere zu nen- punkt ihrer bisherigen Wirkungsgeschichte2 war nen. In diesen Gremien, in denen Gewerkschaf- und auch bei den Gewerkschaften hoch im Kurs ten und DGB-Gliederungen vertreten sind, wer- stand. Heute wird der Begriff der ‚Strategischen den Positionierungen erarbeitet, abgestimmt und Planung‘ in weiten Teilen der Unternehmen, aber dann den Führungsgremien zur Beschlussfas- auch in Wissenschaft, Verbänden und Organi- sung übermittelt. Strategieentwicklung ist da- sationen realistischer und kritischer bewertet. mit immer Teil der fachlichen Arbeit. Zumeist In den vergangenen 15 Jahren hat eine grund- wird dieser Prozess von internen Expertinnen sätzliche Neuorientierung im Verständnis von und Experten geprägt. In immer stärkerem Maße Strategieprozessen eingesetzt, die sich sowohl werden – der wachsenden Komplexität gehor- mit dem Namen Michael Porters als auch dem chend – jedoch auch Externe integriert, um die wachsenden Einfluss der Systemtheorie3 be- Expertise einzubinden, die im Apparat nicht schreiben lässt. Diese Neuorientierung hat Spu- vorhanden ist. Gearbeitet wird auf vertrautem ren in der internen gewerkschaftlichen Diskus- Terrain, in anerkannten, gefestigten Strukturen. sion hinterlassen. Das zugrundeliegende Wertesystem basiert auf Das ‚Geschäftsmodell des DGB‘ ist gekenn- einem klaren normativen Rahmen und ist in der zeichnet durch hohe Autonomie der Gliederun- Regel breit akzeptiert. Prägend ist ein Selbst- gen und geringe direkte Steuerung durch die verständnis, das die Rolle von Gewerkschaften Zentrale, dies betrifft sowohl die DGB-Struk- als Stabilisatoren und als Garanten für Sicher- turen sowie die der Gewerkschaften. Der DGB heit betont. Das geübte Handlungsmuster lau- bewegt sich dabei in einer doppelten Matrix: tet: den Wandel prüfend begleiten. Zur eigenen dezentral aufgebauten Organisati- In diesem Modell der evolutionären Strate- on tritt die dezentrale Struktur der ‚Anteilseig- gieentwicklung5 kann sich ein ungemein kreati- ner‘, der acht Mitgliedsgewerkschaften, hinzu. ves Potenzial entfalten. Zigtausende von Tarif- Die bunte Vielfalt dieser Welt hat Auswirkun- verträgen sprechen eine deutliche Sprache. gen auf strategische Prozesse. Der Varianten- Gleichwohl grenzen klare Leitplanken den Hand- reichtum der planerischen Ansätze wird im fol- lungsspielraum ab. Das Ergebnis sind Teilstra- genden auf zwei Grundmuster zurückgeführt. tegien, die in den Führungsgremien des DGB Die Modelle liefern keinen idealtypischen Pro- unter gemeinsame strategische Dächer versam- zessablauf, sondern sollen die strukturellen melt und zu ‚roten Fäden‘ gebündelt werden. In Unterschiede erhellen. dieser Umgebung bewegt sich in aller Regel auch die Arbeit an Grundsatzprogrammen oder Grundmodell I: dezentrale Strategiebildung an Leitanträgen. Die eingeübten Verfahrensre- Im DGB-Geschäftsmodell existiert kein ausge- geln können als positive Routine betrachtet wer- wiesenes, formales strategisches Zentrum nach den. Das Modell der evolutionären Strategie- Clausewitzschem Strategieverständnis4. Strate- entwicklung umfasst also weite Teile der Ab- gische Prozesse gibt es natürlich dennoch in lauforganisation des Modells ‚Gewerkschaft‘. Strategiebildung in Umbruchzeiten 63

2.1 Grenzen der dezentralen det, erschallt sporadisch, dann aber um so lau- Strategiebildung ter der Ruf nach dem ‚großen Wurf‘ – dem all- umspannenden Masterplan, der alle strategischen Mit diesem Muster lässt sich zwar – auf stabiler Mosaiksteine in Windeseile in einen geordne- Basis und einem gesichertem gemeinsamen ten Zusammenhang zwingt. Aus diesem zwei- Wertekontext – gut und erfolgreich ebenso be- ten Grundmuster (nicht allein) gewerkschaftli- teiligungsorientiert wie fachlich fundiert eine cher Strategiebildung spricht auch der Wunsch Konsensbildung befördern. Schwierig wird es nach grundlegender Orientierung – ein Wunsch, allerdings, wenn die Rahmenbedingungen ins der in den erfolgreichen dezentralen Strategie- Wanken geraten. Dann droht aus der konsensu- bildungsprozessen pragmatisch und ohne alen Entwicklung von Teilstrategien eine Poli- Schmerzen ad acta gelegt ist. Dieses gegenläu- tik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu wer- fige, in der Praxis seltenere Modell speist sich den. aus der Sehnsucht nach mehr Übersichtlichkeit, So sind die Grenzen dezentraler Strategie- Reduktion der Komplexität – kurz: nach einem bildung erreicht, wenn klaren Leitbild. 1. der Evolutionsprozess zu viel Zeit benötigen Seine Grenzen findet dieses Modell im de- würde – wie etwa in Krisenzeiten, zentralen Aufbau des DGB und seiner Gewerk- 2. sich die Rahmenbedingungen zu stark än- schaften. Die Energie der Subsysteme und der dern – wie etwa durch die Ablösung natio- Konflikt der großen zentralen Idee mit den prag- nalstaatlicher Regelungen durch die fort- matisch entwickelten dezentralen Teilstrategien schreitende Europäisierung der Politik, führt ebenso wie die Komplexität der Themen 3. das Selbstverständnis der Organisationen dazu, dass diese Ansätze im selben Maße, wie tangiert wird – so etwa, wenn der gemeinsa- sie eingefordert werden, massive Widerstände me Wertekanon brüchig wird, auslösen. 4. für Stimmigkeit der Botschaften und Zusam- menhalt der Organisation gesorgt werden soll. Konsens und Kohäsion sind in erster 2.2 Strategieprozesse im DGB Linie für das jeweilige Subsystem von Be- Für den Gesamtcharakter dieser Prozesse im deutung, das die Teilstrategien entwickelt. DGB prägend Der Fokus liegt auf der Fachlichkeit, da wird 1. sind tendenziell eher informelle und implizi- der nächstgrößere Kontext notwendigerwei- te Strategieentwicklungsprozesse (coalition se ausgeblendet. Schwierig wird es also bei of the willing and able) sehr komplexen, vernetzten Themen, die 2. sind flexible, dezentrale Teilstrategieentwick- mehr Vogelperspektive verlangen, als dies lungen in den hoch autonomen Gliederun- der fachliche Rahmen zulässt bzw. zulassen gen des DGB (und tendenziell auch der Ge- kann. werkschaften), die von den Führungsgre- Kurzgefasst heißt dies, wenn die Fachlichkeit mien im DGB über Dachstrategien zu roten allein das Thema nicht mehr isoliert behandeln Fäden gebündelt werden sollen. Hierin liegt und fortentwickeln kann, ist das Warten auf evo- evolutionär betrachtet eine enorme Stärke. lutionäre Entwicklungen fahrlässig.6 Als Grundmuster kompetenter Selbstorga- nisation wird die dezentrale Strategiebildung Grundmodell II: Der ‚große Wurf‘ weiter gebraucht – auch wenn sie sicherlich In diesen Situationen, in der sich die dezentrale wie so vieles optimiert werden kann. Strategieentwicklung in der Sackgasse befin- 64 Christiane Zerfaß

3. sind dialogische Strukturen. Strategieent- Wie kann die Strategieentwicklung ange- wicklung ist nichts, was – wie etwa in inha- sichts der stark dezentralen Struktur der deut- bergeführten Familienunternehmen – ideal- schen Gewerkschaftslandschaft darauf antwor- typisch von oben nach unten angeordnet ten? wird. Parallele Prozesse sorgen in der ent- gegengesetzten Richtung regelmäßig für 3 Die systemische Antwort: Ein Feedback. Ergebnis ist ein anderes Füh- Strategie-Ansatz für den DGB rungsverständnis und eine andere Führungs- praxis im DGB und in den Gewerkschaften Erfolgversprechend scheint die Herangehens- als z.B. in der Wirtschaft. weise der systemischen Strategieentwicklung, 4. sind expertenorientierte Ansätze in den poli- hinter der sich alles andere als eine neue Heils- tischen Fachgebieten (dabei greifen die Sub- lehre verbirgt. Aufgegriffen werden aktuelle systeme sowohl auf interne wie externe Be- Erkenntnisse aus (Natur- wie Geistes-) Wis- ratung zurück). senschaft und (Management-) Praxis. Der sys- 5. ist der sporadische Ruf nach zentralen Stra- temische Ansatz nutzt deren Stärken und Leis- tegieentwürfen. In ihm artikuliert sich auch tungsprofile und nimmt dann das gesamte der Wunsch nach Reduktion der Komplexi- ‚Spielfeld‘ samt seiner Rahmenbedingungen in tät. den Blick.7 Aus dieser Perspektive ist es mithin Insbesondere in Umbruchzeiten erweisen sich völlig unrealistisch, ‚Erlösung‘ aus dem strate- beide Grundmodelle als unzureichend, um not- gischen Dilemma von einzelnen Personen, iso- wendige Neupositionierungen zu erarbeiten. lierten strategischen Zentren, Expertinnen und Strategiebildung in Umbruchzeiten 65

Experten oder noch so innovativen Impulsrefe- meinsam entwickeln, um sowohl inhaltlich raten zu erwarten. Die wachsende Komplexität voranzukommen, als auch um die Kohäsi- der Organisationen und Systeme macht die onskräfte zu stärken. schlichte Rechnung unmöglich, nach der nur genügend recherchiert, geforscht und kommu- 3.1 Neue Kommunikationsstrukturen niziert werden muss, damit die strategische Pla- nung unzweifelhaft mitten ins Ziel trifft. Unter Strategische Kommunikation ist das Rückrat systemischem Blickwinkel ist das pure Illusion dieser Form der Strategiebildung: es geht um – ade ‚grand strategy‘. gezieltere, um mehr und um bessere Kommu- Der DGB als Dachverband blickt nach die- nikation. Wer hier ansetzt, weiß, dass damit sem Ansatz auf ein System nahezu unzähliger tiefgreifende Veränderungen der Organisati- ‚Einheiten‘, in denen Teilstrategien entwickelt onskultur verbunden sind. Erfolgreich veran- werden. Die Strategien zeigen sich als Samm- kern lassen sich neue Kommunikationsstruk- lung und Bündelung von Initiativen. Sie spei- turen unter systemischem Blickwinkel nur sen sich aus der Energie der Subsysteme und mittelfristig – also evolutionär, geduldig, be- entwickeln sich in klarer Abhängigkeit von den teiligungsorientiert und dialogisch – mit ho- jeweiligen Rahmenbedingungen. Sie können hem Zeit- und Kommunikationsaufwand. beabsichtigt, kalkuliert oder intuitiv sein, expli- Keinesfalls ist das ein Votum dafür, die Hän- zit formuliert oder implizit gelebt werden. Die de in den Schoß zu legen. Kurzfristig müssen Unterschiedlichkeit der Mitgliedsgewerkschaf- auf der Maßnahmenseite Projekte mit Strahl- ten manifestiert sich hier ebenso wie regionale kraft hinzutreten, die ein Zeichen für die Ernst- Besonderheiten. haftigkeit und Glaubwürdigkeit des begon- Eine Einigung über alle Subsysteme und nenen Prozesses setzen. Die Verbesserung der alle Anliegen hinweg ist angesichts dieser Informationsflüsse muss sofort spürbar und Komplexität (der Themen und der Zahl der erlebbar werden. Mitspielerinnen und Mitspieler) nicht mög- Der DGB hat deshalb u.a. neue Kommuni- lich. Politische Organisationen wie Gewerk- kationsinstrumente entwickelt, die für mehr schaften sind nicht in der Situation einer Transparenz sorgen sollen – so z.B. elektroni- Marke, die neu am Markt eingeführt wird. sche Info-Dienste, die alle DGB-Mitarbeiter- Strategie – egal welcher Ausprägung – gibt innen und Mitarbeiter, aber auch die Mitglieds- es immer schon, sie ist immer schon wirk- gewerkschaften zeitnah über Entscheidungen der sam – implizit oder explizit. Die Herausfor- DGB-Führungsgremien unterrichten. Ein wei- derung für die Führungsgremien des DGB teres wesentliches und kurzfristig wirksames besteht darin, stimmige Botschaften unter Signal ist die deutliche Intensivierung des per- einem gemeinsamen Dach zu produzieren. sönlich-dialogischen Austauschs zum einen Strategische Planung muss in diesem Kon- zwischen den DGB-Ebenen, zum anderen zwi- text dazu befähigen, die Vielfalt erlebbar zu schen DGB und Gewerkschaften, aber natür- machen und trotz Konflikten politik- und lich auch mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft arbeitsfähig zu bleiben. Das kann nur funk- und Verbänden. Von regelmäßigen Treffen der tionieren, wenn – zusätzlich zur dezentralen DGB-Regionsvorsitzenden mit der DGB-Füh- Strategiearbeit – gezielt gemeinsame Positi- rung bis hin zu zahlreichen zielgruppenorien- onen formuliert werden: das heißt, wenn tierten Multiplikatoren-Veranstaltungen werden DGB und Gewerkschaften an ausgewählten die Maschen des Netzwerkes kontinuierlich Schwerpunkten explizit zentrale Projekte ge- geknüpft. 66 Christiane Zerfaß

3.2 Umgang mit Widerständen vorherrschende evolutionäre Strategiebildung ist in jedem Falle überfordert, wenn sie mehr als Klassische Organisationsentwicklung und Stra- Teilstrategien liefern soll. Stimmige Gesamtstra- tegieentwicklung gehören zusammen, sie sind tegien und Antworten außerhalb der gewohnten zwei Seiten einer Medaille. Es geht immer auch Leitplanken sind von ihr nicht zu erwarten. Die darum, Lernprozesse zu organisieren. Dabei dezentrale Strategiearbeit muss daher durch klar wird die eine oder andere Rückkopplungsschlei- definierte, explizit benannte und breit kommu- fe vermutlich unausweichlich sein. Doch selbst nizierte zentrale Strategieprojekte ergänzt wer- vermeintliche Roll backs gilt es ernst zu neh- den. Dieser Teil der strategischen Neuorientie- men. Die sich darin äußernden Widerstände sind rung ist eine Herausforderung für die politische wichtige Signale für die Organisations- wie für Führung des DGB und der Gewerkschaften. die Strategieentwicklung. An inhaltlich lohnenden Themen wäre kein Gewerkschaften werden dafür bezahlt, dass Mangel: Ein erfolgversprechender Ansatz für sie heute und nicht erst morgen erfolgreiche In- einen derartigen strategischen Schwerpunkt läge teressenvertretung machen und dies auch in z.B. in einer stärkeren europäischen Ausrich- Zeiten wie diesen, da Gewerkschaften unter tung der Politik des DGB und der Gewerk- Dauerbeschuss stehen. Diese Umfeldfaktoren schaften inklusive der Entwicklung eines euro- erschweren die Hinwendung zu Neuem, von päischen Sozialmodells als Alternative zur All- dem der DGB nicht wissen kann, ob es nach- macht der Märkte. Wo nationalstaatliche Rege- haltigen Erfolg bringt. lungen im zusammenwachsenden Europa an Die Tendenz des Systems besteht in derarti- ihre Grenzen stoßen, da spüren das auch natio- gen Lagen darin, sich abzuschotten, die Sta- nalstaatlich ausgerichtete Organisationen wie cheln auszufahren und sich zu verteidigen, sich Gewerkschaften. Soll Europa mehr als ein Wirt- also auf das Bewahren und Sichern des Erreich- schaftsraum sein, müssen Gewerkschaften ihre ten zu fokussieren. Die Widerstände gegenüber Vision einer sozialen und demokratischen euro- einer Neuorientierung speisen sich aus den päischen Gesellschaft konkretisieren und poli- Quellen, die die Gewerkschaftsbewegung in der tisch wirksam machen. Dies sind Fragen, deren Vergangenheit erfolgreich gemacht hat. In der Antworten Leitbildcharakter haben. Abkehr von bisher geübter positiver Routine Auch die Intensivierung der Wertedebatte wird vor allem das Risikopotenzial gesehen. Das könnte zu einem strategischen Schwerpunkt wer- ist ein bekanntes und keineswegs allein für Ge- den. Was verstehen Gewerkschaften bei globali- werkschaften gültiges Theorem. Mit Machtpo- sierten Märkten unter Gerechtigkeit, was bedeu- litik lassen sich diese Widerstände nicht aus dem tet Chancengleichheit in der Wissensgesellschaft? Weg räumen. Der einzig erfolgversprechende, Wie definieren sie die Würde arbeitender Men- gleichwohl kräftezehrende Ansatz ist, offensiv schen in Zeiten andauernder Massenarbeitslo- mit ihnen zu arbeiten. sigkeit? Gewerkschaften müssen und können sich gemeinsame Erfolge organisieren, neue Binde- 4 Entwicklung eines Strategie-Mix glieder schaffen, die Symbolkraft entfalten. Für Strategieentwicklung im DGB, verstanden als diese Prozesse müssen neue Strukturen und effi- Prozess der Neupositionierung, lässt sich unter zientere Arbeitsweisen etabliert werden, u.a. um den aktuellen Vorzeichen nur als Lernprozess die oft zeitraubenden Abstimmungsprozesse zu verstehen. Es geht um ein mittel- und langfristi- beschleunigen. Kommen diese Prozesse nicht in ges Projekt, das gerne auch mal den einen oder Gang und akzeptieren Gewerkschaften die auf- anderen Umweg nimmt. Die bislang im DGB gedrängte Verteidigungsrolle, dann beschränken Strategiebildung in Umbruchzeiten 67

sie sich aufs evolutionäre Reagieren und Management, das klare Vorstellungen über die schrumpfen voraussichtlich langsam und allmäh- erforderlichen Kurskorrekturen hat.“ lich. Strategische Entwicklungsprozesse können 7Siehe für vertiefende Hinweise Nagel/Wim- entscheidende Katalysatoren dafür sein, dieses mer 2002, 71ff. Szenario Lügen zu strafen.

Dr. Christiane Zerfaß, Leiterin der Abteilung Literatur Strategische Planung beim Bundesvorstand des Baecker, D. 1999: Organisation als System. Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Frankfurt a.M. eMail: [email protected] Becker, H./Ingosch, L. 1995: Produktivität und Menschlichkeit. Organisationsentwicklung und ihre Anwendung in der Praxis. 4., Stutt- Anmerkungen gart. 1Im DGB als Dachverband sind die folgenden Clausewitz, C. von 1994: Vom Kriege, Frank- acht Mitgliedsgewerkschaften zusammenge- furt. schlossen: IG Bauen-Agrar-Umwelt (BAU), Foerster, H. 1981: Das Konstruieren einer Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Ener- Wirklichkeit. In: Watzlawick, P., Die erfundene gie (IG BCE), Gewerkschaft Erziehung und Wirklichkeit. München, 39-60. Wissenschaft (GEW), Industriegewerkschaft Lindblom, C. E. 1959: The science of mudd- Metall (IG Metall), Gewerkschaft Nahrung- ling through. In: Public administration review, Genuss-Gaststätten (NGG), Gewerkschaft der 19/2, 79-88. Polizei (GdP), TRANSNET, Vereinte Dienst- Mintzberg, H. 1995: Die Strategische Pla- leistungsgewerkschaft (ver.di) nung. Aufstieg, Niedergang und Neubestim- 2Siehe hierzu stellvertretend das Fazit von Mintz- mung. München. berg 1995, 475 ff. sowie Nicolai 2000. Mintzberg, H. 1999: Strategy-Safari. Wien. 3Siehe als knappe Übersicht der theoretischen Müller-Stewens, G. / Lechner, C. 2001: Stra- Fundamente Nagel/Wimmer 2002, 92ff. mit tegisches Management. Wie strategische Initia- weiterführender Literatur. tiven zum Wandel führen. Stuttgart. 4Clausewitz entwickelt sein Strategieverständ- Nagel, R./Wimmer, R. 2002: Systemische nis mit Blick auf die Prinzipien der Kriegfüh- Strategieentwicklung. Modelle und Instrumen- rung, siehe Clausewitz, C. von 1994, siehe auch te für Berater und Entscheider. Stuttgart. den Beitrag von Rudolf Speth in diesem Heft. Nicolai, A. T. 2000: Die Strategie-Industrie. 5Zur besonders häufig in dezentralen Organisa- Wiesbaden. tionen anzutreffenden evolutionären Strategie- Porter, M. 1983: Wettbewerbsstrategie. entwicklung siehe auch Nagel/Wimmer 2002, Frankfurt a.M. 59. Porter, M. 1986: Wettbewerbsvorteile. Frank- 6Diese Gefahren werden bei Nagel/Wimmer, furt a.M. 2002, 69 mit feiner Ironie beschrieben: „In be- Senge, P. 1997: Die fünfte Disziplin. Stuttgart. stimmten Situationen, in denen das Überleben Simon, F. B. 1997: Die Kunst nicht zu ler- der Organisation auf dem Spiel steht, ist das nen. Heidelberg. Vertrauen auf die Kraft der geduldigen Evoluti- Straub, W. G./Forchhammer, L. S./Brachin- on nicht unbedingt empfehlenswert. Existenti- ger-Franke, L. 2002: Bereit zur Veränderung. elle Krisen erfordern ein handlungsfähiges UnWege der Projektarbeit. Hamburg. 68 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Uwe Schwarzer

Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände

Strategiebildung ist auch in der sozialen Arbeit 2 Strategiebildungsprozesse in und damit in den Wohlfahrtsverbänden unver- einem gegliederten zichtbar und dies spätestens, seit die sozialen Verbandssystem Dienstleister mit der Einführung der Pflegever- Trotz dieser Strategieblockaden findet Strate- sicherung in Deutschland und in Europa in eine giebildung aber in zunehmendem Maße statt, Wettbewerbssituation gekommen sind. Zuneh- auch wenn Strategien und Handlungskonzepte mender Wettbewerb wird dabei zum zentralen auf den unterschiedlichen Ebenen der Diakonie Ausgangspunkt bei strategischen Überlegun- ganz unterschiedlich aussehen. gen des Ausbaus von Marktanteilen auch im Um einen kurzen Einblick in diese Unter- Sozialbereich. schiedlichkeit zu geben, muss man zwei Ebe- nen unterscheiden. Zum einen eine Strategiebil- 1 Ursachen von Strategieblockaden dung auf der Ebene einer konkreten sozialen Einrichtung sowie der Strategieentwicklung auf Natürlich gab und gibt es immer noch Strategie- Ebene eines Spitzenverbandes der Freien Wohl- blockaden, und zwar insbesondere dort, wo fahrtspflege, nämlich dem Diakonischen Werk • es eine Wettbewerbssituation nicht gibt (und der EKD. dies ist noch in vielen Arbeitsfeldern der Fall!), 2.1 Strategiebildung auf der Ebene • der Förderaspekt des Wohlfahrtsstaates z.B. einer Altenhilfeeinrichtung im Sinne von staatlichen Zuschüssen noch im Vordergrund steht, Am Beispiel der Samariterstiftung Nürtingen, • das Management noch nicht mit aktuellen einem diakonischen Träger der Altenhilfe, wird Managementmodellen und -methoden arbei- deutlich, dass bei der Strategieentwicklung sehr tet sowie dort, wo systematisch vorgegangen wird. Die Notwen- • ohne ein implementiertes Qualitätsmanage- digkeit der Strategieentwicklung resultiert auch ment-System Politik und Strategie im Rah- hier einerseits aus einer Wettbewerbssituation, men von Qualitätsmanagementprozessen andererseits aber auch aus der Einführung mo- noch nicht formuliert und konsequent um- derner Managementmethoden sowie auch der gesetzt werden. Implementation eines Qualitätsmanagementsys- Ein weiterer Grund mag hinzukommen: Soziale tems. Dienstleister stellen ihren altruistischen Hilfe- Die Samariterstiftung gehört zu den Einrich- ansatz häufig ins Zentrum aller Managementak- tungen, die den Prozess der Strategieentwick- tivitäten, wobei es häufig noch als verpönt gilt, lung sowie die verfolgten strategischen Ziele offen die unternehmenspolitischen Aspekte so- offen und partizipativ diskutiert und publiziert. zialen Handelns anzusprechen geschweige denn Im Folgenden will ich holzschnittartig an- sie auch noch in Strategiekonzepte systematisch deuten, was Strategieentwicklung auf Einrich- einzubinden. tungsebene bedeutet. Ausgehend von Unterneh- Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände 69

mens- bzw. Diakonieleitbild werden Informati- • Sie hat beim Deutschen Qualitätspreis – auch onen über veränderte Rahmenbedingungen, über im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen – neue und geänderte Dienstleistungen sowie der im Jahr 2000 hervorragend abgeschnitten. Auswertungsergebnisse interner Leistungsin- • Sie hat sowohl das ISO-9000-Zertifikat so- dikatoren und den Ergebnissen aus dem Perso- wie das Diakoniesiegel Pflege erhalten. Das nal- und Finanzcontrolling sowie Benchmar- EFQM-Modell wurde ebenfalls erfolgreich king-Aktivitäten in eine Politik- und Strategie- umgesetzt. entwicklung integriert. Daraus wird eine Ent- • Das Institut der Deutschen Wirtschaft, das wicklungspolitik abgeleitet, die in eine Einrich- in seinem Gutachten 2004 Wohlfahrtsver- tungskonzeption sowie in Qualitätsziele des bände in Deutschland recht kritisch mit den Samariterstifts einfließen. All dies geschieht von Verbänden umgeht, nennt die Einrichtung der Leitung initiiert partizipativ mit den Mitar- ausdrücklich als ein gelungenes Beispiel ei- beitenden, z. B. in den strategischen Konferen- nes modernen Managements, das den zen, die in der Samariterstiftung in einer Kom- Sprung in das 21. Jahrhundert schafft. munikationstabelle dargestellt sind. Transparenz wird zudem auch gegenüber der Öffentlichkeit 2.2 Die Strategieentwicklung im hergestellt. Diakonischen Werk der EKD Welche Effekte haben diese systematischen Aktivitäten? Hier sind eine Reihe von Effekten Die Strategiebildung auf der Bundesebene zu zu nennen: beschreiben, lässt einen Vergleich mit anderen • Die Samariterstiftung ist in diesem Markt- Organisationen auf Bundesebene wie Bundes- segment ein bedeutender Wettbewerber. parteien, Gewerkschaften, Umwelt- und Ver- 70 Uwe Schwarzer

braucherorganisationen zu. Für die Organisati- • der Evaluation/Reflexion sowohl von strate- onen auf Bundesebene ist dabei vor allem auch gischen Zielen als auch Handlungskonzep- die Frage interessant, ob und wie eine Strate- tionen und Maßnahmen. gieentwicklung eine Steuerung wie im Sinne einer Verbandssteuerung bei den Wohlfahrts- Strategische Ziele verbänden bis hin zu angezielten Effekten auf Welche strategischen Ziele wurden nun konkret Einrichtungsebene mitberücksichtigt. formuliert? Das Diakonische Werk der EKD hat relativ selten in Publikationen über die zu Die Ausgangssituation verfolgenden strategischen Ziele berichtet. Den- Beginnend im Jahr 1990 stellte sich für die Di- noch gibt es eine Reihe Hinweise, die deutlich akonie als Spitzenverband der Freien Wohl- machen, dass hier durchaus auch Transparenz fahrtspflege die Ausgangssituation folgender- herrschte und gewollt war: So hat die Diakonie maßen dar. Die Diakonischen Einrichtungen vor in verschiedenen Publikationen ab 1999 sowie Ort waren rechtlich selbständig. Sie sind bzw. beispielsweise beim Fürsorgetag 2003 ihre Stra- waren Mitglied in einem diakonischen Landes- tegie im Blick auf das Thema Qualitätsmanage- verband oder einem diakonischen Fachverband. ment offengelegt. Nur diese Landesverbände sind Mitglieder im So wurden erstmals folgende strategische Diakonischen Werk der EKD. Daneben sind Ziele benannt und verfolgt: diakonische Einrichtungen auch in Fachverbän- • Stärkung der Anwaltschaft (der Betroffenen) den organisiert, wobei die Fachverbände • Stärkung der Wirtschaftlichkeit sozialer wiederum Mitglied im Diakonischen Werk der Dienste EKD sind. Dies heißt letztendlich, dass das Di- • Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sozialer akonische Werk der EKD kein Weisungsrecht Dienste gegenüber seinen Trägern hat und damit beste- • Stärkung des Diakonischen Profils hen auch kaum Steuerungsmöglichkeiten aus- • Stärkung des Dritten Sektors (national, in- gehend von der Bundesebene bis hin zur diako- ternational, weltweit) nischen Situation in der Region vor Ort. Grafik 1 macht noch einmal deutlich, wie Strategieentwicklung und Perspektivbeschrei- Strategiebildung bung von Diakonie bis zum Jahre 1988, des Wie fand nun Strategiebildung in der Hauptge- Weiteren bis zum Jahre 1995 und sodann ab schäftsstelle statt? Hier muss zunächst einmal dem Jahr 2000 stattgefunden hat (Grafik 1). ein Blick auf die Strukturqualität geworfen wer- Was die Verbandssteuerung angeht, so wur- den. den zunächst also die strategischen Ziele ermit- Seit etlichen Jahren führt das Diakonische telt. Entscheidend war natürlich aber noch die Werk der EKD regelmäßige Strategieklausuren Frage, welche Steuerungsinstrumente einem am Jahresbeginn durch. Hier nehmen sowohl Spitzenverband zur Verfügung stehen könnten. die Geschäftsleitung als auch die leitenden Mit- Bei der Recherche verschiedenster Steuerungs- arbeiter teil. In den Anfangsjahren der Strate- instrumente stellte sich alsbald heraus, dass gieklausuren ging es um den Prozess Qualitätsrahmenhandbücher auf Bundesebene • der Entwicklung strategischer Ziele sowie eine geeignete Grundlage darstellten, um Im- • der Identifizierung von Handlungskonzepti- pulse in den Verband hinein bis hin zur Orts- onen und Maßnahmen sowie ebene zu setzen. Ich will dies am Beispiel Pfle- ge deutlich machen. So hat die Diakonie beispielsweise das Ziel Stärkung der Wettbe- Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände 71

Grafik 1 Strategieentwicklung Qualität beim Diakonischen Werk der EKD Meilensteine der QM-Strategieentwicklung bis 1988 bis 1995 2000

Erkennungszeichen Wettbewerbsfähigkeit Nachhaltigkeit diakonischen der Diakonie der Diakonie Handelns Schwerpunkte: Schwerpunkte: Strategische Ziele 2001 • diakonisches Profil • diakonische Dienstleistung Stärkung von: • diakonische Qualität • Finanzierung diakonischer • Profil Dienstleistungen • Anwaltschaftlichkeit • Gemeinwohlorientierung • Nachhaltige Finanzierung • Wettbewerbsfähigkeit • Internat. Kooperation • Generationengerechtigkeit • Gendergerechtigkeit

verbandsinterne Perspektive: externe Perspektive: interne und externe Perspektive: Kernfragen: Kernfragen: Kernfragen: • Staat und Marktorientie- • kirchliches Profil • Wettbewerb mit anderen rung • kirchlich/diakonische (privaten) Anbietern • Europäischer Wettbewerb Strukturen z. B. Diakonie • wirtschaftliche Rationalität + Daseinsvorsorge der Gemeinde sozialen Handelns • Sozialschutz • missionarischer Auftrag • Reagieren auf sozialwirt- • Marktfähigkeit und Dienst- • Seelsorge schaftliche Orientierung in leistung/GATS • diakonischer Gemeindeauf- Deutschland und Europa • Qualitätsstandards bau • Anwaltsfunktion der Dia- konie • Gesellschaftliche Funktion • Stellenwert von Qualität im Rahmen eines strategischen Managements (s. folgende Darstellung) 72 Uwe Schwarzer

werbsfähigkeit auf konkrete Handlungsoptio- tur-, Prozess- und Ergebnisqualitäten als für die nen und Maßnahmen der Umsetzung herunter- Einrichtungen zu erfüllende Anforderungskri- gebrochen. Wettbewerbsfähigkeit bedeutete terien festgelegt werden. zunächst eine Priorisierung des Qualitätswett- Als erstes wäre die Buchhaltung zu nennen. bewerbs, was letztlich zu einer Qualitätsoffen- Die zu erfüllenden Buchhaltungsziele einer Pfle- sive führte. Als Instrument entstand ein Bun- geeinrichtung beziehen sich auf gesetzliche For- desrahmenhandbuch Qualität in der Pflege. Es derungen wie z. B. die Vorschriften der Pflege- entstand – dies ist wichtig und hier erkennt man buchführungsverordnung oder Bestimmungen die Parallelen zur Einrichtungsebene Samariter- der Abgabenordnung einerseits, der strategi- stiftung – partizipativ mit den Mitgliedern und schen Ausrichtung einer Betriebswirtschaft zur Einrichtungsvertretern. Denn keine Strategie ist Steuerung der Einrichtung anhand einer voll- ohne Partizipation von der Bundesebene bis hin ständigen und korrekten Datenbasis sowie zu- zur Einrichtungsebene umsetzbar. Eine Politik sätzliche verbands- und wertbezogene Erwar- vom grünen Tisch wird traditionellerweise ab- tungen andererseits. Als Strukturkriterien wer- gelehnt. Grafik 2 stellt die Vorgehensweise für den unabdingbare Anforderungen z.B. im Be- den Bereich Pflege dar. reich Lohn- und Gehaltsbuchhaltung ebenso eingefordert wie bei den Ergebniskriterien die Inhalte der Verbandssteuerung – Erstellung eines monatlichen Abschlusses, ein Beispiel Pflege zeitnaher Überblick über Liquidität und Vermö- Wenn die Diakonie zunächst einmal auch mit gensstruktur, zu vereinbarende Zahlungsziele, ihren Rahmenhandbüchern auf Bundesebene die Standardisierung von Mahnverfahren und inhaltliche Aspekte von Qualität steuern woll- zeitnahen Buchungen. ten, so stellte sich doch nach einiger Zeit so- Einen weiteren Aspekt betrifft das Control- wohl heraus, dass alleine fachlich-inhaltliche ling. Anforderungen an die Kosten- und Leis- Steuerungen unzureichend erschienen, als auch tungsrechnung dienen der finanziellen Steue- dass mit dem Instrument Bundesrahmenhand- rung durch Träger und Einrichtungen. Auf die- buch weitere Steuerungseffekte erzielt werden ser Informationsbasis kann die Wirtschaftlich- konnten. Zu den in Betracht kommenden Steu- keit einer Einrichtung besser beurteilt werden; erungsfunktionen zählten neben der Qualitäts- die Entscheidungssicherheit bei allen relevan- steuerung zusätzlich die ökonomische Steue- ten Entscheidungen wird erhöht. Zu den Zielen rung, die ökologische Steuerung, die Steuerung gehören u. a. Aufbau und kontinuierliche Wei- von Gender- und Generationengerechtigkeit terentwicklung einer Kostenträgerrechnung sowie letztlich summa summarum die Steue- (Entgeltkalkulation). Auf der Seite der Ergeb- rung von Nachhaltigkeit. niskriterien sollen die Kostenstellen- bzw. Ein- Man müsste nun differenziert für alle ge- richtungsergebnisse die entsprechenden Daten nannten Bereiche die konkreten Steuerungsme- zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit liefern. chanismen benennen und erläutern. Ich will hier Zu den Zielen gehören unter anderem die nur exemplarisch die betriebswirtschaftliche Darlegung einer langfristigen Investitionspla- Steuerung für den Pflegebereich darstellen. nung der Einrichtungen, die Ermittlung des Ka- Im oben bereits erwähnten Bundesrahmen- pitalbedarfs sowie die Sicherung der Zahlungs- handbuch Qualität in der Pflege findet Steue- fähigkeit von Trägern bzw. Einrichtungen. Als rung statt, indem in differenzierten Einzelberei- Strukturkriterium ist u.a. relevant der Auf- und chen der Betriebswirtschaft Ziele und Quali- Ausbau einer Finanzplanung unter Einbeziehung tätsniveaus genannt werden und dabei Struk- der relevanten Zahlungsströme sowie die Dar- Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände 73

Grafik 2 Qualitätsentwicklung im Rahmen eines strategischen Managements – Ziele, Optionen, Instrumente – Strategisches Strategisches Management als kontinuierlicher Review Management Prozess im Diakonischen Werk der EKD

Ziele Formulierung strategischer Ziele am Beispiel: Ziel: Stärkung der Wett- Qualitätswettbe- bewerbsfähigkeit werb Optionen Formulierung von Handlungs- optionen am Beispiel: Ziel: Qualitätsoffensi- • Nachhaltigkeit ve/ höhere • optimales Preis- Dienstleistungs- Leistungs- qualität Verhältnis Instrumente Entwicklung von Instrumenten am Beispiel: Quali- Ziel: tätsrahmenhand- Vorgabedoku- bücher auf Bundes- ment für ebene (Pflege-QM- Einrichtungs- Handbuch 1999) ebene Praxis- Umsetzung umsetzung Standardeinfüh- Statistische Erhebung rung in Pflegepra- der Umsetzung in die xis + Zertifizierung Praxis Evaluation Evaluation am Beispiel: Auswertung der sta- Überarbeitetes tistischen Erhebung, Befragung Pflegequali- von Diensten und Einrichtungen, tätshandbuch Bewertung durch externe Zerti- (2/2003) fizierungsunternehmen 01234 5 Zeitschiene Jahre 74 Uwe Schwarzer

stellung geeigneter Kennzahlen wie Eigenkapi- Kriterien erfolgreicher Strategieentwicklung talquote, Kapitalumschlag, Cash-Flow der Be- Sowohl aus den Erfahrungen von Strategiepro- triebsleistung sowie die Gesamtkapitalrentabili- zessen auf Einrichtungsebene als auch auf der tät. Ebene eines Spitzenverbandes lassen sich ge- Zudem benötigt man ein Kennzahlensystem. meinsame Kriterien für eine erfolgreiche Strate- Kennzahlen dienen als prägnante Grundlage für gieentwicklung benennen. Zu ihnen gehören die betriebliche Steuerung. Angezielt sind ge- insbesondere ein von der Leitung ausgehender eignete Kennzahlen wie: Impuls für einen Strategieentwicklungsprozess. • Kosten pro Pflegetag (differenziert nach Kos- Zudem ist ein transparenter Umgang mit der Idee tenarten) sowie auch der Umsetzung selbst sowohl im • Heimauslastungsgrad Blick auf die Mitarbeitenden als auch auf die • Durchschnittliche Verweildauer Öffentlichkeit nötig, sowie die Partizipation der • Umsatz pro Mitarbeiter Mitarbeitenden in der Organisationseinheit als • Fachkraftquote. auch der externen Mitglieder einer Organisati- Dabei wird als Strukturkriterium ein Kennzah- on. lensystem mit ausgewählten prägnanten, aussa- Dabei muss jede Organisation für sich eine gefähigen Kennzahlen erwartet. Im Ergebnis soll eindeutige Definition von strategischem Manage- das Kennzahlensystem Informationen zur Ver- ment finden und kommunizieren. Die Strategien fügung stellen, um eine effiziente Steuerung des müssen sich aber auch regelmäßig Strategiere- Unternehmens bzw. der Einrichtung zu gewähr- views unterziehen. leisten. Empfohlen wird auch, dass die Kenn- Von geringerer Bedeutung ist, ob sich ein zahlen mit Einrichtungen anderer Träger ver- Unternehmen von einem externen Beratungsun- gleichbar sind (Benchmarking), dass solche Ver- ternehmen coachen lässt für den Fall, dass in- gleiche dann auch – falls nötig – zu Prozessen tern Fachleute des Managements entsprechende der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit genutzt Strategieprozesse initiieren und umsetzen kön- werden. nen. Die Personalkosten sind der mit Abstand größte Kostenblock in sozialen Einrichtungen. 2.3 Evaluationskonzept – Somit werden Personalschlüsselrechnungen zu regelmäßige Strategiereviews einem wesentlichen und wichtigen Bestandteil des Controllings in der Diakonie. Die Personal- Strategieentwicklung, Zielentwicklung und Ziel- schlüsselrechnungen sollen nach dem in den erreichung müssen in bestimmten Abständen Pflegesatzverhandlungen vereinbarten Personal- immer wieder evaluiert werden. Am Beispiel des schlüssel durchgeführt werden. Bundesrahmenhandbuchs Pflege hat es ein in- Auch für die Personalverwaltung werden ternes Evaluationskonzept gegeben. Gleichsam Ziele sowie Qualitätskriterien vorgegeben. Per- hat die Diakonie bei der Qualitätsoffensive der sonalverwaltung umfasst dabei alle administra- Hauptgeschäftsstelle immer wieder auch Ergeb- tiven personalbezogenen Maßnahmen, d.h. die nisse externer Evaluierungen dokumentiert. Dazu Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen, des gehören insbesondere die Analyse verschiede- Personaleinsatzes sowie Urlaubs-, Seminar- und ner Pflegesiegel auf Bundesebene durch das Schulungsanträge sowie die Abwicklung der Wissenschaftliche Institut der AOK. Außerdem Lohn- und Gehaltszahlungen, ferner die Verwal- die Publikationen des Instituts der Deutschen tung der Mitarbeiterdaten und Arbeitszeitnach- Wirtschaft, die bestimmte Einrichtungen der Di- weise. akonie als vorbildhaft identifizierten. Darüber Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände 75

hinaus haben eine Reihe von Fachpublikatio- ständnis orientiert sich die Diakonie an einem nen wie Beiträge von Prof. Merchel sowie Gut- Schweizer Managementmodell, nämlich dem achten verschiedener Akademien und letztendlich neuen St. Gallener Modell. auch eine Reihe von Diplomarbeiten Hinweise zur Evaluation gegeben. 4 Schlussbemerkung Die externen Evaluationen haben die Diakonie 3 Definition von strategischem auch darin bestärkt, dass die Verknüpfung von Management und zugrunde strategischen Zielen, strategischen Entwicklun- liegendes Managementmodell gen und den Handlungsoptionen und Maßnah- Auch wenn in der Regel Definitionen am Be- men auf Bundesebene zu einer starken Profilie- ginn von Beiträgen stehen, so will ich hier ei- rung der sozialen Arbeit vor Ort geführt hat. nen umgekehrten Weg gehen: Aus den Ent- Die Diakonie hat festgestellt, dass über ein In- wicklungen der Diakonie auf Bundesebene strument auf Bundesebene, nämlich den Quali- lässt sich sehr leicht feststellen, dass – und tätshandbüchern, die Qualität sozialer Dienst- hier schließt sich der Kreis zu meinen Ein- leistungen über den reinen fachlich-inhaltlichen gangsbemerkungen – die Frage der Wettbe- Aspekt hinaus gesteuert werden kann und an- werbsfähigkeit der Diakonie im Vordergrund gefangen von der Ökonomie bis zur Ökologie steht. Strategisches Management – so wie es und der Geschlechtergerechtigkeit die vielfäl- in der Diakonie verstanden wird – bedeutet tigsten Aspekte eines diakonischen Profils um- (im Unterschied zum normativen Management fasst. und zum operativen Management), dass die Wettbewerbsfähigkeit der Diakonie als sozia- Uwe Schwarzer ist Leiter der Abteilung Stra- ler Dienstleistungsanbieter nachhaltig gestärkt tegisches Management in der Hauptgeschäfts- und gefördert wird. Bei diesem Strategiever- stelle des Diakonischen Werkes der EKD. 76 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Gerwin Stöcken

Zur strategischen Neuausrichtung der AWO in Deutschland

1 Aktuelle Probleme der den. Über diesen Mitgliederverlust verliert die Arbeiterwohlfahrt (AWO) AWO ihre Kampagnefähigkeit. Sie kann sich heute nicht mehr mit der Kraft der gesamten Um die AWO und ihre heutigen Probleme zu Mitgliedschaft zu Themen wie z.B. Agenda 2010 verstehen, ist es notwendig einen stichwortar- und zu Hartz IV in die aktuelle sozialpolitische tigen Überblick über die Geschichte der AWO Diskussion einbringen, weil die Menschen, die zu geben: sich bei der AWO organisieren, zu einem nicht • 1919 gegründet als Hauptausschuss für Ar- unerheblichen Teil eher selbst Hilfe und Unter- beiterwohlfahrt in der SPD stützung durch die AWO erfahren wollen, als • Selbsthilfeorganisation der sozialdemokra- aktiv an der Gestaltung des Sozialstaats teilzu- tischen Arbeiterbewegung nehmen. Dies soll nicht falsch verstanden wer- • Hilfestellung für Menschen in Not den: Die Aktivitäten sind von herausragender • Initiatorin für neue Formen der sozialen Ar- Bedeutung für die Betroffenen, können aber beit kaum tragende Säulen von Kampagnen sein. • Kämpferin für Rechtsansprüche auf staatli- Daher treffen notwendige sozialpolitische Initi- che Unterstützung statt karitativer Armen- ativen der AWO und Beiträge der Kreis-, Be- pflege zirks- und Landesvorstände ebenso wenig den • 1933 bis 1945 Verbot durch die Nationalso- Nerv der Basis wie Aktivitäten des Bundesvor- zialisten standes. Vor Ort sind ganz andere Themen von • nach 1947 wieder gegründet, an diese Tra- Bedeutung.Die AWO verzeichnet einen Verlust dition anknüpfend, aber als selbständiger an sozialpolitischer Einflussnahme. Wenn der Verein Präsident des ADAC den Bundeskanzler spre- • unabhängig von SPD und Gewerkschaften chen will, hat er 48 Stunden später einen Ter- aber eng mit den Idealen der sozialdemokra- min. Wenn der Vorstand der AWO den Bundes- tischen Arbeiterbewegung verbunden kanzler sprechen will, hat er selbst nach einer • Aufstieg zu einem großen Dienstleistungs- Legislaturperiode eines sozialdemokratischen unternehmen mit heute 150.000 Mitarbei- Amtsinhabers noch keinen Termin. tern und 450.000 Mitgliedern Ebenso stellt die AWO den Verlust traditio- Der Mitgliederverband steckt in der Krise: Die neller Partnerschaften fest. Noch in den 1960er AWO in Deutschland musste in den letzten Jah- und 1970er Jahren war klar: war man Mitglied ren einen Mitgliederrückgang hinnehmen – auf der SPD dann war man auch Mitglied der Ge- jetzt knapp 450.000 Mitglieder. Hinzu kommen werkschaft und Mitglied der Arbeiterwohlfahrt. ein hohes Durchschnittsalter und eine geringe Diese Verbindung gilt heute überhaupt nicht Attraktivität für neue jüngere Mitglieder. Mit- mehr, vielleicht noch bei dem einen oder ande- glied der AWO zu werden, ist häufig erst dann ren Funktionär, bei denen der Dreiklang – SPD, interessant, wenn auch persönliche Dienstleis- Gewerkschaft, AWO – noch von Bedeutung tungen der AWO in Anspruch genommen wer- ist. Außerdem könnte für die AWO gelten: wenn Zur strategischen Neuausrichtung der AWO in Deutschland 77

weniger Leute in die SPD und in die Gewerk- genauso gut betrieben werden wie von der schaften eintreten, wird auch der Weg zur AWO AWO. Betreiber lassen sich eben auch aus- wenigstens über den traditionellen Zugang tauschen. schwieriger. Die AWO hat in der öffentlichen Wahrneh- 2 Die örtliche Ebene stärken mung ein großes Problem. Sie wird im Wesent- lichen über ihre Dienstleistungen wahrgenom- Die Strategie für die AWO ist daher, das frei- men. Ältere Menschen finden den Weg zur AWO willige bürgerschaftliche Handeln wieder in den über professionelle Aktivitäten. Eltern nehmen Mittelpunkt zu rücken. Auch wenn die AWO uns über den Kindergarten wahr. heute selbstkritisch feststellen muss, dass ihre Die AWO hat mit der Verrechtlichung und Mitgliederorganisation nicht mehr der Ort der Ökonomisierung sozialer Arbeit ihren verband- sozialen oder sozial-politischen Auseinander- lichen Handlungsspielraum verloren. Ehrenamt- setzung, das sozialpolitische Gewissen der SPD liche haben immer weniger Möglichkeiten selbst ist, so nützt das Nachtrauern der alten Zeiten gestalterisch zu wirken und auf das Angebot der verbandlichen Entwicklung nichts. Die AWO sozialer Arbeit Einfluss zu nehmen. Gesetze sind braucht heute eine Identität, die es ihr erlaubt, zu beachten, Qualitätsanforderungen umzuset- Altes und in der Vergangenheit Bewährtes mit zen, Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb stehen Neuem zusammenzuführen. in Konkurrenz zu sozialräumlich entwickelten Zentrale Themen der Solidarität, Organisati- Herangehensweisen von ehrenamtlichen, sozi- on von Solidarität in der Gesellschaft und sozi- alarbeiterischen Laien. Ein hoher finanzieller ale Gerechtigkeit sind die großen gesellschaftli- Druck auf die Erbringung der Dienstleitungen, chen Anforderungen an die AWO. Innerhalb Marktorientierung und europäisches Wettbe- der AWO wurden diese Themen bei der Agenda werbsrecht machen es erforderlich, die Dienst- 2010 in das Zentrum der Auseinandersetzung leistungen und das Management zu professio- gerückt: Ist Hartz IV sozial gerecht oder wird nalisieren. Die Wahrnehmung des Mitglieder- hier die Entsolidarisierung der Gesellschaft be- verbandes AWO wird vom Dienstleitungsun- trieben? Wie kann die AWO bei diesem Thema ternehmen überlagert. Die Frage ist berechtigt, die anwaltschaftliche Vertretung von sozial Be- ob unter diesen Voraussetzungen der Mitglie- nachteiligten organisieren? derverband AWO eines natürlichen Todes ster- Die erlebbare Ausgestaltung der drei The- ben wird. men Solidarität, Organisation von solidarischen Was ist eigentlich das Besondere an der Zusammenschlüssen und soziale Gerechtigkeit AWO? Was sollte sie in den Vordergrund rü- wird die Zukunftsaufgabe der Mitgliedsorgani- cken? Ein Kindergarten lässt sich in einer pro- sation AWO werden müssen, wenn die Mit- fessionellen Sozialarbeit von selbst begrei- gliedschaft wieder interessant werden soll. Es fen; ebenso wie ein Jugendtreff und ein Al- kommt nicht darauf an, neue Papiere und Posi- tenheim. Die professionelle Arbeit ist nicht tionen zu verfassen. Vielmehr geht es darum das prägende Element der AWO, auch wenn Aktivitäten und Aktionen auf der örtlichen Ebe- bestimmte fachliche und inhaltliche Vorstel- ne zu gestalten und nachbarschaftliche und so- lungen des Verbandes von Bildung und Er- zialräumliche Selbsthilfeaktivitäten zu organi- ziehung im Kindergarten eine gestalterische sieren. So könnte es der AWO gelingen, sich Rolle haben können. Aber an sich kann ein selbst wieder attraktiver für Menschen zu ma- Kindergarten von einem Privatanbieter am chen, die sich nicht, nicht mehr oder noch nicht Markt oder einem anderen Wohlfahrtsverband selbst helfen und organisieren können. 78 Gerwin Stöcken

Die AWO stellt fest, dass es eine große Be- führt werden, denn die Umsetzung rechtlicher reitschaft gibt, sich sozial zu engagieren. Leider und qualitativer Rahmenbedingungen kann nicht ist es nicht gelungen diese Bereitschaft auch für kontinuierlich durch ehrenamtliche Vorstände die AWO zu erschließen. Hauptsächlich profi- sichergestellt werden. Die Vorstände werden für tieren Selbsthilfegruppen, Elternvereine, neue diesen Bereich eine Aufsichtfunktion überneh- soziale Bewegungen und kurzfristige soziale men, aber die eigentliche Entwicklungsaufgabe Bündnisse von dieser Bereitschaft. Überall dort, liegt im verbandlichen Kontext. wo Menschen für sich oder ihre Familie die Die Ehrenamtlichen müssen sich also von Notwendigkeit des Engagements erkennen (als ihrer betrieblichen Macht verabschieden. Funk- Eltern in Kindergarten und Schule oder als An- tionsträgern, die innerhalb der AWO bisher be- gehöriger im Pflegeheim) entsteht auch Bereit- triebliche Macht ausgeübt haben, fällt es schwer, schaft zum Engagement. die alten Aufgaben abzugeben und neue Aufga- Für die AWO ist es daher wichtig, dieses ben, ohne konkrete Vorstellungen entwickelt zu Engagement nicht durch langfristige Verpflich- haben, aufzunehmen. Dies gilt natürlich nicht tungen zur Mitgliedschaft zu erschweren, son- für alle gleichermaßen, ist aber ein wesentliches dern mit einer möglicherweise auch temporären Problem bei der strategischen Neuausrichtung Mitgliedschaft dazu beizutragen, dass die aktu- der AWO. Die Menschen, die heute den Ver- ellen Themen auch in der AWO bearbeitet wer- band leiten, sind in der Regel von den Mitglie- den können. Es wird auch die Frage zugelas- dern dafür ausgewählt worden, das Unterneh- sen, ob Mitglieder ebenso einen persönlichen men ‚AWO’ zu leiten. Wenn meine Vorbemer- Vorteil von einer Mitgliedschaft haben sollen. kungen richtig sind, und die verbandliche Ent- Gemeinwohlorientierung einerseits und inner- wicklung dem Aufbau des Unternehmens un- verbandliche Hilfe und Unterstützung anderer- tergeordnet wurde, so ist es eine schlüssige seits könnten die besonderen Kennzeichen ei- Konsequenz, dass die AWO heute Menschen ner AWO-Mitgliedschaft werden. an der Spitze ihrer Gremien hat, die sich zwar gedanklich mit den Zielen der neuen AWO iden- tifizieren, die aber möglicherweise über ein er- 3 Veränderung der Binnenstruktur hebliches Umsetzungsdefizit verfügen. Daher An dieser Stelle beginnen große Umwälzun- ist es die wesentliche Aufgabenstellung, jetzt gen. Wie anfangs erwähnt, ist die AWO zu anzufangen und mit den Menschen, die da sind einem Dienstleistungsunternehmen gewachsen. (denn andere haben wir nicht) diesen Verände- Der Verein hat im Wesentlichen die Entwick- rungsprozess zu organisieren. Sich selbst be- lung des Dienstleistungsunternehmens gesteu- trieblich zu entmachten, neue Aufgaben zu über- ert und dabei die verbandlichen Interessen ver- nehmen, die Betriebe zu verselbständigen und nachlässigt. Die ehrenamtlichen Funktionäre des eine Brücke zu schlagen zwischen verbandli- Vereins haben sich als Manager des Dienstleis- chen Interessen einerseits und der betrieblichen tungsunternehmens viele Jahre eingesetzt und Ausrichtung andererseits ist keine einfache Auf- Erhebliches geschaffen. Ausgehend von der gabe. Zudem gibt es hierfür kein Vorbild. Annahme, dass professionelle Dienstleistungen Darüber hinaus braucht es eine klare Strate- von austauschbaren Trägern erbracht werden gie für die Ausrichtung der Dienstleitungen auf können, stellt sich für die AWO die Herausfor- den Wettbewerb. Die AWO erlebt derzeit mör- derung, die Führung des Unternehmens neu zu derische Wettbewerbsstrategien am Markt, die organisieren. Dabei wird das Unternehmen al- Einrichtungen und Arbeitsplätze bei der AWO lein durch ein professionelles Management ge- bedrohen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Zur strategischen Neuausrichtung der AWO in Deutschland 79

heute das Bild der AWO nachhaltig prägen und macht hat, ist nicht einfach auf Zuruf veränder- Betroffene, die auf bewährte Hilfen und Unter- bar. Er muss selber eine Einsicht in die Not- stützung angewiesen sind, haben ein Recht dar- wendigkeit entwickeln können und nachhaltige auf, dass die AWO gleichzeitig alles notwendi- Unterstützung erfahren. Die AWO Mitglieder ge unternimmt, um das Dienstleitungsunterneh- müssen den Wechsel in der Herangehensweise men zu erhalten. verstehen, um den Prozess zu unterstützen. Für Soweit die grundsätzlichen Überlegungen. manche Funktionäre wird die neue Ausrichtung Welche praktischen Auswirkungen erwartet die kaum leistbar sein. In diesen Fällen muss ein AWO: Die unterschiedlichen Ebenen haben – behutsamer Übergang oder ein angemessener vereinfacht gesagt – verlernt, sich gemeinsam Ausstieg ermöglicht werden. Diese Prozesse an den aktuellen Themen der gesellschaftlichen brauchen viel Zeit, viele Gespräche und viele Entwicklung zu orientieren und sich sozialpoli- Umwege. Eine der wichtigsten Aufgaben der tisch zu artikulieren sowie zu engagieren. Die Vorstände auf allen Ebenen ist es, für Zustim- AWO wird wieder lernen müssen, ein guter mung und begehbare Wege der Umsetzung zu Lobbyist im Interesse von Benachteiligten und werben. Schwachen zu sein. An die traditionellen Erfah- Dazu hat die AWO den gesamten Diskussi- rungen mit Verbindungen zu Gewerkschaften, onsprozess in vier Regionen organisiert, jeweils Kommunalparlamenten und zu sozialen Orga- eine Nord-, West-, Ost- und Südregion. Dort nisationen gilt es anzuknüpfen. Bürgerschaftli- wird darüber gesprochen, wie diese Auseinan- ches Engagement ist die Tradition der Arbeiter- dersetzung jeden Ortsverein erreichen kann und wohlfahrt und auch ihre Zukunft. wie Ängste und Befürchtungen aufgegriffen Es wird jetzt darauf ankommen, Menschen werden können. Die unterschiedlichen Ergeb- zu finden bzw. zu motivieren, die diese Arbeit nisse werden in den Regionalkommissionen wieder leisten wollen. Verlangt wird die Bereit- gesichtet, aufbereitet und bewertet. Eine Bun- schaft die Lebenswelt der Menschen zu erkun- deskommission hat die Aufgabe, die Bundes- den, Vorschläge für Veränderungen zu erarbei- konferenz als höchstes beschlussfassendes Gre- ten und konkrete Umsetzungsstrategien zu ent- mium der AWO in Deutschland vorzubereiten. wickeln. Dabei steht die gesamte Infrastruktur Hier werden die notwendigen Organisations- der AWO zur Verfügung Unterstützung zu leis- entscheidungen getroffen. Ob wir tatsächlich ten. erfolgreich sind, werden wir erst im Laufe der In Schleswig-Holstein arbeitet die AWO seit nächsten zwei, drei oder vier Jahre sehen. Einen sechs Jahren an diesem Paradigmenwechsel. anderen Weg gibt es nicht. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass es sich dabei um einen kommunikativen Prozess han- Gerwin Stöcken ist stellvertretender Landes- delt. Jemand, der 60 oder 70 Jahre alt ist und 20 vorsitzender der AWO in Schleswig-Holstein Jahre Vorstandsarbeit innerhalb der AWO ge- und Mitglied des Bundesvorstandes der AWO. 80 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Gerd Billen

Die Strategieentwicklung des NABU

1 Warum braucht eine Naturschutz- Streit und Auseinandersetzungen gab es auch organisation einen Strategieent- zu anderen Fragen. Soll die Mittelbeschaffung wicklungsprozess? z.B. im Spendenbereich zentral erfolgen oder durch die Landesverbände? Was bedeutet das Der NABU ist mit 400.000 Mitgliedern und für die Verteilung der Mittel? Überhaupt wurde Förderern eine der größten deutschen Natur- trefflich gestritten, wer welche Anteile von wel- und Umweltschutzorganisationen. Der Verband chem Kuchen haben solle. Solange der Kuchen blickt auf eine mittlerweile mehr als hundertjäh- wuchs, konnten viele Konflikte bereinigt wer- rige Geschichte zurück. Mit seinen 16 Landes- den. Wie aber löst man Verteilungskonflikte, verbänden und über 1.200 lokalen NABU-Grup- wenn die verfügbaren Mittel stagnieren? pen verfügt der NABU über ein einzigartiges Lange Jahre hat der NABU nach innen und Netzwerk lokaler und regionaler Aktivisten in außen das Ziel verfolgt, 1 Million Mitglieder zu Deutschland. gewinnen. In der Aufbruchzeit der 1990er Jah- Über die letzten 15 Jahre hat der NABU re schien das ein durchaus realistisches Ziel. Es einen erstaunlichen Wachstumsprozess vollzo- gibt eine Reihe von Regionen in Deutschland, gen, der mehr Mitglieder, mehr Projekte, mehr in denen der NABU eine hohe Mitgliederdichte Hauptamtliche mit sich brachte. Mit einer Er- aufweist. Doch Ende der 1990er Jahre und zu tragssumme von 18 Mio. ¤ ist der NABU ein Beginn des neuen Jahrtausends zeigten viele mittelständisches Unternehmen geworden. Parameter, dass dieses Ziel nicht erreichbar sein Es gab mehrere Gründe, die schließlich zu wird. Welche Konsequenzen sollte der NABU dem gemeinsam von NABU-Präsidium und aus dieser Entwicklung ziehen? Ein unerreich- Landesvorsitzenden getroffenen Beschluss ge- bar erscheinendes Ziel aufgeben – ja. Aber was führt haben, mit externer Unterstützung einen soll dann an die Stelle treten. Und: Ist es für die Strategieprozess durchzuführen: Organisation überhaupt das Wichtigste, nur neue Auf den Bundesvertreterversammlungen in Mitglieder zu sammeln? den letzten Jahren hat es immer wieder teils hef- Wie man sieht, waren es eine Reihe von tige Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob Gründen, die zu Unzufriedenheit und Missmut der Bundesverband die Mittel auch für die in der Organisation führten. Anders als in ei- Schwerpunkte des NABU einsetzt. Die Öff- nem Unternehmen braucht es einer längeren nung des Verbandes hin zu einem breiten Feld Gärung, ehe in einer strukturell von ehrenamt- umwelt- und naturschutzpolitischer Themen lich geführten Organisation Probleme klar er- verbunden mit einer intensiven Presse- und kannt und formuliert werden. Dies aber war im Öffentlichkeitsarbeit hat bei Teilen der aktiven Herbst 2002 der Fall. Mitglieder den Eindruck erweckt, die Mittel Im Januar 2002 erteilten das Präsidium des würden nur noch in diese neuen Themen ge- NABU und die Landesvorsitzenden des NABU steckt. Der Streit war weitgehend unfruchtbar – einen klaren Auftrag, einen Strategieentwick- ohne dass die Organisation die Gründe dafür lungsprozess einzuleiten – und zwar mit pro- erkennen konnte. fessioneller Unterstützung. Die Strategieentwicklung des NABU 81

2 Problemanalyse – Problemverdich- zugreifen und sich intensiv mit ihnen zu be- tung – Entwicklung strategischer fassen. Enthalten waren aber auch Empfeh- Empfehlungen lungen, wie der Verband in Zukunft sich or- ganisationstechnisch mit strategischen Fragen Als Berater des NABU konnte die Hamburger beschäftigen solle. Die Ergebnisse der Ana- Unternehmens- und Organisationsberatungsfir- lyse wurden sowohl auf der Bundesvertreter- ma Systain gewonnen werden. Aufgrund der versammlung im Herbst 2002 als auch auf hohen fachlichen Kompetenz der Systain-Mit- Treffen mit den Landesgeschäftsführern, den arbeiter auch in Fragen des Umwelt- und Na- Landesvorsitzenden usw. ausführlich vorge- turschutzes bot Systain die Sicherheit, dass auch stellt. die fachlichen Anliegen des NABU im Blick Im Jahr 2003 begann dann eine neue Phase bleiben. Von großem Vorteil war schließlich, dass des Prozesses, in dem es darum ging, die Emp- die Systainberater selbst Erfahrungen mit eige- fehlungen und Vorschläge zu verdichten. Auch nem ehrenamtlichen Engagement hatten und so hier wurde der NABU durch ein Beraterteam wussten, wie eine NGO tickt. von Systain unterstützt. Aus zunächst mehr als Zur Durchführung des Strategieberatungs- zehn Themenfeldern wurden vier Bereiche her- prozesses wurde eine gesonderte Projektstruk- auskristallisiert, in denen im Laufe des Jahres tur geschaffen. 2003 in einem interaktiven Prozess mit den ver- • Mit der Durchführung des Projektes wurde schiedenen Verbandsebenen Lösungen erarbei- ich als Hauptgeschäftsführer beauftragt. tet wurden. • Gemeinsam mit dem NABU-Präsidenten Diese betreffen Mission und Ziele des und Systain wurde eine Projektgruppe ge- NABU. Dazu wurde ein Mission Statement er- gründet, in der Vertreter der verschiedenen arbeitet, auf verschiedenen Landesvertreterver- Ebenen und NABU-Akteure eingebunden sammlungen getestet und schließlich von der waren, wie z.B. Vertreter von großen und Bundesvertreterversammlung im Herbst 2003 kleinen Landesverbänden, der Naturschutz- beschlossen. jugend usw. Für die Bundesvollversammlung wurde ein • Die Projektgruppe hatte regelmäßig dem Kanon mit elf Themenfeldern und Zielen vor- Lenkungsausschuss zu berichten, der für das gelegt und verabschiedet. Zu jedem Ziel liegen Monitoring des Prozesses sorgte. mittlerweile auch abgestimmte Unterziele vor. Am Beginn des Prozesses stand eine intensive Für die drei Kernthemen werden 75% der fi- Analysephase: nanziellen und hauptamtlichen Ressourcen auf Mit mehr als 15 Aktiven verschiedener Ebe- Bundes- und Landesebene eingesetzt. Für wei- nen wurden ausführliche, persönliche Einzel- tere sechs Schwellenthemen stehen 20% zur interviews geführt. Zudem wurden mit der Pro- Verfügung und für weitere drei andere Themen jektgruppe zwei mehrtägige Workshops durch- 5%. Über das Ranking der Themen wird alle geführt, die zum Ziel hatten, eine Bestandsauf- drei Jahre auf einer Bundesvertreterversamm- nahme der vorhandenen Probleme durchzufüh- lung neu beraten. ren. Derzeit werden die Haushalte des Bundes- Die Analysephase schloss mit einem aus- verbandes und der Landesverbände daraufhin führlichen Bericht ab, der eine ganze Reihe neu geordnet, ob die oben genannten Vorgaben von Empfehlungen enthielt. Diese Empfeh- erfüllt werden. Die lokale Ebene ist von dieser lungen zielten vor allem darauf ab, die für den Vorgabe explizit ausgenommen. Denn diese lebt Verband wichtigen strategischen Fragen auf- wesentlich von der ehrenamtlichen Arbeit – und 82 Gerd Billen

damit von den Schwerpunkten derer, die sich diesem Grunde ist ein neues Gremium in der vor Ort engagieren. NABU-Satzung verankert worden: der Bund- Zudem ist die Mittelzuordnung nicht mecha- Länder-Rat. Er setzt sich zusammen aus dem nisch zu verstehen – entscheidend ist vielmehr, NABU-Präsidium, den Landesverbänden und dass die Organisation sich auf weniger Themen der NAJU. Konstituierend ist, dass keine Seite konzentriert und die Mittelzuordnung auch den überstimmt werden kann. Daraus ergibt sich Willen des Verbandes zum Ausdruck bringt. ein hoher Einigungszwang. Der Bund-Länder- Offen bzw. in Bearbeitung sind dagegen noch Rat wird über alle marketingrelevanten Fragen eine ganze Reihe von Fragen. So steht es an, zu ebenso beraten und entscheiden wie über Fra- den einzelnen Themen von der bisherigen jähr- gen der Öffentlichkeitsarbeit, der Kommunika- lichen Planung auf eine mittelfristige Planung tion oder bei großen Projekten. Er ist damit ne- zu wechseln. Dies soll für eine stärkere Konti- ben dem Präsidium zu einem wichtigen strate- nuität sorgen. Am Beginn steht der NABU auch gischen Steuerungsinstrument des Verbandes noch damit, klare Ziele und Zeiträume für die geworden. Vorgesehen ist auch, dass der Bund- Zielerreichung festzulegen. Bei selbst gesetzten Länder-Rat über eigene Budgets zur Bewälti- Themen, Projekten und Kampagnen ist dies noch gung von Gemeinschaftsaufgaben verfügt bzw. möglich. Aber woran misst man den Erfolg oder diese einrichten kann. Das soll ebenfalls zu ei- Misserfolg einer Begleitung wichtiger gesetzge- ner höheren Verantwortlichkeit und einer höhe- berischer Vorhaben, die sich über Jahre und meh- ren Bindung führen. Kampagnen werden nicht rere föderale Ebenen der Bundesrepublik mehr einfach nach dem Motto beschlossen Fin- Deutschland hinziehen? Die tägliche Lobbyar- de ich gut und Macht mal, sondern erst dann, beit kann meist nicht mit messbaren Erfolgen wenn gesichert ist, dass die überwiegende Zahl unterlegt werden. Es gehört zur politischen Auf- der Landesverbände mitmachen. Eine Ge- gabe, Mehrheiten für bestimmte Forderungen und schäftsordnung für den Bund-Länder-Rat ist Wünsche zu schaffen. Ob dies klappt oder nicht, mittlerweile erarbeitet worden. hängt aber sehr stark von externen Faktoren ab. Ein weiteres zusätzliches Gremium ist der neu eingerichtete Finanzausschuss. Dieser Aus- schuss, der sich aus den Kassenprüfern sowie 1.1 Mechanik der Organisation weiteren ehrenamtlichen Finanzexperten des Der NABU ist ein föderaler Verband. Aufga- NABU zusammensetzt, hat beratende Funktion ben und Themen für die Bundesebene legt die für die Gremien. Seine Aufgabe ist die Bera- Bundesvertreterversammlung fest, die auch das tung bei finanzrelevanten Entscheidungen, bei NABU-Präsidium wählt. Die Landesverbände denen es entweder um eine erhebliche Größen- wiederum sind in eigenen Vereinen organisiert ordnung geht oder um langfristige Bindungen. und wählen aus ihrer Mitte die Delegierten für die Bundesvertreterversammlung. 1.2 Förderung des Ehrenamtes Es hat sich in den letzten Jahren deutlich gezeigt, dass hier neue Mechanismen erforder- Eine der spannendsten strategischen Fragen war lich sind, um zu einer Erhöhung der Effizienz die, was wir eigentlich tun, um unsere eigene zu gelangen. Von zentraler Bedeutung ist des- aktive Basis zu erhalten. Die große Zahl der halb, dass der NABU sich vorgenommen hat, ehrenamtlich Aktiven ist das Besondere am dass beide Ebenen – Bund und Länder – bei der NABU, es macht seine Vielfalt und seine Stärke Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben eng aus, weil wir – im Vergleich zu einigen Mitbe- und verantwortungsvoll zusammenarbeiten. Aus werbern – damit in der Lage sind, politikbeglei- Die Strategieentwicklung des NABU 83

tend von der Bundes- bis auf die Lokalebene zu Ziel ist es, Anreize für alle Ebenen zu setzen, wirken. So schön es sein könnte, 1 Million zah- sich aktiv am Fundraising zu beteiligen. Eine lende Mitglieder zu haben. Sie würden uns we- wichtige Aufgabe steht hier an, an der wir ar- nig nützen, wenn die aktive Basis wegbricht. beiten: die Vernetzung mit einer fundraising- Deshalb hat sich der NABU entschlossen, sei- tauglichen Software für die wichtigsten Ebe- ne Kräfte in diesem Bereich zu bündeln. Dies nen. geschieht durch den Ausbau dezentraler Bil- Im Rahmen einer Projektgruppe zu diesem dungsangebote für NABU-Aktive – bei gleich- Themenbereich wollen wir bis Ende 2005 auch zeitiger Aufgabe unserer bundesweiten und für Vorschläge für die Organisationsziele des NABU die breite Fach-Öffentlichkeit ausgerichteten erarbeiten. Welche Ziele wollen wir im Fundrai- Akademie in Sunder. Dies geschieht aber auch sing in Angriff nehmen – welche in der Organi- durch den Ausbau eines Verbandsnetzes im In- sationsentwicklung? Hier stehen die Antworten ternet und die Unterstützung von NABU-Bera- noch aus. terteams. Dies sind Teams aus Ehrenamtlichen, die Gruppen vor Ort in ihrem Kulturwandel 1.4 Umsetzung und Umbruchsituationen unterstützen. Schließ- lich soll der Übergang von der Naturschutzju- Der NABU ist derzeit mitten in der Umsetzung gend in den NABU gefördert werden – stellt der wichtigsten Ergebnisse des Strategieprozes- die NAJU doch die wichtigste Rekrutierungs- ses. Dies kann nur gelingen, weil es hohe Kon- quelle für das zukünftige Führungspersonal des stanz von Entscheidungsträgern im ehrenamtli- NABU dar. Derzeit haben wir in diesem Be- chen und im hauptamtlichen Bereich gibt. Eine reich eine ganze Reihe von Baustellen, weil wir hohe Fluktuation bedeutet hier immer ein Verlust vor allem mehr finanzielle Ressourcen in diesen an Know How und Treibern für den Prozess. Bereich lenken müssen. Dennoch gibt es eine ganze Reihe offener Fragen, die derzeit nicht oder nur unbefriedi- gend gelöst sind. 1.3 Integriertes Fundraising Für eine NGO wie den NABU wäre es eine Die letzte große strategische Herausforderung wichtige Aufgabe, die Steuerung der Organisa- liegt noch ein Stück vor uns – uns nämlich vor tion dadurch zu erleichtern, dass sie sich an allem mit den Landesverbänden auf die großen wenigen wichtigen Zielen und Indikatoren ori- Linien im Fundraising zu verständigen. Der entiert. Während im Bereich der Finanzen ein Ebenenegoismus kann nur überwunden wer- klarer Rahmen für Zielfindung und Berichts- den, wenn es klare, beschlossene Regeln nicht wesen vorhanden ist – auch dank eines profes- nur darüber gibt, wie Erträge verteilt werden, sionellen Controllings – fehlt dies für den in- sondern auch wie die Budgets zustande kom- haltlichen Bereich. Vielleicht brauchen Organi- men, derer es bedarf, um Finanzquellen zu er- sationen auch einen inhaltlichen Controller, der schließen. Die wichtigste Quelle sind dabei die auf gute Pläne, vernünftige Implentierung und Mitglieder, Förderer und Spender – hier wollen Evaluierung achtet. Die Einführung einer Ba- wir aus der föderalen Struktur profitieren, da lanced Score Card könnte ein solches Instru- der NABU an zahlreichen Beispielen vor Ort ment für den NABU sein. Kriterien wie Mit- gut dokumentieren kann, was mit dem Geld der gliederzufriedenheit, Zahl der Ehramtlichen Spender und Mitglieder geschieht. In einem könnten sich hier als hilfreich erweisen. Modellprojekt mit vier Landesverbänden testen Derzeit sind wir allerdings nicht in der Lage, wir derzeit ein integriertes Erbschaftsmarketing. diese Aufgabe zu bewältigen. 84 Gerd Billen

1.5 Kommunikation und Partizipation che nicht einfordern. So groß Bereitschaft und Enthusiasmus bei ehrenamtlichen Aktiven, vor Strategische Entwicklung ist eine Führungsauf- allem bei denen, die Verantwortung tragen, auch gabe. Dennoch ist eine breite Partizipation meh- ist, im Zweifel können ihre Zusagen, sich um rerer Ebenen und Akteure wichtig, um inner- bestimmte Themen und Aufgaben zu kümmern, verbandlich die Akzeptanz für die Entscheidun- nicht eingetrieben werden. Das hat an verschie- gen zu schaffen und zu verankern. Letzteres denen Stellen zu zeitlichem Verzug geführt und wiederum erfordert Ressourcen. Im Nachhinein machte eine stärkere Steuerung durch die Pro- betrachtet, hätte hier im NABU mehr getan wer- jektleitung erforderlich. den können. Bei vielen NABU-Gruppen ist der Mit einer großen Skepsis ist der Prozess im Strategieentwicklungsprozess deshalb kaum hauptamtlichen Bereich begegnet worden. So oder nur bruchstückhaft angekommen. Dies sehr man die grundsätzliche Zielrichtung be- muss nachgeholt werden, weil der Beratungs- grüßte, so wurde doch auch ein Verlust an Ein- prozess zu dauerhaft anderem Handeln der Or- fluss gefürchtet. ganisation führen soll – und dies geht nur, wenn Außerdem stellt sich das Problem geringer neue Akteure eingebunden werden. Ressourcen bei der Implementierung. Externe Berater sind nicht nur wichtig, wegen ihrer 2 Erfolgsfaktoren und Hemmnisse Kompetenz – sie sorgen auch dafür, dass die Zum Erfolg haben unterschiedliche Faktoren Energie im Prozess bleibt und die Projektver- beigetragen. antwortlichen ihnen Aufgaben übertragen. Bei Zum einen waren Präsidium und Landes- der Implementierung vieler Teilergebnisse wur- verbände (LV) aufgeschlossen. Sowohl das de auf professionelle Unterstützung verzichtet. Präsidium als auch die LVs haben den Prozess Nach den Erfahrungen im NABU wäre es sinn- gewollt. Und auch in einer ökonomisch schwie- voll, den Projektzeitraum hier nicht zu eng an- rigen Phase wurden die erforderlichen Mittel zusetzen. Die Vorstellung, nun käme man allei- dafür bereitgestellt. Dies war der wichtigste ne zurecht oder müsse alleine zurecht kommen, Erfolgsfaktor. Aber ohne externe Beratung wäre trifft nicht immer zu. der Prozess nicht in Gang gekommen. Die Un- terstützung von Systain war mehr als hilfreich 3 Wie geht es weiter? und wichtig – nicht nur, um mit der Analyse zu den strategisch wichtigen Punkten zu kommen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre kann Sondern auch, um Zögernde und Zaudernde man davon ausgehen, dass das Thema Stra- durch Information und Präsentation zu über- tegienentwicklung im NABU gut verankert zeugen. Manchmal werden Wahrheiten, wenn ist. Auch wenn noch viel Arbeit im Detail zu sie von Externen präsentiert werden, eher an- tun bleibt, sind die Schlüsselfragen erkannt genommen. Die Zusammenarbeit mit Systain lief worden. Die positive Erfahrung mit exter- reibungslos, die Arbeitsergebnisse waren gut. Ein nen Beratern wird in Zukunft helfen, sich Grund dafür liegt sicherlich darin, dass die Bera- schneller externer Hilfe zu bedienen, wenn ter von Systain eigene Erfahrungen im NGO- sie gebraucht wird. Jetzt aber müssen erst Bereich und im Bereich Ehrenamt haben. Mit einmal die Hausaufgaben abgearbeitet wer- einer normalen Unternehmensberatung wäre die den. Zusammenarbeit schwieriger geworden. Es gab jedoch auch hemmende Faktoren. So Gerd Billen ist Hauptgeschäftsführer des konnte man z.B. die Zuarbeit durch Ehrenamtli- NABU. Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005 85

Stefan Krug

Kampagnenstrategie und Strategiebildung bei Greenpeace

Die Kampagnenstrategie von Greenpeace lässt Öffentlichkeit zum Zeugen dieses Unrechts zu sich ohne einen genaueren Blick auf ihre histo- machen. rischen Wurzeln nicht verstehen. Stärker als bei Die amerikanischen Quäker hatten das Prin- anderen Umweltorganisationen sind bei Green- zip des ‚Zeugnis ablegen‘ (bearing witness) ent- peace die historischen Anfänge bis heute prä- wickelt, und da eines der Besatzungsmitglieder gend und paradigmatisch für das Selbstver- zufällig ein Quäker war, wurde es mit in die ständnis und die Strategiebildung geblieben. Philosophie der Gruppe aufgenommen, situativ und ohne religiöse Konnotation. Man bediente sich aus einem Bauchladen von Ideen und Zeit- 1 Das Prinzip Greenpeace strömungen – Pazifismus, gewaltloser Wider- Was ist die Strategie von Greenpeace? Die erste stand, indianische Weisheiten, Walgesänge, Flo- Greenpeace-Aktion 1971 bestand darin, dass wer Power – und pickte sich heraus, was den eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe von individuellen Neigungen der einzelnen Mitglie- friedens- und umweltbewegten Kanadiern und der entsprach, die ihrer Gruppe erst im Laufe US-Amerikanern den Kutter ,Phyllis Cormack‘ der Fahrt in das Testgebiet den Namen Green- charterten und mitten auf ein Meeresgebiet vor peace gaben. Alaska zusteuerten, in dem die USA eine Was- Das zweite wichtige Element der Strategie: serstoffbombe oberirdisch zünden wollten. Aktion und Öffentlichkeitsarbeit wurden schon Zweierlei wollten sie erreichen: zum einen den in der ersten Greenpeace-Aktion verzahnt – ein Bombentest durch ihre bloße physische Prä- Journalist an Land stand in dauerndem Funk- senz verhindern. Zum anderen die Öffentlich- kontakt zur Crew, einer der Greenpeacer an Bord keit über eine außergewöhnliche Aggression war selbst Journalist. Die Verzahnung von Kam- gegen Umwelt und Weltfrieden informieren, pagne und Kommunikation war und ist bis heu- von der ein Normalbürger viele tausend Kilo- te elementare Voraussetzung der Greenpeace- meter weit entfernt nie etwas zu Gesicht be- Strategie geblieben. Die Ungleichheit der Geg- kam. ner tat ein Übriges: das David-Goliath-Prinzip Die Crew erreichte nicht das Testgebiet, die – hier die Weltmacht und ihre Wasserstoffbom- Bombe wurde gezündet. Und dennoch: es war be, dort ein kleines Boot mit einer Handvoll die wohl wichtigste Greenpeace-Aktion aller Aktivisten – wurde von Anfang an nicht nur Zeiten. Denn mit ihr wurde das Prinzip Green- Magnet für die Medien, sondern transportierte peace geboren. Die Gruppe war denselben Zie- die grundsätzlich optimistische Greenpeace- len wie zahlreiche Mitstreiter der damaligen Botschaft: dass Veränderungen möglich sind, Friedens- und Umweltbewegung verpflichtet, auch wenn die Lage noch so hoffnungslos er- hatte aber eine zwar nicht neue, aber doch von scheint. ihnen wieder entdeckte Strategie gewählt: zu So sah sie aus, die ‚Strategiebildung‘ der versuchen, physisch, mit der eigenen Person frühen Tage. Sie ist jedoch weit mehr als eine und dem eigenen Körper, ein Unrecht zu ver- historische Reminiszenz, denn in ihr liegt ein hindern und – genau so wichtig – sich und die Kern der Greenpeace-Identität. Bis heute hat 86 Stefan Krug

sich bei Greenpeace die feste Überzeugung ge- Greenpeace Teil der Umwelt- und Globalisie- halten, dass die ‚echten‘, wirklich guten Ideen rungsbewegung: es geht um den Schutz von und Aktionen spontan und kreativ entstehen. Natur und Umwelt vor Zerstörung aufgrund So sehr heutzutage auch bei Greenpeace strate- kurzfristiger wirtschaftlicher Interessen, Be- gisch analysiert und geplant wird: das Fehlen quemlichkeit und Nichtstun. Und es geht um ausgeklügelter, allzu detaillierter strategischer den Erhalt eines nicht nur intakten, sondern vor Planungen ist in gewisser Weise identitätsstif- allem auch friedlichen und wirtschaftlich und tend für Greenpeacer geblieben. Die Grundstra- sozial gerechten Ökosystems Erde. tegie – bearing witness, direkte gewaltfreie Ak- Die Greenpeace-Aktion war von Anfang an tion, öffentliche Konfrontation des Gegners, eine spezifische Art der Protestaktion: der Akti- verbunden mit Unkonventionalität, Mut und onist als ‚Schutzschild‘ in einem atomaren Test- Kreativität – war und ist die Basis des Green- gebiet, zwischen Harpune und Wal, vor dem peace-Erfolges, und sie wurde und wird noch Abflussrohr einer Chemiefabrik, auf einer Öl- immer als ausreichende Strategie empfunden. plattform, zwischen Baum und Holzfällmaschi- Als Grundstrategie blieb sie bis heute un- ne ist mehr als ein Protestträger. Doch um öf- verändert: Kampagnen sind die bewusste Pla- fentlichen Druck auf Unternehmen und politi- nung und Herbeiführung einer öffentlichen sche Entscheidungsträger zu erzeugen, wurden Konfrontation mit Unternehmen, Politikern oder immer auch ‚indirekte‘, symbolische Aktionen sonstigen ‚Umweltsündern‘. Dazu gehörte schon gewählt, die ein Umweltproblem plastisch deut- früh die öffentliche Identifizierung verantwortli- lich machen und dessen Verursacher beim Na- cher Personen hinter den Konzern- oder Regie- men nennen: Banner an Schornsteinen von rungsapparaten ebenso wie eine Arbeitsweise, Kohlekraftwerken, Fesselballons über dem Taj die ein Umweltproblem exemplarisch an einem Mahal gegen atomare Rüstung, eine Gasmaske prominenten Vertreter einer Branche oder an ei- gegen Ozonsmog für die Berliner ‚Goldelse‘, nem konkreten Einzelbeispiel – wie z.B. der zur Babypuppen in Reagenzgläsern vor dem Euro- Versenkung anstehenden Ölplattform Brent Spar päischen Patentamt, ‚Versuchskaninchen‘ ge- – deutlich machen. Ein weiteres strategisches gen Gentechnik, Die-ins gegen den Irak-Krieg. Grundelement wurde die politische und wirt- Viele andere Umweltorganisationen bedienen schaftliche Unabhängigkeit der Organisation: sich ähnlicher Aktionen – symbolische Aktio- anders als andere Umweltverbände finanziert sich nen gehören auch zu Greenpeace, machen aber Greenpeace ausschließlich von Spendengeldern nicht alles das aus, was Greenpeace ist. und lehnt Großspenden und Sponsoring durch Unternehmen ebenso ab wie projektbezogene fi- 2 Erweiterungen der nanzielle Kooperationen mit Regierungen, und Kampagnenstrategie seien sie auch noch so grün. Die gewaltfreie Aktion als Akt des zivilen Schon den ersten Greenpeace-Aktivisten war Ungehorsams war in der Greenpeace-Geschich- klar, dass eine reine Protest- und Aktionsstrate- te nie nur taktisches Mittel, sondern integraler gie nicht ausreichen würde, um reale Verände- Teil der Strategie selbst: Greenpeace ist ohne rungen zu bewirken. Schon früh wurde daher Aktionen nicht denkbar, ‚Taten statt Warten‘ ist systematisch politische Lobbyarbeit betrieben, kein bloßes Motto, sondern das strategische die etwa bei der Durchsetzung des Walfangver- Herzstück der Umweltorganisation. Dies un- botes in den 1970er und 1980er Jahren den terscheidet Greenpeace bis heute von anderen Ausschlag gab. Strategische Erweiterungen der Umweltverbänden. Denn von den Zielen her ist Grundstrategie folgten in den 1980er und Kampagnenstrategie und Strategiebildung bei Greenpeace 87

1990er Jahren, wobei das deutsche Greenpeace- sen auch die Senioren, die in 19 Teams mit 170 Büro eine führende Rolle spielte: Mitgliedern aktiv sind. • Lösungskampagnen: Mit dem Nachweis, dass • Der Aufbau der Verbraucherarbeit stellte eine bessere Lösungen möglich sind, wollte Green- weitere strategische Erweiterung dar. Mit der peace eine neue Qualität in die Auseinanderset- Gründung der Greenpeace-Verbraucherorgani- zung mit umweltschädlichen Industrien brin- sation ,Einkaufsnetz‘, die Verbraucher z.B. ge- gen. Lösungskampagnen wie die Entwicklung gen Gentechnik und Pestizide in Lebens- und des FCKW- und FKW-freien Kühlschrankes, Futtermitteln mobilisiert, oder der Gründung der des chlorfreien Druckpapiers oder des ersten Genossenschaft ‚Greenpeace energy‘, die sau- Drei-Liter-Autos straften das ,Es-geht-nicht‘ beren Strom ohne Atom- und Kohleanteil ver- der Unternehmen Lüge. Nicht nur der Protest, treibt, wurde die klassische aktionsorientierte auch die Lösung wurde zum Druckmittel gegen Strategie um wichtige Facetten ergänzt. Umweltzerstörer, die damit ebenso öffentlich • Strategische Neuausrichtungen fanden immer konfrontiert wurden wie mit klassischen Pro- auch inhaltlich statt, etwa mit dem Einstieg in testaktionen. das Themenfeld ,Grüne Gentechnik‘ Mitte der • Kinder-, Jugend- und Ehrenamtlichen-Arbeit: 1990er Jahre. Anders als bei klassischen End- In den 1990er Jahren wurde die Arbeit mit Eh- of-the-pipe-Kampagnen – etwa gegen Atom- renamtlichen sowie Kindern und Jugendlichen müll oder Giftmüllexporte – war damit ein The- ausgebaut. Heute (2005) gibt es allein in ma begonnen, dessen Bedrohungspotenzial Deutschland 84 Gruppen mit 2.400 ehrenamtli- kaum visualisierbar war, dessen Protagonisten chen Mitgliedern (ab 18 Jahre), dazu 45 Ju- schwerer lokalisierbar waren und das globale gendgruppen mit über 400 Jugendlichen sowie Implikationen in neue Themenfelder wie Land- 1.700 ‚Greenteams‘ mit rund 9.000 Kindern wirtschaft, Biopatentierung oder Ernährungs- und Jugendlichen bundesweit. Nicht zu verges- gerechtigkeit bedeutete. 88 Stefan Krug

3 Strategiebildung Kyoto-Protokolls Mitte März 2005 den Ölhan- del an der Londoner Börse kurzzeitig zum Er- Kampagnenstrategien von Greenpeace sind das liegen brachten, wurden sie von aufgebrachten Ergebnis ausführlicher interner Diskussionspro- Brokern schwer verprügelt – aber sie hatten sich zesse. Die Entscheidungen über diese Strategi- mit den klassischen Mitteln einem komplexen, en verlaufen demokratisch, aber nicht basisde- schwer visualisierbaren Thema genähert und mokratisch: Greenpeace ist nicht in Landesver- erreicht, was sie wollten. ‚Direkte Aktion‘ be- bänden organisiert, die mehr oder weniger Mit- inhaltet eine fast unerschöpfliche Fülle von kre- spracherechte an den Entscheidungen des Hau- ativen Möglichkeiten. ses hätten. Die rund 540.000 deutschen Förderer sind nicht direkt in den Entscheidungsprozess 4 Neue Herausforderungen über Kampagnen eingebunden: dies wäre weder praktikabel noch wäre damit die Arbeitsweise Die klassische Aktionsstrategie funktioniert gut, von Greenpeace möglich, die aus flexiblen, wo ‚klare Verhältnisse‘ herrschen: Goldminen, schlagkräftigen und international abgestimmten die Flüsse in Rumänien mit Chemikalien ver- Kampagnen besteht. Diese Entscheidungsstruk- seuchen, Atommüll, der im Meer versenkt wird, turen werden von den Greenpeace-Förderern so Regenwald im Amazonas, der abgeholzt wird. übrigens auch immer schon akzeptiert. Als Umweltorganisation westlicher Prägung ist Innerhalb der Organisation bedeutet die Dis- Greenpeace mit seinen spendenstarken Büros kussion über Kampagnenstrategien einen erheb- in Westeuropa am stärksten vertreten. Mit dem lichen Abstimmungsbedarf nicht nur national, Ende der qualmenden Schornsteine und der stin- sondern auch mit den internationalen Gremien. kenden Flüsse galten dort die ‚klassischen’ Neben nationalen Diskussions- und Entschei- Umweltprobleme weitgehend als gelöst und dungsprozessen – im deutschen Büro arbeiten sind im umweltpolitischen Diskurs von globa- rund 200 Personen – finden jährliche regelmä- len, aus europäischer Warte ‚unsichtbaren‘ ßige Treffen der Kampagnendirektoren, der Umweltproblemen – Klimawandel, Ressourcen- Fachexperten (Campaigner) und der Geschäfts- verbrauch etc. – abgelöst worden. führungen statt, die Schwerpunkte der Jahres- Für Greenpeace wie für andere Umwelt- planung sowie mittel- und langfristige Strate- NGOs stellt sich seit langem die strategische gieausrichtungen diskutieren und beschließen. Frage, wie Unterstützung und politischer Druck Im Festhalten an der einen Grundstrategie für Umweltschutz in Ländern generiert werden steckt natürlich auch ein Moment von Strategie- kann, die die ökologischen und sozialen Folgen blockade: was nicht oder nur schwer mit direk- ihres Lebensstils nicht oder nicht ausreichend ter Aktion zu verbinden ist, scheint nicht ‚wirk- selbst erfahren und vor Augen haben bzw. ha- lich‘, jedenfalls nicht in derselben Intensität, zu ben wollen. Erwärmung der Erdatmosphäre, Greenpeace zu passen. Dies erschwert der Or- globale Verbreitung von Dauergiften aus diffu- ganisation auf eine nicht immer bewusst reflek- sen Quellen, steigender Ressourcenverbrauch, tierte Weise die Beschäftigung mit komplexen gentechnische Manipulation der Agrarprodukt- Themen, etwa der Frage nach dem Zusammen- ion – wie sollen diese Probleme problematisiert hang von Umweltzerstörung und internationa- und visualisiert werden? Wie bekämpft man dif- len Finanzmärkten. Doch faktisch lässt sich fuse Gegner, die in einem globalen Geflecht nahezu jedes ökologische Problem auf eine Ebe- von Unternehmen und Märkten verschwinden? ne konkreter Protestaktionen ‚herunterbrechen‘. Wie adressiert man den Verbraucher selbst und Als Greenpeacer am Tag des Inkrafttretens des seine nicht nachhaltigen Lebensstile als wesent- Kampagnenstrategie und Strategiebildung bei Greenpeace 89

lichen Teil des Problems? Wie geht man mit der tionsorientierte Kampagnenarbeit von Green- Verlagerung der politischen Verantwortung auf peace scheint notwendiger denn je. internationale und globale Politikebenen wie EU Oder ist dies gerade ein Zeichen, dass Orga- und WTO um? Wie thematisiert eine aktionsoo- nisationen wie Greenpeace gescheitert sind? Ist rientierte Umweltorganisation umweltschädli- nicht längst ein Ermüdungseffekt eingetreten che Subventionen und nicht nachhaltige Finanz- beim Anblick von Protestbannern und Schlauch- systeme mit verheerenden ökologischen Fol- boot-Kämpfern? Fragen dieser Art sind meist gen? Muss sich eine Organisation wie Green- Fragen von Bewohnern westlicher Industrie- peace stärker sozialpolitischen Problemen stel- staaten, Zeichen einer medial und scheinbar len als Bedingung für ökologische Gerechtig- auch ökologisch saturierten Sichtweise. Die keit? Wie sollte Greenpeace sich mit der Pro- ökologische und politische Realität außerhalb blematik von Krieg, Terror und globaler Gewalt dieser Wohlstandsinseln ist dramatisch anders. auseinander setzen? Die faktische Plünderung des Planeten ohne Die Strategiebildung zu diesen Fragen ist bei Rücksicht auf Verluste an Natur und Menschen Greenpeace noch nicht abgeschlossen, und sie wird spricht eine andere Sprache, schlimmer als sie auch nicht auf einen Punkt hin, als die eine finale je in Westeuropa sichtbar wurde. Strategie je abgeschlossen werden. Für alle Green- Sicher ist: die finale neue Strategie kann und peace-Kampagnen – sei es gegen Überfischung wird es für Greenpeace weltweit nicht geben. und Plünderung der Weltmeere, gegen Atomkraft, Die beschriebene Grundstrategie der Aktion bil- Kohle und Öl und für Erneuerbare Energien, ge- det auch künftig das Fundament, auf dem Green- gen Chemiegifte und Gentechnik, gegen Urwald- peacer in Indien ebenso stehen wie in Norwe- zerstörung, gegen die globale Handelsdiktatur der gen, in den USA oder in China. Am Anfang der WTO oder gegen atomare Rüstung – ist der glo- erfolgreichsten Greenpeace- Kampagnen – etwa bale Charakter der Bedrohungen seit langem Rea- der Kampagne für ein Schutzgebiet Antarktis, lität. Auch die internationale Struktur der Organi- für das Walfang-Moratorium oder gegen die sation – 2004: weltweit 43 Büros, 1.170 Mitarbei- Versenkung der Brent Spar – stand weniger ter, 2,9 Millionen Förderer, Gesamteinnahmen 163 eine ausgefeilte Strategie als vielmehr Intuition Millionen Euro – ist faktische umwelt- und frie- und Emotion einzelner Menschen. Bis heute gibt denspolitische Globalisierung. Gründungen von es daher innerhalb der Organisation ein ausge- Büros in China, Indien oder Indonesien waren prägtes Misstrauen gegen langfristige strategi- bereits strategische Antworten auf diese aktuellen sche Planungen. Es kann auch eine strategische Herausforderungen. Entscheidung sein, keine Strategie zu haben. Eine strategische Neuausrichtung und Fo- Spontanität, Kreativität und Unberechenbarkeit kussierung der Organisation wurde in jüngster genießen bei Greenpeace von je her eine höhere Zeit international diskutiert und wird es noch. Wertschätzung als Theoriebildung und Strate- Doch es wird auch nach dieser Debatte keine gie. Die Spannung, in der diese Haltung zu der fundamentale Strategieänderung bei Greenpeace Erkenntnis steht, dass Globalität und zunehmen- geben. Strategisch wird die Rückbesinnung auf de Komplexität der ökologischen Probleme stra- das eigenständige Moment von Greenpeace – tegische Planung und Bündelung erfordern, ist aktionsorientiert, gewaltfrei, international, un- eine Spannung, die Greenpeace nicht nur aus- abhängig – weiter eine zentrale Rolle spielen. halten, sondern produktiv nutzen muss. Denn faktisch haben sich nahezu alle Parameter der Umweltbedrohung in den letzten beiden Stefan Krug ist Leiter der Politischen Vertre- Jahrzehnten dramatisch verschlechtert. Die ak- tung von Greenpeace Deutschland in Berlin. 90 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Warnfried Dettling

Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee

(Dieser Orginalbeitrag gibt die intensive Ar- Das war mein Eindruck nach der ersten Run- beitsatmosphäre des Workshops wieder, Die de. Jetzt, am Ende, bin ich mir nicht mehr so Red.) sicher. Und das Spannende dabei ist: Aus den nämlichen Sachverhalten, die für die Notwen- Nach einem so intensiven Workshop ist es ganz digkeit einer strategischen Steuerung ins Feld unmöglich, eine Zusammenfassung zu versu- geführt wurden, wurden nun die Grenzen ihrer chen, die allen gerecht wird. Ich will statt des- Möglichkeit abgeleitet. Das war schon mehr als sen die sieben Spannungsfelder skizzieren, in eine leichte Relativierung. Die Vertreterin der denen sich Strategiebildung und Strategieblo- Gewerkschaften, Christiane Zerfaß, hat die The- ckaden abspielen und die auf dem Workshop se vertreten: Gerade weil die Verhältnisse so deutlich geworden sind. komplex sind, draußen in der Welt und – dies vor allem – drinnen in den Gewerkschaften, solle man sich von strategischer Steuerung nicht 1 Muddling Through oder Strategien zu viel erwarten: Sie stoße rasch an ihre Gren- Am Anfang, nach den Statements der Politiker, zen. Gerade weil alles so komplex ist, solle man sah alles nach einem großen Konsens aus: Stra- sich vor ‚Strategieillusionen‘ hüten, so hat He- tegische Steuerung ist notwendig und auch ribert Hönigsberger diese These zugespitzt. möglich, wenn sich nur alle, Politiker und Be- Gerade weil alles so komplex ist, bedürfe es rater, professionell verhalten. einer ‚situativen Intelligenz‘, die freilich strate- Die Notwendigkeit strategischer Steuerung gisch angeleitet sein kann. Manche gehen noch sahen Matthias Machnig und andere in der ge- weiter und sagen, in dieser Fähigkeit zu einer genwärtigen historischen und sozioökonomi- Intelligenz, die aus der konkreten Situation ent- schen Lage begründet: Die Gesellschaft wird springt, bestehe die singuläre Kunst des Politi- immer unübersichtlicher. Die Probleme werden kers. Jeder erfolgreiche Politiker habe bewie- immer komplexer. Die Bindung der Wähler und sen, dass er über diese ‚skills‘ verfüge, mehr der Mitglieder an Parteien und Verbände geht jedenfalls als die allermeisten strategischen Be- zurück, die Distanz zu ihnen wächst. In Zeiten rater. knapper Kassen und eines schwachen Wirt- In diesen kritischen Gegenpositionen begeg- schaftswachstums können Verteilungskonflik- nen uns alte Bekannte aus der Politikwissen- te nicht mehr wie früher aus dem Wachstum schaft wieder: einmal die deskriptive Theorie heraus befriedigt werden. In Zeiten wie den und die Praxis des ‚Muddling Through‘ (Poli- unseren können Politiker nicht mehr so einfach tik als Durchwursteln durch den lobbybewehr- dem Status quo seinen Lauf lassen, wenn sie ten Interessengruppenpluralismus oder Politik auf Dauer Erfolg haben wollen. In unsicheren als Slalomlauf durch das Dickicht der Vetospie- und komplexen Zeiten werden jene Unterneh- ler), zum andern, etwas neueren Datums, die men, Gewerkschaften, Parteien einen Vor- ‚Kübeltheorie der Politik‘, die besagt: Was am sprung, eine bessere Zukunft haben, die über Ende an Politik aus einer Organisation oder strategische Steuerung verfügen. Partei oder Regierung herauskommt, ist die Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee 91

Summe all dessen, was vorher viele ganz und ben. Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften gar unsystematisch in den Kübel hinein gege- sind irgendwo dazwischen angesiedelt.1 ben haben. Es ist ein Ergebnis dieses Workshops, dass 2 Drei Dimensionen strategischer sich Strategiebildung und Strategieblockaden Steuerung notwendig in diesem Spannungsfeld abspielen. Jede Institution muss sich hier positionieren, Ein zweites Spannungsfeld, über das grund- denn es macht wenig Sinn, wenn die einen stra- sätzlich Einigkeit bestand, hat dieser Workshop tegische Steuerung betreiben und die anderen heraus gearbeitet. Man kann es aufschließen mit nichts davon halten, es sei denn, es geschieht den drei großen ‚W’s‘ von Andrea Nahles: Wie, arbeitsteilig und als Dekoration fürs Schaufens- warum, wohin? Strategische Steuerung hat drei ter. Dimensionen. Sie muss Antwort geben auf die- Meine Meinung in dieser Debatte möchte se drei Fragen. Bei jeder dieser Fragen, in jeder ich in einer Aussage zusammenfassen: Je ruhi- Dimension, können die Blockaden auftreten. ger die Zeiten und je langsamer (oder gar nicht) Die erste Dimension ist eine Analyse des der gesellschaftliche Wandel, um so eher kann Status quo. Dazu gehören nicht nur die verän- man sich mit Erfolg (für die Partei wie für das derten oder gleichbleibenden Umweltbedingun- gesellschaftliche Ganze) eine Politik des Mudd- gen. Zum Status quo gehören auch die Fragen: ling Through leisten. Je radikaler die Verände- Wer sind wir? Was macht eigentlich unsere Iden- rungen in der Welt, in der Gesellschaft und auch tität aus? Die zweite Dimension fragt nach den in den Menschen selbst sind, um so mehr be- Zielen und den Werten: den Wertzielen einer darf es der strategischen Steuerung, wenn eine Partei, einer Regierung, eines Verbandes. Und Partei, eine Regierung, ein Land nachhaltig Er- die dritte Dimension betrifft die Frage nach den folg haben will. Mitteln und Wegen. Wie kommt man von A Es gibt Gründe dafür, warum sich diese Ein- nach B? Was sind die richtigen Schritte in die sicht im politischen Bereich schwerer durch- richtige Richtung? setzt als im wirtschaftlichen Bereich. Unterneh- Nun kann sich jeder im Hinblick auf die ei- men, die nicht über eine tragfähige strategische gene Organisation fragen: Wie sieht das in mei- Steuerung verfügen, laufen Gefahr, irgendwann nem Laden aus? Besteht dort eine hinreichende, einmal vom Markt zu verschwinden. Man könnte wenigstens eine relative Klarheit über den Sta- das am Fall Karstadt und an anderen Beispielen tus quo, über die Welt und die Gesellschaft, in illustrieren. Wer nicht mit der Zeit geht, der geht der wir leben? Besteht einigermaßen Klarheit mit der Zeit. Wer die gesellschaftlichen Verän- über die Richtung, in die wir gehen wollen? derungen, den Wandel im Kauf- und Konsum- Und besteht einigermaßen eine Vorstellung, wie verhalten oder überhaupt die neuen Lebensstile diese Ziele in der jetzigen Zeit, in der jetzigen verschläft, der bekommt irgendwann Proble- Welt erreicht werden können, was wären also me. In der Politik muss das keineswegs so sein. die angemessenen nächsten Schritte? Die Unfähigkeit zu lernen wird keineswegs Was nach meiner Meinung bei diesem Work- konsequent bestraft. Wenn es den politischen shop ein wenig zu kurz kam, war eine offene Parteien nur gelingt, ein nonverbales Einver- und ehrliche Diskussion über die Gründe, war- ständnis über ihre gemeinsame Strategielosig- um sich Verbände und Parteien oft über diese keit zu treffen, wenn sich alle in einem Kartell drei Dimensionen einer strategischen Steuerung der Mittelmäßigkeit vereinen, dann können sie lieber hinweg mogeln. Oder anders formuliert: sehr lange auf dem politischen Markt überle- Nach der ‚Logik des kollektiven Handelns‘ 92 Warnfried Dettling

(Mancur Olson) ist strategische Steuerung, wo strategischen Orientierung verhindern. Und je sie gelingt, ein kollektives Gut. Alle haben et- weniger korporatistisch eine Gesellschaft und was davon. Dieses kollektive Gut anzustreben, je kleiner und überschaubarer das Land ist, umso also zu wollen, dass der Verband wachse und stärker werden die Gewerkschaften und um so gedeihe, die Regierung oder die Opposition Er- wahrscheinlicher werden Reformen sein, wie folg habe, bedeutet aber gerade nicht, dass sich das Beispiel der nordischen Länder zeigt. jeder einzelne in seinem individuellen Verhalten Das alles sind aber auch Hinweise darauf, an diesem kollektiven Gut orientiert, im Gegen- warum es in Deutschland ‚rational‘ sein kann, teil: Wenn sich die anderen daran orientieren, die drei Dimensionen der strategischen Steue- kann er seine Interessen pflegen und trotzdem rung lieber im Ungefähren zu lassen.2 Denn jede als Trittbrettfahrer am gemeinsamen Gut, am Analyse des Status quo impliziert Handlungs- gemeinsamen Erfolg teilhaben. Wenn sich nie- alternativen, legt bestimmte Handlungsfolgen mand daran orientiert, hilft auch sein ‚selbstlo- nahe und schließt andere aus. So mag es sehr ses‘ Verhalten nicht viel weiter. Individuelle rational sein, was nicht nur bei Hans-Jürgen Rationalitäten und kollektive Rationalität klaf- Urban deutlich geworden ist, Ziele im Unklaren fen normalerweise im Naturzustand (ohne star- zu lassen. Denn wo das Ziel unklar ist, sind per ke, charismatische Führung oder ohne Zwang Definitionem alle Wege richtig. Auch die Frage oder moralische Überredung) auseinander. Der nach den Mitteln und Wegen ist alles andere als Vertreter eines großen Wohlfahrtsverbandes hat eine äußerliche und technokratische Frage, sie diesen Zusammenhang sehr schön illustriert: Ein ist vielmehr außerordentlich wert- und traditi- Funktionär, mehr als dreißig Jahre in Amt und onsbelastet. Der Präsident der Diakonie hat Würden, kurz vor seinem Ausscheiden, handelt einmal gesagt, es gebe Strukturen und Verfah- durchaus vernünftig, wenn er sich nicht mehr ren, die ‚sind nicht diakoniefähig‘. Die CDU ist um die langfristigen Reformen kümmert, son- sich, was die Familie angeht, relativ einig in der dern darauf hofft, dass die Organisation etwas Analyse des Status quo und auch in ihrem Ziel. später stirbt als er selbst. Wenn das aber alle Aber bestimmte Wege für eine zielorientierte und immer wieder tun, führt das individuell ra- Familienpolitik scheinen nicht CDU-fähig zu tionale oder wenigstens verständliche Verhalten sein. Möglicherweise ist man sich in der SPD zur kollektiven Selbstschädigung aller – und und in den Gewerkschaften über den Status quo zum sicheren Niedergang. Und umgekehrt: Wer im Bildungswesen und über dessen Ungerech- im kollektiv-rationalen Sinne die Zukunftsfä- tigkeit völlig einig und auch darüber, dass Bil- higkeit einer Gewerkschaft sichert, wird sich dungsgerechtigkeit ein hoher Wert ist. Aber be- möglicherweise in der Organisation unbeliebt stimmte Wege zu diesem Ziel sind offensicht- machen müssen. lich nicht SPD- und nicht gewerkschaftsfähig. Mit der Theorie des kollektiven Handelns Das ist der springende Punkt: Strategische kann man die Grenzen der Strategiebildung und Steuerung und die ihr voraus gehende strategi- die Strategieblockaden ganz gut erklären, in- sche Beratung müssen die Räume und die Opti- nerhalb der Gewerkschaften etwa, aber auch in onen ausweiten und die Handlungskorridore Staat und Gesellschaft. Je korporatistischer eine breiter machen, und zwar in allen drei genann- Gesellschaft organisiert ist und je differenzier- ten Dimensionen: im Hinblick auf die Realana- ter und schwerfälliger die Binnenstrukturen der lyse als auch im Hinblick auf eine neue Reflexi- ‚korporatistischen‘ Organisationen sind, um so on oder Rekonstruktion der Wertziele und nicht mehr wird die individuelle Rationalität die kol- zuletzt im Hinblick auf die Mittel und Wege, die lektive Rationalität und das kollektive Gut einer eingesetzt und beschritten werden sollen (intel- Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee 93

ligente Staatsdebatte). Es ist ja nicht so, dass Gerechtigkeitsbegriffes. Eine komplexe Gesell- man die Werte – das, was CDU und Gewerk- schaft braucht einen komplexen Gerechtigkeits- schaften gemeinsam zu glauben scheinen – ein- begriff, der auch Mittel und Wege erlaubt, die fach aus dem Tabernakel wie eine Monstranz früher tabuisiert waren. Wenn alles schief geht, holt, sondern man muss Werte immer wieder wird man sich erinnern, dass zu einer strategi- neu rekonstruieren und weiterentwickeln. Der schen Steuerung auch und vor allem eine strate- Wert der Freiheit wurde schon in der Antike gische Kommunikation gehört. groß gepriesen, als die Sklaven und Heloten noch nicht dazu gehörten. Für Gleichheit konn- 3 Das Dilemma der Demokratie te man sein, als die Frauen noch nicht gemeint waren. Wenn man positiv denkt und wenn alles Strategiebildung ist nur möglich im Spannungs- gut geht, kann man die Agenda 2010 als Ver- feld zwischen Politics und Policy, also zwischen such des Kanzlers interpretieren, gegen den dem politischen Prozess und politischen Inhal- Willen der Partei den Korridor breiter zu ma- ten oder auch zwischen der Parteiraison und chen, in der Realanalyse der Verhältnisse, bei den Organisationsinteressen auf der einen Seite der Frage, welche Wege führen zu welchen Zie- und der Staatsraison, dem Gemeinwohl, den len und bei der Neudefinition der Wertziele, Allgemeininteressen auf der anderen. Dieses selbst mit dem Ergebnis eines komplexeren Spannungsfeld kann man am Dilemma der De- 94 Warnfried Dettling

mokratie gut verdeutlichen. Dieses Dilemma merksamkeit), dann ist das Ergebnis eindeu- besteht darin, dass die Demokratie zwei Maxi- tig: Sie investieren mehr Mittel in Politikerbe- me kennt, die beide legitim sind, die sich wech- ratung (Politics) als in Politikberatung (Poli- selseitig auch nicht ausschließen, die sich aber cy). Eben darin liegt eine Ursache für das De- von ihrer Logik her doch eher widersprechen. fizit in der Strategiebildung, das allüberall zu Da ist einmal in einer Wettbewerbsdemokratie beobachten ist. die Maxime an Politiker und Parteien: Verhaltet euch so, dass ihr bei Wahlen möglichst viele 4 Strategie und Partizipation Stimmen holt! Das ist das Prinzip der Stimmen- maximierung. Es weist nur in Ausnahmefällen Das vierte Spannungsfeld, das wir auf diesem in die Richtung einer an den Problemen und an Workshop diskutiert haben, bezieht sich auf die der Zukunft orientierten Politik. Strategische Spannung zwischen strategischer Steuerung und Steuerung im anspruchsvollen Sinne (Policy) demokratischer Mitbestimmung (Teilhabe, Par- ist hier eher hinderlich. Gefragt ist ein optima- tizipation, Kontrolle). Es fielen Stichworte wie les Wahlkampfmanagement. Eine andere Maxi- ‚Bonapartismus‘ (Machnig). Heiner Geißler hat me der Demokratie lautet: Wenn ihr gewählt einmal angemerkt, Parteien seien zu „Sultana- seid, dann verhaltet Euch bitte so, dass ihr die ten“ ihrer Führer verkommen. Die Beispiele muss Probleme des Landes löst, den Herausforde- man nicht suchen: Die Agenda 2010 kam rungen der Zukunft gerecht werdet und das gleichsam durch einen Putsch von oben in die Gemeinwesen keinen Schaden nimmt. Das Di- SPD. Die Gesundheitsreform der CDU wurde lemma der Demokratie liegt in der Spannung von oben verordnet und von oben wieder revi- zwischen der eingebauten Kurzfristorientierung diert, beide Male von Regierungskonferenzen und der erwarteten Langfristorientierung, zu der bzw. von einem Parteitag diskutiert und akkla- man dann auch eine entsprechende strategische miert. Steuerung auf Ziele hin braucht. Demokratie Es ist eine Sache, diesen Bonapartismus zu ist, wo Wahlen und Wettbewerb sind. Das ist kritisieren. Es ist eine andere Frage, die hier aber nur die halbe Wahrheit. Eine Demokratie nicht diskutieret wurde und um die sich auch kann auch scheitern, wenn sie keine Probleme Andrea Nahles herum gemogelt hat, ob strate- mehr löst. gische Weichenstellungen auf dem klassischen Nun geht eine optimistische Hoffnung Wege der Parteiendemokratie überhaupt noch dahin, dass im politischen Wettbewerb auf Dau- möglich sind, ob also eine Steuerung der Poli- er jene erfolgreicher abschneiden, die die lang- tik durch Programme überhaupt noch möglich fristigen Aufgaben nicht aus den Augen ver- und zukunftsfähig ist oder ob wir in einem kon- lieren. Das ist auch eine Frage der kritischen kreten Sinne an das Ende der Parteiendemokra- Öffentlichkeit, der politischen Bildung und der tie angelangt sind. Ich glaube, das ‚kyberneti- Medien. Es ist deshalb sinnvoll zu unterschei- sche Modell der Politik‘ (Anthony Giddens) den zwischen einer Politikberatung, die auf kommt langsam an sein Ende, ein Modell, dem- Inhalte zielt und damit auch die Öffentlichkeit zufolge Interessen artikuliert und nach oben zum Adressaten hat, und einer Politikerbera- aggregiert, von einer Regierung dann in große tung, die dem Politiker hilft, im politischen kollektive Entscheidungen gebündelt werden, Betrieb erfolgreich zu sein. Wenn man vor die- die wiederum in Einzelentscheidungen übers sem Hintergrund fragt, wofür Regierungen, ganze Land herunter gebrochen werden: Ich glau- Parteien und Verbände in Deutschland Res- be, das ist keine zeitgemäße Vorstellung von sourcen investieren (Geld, Zeit, Personal, Auf- Politik mehr. Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee 95

Eine andere Frage wurde überhaupt nicht Räume, in denen offen, angstfrei und ohne ne- diskutiert: Sind Politiker überhaupt noch wil- gative Folgen für die Akteure auch und gerade lens und fähig, Ziele zu formulieren? Wissen jenseits der Beschlusslage gedacht werden kann. Politiker überhaupt, was sie wollen, was sie Die andere These lautet: Strategische Steuerung wollen können oder was sie wollen sollen? und Zukunftsorientierung der Politik brauchen Oder kommen strategische Berater nicht nur eine demokratische Öffentlichkeit, die neuen in Versuchung, sondern auch notwendig in die Ideen einen Resonanzboden verschafft und da- Lage und Situation, Politikern zuerst sagen zu mit über den ‚Umweg‘ der Öffentlichkeit auch müssen, welche Ziele sinnvoll, plausibel und einen Verstärkereffekt für neue Ideen in die Par- möglich sind? Stehen wir hier möglicherweise teien, Regierungen und Gewerkschaften hinein vor einem Generationenunterschied, für den bringt. Diese beiden Aussagen sind auf dem die jetzige Generation nichts kann, der aber Workshop in aller Klarheit formuliert worden, dennoch deutlich und folgenschwer ist: dass eine Debatte, die ich als besonders originell und nämlich die Nachkriegsgeneration aus biogra- weiterführend empfunden habe. phischen Gründen genauer wusste, was sie Wenn man nun eine Realanalyse über die (nicht) wollte? Wenn man heute einen jungen Medienwirklichkeit macht, stellt man rasch fest, Abgeordneten fragt, so hat ein bekannter Poli- dass im politisch-medialen Komplex Zukunfts- tikberater einmal angemerkt, warum er über- botschaften, neue Gedanken und strategische haupt in die Politik gegangen sei und was er in Steuerung es besonders schwer haben. Der po- der Politik bewirken wolle, dann wisse der in litisch mediale Komplex verhindert eher Zu- den allermeisten Fällen keine rechte Antwort. kunftsorientierung und strategische Steuerung.3 Wenn das so wäre, dann wäre natürlich auch Um Aufmerksamkeit zu erringen, muss man die Spannung zwischen Bonapartismus und mediengerecht sein. Mediengerecht ist man, Parteiendemokratie noch viel radikaler. Dann wenn man bestimmte Regeln beachtet. Diese würden im Extremfall Politiker zu Weihnachts- Regeln werden von den Medien festgesetzt; sie bäumen, an denen strategische Berater Kugeln, folgen nicht der Logik der strategischen Steue- Kerzen und Lametta aufhängen. Dann wäre rung.4 Auf der anderen Seite gibt es in den Par- strategische Steuerung kein politisch-demokra- teien und Verbänden kaum einen Ort, wo nicht- tischer Prozess mehr, sondern das Werk stra- öffentlich über eine strategische (Neu)Orien- tegischer Berater. Man muss diese Spannung tierung beraten werden kann. Die allermeisten im Kopf haben, auch wenn man keinen Weg ‚geheimen‘ Sitzungen werden als Folge der aus der Aporie weiß. Symbiose zwischen Politik und Medien öffent- lich. Wenn es aber keine nicht-öffentlichen Räu- me in der politischen Landschaft mehr gibt, dann 5 Strategie und Öffentlichkeit hat das natürlich Folgen für alle Formen einer Ein weiteres Spannungsfeld besteht zwischen strategischen oder sonstigen Beratung: Diese öffentlichen und nicht öffentlichen Räumen, werden dann instrumentalisiert und in ihrem welche die Strategiebildung und die strategi- Sinn ‚verkehrt‘. Oder man lagert sie von An- sche Steuerung positiv oder negativ beeinflus- fang an ganz aus, an eine Unternehmensbera- sen. Die Frage ist, ob es eine Art ‚Korrumpie- tung, mit Folgen, die man am Schicksal der rung’ durch Öffentlichkeit geben könne. Gesundheitsreform der CDU studieren kann. Diese Spannung lässt sich durch zwei Aus- Man verzichtet nicht ungestraft auf eine politi- sagen verdeutlichen. Die eine These lautet: Stra- sche Kommunikation nach allen Regeln der tegische Steuerung braucht nicht-öffentliche Kunst. Oder man schafft Ersatz für die fehlen- 96 Warnfried Dettling

den Orte in kleinen Runden oder externen Bera- len einer intellektuellen Landschaft, die durch tungsteams.5 unterschiedliche Denkstätten geprägt wäre, könnten sie auch dann nicht ersetzen. Der andere Aspekt der Frage, was die Wahr- 6 Think Tanks scheinlichkeit strategischer Steuerung erhöhe, Damit ist gleichzeitig die Frage nach den Vor- verweist auf einen Zusammenhang, der gerade aussetzungen und nach den Bedingungen des sozialdemokratischem Denken nicht fremd sein Erfolgs einer strategischen Steuerung gestellt. dürfte: Bessere Politik durch politische Bildung Es öffnet damit sich ein weiteres Spannungs- und Aufklärung der Gesellschaft. Regierungen feld, nämlich das zwischen unabhängigen Think und Parteien geben sehr viel Geld aus, um die Tanks und Politikern, die auf sie hören oder, öffentliche Meinung zu messen. Sie geben rela- allgemeiner und doch genauer gesagt, die den tiv wenig Geld aus, um die öffentliche Meinung rechten Gebrauch von ihnen zu machen wissen, zu verbessern. Sie geben viel Geld aus für die auch wenn es darum geht, die Akzeptanz von Darstellung ihrer Politik. Sie geben wenig Geld Ideen in der Öffentlichkeit vorzubereiten. aus für die Herstellung ihrer Politik. Was müss- Darüber bestand weitgehend Konsens auf dem te eigentlich geschehen, so hat der US amerika- Workhop: Es muss Orte in der Gesellschaft ge- nische Sozialforscher Daniel Yankelovich einmal ben, die, so gut es geht, die Zukunft antizipie- in einem lesenswerten Buch gefragt, um die öf- ren: Denkstätten, die die richtige Mischung von fentliche Urteilsfähigkeit (Public Judgement) zu Nähe und Distanz zur Politik haben und als verbessern? Das ist ein weites Feld, von der solche selbst wichtige Akteure im Prozess der Schule bis zu den Medien, von der mangelnden Strategiebildung sind. öffentlichen Wirksamkeit der Wissenschaften Warum gibt es davon so wenige in Deutsch- bis hin zur meist unfreiwilligen, aber stets fol- land? Was ist mit den politischen Stiftungen, genschweren Selbstdarstellung der Politik in der die ja Geld und Personal haben? Die Hans Bo- Öffentlichkeit. eckler Stiftung kann sich ja im Konzert der Stif- tungen durchaus sehen lassen. Aber es stellt 7 Politische Führung sich doch eine grundsätzliche Frage: Nehmen sich die politischen Stiftungen ihre mögliche Schließlich das letzte Spannungsfeld, in dem Freiheit nicht, auch unfrisierte Gedanken in die sich unser Thema bewegt. Es ist der Abstand Öffentlichkeit zu bringen? Oder ist diese Frei- zwischen den Politikern, die wir haben, und heit gar nicht vorhanden? Oder handelt es sich jenen, die wir in dieser Zeit des Wandels bräuch- um vorauseilenden Gehorsam? Jedenfalls ten. Strategiebildung und strategische Steuerung, scheint die richtige Balance zwischen Nähe und wenn sie denn in der Politik praktisch erfolg- Distanz zur Politik aus der Balance geraten zu reich sein soll, brauchen charismatische Politi- sein. Dabei könnten die politischen Stiftungen ker und Verbandsfunktionäre; sie brauchen Eli- ein Gegengewicht bilden gegen die ‚Veröffent- ten in der Führung, die sich als ‚politische Un- lichkeit‘, gegen die Zunahme des populären ternehmer‘ oder als ‚Angebotspolitiker‘ und Mainstream-Jornalismus, der nicht nur den nicht als ‚Demagoge‘ oder als ‚Amtsinhaber‘ Boulevardbereich umfasst, sondern sich auch (Guy Kirsch) verstehen; sie brauchen Politiker, immer weiter in anspruchsvollen Formaten, die etwas riskieren und Mehrheiten schaffen letztlich in allen Medien ausbreitet.6 Die Stif- und sich nicht nur an vermeintliche Mehrheiten tungen könnten starke Stimmen sein in einer anpassen. Das ist leicht gesagt, verweist aber zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.7 Das Feh- auf den politischen Widerspruch unserer Zeit: Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee 97

Wer eine langfristig richtige und deshalb unpo- Politische Beratung und Politik auf dem Prüf- puläre Politik macht, läuft Gefahr, abgewählt stand. Dokumentation des Workshops vom 13. zu werden. Jede Opposition ist ständig in der November 2004, mit Ulrich von Alemann, Warn- Versuchung, die Unzufriedenheit des Wählers fried Dettling, Fritz Goergen, Rudi Hoogvliet, mit der Regierung, also die ‚Oppositionsrendi- Karl-Rudolf Korte, Matthias Machnig, Frank te‘ einzustreichen. Wer sich als Stimmenmaxi- Nullmeier, Peter Radunski, Thomas Steg (Her- mierer verhält, kann besser überleben als der, ausgegeben von Daniel Dettling (berlinpolis) der die dicken Bretter bohrt. Damit stellt sich und Michael Wedell (Vodafone), Berlin 2005. die Frage: Wie kann man trotz Parteienwettbe- 2„Innerhalb der Parteistrukturen leisten die Füh- werb strategische Steuerung in dieser konkre- rungsgremien keine wirkliche Führung, son- ten historischen Lage praktizieren? Eine Mög- dern dienen lediglich als Sprachregelungsinstan- lichkeit wäre, den politischen Wettbewerb für zen, die den Zweck haben, die versammelten eine gewisse Zeit in einer großen Koalition Akteure verbal und argumentativ auf eine Linie gleichsam ‚still zu stellen‘, um in dieser Zeit die zu bringen“, so bilanziert Matthias Machnig strategischen Weichenstellungen vorzunehmen. seine Erfahrungen. (In: Wie innovativ ist die So verwandelt sich die Frage nach der Stra- Politik in Deutschland? Anm. 1, S.9 tegiebildung und nach den Strategieblockaden 3Siehe dazu auch die Ausführungen von Tho- am Ende in die Frage, welchen Anspruch Poli- mas Steg und Fritz Goergen. In: Wie innovativ tik an sich selber hat. Man sollte es offen aus- ist die Politik in Deutschland, siehe Anm. 1. sprechen und sich nichts vormachen: Strategi- 4Vergleiche dazu die informative und anregen- sche Steuerung lässt sich nicht denken auf einer de Publikation: Wie innovativ sind die Medien? innovativen Oase in einer politischen Wüste. Herausgegeben von berlinpolis (Daniel Dett- Die Entpolitisierung der Politik ist der ling) und EnBw (Jürgen Hogrefe), Berlin 2004, schlimmste Feind einer politischen Strategie- darin vor allem den Beitrag von Roger de Weck: bildung. Die Blockaden lägen dann in der Poli- Sind die Medien neugierig? tik selber. Die Frage allerdings, wie eine Repo- 5„Kleine Runden von Beratern und Politikern litisierung von Politik und Gesellschaft gelin- sind viel effektiver als Beiräte, Expertenrunden gen könne, weist weit über unser Thema hin- und Enquetekommissionen.“ (Ulrich von Ale- aus. Strategiebildung und strategische Steue- mann, Anm. 1, S.17) – „In Zukunft werden rung sind ein notwendiges Mittel, aber, kein Beratungsteams wichtig, da die drei Kompeten- Ersatz für Politik. In diesem Sinne besteht in zen der Sach-, Vermittlungs- und Durchset- Deutschland, dass ist auf dem Workshop deut- zungsrationalität nicht von einer Person über- lich geworden, ein großer Bedarf, eine geringe nommen werden können. Ein positives Beispiel Nachfrage und ein noch geringeres Angebot an stellt das Beratungsumfeld des amerikanischen strategischer Beratung der Politik. Präsidenten dar.“ (Peter Radunski, ebenda S.17). 6Thomas Steg, siehe Anm. 1, S.13. Dr. Warnfried Dettling lebt als freier Autor 7„Qualität kann in die Politik nur kommen, wenn und Politikberater in Berlin. der Teufelskreis des permanenten Taktierens von strategischer Politik durchbrochen wird. Politik benötigt einen starken Gegenpart, der in Anmerkungen selbstorganisierten Kräften der offenen Gesell- 1Siehe dazu auch die vorzügliche Publikation: schaft liegen könnte.“ (Fritz Goergen, Anm. 1, Wie innovativ ist die Politik in Deutschland? S.19). 98 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

ANALYSE Nachkriegszeit immerhin errungenen institutio- ...... nellen Positionen durchaus aussichtsreich er- schien – etwa durch die Reform der Betriebs- Institution und soziale Bewegung: verfassung, die Ausweitung der paritätischen Strategische Herausforderung der Mitbestimmung, das HdA-Programm –, sind 1 Gewerkschaften von R. Hoffmann mit der Formel vom ‚Rechts- Institution der Arbeit und soziale fortschritt durch gewerkschaftliche Gegenmacht’ Bewegung? auf den Punkt gebracht worden (Hoffmann Die deutschen Gewerkschaften sind, über die 1968). Um sich diese Variante gewerkschaftli- tiefen Brüche und Niederlagen aus der ersten cher Doppelstrategien und ihrer Ambivalenzen Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg, Ergebnis heute zu vergegenwärtigen kann es hilfreich eines ausgesprochen erfolgreichen Institutiona- sein, nach Personen Ausschau zu halten, die sie lisierungsprozesses einer älteren, großen sozia- in besonderer Weise verkörpert haben. len Bewegung, der Arbeiterbewegung. Diese Hans Matthöfer kann als herausgehobener war als soziale Bewegung bekanntlich sehr viel Repräsentant dieser kämpferischen Reformströ- umfassender und hat sich politisch, gewerk- mung gelten. Als Mitinitiator der frühen Auto- schaftlich, genossenschaftlich und kulturell in mationskongresse der IG Metall, Protagonist unterschiedlicher Weise und mit unterschiedli- ihrer Bildungsobleutebewegung, Organisator chen Erfolgen ausdifferenziert. einer erfolgreichen Kampagne zur Mitglieder- Das Verhältnis zwischen diesen verschiede- gewinnung bei Ford und Befürworter betriebs- nen Strängen der Arbeiterbewegung war immer naher Tarifpolitik in den 1960er Jahren war er konfliktbehaftet. Die Massenstreikdebatte war ein Exponent des linken gewerkschaftlichen z.B. auch ein Konflikt zwischen dem Revoluti- Reformflügels, als Bundesarbeitsminister nach onären Flügel der Sozialdemokratie und den 1972 dann maßgeblicher Initiator des Pro- aufblühenden Gewerkschaften (Langkau u.a. gramms Humanisierung des Arbeitslebens (Pöh- 1994). Zwischen Gewerkschafts- und Genos- ler/Peter 1982) und am Ende der 1980er Jahre senschaftsbewegung gab es in der Frühphase war er schließlich derjenige, der Ordnung in der deutschen Arbeiterbewegung deutliche und den Trümmerhaufen der gemeinwirtschaftlichen kaum auflösbare Zielkonflikte (Novy 1984). An Unternehmen brachte, um weiteren finanziellen dieser Stelle interessiert der genauere Blick auf Schaden von den Gewerkschaften abzuwenden die inneren Widersprüchlichkeiten, mit denen (Matthöfer 1994) und Restbestände wenigstens die Gewerkschaften nach der Niederlage und für eine Weile zu sichern. dem Ende der deutschen Arbeiterbewegung Man könnte entlang dieser Biographie 1933 (Lucas 1983) und seit dem Beginn ihrer unschwer die Geschichte der Bewältigung der bemerkenswert erfolgreichen Institutionalisie- Anforderungen des gewerkschaftlichen ‚Dop- rung in der Bundesrepublik Deutschland es zu pelcharakters‘ (Zoll 1976) zwischen Gegen- tun hatten. Er ist für die Klärung aktueller Hand- macht und Ordnungsfaktor, sozialer Bewegung lungsprobleme der Gewerkschaften hilfreich. und Institution, über nahezu vier Jahrzehnte der Die Erfahrungen von den 1950er bis in die Geschichte der Bundesrepublik hinweg nach- 1970er Jahre, also während der kurzen Blüte- zeichnen. Auf den ersten Blick wäre dies eine phase sozialdemokratischer Reformpolitik, als ziemliche Erfolgsgeschichte – jedenfalls bis zum die Anknüpfung an die eigene Geschichte als Überschreiten des Gipfelpunkts sozialdemokra- soziale Bewegung noch nahe lag und die Wei- tischer Reformpolitik. Wenn man hingegen aus terentwicklung in den Kräfteverhältnissen der der heutigen historischen Distanz und angesichts Pulsschlag 99

der bedrohlichen Defensive, in die unsere Ge- im Chemiestreik 1971 (Dzielak u.a. 1978) und werkschaften inzwischen geraten sind, tiefer Aufnahme seiner Tätigkeit als Bundestagsab- bohrt, ergeben sich Fragen. Sie müssten z.B. geordneter 1972 wird er der führende Reprä- lauten: sentant einer strikt sozialpartnerschaftlichen, (1) Was ist dran an Theo Pirkers Diagnose lange Zeit unbestreitbar erfolgreichen, auf Aus- von den Gewerkschaften als der ‚blinden Macht’ gleich in den institutionellen Handlungsrahmen (Pirker 1960), die in der jungen deutschen De- orientierten Strömung in seiner Gewerkschaft, mokratie seit dem Kampf um die Betriebsver- die er nach 1980 als deren erster Vorsitzender fassung von 1952 vor weitergehenden Mobili- konsequent festigt – unter Ausgrenzung sozia- sierungen zurückgeschreckt ist – überzeugt listischer, vorgeblich kryptokommunistischer davon, gewählte politische Mehrheiten letztlich Gegner. respektieren zu müssen – und in der gefunde- Die beiden Beispiele mögen genügen, um nen Arbeitsteilung mit der SPD, die langsam (1) durchaus beachtliche Unterschiede im Um- zur Volkspartei wird, nicht in der Lage für ihre gang mit dem Widerspruch zwischen sozialer Ziele mit größerer Durchschlagskraft arbeits- Bewegung und daraus erwachsener Institution politisch zu mobilisieren (vgl. Schmidt 1973)? sichtbar zu machen als auch (2) zu zeigen, dass (2) Was prägte jenes gewerkschaftliche Den- mit zunehmender Entfernung von ihren Ur- ken, dass die IG Metall so tief über die Septem- sprungsereignissen und Wurzeln, als sozialer berstreiks beunruhigte, sie vor allem auch als Bewegung, das, was man das ‚institutionelle gegen den Führungsanspruch der Gewerkschaft Denken‘ nennen könnte (Douglas 1991), in selbst gerichtet erleben ließ? beiden Fällen an Gewicht gewinnt. Im Span- (3) Welche Rolle spielte in diesem Zusam- nungsverhältnis von auf Bewegungselementen menhang die im Vergleich besonders weitge- beruhender Gegenmacht und institutionell zu hende Institutionalisierung von Mitbestimmung befestigendem Rechtsfortschritt behält also das in der Montanindustrie? (vgl. Hindrichs u.a. institutionelle Denken letztlich die Oberhand. 2000) Und dies hat seine Gründe: (4) Was ist mit anderen bedeutenden Ge- • Die maßgeblichen handelnden Akteure han- werkschaftsführern, aus sozialistischer oder deln immer vornehmlich im Kontext der über auch katholischer Tradition kommend, die, wie die ‚Bewegungsphasen‘ geschaffenen insti- z.B. Hermann Rappe oder Georg Leber, anders tutionellen Strukturen. Dies ist unausweich- als Hans Matthöfer viel stärker einseitig die in- lich. Sie müssen damit auch immer die Per- stitutionelle Dimension gewerkschaftlichen spektive des Sachwalters errungener Erfol- Handelns zu ihrer Sache gemacht haben? ge einnehmen. Die sind ein hohes Gut und Am Beispiel Hermann Rappes ließe sich das müssen innerhalb gesellschaftlicher Kräfte- nachzeichnen: Auch er ist in den 1960er Jahren verhältnisse gegen widerstreitende Interes- Repräsentant der Gewerkschaftslinken im Vor- sengruppen behauptet werden. Die Rolle der stand der IG Chemie, die damals als nach den führenden Repräsentanten von Gewerk- Worten ihres Vorsitzenden Wilhelm Gefeller schaften als Sachwalter institutioneller Er- ‚chemisch reine sozialdemokratische Gewerk- rungenschaften bekommt so ein hohes Ei- schaft‘ wie die IG Metall zum Reformflügel des gengewicht. DGB zählte, in ihren Kernbereichen aber immer, • Sie handeln weiterhin immer vor dem Hin- auch schon in der Zeit der Weimarer Republik tergrund von politischen Orientierungen, die (Tenfelde 1997), Durchsetzungsschwächen ge- nicht nur in offiziellen Programmatiken, son- habt hatte. Nach der Erfahrung der Niederlage dern vor allem auch in institutionell tragen- 100 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

den Leitideen ihren Ausdruck finden – und ausgestattet, und gibt es für diese keinen Spiel- sie dürfen mit einigem Recht davon ausge- raum, stehen Mitglieder irgendwann als Ver- hen, dass sie als professionelle Akteure an trauensleute nicht mehr zur Verfügung. Trotz- der Spitze großer Organisationen und Insti- dem werden wesentliche konstitutive Momente tutionen einen besonders guten Überblick eines strukturell konservativen institutionellen haben. Sie können in ihrer Rolle also immer Denkens sichtbar, das die Gewerkschaften nach- nur in dem Selbstverständnis handeln, die haltig prägt. Es bedarf da durchaus keiner The- besten Experten für ihre schwierige Aufga- orie des demokratischen Zentralismus um als be zu sein. externer Beobachter zu erkennen und als akti- • Sie sehen sich schließlich dazu herausgefor- ver Verantwortungsträger an der Spitze einer dert, an der Gestaltung höchst komplizierter solchen Organisation für sich selbst zu begrün- und zugleich immer unüberschaubarer wer- den, dass es nahe liegt, das eigene Handeln dender, gesellschaftlicher Prozesse mitzu- letztlich doch in einer diesem theoretischen wirken. Dabei müssen sie die Legitimation Modell recht ähnlichen Weise zu organisieren. ihres Handelns zunächst und vor allem Die Empfehlung einer Rückbesinnung auf die immer in der eigenen Organisation und ge- eigenen Wurzeln als soziale Bewegung (Kocka genüber der eigenen Klientel sicherstellen. 2003) mag da in der gegenwärtigen Lage durch- Sie müssen also Führungs- und Steuerungs- aus sympathisch sein. Widerstände dagegen und probleme nach innen bewältigen können, Anknüpfungspunkte dafür bedürfen aber in je- wofür aus der ganzen Tradition der Arbeiter- dem Fall einer gründlichen Reflexion. bewegung heraus die Stromlinienförmigkeit der Organisation als unverzichtbar erscheint. Institutionelle Arbeits- und moderne Stromlinienförmigkeit als Voraussetzung ei- Netzwerkgesellschaft gener Führungs- und Steuerungsfähigkeit Wir hätten an dieser Stelle auch einen Anknüp- wird so zu einem dritten Bedingungsbündel, fungspunkt für ganz generelle demokratietheo- das aus der Perspektive der Verbandsspitze retische Fragen, die die politische und die wis- geradezu als zwingend erscheint. senschaftliche Diskussion seit der ersten gro- Im Rahmen dieser drei Voraussetzungen ßen demokratischen Revolution der Neuzeit, der werden dann die Funktionsträger auf der opera- amerikanischen Revolution von 1776 also, tiven Ebene, von den Hauptamtlichen vor Ort durchziehen (Arendt 1974, Bauman 1999). Sie bis hin zu den Vertrauensleuten im Betrieb aus können hier nicht vertieft werden, so wenig wie der Perspektive der Organisationsspitze vor al- grundsätzliche Fragen nach der Demokratie in lem zu den ‚Sensoren‘ für die Veränderungen in den Gewerkschaften, die seit R. Michels eher- der Arbeitswelt, auf die an der Spitze letztlich nem Gesetz von der Oligarchie (Michels 1970) immer wieder kompetent reagiert werden muss. und dem roten Gewerkschaftsbuch (Enderle u.a. Natürlich ist dieses Bild vereinfachend: Haupt- 1932/1967) Praktiker und Wissenschaftler auf amtliche in den dezentralen Organisationsglie- der Linken wie auf der Rechten immer wieder derungen brauchen z.B. immer Spielräume für einmal beschäftigt haben. Hier wird aber von teilautonomes Handeln, sonst bräche die Orga- der These ausgegangen, dass die Gewerkschaf- nisation schlicht zusammen, auch fallweise ten zweifellos tragende Säulen unserer Demo- Mobilisierung im Rahmen der sprichwörtlichen, kratie sind (Markovitc 1989). Die allerdings institutionellen ‚Knopfdruckmentalität‘ der Ge- gerät im Zeichen der neoliberalen Revolution in werkschaften wäre sonst nicht möglich. Über- wachsende Beteiligungs- und Legitimationskri- haupt sind alle Akteure vor Ort mit Eigensinn sen (Bauman 1999). Es geht daher um die Fra- Pulsschlag 101

ge, wie die Gewerkschaften heute auch mit die- tatsächlich benötigen und deshalb auf Dauer sen Herausforderungen eines Epochenbruchs auch einfordern werden. Diese Frage ist span- nach dem Ende des Fordismus umgehen kön- nend und kompliziert. Sie würde grundlagen- nen angesichts derer sie Gefahr laufen selbst im theoretische Fragen der Soziologie berühren: Kernbereich ihres arbeitspolitischen Handelns von der Systemtheorie, die das Individuum als zunehmend handlungsunfähig zu werden ‚Unbestimmtheitsstelle‘ ihrer theoretischen Mo- Wir leben in Zeiten eines solchen Epochen- delle bekanntlich ausspart (Baecker 2003) über bruchs (Scholz u.a. 2004; www.forum-neue- spieltheoretische Konzepte eines erweiterten politik-der-arbeit.de), in einer Zeit, in der – folgt Rational Choice Ansatzes bis hin zu institutio- man dem Bild, dass die einschlägigen wissen- nentheoretischen Konzepten, die auf die philo- schaftlichen Beobachter ebenso wie die politi- sophische Anthropologie H. Plessners oder A. schen Protagonisten der neoliberalen Revoluti- Gehlens zurückverweisen. Ich werde diese Fra- on heute zeichnen – prägend sind (1) die Indivi- gen hier selbstredend nicht vertiefen. Aber es dualität der Einzelnen, als ‚Arbeitskraftunter- geht ganz unabhängig davon natürlich um mehr nehmer‘ die sich von der Bevormundung durch als Ideologie. den Staat ebenso wie durch gewerkschaftliche Es geht für die Gewerkschaften um die Fra- Bürokratien befreien wollen, (2) die unaus- ge der Bewältigung einer für sie dramatisch ver- weichliche Zurückdrängung der alten Instituti- änderten Situation. Angesichts des Epochen- onen der Arbeit, von denen der sozialen Siche- bruchs wird immer offensichtlicher, dass die rung über die der Mitbestimmung in der Wirt- alten Orientierungen nicht mehr tragen: Nicht schaft bis hin zu den Gewerkschaften und (3) nur wäre es in einer Lage, in der die alten Insti- der Bedeutungsgewinn von neuen vernetzten tutionen der Arbeit gleichsam flächendeckend Strukturen, in denen die einzelnen Vielen sich erodieren, ein Euphemismus, noch von Rechts- erst wirklich werden entfalten können, in denen fortschritt zu sprechen. Es scheint immer kla- sie gefordert und zu fördern sind. rer, dass die alten institutionell befestigen ‚Bas- Sicherlich steckt hierin auch viel Ideologie. tionen’ mit den bewährten Strategien und Hand- Die wird z.B. sofort dann sichtbar, wenn Grup- lungsmustern nicht mehr lange zu halten sind. pen dieser einzelnen Vielen nicht nur nach den Aus einer neoinstitutionalistischen Perspektive vorgeblich allein obwaltenden Handlungskrite- heraus betrachtet erscheint der Niedergang der rien eines homo oeconomicus agieren, sondern deutschen Gewerkschaften unausweichlich mit aller Kompetenz, die ihnen als modernen (Hassel 2003). Wissensarbeitern im Zuge der neoliberalen Re- Die Metamorphosen der sozialen Frage (Cas- volution ja tatsächlich zugewachsen ist, als neue tel 2000) und der Arbeit (Martens u.a. 2001) im individuelle zivilgesellschaftliche Subjekte (Wolf Zeichen der Herausbildung einer postindustri- 2001) damit beginnen, partiell außerhalb der al- ellen Arbeitsgesellschaft mit ihren neuen indi- ten institutionellen Strukturen arbeitspolitisch viduellen zivilgesellschaftlichen Subjekten und zu handeln (vgl. Martens 2004: 120ff). Dann die Infragestellung überkommener wirtschafts- wird nämlich immer wieder schnell der Ruf nach und sozialpolitischer Konzepte im Zeichen der der Ordnungsfunktion von Betriebsräten oder Globalisierung erzwingen eine breite neue ar- von der angeblich schon überlebten Institution beitspolitische Debatte. Der entsprechende Sach- Gewerkschaft ertönen. Es ist nun sicherlich eine verstand an der Organisationsspitze droht sonst durchaus unbeantwortete Frage, wie viel und seine Anschlussfähigkeit und Gestaltungspo- welcher Art institutionelle Sicherheiten diese tenziale im Hinblick auf – systemtheoretisch neuen individuellen gesellschaftlichen Subjekte gesprochen – immer dynamischere und turbu- 102 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

lentere Organisationsumwelten vollends zu ver- IG Metall. Und IG Bau im Mai 2004 auf dem lieren. Es ist darüber hinaus nicht nur ein All- gemeinsam mit Attac organisierten ‚Perspekti- gemeinplatz moderner Organisationssoziolo- ven-Kongress‘ in Berlin. Viele Gewerkschafter gie, sondern auch im Lichte gewerkschaftli- waren hier zugegen. Wie man erfahren konnte, cher Erfahrungen aus den vergangenen 15 Jah- waren aber auch viele skeptisch und zögerlich. ren ziemlich unstrittig, dass die entscheiden- Die Begründung der Gegenposition einer aus den Ressourcen einer flexiblen Handlungsfä- eigener Sicht deutlich sachlicheren und kon- higkeit der Organisation in den operativen Ein- struktiveren Kritik – in den jeweiligen instituti- heiten liegen (vgl. Arlt 2003) und dort, unter onellen Handlungskontexten – einer verhalte- anderem über geeignete Formen der Vernet- neren öffentlichen Distanzierung und des Ver- zung, weiter entwickelt werden müssen (Wolf zichts auf gemeinsame Aktivitäten mit neuen 2001). Damit ist zusätzlich zu der Frage nach sozialen Bewegungen konnte man etwas später tragfähigen neuen Leitorientierungen auch die in einem offenen Brief vom Vorsitzenden und Frage aufgeworfen, wie Führung in einer dann stellvertretenden Vorsitzenden der IGBCE nach- augenscheinlich sehr tiefgreifend zu verändern- lesen. Der DGB-Vorsitzende muss nun sehen, den Organisation und Institution zu denken wie er in einer absehbar weiter zugespitzten Si- und zu organisieren ist. tuation ‚den Laden weiter zusammenhält‘, um es einmal salopp zu formulieren. Mit den Dilemmata produktiv und auf Was also ist zu tun? Die Argumentation, die neue Art umgehen ich abschließend vertreten möchte, geht dahin, Gegenwärtig ist zu beobachten, dass die alten den, zweifellos nicht ideologiefreien, Main- Dilemmata nach wie vor wirksam sind. Der stream der wissenschaftlichen und politischen Anpassungsdruck auf die Gewerkschaften wird Modernisierungsdiskussion über Individualisie- sich weiter verschärfen. Zugleich schwinden ihre rung und ‚Arbeitskraftunternehmertum‘, neue Ressourcen zur Verteidigung alter institutionel- Netzwerke und die ‚Wissensgesellschaft‘, in der ler Bastionen. Allerdings wächst auch die Un- der mündige Bürger dabei ist, sich von bevor- zufriedenheit der Menschen mit der großen Po- mundenden Institutionen frei zu machen, pro- litik. Zunehmend klarer erkennbar gibt es aber duktiv zu nutzen. Dies ist aus meiner Sicht die auch keinen einfachen Weg zurück in das for- einzige Möglichkeit, die sich für die Gewerk- distische Produktionsmodell aus der Zeit vor schaften bietet, eine möglicherweise wirklich trag- dem Epochenbruch. Und dass die Gewerkschaf- fähige Balance zwischen sozialer Bewegung und ten ihrem Doppelcharakter zwischen sozialer Institution herzustellen. Dabei ginge es um eine Bewegung und Institution entgehen könnten, Balance mit Hilfe von Argumenten, die auf der kann nur aus einem verkürzten neoinstitutiona- Höhe der Zeit sind. Dies hätte den großen Vorteil listischen Blickwinkel heraus plausibel gemacht einer starken Ausgangsposition in unserer medi- werden. al vermittelten Öffentlichkeit. Meine Argumen- Angesichts der Herausforderungen der neu- tation läuft darauf hinaus, die allgemein für die en Zeit zeigen sich die Dilemmata gewerkschaft- Restrukturierung der Wirtschaft proklamierten licher Politik so z.B. darin, dass die einen unter Vorzüge vernetzter Strukturen offensiv auch für den bundesdeutschen Gewerkschaften inzwi- die Restrukturierung und zugleich Außendarstel- schen zu scharfer, wenn auch weithin ohnmäch- lung der Gewerkschaften zu nutzen. tiger, öffentlicher Kritik an der Agenda 2010 Die Gewerkschaften haben im vergangenen tendieren und verstärkt den Dialog mit neuen Jahrzehnt durchaus versucht entsprechende sozialen Bewegungen suchen, wie z.B. ver.di, Strukturen bei sich selbst im Rahmen von Mo- Pulsschlag 103

dellprojekten zu entwickeln (Martens 2004). • Und wie hätten die Gegner der Gewerkschaf- Nur sind solche Projekte eben immer Einzelfäl- ten dagestanden, hätten sie die Gewerk- le geblieben, Inseln am Rande einer immer noch schaftsvorstände dazu aufgefordert, ihre fest gefügten, durch altes institutionelles Den- Mitglieder ‚im Zaume zu halten‘. Man hätte ken geprägten Praxis. Welches Potenzial in ih- ja nur erwidern müssen, dass diese Mitglie- nen steckt, wenn sie – noch einmal auf der Höhe der als mündige Bürger und kompetente Wis- der Zeit – Teil einer grundlegenden neuen Ori- sensarbeiter sich schon in einer dem demo- entierung würden, kann man sich aber mit ein kratischen Gemeinwesen angemessenen Wei- wenig Phantasie ausmalen: se an der öffentlichen Debatte über arbeitspo- • die dezentralen Organisationsgliederungen litisch höchst brisante Fragen beteiligten. Füh- würden in ihrer relativen Autonomie gestärkt rung würde darin bestehen, solche Prozesse und sie könnten diese relative Autonomie zuzulassen, ggf. auch anzuregen und ihre Er- nur dann produktiv entfalten, wenn sie mit gebnisse – also die neuen Erfahrungen bei den Organisationsprinzipien wirklich Ernst der Organisation solcher Prozesse wie auch machten, die H. J. Arlt (2003) skizziert hat. die inhaltlichen Ergebnisse, zu denen sie füh- Dezentrale Vernetzungen würden wichtiger. ren – zusammenzufassen. • Man stelle sich etwa vor, einzelne, entspre- Derartige Schritte könnten einen wirklichen chend handlungsstarke, Verwaltungsstellen Ausbruch aus der alten Wagenburg ermögli- der IG Metall hätten in der Auseinanderset- chen. Sie hätten aber allererst Vertrauen in den zung um die Agenda 2010 auf regionaler mündigen Bürger zur Voraussetzung. Der Kern- Ebene bekannte und verfügbare Instrumen- gedanke lautet bündig formuliert: Mit ihrem te wie Zukunftswerkstätten oder Planungs- überkommenen institutionellen Denken und zellen genutzt, um Mitglieder – und vielleicht dem ihm entsprechenden Handlungsmustern sogar Nicht-Mitglieder – zur Meinungsbil- wird es den Gewerkschaften nicht gelingen, den dung in Bezug auf die Ergebnisse der Rü- widersprüchlichen Anforderungen zu genügen, rupkommission, der Vorschläge zu Hartz IV zugleich Institution und soziale Bewegung zu etc. herauszufordern – und um die Ergeb- sein. Das mag noch bis zur Blütephase des For- nisse solcher Meinungsbildung in regionale dismus im Blick auf die damals noch starke Öffentlichkeiten systematisch einzuspeisen. Kernklientel halbwegs getragen haben, wenn- • Kaum eine Organisation wäre so gut wie die gleich die ‚Knopfdruckmentalität‘ bei fallweise Gewerkschaften dazu in der Lage gewesen, notwendigen Mobilisierungsprozessen schon in solchen Prozessen das ganze Spektrum damals ihre Probleme bereitete und Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung einzubeziehen an repräsentativen Vertretungsstrukturen ein – von den Arbeitslosen und prekär Beschäf- immer wieder unzureichend gelöstes Problem tigten über ihre Kernklientel bis hin zu den blieb. Heute haben sie nur dann eine Chance modernen Wissensarbeitern. gegen den immer stärker werdenden Druck der • Kein Gewerkschaftsvorstand wäre gehindert neoliberalen Globalisierung, wenn sie dieses gewesen, zugleich auf zentraler Ebene Ge- überkommene institutionelle Denken hinter sich spräche zu führen. Die dezentralen Gliede- lassen. Das neue Leitbild der ,nachhaltig ver- rungen hätten den eigenen Argumentations- netzten Gewerkschaft‘ (Arlt 2003) muss sicher- spielraum vergrößert und zu Bewegungen lich noch weiter gefüllt werden und bei seiner von Arbeitsloseninitiativen, NGOs wie At- Konkretisierung werden Fragen auftreten, aber tac usw. wären vervielfältigte Berührungs- nur dann, wenn die Gewerkschaften sich die- flächen zustande gekommen. sem Leitbild verschreiben, kann es ihnen gelin- 104 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

gen, nicht nur vielfältige lebendige Berührungs- Dzielak, W./Hindrichs, W./Martens, H. 1979: flächen zu Bürgerbewegungen und NGOs her- Den Besitzstand Sichern! Der Tarifkonflikt 1978 zustellen, sondern zugleich selbst wieder be- in der Metallindustrie Baden-Württembergs. weglicher zu werden. Sie könnten damit begin- Frankfurt/New York: Campus. nen, neue arbeitspolitische Räume für Menschen Dzielak, W./Hindrichs, W./Martens, H./ herzustellen, die zugleich immer auch Freiheits- Stanislawski, V./Wassermann, W. 1978: Beleg- räume sind, und sie hätten damit in der Tat einen schaften und Gewerkschaft im Streik. Am Bei- Punkt gefunden, an dem sie sich ihrer alten spiel der chemischen Industrie. Frankfurt/New Wurzeln als soziale Bewegung erinnern, als eine York: Campus. soziale Bewegung, die immer allererst eine Frei- Enderle, A./Schreiner, H./Walcher, J./Weck- heitsbewegung gewesen ist. erle, E. 1967/1932: Das rote Gewerkschafts- buch. Frankfurt: Verlag neue Kritik. Dr. Helmut Martens ist wissenschaftlicher Hindrichs, W./Jürgenhake, U./Kleinschmidt, Mitarbeiter und Mitglied des Forschungsrats C./Kruse, W./Lichte, R./Martens, H., 2000: Der des Landesinstituts Sozialforschungsstelle Dort- lange Abschied vom Malocher. Sozialer Um- mund (sfs). Kontakt: [email protected] bruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jah- Anmerkung re. Essen: Klartext. 1 Eine Langfassung dieses Aufsatzes, in der Hoffmann, R. 1968: Rechtsfortschritt durch insbesondere die hier nur angerissenen institu- gewerkschaftliche Gegenmacht. Frankfurt/ tionen- und demokratietheoretischen Fragen Main: Suhrkamp. ausführlicher behandelt werden, findet sich auf Kocka, J. 2003: Gewerkschaften und Zivil- der Homepage des Forums neue Politik der gesellschaft – Dimensionen eines Konfliktver- Arbeit (www.forum-neue.-politik-der- hältnisses, Vortrag auf dem Symposium der arbeit.de). Otto-Brenner-Stiftung „Gewerkschaften in der Zivilgesellschaft“, Berlin, 25.06.2003, veröf- Literatur fentlicht in: GMH 10/11 2003, 610–616. Arendt, H. 1974: Über die Revolution. Mün- Langkau, J./Matthöfer, H./Schneider, M. chen und Zürich: Piper. 1994: SPD und Gewerkschaften, Bd. 1: Zur Arlt, H.-H. 2003: Nur ein neuer Vorsitzen- Geschichte eines Bündnisses. Bonn: Dietz. der oder eine neue IG Metall? Frankfurter Rund- Lucas, E. 1983: Vom Scheitern der deutschen schau, 08.04.2003. Arbeiterbewegung. Frankfurt/Main: Stroemfeld Baecker, D. 2003: Die Zukunft der Soziolo- Markovits, A. 1989: Die Gewerkschaften in gie. In: Forum der Deutschen Gesellschaft für Gegenwart und Zukunft: Überlegungen zu ei- Soziologie, Heft 1/2003, 66-70. ner korporatistisch orientierten Gewerkschafts- Bauman, Z. 1999: Die Krise der Politik. organisation. In: IG Metall (Hg.). Solidarität Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit. und Freiheit. Internationaler Zukunftskongress Hamburg: Hamburger Edition. 1988. Köln: Bund, 376–390. Castel. M. 2000: Die Metamorphosen der Martens, H. 2003: Aufbrüche und blockier- sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. te Reformvorhaben: Erfahrungen mit OE-Pro- Konstanz: UvK. zessen in den Gewerkschaften. Vortrag auf dem Douglas, M. 1991: Wie Institutionen den- Hattinger Forum „Organisationslernen in Ge- ken. Frankfurt/Main: Suhrkamp. werkschaften – Sind die Gewerkschaften zu- Pulsschlag 105

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UNECE-Staaten zehn Verpflichtungen formu- Zu Beginn dieses Jahrtausends sind erste liert, wie z.B. das Altern als politisches Quer- Programme entwickelt worden, die durch neue schnittsthema zu etablieren, Integration und Teil- Rollenangebote gezielt das freiwillige Engage- habe Älterer zu gewährleisten und lebenslanges ment von Älteren fördern wollen. Durch das Lernen zu fördern. In Deutschland ist mit dem Engagement Älterer sollen Impulse für die Wei- Koalitionsvertrag 2002 begonnen worden, ei- terentwicklung des im starken Wandel befin- nen Nationalen Aktionsplan zu erarbeiten, um denden Freiwilligen-Sektors gegeben werden. den aktuellen Herausforderungen angemessen Ausgangspunkt bei den drei im folgenden vor- begegnen zu können.1 Die Kernfrage ist nicht gestellten Modellen ist das Erfahrungswissen zuletzt: Wie können die Formen der sozialen der Älteren. Teilhabe und die gesellschaftlichen Beteiligungs- möglichkeiten Älterer optimiert werden und so Legacy Leadership Institutes (USA) dazu beitragen, dass a) die Potenziale und Res- Die 1999 entwickelten Legacy Leadership Ins- sourcen Älterer für gesellschaftliche Innovatio- titutes sind Kernelemente eines in der Universi- nen und Entwicklungen genutzt werden und b) ty of Maryland und dem dortigen Center on eine Denkrichtung entsteht, die das Altern als Aging2 entwickelten Programmes zur Förde- positive Entwicklung begreift? rung des bürgerschaftichen Engagements Älte- Ältere Menschen sind – im Vergleich zu frü- rer. Die Idee der Legacy Leadership Institutes heren Altengenerationen – zunehmend freiwillig ist eingebettet in weitere ‚Legacy Models‘, mit engagiert und wollen sich gesellschaftlich einbrin- denen das Center on Aging ältere Menschen für gen. Der in Deutschland 2004 zum zweiten Mal gesellschaftliches Engagement gewinnt. In 64 durchgeführte Freiwilligensurvey belegt, dass die Unterrichtsstunden wird den Teilnehmenden Älteren ab 56 Jahren hinsichtlich ihres bürger- Basiswissen in den Gebieten Public Policy, Frei- schaftlichen Engagements die größte Wachstums- williges Engagement, Leitungsrollen und Poli- gruppe darstellen: Im Vergleich zum ersten Sur- tik vermittelt (vgl. Wilson 2004). Abgerundet vey 1999 ist die Engagementquote bei den 56- bis wird die Fortbildung durch Praxisphasen. Nach 65-Jährigen um 6% und bei den 66- bis 75-Jähri- der Qualifizierung engagieren sich die soge- gen um 5% gestiegen. Insgesamt liegt der Anteil nannten ‚Leaders‘ in verschiedenen Engagement- der Engagierten bei den 56 bis 65-Jährigen bei feldern des Dritten Sektors. Sie sind eng an die mittlerweile 40%.Internationale Studien zeigen Legacy Leadership Institutes angebunden und ähnliche Ergebnisse. 47% der Freiwilligenarbeit begreifen sich eher als ‚Mitglieder‘ denn als in den Niederlanden wird von Menschen im Alter ‚Volunteers‘. Die Programm-Teilnehmer bieten von 55-80 Jahren durchgeführt. NGOs Beratung z.B. im Bereich Fundraising Neue Altengenerationen wachsen beispiels- oder Freiwilligenmanagement an. 60% der Teil- weise mit den biografischen Erfahrungen der nehmenden gehen nach dem Engagement wieder sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er einer Erwerbstätigkeit nach. Jahre heran, woraus andere Einstellungen und Erwartungen an die Nach-Erwerbsphase for- SESAM Academie (Niederlande) muliert werden. Ältere Menschen sind heute Die Niederländische Plattform für Ältere und gesünder, besser ausgebildet und meist auch Europa (NPOE) hatte sich 2001 zum Ziel ge- sozial und materiell besser gestellt als frühere setzt, für diese Gruppe ein attraktives Freiwilli- Altengenerationen. Sie verfügen über ein hohes genprogramm zu entwickeln, um ihr Wissen Maß an Ressourcen und Kompetenzen, verbun- und ihre Erfahrung dieser Menschen für den den mit einer zunehmenden Lernbereitschaft. Freiwilligensektor nutzbar zu machen (vgl. Sli- Pulsschlag 107

jkhuis/Zwart 2005). Grundlage war das US- spielsweise Vereine, Verbände und Initiativen, amerikanische Modell der Legacy Leadership initiieren Projekte und Gruppen, fördern das Institutes, das jedoch auf die niederländische bürgerschaftliche Engagement in den Kommu- Ausgangssituation hin leicht verändert wurde. nen oder engagieren sich als Moderator/innen In der SESAM Academie (SESAM = Seni- des örtlichen seniorKompetenzteams, dem lo- ors and Society Academy) werden ehemalige kalen Zusammenschluss der seniorTrainerin- Managerinnen und Manager auf akademischem nen. seniorTrainerinnen engagieren sich in al- Niveau zu ‚Advisors (=Berater/innen)‘ oder len gesellschaftlichen Bereichen: im Sozialen, ‚Coaches‘ fortgebildet. Sie können von Non- in der Bildungs- und Kulturarbeit, im Sport und Profit-Organisationen gegen eine geringe Ge- in anderen Engagementfeldern. bühr, die an die Akademie überwiesen wird, Die seniorTrainerinnen werden in ihrem angefragt werden. In einer 3-monatigen Fort- Engagement von 35 Agenturen für Bürgeren- bildung wird den Teilnehmenden an zwei Tagen gagement (Seniorenbüros, Freiwilligenagentu- pro Woche Basiswissen für die Berater- und ren und Selbsthilfekontaktstellen) unterstützt. Coachrolle vermittelt. Die Fortbildung ist kos- Derzeit engagieren sich über 700 seniorTrai- tenlos. Dafür verpflichten sich die Teilnehmen- nerinnen in über 1500 verschiedenen Projek- den zu einem bestimmten Tätigkeitsumfang nach ten. Bis zum Ende der Modellphase 2006 wer- Abschluss ihrer Qualifizierung. Allein in 2003 den über 1.000 ältere Menschen zu senior- haben 57 ältere Menschen den Kurs zum SE- Trainerinnen fortgebildet. Die Nachfrage ist SAM Advisor bzw. Coach absolviert. Die gra- höher als die Zahl der freien Weiterbildungs- duierten Engagierten unterstützen Non-Profit- plätze. Organisationen z.B. bei der Strategie-Entwick- Die Weiterbildung zum/zur seniorTrainerin lung und übernehmen als Multiplikatoren auch setzt bei den persönlichen Rollenfindungspro- Managementaufgaben für die SESAM Acade- zessen der Älteren an und vermittelt rollenspe- mie. zifische Kompetenzen. Ausgangspunkt ist das Erfahrungswissen, das ältere Menschen aus ih- Erfahrungswissen für Initiativen (EFI) rer Erwerbs- und/oder Familienphase bzw. aus (Deutschland) bisherigen ehrenamtlichen Tätigkeiten mitbrin- Das vom Bundesministerium für Familie, Seni- gen. SeniorTrainerinnen werden darin bestärkt, oren, Frauen und Jugend initiierte Modellpro- in einem selbst-reflexiven und gemeinschafts- gramm (2002-2006) verfolgt das Ziel, mittels orientierten Prozess ihre Verantwortungsrolle neuer Verantwortungsrollen für Ältere ein posi- individuell zu gestalten. Die Weiterbildung stützt tives Altersbild zu schaffen und durch das En- sich auf ein von der Fachhochschule Neubran- gagement als ‚seniorTrainerin‘ eine Kooperati- denburg entwickeltes Curriculum, dass in on zwischen erfahrenen und kompetenten Älte- jeweils dreimal drei Tagen und zwei integrier- ren und dem Dritten Sektor zu etablieren. Die ten praktischen Lernphasen die Gelegenheit er- Projektsteuerung erfolgt durch das ISAB-Insti- öffnet, auf der Basis des Erfahrungswissens tut (Köln). Wissenschaftlich begleitet wird das und der Interessen der Kursteilnehmer im loka- EFI-Programm durch einen Kooperationsver- len Umfeld konkrete Handlungsvorstellungen bund. und Verantwortungsrollen zu entwickeln. 12 überörtliche Bildungsträger bilden inter- SeniorTrainerinnen sind eingebettet in ein essierte Ältere zu seniorTrainerinnen aus.3 Als bundesweites Netzwerk sowie in örtliche se- seniorTrainerinnen übernehmen sie verantwort- niorKompetenzteams, die die lokalen Heraus- liche (Führungs-)Aufgaben: Sie beraten bei- forderungen diskutieren, sich gegenseitig un- 108 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

terstützen und gemeinsame Engagementprojek- ment Älterer geht im EFI-Programm zu einem te entwickeln. Ein internetgestütztes Diskussi- großen Teil von den örtlichen Agenturen für onsforum4 – von seniorTrainerinnen moderiert Bürgerengagement, in den USA und den Nie- – bietet zudem die Möglichkeit, sich im Diskurs derlanden jedoch von den jeweiligen stiftungs- über die Rolle der Älteren in der Gesellschaft ähnlichen Institutionen mit einem akademischen auszutauschen und neue Verantwortungsrollen Ansatz aus. Im EFI-Programm ist der Ansatz voranzubringen. eher in die Breite gehend und setzt bei der Er- Das Programm wird flankiert durch die 2004 fahrungswelt im örtlichen Kontext an. Während gestartete bundesweite Öffentlichkeitskampag- der Kontakt mit den Kooperationspartnern bzw. ne ‚Alt für jung – ein Plus für alle‘, die zum Ziel Einsatzstellen sowohl in der SESAM Acade- hat, das Bild der Älteren und die Vorstellung mie als auch bei den Legacy Leadership Institu- des Alterns durch intergenerative Projekte po- tes häufig durch die Engagierten zustande sitiv zu beeinflussen.5 Derzeit wird überlegt, kommt, werden im EFI-Programm die Einsatz- wie die Übertragung des EFI-Konzeptes in nicht felder häufig von der Agentur für Bürgerenga- am Programm beteiligte Kommunen gelingen gement vermittelt. Ein Unterschied besteht im kann. Grad der Dienstleistungsorientierung: In der SESAM Academie bieten die Engagierten ihre Internationale Engagementprogram- in einem Kontrakt festgelegten Leistungen ge- me im Vergleich gen ein kleines Entgelt an, das der SESAM Gemeinsam haben alle drei Engagementpro- Academie zufließt. Im EFI-Programm wird die gramme, dass sie Unterstützung freiwillig und unentgeltlich an- 1. auf einer chancenorientierten Altersperspek- geboten. Selbstorganisation wird im EFI-Pro- tive beruhen (Potenziale nutzen), gramm über die Etablierung lokaler seniorKom- 2. Ressourcen von Älteren für den Dritten Sek- petenzteam und über internetgestützte Aus- tor bzw. Freiwilligensektor nutzbar machen tauschforen vorangetrieben. In der SESAM wollen, Academie gibt es Alumni-Kreise, bei den Le- 3. Ältere motivieren, projektbezogen in einer gacy Leadership Institutes gibt es institutionali- Multiplikatorenrolle (‚Verantwortungsrolle‘) sierte Treffen – beide Varianten sind an die In- gesellschaftlich etwas zu bewegen. stitution gekoppelt und individualistisch orien- Die Resonanz auf die drei Programme ist äu- tiert. Kommunikatorisch werden in Deutsch- ßerst positiv. Die neuen Handlungskonzepte stel- land neue ‚Verantwortungsrollen‘ fokussiert, in len angesichts des sozialen Wandels und geän- den Niederlanden und in den USA sind es Frei- derter Wertehaltungen innerhalb der älteren Ge- willigen-Rollen mit dem Fokus auf Experten- nerationen attraktive Rollenoptionen bereit. und Erfahrungswissen. Der Fokus auf den Dritten Sektor, Partizi- pation als Leitgedanke und die Selbstorganisa- Perspektiven und Forderungen tion sind gemeinsame Eckpfeiler dieser neuen Wie können die Potenziale der Älteren für die Ausrichtung. Die Ausdifferenzierung in den Gesellschaft nutzbar gemacht werden? Welche Programmen ist jedoch verschieden. Während Rahmenbedingungen müssen geschaffen wer- das EFI-Programm sich stark auf Kommunen den, damit Partizipation in Form von freiwilli- und dort ansässige engagementfördernde Infra- gem Engagement für Ältere funktionieren strukturen stützt – also dezentral angelegt ist –, kann? Das im März 2005 veröffentlichte Grün- sind die anderen Programme zentral an eine In- buch der EU-Kommission ‚Demografischer stitution gebunden. Der Impuls für das Engage- Wandel’ will den gesellschaftlichen Heraus- Pulsschlag 109

forderungen mit Strategien begegnen, die sich Die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilha- vor allem auf vier Dimensionen beziehen: Stei- be älterer Menschen ist ein anspruchsvolles Pro- gerung der Produktivität, der Erwerbsbeteili- gramm. Die in Deutschland beteiligten Agentu- gung (z.B. durch eine Erhöhung des Renten- ren für Bürgerengagement erfüllen ihre Aufga- eintrittsalters), der Geburtenrate und der Aus- be in einer kooperativen Netzwerkstruktur ge- besserung der sozialen Sicherungssysteme. meinsam mit kommunalen Leitungsebenen, Bil- Die Frage, welchen gesellschaftlichen Beitrag dungsträgern, Non-Profit-Organisationen und die Älteren leisten können – jenseits von Er- seniorTrainerinnen. Das Resultat sind örtliche werbsleben, Familienbezug oder Pflegekon- Mikro-Modelle für die Förderung bürgerschaft- text – bleibt untergeordnet. Die im Grünbuch lichen Engagements, die – neben dem Spreng- formulierte Frage ‚Wie lassen sich im Bereich stoff, den sie liefern können – ein großes Po- der Verbände und der Sozialwirtschaft Aktivi- tenzial für die Diskussion neuer Beteiligungs- täten entwickeln, die ‚Senioren‘ eine Beschäf- formen bieten. tigung bieten?‘ ist geradezu symptomatisch. In Makro-Analysen sollten die gesellschaft- Gesellschaftliche Beteiligung älterer Menschen lichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen wird nur in den Kategorien ‚Familie‘ oder ‚Er- Ländern in Bezug zu ihrer Wechselwirkung mit werbsleben‘ gedacht, wobei es um ‚Beschäfti- engagementfördernden Programmen für Ältere gungen‘ geht und weniger um die Förderung analysiert werden. bürgerschaftlichen Engagements in zivilgesell- Ein weiterer Eckpfeiler für die Entwicklung schaftlichen Bezügen. einer individuellen Verantwortungsrolle ist die Die Erfahrungen aus den bisherigen Pro- Qualifizierung. Innovative Modelle des selbst- grammen liefern wertvolle Anhaltspunkte dafür, reflexiven und selbstorganisierten Lernens im welche Kernelemente eine europäische Förder- Team stärken die Motivation und die Kompe- strategie einbeziehen sollte: Strategien zur För- tenzen zur Übernahme gesellschaftlicher Ver- derung der Teilhabe Älterer funktionieren nur antwortung. Die Betitelung als ‚seniorTraine- durch eine Ankopplung an die engagementunter- rin‘, ‚SESAM Advisor‘ oder ‚Mitglied eines stützende Infrastruktur in der Kommune. Für die Legacy Leadership Institute‘ ist zudem ein An- engagierten Älteren hat das jeweilige Legacy gebot zur Rollen- und Identitätsfindung – so- Leadership Institute, die SESAM Academy und wohl individuell als auch kollektiv. örtliche Agentur für Bürgerengagement in Zukünftig sollten die Übergänge zwischen Deutschland die Funktion einer zentralen An- bürgerschaftlichem Engagement und Erwerbs- laufstelle. Die Forderung nach einer gut ausge- arbeit konzeptionell stärker einbezogen werden. bauten Unterstützungsstruktur, die seit Jahren Die Erfahrungen aus den USA belegen, dass von Expertinnen und Experten des bürgerschaft- viele Engagierte ihr Engagement als eine Brü- lichen Engagements immer wieder gefordert wird cke in die Erwerbsarbeit nutzen. Die Beschäfti- (vgl. Braun 2003), wird daher noch einmal in gungsquote in den USA liegt bei den 65- bis den Vordergrund gerückt: „Nur wenn die Rah- 74-Jährigen bei 18,5% gegenüber 5,6% in Eur- menbedingungen für das ehrenamtliche Engage- opa. Bürgerschaftliches Engagement wird für ment verbessert werden, können die Chancen, Ältere zu einem Vehikel für das aktive Austarie- die sich aus der demografischen Entwicklung ren von Existenzchancen und Beteiligungsmög- ergeben, nachhaltig genutzt werden“ (BAGSO lichkeiten. 2005), so die Stellungnahme der BAGSO (Bun- Die Entwicklungen in Europa zeigen, dass desarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisati- der Diskurs um die Chancen des demografi- onen) zum Nationalen Aktionsplan. schen Wandels erst am Anfang steht. Dabei ist 110 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

eine breit geführte internationale Debatte, die Bundesministerium für Familie, Senioren, über die Zuständigkeitsbereiche der jeweiligen Frauen und Jugend/TNS Infratest 2004: 2. Frei- Staaten hinausgeht, dringend erforderlich. Neue willigensurvey 2004 – Ehrenamt, Freiwilligen- Modelle für die Förderung der Verantwortungs- arbeit, Bürgerschaftliches Engagement. rollen Älterer könnten hier wichtige Impulse www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Arbeits- liefern. gruppen/Pdf-Anlagen/2.freiwilligensurvey- kurzzusammenfassung,property=pdf.pdf. Silke Brauers, Dipl.-Soziologin, wissen- Kommission der Europäischen Gemein- schaftliche Mitarbeiterin im ISAB-Institut. Kon- schaften 2005: Grünbuch ‚Angesichts des de- takt: [email protected]. mografischen Wandels – eine neue Solidarität zwischen den Generationen‘. Brüssel, 16.3.05, Anmerkungen http://www.europa.eu.int/comm/ 1 vgl. www.nationaler-aktionsplan.de employment_social/news/2005/mar/ 2 Vgl. www.hhp.umd.edu/AGING/ comm2005-94_de.pdf. about.html Slijkhuis, Ben H./Zwart, Joke 2005: New 3 Informationen zum EFI-Programm unter: Models Outside the USA. Unveröffentlichtes www.seniortrainer.de Manuskript. 4 vgl. http://forum.efi-programm.de/ Knulst, W./Van Eijck, C. 2002: Vrijwilligers 5 vgl. dazu die Kampagnen-Website: in soorten en maten II. Ontwikkelingen over de www.potenziale-des-alters.de periode 1985-2000. Tilburg, Niederlande: Uni- versität Tilburg. Literatur Wilson, Laura 2004: Lifelong Learning and BAGSO e.V. 2005: Die gesellschaftliche In- Civic Engagement Programs – Legacy Models tegration und Teilhabe älterer Menschen gewähr- of Volunteer Service. Präsentation anlässlich der leisten – Zweite Stellungnahme zur Erarbeitung Konferenz ‚Eurofestation‘ (Oktober 2004, eines Nationalen Aktionsplans zur Bewältigung Maastricht). der demografischen Herausforderungen durch die Bundesregierung (März 2005). http:// FORSCHUNGSBERICHT www.mica2002.de/fileadmin/Aktuell/ ...... 2__Stellungnahme_zum_NAP__2_.pdf. Die Evolution der Deutschen Tafeln Braun, Joachim/Burmeister, Joachim/En- Eine Studie über eine junge Nonprofit- gels, Dietrich (Hg.) 2004: seniorTrainerin: Neue Organisation Verantwortungsrollen und Engagement in Kom- munen. Bundesmodellprogramm ‚Erfahrungs- Altes Brot ist nicht hart – kein Brot, dass ist wissen für Initiativen‘ – Bericht zur ersten Pro- hart! Mit diesem alten deutschen Sprichwort grammphase. Köln/Leipzig: ISAB-Verlag. werben Tafeln in Deutschland um Spender und Braun, Joachim 2003: Engagementunterstüt- Sponsoren. Und sie haben recht: Das Brot vom zende Infrastruktur in Kommunen: eine Priori- Vortag hat keinerlei Mängel, im Gegenteil, in tät bei der Strategie zur Förderung des bürger- vielen Fällen ist dieses Brot sogar bekömmli- schaftlichen Engagements. In: Stiftung Bürger cher – aber die Kunden wollen kein Brot vom für Bürger/Akademie für Ehrenamtlichkeit Vortag – es bleibt liegen und wurde bis zur Grün- Deutschland /Olk, Thomas (Hg.) 2003: Förde- dung der Tafeln oftmals an Tiere verfüttert oder rung des bürgerschaftlichen Engagements – sogar als Müll entsorgt, und damit nicht seiner Fakten, Prioritäten, Empfehlungen. bestimmungsgemäßen Verwendung zugeführt. Pulsschlag 111

Durch die Arbeit der Tafeln hat sich dies geän- det – Tafeln, die schon in Betrieb oder konkret dert: das Brot kommt jetzt Bedürftigen zu Gute, in Gründung sind (Deutsche Tafel 2004). Die und es gibt bei vielen Tafeln sogar Wartelisten Tafeln sind damit zu einer festen Größe im deut- für Bäckereien. Wie lassen sich die Tafeln und schen ‚Wohlfahrtsmix‘ geworden. Eichhorn die Arbeit des Personals definieren? sieht Nonprofit-Organisationen in Deutschland Tafeln sind Nonprofit-Organisationen, de- momentan in einem umfassenden Transforma- ren Personal nicht marktgängige, aber voll ver- tionsprozess begriffen (Eichhorn 2000: 312). zehrfähige Lebensmittel bei Spendern kosten- Zunehmender Wettbewerb, Finanzierungs- los abholt und an Bedürftige weiterleitet (von schwierigkeiten oder einfach das Wachsen der Normann 2003: 3). Nachdem die Tafeln einige Organisation stellen Probleme dar, die durch Jahre aktiv sind, ist es das Ziel dieses Beitrags, die Transformation der Organisation oder ein- Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur bis- zelner Teilbereiche angegangen werden müs- herigen Entwicklung dieser Nonprofit-Organi- sen, um die Zukunftsfähigkeit der Organisation sationen und zur Analyse ihrer Zukunftsfähig- zu sichern. In dieser Situation befinden sich – keit vorzustellen. einige Jahre nach ihrer Gründung – auch die Der Artikel ist dazu wie folgt gegliedert: nach Tafeln in Deutschland. einer Einführung in das Thema mit einem kur- Wie gut die Tafeln auf zukünftige Aufgaben zen Überblick über die Tafelarbeit wird der vorbereitet sind, kann eine Analyse der reali- Untersuchungsansatz dieser von der Robert sierten Stufe der Evolution in den einzelnen Ta- Bosch Stiftung und dem DAAD finanziell ge- feln zeigen. Evolution ist nach Von Velsen-Zer- förderten empirischen Studie vorgestellt. Die weck eine „exogen und endogen induzierte Ver- anschließende Präsentation ausgewählter Ergeb- änderung von Nonprofit-Organisationen [...] es nisse hebt insbesondere auf die wirtschaftliche ist die Fähigkeit, Wandel aus sich selbst heraus und finanzielle Situation der Tafeln sowie auf aktiv zu generieren, um so selbstorganisierend das Führungsverhalten der Leitung und das und diskontinuierlich neue Arbeitsbedingungen Engagement des Personals ab. Den Schluss des zu schaffen“ (von Velsen-Zerweck 1998: 16). Beitrags bilden Empfehlungen zur Zukunft der Im Unterschied zur Organisationsentwicklung Tafeln. lässt sich die Organisationsevolution nicht lang- Die Idee für die Tafeln kommt aus den USA. fristig planen. Es handelt sich in der Regel viel- Dort ist 1967 die erste Tafel weltweit gegründet mehr um das Nutzen von sich plötzlich eröff- worden (St. Mary’s Food Bank 2003).1 In Eu- nenden Möglichkeiten. Die Spende eines neuen ropa folgte die erste Gründung einer vergleich- Transporters oder der Eintritt eines Freiwilli- baren Organisation 1984 in Frankreich. In gen mit umfassenden EDV Kenntnissen ermög- Deutschland ist die Tafelbewegung eine soziale lichen es der Tafel sich weiterzuentwickeln. Diese Bewegung der 1990er Jahre – die erste Tafel Neuerungen verändern die Tafel und fordern wurde 1993 in Berlin gegründet. Wie im Aus- insbesondere von der Leitung Einsatz und Kre- land, so sind auch in Deutschland die Tafeln ativität, um die Möglichkeiten optimal zu nut- durch engagierte Einzelbürger gegründet wor- zen. den. 1996 wurde in Deutschland nach dem ‚But- Vor diesem theoretischen Hintergrund hat ton-up-Prinzip‘ ein Dachverband gegründet. Im die Studie folgende Zielsetzung: Dachverband Deutsche Tafel e.V. sind fast alle 1. Die Beschreibung der bisherigen Entwick- Tafeln organisiert. Seit der Eröffnung der ers- lung der Tafeln ten deutschen Tafel hat sich ein Netz von 2. Die Ermittlung von Faktoren, die eine mittlerweile 425 Initiativen und Vereinen gebil- positive Entwicklung der Tafeln determinieren 112 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

3. Die Ableitung von Empfehlungen zu An- wicklungsphase ist weder für alle Tafeln noch satzstellen und Maßnahmen für die Steuerung für einzelne Tafeln möglich. und Verstetigung einer positiven (Weiter-)Ent- Im Kernbereich der Tafelarbeit – dem Leis- wicklung tungsprogramm – sind die Tafeln besonders weit entwickelt. In vielen Fällen ist davon aus- 1 Untersuchungsansatz zugehen, dass sie sich in diesem Segment in der Dem Evolutionsgedanken und der genannten Etablierungsphase befinden. Die Organisations- Zielsetzung folgend, knüpft das Untersuchungs- leistung besteht aus einem breiten und regelmä- konzept der Studie an einen Modellansatz der ßigen Angebot an überwiegend unverarbeiteten Evolutionsforschung an. Von Velsen-Zerweck Lebensmitteln. Zudem sind vielfach Produkte nimmt zur Analyse der Evolution von Verbän- des täglichen Bedarfs im Angebot und seltener den eine Einteilung in die vier Phasen Entste- zubereitete Speisen in Form einer Warmverpfle- hung, Entfaltung, Etablierung und Erneuerung gung. Die Tafeln erreichen täglich bis zu vor (von Velsen-Zerweck 1998: 270). Für die 500.000 Menschen, zumeist Stammkunden. Zuordnung einer Tafel zu einer Entwicklungs- Den Tafelleitern ist die konsequente Nutzung phase ist es erforderlich, die Organisationsstruk- von Führungsinstrumenten nicht so wichtig wie turen und -abläufe in den Tafeln zu kennen. die erfolgreiche Umsetzung des Leistungspro- Hierzu dient ein Strukturraster auf Basis be- gramms. Neben Ansätzen, die auf eine Veror- triebswirtschaftlicher Modelle. Das Untersu- tung in der Etablierungsphase schließen lassen, chungsprogramm bezieht sich auf die Nutzung sind viele Führungsinstrumente bislang wenig von Führungsinstrumenten, das Leistungspro- entwickelt, d. h., dass die Tafeln sich noch in gramm sowie Art und Herkunft der Ressour- der Entwicklungsphase befinden. cen. Aus Angaben zu Motivation, Arbeitssituati- Der Führungsstil der bislang überwiegend on, Arbeitszufriedenheit sowie zu allgemeinen weiblichen und lang amtierenden Tafelleiter ist persönlichen Merkmalen des Personals soll ein überwiegend kooperativ und partizipativ. Zu- Bild zu Art, Umfang und Entwicklung des per- künftig gilt es verstärkt zu delegieren und auch sönlichen Engagements in den Tafeln entstehen. Spezialisten in die Tafeln zu holen. Studiengegenstand sind alle Tafeln in Nur peripher im Interesse der Tafelleiter ist Deutschland gewesen. Um Informationen auch der Bereich der Organisationsressourcen. Die- bezogen auf die zeitliche Entwicklung zu ge- ser Bereich ist in vielen Tafeln nicht ausreichend winnen sind neben Interviews und teilnehmen- entwickelt und befindet sich somit noch in der den Beobachtungen zwei schriftliche Befragun- Entfaltungsphase. gen mit den Leitern der Tafeln und je fünf Mit- Zur Finanzierung ihrer Arbeit nutzen die arbeitern durchgeführt worden.2 Tafeln einen Ressourcenmix. Sie wenden das breit gefächerte Spektrum von Fundraising- 2 Untersuchungsergebnisse Methoden in einzelnen Bereichen jedoch nicht Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse konsequent genug an. Bislang tragen Mittel aus zur Organisationsgestaltung, zum Engagement Spenden bei allen Tafeln den größten Teil zur sowie für die Tafeltypen vorgestellt. Finanzierung der Arbeit bei. Für alle Tafeln wird sich zur Finanzierung ihrer Arbeit zukünftig die 2.1 Organisationsgestaltung Frage nach einem (symbolischen) Entgelt für Die Tafeln haben sich hinsichtlich Leitung, Leis- die abgegebenen Lebensmittel stellen. Die be- tung und Ressourcen ganz unterschiedlich ent- stehenden Sponsoringkontakte laufen zur Zu- wickelt. Eine exakte Zuordnung zu einer Ent- friedenheit der Partner. Pulsschlag 113

2.2 Engagement des Personals in ‚neuer Armut‘ leben. Zur Motivation des Per- Neben der Organisationsgestaltung ist das En- sonals wird hier stärker auf eine Anerkennung gagement des Personals von eminenter Bedeu- der Mitarbeiter geachtet, als auf eine Optimie- tung für die Zukunftsfähigkeit der Tafeln. Die rung der Arbeitssituation. Damit entwickelt sich Zufriedenheit der Mitarbeiter mit ihrem Enga- eine auch von der Enquete-Kommission ‚Zu- gement ist insgesamt sehr hoch. Es ist davon kunft des Bürgerschaftlichen Engagements‘ auszugehen, dass die Vorgehensweise der Ta- (Enquete-Kommission 2002) für notwendig felleiter den Anforderungen und Interessen der erachtete Anerkennungskultur. Das Personal ist Tafelhelfer in allen wesentlichen Punkten weit- entsprechend mit seiner Tätigkeit überdurch- gehend entgegen kommt. schnittlich zufrieden. Das Personal ist überwiegend weiblich Die Tafeln in Trägerschaft bilden mit 23% (72%) und hochengagiert (zwei von drei Frei- die zweitgrößte Gruppe. Da der Träger einen willigen arbeiten mehr als 20 Stunden im Mo- dauerhaft starken Einfluss auf alle Entschei- nat). Es handelt sich um ‚aufgeklärte Engagier- dungen seiner Tafel hat, kann diese Form der te‘: Sie tun normbefolgend Gutes, indem sie die Tafelexistenz hinderlich sein, gerade wenn sich Vernichtung von Lebensmitteln verhindern und die Tafel im Verlauf des weiteren Bestehens streben gleichzeitig folgenorientiert danach, ih- entwickeln will. Für die bestehenden Tafeln ren subjektiven Nutzen zu wahren. Diesen Nut- dieses Typs kann festgehalten werden, dass zen ziehen sie in erster Linie daraus, dass sie sie sich in vielen Bereichen in der Etablie- etwas Sinnvolles tun und das sie sehen, wo ihre rungsphase befinden. Sowohl beim Leistungs- Hilfe ankommt. programm als auch in der Organisationslei- tung ist ihr Auftritt professioneller und for- 2.3 Ergebnisse zu den drei bestehen- malisierter als der anderer Tafeln. Dagegen den Tafeltypen zeigen sich bei den Ressourcen Schwächen Unterschiede in der Entwicklung gibt es auch in in punkto Kenntnis des Etats. Die Arbeit er- den drei Tafeltypen die sich durch ihre Rechts- folgt stärker stationär und bietet dem Perso- form unterscheiden: (1) Eigenständige, ideelle, nal quasi einen ‚festen’ Arbeitsplatz. Die Ta- eingetragene, gemeinnützige/mildtätige Tafelver- felleitung setzt zur Motivation verstärkt auf eine, (2) Tafeln in Trägerschaft eines anderen Maßnahmen, welche die Attraktivität dieses eingetragenen Vereins/Verbands sowie (3) nicht Arbeitsplatzes erhöhen, beispielsweise auf rechtsfähiges Tafelprojekt. abwechselnde Einsatzgebiete. Zum stationä- Die selbständigen Tafelvereine stellen den ren Angebot passt, dass diese Tafeln ihren größten Anteil der bestehenden Tafeln. 60% der Klienten häufiger als andere Tafeln eine Warm- untersuchten Tafeln haben diese Rechtsform verpflegung anbieten. Die Leistung kommt gewählt. Diese Vereine nutzen konsequent alle hier überwiegend Menschen in ‚alter Armut‘ Vorteile ihrer Rechtsform. Diese Tafeln zeich- zu Gute. Eine erhöhte Personalfluktuation nen sich durch relativ professionelles und for- deutet darauf hin, dass der Arbeitsplatz an malisiertes Arbeiten aus. Dies gilt vor allem für sich keine Garantie für einen Verbleib des den Kernbereich der Tafelarbeit. In Punkto Res- Personals ist. Insgesamt sind die Tafelhelfer sourcen haben sie einen besseren Überblick als in diesen Tafeln geringfügig unzufriedener als die anderen Tafeln. Die selbständigen Tafeln in den anderen Tafeln. Zusammenfassend zeigt arbeiten sowohl aufsuchend, d.h. sie fahren zu sich tendenziell eine Nähe zu den Strukturen den Klienten, als auch stationär über Tafellä- und Arbeitsweisen der Träger mit all ihren den, und sie haben überwiegend Klienten, die Vor- und Nachteilen. 114 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Die untersuchten Tafelprojekte sind unab- gen. Fordern im Sinne von ‚job enrichment‘, hängig, arbeiten aber oft eng mit Kirchenge- ‚job enlargement‘ oder ‚job rotation‘; fördern meinden oder anderen Organisationen zusam- durch Qualifizierung und Weiterbildung; An- men, so dass sie deren Infrastruktur nutzen erkennung durch persönliche Ansprache, Lob können, ohne formal Teil eines Trägers zu sein. und sichtbare Auszeichnungen. Fordern und Dieser Tafeltyp ist mit 17% am geringsten ver- Fördern setzen dabei eine genaue Kenntnis der breitet. In ihrer täglichen Arbeit zeigen sich Qualifikation und der Möglichkeiten der Hel- vielfach Parallelen zur den selbständigen Ta- fer voraus. felvereinen. Dabei ist der Grad der Professio- Für die positive Weiterentwicklung der Ta- nalität und Formalisierung insgesamt etwas feln lassen sich folgende Empfehlungen geben: geringer als in den anderen Tafeln. Die Leiter Die Tafelleiter sollten sich stärker aus dem der Tafelprojekte legen großen Wert auf Unab- operativen Geschäft zurückziehen und den hängigkeit und lassen auch ihrem Personal Schwerpunkt ihrer Entscheidungen auf das stra- entsprechende Freiräume. Insgesamt steht in tegische Geschäft richten. Fest angestelltes Per- den Tafelprojekten und den selbständigen Ta- sonal könnte dringend nötige Konstanz in die felvereinen der Mensch in Gestalt der Klien- Arbeitsabläufe bringen. Zentrale Positionen soll- ten und Mitarbeiter stärker im Vordergrund. ten daher mit (unbefristet) angestellten Kräften Dies ist eine Erklärung für die hohe Zufrie- besetzt werden. Kooperationen und Fusionen denheit des Personals. insbesondere auf Landkreisebene oder in Bal- lungsräumen könnten schlagkräftigere Tafeln 3 Fazit und Empfehlungen hervorbringen. Die Tafeln sind erfolgreiche innovative Organi- Das Leistungsangebot der Tafeln sollte mo- sationen. Die Studie hat gezeigt, dass sie sehr difiziert werden. Es ist zu überdenken, inwie- gut zukunftsfähig sind. weit jede Tafel alle Aktivitäten der Leistungser- Die Evolution ist nicht gleichmäßig fort- stellung und -verwertung selbst ausüben muss: geschritten. Weder gleich alte noch gleicharti- Modelle, bei denen Tafeln für andere die Lage- ge Tafeln haben die gleiche Evolutionsstufe rung von Lebensmitteln, Transportleistungen erreicht. Während das Dienstleistungsange- oder die Zubereitung von Warmverpflegung bot am weitesten entwickelt ist, sind übernehmen, könnten für alle Beteiligten Vor- insbesondere bei der Nutzung der Führungs- teile bringen. Tafeln könnten darüber hinaus in instrumente und der Ressourcennutzung noch Eigenregie oder in Kooperation mit anderen Defizite feststellbar. Nonprofit oder Forprofit-Organisationen Kur- Die Untersuchung zeigt, dass Kommuni- se zur Qualifizierung und Weiterbildung ihrer kation die Existenz der Tafeln langfristig si- Klienten anbieten. Hier sind insbesondere Koch- cherstellen kann. Die Tafelhelfer müssen im kurse aber auch Kurse in Haushaltsführung, Rahmen der externen Kommunikation noch Haushaltsbudget oder Kindererziehung zu nen- stärker als bisher mit Menschen ins Gespräch nen (von Normann/Kutsch 2004: 78). Die Ta- kommen, um Geld, Spezialisten und Lebens- feln würden damit in die Erneuerungsphase ein- mittel zu gewinnen. Intern, aber auch zwischen treten, da sie ihr Leistungsprogramm neu aus- dem Bundesverband und den lokalen Tafeln richten. Ferner sollten Lebensmittel regelmäßig hat die Kommunikation vorrangig das Ziel, das von Privatpersonen und von Herstellern akqui- Personal – einschließlich der Tafelleiter – zu riert werden. motivieren. Dies kann konkret über einen Mix Die Klienten werden bislang zu selten zur aus Fordern, Fördern und Anerkennen erfol- Finanzierung der Tafelarbeit herangezogen. Ta- Pulsschlag 115

feln, die ein Entgelt von maximal zwei Euro pro Tafelhelfern an den schriftlichen Befragungen Lebensmittelabgabe erheben, decken auf diese beteiligt. Die Rücklaufquoten von 56% bzw. Weise rund ein Drittel ihres Etats. Freiwilliges 49% belegen das hohe Interesse der Tafelleiter Engagement bildet das Rückgrat aller Tafeln. an der Studie. Die Auswertung der Daten er- Die Idee wird auch zukünftig Menschen zu- folgte über Faktoren- und Clusteranalysen, sammen bringen. Flache Hierarchien können Kreuztabellen, Lageparameter und Häufigkeits- ebenso wie regelmäßige Mitarbeiterbesprechun- verteilungen. Die Studie ist nicht repräsentativ gen und Einzel-Personalgespräche für einen angelegt. hervorragenden Informationsfluss und ausrei- chende Möglichkeiten zur Partizipation in den Literatur Tafeln sorgen. Die Tafelleiter müssen auch zu- Deutsche Tafel e.V. 2004: Pressemitteilung künftig darauf achten, dass ihre Mitarbeiter den vom 14.12.2004, www.tafel.de. ihnen wichtigen individuellen Nutzen aus ihrer Eichhorn, P. 2000: Transformationsprozes- Tätigkeit ziehen können. se im NPO-Bereich. In: Schauer, R./Blümle, Die Tafeln sind ein eindrucksvolles Beispiel E./Witt, D./Anheier, H. (Hg.): Nonprofit-Or- für den Erfolg einer jungen Organisation, die ganisationen im Wandel: Herausforderungen, im Nonprofit-Sektor eine innovative soziale gesellschaftliche Verantwortung, Perspektiven. Dienstleistung anbietet. Die Umsetzung der aus- Linz: Trauner, 307-314. gesprochenen Empfehlungen kann dazu beitra- Enquete-Kommission Zukunft des Bürger- gen, dass die Tafeln auch zukünftig Teil des schaftlichen Engagements 2002: Bürgerschaft- ,Wohlfahrtsmixes‘ sind. liches Engagement: auf dem Weg in eine zu- Die Tafeln sind in der bisherigen Form für kunftsfähige Bürgergesellschaft. Bericht der bedürftige Menschen eine wirkliche Hilfe. So Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger- zeigt gerade die hohe Zahl von ,Stammkun- schaftlichen Engagements“. Deutscher Bundes- den‘, dass die Arbeit der vielen Helferinnen tag, 14. Wahlperiode, Bundestagsdrucksache 14/ und Helfer dringend gebraucht wird. Und die 8900. Berlin: Deutscher Bundestag. zufriedenen Aktiven wollen ihre Arbeit fort- St. Mary’s Food Bank 2003: Welcome to St. setzen bis wenigstens ein Grund, besser noch Mary’s Food Bank, http://www.smfb.org. Stand: beide Gründe für ihr Engagement, nämlich 03.01.2003. Armut und Lebensmittelüberschüsse, nicht von Normann, K. 2003: Evolution der Deut- mehr bestehen. schen Tafeln. Dissertation. Bad Neuenahr: Weh- le. Dr. Konstantin von Normann ist wissen- von Normann, K./Kutsch, T. 2004: Verände- schaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Haus- rung des Ernährungsverhaltens Bedürftiger haltswissenschaft und ihre Didaktik am Institut durch Angebote von Nonprofit Organisationen. für Ökonomische Bildung der Universität Eine international vergleichende Studie. In: Pro- Münster. Kontakt: [email protected] ceedings of the German Nutrition Society. 41. muenster.de Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Volume 6. Bonn: Anmerkungen DGE. 1 In den USA werden Tafeln ‚Food Bank‘ von Velsen-Zerweck, B. 1998: Dynamisches oder ‚Food Rescue Organization‘ genannt. Verbandsmanagement. Phasen- und krisenge- 2 In den Jahren 2000 und 2001 haben sich rechte Führung von Verbänden. Dissertation. 133, respektive 129 Tafeln mit zusammen 818 Wiesbaden: Gabler. 116 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

FORSCHUNGSBERICHT lich in der Lage sind Protest zu mobilisieren ...... (1). Zum anderen wie breit dieser Protest ge- Protest und Vernetzung am Beispiel streut werden kann (2). Findet innerhalb der der ‚Initiative Berliner Sozialforum’ Sozialforen eine Vernetzung von heterogenen AkteurInnen statt, die es erlaubt Protestgegen- In Genua protestieren im Juli 2001 tausende stände in andere Gruppen zu transportieren? Menschen gegen die Politik der G8 Länder. Oder ist das Sozialforum kein Raum der gegen- Organisiert wurde dieser Protest maßgeblich von seitigen Vernetzung, sondern ‚lediglich‘ ein einem lokalen Netzwerk bestehend aus Kirchen, weiterer Akteur neben anderen Gruppen? Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und ei- Mit Blick auf die Initiative Berliner Sozial- nem breiten Spektrum an ‚linken Gruppen‘. forum (IBSF) als Beispiel eines lokalen Sozial- Dieses Netzwerk, welches heute in diesem Maß forums, soll zunächst die Bedeutung von Ver- nicht mehr besteht, nannte sich Sozialforum. netzung für die Mobilisierung von Protest be- Geprägt von den Erfahrungen in Genua trugen trachtet werden. Daran anschließend wird in die AktivistInnen diese Idee nach Tübingen, wo Idee des Sozialforums als Ort der Vernetzung sich im Februar 2002 innerhalb kurzer Zeit ein eingeführt und überprüft, ob das Sozialforum ähnliches Netzwerk gründete: das Tübinger dem Anspruch eines Raumes für Vernetzung Sozialforum. Es ist das erste lokale Sozialfo- gerecht wird. Schließlich soll die Qualität der rum in Deutschland. Organisiert wird ein gro- Vernetzung an der Fähigkeit der IBSF (als Netz- ßer Protestzug für den 1. Mai 2002, dem Tau- werk) gemessen werden Protestgegenstände in sende folgen. Ein Jahr später wird die Idee in andere Gruppen zu vermitteln. Berlin aufgegriffen. Auch hier werden soziale und gesellschaftliche Missstände thematisiert Protest durch Vernetzung? und zu Gehör gebracht. Am 1. November 2003 Es wird für die Entstehung von Protest voraus- wird zusammen mit Gewerkschaften und ande- gesetzt, dass Menschen die in soziale Netzwer- ren ‚linken Gruppen‘ zu einer Großdemonstra- ke integriert sind, stärker zum Protest angeregt tion gegen den ‚Sozialkahlschlag der Bundes- werden als jene die es nicht sind. Dies legen regierung‘ aufgerufen. 100.000 Menschen fol- auch die Forschungsarbeiten von Della Porta gen dem Aufruf. (1999) nahe. „People involved in movements Aus diesen Beispielen ließe sich allzu leicht have demonstrated extremely high levels of in- die Schlussfolgerung ziehen lokale Netzwerke, tegration in social networks of various types“ wie die Sozialforen, seien außerordentlich gut (Della Porta, 1999: 112). Aber, aus welchem geeignet Menschen für Proteste zu mobilisieren Grund benötigen Menschen Vernetzung? Wer- um soziale und gesellschaftliche Missstände den sie sich nicht von selbst in Bewegung set- bekannt zu machen und zu verändern. Ist dem zen, sobald sie das Gefühl haben, sie müssten wirklich so? Verkannt werden dabei die vielsei- etwas verändern? tigen Probleme, denen ein wenig institutionali- Soziale Netzwerke sind Kommunikations- siertes und heterogenes Netzwerk gegenüber strukturen zwischen Menschen. Fehlen diese steht. Dennoch lässt sich vermuten, dass die Kanäle nehmen Menschen ihre individuelle Si- Vernetzung von sozialen und politischen Ak- tuation als Einzelschicksal wahr; sie sind sich teurInnen eine stärkere Protestmobilisierung der gemeinsamen Interessen nicht bewusst. Sie nach sich zieht. So stellen sich bezüglich der leben isoliert von einander und wissen nicht Sozialforen zwei zentrale Frage. Zum einen ob von ihrem gemeinsamen Schicksal. Auf diesen die Sozialforen als lokale Netzwerke tatsäch- Punkt hat im Übrigen auch Marx hingewiesen, Pulsschlag 117

wenn er von der fehlenden Verknüpfung der alforen geäußert. Auf europäischer Ebene ver- Parzellenbauern im 19. Jahrhundert spricht. Ob- sammelten sich die GlobalisierungskritikerIn- gleich Millionen Familien (von Parzellenbau- nen zum ersten Mal, im November 2002, in ern) dieselbe Lebensweise verfolgen und ge- Florenz zum European Social Forum (ESF). meinsame Interessen haben, bilden sie auf Grund Dem vorausgegangen war die Gründung eines der fehlenden Vernetzung und der fehlenden lokalen Sozialforums in Genua. Seit dem ver- Organisationsstruktur keine politische Kraft breiten sich Sozialforen in allen Größenordnun- (Marx 1958: 309). Hier zeigen sich durchaus gen auf der ganzen Welt. Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft. Die In Berlin kam es im März 2003, drei Monate Soziale Basis für breiten gesellschaftsverändern- nach dem ESF in Florenz, zur Gründung einer den Protest kann aufgrund fehlender Netzwer- Initiative Berliner Sozialforum (IBSF). Die Idee ke nur schwer erreicht werden. Sind die sozia- wurde somit aus Florenz und von der internati- len Beziehungen untereinander fragmentiert, so onalen Sozialforenbewegung nach Berlin ge- fehlt der Bewegung die soziale Basis. Daraus tragen. In Berlin fiel das Konzept auf einen ergibt sich eine weniger enge Verknüpfung und fruchtbaren Boden. Die ‚Linke‘ fühlte sich frag- Zusammenarbeit. Mit anderen Worten ergibt sich mentiert und in ihren Strukturen verfangen und weniger Protest. Denn die Mobilisierung zum suchte nach neuen Möglichkeiten sich zu öff- Protest ist eben gerade „der Prozess, durch den nen, ohne dabei die eigene politische Identität latente Energie für kollektives Handeln verfüg- zu verlieren. Die als offen und zugleich verbin- bar gemacht wird“ (Raschke 1985: 189). So dend empfundene Organisationsform des So- stellt sich die Frage, wo eine solche Vernetzung cial Forum inspirierte die von internen Streitig- marginalisierter Menschen aufgebaut werden keiten ermüdete ‚Berliner Linke‘ einen neuen könnte? Dies führt uns zurück zum Beispiel der Versuch der Vernetzung zu probieren. Die Hoff- Initiative Berliner Sozialforum (IBSF). nung auf eine engere Zusammenarbeit mit brei- ter Wirkung war groß. Die Idee des Sozialforums Die Initiative Berliner Sozialforum (IBSF) ist Ein proteststarkes Netzwerk? der Versuch einer Vernetzung von AktivistIn- Und in der Tat entstand ein proteststarkes Netz- nen und Institutionen auf der einen Seite, aber werk. Im Sozialforum kommen regelmäßig auch von Betroffenen der sozialen Degradie- Menschen zusammen, tauschen sich aus, kom- rung auf der anderen Seite. Hier sollen sich munizieren miteinander und planen gemeinsa- Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen me Aktivitäten. Die beteiligten Akteure stehen treffen um Informationen weiter zu geben oder miteinander in Beziehung und sind nicht gemeinsam an konkreten Projekten zu arbeiten. voneinander isoliert, potenziell also für Protes- Die Idee des Sozialforums ist die Idee des Offe- te mobilisierbar. Die Beteiligten sind sogar ex- nen Raumes1, in dem kollektives Handeln sei- trem protestempfänglich. Viele unter ihnen sind nen Ausgang nimmt. ‚Berufspolitiker‘ oder zumindest aus Überzeu- Entstanden war das Konzept des Social Fo- gung regelmäßig an politischen Veranstaltun- rum im Jahr 2001 als sich Globalisierungskriti- gen beteiligt bzw. organisieren diese selbst. Von kerInnen in Reaktion auf das Weltwirtschafts- einer gewissen Routine im Umgang mit Protes- forum in Davos zu einer Gegenveranstaltung in ten kann ausgegangen werden. Für viele im So- Porto Alegre trafen, dem World Social Forum zialforum ist die Politik eine Lebensaufgabe ge- (WSF). Schon während des ersten WSF wurde worden. Darüber hinaus verfügen die Beteilig- der Wunsch nach lokalen und regionalen Sozi- ten über einen hohen Bildungsstand. Viele sind, 118 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

wenn nicht sogar in akademischen Berufen tä- Zwei wichtige Punkte sprechen dafür. Zum tig, zumindest universitär ausgebildet worden. eine ist der gesellschaftliche Rahmen in dem Zusammengefasst lässt sich schlussfolgern, das Sozialforum agiert, allgemein akzeptiert. Die dass es sich bei der IBSF tatsächlich um ein sozialen Themen (Mobilität, Arbeit, Ausgren- potenziell proteststarkes Netzwerk handelt. Dies zung etc.) mit denen die IBSF an die Öffent- belegen auch die durchgeführten Protestaktio- lichkeit tritt werden als wichtig wahrgenommen nen. So wurden, zwischen März 2003 und Au- und auch die relativ unkonventionellen Protest- gust 2004, dreizehn größere Veranstaltungen, formen (Besetzungen, Blockaden, Schwarzfah- Aktionen des Zivilen Ungehorsams und De- ren etc.) gelten als ausgesprochen kreativ und monstrationen von der IBSF organisiert oder witzig. von Beteiligten mitgetragen. Die erste Frage, Zum anderen bietet das Sozialforum gute die zu Beginn aufgeworfen wurde, kann dem- Entstehungsbedingungen für kleine Subgrup- nach bejaht werden. pen, so genannte Generierungsnetzwerke, die Dennoch kann an dieser Stelle nicht darauf eine entscheidende Vorrausetzung für die Ent- geschlossen werden, dass die IBSF eine stehung von Protest sind. Nach Ohlemacher besonders breite Protestmobilisierung erzielen (1992) entwickelt sich Protest zunächst in ho- kann. Die Zahl der an den Protestaktionen be- mogenen Kleingruppen anhand eines konkre- teiligten Menschen schwankt erheblich. Zu ei- ten Problems und wird erst später in ein hetero- ner Demonstration, gegen die Sozialpolitik der genes Netzwerk aus verschiedenen AkteurIn- SPD, kamen im Juni 2003 ca. 1500 Menschen, nen übertragen. Mit den Arbeitsgruppen, die während für eine Blockade einer Straßenbahn das zentrale monatliche Plenum des Sozialfo- ein Jahr darauf lediglich 40 Leute erschienen. rums inhaltlich ergänzen, existiert ein kontinu- Es stellt sich die Frage, warum die Protestmo- ierlicher arbeitender Stamm solcher homogener bilisierung derart großen Schwankungen unter- Subgruppen. Dort entstehen die Impulse für liegt. Lässt sich der im Sozialforum generierte Protestaktivitäten. Protest überhaupt in andere, assoziierte Netz- Mehrere Tatsachen lassen jedoch Zweifel werke streuen? daran, ob die IBSF Protestgegenstände in ein breites Spektrum von AkteurInnen weiterver- Eine breite Vernetzung? mittelt werden kann. Die Menschen, die im So- Die Idee des offenen Raumes beinhaltet, wie zialforum zusammen kommen, sind zu wenige weiter oben erwähnt wurde, die Verknüpfung und von ihrer politischen Überzeugung zu über- von Organisationen, Gruppen und Einzelper- einstimmend. Wurde die Auftaktveranstaltung sonen. Erst durch den gemeinsamen Austausch der IBSF noch von 60-70 Leuten besucht, sank untereinander kann eine breite soziale Basis für die Zahl der Beteiligten mit Ausnahme einiger die Mobilisierung von Protest erreicht werden. außergewöhnlicher Ereignisse auf heute durch- Die Qualität der Vernetzung soll gemessen wer- schnittlich 25 bis 40 Aktive. Ob damit das Po- den an der Fähigkeit der IBSF Protestgegen- tenzial ausgeschöpft wird ist fraglich. Und auch stände in andere Gruppen zu vermitteln. Kann die Zusammensetzung der TeilnehmerInnen hat also ein konkretes soziales Problem, in dem es sich über mehrere Phasen hinweg tendenziell im Sozialforum thematisiert wird, eine breite homogenisiert. In der Anfangsphase der IBSF Wirkung in Berlin erzeugen? Führt konkret ge- beteiligte sich eine Vielzahl von sozialen und sprochen die Vernetzung sozialer und politischer politischen Gruppen mit teils konträren Ansich- Akteure in der IBSF zu einer breiteren Protest- ten.2 In der weiteren Entwicklung zeichnete sich aktivität? eine zunehmende Homogenisierung hin zu ei- Pulsschlag 119

nem autonomen und linksradikalen Politikver- Die IBSF hat ihr selbst gestecktes Ziel, aus ständnis ab. Dennoch erlebt die IBSF immer der Links-Autonomen/ Links-Radikalen Sze- wieder Phasen, in denen das Spektrum sich er- ne heraus zu treten und den Kontakt mit den heblich erweiterte. Inzwischen ist das Sozialfo- Betroffenen herzustellen, nicht erreichen kön- rum zu homogen um über das eigene Milieu nen. Die Beobachtung der IBSF zeigt auch, hinweg Menschen aus anderen sozialen Schich- dass die Rückkoppelung der anwesenden ten zu erreichen. Gruppen und Organisationen mit ihrem Mili- Ein weiteres entscheidendes Hemmnis ist der eu nur unregelmäßig funktioniert und unvoll- schwierige Zugang zum Sozialforum. Ausge- ständig ist. Das Entscheidende, nämlich die hend von ‚Autonomen‘ Überzeugungen der Ba- Bündelung von Aktivitäten, hat noch nicht sisdemokratie und des Antiinstitutionalismus, stattgefunden. Einen wirklichen Austausch wurde stets darauf geachtet, die Organisations- von Informationen zwischen den Netzwerken strukturen nicht zu sehr zu verfestigen. Dadurch innerhalb der IBSF – der eine Vorstufe für die fehlt der IBSF der Grad der Institutionalisie- Mobilisierung sein könnte – gibt es nicht. rung, der es für andere Gruppen als Raum für Somit fehlt einerseits ein heterogenes Gefü- Vernetzungsaktivitäten interessant machen wür- ge, welches Protest weitervermitteln könnte, de. Es gibt weder einen eigen Raum, in dem andererseits ist die Rückkoppelung unter den sich die Beteiligten und Interessenten regelmä- beteiligten Netzwerken noch unvollständig. ßig und ungezwungen treffen könnten, noch Es mangelt damit an einer effektiven Vermitt- ausreichend Informationen über die IBSF (Fly- lung von Homogenität und Heterogenität. Die er, Protokolle, Selbstdarstellung), geschweige Verbindungen in die Netzwerke der Betroffe- denn ein eigenes Büro als Kontaktadresse und nen konnten bisher nur unzureichend herge- Anlaufstelle. Daraus folgt eine gewisse Un- stellt werden. durchsichtigkeit der Organisationsstruktur, die wiederum hemmend auf die Attraktivität der Ein andauernder Prozess IBSF wirkt. Wie ist die Initiative Berliner Sozialforum nun Das wesentliche Problem für die Übertra- zu bewerten? Fest steht, es handelt sich um ein gung des Protestes in andere Netzwerke und proteststarkes Netzwerk mit sozialkritischem nach Außen ist die fehlende Vermittlung von und gesellschaftsveränderndem Anspruch. Die Homogenität und Heterogenität. Der im Sozial- Wirkung des Sozialforums in Berlin ist aller- forum generierte Protest erreicht Menschen au- dings zu gering, als dass von einem Massen- ßerhalb dieses homogenen Netzwerkes nur sehr protest – ausgehend vom Sozialforum – gespro- unzureichend. Zu wenige Gruppen nehmen am chen werden könnte. Verglichen mit den Sozial- Sozialforum teil und noch weniger tragen die foren auf internationaler und regionaler Ebene, diskutierten Ideen und Informationen in ihre hat die IBSF kaum Wirkungen auf die wesent- Herkunftsnetzwerke zurück. Damit erreicht das lichen politischen Akteure in Berlin. Wie eine Sozialforum lediglich Menschen, die direkt an Umfrage auf einer Demonstration im August den Veranstaltungen des IBSF teilnehmen. So- 2004 ergab, ist der Bekanntheitsgrad der IBSF mit ist die Weitervermittlung des generierten über die ‚Szene‘ hinaus verschwindend gering. Protestes in andere Netzwerke der eigentliche Eine Massenmobilisierung der sozialen Basis Mangel der IBSF und dies aus unterschiedli- findet nicht statt und auch breite soziale und chen Gründen. gesellschaftliche Schichten, wie beispielsweise Der erste, zuvor schon erwähnt, ist die feh- in den italienischen Sozialforen, können nicht lende Heterogenität der beteiligten Menschen. angesprochen werden. Die direkte Wirkung des 120 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Sozialforums beschränkt sich auf kleine Aktio- Sozialforen ist die Wirkung unmittelbar. Ob die- nen und Veranstaltungen zu denen regelmäßig se Organisationsform dem Zeitgeist entspricht ein Netzwerk aus 30-40 Personen sowie ein wird sich zeigen. paar assoziierte Gruppen mobilisiert werden können. Marius Haberland studiert am Otto-Suhr- Dennoch übt die Idee des Social Forums Institut (FU Berlin) Politikwissenschaft und weiterhin eine gewisse Attraktivität auf soziale begleitete die IBSF über 10 Monate hinweg. und politische Gruppen in Berlin aus. An den Die vollständige Arbeit kann unter Plena der IBSF nahmen zu jeder Zeit unter- www.sozialforum-berlin.de herunter geladen schiedliche Netzwerke teil; in manchen Phasen werden. mehr und in anderen weniger. Die zum Teil sehr unterschiedlichen Weltanschauungen wurden Anmerkungen zurückgestellt und die Gemeinsamkeiten betont. 1 Diese Idee ist nicht unumstritten. Viele Dies könnte auch in Zukunft der tragende Pfei- AktivistInnen wünschen sich im Gegensatz zum ler von lokalen Protestaktivitäten sein. In Zeiten Offenen Raum ein schlagfertiges Netzwerk, der zunehmenden Verschärfung gesellschaftli- welches Aktionen beschließt und als starker cher Desintegration bei gleichzeitiger Atomisie- Akteur gegenüber der institutionalisierten Macht rung der betroffenen Menschen wird es notwe- (Weltbank, WTO, G8 etc.) auftritt. nig sein, die ideologischen Mauern fallen zu 2 Unter anderem Repräsentanten der Grünen lassen um gemeinsam gegen Ausgrenzung und und der PDS, linke Gewerkschaftsvertreter, Unterdrückung vorzugehen. Die Idee der ba- Funktionäre von GEW und Ver.Di, Leute aus sisdemokratischen Selbstorganisation in sozia- der Kirche und aus Frauenprojekten, Trotzkis- len Foren kann die Verbindung herstellen: ten sowie Autonome und linksradikale Grup- einerseits zwischen den unterschiedlichen pen um nur einige zu nennen. Schichten der Bevölkerung und anderseits zwi- schen bestehenden Netzwerken und der sozia- Literatur len Basis. Della Porta, Donatella/Diani, Marion 1999: Die großen Weltsozialforen haben vorge- Social Movements: An Introduction. Oxford: macht wie sich die entmündigten Menschen Blackwell. gegen die institutionelle Willkür von Wirtschaft Marx, Karl 1958: Der achtzehnte Brumaire und Politik zu Wehr setzen können. Tausende des Louis Bonaparte. In: Marx, Karl/Engels, beteiligten sich in Porto Alegre an Diskussio- Friedrich. Ausgewählte Schriften in zwei Bän- nen über eine andere Welt. Leider können sich den. Berlin: Dietz, 222-318. auch die Aktivisten von Porto Alegre nicht auf Ohlemacher, Thomas 1991: Persönliche eine große Soziale Basis stützen. Das Kern- Netzwerke und die Mobilisierung politischen stück der Veränderung liegt in den lokalen Netz- Protests. Berlin: WZB. werken verborgen. Hier gibt es keine Reprä- Raschke, Joachim 1985: Soziale Bewegun- sentation und keine Funktionäre, in den lokalen gen. Frankfurt/New York: Campus. Treibgut 121

Atmosphären der Demokratie Bundesverbandes 99 Euro. ISBN 3-8305-0607- Die Ausstellung ‚making things public: atmos- 4. phären der demokratie’ in Karlsruhe versucht, Kontakt: www.stiftungen.org/verlag/index.html. sich auf künstlerischer Ebene dem ‚Phantom Öffentlichkeit‘ zu nähern und eine Neukonzep- Konferenz tion des Zusammenspiels von Kunst, Politik Vom 31.08. bis 01.09.2005 veranstalten das und Wissenschaft zu schaffen. Zu sehen ist die National Council for Voluntary Organisations Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medi- (NCVO) und das Voluntary Sector Studies Net- entechnologie (ZKM) bis Anfang August 2005. work (VSSN) an der Universität Warwick, Groß- Die Website bietet Informationen zu Öffnungs- britannien, ihre elfte Konferenz ‚Researching zeiten, Führungen und den Einzelthemen der the Voluntary Sector‘. Die Konferenz bietet For- Ausstellung. schern und Praktikern ein Forum, neue For- Kontakt: http://makingthingspublic.zkm.de/fa/ schungsergebnisse zu diskutieren und neue Fra- layout/DingPolitikHome_de.htm. gestellungen zu identifizieren. Für Nachwuchs- wissenschaftler wird eine spezielle Veranstal- Neue Stiftungszeitschrift tung in Zusammenarbeit mit dem Institute for Mit dem Schwerpunktthema ‚Wer kriegt was? Volunteering Research (IVR) angeboten. Die Zukunft der Gerechtigkeit‘ startet die neue Kontakt: eMail: [email protected], Zeitschrift ‚Böll.Thema‘ der Heinrich-Böll-Stif- www.ncvo-vol.org.uk/asp/search/ncvo/ tung. Die erste Ausgabe ist mit namhaften Au- main.aspx?siteID=1. torInnen besetzt (u.a. Heinz Bude, Claus Offe, Marita Koch-Weser, Warnfried Dettling) und Demokratiepädagogik begibt sich auf die Suche nach einem zukunfts- In Magdeburg ist die ‚Deutsche Gesellschaft fähigen Konzept sozialer Gerechtigkeit. Die Zeit- für Demokratiepädagogik‘ (DeGeDe) gegrün- schrift wird dreimal im Jahr erscheinen und det worden. Sie setzt sich für eine demokrati- kostet als Printausgabe 4 Euro. Weitere Infor- sche Alltagskultur und die frühzeitige Förde- mationen und kostenloser Download der ers- rung demokratischer Werte in der Erziehung ein. ten Ausgabe unter www.boell.de/thema. Das ‚Magdeburger Manifest‘ kann im Internet unter www.degede.de/pdf/magdeb_manif.pdf Stiftungsverzeichnis heruntergeladen werden. Neu erschienen ist das ‚Verzeichnis Deutscher Kontakt: www.degede.de. Stiftungen 2005‘, herausgegeben vom Bundes- verband Deutscher Stiftungen. Auf rund 2000 Materialien Seiten werden insgesamt 10964 Stiftungen vor- Zwölf Broschüren zur besseren Organisation gestellt und Adressen und Ansprechpartner be- von Umweltgruppen und mit Tipps zur Finan- nannt. Darüber hinaus finden Fördersuchende zierung, Mitarbeiterbetreuung in Vereinen, Pro- auch Hinweise für ihre Förderanträge. Weiterhin jekten und Gruppen bietet der ‚Verein für öko- enthält das Verzeichnis neben einer umfangrei- logische Kommunikation‘ (oekom) unter dem chen Einführung aktuelles Datenmaterial und Namen ‚aktiv.um‘ an. Ein kostenloser Down- Statistiken über das Stiftungswesen. Das Ver- load steht im Internet zur Verfügung. zeichnis kostet 129 Euro, für Mitglieder des Kontakt: www.aktivum-online.de 122 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Fair Future Geschichte und Menschenrechte Der Kampf um die knappe Natur wird die Kri- Die Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und sen des 21. Jahrhunderts mitbestimmen. Das ist Zukunft‘ hat ihr Förderprogramm ‚Geschichte die Kernthese des Buches ‚Fair Future – Be- und Menschenrechte‘ im März 2005 neu aus- grenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit‘, geschrieben. Mit insgesamt 800.000 Euro För- verfasst von Wissenschaftlern des Wuppertal dergeldern sollen bis zu 40 Projekte unterstützt Instituts. In diesem Buch liefern Naturwissen- werden, die sich dem Themenkomplex Men- schaftler, Ökonomen, Juristen und Philosophen schenrechte und ihrer Umsetzung widmen. Ge- eine Analyse der Konfliktlagen, erläutern die fördert werden vor allem international angeleg- Hindernisse auf dem Weg zu einer zukunftsfä- te Projekte und Initiativen, die sich für Demo- higen Weltgesellschaft, entwerfen Perspektiven kratie und Partizipation, für die Wahrung der einer Politik der Ressourcengerechtigkeit und Menschenwürde und den Schutz von Minder- umreißen die wichtigsten Elemente einer globa- heiten, gegen Rassismus und Antisemitismus len Umwelt- und Wirtschaftspolitik, die einsetzen. Die Projekte können 2005 oder spä- gleichermaßen der Natur wie den Menschen ter stattfinden, Bewerbungsschluss ist der 31. verpflichtet ist. Das Buch ist im Verlag C. H. August 2005. Beck, München, erschienen und kostet 19,90 Kontakt: Stiftung „Erinnerung, Verantwortung Euro. ISBN 3-406-52788-4. und Zukunft“, Fonds „Erinnerung und Zu- Kontakt: www.wupperinst.org/Publikationen/ kunft“, Markgrafenstr. 12-14, 10969 Berlin, buecher/fair-future.html. Tel.: (030) 25 929 777, www.zukunftsfonds.de.

Gewalt im Leben Kinderrechtskonvention von Frauen und Männern Einen neuen Internetauftritt bietet die ,National Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Coalition für die Umsetzung der UN-Kinder- Frauen und Jugend hat eine Dokumentation zum rechtskonvention in Deutschland‘. In dieser internationalen Kongress ‚Gewalt im Leben von Koalition haben sich rund 90 bundesweite Or- Frauen und Männern‘ herausgegeben. Zu dem ganisationen und Initiativen zusammenge- Kongress, der im September letzten Jahres in schlossen, die sich für die Umsetzung der UN- Osnabrück stattfand, waren Vertreter von Wis- Kinderrechtskonvention in Deutschland einset- senschaft, Politik und Praxis eingeladen. Die zen. Auf der neu gestalteten Internetseite finden Vorträge und Diskussionsrunden sowie die Prä- sich neben einer genaueren Vorstellung der Ko- sentation der Ergebnisse von drei Studien des alition auch weitere umfangreiche Informatio- BMFSFJ sind im Internet abrufbar. nen, Dokumente und Links zum Thema Kin- Kontakt: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/genera- derrechte. tor/RedaktionBMFSFJ/Abteilung4/Pdf-Anla- Kontakt: www.national-coalition.de. gen/kongressbericht-gewalt-im-leben-von-ma- ennern-und-frauen,property=pdf.pdf. Treibgut 123

Integration und Migration Kreativer Protest Unter dem Titel ‚Integration und Migration in Marc Amann stellt in seinem Buch ‚go.stop.act!’ Berlin. Zahlen – Daten – Fakten‘ ist eine Bro- alternative und kreative Formen des Staßenpro- schüre des Beauftragten des Berliner Senats für testes vor. Mit konkreten Anwendungsbeispie- Integration und Migration erschienen. Dieser len und jeweiligem historischen Hintergrund Datenreport fasst die wesentlichen migrations- will das Werk denjenigen eine Hilfestellung bie- spezifischen Entwicklungen in Berlin zusam- ten, die bei ihren Protesten auf neue Aktions- men und zeigt die größten Problemfelder inte- formen zurückgreifen möchten. Das großfor- grationspolitischer Bemühungen auf. Die Stu- matige Buch enthält zahlreiche Abbildungen und die (ISBN: 3-938352-04-3) ist gegen eine kostet 18 Euro. Amann, Marc (Hrsg.): go. stop. Schutzgebühr von 2 Euro beim Beauftragten act! Die Kunst des kreativen Straßenprotestes. des Senats für Integration und Migration er- Geschichte – Aktionen – Ideen, ISBN: 3-93- hältlich. 178638-2. Kontakt: Der Beauftragte des Senats von Berlin Kontakt: Attac-Materialversand, Tel.: (069) 900 für Integration und Migration, Potsdamer Stra- 281-10, Fax: (069) 900 281-99, www.attac.de/ ße 65, 10785 Berlin. Tel.: (030) 9017 - 2351 material. oder - 2357, Fax: (030) 262 54 07, eMail: [email protected] Antirassismusprogramme der EU berlin.de. Die von Gisela Kallenbach, MdEP (Grüne) be- auftragte Studie ‚EU-Programme im Bereich Freiwilligenarbeit in den USA Antidiskriminierung /Antirassismus‘ beschreibt Im Rahmen einer elftägigen Fachexkursion be- Anti-Rassismusprogramme auf EU-Ebene und suchten im Mai 2004 hessische Expertinnen und größere national geförderte Maßnahmen in Experten Freiwilligenprojekte und Institutionen Deutschland. Die Studie ist im Internet abruf- in den USA. Ziel des Besuches war, einen Ein- bar. blick in die vielfältigen Wirkungs- und Arbeits- Kontakt: weisen des ‚volunteering‘ zu erhalten und Mög- www.w3-server.de/typo3cms/kallenbach/filead- lichkeiten einer Übertragbarkeit guter Beispiele min/dateien-redakteure/dokumente_dauerhaft/ auf die Freiwilligenarbeit in Hessen zu prüfen. Antirassismusprogramme.pdf Die Ergebnisse dieser Exkursion, die durchaus auch für Ehrenamtsprojekte außerhalb Hessens Hölderlin-Preis interessante Einblicke vermitteln können, sind Durs Grünbein erhält den diesjährigen Fried- jetzt in einer Dokumentation erschienen: Ste- rich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg. Der phan Würz (Hrsg.): Dokumentation der Fach- Lyriker und Essayist habe das ‚Weltverständnis exkursion ‚Freiwilligenarbeit in den USA’ im unserer Gegenwart so empfindungsreich wie Mai 2004, LandesEhrenamtsagentur Hessen, präzise bereichert‘, hieß es in der Begründung ISBN: 3-00-015822-7. der Jury. Der zweiundvierzigjährige Grünbein Kontakt: landesehrenamtsagentur-hessen@ ist der bisher jüngste Träger des Preises, mit gemeinsam-aktiv.de. dem unter anderem Monika Maron, Peter Härt- ling, Ernst Jandl und Robert Menasse ausge- zeichnet wurden. 124 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Mehr Demokratie folgreichen Ansätze wurden verschiedene Pro- Warum brauchen wir mehr Demokratie? Kann jekte entwickelt. So ist u.a. in der Stiftung De- Bürgerbeteiligung wirklich funktionieren? Wie mokratische Jugend eine Koordinierungsstelle funktioniert ein Volksentscheid? Wie und wo ‚Perspektiven für junge Menschen – gemein- kann ich mich für Demokratie engagieren? Die- sam gegen Abwanderung‘ eingerichtet worden, sen Fragen geht die Sonderausgabe der ‚zeit- die sich übergreifend mit dem Problemfeld der schrift für direkte demokratie‘ nach. Die Bro- Abwanderung befaßt. schüre kostet 3,00 Euro. Kontakt: www.wir-hier-und-jetzt.de Kontakt: www.mehr-demokratie.de. Recht auf Bildung Theodor-Heuss-Preis Alle Statuslosen- und Flüchtlingskinder sollen Zum 40. Mal wird in diesem Jahr der Theodor- Schulen und Kindertageseinrichtungen besu- Heuss-Preis verliehen. Dieser Preis dient der chen können. Dafür haben sich die Gewerk- Förderung der politischen Bildung und Kultur schaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und in Deutschland und Europa. Preisträger in die- das entwicklungspolitische Kinderhilfswerk sem Jahr sind die Menschenrechtsorganisation terre des hommes stark gemacht. Die Kultusmi- Human Rights Watch, New York, der Leiter des nister und Jugendminister der Länder sollen sich Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn auf gemeinsame Regelungen verständigen und e.V., Meinhard Miegel und der Executive Di- den Schulbesuch mindestens bis zur 10. Klasse rector des UN-Umweltbüros in Nairobi, Klaus garantieren. Tausende Kinder in der Bundesre- Töpfer. publik sind von der allgemeinen Schulpflicht Kontakt: www.hrw.org, www.iwg-bonn.de, ausgeschlossen. Ihre Eltern warten auf politi- www.unep.org und www.theodor-heuss- sches Asyl, die Familien sind in Deutschland stiftung.de. nur geduldet oder sie haben keinerlei Aufent- haltsstatus. Bundesinitiative Kontakt: www.tdh.de und www.gew.de. Die Bundesinitiative ‚wir...hier und jetzt‘, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wur- de, um Jugendlichen in den ostdeutschen Län- dern Perspektiven zu eröffnen, ist abgeschlos- sen. Die zentralen Ergebnisse der Initiative sind vom Deutschen Jugendinstitut evaluiert und veröffentlicht worden. Zur Fortsetzung der er- Literatur 125

REZENSIONEN unter Berücksichtigung der handlungsrelevan- ...... ten Umwelt in systematischer Weise zielführen- de Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen, und Politische Strategieanalyse zwar situationsübergreifend, erfolgsorientiert Der Eindruck, Politik und Regieren erschöpften und dynamisch. Dabei kann die Strategiefähig- sich in kurzfristigen taktischen Positionierungen keit kollektiver Akteure wie Parteien oder Ver- und kleinteiligem Aktionismus, und es fehle an bände nicht voraus gesetzt werden, weil sie die Konzeptionen einer strategisch ansetzenden Po- individuellen Motivationen ihrer Mitglieder und litikgestaltung, ist zunehmend verbreitet. Da kann Repräsentanten mit den Organisationszielen in ein Buch über ‚Politische Strategieanalyse‘, wie Beziehung setzen und deren Handlungen koor- es Ralf Tils jetzt mit der Publikation seiner Dis- dinieren müssen. Die eigentliche Strategiebil- sertation an der Universität Lüneburg vorgelegt dung führt von der Lageanalyse über die strate- hat, zur Reflexion von Anspruch und Problemen gische Kalkulation im Dreieck von Zielen, Mit- beitragen. Der Autor konstatiert eingangs eine teln und Handlungsumwelt und die Formulie- ‚Inflationierung der Strategiebegrifflichkeit‘ und rung strategischer Optionen zur strategischen setzt sich zum Ziel, ‚wissenschaftlich angeleitet Entscheidung. Diese muss dann schließlich in und abgesichert den Inhalt, die Voraussetzungen einem dynamischen Handlungsumfeld mittels und die Bedingungen von Strategie in der Politik strategischer Steuerung realisiert werden. zu präzisieren‘ (11). Dazu entwickelt er im ers- Kapitel 3 beansprucht, den Forschungsstand ten, theoretischen Teil seines Buchs eine syste- zu referieren. In der politischen Ideengeschich- matische Strategiekonzeption, die er im zweiten te sieht Tils Anknüpfungspunkte bei Machia- Teil als Bezugsrahmen für eine Evaluation zwei- vellis Verknüpfung von Zielen, Mitteln und er Konzeptionen aus dem Bereich der Umwelt- Umweltfaktoren sowie bei Clausewitz‘ Unter- und Nachhaltigkeitspolitik verwendet: zum ei- scheidung von Strategie und Taktik durch den nen Martin Jänickes strategischen Ansatz der Um- größeren räumlich-zeitlichen Bezug. Die an- weltpolitik, zum anderen die Nachhaltigkeitsstra- schließende Diskussion von Ansätzen aus dem tegie der Bundesregierung. strategischen Management bleibt leider ober- flächlich. Würde der Autor beispielsweise Umweltpolitik und Mintzbergs Konzept der ermergenten Strategi- Parteienwettbewerb en nicht einfach zugunsten eines intentionalen Das Problem, von dem Tils ausgeht, ist die Strategiebegriffs abweisen, bliebe sein Blick Rückkopplung der Fachpolitiken an den Partei- offener für das implizite strategische Wissen enwettbewerb unter der Bedingung massenme- der Akteure, mit denen er sich in seinen Fallstu- dialer Vermittlung. Strategie erfordert für ihn dien dann überaus kritisch auseinander setzt. folgerichtig ‚die gleichzeitige Berücksichtigung Auch übersieht Tils wichtige neuere Arbeiten von Policy- und Politics-Aspekten‘ (14), von zum strategischen Management, von denen sein Problemlösung und Machterhaltung, was plau- Strategiebegriff profitieren könnte. So werden sibel ist, da Gestaltung Gestaltungsmacht vor- dort etwa soziologische Konzepte wie die Struk- aus setzt. Dazu müsse der Blick über das jewei- turationstheorie von Giddens aufgenommen, um lige Politikfeld hinaus erweitert werden (15). die strategische Einflussnahme von Unterneh- men auf ihr politisches, gesellschaftliches und Komplexer Strategiebegriff ordnungspolitisches Umfeld in den Blick zu In Kapitel 2 legt Tils die begrifflichen Grundla- bekommen (Ortmann/Sydow 2001), zum Teil gen. Aufgabe einer Strategie ist es demnach, sogar im Kontext der Nachhaltigkeitsdiskussi- 126 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

on (Schneidewind 1998). An Arbeiten angel- Stellungnahmen von Verbänden und Beratungs- sächsischer Politik- und Wahlkampfberater, aus gremien zurückgreifen kann. Angesichts der der Policy-, Bewegungs- und Parteienfor- diagnostizierten Lücken in der Operationalisie- schung bemängelt Tils, dass diese jeweils we- rung, Implementierung und Institutionalisierung sentliche Dimensionen des von ihm verwende- liegt die Frage nahe, ob die Nachhaltigkeitsstra- ten Strategiebegriffs nicht berücksichtigen. tegie wirklich einen Bezugsrahmen der Strate- In Kapitel 4 entfaltet der Autor seinen dezi- giebildung darstellt oder aber selbst ein strate- diert handlungstheoretischen Ansatz politischer gisches Mittel zur Beeinflussung der Rahmen- Strategieanalyse. Zentral sind dabei die Bestim- bedingungen für etablierte Prozesse der Poli- mung eines Begriffs strategischer Rationalität tikformulierung ist. und die Ausdifferenzierung mehrerer aufein- ander bezogener Analyseperspektiven in der Zwischen Elaboriertheit und Praxis- Gestaltungs- und Machtdimension. Tils erhebt tauglichkeit den Anspruch, Erklärungs- und Orientierungs- Im Ergebnis legt Tils einen vieldimensional aus- wissen bereit zu stellen. Zur genaueren Klärung differenzierten politischen Strategiebegriff vor. der Anforderungen und Probleme, die damit Der Befund, dass sowohl die aus Jänickes ge- verbunden sind, wäre allerdings eine Auseinan- samtem Oeuvre rekonstruierte, als geschlosse- dersetzung mit den entsprechenden methodi- ner Ansatz gar nicht vorliegende, umweltpoliti- schen und konzeptionellen Arbeiten zur trans- sche Strategie als auch die aus zahllosen Kon- disziplinären Forschung (zum Beispiel Brand, sultationen hervor gegangene Nachhaltigkeits- Balsiger, Hirsch-Hadorn, Mittelstraß) von Nut- strategie diesem in vielerlei Hinsicht nicht genü- zen gewesen. gen, ist dann allerdings überraschungsarm. Tils In Kapitel 5 übersetzt Tils seine theoretischen sieht den Nutzen seiner Konzeption denn auch Überlegungen in einen differenzierten ‚Bezugs- eher als heuristischen Rahmen, diese Strategien rahmen der Strategieanalyse‘. Der Autor erwar- systematisch weiter zu entwickeln. Die Frucht- tet unter anderem, dass der Strategiebegriff ge- barkeit des Ansatzes zeichnet sich dann auch in klärt, die Akteure strategischer Politik benannt, den lesenswerten Interviews ab, in denen Martin das Problem der Strategiefähigkeit adressiert Jänicke, Urban Rid als Beauftragter für die Nach- und strategische Bündnisse angestrebt werden haltigkeitsstrategie im Kanzleramt sowie der und dass Ansätze zur strategischen Kommuni- Geschäftsführer des Rates für Nachhaltige Ent- kation erkennbar sind. wicklung Günther Bachmann die Gelegenheit nutzen, auf Tils‘ Kritik zu reagieren. Mängel der Nachhaltigkeitsstrategie In Kapitel 6, das mit 160 Seiten die Hälfte des Peter H. Feindt, Hamburg Buches umfasst, werden dann die beiden aus- gewählten Strategiekonzepte evaluiert. Dabei Besprochene Literatur entdeckt der Autor unter dem Gesichtspunkt der Tils, Ralf, 2005: Politische Strategieanalyse. Strategieanalyse in den Arbeiten von Martin Konzeptionelle Grundlagen und Anwendung in Jänicke derart viele Desiderata, dass man sich der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, Wies- beinahe fragt, wie Jänicke eigentlich zu einem baden: VS Verlag. derart einflussreichen Politikforscher und -be- rater werden konnte. Angemessener erscheint Zitierte Literatur die Kritik an der Nachhaltigkeitsstrategie der Ortmann, Günther/Sydow, Jörg (Hg.). 2001: Bundesregierung, für die Tils auf zahlreiche Strategie und Strukturation. Strategisches Ma- Literatur 127

nagement von Unternehmen, Netzwerken und gen an die Sozial- und Wirtschaftswissenschaf- Konzernen, Wiesbaden: Gabler. ten gekennzeichnet war. Es herrschte die An- Schneidewind, Uwe, 1998: Die Unternehmung nahme vor, dass Wirtschaft und Gesellschaft in als strukturpolitischer Akteur. Kooperatives ihren Gesamtzusammenhängen analysiert, aus Schnittmengenmanagement im ökologischen den Diagnosen fundierte Prognosen abgeleitet Kontext, Marburg: Metropolis. und gesicherte Empfehlungen für politisches Handeln abgegeben werden können. Dies ging  einher mit einer großen Fortschrittsgläubigkeit: Permanente technische Innovationen sollten die Demokratie ist nicht planbar materielle Basis garantieren durch kontinuierli- ches ökonomisches Wachstum und steigenden Was zunächst wie eine historische Analyse an- Wohlstand. Der wachsende Wohlstand in den mutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen 1960er-Jahren ermöglichte den Ausbau des als ein brandaktuelles Buch. Denn die Fragen, Sozialstaates erst. Den Reformen der Renten- die Gabriele Metzler stellt, sind heute aktueller versicherung (1957) und der Sozialhilfe (1961) denn je: Wie muss Politik gestaltet sein, die so- lag dabei nicht allein der Gedanke der reinen ziale Sicherheit, gesellschaftliche Integration und Daseinsvorsorge zu Grunde. Vielmehr sollte den politische Partizipation gewährleistet? Vor die- Bürgern der Zugang zu kollektiven Gütern ge- sen Fragen stand nicht nur die große Koalition währleistet und damit auch die Teilhabe am öf- und das sozial-liberale Regierungsbündnis in fentlichen Leben ermöglicht werden. Die sozia- den 1960er-Jahren. Auch Rot-Grün hat heute le Absicherung sollte für die Bürger den Frei- mit diesen Problemen zu kämpfen, stehen doch raum schaffen, sich im politischen und öffentli- die Errungenschaften des Sozialstaats, die Ende chen Raum zu engagieren und damit den Grund- der 1950er und Anfang der 1960er-Jahre durch- stein für eine ‚mündige Gesellschaft‘ legen. gesetzt wurden, heute wieder zur Disposition. Modernes Staatsverständnis Politikplanung als Schlüssel Im Fokus der Reformmaßnahmen stand jedoch Voraussetzung für die Modernisierungsbewe- nicht nur die Gesellschaft, sondern der Staat gung in der Politik war zunächst die Neuver- selbst wurde Gegenstand von Modernisierungs- messung des politischen Raums Ende der maßnahmen. Besonders die Verwaltung sollte 1950er-Jahre. Der Wiederaufbau und eine da- nicht mehr nur Hoheitsverwaltung sein, son- mit verbundene ‚zweite industrielle Revoluti- dern eine aktive Rolle als Leistungsverwaltung on‘ stellten Politik, Wissenschaft und Gesell- spielen. Gefragt war der ‚Beamte neuen Typs‘, schaft vor neue Handlungsanforderungen und weshalb die Beamtenausbildung komplett re- etablierte neue Deutungsmuster gesellschaftli- formiert wurde. Diese Zielverschiebung bahnte cher Selbstbeschreibung – die ‚Industriegesell- den Sozialwissenschaften den Weg in dem schaft‘ avancierte zum Leitbegriff gesellschaft- ansonsten von Juristen dominierten Stab. licher Selbstwahrnehmung und Entwicklung. Auch das Verständnis der Regierenden selbst In den 1960er-Jahren wurde Politikplanung hatte sich gewandelt. Politisches Handeln sollte zum Schlüsselbegriff politischer Problembewäl- auf gesicherten Informationen beruhen, künfti- tigung. Das ging einher mit einem erheblichen ge Entwicklungen bereits mit einbeziehen und Ausbau der Bundesstatistik und der Beratertä- rationale Entscheidungen hervorbringen. Als tigkeit – einer ‚Verwissenschaftlichung‘ der Garanten rationaler Politik galten die Wissen- Politik, die insbesondere durch hohe Erwartun- schaftler, die eine Art ‚Diskurskoalition‘ mit den 128 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

politischen Akteuren eingegangen waren. Bei- dazu führen, dass Politiker heute überhaupt kei- de wollten gemeinsam den Staat reformieren ne Visionen mehr haben – und auch Wissen- und erreichten tatsächlich einen fundamentalen schaftler sollten es sich nicht verbieten lassen, Wandel im Staatsverständnis. Der Staat galt nun ihre Erkenntnisse weiter in die Politik einzu- als derjenige Teil der Gesellschaft, der verbind- bringen, auch wenn sie keine absoluten Wahr- liche Entscheidungen traf; er war in die Gesell- heiten liefern und den Politikern die Entschei- schaft fest integriert und ihr nicht mehr überge- dungen abnehmen können. ordnet. Staatliche Intervention galt besonders im Verständnis der Regierung Brandt geradezu Karin Urich, Mannheim als Voraussetzung für die Wahrnehmung indivi- dueller Freiheitsrechte. Diese Diskurse um Besprochene Literatur Modernisierung und Demokratisierung recht- Gabriele Metzler 2005: Konzeptionen politi- fertigen es in den Augen der Autorin auch, den schen Handelns von Adenauer bis Brandt. Poli- Machtwechsel von 1969 nicht nur als Regie- tische Planung in einer pluralistischen Gesell- rungs-, sondern als Regimewechsel zu inter- schaft. Paderborn: Schöningh pretieren.  Grenzen der Planbarkeit Soweit das Programm der Politiker und ihrer Die Welt durch Praxis erklären Berater. Die Realität der 1960er und 1970er- Jahre zeigte jedoch, dass die großen Theorien Was hat eine ‚daily soap‘ mit Fahrstuhlfahren durch die Komplexität der Gesellschaft schnell gemeinsam? Oder ‚Big Brother‘ mit Wohnungs- an ihre Grenzen stießen. Denn in der Gesell- einrichtungen? Während es für die Konsumie- schaft dominierten höchst unterschiedliche in- renden darum geht, sich für eine kurze Zeit un- dividuelle Wertvorstellungen und Lebensentwür- terhalten zu lassen, sieht der Konsum von Me- fe, die sich nicht einfach in einen politischen dien für die Produzierenden oder die Wissen- Entwurf fassen ließen. Hier kam der ,Bume- schaft schon ganz anders aus. rang‘ der freiheitlichen Gesellschaft zurück und Ausgangspunkt des aus der gleichnamigen zerstörte die Planungsidee. Ebenso gerieten die Tagung an der Universität Aachen hervorge- wissenschaftlichen Erkenntnisse ins Wanken: gangenen Sammelbandes ‚doing culture‘ ist dann Expertisen verloren an Eindeutigkeit, weil ver- auch nicht der Fernsehkonsum an sich, sondern schiedene und allesamt gut begründete Meinun- seine Vermittlung ins soziale Leben. Man könn- gen konkurrierten. Der Planungsoptimismus te sagen: in den Alltag. ‚doing culture‘ zeigt und mit ihm die Zuversicht, Zukunft politisch aber auch, wie soziale Praxis auf die Kultur gestalten zu können, wich immer mehr der Er- zurückwirkt. Auf unterschiedlichen Ebenen wird nüchterung. Die Resignation hat sich bis heute der Prozess der ‚Kulturhaftigkeit‘ bis hin zu gehalten, so das Fazit der Autorin, die als Histo- Alltagspraktiken wie dem Konsumieren von rikerin keinen Ausblick in die Zukunft wagt. ‚daily soaps‘ oder Comedy-Serien untersucht. Sie will jedoch mit ihrer Politikgeschichte als Strukturgeschichte Anschlussmöglichkeiten er- Kultur als soziale Praxis öffnen an andere geschichts- und sozialwissen- Doch was ist wirklich neu an den vierzehn Auf- schaftliche Themen. sätzen, die sich sowohl mit Theorien als auch Letztlich darf die von Gabriele Metzler zu mit Praktiken des sozialen Lebens beschäfti- Recht diagnostizierte Ernüchterung aber nicht gen? Worin unterscheidet sich die Forderung Literatur 129

nach einer Praxiswende – also die Forderung, kann ein solches Nebeneinander zeigen?‘, fragt Kultur als soziale Praxis zu verstehen – von Hirschauer. theoretischen Ansätzen, die wir bereits bei But- Er hinterfragt das ‚doing‘, das soziale Han- ler, Foucault, Bourdieu, aber auch Wittenstein deln der Akteure, und untersucht die sozialen und Goffmann finden? Praxen vor dem Handeln. Hirschauer sieht ei- Sämtliche Autoren erweitern die Theorie des nen Fortschritt darin, sich von der akteurszen- ‚doing culture‘. Aus unterschiedlichen Diszi- trierten Perspektive zu lösen und damit einen plinen kommend, unter anderem der Medizin- neuen Zugang zu sozialen Phänomenen zu be- soziologie, Gender Studies, Ethnomethodolo- kommen. Dieser neue Zugang ermöglicht es gie, Post-Colonial Studies und Medien- und sogar, eine Lösung für den in der Faschismus- Kommunikationswissenschaften, untersuchen forschung lange ausgetragenen Streit zwischen die Autoren und Autorinnen in ihrer Wissen- Strukturalisten und Intentionalisten zu finden, schaft und anhand sozialer Theorien von Luh- wie Reichardt in seinem Aufsatz herausstellt. mann bis Bourdieu den Zusammenhang zwi- Handlungen, Akteure und soziale Praktiken schen Kultur und sozialer Praxis. Soll der An- müssen nicht nur isoliert voneinander betrach- satz des ‚doing culture‘ neue Erkenntnisse auf- tet werden, sondern auch in einem wechselseiti- zeigen, muss das Verhältnis von Kultur und gen Zusammenhang. Praxis genauer untersucht werden und steht somit im Mittelpunkt dieser Theorie. Anwendung in der Bewegungsforschung Theorie einer sozialen Praxis Doch noch weitere Vorteile, insbesondere für Das es eine umfassende Theorie bisher nicht die Bewegungsforschung, werden aufgezeigt. gab, erklärt Reckwitz anhand eines Vergleiches Alltagspraktiken wurden in den vergangenen zwischen Judith Butler und Pierre Bourdieu. Jahren in den Cultural Studies als widerständi- Beide würden ihrer Theorie zwar den Anstrich ges Potential hervorgehoben, auch in den sozi- der Allgemeingültigkeit geben, so Reckwitz, alen Bewegungen. Dabei wurde das Lokale als doch tatsächlich würde die jeweilige Praxis aus- Ort der Handlung zunehmend romantisiert. geblendet, beziehungsweise die andere Seite der Wenn auf lokaler Ebene Widerstand gezeigt Medaille abgebildet. Das Prinzip des ‚doing werden würde, könne man dem Globalen etwas culture‘ versucht dagegen Grundsteine zu le- entgegensetzen, so die Annahme. Doch ist die gen, mit denen eine Theorie der sozialen Praxis Dichotomie zwischen Lokal und Global nicht geschaffen werden kann, die unabhängig von bereits eine Praxis, die die Kreativität des Han- einzelnen Wissenschaftlern und Wissenschaft- delns stark einschränkt, sobald die subversiven lerinnen sowie Autoren und Autorinnen Gültig- Handlungsabläufe als starr und universal gel- keit besitzt. ten? Stäheli bestärkt dieses Argument, indem er So macht Hirschauer an drei unterschiedli- die Gefangenheit der sozialen Bewegungen in chen Beispielen deutlich, wie kulturelle Dinge ihren Strukturen aufzeigt. Politische Handlungs- aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen ganz fähigkeit ist von vornherein auf lokale Identi- anders betrachtet werden. So ist der Körper tätskämpfe beschränkt worden. Der Dualismus ‚selbständiges Kommunikationsmedium‘ für die von dem Einen und dem Anderen beziehungs- Gender Studies, ein ‚mit Artefakten interagie- weise dem Eigenen und dem Fremden werden render Partizipant‘ in der Medizinsoziologie und so nur verstärkt statt beseitigt. Vielleicht könn- ein ‚agierender Korpus mit mehreren persona- ten aber größere Erfolge erzielt werden, wenn len Gliedern‘ in der Techniksoziologie. ‚Was nicht von vornherein gewusst wird, welche 130 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Handlungen als subversiv einzustufen sind, und Hörning fasst die Vorhaben der einzelnen Autor- welche nicht. innen und Autoren bereits am Anfang zusam- Nicht nur in soziologischen oder kulturwis- men: die Welt muss durch Praxis erklärt werden, senschaftlichen Bereichen kann die Theorie ei- und nicht durch Theorie. ner sozialen Praxis zu neuen Erkenntnissen füh- ren. Für die Medien- und Kommunikationswis- Stephanie Schmoliner, Flensburg senschaften zeigt Udo Göttlich, das ‚doing cul- ture‘ auch für die Theorie der Rezeption und Besprochene Literatur Aneignung relevant ist. Bisher sei dieser An- Horning, Karl H./Reuter, Julia (Hg) 2004: Doing satz nur in den Cultural Studies bekannt. Und Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von so können ‚daily soaps‘ und Talkshows durch- Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript. aus Orte mit unterschiedlichen Bedeutungen werden, der eigenen Konfliktbewältigung oder  der Realitätsfindung dienen, aber auch zu Orten des Widerstands werden. Und sie bewegen sich tatsächlich Dass das Konzept der Aneignung schon län- gere Zeit in den Medien präsent ist, wird an- Es zeugt von gewisser Konsequenz, einem Buch hand der Comedy-Serie ‚Was guckst Du?‘ ge- über soziale Bewegungen in Österreich den Ti- zeigt. ‚Kanak spraak‘ oder aber auch ‚overdo- tel ‚Und wir bewegen uns doch‘ zu geben, auch ing culture‘, also das Überzeichnen von kultu- wenn es vielleicht die Millionste Adaption des rell zugeschriebenen Merkmalen, können so be- berühmten Galileo-Satzes ist. Denn wer hätte stimmte soziale Handlungen unterstreichen, be- das gedacht: Nicht nur, dass sich über 300 Sei- tont Helga Kotthoff in ihrem Aufsatz. Nach ten mit Bewegungsgeschichte á la fül- Norbert Sieprath kann auch Luhmanns Sys- len lassen. In der Abwandlung des Zitats wird themtheorie, dessen Handlungsbegriff auf so- zudem zweierlei deutlich: Der Autor bezieht sich zialen Zuschreibungsprozessen basiert, um die- selbst mit ein und gibt Auskunft über die ses ‚doing culture‘ ausgeweitet werden. Triebkräfte von Veränderungen. Nicht die An- häufung spezieller Ressourcen zu einem be- Praxiswende einläuten stimmten Zeitpunkt oder die Vorgaben der herr- Kultur, kulturelle Zuschreibung, Hybridität sol- schenden Klasse bringen gesellschaftlichen Wan- len jedoch kritisch hinterfragt werden (Kin Nghi del hervor. Es sind vielmehr die Kämpfe der Be- Ha). Kultur sowohl in den ‚postcolonial studies‘ wegungen, die die Institutionen des Kapitalis- als auch in den Cultural Studies darf nicht als ein mus zu Reaktionen zwingen. Zumindest behaup- kollektives Sinnsystem verstanden werden (Ju- tet das der postoperaistische Ansatz, den Anto- lia Reuter). Abschließend steht deshalb die For- nio Negri und Michael Hardt formuliert haben derung, eine Praxiswende im Umgang mit Kul- und vor dessen Hintergrund Robert Foltin seine tur einzuläuten: weg von klassisch soziologischen Studie ausbreitet. Verortungen hin zu einem grenzüberschreiten- den Projekt. Das Eigene und das Fremde sollen Deutschland als Vorbild als Verbindung, nicht als Trennungslinie angese- Der Operaismus kommt zwar aus Italien, hat hen werden. Ebenso soll es zur Aufhebung der aber im benachbarten Österreich kaum merkli- Trennung lokal-global kommen. Nur dann kön- che Spuren hinterlassen. Die größten Auswir- nen kreative Handlungen entstehen, die als sub- kungen auf soziale Bewegungen in Österreich versives Potential in den Alltag eingreifen. Karl hatten immer eindeutig die aus der Bundesrepu- Literatur 131

blik Deutschland. Übereinstimmungen gibt es ter anderem in den gelebten Existenzen der slo- hier bis hin zu den Bewegungsformationen und wenischen Minderheit im südlichen Bundes- den Namen der Gruppen: Selbst ein Besuch des land Kärnten vor (107ff). Dass dieser Bewe- Schahs von Persien (in Wien im Januar 1969) gungsfokus in gewisser Weise bis heute seine zählt zu den Höhepunkten der 68er-Bewegung. Relevanz nicht verloren hat, zeigt die von Jörg Und dass der Kommunistische Bund (KB) ab Haider geführte Landesregierung, die sich nach Mitte der 1970er Jahre versuchte, sich an die wie vor weigert, die verfassungsmäßig garan- Spitze der Anti-AKW-Bewegung zu stellen tierten zweisprachigen Ortstafeln aufzustellen. (110), ist ebenso wie die Medienpräsenz der Der Verlauf der Bewegungszyklen liest sich ‚Autonomen‘ in den 1980ern nicht gerade ein im Großen und Ganzen dennoch wie ein ver- spezifisch österreichisches Phänomen. kleinertes Spiegelbild jener in Deutschland, in dem nur die Anlässe der linken, ökologischen Studentische Linke im Hintertreffen und autonomen Kämpfe andere Namen hatten. Anders ist hingegen der schwächere Bezug der Abgesehen davon, dass ein solch zusammen- 68er-Bewegung zur politischen Theorie wie zur fassender Überblick aus undogmatisch linksra- Militanz (74). Ob dieses oder jenes der Grund dikaler Perspektive für Deutschland noch aus- für die weniger starken Folgewirkungen des steht, ist es gerade die Einbindung alternativer ‚Denkens von 68‘ in Österreich war, lässt Fol- Landeskunde in internationale politische Ent- tin allerdings offen. Die studentische Linke in wicklungen und aktuelle Theorie, die das Buch Österreich hat bis in die 1990er nicht die Domi- unbedingt lesenswert macht. nanz an den Universitäten entwickeln können, die sie in Deutschland erzielt hatte. Und auch Proteste gegen die FPÖ die Partei der Grünen war zu keinem Zeitpunkt Mit den Protesten gegen die Regierungsbeteili- als ‚Anti-Parteien-Partei‘ konzipiert, sondern gung der rechtsextremen FPÖ im Jahr 2000 hatte den ,Bewegungsflügel‘ schon gestutzt, be- gibt es in Österreich trotzdem Bewegungserfah- vor er sich für die Partei interessierte. In den rungen, die sich von der Situation in Deutsch- 1970ern – in Deutschland dominiert durch ma- land gründlich unterscheiden. Foltin stellt sie oistische ‚K-Gruppen‘ – sei in Österreich der einerseits in Zusammenhang mit der konserva- Trotzkismus „innerhalb der radikalen Linken tiven Wende in den 1980er-Jahren, als Haider immer stärker verankert“ (89) gewesen als in die FPÖ übernahm und der Ex-Nazi Kurt Wald- der BRD. Foltin vermutet, dass dies, ähnlich heim Präsident wurde. Die Präsidentschaft Wald- wie in Großbritannien, auf die damalige Offen- heims (1986-1992) habe den österreichischen heit der Sozialdemokratie zu ihren Rändern hin Antisemitismus reaktiviert, aber auch eine Ge- zurückzuführen ist. Das massive Auftreten von genbewegung hervorgerufen und die erste Aus- TrotzkistInnen beim Austrian Social Forum in einandersetzung mit der Rolle der Österreiche- den letzten Jahren mag davon ein Ausläufer sein. rInnen im Nationalsozialismus ermöglicht Auch die immer noch relativ präsente Frauen- (160f). Andererseits diskutiert Foltin die Be- bewegung hat mit dem künstlerischen Feld wegung gegen Schwarz-Blau im Kontext der durchaus andere Ursprünge als die Frauenbe- zeitgleich erstarkenden globalen Protestbewe- wegung in Deutschland. Und nicht zuletzt die gungen als Aufkommen ‚neuer Subjektivitäten‘ Hinwendung zu ‚unterdrückten Völkern‘ ab (242ff). Sie wird dabei nicht nur – wie alle an- Mitte der 1970er-Jahre habe sich anders gestal- deren Bewegungen auch – detailreich geschil- tet. Sie richtete sich in Österreich nicht allein dert, sondern auch über ihren nationalen Rah- auf andere Weltregionen, sondern fand jene un- men hinaus als Teil eines weltweiten und viel- 132 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

gestaltigen Protests „gegen das rassistische Geschichtsschreibung eines wichtigen Stranges Kontrollregime“ (250) aufgefasst. Damit legt der neuen sozialen Bewegungen in einem Flä- Foltin eine Arbeit vor, die die sozialen Proteste chenland – etwas abseits der weit besser doku- nicht nur historisch gut einordnet und verständ- mentierten Geschehnisse in den Metropolen. Der lich beschreibt, sondern auch theoretisch an- Zeitraum umfasst dabei die Jahre von heute bis spruchsvoll ist. Foltin veranschaulicht optimis- Anfang der 1980er (z.B. Nienburg) oder gar tische Ansätze wie die von Negri/Hardt oder Anfang der 1970er (z.B. Hannover, Braun- John Holloway, und macht sie damit diskuta- schweig, Osnabrück). Göttingen, Oldenburg, bel. Zwar werde nicht mehr nur die Arbeit, son- Neustadt/Rübenberge und Norden in Ostfries- dern das ganze Leben durch die herrschenden land sind die anderen Städte, aus denen berich- Strukturen organisiert. Dass es zu dieser Form tet wird. der Herrschaft, Biomacht genannt, gekommen Die Diskussionskultur, die Institutionalisie- ist, die den Ausstieg aus der Fabrik in Freiset- rungsprozesse, die Konjunkturen der verschie- zung aus geregelten Arbeitsverhältnissen und denen Themen in den Frauenszenen der Städte alternative Selbsthilfe in neoliberale Eigenver- werden nachgezeichnet: Wer ist potentielle/r antwortung transformiert, dazu haben letztlich Bündnispartner/in, wie staatsnah will frau sein, die radikalen sozialen Bewegungen in nicht ge- geht es um Feminismus oder ‚nur‘ um Frauen- ringem Maße beigetragen. Aber gerade daran politik? Sehr viele Ereignisse wie Demonstrati- lasse sich auch deren Macht ablesen. Wenn die onen, Ausstellungen und die Gründungs- und gegenwärtigen Entwicklungen als „Antworten Schließungstermine von Einrichtungen werden auf Widerstand und Revolten“ (186) zu lesen akribisch aufgelistet. Wird zu Beginn noch mit sind, bliebe auf jeden Fall zu diskutieren, war- viel Elan ehrenamtlich gearbeitet, treten bald die um wir dann, bei so wirkmächtigen Bewegun- typischen Ermüdungserscheinungen ein, die in gen, nicht längst in einer besseren Welt leben. den Ruf nach Institutionalisierung und bezahl- ter Arbeit münden. Die Einrichtung eines Frau- Jens Kastner, Wien enhauses oder -zentrums ist überall ein Zwi- schenschritt, die Einsetzung der ersten kommu- Besprochene Literatur nalen Frauenbeauftragten ein Meilenstein in der Foltin, Robert, 2004: Und wir bewegen uns Entwicklung der lokalen Frauenbewegungen, doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien: die sich schließlich oftmals in immer größere edition grundrisse. Spezialisierungen hinein ausdifferenzieren. Alle Beiträge stammen von Zeitzeuginnen ANNOTATIONEN und so fallen die Beiträge parteiisch aus, was ein ...... Vor- wie ein Nachteil ist. Positiv sind die Kennt- nisse und das Engagement der Autorinnen, die KARIN EHRICH/KORNELIA KRIEGER: den Beiträgen deutlich anzumerken sind. Nega- „Bin zur Frauengruppe! euer Liesel” tiv ist, dass die Problematik der Zeitzeugenschaft Die Neue Frauenbewegung und ihre und der selektiven Wahrnehmung und Überlie- Impulse in Niedersachsen. ferung überhaupt nicht thematisiert wird, obwohl Kirchlinteln: Hoffmann und Hoyer 2003. (oder gerade weil?) das Buch von einer History Marketing Agentur mitproduziert wurde. Die Veröffentlichung enthält zwölf Beiträge zur Geschichte der Frauenbewegung in acht nie- Bernd Hüttner, Bremen dersächsischen Städten. Sie ist ein Beitrag zur JÖRG BERGSTEDT Literatur 133

Mythos Attac tor am Schluss Tipps und Tricks für einen bes- Hintergründe, Hoffnungen, Handlungsmög- seren Umgang mit und in einer solchen Organi- lichkeiten sation. Damit erfüllt er zumindest das Verspre- Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag chen, perspektivisch zu sein. Neben Begriffs- 2004 klärung werden auch konkrete Hinweise gege- ben, beispielsweise sollen durch mehr Vernet- Verfilzte Herrschaftsstrukturen, keine tiefgehen- zung unabhängigere Handlungsmöglichkeiten de und radikale Kritik, sowie eine breite Basis, entstehen können. die alles mit sich machen lässt: So oder so ähn- lich stellt sich der Autor Attac als neuen Typus Stephanie Schmoliner, Flensburg Organisation vor. Geschrieben wurde das Buch zum einen, weil es an der Zeit schien, endlich  eine nicht „Attac-freundliche“ Kritik wiederzu- geben. Zum anderen wurde der Anspruch for- Newsletter Bewegungsforschung muliert, konstruktive Kritik für Mitglieder von Attac zu diskutieren, um zum Nachdenken zu Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegun- animieren. Doch leider bleibt die konstruktive gen möchte künftig in einem Newsletter über Kritik in weiten Teilen aus. Verwirrungen und laufende Forschungsvorhaben zum Bereich Widersprüchlichkeit, ja zum Teil auch eigens Neue Soziale Bewegungen informieren. Des- initiierte Mythen ziehen sich durch das gesamte halb sind alle Forscher, Studenten und For- Buch. Zu Anfang erfolgt eine Darstellung der schungseinrichtungen aufgerufen, entsprechen- Gründungsphase einer Organisation, die euro- de Projekte an das Forschungsjournal zu mel- päisch ausgestaltet ist. Mehrfach wird bereits den. Sie werden dann auf der Internet-Seite des hier der Vorwurf erhoben, dass Attac ihre Medi- Forschungsjournals (www.fjnsb.de) veröffent- enpräsenz einsetzt, ausspielt und benutzt, um licht. Inhalte zu transportieren, die nur von einem sehr Benötigt werden folgende Angaben: 1. Titel kleinen Kreis, dem Koordinierungskreis, for- des Vorhabens, 2. Zeitraum, auf den sich das muliert werden. Als Beispiel werden die Pro- Projekt bezieht, 3. Name und Anschrift des Be- teste in Genua 2001 genannt, wo Attac-Grup- arbeiters, 4. Name und Anschrift der Instituti- pen quantitativ nicht so stark vertreten waren, on, an der die Arbeit entsteht, 5. Name und An- aber die Medien den Anschein einer dominie- schrift des Betreuers, 6. Art und Stand der Ar- renden Gruppe abbildeten. Medien werden in beit (Abschlussarbeit, Projekt, Dissertation etc.), der Kritik des Autors als eines der Übel angese- 7. Laufzeit des Forschungsvorhabens, 8. Art hen, die basisdemokratische Strukturen verhin- der Finanzierung. dern. Attac ist aber nicht nur ein Produkt der Diese können per Post an die Rubrikverant- Öffentlichkeit, Attac sorgt auch dafür, Produkt wortliche übermittelt werden: Karin Urich, Ho- zu werden und zu bleiben, indem personelle her Weg 15, 68307 Mannheim oder per E-Mail „Verfilzungen“ dafür sorgen, immer wieder in [email protected] mediale Erscheinung zu treten. Dabei wäre eine kritische Auseinandersetzung, was Attac wirk- lich ist, welche Ziele und Einflüsse tatsächlich im Umgang der Menschen mit Globalisierung erreicht wurden, wesentlich bedeutender. Da- mit bei Attac neue Zeiten eintreten, gibt der Au- 134 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

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Gerd Mielke, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Anmerkungen zur Programmdiskussion der SPD in der Zeit der Identitätskrise, FJ NSB 2/2005, S. 5-17 Mielke argumentiert in diesem Beitrag dafür, dass die SPD ihre traditionelle Ausrichtung an der Gerechtigkeit als Leitwert nicht verlassen sollte. Schröders Politik der Agenda 2010 hat diese traditionelle Gerechtigkeitsauffassung verlassen. Der Gerechtigkeitsbegriff, dem im neuen Partei- programm eine Schlüsselrolle zukommen soll, soll sich einerseits stärker an philosophischen Vorstellungen des ,guten Lebens’ orientieren und andererseits die vorfindlichen Gerechtigkeitsvor- stellungen wichtiger gesellschaftlicher Gruppen aufnehmen, die der Partei nahe stehen. Nur mit dieser Mischung könne die SPD wieder mehrheitsfähig werden.

Gerd Mielke, Looking for für Justice. Some remarks on the debate about the SPD-program in a crisis of identity, FJ, NSB 2/2005, pp 5-17 Mielke argues that the SPD (Social Democrats Germany) should maintain their traditional under- standing of justice. But Schröder´s agenda 2010 breaks with this tradition. The concept of justice, which shall be central in the new party program should consider more the philosophical concept of ,good life‘. As well should be considered the ideas of justice as they are understood by important groups within society, which are close to the party. Only then SPD will gain majorities again.

Rudolf Speth, Strategiebildung in der Politik, FJ NSB 2/2005, S. 20-37 Der Beitrag verschafft einen Überblick über Die Diskussion zum Thema Strategiebildung. Wäh- rend die Diskussion in den Wirtschaftswissenschaften relativ weit fortgeschritten ist, gibt es in den Sozialwissenschaften große Defizite. Ähnlich sieht das Verhältnis in der Praxis bei Unternehmen und bei politischen Organisationen aus. Es fehlen Konzepte für strategische Planungsprozesse in politischen Organisationen. Strategiebildung muss mit Kommunikation verzahnt sein. Im Bereich der politischen Kommunikation ist Strategiefähigkeit geraden in der Wahlkampfkommunikation und bei der Kampagnenführung politischer Organisationen ein zentrales Element.

Rudolf Speth, Political strategy-development, FJ NSB 2/2005, pp 20-37 The article sums up the discussion on strategy-development in politics. Since in economics the discussion is on a rather advanced level there are deficits in social sciences. In praxis it is similar, political organisations lack concepts of strategy. Strategy-development has to be linked to commu- nication, especially in election campaigns, where it is an important element.

Andrea Nahles, Strategiebildungsprozess der SPD, FJ NSB 2/2005, S. 38-43 Andrea Nahles erläutert in ihrem Beitrag, was Strategie für Parteien bedeutet. Sie skizziert allge- mein den Prozess, den die SPD nach ihrem problematischen Start nach der gewonnen Bundestags- wahl 2002 durchlaufen hat. Da man die eigenen Ziele wieder stärker in den Vordergrund rücken konnte und sich stärker vom Gegner abgrenzen konnte, ist man momentan wieder in einer besseren Situation. Anhand der so genannten Bürgerversicherung erläutert sie konkret, wie Problemanalyse, Zielbestimmung und Durchführung innerhalb einer Partei ablaufen. Abstracts 139

Andrea Nahles, SPD´s process of strategy-development, FJ NSB 2/2005, pp 38-43 Andrea Nahles shows the relevance of strategies for political parties. She claims that the Social Democratic Party (SPD) is now in a rather good situation though they had a problematic start after the 2002 election. This is due to the fact that they could emphazise their aims and distinct from the political opponent. How the SPD analyzes problems, defines aims and realizes them she explains precisely in the context of the so called Bürgerversicherung (insurance for citizens).

Hans-Jürgen Urban, Gewerkschaften als konstruktive Vetospieler?, FJ NSB 2/2005, S. 44-60 Mit Blick auf die Überwindung ihrer strukturellen Defensive macht den Gewerkschaften ein Dilemma zu schaffen. Einerseits wächst die Notwendigkeit politischer Strategiebildung, andererseits schwinden Ressourcen und Umsetzungschancen gewerkschaftlicher Strategiepläne. Wollen die Gewerkschaften dennoch durch zeitgemäße politische Strategieplanung einen Beitrag zur Über- windung der Defensive leisten, empfiehlt sich ein Rollenverständnis als konstruktive Vetospieler, die der Mobilisierung von Vetomacht die von Veränderungsmacht hinzufügt. Aus dieser Sicht erweisen sich eine machtpolitische Neufundierung im Kapital-Arbeit-System, eine gesellschafts- politische Selbstmandatierung, mediale Profilierungsstrategie sowie die Transnationalisierung ge- werkschaftlicher Strukturen als Schlüsselaufgaben.

Hans-Jürgen Urban, Trade unions as constructive veto-players?, FJ NSB, pp 44-60 Trade unions face the dilemma that there is an increased need of strategy-development but their ressources decline. If trade unions want to develop strategies in order to overcome their devensive role the constructive veto player is the best model. So unions have to substantiate powerpolitics in the capital-work-system, take a stand in sociopolitcs, develop a profile in media and adjust their structures transnationally.

Christiane Zerfaß, Strategiebildung in Umbruchzeiten. Das Beispiel DGB, FJ NSB 2/2005, S. 61-67 Gewerkschaftliche Durchsetzungsstrategien stoßen im politischen Alltag immer mehr an ihre Gren- zen: Die Beteiligung an gesellschaftlichen Reformdiskussionen laufen oft nur noch schleppend und werden all zu oft von den Gewerkschaften als aufgezwungen erlebt, da sie nicht den organisa- tionseigenen Diskussionstempo entsprechen. Damit der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wieder eine Vorreiterrolle im politischen Meinungsbildungsprozess einnehmen kann und damit zukunftsfähig bleibt, muss er sich von seiner dezentralen Strategiebildung, die dem dezentralen Geschäftsmodell geschuldet ist, verabschieden und eine zentrale Gesamtstrategie entwickeln. Dafür bedarf es eines Erneuerungsprozesses, der Strukturen, Arbeitsweisen und Abstimmungsprozesse reformiert.

Christiane Zerfaß, Strategies in changing times. Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) as an example. FJ NSB 2/2005, pp 61-67 In everyday politics it is ever more difficult for trade unions to be successful with their strategies. Participation in discussions on sociopolitcs takes place rather slowly. Furthermore are these discus- sions regarded as imposed, as they don’t match the speed of discussions within trade unions. As the DGB wants to be an opinion leader in sociopolitics again, it has to overcome its decentralized strutures especially concerning stratgy-development. 140 Forschungsjournal NSB, Jg. 18, 2/2005

Uwe Schwarzer, Strategieentwicklung wettbewerbsorientierter Wohlfahrtsverbände, FJ NSB 2/ 2005, S. 68-75 Krisen – so behauptete einmal Max Frisch – sind produktive Zustände, sofern man ihnen den Charakter einer Katastrophe nimmt. Für die Wohlfahrtsverbände sind Strategieentwicklungspro- zesse in einer wettbewerbsorientierten Sozialwirtschaft unverzichtbar, doch bleiben sie mit der für die soziale Arbeit oft typischen Genesis ebenso wenig von Strategieblockaden verschont wie Wirtschaftsunternehmen. Ein kontinuierlicher Prozess der Verknüpfung strategischer Ziele, strate- gischen Entwicklungen und Handlungsoptionen mit regelmäßigen Strategiereviews bietet die Grund- voraussetzung der Vermeidung der Blockaden. Analysieren – Entscheiden – Handeln, dieser zeit- lich und inhaltlich konzentrierte Dreiklang aus der Welt der Piloten bedeutet für die Wettbewerbs- situation der Wohlfahrtsverbände allerdings auch die Beschleunigung von Strategieprozessen und damit schnellstmöglichem Reagieren auf neue Herausforderungen.

Uwe Schwarzer, Developing strategies for charity associations in competition, FJ NSB 2/2005, pp. 68-75 Crisis have to be considered as productive situations. For charity associations strategy-develop- ment is pivotal in a competetive market of charity services. But they have also to deal with blocka- des. A steady process of linking strategy aims and developing options of action which have to be reviewed are indispensible. Analysis – decision – action is the concentrated triad. But competition forces charity associations to accelerate the process of strategy-development.

Gerwin Stöcken, Die strategische Neuausrichtung der AWO in Deutschland, FJ NSB 2/2005, S. 76-79 Gerwin Stöcken zeigt die Probleme auf, vor denen die Arbeiterwohlfahrt (AWO) momentan steht und wie der Verband diese Probleme lösen will. Da es keine natürliche Verbindung mehr zur SPD gebe, verliere die AWO an sozialpolitischem Einfluss. Zudem müsse der Tatsache Rechnung getra- gen werden, dass das Interesse an der AWO in erster Linie aufgrund ihrer Dienstleistungen besteht. So müsse man einerseits die örtliche Ebene wieder stärken, andererseits aber auch der Ökonomisie- rung sozialer Arbeit begegnen. Die notwendige Professionalisierung zieht damit Strukturverände- rungen nach sich, die nicht immer leicht durchzuführen sind.

Gerwin Stöcken, AWO´s new orientation, FJ NSB 2/2005, pp 76-79 Gerwin Stöcken lines out the topical problems of Arbeiterwohlfahrt AWO (worker’s charity) and the proposals to solve them. Since AWO loses influence in social-policies and is for most people interesting only because of their services consequences have to be considered. So a focus on the local communities is as important as to cope with the economization of charity services.

Gerd Billen, Strategieentwicklung des NABU, FJ NSB 2/2005, S. 80-84 Gerd Billen zeigt in seinem Beitrag, wie sich der NABU strategisch neu ausgerichtet hat. Dies war notwendig, da es andauernden Streit zwischen den unterschiedlichen Ebenen des föderal organi- sierten Verbands gab. Er zeigt, wie es möglich ist, in föderal organisierten Verbänden eine Strategie zu entwickeln, die von allen getragen wird. Es kommt darauf an, dass man alle einbindet und vor Abstracts 141

allem das Engagement auf der lokalen Ebene würdigt. Er zeigt aber auch auf, wie hilfreich externe Beratung für NGOs ist. Aber gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Berater mit der Arbeit von NGOs vertraut sein müssen.

Gerd Billen, NABU’s strategy-development, FJ NSB 2/2005, pp 80-84 Since NABU had permanent quarrels between federal and local levels there was a need for a strategy explains Gerd Billen. He shows that both levels have to be involved in the process of strategy-development and the engagement on the local level has to be acknowledged. Furthermore he shows that extern advice is very helpful as long advisors are familiar with the work of NGOs.

Stefan Krug, Kampagnenstrategie und Strategiebildung bei Greenpeace, FJ NSB 2/2005, S. 85-89 Die Strategie von Greenpeace basiert auf den beiden Prinzipien: mit der eigenen Person Unrecht verhindern und den Aktionen maximale Öffentlichkeit verschaffen. Die Kampagnen von Green- peace sind als öffentliche Konfrontationen zu verstehen. Greenpeace hat aber im Lauf der Jahre diese Grundstrategie um Elemente erweitert. Durch die Veränderungen des Umweltthemas haben sich für Greenpeace neue strategische Herausforderungen ergeben. Notwendig wird eine strategi- sche Neuausrichtung, die nicht zuletzt mit der Focusierung auf neue Länder und Regionen zu tun hat.

Stefan Krug, How Greepeace does campaigning and strategy-development, FJ, NSB, pp 85-89 Greenpeace´s strategy is based on two rules: Preventing injustice personally and create as much public attention as possible. But Greenpeace had to add some new elements since the topic environ- ment changed not at last due to the fact that new countries are in focus now.

Warnfried Dettling, Strategiebildung und Strategieblockaden: Ein Resümee, FJ NSB 2/2005, S. 90-97 Der Beitrag zieht das Resümee aus den vorangegangen Tagungsbeiträgen und kommt zu einer skeptischen Bewertung: Strategiefähigkeit ist notwendig, hat aber auch ihre Grenzen durch die komplexe Wirklichkeit. Sie wird von den Akteuren nicht immer gewünscht, weil sie auch unlieb- same Konsequenzen hat. Weitere Hindernisse für Strategiebildung gibt es in der Parteiendemokra- tie und in der Fähigkeit von Politiker überhaupt noch Ziele benennen zu können. Auch sieht es mit den ,geschützten Räumen‘, in denen sich Strategiebildung vollziehen muss, in einer Mediengesell- schaft schlecht aus. Dettling kommt zum Ergebnis, dass die gegenwärtig zu beobachtende Entpo- litisierung die Strategiefähigkeit in der Politik tendenziell unmöglich macht.

Warnfried Dettling, Strategies and blocking strategies: A resumee, pp 90-97 Dettling sums up the previous articles and is rather sceptical on strategies. Of course it is necessary to develop strategies, but complex realities mark the limits. Protagonists are not always keen on it, as it leads to unwanted consequences. A further obstacle is the inability of politicians to fix aims. And the “protected areas”, which are pivotal for strategy-development are difficult to realize in a media society. Dettling claims that since there is depolitization it is impossible for political organi- sations to develop strategies. 142 Impressum

Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen Gegründet 1988, Jg. 18, Heft 2, Juni 2005 Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. • Gerokstraße 51 • 70184 Stuttgart Fax 0711/242088 • e-mail: [email protected] • www.luciusverlag.com Für die Forschungsgruppe NSB herausgegeben von Dr. Ansgar Klein; Jupp Legrand; Dr. Thomas Leif Redaktion: Nele Boehme, Berlin; Alexander Flohe, Düsseldorf; Dr. Ansgar Klein, Berlin; Dr. Ludger Klein, St. Augustin; Peter Kuleßa, Berlin; Jupp Legrand, Wiesbaden; Dr. Thomas Leif, Wiesbaden; Markus Rohde, Bonn; Dr. Jochen Roose, Berlin; Dr. Rudolf Speth, Berlin; Dr. Karin Urich, Mannheim Redaktionelle Mitarbeiter: Anja Löwe, Berlin; Stefan Niederhafner, Berlin; Tobias Quednau, Berlin; Elmar Schlüter, Marburg; Gabi Schmidt, Berlin; Steffi Schmoliner, Flensburg; Astrid Weiher, Bad Honnef Verantwortlich für den Themenschwerpunkt dieser Ausgabe: Dr. Rudolf Speth (v.i.S.d.P.); verantwortlich für Puls- schlag: Alexander Flohe, Remscheider Str. 18, 40215 Düsseldorf, e-mail: [email protected]; für Treibgut: Astrid Weiher, Rommersdorfer Str. 30a, 53604 Bad Honnef, e-mail: [email protected]; für Literatur: Dr. Karin Urich, Hoher Weg 15, 68307 Mannheim, e-mail: [email protected] Beratung und wissenschaftlicher Beirat: Dr. Karin Benz-Overhage, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Andreas Buro, Grävenwiesbach; Volkmar Deile, Berlin; Dr. Warnfried Dettling, Berlin; Prof. Dr. Ute Gerhard-Teuscher, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Robert Jungk (†); Ulrike Poppe, Berlin; Prof. Dr. Joachim Raschke, Hamburg; Prof. Dr. Roland Roth, Berlin; Prof. Dr. Dieter Rucht, Berlin; Wolfgang Thierse, Berlin; Dr. , Berlin; Heidemarie Wieczorek-Zeul, Berlin Redaktionsanschrift: Forschungsgruppe NSB, c/o Dr. Ansgar Klein, Mahlower Straße 25/26, 12049 Berlin, e-mail: [email protected] Homepage: www.fjnsb.de Förderverein: Soziale Bewegungen e.V., c/o Dr. Ludger Klein, Im Erlengrund 1, 53757 St. Augustin, e-mail: lepus.lk@t- online.de: Spendenkonto: Sparkasse Bonn, BLZ: 380 500 00, Konto-Nr: 751 460 7 Bezugsbedingungen: Jährlich erscheinen 4 Hefte. Jahresabonnement 2005: ‡ 39,-/ sFr 66,70,-, für Studierende gegen Studienbescheinigung ‡ 29,-/ sFr 50,70,-, Einzel- heft ‡ 14,-/ sFr 25,30,-, jeweils inkl. MwSt. (Versandkosten Inland ‡ 4,-/Ausland ‡ 8,-/ sFr 14,80,-.) Alle Bezugspreise und Versandkosten unterliegen der Preisbindung. Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich beim Verlag erfolgen. Abonnentenverwaltung (zuständig für Neubestellungen, Adressänderungen und Reklamationen) bitte direkt an die Verlagsauslieferung: Brockhaus/Commission • Postfach • 70803 Kornwestheim Tel. 07154/1327-37 • Fax 07154/1327-13 Anzeigenverwaltung beim Verlag (Anschrift wie oben) Es gilt die Anzeigenpreisliste vom 1. Januar 2005. © 2005 Lucius & Lucius Verlagsges. mbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Unter dieses Vorbehalt fällt insbesondere die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, die Aufnahme in elektronischen Datenbanken und die Vervielfältigung auf CD-ROM und allen anderen elektronischen Datenträgern. Das Forschungsjournal wird durch SOLIS, IPSA (International Political Science Abstracts), IBSS (International Bibliography of the Social Sciences), sociological abstracts und BLPES (International Bibliography of Sociology) bibliographisch ausgewertet. Karikaturen: Gerhard Mester, Wiesbaden Umschlag: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Satz: com.plot Klemm & Leiby, Mainz Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISSN 0933-9361