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SWR2 LITERATUR

ORPHEUS UND EURYDIKE EIN ALTER MYTHOS IN DER MODERNEN LITERATUR VON MICHAEL REITZ

SENDUNG ///19.11.2013 /// 22.03 UHR Redaktion Künstlerisches Wort /// Literatur /// Stephan Krass

Regie: Günter Maurer

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Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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(Collage:)

O-Ton Theweleit: Das ist ein Charakteristikum, diese Art Kunst zu produzieren, die Wunde offen zu halten, und es passiert mit einem merkwürdigen Mechanismus.

O-Ton Kumpfmüller: Schmerz und das Leiden an sich selbst und am Widerstand, den das Werk einem entgegensetzt, das ist eine absolut elementar notwendige Erfahrung.

O-Ton Gunnar Decker: Das Großartige ist in dieser Begegnung, dass es diesen quasi mystischen Verwandlungspunkt gegeben hat, wo sich zwei, die von verschiedenen Punkten her aufeinander zustürzen, sich vereinigen können, aber sich genauso notwendigerweise wieder trennen müssen.

O-Ton Orths: Andererseits ist diese Distanz in meinen Augen schon auch zwingend nötig, um sich nicht vollkommen zu verlieren in diesem Konkreten und in diesen Einzelheiten.

O-Ton Wiedemann: ‚Wie Orpheus’, nicht ‚ich bin Orpheus’. ‚Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod.’ Sie sieht ihn als jemand, der unter anderem für die Toten Gräber macht, indem er Gedichte schreibt.

Spr.3

„Und schon (…) war Eurydike ihm wiedergegeben auf dem Weg zur Oberwelt – als plötzlich den unbedacht Liebenden Wahnsinn ergriff: er blieb stehen, schon beinahe unter dem Tageslichte selbst, und zu seiner Eurydike blickte er selbstvergessen und besiegt durch sein Verlangen zurück. Da war alle Mühe umsonst und der Vertrag mit dem harten Tyrannen gebrochen.“

Spr. 1

In der „Georgica“ erzählt der altrömische Dichter Vergil von einem Mythos. Sein Ursprung muss etwa um das Jahr 800 vor Christus liegen. 3

Orpheus, der leierspielende Dichter und Philosoph, dessen Gesang und Musik selbst die wilden Tiere und die tosenden Meeresfluten besänf- tigen, hat seine Geliebte Eurydike durch ihren Tod verloren. Er steigt hinab in die Unterwelt und bringt die Götter durch seine Lieder und Gedichte dazu, ihm seine Frau aus dem Totenreich zurückzugeben. Unter einer Bedingung: auf dem Weg nach oben darf er sich nicht nach der hinter ihm gehenden Eurydike umdrehen. Als er es doch tut, stirbt Eurydike erneut.

Spr. 2

Dieser antike Mythos wirft seit jeher die Frage auf, ob diese Handlung des Meisterdichters tatsächlich nur aus Unachtsamkeit geschah. Oder wird ihm auf seinem Weg nach oben blitzartig klar, dass der Schmerz über den ersten Tod Eurydikes gleichzeitig die Quelle seiner künst- lerischen Arbeiten war? Zum ersten Mal wird diese These in der Musik artikuliert, in Claudio Monteverdis Oper „L’Orfeo“, uraufgeführt im Jahr 1607 in Mantua. Orpheus ist hier nicht der sich sorgende Liebhaber, sondern ein skrupelloser Künstler, dem zur Förderung seiner Kreativität jedes Mittel recht ist. Für den Freiburger Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Klaus Theweleit wurde diese Oper zum Ausgangs- punkt eines Deutungsangebots darüber, wie vor allem männliche künstlerische Prozesse entstehen.

O-Ton Theweleit:

Die Eurydike wird mit vollem Bewusstsein in den Hades versetzt, weil der Orpheus in seinem Text, den er singt, überdeutlich erklärt, dass seine wahre Liebe die Musik ist, die Leier. Und die Frau braucht er als Liebeskonkurrenz auf der Ebene gar nicht, sondern er braucht sie viel mehr als Tote im Hades und widmet ihr seinen ganzen Gesang. Der Künstler stellt die Verbindung zur Geschichte her über seine Kunst und über die tote Frau. Das ist mir an dieser Oper aufgegangen, und dann habe ich diesen Faden weiterverfolgt und gesehen, dass das ein Modell ist, die Geschichte durch bis in die klassische Avantgarde, also die 4

ganzen Poeten, die als Erfinder dieser klassischen Avantgarde gelten können, Joyce und Pound, Benn, etwas später Celine.

Spr. 1

Die Orpheus und Eurydike Geschichte ist einer der langlebigsten Künstlermythen. Wiederbelebt im frühen 17. Jahrhundert reicht dieser Mythos bis die Moderne. An einigen miteinander verwobenen Künstler- biographien wird das besonders deutlich. Unerreichbarkeit, versuchte Nähe, unerfüllbare Verschmelzungswünsche und Distanz wirken da als Produktionsbedingungen des literarischen Schaffens.

Spr. 2

Ingeborg Bachmann und .

Virginia Woolf und Vita Sackville-West.

Und schließlich Gottfried Benn mit mehreren Ehen, zahlreichen Liebschaften und der Beziehung zu Else Lasker-Schüler.

Spr. 1

In diesen Paar-Konstellationen wird das Hinabstoßen Eurydikes zum Modell. Orpheus muss aus dem Beziehungsleid seine Kreativität erzeugen, nur dann ist er authentisch und literarisch produktiv. Der Schmerz wird selber zum Stoff, zum Beschleuniger, der den Schrift- steller aus dem alltäglichen Betrieb hinauskatapultiert. Das kann so weit gehen, dass der Tod des Anderen nicht nur in Kauf, sondern in die poetische Kalkulation hinein genommen wird. Heilung von Verletzungen darf nicht geschehen, solange sie als Motor der Inspiration dienen können. Also darf sich auch die Liebesbeziehung niemals erfüllen.

O-Ton Theweleit:

Der Artist ist mit der Wirklichkeit verbunden über solche Wunden, die offen gehalten werden müssen. Wenn Benn sich bezeichnet als lebenslangen Sachbearbeiter von Wirklichkeiten, dann heißt das, alle Wirklichkeiten. Und davon sind etliche schrecklich und etliche sind in einen eingeschla- 5

gen. In der Selbstkonstruktion dieses Artisten gibt es den Artisten nicht ohne Wunde.

Spr. 3

„Es gefällt mir, wenn Menschen unglücklich sind, weil es gefällt, wenn sie Seelen haben. Die haben wir alle, zweifellos, aber mir gefällt die leidende Seele, die sich bekennt. Ich misstraue dieser harten, glänzenden, emaillierten Zufriedenheit. Unglücklichsein hingegen Dunst, Atmosphäre, Anteilnahme.“

Spr. 2

Virginia Woolf, von der diese Sätze stammen, hatte in den 1920er Jahren eine lange Liebesaffäre mit der Schriftstellerin Vita Sackville- West. Die Beziehung der beiden Frauen war gekennzeichnet durch ein ständiges Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe. Vor allem Vita Sackville-West pochte auf ihre Unabhängigkeit und stieß Virginia Woolf damit vor den Kopf.

Spr. 1

Im Herbst 1927 entschließt sich Virginia Woolf, ein Buch mit dem Titel „Orlando“ zu schreiben. Sie sagt ihrer Freundin unumwunden, was sie dazu gebracht hat: Verärgerung über eine ganze Reihe von Seiten- sprüngen Vita Sackville-Wests. Doch Virginia Woolfs Rache ist nicht konsequent. Denn sie braucht Vita zu sehr, als dass sie das Verhältnis gänzlich aufgeben könnte. Das schlägt sich auch in der Konstruktion des Romans nieder: „Orlando“ – das ist zunächst eine Parodie auf die biographische Literatur. Der Held wandelt unsterblich durch die Zeiten, verändert seinen sozialen Status und schließlich auch sein Geschlecht. Ein jeder aber soll in der titelgebenden Figur Vita Sackville-West erkennen. Diese schreibt an Virginia Woolf:

Spr. 3

„Großer Gott, Virginia, wenn ich jemals entzückt und entsetzt war, so von der Aussicht, in die Gestalt des Orlando hineinversetzt zu werden. 6

Welcher Spaß für dich, welcher Spaß für mich. Jede Rache, die du je nehmen willst, wird dir verfügbar sein. Vorwärts, wirf deinen Pfann- kuchen in die Luft, bräune ihn schön auf beiden Seiten, gieße Brandy darüber und serviere ihn heiß.“

Spr. 2

Virginia Woolfs Anspielung auf den Orpheus-Eurydike-Komplex und das darin enthaltene Problem der emotionalen Traumatisierung ist kaum zu übersehen. Die Figur des Orlando muss zunächst in einen todesähnlichen Schlaf fallen. Erst als er aus diesem Hades zurück ist, kann seine Geschichte der zahlreichen Metamorphosen und Zeitreisen erzählt werden. Virginia Woolf lässt ihn fragen:

Spr. 3

„Muss sich der Finger des Todes von Zeit zu Zeit auf den Tumult des Lebens legen, damit es uns nicht zerreißt? Sind wir so geschaffen, dass wir den Tod täglich in kleinen Dosen zu uns nehmen müssen, weil wir sonst mit dem Geschäft des Lebens nicht fortfahren könnten? War Orlando, erschöpft vom Übermaß seines Leids, für eine Woche gestorben und dann wieder ins Leben zurückgekehrt? Und falls ja, von welcher Art ist dann der Tod und von welcher Art das Leben?“

Spr. 1

Virginia Woolf artikuliert hier die Selbstzweifel des durch Leiden sensibilisierten Autors: es wäre schön, zufrieden und harmonisch leben zu können. Doch wäre das wirklich erstrebenswert? Hätte sich damit nicht auch jede Art von Kunst mit erledigt? Für Virginia Woolf ist keine gefühlsmäßige Katastrophe so schlimm, dass sie nicht durch den künstlerischen Prozess in Licht und Flamme verwandelt werden könnte.

Spr. 2

Offenbar ist der Dichter oder die Dichterin dazu verdammt, einen Monolog zu sprechen, der doch den Anderen sucht. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man sich die Liebesgeschichte von Gottfried Benn 7

und Else Lasker-Schüler ansieht. Beide sind Mitglieder der Berliner Bohème, als sie sich im Winter 1912 kennenlernen. Der junge Arzt Benn, der sein Geld in der Pathologie verdient, schreibt dezidiert unromantische Gedichte. Ganz anders die siebzehn Jahre ältere Else Lasker-Schüler: ihre Gedichte sind schwärmerisch, immer am Rand des Kitsch-Verdachts. Benn und Lasker-Schüler verlieben sich ineinander und schreiben über den jeweils anderen. Sie aus der Nähe, er mit einigem Abstand. Else Lasker-Schüler notiert:

Spr. 3

„Er steigt hinunter ins Gewölbe seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf. Er sagt: ‚tot ist tot‘. Dennoch fromm im Nichtglauben liebt er die Häuser der Gebete, träumende Altäre, Augen, die von fern kommen. Er ist ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzen- haupt, mit der Habichtnase und dem Leopardenherzen. Lang bevor ich ihn kannte, war ich seine Leserin: grauenvolle Kunstwunder, Todes- träumerei, die Kontur annahm. Jeder seiner Verse ist ein Leoparden- biss, ein Wildtiersprung.“

Spr. 1

Mit der Distanz von über dreißig Jahren erinnert sich Gottfried Benn:

Spr. 3

„Else Lasker-Schüler wohnte damals in Halensee in einem möblierten Zimmer, und seitdem, bis zu ihrem Tode, hat sie nie mehr eine eigene Wohnung gehabt, immer nur enge Kammern, vollgestopft mit Spiel- zeug, Puppen, Tieren, lauter Krimskrams. Sie war klein, damals knabenhaft schlank, hatte pechschwarze Haare, kurzgeschnitten, was zu der Zeit noch selten war, große rabenschwarze bewegliche Augen mit einem ausweichenden unerklärlichen Blick. Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder 8

Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auf- fallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern. Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte.

Spr. 1

Für den jungen Benn wird Else Lasker-Schüler zu einer Führerin durch das Leben, nicht nur in sexueller Hinsicht. Auffallend ist das An- schwellen seines dichterischen Arbeitens in der Zeit ihrer Liebschaft. Der zwischen Brotberuf als Arzt und Künstlerwelt zerrissene Benn fasst durch die erfahrene Lyrikerin überhaupt erst den Mut, eine Dichter- existenz zu wagen. Gleichzeitig hält er eine Art poetischen Mindest- abstand ein, durch den er allzu große Nähe vermeiden will. In seinem Gedicht „Drohungen“ heißt es:

Spr. 3

Aber wisse

Ich lebe Tiertage. Ich bin eine Wasserstunde.

Des Abends schläfert mein Lid wie Wald und Himmel.

Meine Liebe weiß nur wenige Worte:

Es ist so schön an deinem Blut.

Mein königlicher Becher!

Meine schweifende Hyäne!

Komm in meine Höhle. Wir wollen helle Haut sein.

Bis der Zedernschatten über die kleine Eidechse lief:

Du – Glück-

(…)

Ich treibe Tierliebe.

In der ersten Nacht ist alles entschieden. 9

Man fasst mit den Zähnen, wonach man sich sehnt.

Hyänen, Tiger, Geier sind meine Wappen.-

(…)

O-Ton Gunnar Decker:

Er braucht auch die Tarnung des bürgerlichen Berufs des Arztes. Also er will möglichst unscheinbar, unsichtbar als Person dabei bleiben.

Spr. 2

Der Publizist und Gottfried-Benn-Biograph Gunnar Decker.

O-Ton Gunnar Decker:

Und zugleich ist Else Lasker-Schüler diejenige, die ihm diese Großstadt-Cabaret-Szenerie in ihrer ganzen bunten, lauten, grellen Atmosphäre so nahe bringt. Und das ist für ihn eine Attraktion, das ist für ihn etwas Neues, aber das verbraucht sich auch. Und dann merkt er sehr schnell das, was sein Leben lang für ihn gilt: Dichten, schreiben überhaupt, das ist Gewaltakt in Isolation. Wenn man das Wesen und den Nerv der Zeit treffen will, dann darf man nicht mitlaufen, nicht hinterher rennen, sondern man muss still in sich hineinhorchen.

Spr. 2

In der ursprünglichen Episode aus dem Hades ist es der Gott Hermes, der das Paar begleitet. Er ist der Gott der widersprüchlichen Bot- schaften, der Traumdeutung und des Verstehens. All diese Eigen- schaften kommen auch bei einem Dichter zum Tragen. Sein Metier ist nicht das direkte und lineare Begreifen, sondern das suchende Erahnen. Ähnlich geht es Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. Ihre Gedichte, die sie mit Hinblick auf den jeweils anderen schreiben, sind durchwebt von Zweifeln, der Angst vor Missverständnissen und gespielter Eindeutigkeit. In dem Gedicht „Giselheer dem Tiger“ von Else Lasker-Schüler heißt es:

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Spr. 3

Über dein Gesicht schleichen die Dschungeln.

O, wie bist du!

Deine Tigeraugen sind süß geworden

In der Sonne

Ich trage dich immer herum

Zwischen meinen Zähnen.

Du mein Indianerbuch,

Wild West,

Siouxhäuptling.

Im Zwielicht schmachte ich gebunden am Buxbaumstamm -

Ich kann nicht mehr sein ohne das Skalpspiel.

Rote Küsse malen deine Messer auf meine Brust – bis mein Haar an deinem Gürtel flattert.

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Spr. 1

So leidenschaftlich-verrückt, so unkonventionell die Liebe zwischen Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler ist – im September 1913 reist der leichensezierende Lyriker zu seiner Freundin und Seelen- verwandten nach Hiddensee, um sich von ihr zu trennen.

O-Ton Gunnar Decker:

Das ist kein Machotum, das ist eine bestimmte Form, wie sein Schöpfertum funktioniert. Und zwar nicht über die Muse, sondern über eine Form von Verwandtschaft. Und geteilt im Rausch. Der ist natürlich befristet. Der kann nicht dauerhaft die Basis für eine Beziehung sein. Dann stellt sich ja die Frage: Soll sich das jetzt institutionalisieren? Auf welcher Basis sollen diese beiden Energiequellen nebeneinander existieren? Und das ist natürlich momenthaft, also eine Form des kurzen gemeinsamen miteinander Gehens. Verbürgerlichen lässt sich das nicht.

Spr. 2

Anzeichen für ein Auseinandergehen hat es vorher nicht gegeben. Für Else Lasker-Schüler war Benn ein Seelenverwandter, der sie beflügelte und den sie nie verlieren wollte. Und so trifft sie die Trennung besonders hart. Sie fällt in ein tiefes depressives Loch. Damit geht eine kurze intensive Beziehung grausam zuende. Vor allem für Gottfried Benns Lyrik wird sie stilbildend und zum Gründungsereignis seiner poetischen Autonomie.

O-Ton Gunnar Decker:

Eine bestimmte Zeit lang war das für ihn zugleich ein Durchlauferhitzer und Kühlschrank seiner Lyrik. Also etwas, eine Form von Befremdung seiner bisherigen Art, sich selbst und seine Umwelt zu sehen, und zugleich eine Form der Inbesitznahme. Das Großartige ist in dieser Begegnung, dass es diesen quasi mystischen Verwandlungspunkt gegeben hat, wo sich zwei, die von verschiedenen Punkten her 12

aufeinander zustürzen, sich vereinigen können, aber sich genauso notwendigerweise wieder trennen müssen, weil diese Intensität nicht teilbar und nicht in eine Form der Gemeinschaft zu bringen ist. Und dann sieht man ja an den Wegen, die beide schließlich gehen, wie sich da Positionen herauskristallisieren, die den Benn auch als jemanden zeigen, der ganz offensiv die Frau aus seinen Gedichten heraushält.

Spr. 1

So zum Beispiel in seinem Gedicht „Synthese“:

Spr. 3 (…) Ich bin gehirnlich heimgekehrt Aus Höhlen, Himmeln, Dreck und Vieh. Auch was sich noch der Frau gewährt, Ist dunkle, süße Onanie. (…)

Spr. 1

Eurydike wird zurückgestoßen, damit ein Mann in den Besitz seiner Worte kommt, eine Sprache findet, die nur ihm gehören soll. Doch sie ist nicht stumm. Else Lasker-Schülers Trauer drückt sich in dem Gedicht „Lauter Diamant“ aus:

Spr. 3

Ich hab in deinem Antlitz Meinen Sternenhimmel ausgeträumt.

Alle meine bunten Kosenamen Gab ich dir,

Und legte die Hand Unter deinen Schritt, 13

Als ob ich dafür Ins Jenseits käme.

Immer weint nun Vom Himmel deine Mutter,

Da ich mich schnitzte Aus deinem Herzfleische,

Und du so viel Liebe Launisch verstießest.

Dunkel ist es - Es flackert nur noch Das Licht meiner Seele.

Spr. 2

Trennung und Absonderung als Transformation des Dichters – bei keinem anderen Autor der klassischen Moderne zeigt sich das nach Ansicht von Klaus Theweleit so deutlich wie im Leben und Schreiben Gottfried Benns. Je intensiver er sich zu einer Frau hingezogen fühlt, desto abrupter erfolgt die plötzliche Distanzierung. Lieber die kurzen Qualen der zeitweiligen Einsamkeit als die Dauernarkose einer bürgerlichen Verbindung. Theweleit betont:

O-Ton Theweleit:

Dass also Orpheus eine Reihenbildung betreibt, und zwar je nachdem, wie seine Produktion sich ändert. Wenn er einen wichtigen neuen Schritt macht, für ihn wichtig, in eine andere Produktionsphase oder was Neues entdeckt in seiner Kunst, ist es fast immer so, dass er eine neue Frau dafür findet, die in diese, ich nenne das dann ‚mediale Frau’, Eurydike-Position gerät. 14

Spr. 1

Der Rausch, das Entgrenzte, wurde zwar von Gottfried Benn immer gesucht, doch gleichzeitig machte es ihm Angst, in solch entrückten Zuständen wie einer bedingungslosen Liebe die Kontrolle über seine Sprache zu verlieren. In der Rede der Mythen gesagt: Künstler wie Gottfried Benn brauchen die Entrückung, aber selbst sie muss sich nach Regeln vollziehen. Ihr Verbündeter ist Apollon, Gott der sittlichen Reinheit und Mäßigung. Doch es wäre falsch, die Rolle der Frauen auf eine Funktion zu beschränken. Bei Dichtern wie , , Herrmann Hesse oder Gottfried Benn geht - so Klaus Theweleit - die Rolle des Weiblichen wesentlich weiter.

O-Ton Theweleit:

Sie arbeiten die Frauen, die sie benutzen, in ihre Kunst ein, saugen sie aus und geben den Frauen das Werk zurück – auch mit Verbeugung – und sagen: Das warst du, die das ausgelöst hat. Ich nenne das Beziehungsmathematik. Die Wahrnehmung, dass man sich zusammen- tut, in diesem Fall mit Ehefrauen, die einem als mediale Frau in dem Zusammenhang nützen, und man selber die Empfindung hat, sie werden nicht ebenbürtig dabei.

Spr. 2

Der Mythos selbst und das Reden darüber sind zweierlei. Dichter leben davon, dass sie Spannungsfelder aufrechterhalten, Verletzungen nicht heilen lassen wollen. Doch das wahre Unglück ist jenseits des er- oder gefundenen Textes. Im Juli 1945 befindet sich Gottfried Benns Ehefrau Herta in Neuhaus an der Elbe, amerikanische Besatzungszone. Als die US-Truppen abziehen und die Sowjets kommen, begeht Herta Benn aus Angst vor einer Vergewaltigung durch Rotarmisten Selbstmord. Mehr als ein Jahr später schreibt Gottfried Benn das Gedicht „Orpheus‘ Tod“.

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Spr. 3 Wie du michzurücklässt, Liebste – Von Erebos gestoßen, dem unwirtlichen Rhodope Wald herziehend, zweifarbige Beeren, rotglühendes Obst – Belaubung schaffend, die Leier schlagend den Daumen an der Saite! (…)

Spr. 2

Klaus Theweleit formuliert unter dem Eindruck dieser Episode eine harte These: Gottfried Benn habe den Tod seiner Frau billigend in Kauf genommen, um sich so in die Position eines modernen Orpheus setzen zu können.

O-Ton Theweleit:

Das Irre bei der Orpheus-Position ist, dass er keine Hemmung hat, daraus Kunst zu machen. So wie Benn sein Orpheus-Gedicht anfängt mit: ‚Wie du mich zurücklässt, Liebste‘. Aber keineswegs hat sie ihn zurückgelassen, sondern er hat sie an einen Ort geschickt am Kriegs- ende, von dem er zwar geglaubt hat, er sei sicher. Er war aber nicht sicher. Und sie fällt den Russen in die Hände und fürchtet Vergewal- tigung und bringt sich um. Er schreibt das Gedicht aber so, als hätte sie ihn verlassen und macht daraus Orpheus im Nordsturm, der jetzt schrecklich leidet, weil er überlebt. Diese Gedichte sind ja ein Stück Mord.

16

Spr. 1

Hinter der Orpheus-Position steht einerseits der Wunsch nach Distanz und andererseits die Sehnsucht nach einer befruchtenden Nähe, die jederzeit wieder verlassen werden kann. Für den Berliner Schriftsteller Michael Kumpfmüller ist das eine anachronistische romantische Position, die ein unerreichbares Ideal vor die schriftstellerische Arbeit setzt.

O-Ton Kumpfmüller:

Ich habe damit deswegen ein Problem, weil dieser Mythos, nennen wir es mal so, des Künstlers nämlich, der sich von der Welt und dem Leben abwenden muss, um künstlerisch produktiv zu sein - das klingt ja wie ein Freiheitsversprechen für den Künstler. Du musst dich nicht um die Welt kümmern, du darfst asozial leben und dafür alle deine Energie in die Arbeit stecken. Aber es ist, wenn man – so finde ich – genauer hin- schaut, eben auch eine Enteignung. Geradezu ein Befehl, auf das Leben zu verzichten. Und da frage ich mich immer, wer diesen Befehl eigentlich gibt, und warum.

Spr. 2

Viel eher gehe es heute um die Profanität der literarischen Herstellung. Orpheus kannte weder Verleger, Abgabetermine noch den Druck durch Verkaufszahlen. Auch nicht das nervöse Flattern am Schreibtisch, wenn sich die Inspiration einstellen muss, und nicht das Schreibenmüssen für den Lebensunterhalt. Klaus Theweleit stimmt diesem Befund für unsere Tage zu:

O-Ton Theweleit:

Die Kunst aus der Orpheus-Position ist etwas eher Exklusives. Benn redet so, als gäbe es überhaupt nur zehn Menschen im Land, die berechtigt wären, gleichberechtigt, ihn zu sprechen, auf der Ebene der Kunst- produktion. Das hätte heute etwas Lächerliches. Wer heute einen Tick Vernunft hat, der weiß und sieht, dass die Künste viel weiter ins Leben 17

jedes Einzelnen eingedrungen sind. Also, Orpheus auf der Ebene ist tot, und ich sehe auch heute kein Kunstliebespaar, das auf der Ebene, mit dieser Tragödie im Hintergrund, funktionieren würde. Die Kunst ist in den Alltag gegangen und daran stirbt Orpheus.

Spr. 1

Der Literaturbetrieb und seine Markterfordernisse bestimmen heutzu- tage die Marschrichtung der literarischen Arbeit. Das Totenreich als Katalysator wird angesichts dieser Situation für Autoren wie Michael Kumpfmüller zu einem literaturwissenschaftlich-ästhetisches Konstrukt.

O-Ton Kumpfmüller:

Und von daher glaube ich keine Sekunde, dass Orpheus sich um- gedreht hat, um eine Arbeitslizenz zu ergattern, die ja übrigens, wenn das so wäre, den endgültigen Tod der Geliebten nicht nur ins Kalkül nimmt, sondern ihn in Kauf nimmt. Also ihn herbeiführt geradezu – in der Sprache dieses Mythos gesprochen.

Spr. 2

Kumpfmüller macht einen anderen Autor aus dem orphischen Arsenal stark. Es ist . Dessen langjährige Beziehung zu Felice Bauer war gekennzeichnet von einem ständigen Hin und Her zwischen Abstand und inniger Herzlichkeit. Kafka traute sich selber nicht zu, in einer Beziehung zu leben. Gleichzeitig war er jedoch immer bedacht, Felice Bauer nicht zu verletzen.

O-Ton Kumpfmüller:

Kafka versucht eben sein ‚Nein’ am Ende damit zu begründen, es ginge um das Schreiben. Das ist natürlich eine Ausrede, aber vor allen Dingen in der Folge etwas, was ihm überhaupt kein Glück beschert, denn dass er dann – wie er auch während der Beziehung ja immer schon geschrieben hat –, sozusagen ohne Ehe schreiben darf, was bedeutet das für ihn? Lassen wir die romantischen Wunden mal weg. Es geht darum, auf seiner Neurose zu beharren, oder auf seinem 18

Narzissmus zu beharren. Und das bedeutet natürlich für den anderen immer eine Zumutung. An dieser Zumutung, der wechselseitigen Zumutung der narzisstischen Aufladung und so weiter, kann man natürlich zuschanden gehen.

Spr. 1

Im mythischen Bild gesprochen, war Kafka derjenige, der im Hades zurückbleiben wollte. Er versuchte, aus dieser Zwickmühle heraus- zukommen, indem er seiner gesamten Umwelt das Angebot machte, er sei liebesunfähig. Und er suchte sich Verbündete. So schrieb er an den Vater seiner langjährigen Verlobten:

Spr. 3

„Ich bin schweigsam, ungesellig, verdrossen, eigennützig, hypochon- drisch und tatsächlich kränklich. Ich lebe in meiner Familie fremder als ein Fremder. Neben einem solchen Menschen soll Ihre Tochter leben können, deren Natur als die eines gesunden Mädchens sie zu einem wirklichen Eheglück vorherbestimmt hat? Sie soll es ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der kraft seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt oder gar allein herumwandert?“

Spr. 2

Michael Kumpfmüller hat unter dem Titel „Die Herrlichkeit des Lebens“ einen Roman über Franz Kafka und dessen letzte Liebesbeziehung zu Dora Diamant geschrieben. Herausgekommen ist dabei ein Anti- Orpheus, in dem der Autor Michael Kumpfmüller mit großer emotionaler Solidarität die Liebe Franz Kafkas erzählt – eines Menschen, dessen Schicksal es war, gleichzeitig Orpheus und Eurydike zu sein. In dem Buch heißt es:

Spr. 3

„Es lag an seiner Angst, dass er die richtige Frau nicht fand, dass er die Frauen erst lockte und dann vertrieb, indem er ihnen Angst vor seiner 19

Angst machte und sie verdächtigte, sie würden ihn am Schreiben hindern. Dabei schreibt er schon lange nicht mehr, seit vielen Wochen nicht.“

O-Ton Kumpfmüller:

Schmerz und das Leiden an sich selbst und am Widerstand, den das Werk einem entgegensetzt – am besten zu sehen immer beim Stein des Bildhauers –, das ist eine absolut elementar notwendige Erfahrung. Das würde ich sagen. Nur mir ist es zu sehr verengt auf dieses Minne- Konzept der abwesenden, unerreichbaren Geliebten, weil ich sagen würde, der Schmerz, der notwendige, ist ja auch zu produzieren im Kontakt, im Dialog. Das ist ja naiv zu glauben, dass wenn man es nur auf diesen Schmerz ankommen lässt, des einen Gegenübers, das unerreichbar ist, dass dann alle anderen Schmerzen ausgeschlossen sind. Also ich wäre sozusagen ein Pluralist der Schmerzen.

Spr. 1

Franz Kafka ist in seiner Beziehung zu Felice Bauer insofern ein moderner Orpheus gewesen, als er die Schmerzen dieser jahrelangen Affäre künstlerisch verarbeitete. Doch gleichzeitig ist Kafka ein verant- wortungsbewusster Orpheus. Er weiß, welches Spiel er spielt und dass es in einer Katastrophe enden kann, wenn er nicht einen rigorosen Schlussstrich zieht, um Felice Bauer aus diesem zermürbenden Gefühlschaos zu entlassen. Auch Klaus Theweleit sieht Kafka auf der Anti-Orpheus Seite:

O-Ton Theweleit:

Kafka erkennt dieses Prinzip bei sich. Mit Felice Bauer hat er so eine mediale Frau jahrelang im Briefverkehr in dieser Funktion gehalten, auch als Frau, die ihm Texte liefert, ohne dass sie das weiß, mit ihren Briefen, dieser dicke Briefband, wenn man den heute liest - es wimmelt von Sachen, die auch in Kafkas literarischen Texten auftauchen. Er sieht nach einer Weile, dass das eine Art von Tötungsspiel ist, das er da betreibt, löst die Verlobung, nennt das ganz klar und deutlich 20

Herausspringen aus der Töterreihe. Er sieht den Artisten, den Orpheus, tatsächlich auf der Killerseite. Kafka liefert die Anti-Orpheus-Theorie auf dieser Ebene.

Spr. 2

Aber es gibt noch eine andere Figur in diesem Spiel: Charon, den Fährmann. Er setzt über den Fluss, der die lebende Welt von der toten trennt. Charon hatte Orpheus ohne Entlohnung mitgenommen. Wie sollte der Dichter da nicht annehmen, dass ihn auch alle zukünftigen Passagen nichts kosten würden? Diese Pointe interessiert Michael Kumpfmüller besonders:

O-Ton Kumpfmüller:

Der Fährmann und das Geld, das man ihm gibt, um die Passage zu ermöglichen, das ist ja so ein Zugangsritual oder eine Form, wie soll ich sagen, der Entbindung, oder der Überschreitung. Das liegt ja schon im Bild selbst, dass etwas überschritten wird. Die Frage ist, ob der Fähr- mann ein anderer ist oder etwas in uns. Ich kann sehr viel damit anfangen, darauf will ich hinaus, dass beim Schreiben, aber sicher auch beim Komponieren oder Malen, was immer einer tut, Grenzen in dem Sinne und in der Absicht überschritten werden, um an Quellen zu kommen, die auf normalem Wege nicht anzuzapfen sind und deren eigentlicher wahrer Aufenthaltsort auch im Nachhinein unbekannt bleibt. Wenn ich mir einen Text anschaue, den ich geschrieben habe, kann es passieren, passiert es mir immer wieder, dass ich mich schon kurz danach, oder jedenfalls im Abstand eines Jahres wundere: Woher hast du das? Wer hat dir – also um im Bild zu bleiben – ermöglicht, dahin zu gehen und von dort was mitzubringen? Eine Botschaft, einen Bericht, was auch immer.

Spr. 1

Noch etwas anderes bleibt dem historischen Orpheus erspart: Er muss nicht aus dem Fluss des Vergessens trinken, bevor er die Unterwelt verlässt. Das kann man als ein Sinnbild dafür lesen, dass der Dichter 21

jederzeit über einen Zugang zu seinen verborgenen und verbotenen Sphären verfügt. Für Michael Kumpfmüller ist das ein eminenter Vorteil des Schriftstellerberufs.

O-Ton Kumpfmüller:

Ich muss auch immer weiter und immer wieder an diesen Ur-Schmerz- Fragen, oder wie man sie auch immer nennt, da herum machen. Aber das ist doch, wie soll ich sagen, wunderbar. Denn die Alternative, das muss man ja schon sehen, das ist ja immerhin eine Form der sehr eingeschränkten, aber doch eine Form der Selbstaufklärung im Prozess des Werkens. Muss ja nicht immer der Schriftsteller sein. Und da ist ja klar, dass ganz viele andere Menschen, die das qua Beruf gar nicht können, natürlich gar nicht die Möglichkeit haben, sich in der Weise selbst schmerzhaft, aber eben nicht nur schmerzhaft, sondern auch heilend zu begegnen. Sondern die tragen das gewissermaßen als ungelöstes Rätsel ein Leben lang mit sich herum, und das rumort, aber sie wissen gar nicht, was es ist. Also so gesehen ist der Künstler natürlich ein unglaublich Privilegierter, denn er kann, wenn er mutig ist, dahin gehen, dahin schauen. Und auch wenn er nie fertig wird, er kann das ein Stück weit bearbeiten.

Spr. 2

Der Orpheus-Eurydike-Stoff erfährt dann eine Wendung, wenn - wie im Fall von Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn - beide Protagonisten Autoren sind. Das trifft auch für und Paul Celan zu. Die junge Philosophiedoktorandin und der Dichter lernen sich im Früh- jahr 1948 in Wien kennen. Er, geboren im rumänischen Czernowitz, ein Überlebender des Massenmords an den Juden, ein Flüchtling aus dem kommunistischen Rumänien, Dichter. Sie, Philosophiestudentin und Lyrikerin, deren Vater eines der ersten NSDAP- und SA-Mitglieder in Österreich war. Nach mehreren Unterbrechungen und Zerwürfnissen kommt es 1958 zum Ende der Beziehung zwischen Ingeborg Bach- mann und Paul Celan. Beide sind zu diesem Zeitpunkt erfolgreiche Lyriker. 22

O-Ton Wiedemann:

Es war zum Teil dann natürlich eine Liebesbeziehung, aber es war auch eine sehr intensive Beziehung zwischen Autoren.

Spr. 1

Barbara Wiedemann, Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan.

O-Ton Wiedemann:

Wenn er zum Beispiel sagt: ‚So oft ich dieses Gedicht lese‘ - und meint ‚In Ägypten‘ - ‚So oft ich dieses Gedicht lese, trittst du herein.’ Da sagt er was ganz Wichtiges und was ganz grundsätzlich zum Gedicht überhaupt, dass diejenige, die da angesprochen wird, nicht die Bach- mann ist, aber dass es so aktualisiert werden kann bei jedem neuen Lesen. Und das ist ganz wichtig, dass man diesen Unterschied macht. Er sagt ganz Grundsätzliches, auch über sein Schreiben dadurch.

Spr. 3:

In Ägypten Für Ingeborg Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser! Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen. Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam!

Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst. Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden. Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen: Seht, ich schlaf bei ihr!

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Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken. Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi. Du sollst zur Fremden sagen: Sieh, ich schlief bei diesen!

Spr. 1

Was die beiden Liebenden verbindet, ist nicht nur das lyrische Werk und das Festhalten an ihrer problematischen Beziehung - denn Paul Celan ist verheiratet -, sondern auch die von Völkermord und Krieg geprägte europäische Nachkriegswirklichkeit.

O-Ton Wiedemann:

Sie bemüht sich, aber das hat natürlich damit zu tun, dass sie das als Aufgabe sieht, diesen Juden, diesen Angehörigen von Opfern mit dieser schwierigen deutschen und österreichischen Öffentlichkeit zusammenzubringen. Und nicht bei diesem Verschweigen mitzu- machen, das sowohl in Deutschland wie auch in Österreich doch stark propagiert wurde. Er war zu diesem Zeitpunkt, als ‚Der Sand aus den Urnen’ gescheitert war und er in Deutschland keinen Verleger fand, einfach irrsinnig froh darüber, so unterstützt zu sein. Ich meine, sie hat vor allen Dingen in österreichischen Zeitschriften ja Gedichte von ihm untergebracht. Sie hat aber auch versucht, in deutschen Verlagen ihn unterzubringen. Ohne Erfolg.

Spr. 2

Ingeborg Bachmann thematisiert in ihren Erzählungen immer wieder die Wunden der nationalsozialistischen Herrschaft in subtiler Weise. In Paul Celan, einem rumänischem Emigranten, findet sie einen Seelenfreund, der jedoch von Zeit zu Zeit den Raum zwischen ihnen vergrößert.

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O-Ton Wiedemann:

Paul Celan war ein sehr politischer Denker. Gerade in seinem Werk aus dem ersten Halbjahr ’58 ist das sehr, sehr gut ablesbar. Gedichte, die sich mit diesen ganzen Problemen Atombewaffnung der Bundeswehr, erste Algerienkrise in Frankreich befassen. Die beiden haben darüber gesprochen. In diesem Sinne waren sie sich in ihrer Wachheit, politi- schen Wachheit, sehr einig.

Spr. 1

Zugleich spiegelt sich in Paul Celans wie Ingeborg Bachmanns Gedichten ein tiefes Misstrauen gegenüber der verordneten Aufarbei- tung der Vergangenheit. Dabei ist oft in ihrer Lyrik der jeweils andere der eigentliche Adressat. So in Paul Celans Gedicht „Corona“:

Spr. 3 (…) Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: Es ist Zeit, dass man weiß! Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt, dass der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, dass es Zeit wird.

Es ist Zeit.

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Spr. 1

Am Ende ist auch ein Machtkampf der Geschlechter, ausgetragen mit den Mitteln der Lyrik. Paul Celan fühlt sich vor allem von der bundes- deutschen Literaturszene missverstanden und im Stich gelassen. Er verlangt von Ingeborg Bachmann, eine deutlichere Positionierung in diesem Streit. Sie reagiert verwirrt bis verärgert. Und doch es gelingt ihr meistens, den Zorn Paul Celans zu besänftigen.

O-Ton Wiedemann:

Sie setzt sich mit dieser Literatur, mit dem Gedicht nach Auschwitz, mit diesem Schlagwort setzt sie sich auseinander. Das ist für sie wichtig. Ich weiß nicht, ob sie sich gebraucht haben. Das weiß ich nicht. Sie sind sich begegnet zu einem für Celan sehr wichtigen Zeitpunkt, der auch für die Bachmann entscheidend war. Wenn man ihre Gedichte aus der ‚Gestundeten Zeit’ ansieht, dann hat sie sich mit Celan enorm beschäftigt.

Spr. 2

Für Klaus Theweleit markiert die Beziehung zwischen Ingeborg Bach- mann und Paul Celan einen grundlegenden Wandel in der Deutung des Künstlermythos Orpheus-Eurydike. Auch in der Literatur sind die Frauen wesentlich selbstbewusster geworden und lassen sich nicht mehr auf die Rolle der Inspirationsquelle festlegen.

O-Ton Theweleit:

Es gibt keine Eurydikes mehr in der Position, die den Artisten auf dieser Ebene anhimmeln, was die Frauen bei Brecht, bei Benn, bei Pound und so weiter, Joyce, ja ganz deutlich tun. Die inspirieren nicht einfach nur als Musen diesen Artisten. Die arbeiten mit. Die arbeiten massiv mit an dessen Kunstproduktion und nehmen in Kauf und wissen das zum Teil, dass sie ausgewechselt werden können.

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Spr. 1

Ingeborg Bachmann spielt ganz bewusst mit dem antiken Bild des Mythos, indem sie die Rollenverteilung am Ausgang des Hades nicht akzeptiert. Sie nimmt dem Kunstpathos der Wunde in fast satirischer Wendung seine Schärfe, ohne jedoch in Frage zu stellen, dass der Schmerz hinter der Lyrik stehen kann. Eurydike ist nicht mehr machtlos und spricht mit eigener Stimme. Hier in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Dunkles zu sagen“:

Spr. 3

Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen.

Vergiss nicht, dass auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch nass war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluss sahst, der an dir vorbeizog. (…)

O-Ton Wiedemann:

‚Wie Orpheus’, nicht ‚ich bin Orpheus’. ‚Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod.’ Sie nimmt Celan als jemanden wahr, der zu den Toten schaut. Das heißt aber nicht, dass ihr Verhältnis ein Orpheus-Eurydike-Verhältnis ist. Da sind Zitate aus Celans Gedichten drin, da sind auch sicher Elemente von Erzählungen drin, an die sie sich erinnert. Dinge, die er erzählt hat aus seiner Flucht zum Beispiel. 27

Ja, aber es ist eine Fabel, die da hineingebaut wird in die Geschichte. Es sind ja auch andere Erinnerungselemente drin wie diese Wien- Topografie, die hängt sehr deutlich mit Celan zusammen. Das heißt aber nicht, dass eine der Personen Celan ist. Ganz klar. Es sind ver- schiedene Elemente, die da gebaut werden. Das glaube ich, ist das ganz Entscheidende, dass man das wahrnimmt. Er guckt auf die Toten, diejenigen, die gar keine Gräber haben, weil diese Gräber auch noch vernichtet, verwischt wurden. Sie sieht ihn als jemand, der unter anderem für die Toten Gräber macht, indem er Gedichte schreibt.

Spr. 2

Der lyrische Dialog miteinander wird zum Medium zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ihre Erzählstränge verknoten sich ineinander. In seinem Gedicht „Brandung“ sagt Paul Celan:

Spr. 3 (…) Blicklos Schweigt nun dein Aug in mein Aug sich, wandernd heb ich dein Herz an die Lippen, hebst du mein Herz an die deinen: was wir jetzt trinken, stillt den Durst der Stunden; was wir jetzt sind, schenken die Stunden der Zeit ein. Munden wir ihr? Kein Laut und kein Licht Schlüpft zwischen uns es zu sagen. (…)

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Spr. 2

Die Erzählstränge verknoten sich ineinander. In Ingeborg Bachmann Gedicht „Erklär mir, Liebe“ heißt es:

Spr. 3 Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind, dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan, dein Herz hat anderswo zu tun, dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, das Zittergras im Land nimmt überhand, Sternblumen bläst der Sommer an und aus, von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe! (…)

Spr. 1

Paul Celans Briefe an Ingeborg Bachmann schwanken zwischen der Beschwörung ihrer tiefen Freundschaft und verbitterten, ungerecht- fertigten Vorwürfen. Immer häufiger äußert er die Angst, dass sie ihm entgleitet. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass es in ihrem Leben außer ihm noch andere Männer gibt. Ihre Bindung zu Celan jedoch bleibt stark.

Spr. 3

„Paul, lieber Paul, wir wissen es doch, dass es für uns fast unmöglich ist, mit einem anderen Menschen zu leben. Aber da wir es wissen, uns nicht täuschen und nicht zu täuschen versuchen, kann doch etwas Gutes entstehen, aus der Bemühung jeden Tag, das glaube ich jetzt doch. Du machst es mir nur dann schwer, wenn du zu vermuten 29

anfängst, dass ich etwas falsch verstehen könnte. Du sollst doch zu mir sagen, was immer zu sagen ist, das Unüberlegte, das Überlegte, es ist gleich vor mir, immer recht und immer gleich.“

Spr. 2

Die beiden Liebenden sehen sich gegenseitig zu, wie die Dunkelheit der Sprache zwischen ihnen immer größer wird. Beide versuchen, dieses Dunkle zu überwinden. Aber sie können sich nicht helfen in ihrer nahen Unerreichbarkeit füreinander. Paul Celan in einem Brief an Ingeborg Bachmann:

Spr. 3

„Vielleicht täusche ich mich, vielleicht ist es so, dass wir einander gerade da ausweichen, wo wir einander so gerne begegnen möchten, vielleicht liegt die Schuld an uns beiden. Nur sage ich mir manchmal, dass mein Schweigen vielleicht verständlicher ist als das Deine, weil das Dunkel, dass es mir auferlegt, älter ist.“

Spr. 1

Als die Beziehung endet, haben beide eine Fülle von Gedichten veröffentlicht, die ohne den anderen nicht entstanden wären. Liest man ihren Briefwechsel, so hat man nicht den Eindruck, dass es eine besonders glückliche Verbindung war. In dieser Korrespondenz findet sich auch ein Brief Ingeborg Bachmanns, den sie nie an ihren Geliebten abgeschickt hat:

Spr. 3

„Dass ich dich dennoch liebe, ist seitdem meine Sache geworden. Ich werde jedenfalls nicht, wie du, trachten, auf die eine oder andere Weise, mit dir fertig zu werden, dich zu vergessen oder dich fort- zustoßen aus meinem Herzen. Vergiss bitte nicht, mir wegen deiner Gedichte zu schreiben; ich möchte nicht, dass unsere anderen Abmachungen unter unseren persönlichen Rencontres leiden.“ 30

Spr. 2

Der Orpheus-und-Eurydike-Mythos, jene traurige Geschichte aus der Antike – taugt er heute noch als Arbeitsmetapher und Grundlage für Autoren? Der Karlsruher Schriftsteller Markus Orths hat sich in seiner Erzählung „Das Zimmermädchen“ an einer zeitgenössischen Variante des Themas versucht: Lynn, Putzfrau in einem Hotel, legt sich unter die Betten der Gäste und verbringt dort unerkannt ihre Nächte. Sie will entdeckt und herausgeführt werden, ein ungelebtes Leben kennen- lernen.

O-Ton Orths:

Das ist das, was der Schriftsteller macht. Er liegt unterm Bett der Leute und lauscht und hält sich zurück, hat Ohren offen, Augen offen und fängt dann an zu spinnen und an zu träumen und an zu fantasieren und denkt sich: Wie könnte das weitergehen? Was ist das für eine Geschichte? Was sind das für Figuren, für Menschen, für Leben? Insofern ist das für mich schon auch eine Analogie auf den Schrift- stellerberuf, was die Lynn macht. Das Putzen hat natürlich sehr viel mit dem Bearbeiten von Texten zu tun, denn da putzt man ja auch stundenlang, bis man manchmal den Text auch kaputt putzt und dann wieder neu dreckig machen muss, damit er funktioniert, also wieder Sachen reinholen muss. Das hat auch sehr viel mit dem Schreiben zu tun.

Spr. 1

Eurydike wartet auch in Markus Orths Erzählung auf Orpheus, der sie aus einem sinnlosen Dasein in eine erfülltere Variante des Lebens führt. Das geschieht schließlich, aber wie in dem antiken Mythos wird auch sie am Schluss genarrt. Wieder ist es ein Mitmensch, der Liebe verspricht, aber sich dann für die Distanz entscheidet. Also doch eine deutliche Parallele zu dem Künstlermythos vom einsamen Dichter, den der Schmerz am Leben erhält?

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O-Ton Orths:

Das ist eine spannende Frage der Absatzbewegung, dass man die Distanz auch als Fluchtraum nehmen kann und sich auch verlieren kann in dieser Distanz und den Moment, wo es vielleicht auch wehtun könnte, wo man wirklich sich mit sich und den anderen und der Welt auseinandersetzt, ein Stück weit auch aus dem Weg geht. Manchmal vielleicht auch aus Bequemlichkeit oder aus Angst oder aus Schrecken. Da liegt eine Gefahr drin. Das würde ich auch so sehen. Andererseits ist diese Distanz in meinen Augen schon auch zwingend nötig, um sich nicht vollkommen zu verlieren in diesem Konkreten und in diesen Einzelheiten.

Spr. 2

Die Geschichte von Orpheus und Eurydike ist noch nicht zu Ende erzählt. Wie ein schwaches, aber dennoch gut hörbares Hintergrund- rauschen begleitet sie in immer neuer Form das literarische Schreiben. Was alle Mythen auszeichnet, trifft für diesen Künstlermythos in besonderem Maße zu: sie müssen weiter erzählt werden und dürfen keinen Schluss haben.