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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Computer, Russenarmee

a Wenn Dinos durch das 20. Jahrhundert rumpeln, ein grauslicher “Terminator“ zu Metall zerläuft oder ein längst verstorbener US-Präsident wieder umher- spaziert – dann steckt meist Ed McCracken dahin- ter, Chef der kalifornischen Firma Silicon Gra- phics. Deren Bildercomputer erschaffen virtuelle Welten, die einem “Jurassic Park“ erst das Leben gaben, der Filmbranche, aber auch der Industrie zu einer neuen Dimension verhalfen und dem SPIEGEL zu seinem ersten komplett digital entworfenen Bild: Ein konventionelles Foto-Por- trät McCrackens entstand neu im Computer und wurde Bestand- teil einer Komposition, über die sich SPIEGEL-Redakteur Klaus Madzia vom Ressort Me- dien, Elektronik, Kommunikati- on, die Bildredaktion der Re- daktionsvertretung New York SUGAR und Silicon Graphics per elek- tronischer Post verständigten (Seite 146). Natürlich kam das Kunstwerk, wie es sich in ei- nem solchen Fall gehört, auf kürzestem Wege in den elektro- nischen Briefkasten in Ham- DESIGN: SILICON GRAPHICS; FOTO: JIM burg, und für Leser, denen es Digital-Bild mit McCracken mit der digitalen Premiere in diesem Heft schon wieder zu lange dauerte, gab es Gelegenheit zur vorzeitigen Betrachtung – letzten Samstag bereits, über das SPIEGEL-Forum im Daten- dienst CompuServe.

a Die Presse war ausgesperrt von der letzten Heim- reise der russischen Berlin-Brigade, aber der SPIEGEL rutschte wenige Stunden vor der Abfahrt doch auf die Passagierliste. Redakteur Christian Habbe begleitete die Soldaten bis in die Garni- sonsstadt Durnewo bei Kursk und erlebte Widersprü- che: Gastfreundschaft, samt Gurken und Wodka, in den Waggons, Eiszeit draußen. Polnische Grenzer drehen dem Russen-Zug demonstrativ die Rücken zu; im belorussischen Minsk, wo ein Ständchen der Mi- litärkapelle geplant ist, wird der Transport so- fort weitergepfiffen; in Smolensk umstellt eine Spezialeinheit der Miliz die Heimkehrer. In Kursk gibt es dann doch ein Fest, aber auch die letzte Ernüchterung. Die mit deutschem Geld erbaute Wohn- siedlung für die Armisten, die Habbe vor einem Jahr noch als “Megabaustelle voller Hoffnung“ emp- fand, präsentiert sich für ihn nun als ein “Alp- traum öder Normbauten“, und in manchen Kellern steht schon das Wasser (Seite 59).

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TITEL INHALT Die Lust auf Geld in der Jackpot-Gesellschaft ....96 Mathematik-Professor Riedwyl über die Psychologie des Tippens ...... 102 Stumme Dichter und Denker Seiten 18, 21 KOMMENTAR Rudolf Augstein: Auf ein neues! ...... 38 Die Intellektuellen machen sich im Wahl- kampf rar, nur einige Veteranen werben für die SPD. Autor Erich Loest kündigt im SPIE- SPIEGEL-ESSAY GEL-Interview mehr Einsatz an – falls es zur Bassam Tibi: Wie Feuer und Wasser ...... 170 Großen Koalition kommt.

DEUTSCHLAND Gysi ins Kabinett? Seiten 23, 77 Panorama ...... 16 Die PDS wird hoffähig: Sozialdemokrat Gerhard Schröder würde Intellektuelle: Scharpings mühsames in eine rot-grüne Koalition aufnehmen, ebenso Werben um Dichter und Denker ...... 18 denkt der Grüne . Indes, der mögliche Partner Erich Loest über das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Politikern ...... 21 hat Ärger in seiner Partei: Stasi-Informanten in Spitzenämtern Wahlkampf: Gespensterschlacht um die PDS .....22 würden gedeckt, meint PDS-Vorstandsmitglied Karin Dörre im PDS-Vorstandsmitglied Karin Dörre über SPIEGEL-Interview: „So haben wir in der SED gearbeitet.“ den autoritären Führungsstil der Parteispitze ...... 23 Daniel Doppler über Scharpings Berater ...... 25 Parteien: Wie CDU und FDP aus Blockflöten Demokraten machten ...... 26 Außenpolitik: Schäuble im Europa-Fettnapf ...... 28 Unternehmer für Öko-Steuern Seite 104 Hans-Dietrich Genscher über die Debatte um Kern-Europa ...... 29 Uno: Die Deutschen müssen auf den Platz im Sicherheitsrat warten ...... 32 Hauptstadt: Irene Dische über den Abschied der Amerikaner von Berlin ...... 34 Atomkraftwerke: Neue Indizien für Leukämie-Verdacht ...... 36 Medien: SPIEGEL-Gespräch mit Telekom-Chef Helmut Ricke über die Zukunft des Fernsehens ...... 41 Schürmann-Bau: Möllemanns stille Hilfe ...... 53 Truppenabzug: Die russischen Soldaten aus Berlin richten sich in ihrer neuen Heimat ein .....59 Altertümer: Baukonjunktur im Osten fördert Schätze zutage ...... 68 Gedenkstätten: Ostdeutsche strömen ZENIT ins Trierer Karl-Marx-Haus ...... 73 Forum ...... 75 D. GUST / PDS: Walter Mayr über die rote Renaissance Umweltverschmutzung im deutschen Osten ...... 77 Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über Daß Öko-Steuern die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefähr- die Frau, die den Fußballspieler den, glauben viele Industrielle. Es gibt jedoch immer mehr Unter- Oliver Möller niederstach ...... 93 nehmer, die für höhere Umweltabgaben plädieren. Einige Nachbar- länder haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht. WIRTSCHAFT Umwelt: Die Wirtschaft stellt sich auf neue Abgaben ein ...... 104 Bald 150 Fernsehprogramme Seite 41 BDI-Präsident Tyll Necker zur Öko-Steuer ...... 106 Trends ...... 108 Die Telekom will in die neue Pleiten: Konkurswelle im ostdeutschen Medienwelt einsteigen: In Baugewerbe ...... 111 sechs Städten sollen Test- Uwe Seelers seltsame Geschäfte ...... 114 haushalte an eine besondere Automobile: Weltweite Ford/Mazda-Allianz .... 117 Datenautobahn angeschlos- Software-Spiegel ...... 123 sen werden und schon bald Ökonomie: Der führende Wirtschaftshistoriker per TV-Fernbedienung ihr ei- der DDR ist produktiv wie ehedem ...... 125 genes Fernsehprogramm ge- stalten oder Waren bestellen GESELLSCHAFT können. Telekom-Chef Hel- Vereine: Nachwuchssorgen bei Sportklubs mut Ricke prophezeit im SPIE- und Hilfsorganisationen ...... 135 GEL-Gespräch, bis 1996 wer-

Fernsehen: Der Niedergang de es in Deutschland 150 TV- J. H. DARCHINGER des Drehbuchhandwerks ...... 140 Programme geben. Ricke Spectrum ...... 144 Film: Bildzauberer von Silicon Valley ...... 146

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 156 Schweden: Sozialdemokraten vor Comeback ... 158 Zurück zum Wohlfahrtsstaat Seiten 158, 161 SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller Per Olov Enquist über die Sehnsucht Wuchernde Schulden, nach dem alten Wohlfahrtsstaat ...... 161 viel Arbeitslosigkeit, Palästina: PLO-Chef Arafat in Geldnot ...... 164 wenig Selbstvertrau- Bosnien: Präsident Alija Izetbegovic´ en: traurige Bilanz für über die neue Zuspitzung des Konflikts ...... 165 Schwedens konserva- Weltbevölkerung: Blamage in Kairo ...... 166 tive Regierung vor den Eklat um die deutsche Wissenschaftlerin Parlamentswahlen. Charlotte Höhn ...... 168 Nur die Sozialdemo- Frankreich: Chirac fordert Balladur als kraten, glauben Bür- Präsidentschaftsbewerber heraus ...... 174 ger und Intellektuelle G.A.F.F. Rußland: Polizei geht mit Gewalt wie der Schriftsteller gegen Gewaltverbrecher vor ...... 180 Per Olov Enquist, kön- Ruanda: Wie die Tutsi-Rebellen

nen das Land aus der A. C. JANSSON / an die Macht gelangten ...... 188 Krise führen. Arbeitsloser bei Jobsuche per Computer Psychotherapie: Das Tal der glücklichen Prozac-Schlucker ...... 192

KULTUR Verblüffende Einheit Seite 215 Szene ...... 195 Heiner Müller, der ehemals ostdeutsche, und Botho Strauß, der Regisseure: SPIEGEL-Gespräch mit westdeutsche Dramatiker – beide „verherrlichen“ nun einträchtig Mike Nichols über Komik, Karriere den Balkankrieg. Der ungarische Schriftsteller Istva´n Eörsi kritisiert und seinen neuen Film „Wolf“ ...... 198 dies als besondere Pointe der neuen „deutschen Einheit“. Film: „Verführung der Sirenen“ von John Duigan ...... 208 Architektur: „Bauhaus“-Bauten aus dem Computer ...... 210 „Wolf“ unter Hollywood-Wölfen Seite 198 Intellektuelle: Der ungarische Schriftsteller Istva´n Eörsi über die „Die Jagd hat sich ver- geistige Wiedervereinigung schärft“, sagt der Regisseur der Dramatiker Heiner Müller Mike Nichols, der 1931 in und Botho Strauß ...... 215 Berlin geboren wurde und in Bestseller ...... 216 den USA als Kabarettist be- Literatur: Der Erzähler Hans Henny Jahnn gann, im Rückblick auf sei- als Frauenhasser ...... 220 ne teils glamouröse, teils Pop: Der Rapper Warren G kombiniert exzentrische Broadway- und Gangster-Härte mit sanften Melodien ...... 223 Hollywood-Karriere. Kino- Fernseh-Vorausschau ...... 254 stoffe, so Nichols im SPIE- GEL-Gespräch, müssen heu- WISSENSCHAFT te „extremer“ sein. Das trifft Prisma ...... 225 auch auf seinen neuen Film Medizin: Neue Tests zur Früherkennung

„Wolf“ zu, eine Horrorstory CINEMA des Infarkts ...... 231 mit satirischen Spitzen. Nichols-Film „Wolf“ Weltraum: „Ulysses“ erforscht die Sonne ...... 239

TECHNIK Transrapid: High-Tech-Reise ins Ungewisse .... 228 Schnelltest bei Infarkt Seite 231 Automobile: Erhöhte Feuergefahr durch Tanks im Heck? ...... 232 Bis als Ursache des Brustschmerzes ein In- SPORT farkt erkannt wird, geht oft kostbare Zeit verlo- Fußball: Nationalelf schleppt Altlasten ren. Mit neuartigen La- weiter mit sich herum ...... 242 bortests kann die Über- TV-Rechte: Der Trick des Kartellamts ...... 243 lebenschance von Herz- Eishockey: Der amerikanische Traum patienten verbessert in der deutschen Provinz ...... 245 werden: Die Tests kom- Schwimmen: Dagmar Hase über men mit winzigen Blut- große Gesten, Tränen und Gerechtigkeit ...... 247 mengen aus und spüren

K. ANDREWS / DIAGONAL den Infarkt binnen we- Briefe ...... 7 Infarktpatient, Notärzte niger Stunden auf. Impressum ...... 14 Personalien ...... 250 Register ...... 252 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 258

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BRIEFE In der Sackgasse Wenn Lehrerinnen und Lehrer nach Schluß der letzten Unterrichtsstunde (Nr. 35/1994, Titel: Der andere Unter- fluchtartig den tristen Lernort Schule richt: Abenteuer Lernen – Wie Schule verlassen, wo ist dann Zeit für soziales Spaß macht) Lernen im Freizeitbereich, entdecken- Ihren Autoren ist das Kunststück gelun- des Lernen in der Umwelt, Kooperation gen, die Misere des deutschen Schulwe- der Lehrkräfte. Der Beamtenstatus für sens und die – daraus erwachsene – päd- Lehrkräfte muß abgeschafft werden. agogische Revolution (von unten!) zu Die einzelne Schule muß in allen wichti- beschreiben und zu illustrieren. In der gen inhaltlichen und organisatorischen Tat hat die Schule nur eine Chance, Fragen selbstbestimmte Freiräume er- wenn sie sich von der Paukanstalt zum halten und – logo – dafür auch die Ver- offenen Lernort mausert, wenn aus antwortung übernehmen. Unterrichtsbeamten Erziehungspartner Aachen RUPPERT HEIDENREICH werden. Moringen (Nieders.) W.-D. SCHUMACHER Der Umstand, daß wesentliche Merk- male der 75 Jahre jungen Freien Wal- Die Schule ist nur zur Wissensaufnahme dorfschulen wie zum Beispiel Gutach- da. Soziale Werte, wie Selbständigkeit ten, Zeugnisse, frühes Sprachenlernen, und Gemeinsinn, sollten von der Fami- Vernetzung der Fächer, Selbstverwal- lie her schon vorhanden und eingeübt tung mehr und mehr von staatlichen sein. Die erzieherischen Defizite in der Schulen übernommen werden, könnte Familie kann die Schule nicht kompen- uns Genugtuung verschaffen; aber erst U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL Unterricht in der Helene-Lange-Schule*: Auf der Sonnenseite

sieren. Daher wird jeder noch so gut ge- eine Annäherung auch auf dem Felde meinte Entwurf in einer Sackgasse en- der Finanzierung durch den Staat bräch- den. te Fairness in den Wettbewerb. Dillingen (Bayern) ANDREAS GRAF Stuttgart WALTER HILLER Bund der Freien Waldorfschulen Das schmerzfreie Lernen ist so illusio- när wie die schmerzfreie Geburt. Sollen Endlich einmal ein konstruktiver Bei- Lehrer ständig Narkosen verabreichen? trag über Mißstände, vor allem aber Verl (Nrdrh.-Westf.) EGBERT DAUM vielversprechende Reformansätze im Die Helene-Lange-Schule in Wiesba- deutschen Schulwesen. Interessant da- den, Vorzeigeprojekt des hessischen bei ist, daß sich exakt die gleichen Pro- Kultusministers, räkelt sich unbestritten bleme der Schule auch an den Universi- auf der Sonnenseite der Schulland- täten wiederfinden. Selbstverantwortli- schaft: Gemäß Sondererlaß aus dem ches Lernen, Arbeiten im Team, pro- Jahre 1991 wird sie mit deutlich mehr jekt- oder problemorientiertes Lernen, Lehrerstunden und Finanzmitteln aus- fächerübergreifende Wissensvermitt- gestattet als andere weiterführende lung oder die Erfahrung, daß Lehren Schulen in Wiesbaden. Chancengleich- und Lernen Spaß machen könn(t)en, heit für Hessens Schulen?! – Einige finden weiterhin kaum Beachtung. Be- Schulen sind eben doch gleicher. dauerlich ist, daß durch die Verbildung an Schulen und später auch an den Uni- Wiesbaden LUISE DEGEN Hessischer Philologenverband versitäten ein Teufelskreis entsteht, in dem fachspezifisch fixierte, pädagogisch * In Wiesbaden. oft unzureichend vorgebildete Hoch-

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BRIEFE schullehrer inkompetente Lehrer aus- Schallende Ohrfeige bilden, die an den strukturellen und (Nr. 35/1994, Umwelt: Neue Steuer ge- konzeptionellen Problemen des deut- gen den Müll / Streitgespräch zwischen schen Bildungssystems scheitern müs- McDonald’s-Vorstand Rolf Kreiner und sen. dem hessischen Staatssekretär Rolf Berlin DR. REINHOLD HALLER FU Berlin AG Reformstudiengang Medizin Praml über Fast-food-Abfälle / Gabor Steingart über die Öko-Steuer) Wie aber sollen Lehrer Haltungen, Fä- higkeiten und Fakten vermitteln, die sie Die von den Kommunen jauchzend be- selber nicht besitzen. Fortbildungsange- grüßte Möglichkeit, Steuern (das sind bote – die es zumindest gibt – werden allgemeine Deckungsmittel) für Fast- wenig angenommen, da sie erstens in food-Abfälle zu erheben, wird doch nur die Freizeit der Kollegen hineinreichen dazu führen, marode Stadtsäckel zu fül- len, und eine Riege kleinkarierter Kom- und zweitens die zum Teil über Selbst- munalpolitiker in die Lage versetzen, kritik erhabenen Kollegen überfordern. die Einnahmen möglichst werbewirk- Eutin MARGRET GETTE sam unter das Volk zu bringen, um ihre Ihr Artikel sieht nur die Aspekte not- Wiederwahl zu erreichen. wendiger Reformen und Konzepte, Essen HARTMUT TEPEL nicht aber die Tatsache, daß in den Kultusministerien und Schulbehörden Lehrer sitzen, die von modernem Ma- nagement einer Schule und von wirt- schaftlichen Aspekten wenig verstehen, sind sie doch ein Leben lang als Schüler in ein und derselben Schule gewesen. Friedrichsdorf (Hessen) UWE GRUNER Vollgestopft mit Fachidiotie, steht man nach dem Schulabgang orientierungslos vor dem eigenen Leben. Was bringt mir mein detailliertes Wissen über das „Paarungsverhalten der Stichlinge“, wenn ich nicht in der Lage bin, eigen- verantwortlich Entscheidungen zu tref- fen. Leider macht die Schule gar nicht fit für die Zukunft, sondern fit für die „Generation X“. Böblingen (Bad.-Württ.) JÖRG IHLE

Der andere Unterricht beginnt mit dem R. FELDEN Mülldeponie in Bochum anderen Lehrer, der noch beziehungs- Jede Menge neuer Gesetze? fähig ist gegenüber Kindern und Ju- gendlichen und in ihnen nicht nur No- Die Entscheidung des Gerichts ist auch tenträger sieht. Schule braucht auch eine schallende Ohrfeige für die bayeri- Lehrer, denen Schule Spaß macht, die sche Staatsregierung; bereits 1988 hatte sich nicht in neurotischen Gesprächszir- der damalige bayerische Umweltmini- keln auf Selbstfindungstrips begeben, ster Alfred Dick zahlreiche Initiativen um dann burnoutmäßig abzutreten. zur Einführung dieser Steuer als „ver- Kirchheim (Bad.-Württ.) fassungsrechtlich unzulässig“ abgelehnt. KARL CHRISTOPH HERRMANN Im Kampf gegen die Müllflut setzte er Als ehemalige Schülerin der Helene- lieber auf einen flächendeckenden Aus- Lange-Schule habe ich diesen „Lebens- bau mit Müllverbrennungsanlagen an- raum“ kennengelernt. Dabei fiel mir statt auf Müllvermeidung durch ökolo- auf, daß jeder, der nicht genau in das – gisch ausgerichtete Steuern. ach so soziale – Schulkonzept paßte, Königsberg (Bayern) MANFRED WAGNER kategorisch fertiggemacht wurde. München ALEXA HAEUSGEN Jede Menge neuer Landesgesetze und unterschiedliche kommunale Papp- und Es wäre doch geboten gewesen, über Plastiksteuern scheinen nun zu keimen. „Lernen mit allen Sinnen“ bei Wolf- Simpel, korrekt und zudem mit einem gang Ratke, Comenius, Pestalozzi und prallen Innovationspotential wäre ei- Diesterweg nachzuschlagen, die schon ne steuerliche Umweltbelastungsbewer- vor Jahrhunderten ein bei weitem hö- tung beim Produzenten. Der hätte die heres geistiges Niveau zu diesem The- Müllentsorgung entsprechend der Her- ma nachgewiesen haben als die Offer- stellung zu zahlen, müßte sie in den Ver- ten der Frau Riegel. kaufspreis kalkulieren, und der Endver- Müllrose (Brandenburg) braucher kann über den Preis letztlich EBERHARD HANDRO entscheiden, wieviel Entsorgungsanteil

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er zu zahlen gewillt ist, und er hätte für menschlichen Lebens und wirksamere von der Naturrechtslehre. Dieser ist seine Mülltonne zu Haus nicht einen Entwicklungsprogramme ein und darf nämlich das Paradoxon zu verdanken, Pfennig zu berappen. sich dann von Rudolf Augstein mit der daß die Kirche Waffen segnet und Kon- Wilhelmshaven WOLF GERMER Ungeheuerlichkeit anpatzen lassen, dome verdammt: Erstere werden als la- „sie lasse nicht töten, sondern tötet tent sündhaft, letztere als stringent wi- Wenn der hannoversche Umweltde- selbst“. dernatürlich angesehen. zernent Hans Mönninghoff (Bündnis Graz HANNES LABNER Berlin RUDOLF RÜSSMANN 90/Die Grünen) beiläufig bemerkt, daß Diözese Graz-Leckau ein großer Teil des DSD-Mülls schließ- lich nicht verwertet werde, beweist dies, Mein Gott, wie wahr! Völlig heruntergekommen daß er vor sichtbaren Erfolgen des Dua- Es herrscht ein schreckliches Gewühle! len Systems bewußt die Augen ver- Bis auf den Papst ist jedem klar: (Nr. 34/1994, Professoren: Mit Pennä- schließt. Er sollte zur Kenntnis nehmen, Wir sind zu viele! lertricks zanken sich Hochschullehrer in Münster) daß das Duale System im Jahr 1993 ins- Düsseldorf OTTO BEIL gesamt 4,6 Millionen Tonnen Verpak- Das Institut für Publizistik in Münster kungen gesammelt und davon rund 85 Der Papst scheint ohne Mitleid. Wie ist das beste Beispiel für den Zustand Prozent der Verwertung zugeführt hat. aber ist die Zukunftsvorstellung Seiner des deutschen Bildungssystems: Die Seit Einführung des Dualen Systems Heiligkeit? Wird der Garten Eden ei- Qualität der Lehre ist völlig herunterge- sind nach Berechnungen des Bundesver- nes Tages wegen Überfüllung geschlos- kommen, und nicht etwa durch man- bandes der deutschen Entsorgungswirt- gelnde Motivation der Studierenden. schaft die bundesdeutschen Deponien Die haarsträubenden Studienbedingun- um 10 bis 15 Prozent entlastet worden. gen werden am IfP mehr als sichtbar. Köln PETRA ROB Duales System Deutschland Doch statt solche Zustände zu beenden und die Professoren zu zwingen, wenig- Endlich haben die Kommunen, die ja stens ein Minimum an geregeltem Stu- letztlich für die Beseitigung der Müll- dien- beziehungsweise Lehrbetrieb auf- berge zuständig sind, selbst die Möglich- rechtzuerhalten, lauten die bildungs- keit, gegen die Verursacher der Verpak- katastrophalen Vorschläge der Politi- kungsflut vorzugehen. Wir hoffen, daß ker „Studienzeitverkürzung“, „Zwangs- die Städte und Gemeinden in der Bun- exmatrikulation“, „Bafög-Kürzung“, desrepublik nun flächendeckend ent- „Numerus clausus“ und „Studiengebüh- sprechende Abfallsatzungen zur Erhe- ren“, um nur einige Stichworte zu nen- bung einer Verpackungsteuer erlassen. nen. Alle diese Maßnahmen gehen zu Nürnberg PROF. HUBERT WEIGER Lasten der Studierenden, deren Stu- Bund Naturschutz in Bayern dienalltag allzuoft geprägt ist durch mangelnde Betreuung. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kreiner! Münster EDUARD WOLTER Die zugegebenermaßen gute Arbeit Ih- Fachschaftsvertretung Publizistik rer Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster machen Sie mit Ihrer konfusen Argu- mentation fast vollständig wirkungslos. Alle Bekenntnisse, die McDonald’s in Tragendes Rückgrat den letzten Jahren zum Thema Müllver- (Nr. 36/1994, Automobile: Späte Ehrung

meidung veröffentlichen ließ, sind AFP / DPA für den wahren VW-Erfinder) nichts wert, wenn Sie starr an der Ein- Papst Johannes Paul II. wegverpackung festhalten. Widernatürliches Kondom Die Behauptung, daß Bare´nyi gewisser- Hameln (Nieders.) PETER HEINRICH maßen allein ein „Urheberrecht“ auf sen? Unsere Erde ist begrenzt. Wir den Käfer habe, stimmt so nicht. Das Menschen müssen lernen, behutsamer Deutsche Museum in München schreibt Ohne Mitleid mit unserer Natur umzugehen. Wir zu der Volkswagen-Grundkonzeption: Menschen müssen lernen, uns behutsa- (Nr. 35/1994, Rudolf Augstein: Wahre „Diesem 1936 von Ferdinand Porsche mer zu vermehren. Wenn der Vatikan Katastrophe) (1875 – 1951) konstruierten VW-Fahr- keine Verantwortung für millionenfa- gestell liegen hinsichtlich der Führung Immer wenn es um das Thema Papst ches Elend der Zukunft tragen will, und Federung der Räder und Lenkungs- und Kirche geht, scheinen bei Rudolf müssen es andere tun. Und handeln. anordnung eigene Ideen zugrunde. Die Augstein die Sicherungen durchzubren- Heute. Jetzt. optimale Triebwerkskombination und nen. Da senkt sich intellektueller Geist Stuttgart GERTRUDE OLDERDISSEN das tragende Rückgrat des Fahrzeuges auf grobe Platten von Biertischen Condom für die Welt gehen auf Be´la Bare´nyi (geb. 1907) und hernieder. Alles wird dann wunder- Hans Ledwinka (1878 – 1967) zurück.“ bar durcheinandergemanscht: Abtrei- Wir Christen sind aufgerufen, in den Und auch Bare´nyi hat nach dem Urteil bung, Ketzermorde, Kondomdiskussi- Kirchen die nicht mehr zumutbaren Re- gegen die Auto-Schriftsteller Horst on, Atomkrieg, waffensegnende Kardi- geln schnellstens zu ändern, da sonst Mönnich und Richard von Frankenberg näle, chilenische Diktatoren. der uns von Gott gegebene Selbsterhal- wörtlich erklärt: „Ich habe nie behaup- tungstrieb dazu zwingt, Gesetze mit Ge- Stuttgart VOLKER FARRENKOPF tet und werde nie behaupten, daß Por- Katholische Kirche im Privatfunk walt zu ändern. sche meine Pläne gestohlen hätte.“ Es Kirchdorf (Bayern) HANS WILDT geht uns keineswegs darum, die Leistun- Da setzt sich die katholische Kirche mit gen Bare´nyis für die Automobilentwick- Papst Johannes Paul II. an der Spitze Die katholische Kirche bedarf keiner lung herabzusetzen. massiv wie kaum eine andere Instituti- oberflächlichen Korrektur ihrer Sexual- Stuttgart ANTON HUNGER on für den ungeteilten Schutz des lehre, sondern der radikalen Abkehr F. Porsche AG

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Kulturelle Mitbringsel (Nr. 35/1994, Genetik: Rassenbegriff biologisch nicht haltbar) Eigentlich sollte auch die Anthropologie eine neutrale Wissenschaft sein. Was der Herr Cavalli-Sforza da von sich gibt, ist nichts anderes als Ideologie im Sinne der „political correctness“. In der Wis- senschaft ist absolut nichts sicher, schon gar nicht in der Anthropologie. Zum Beispiel gibt es die „multiregionale The- se“, die davon ausgeht, daß die Ent- wicklung des Homo erectus zum Homo sapiens an mehreren Stellen in Europa und Asien gleichzeitig stattfand. Recklinghausen KLAUS-PETER KUBIAK Zur Abwehr rassistischer Gespenster empfehlen Luca und Francesco Cavalli- Sforza die weitestmögliche Vermi- schung der Völker. Bei dieser Therapie würden aber auch die kulturellen Mit- bringsel der Gekreuzten zusammenge- rührt, vermutlich zu einer nordatlanti- schen Monokultur. Die äußeren Unter- schiede, die in 100 000 Jahren entstan- den sind, gehören zum kulturellen Erbe der Kontinente. In der Spannung zwi- R. RESSMEYER / STARLIGHT / FOCUS Kinder der Welt Begeisterung für kleine Unterschiede

schen den Menschenarten schwingt weit mehr mit, als die Rassisten – und die Genetiker – sich einbilden. Warum wir uns für bestimmte kleine Unterschiede begeistern (und totschlagen), kann die DNS-Forschung nicht erklären. München DR. FRANK BÖCKELMANN

Noch 1969, schreiben Sie, hatte der wir- re Rassist Arthur Jensen bei schwarzen US-Amerikanern ein vorwiegend erbli- ches IQ-Defizit geortet – man hätte da- zu unverfroren schwarze Schulkinder aus Slumgebieten mit weißen Wohl- standszöglingen verglichen. Die Unver- frorenheit ist ganz beim Schreiber Ihrer Zeilen, der das tut, was dieser schwieri- gen Frage am wenigsten gerecht wird: aus seiner Ahnungslosigkeit demagogi- sche Bosheit zu destillieren. Hamburg DIETER E. ZIMMER .

BRIEFE MNO Kommen und gehen 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 CompuServe: 74431,736 (Internet: 74431.736 @compuserve.com) (Nr. 35/1994, Tschechien: Hajo Schu- macher über Böhmens Rückeroberung HERAUSGEBER: Rudolf Augstein nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Ro- durch den Adel) CHEFREDAKTEUR: Hans Werner Kilz ques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . Tokio: Nachdem sie auf dem Abenteuerspiel- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wulf Küster, 5-12, Minami-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio platz Mitteleuropas und Böhmens kom- Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, 106, Tel. (00813) 3442 9381, Telefax 3442 8259 . Warschau: Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. men und gehen – und sich damit einen ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl-Heinz Namen machen –, liegen die Mitglieder Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press stenberg, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, unseres Hauses tatsächlich die längste Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schönbrunner Stra- Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, ße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 Zeit in der Gruft. Allerdings nicht seit Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- 800, sondern erst seit etwa 600 Jahren. Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker Auch Herr Klaus macht sich auf diesem Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, Spielplatz einen Namen – und das sogar Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Rie- Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra werts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, Claus-Dieter Schmidt, Man- noch viel schneller. Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, fred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Sennewald, Diet- Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Dr. Romain mar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Rainer Wört- Prag JIRˇ I´ LOBKOWICZ Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mah- mann, Monika Zucht ler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Hans-Georg Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Nachtweh, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joa- Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Alte Dolchstoßlegende chim Noack, Gunar Ortlepp, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Pauly, Jürgen Petermann, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten (Nr. 35/1994, Philosophen: Der Brief- Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie- Wiedner, Holger Wolters Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- wechsel zwischen Theodor W. Adorno Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, orama, Intellektuelle (S. 18, 21), Wahlkampf (S. 22, 25), Partei- und Walter Benjamin) Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthi- en, Außenpolitik, Uno, Hauptstadt, Schürmann-Bau: Dr. Gerhard as Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Ma- Spörl; für Wahlkampf (S. 23), Atomkraftwerke, Altertümer, reike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Hans Ger- Gedenkstätten, Forum: Clemens Höges; für Medien, Software- Hier wird das alte Vorurteil warmgehal- hard Stephani, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Spiegel, Film (S. 146), Kiosk: Uly Foerster; für Titelgeschichte, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans- Psychotherapie, Prisma, Transrapid, Medizin, Automobile ten, Adorno sei zumindest moralisch für Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred (S. 232), Weltraum: Jürgen Petermann; für Umwelt, Trends, Plei- Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Wid- ten, Automobile (S. 117), Ökonomie: Armin Mahler; für Vereine, das tragische Schicksal Benjamins ver- mann, Erich Wiedemann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Fernsehen, Spectrum, Pop, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Hö- Zolling, Helene Zuber antwortlich. Das mittlerweile stattliche bel; für Panorama Ausland, Schweden, Palästina, Bosnien, Welt- Alter dieser Dolchstoßlegende macht REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- bevölkerung, SPIEGEL-Essay, Frankreich, Rußland, Ruanda: gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe Dr. Olaf Ihlau; für Szene, Regisseure, Film (S. 208), Architektur, sie indes nicht wahrer. Adornos Bild, er Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter Intellektuelle (S. 215), Bestseller, Literatur: Dr. Mathias Schrei- Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße ber; für Fußball, TV-Rechte, Eishockey, Schwimmen: Heiner befinde sich Benjamin gegenüber in der 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Schimmöller; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; merkwürdigen Lage wie der Sänger des 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dirk für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Niejahr, Hartmut Manfred Weber; für Titelbild: Matthias Welker; für Gestaltung: Liedes „Es geht bei gedämpfter Trom- Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Chef vom Dienst: Norbert F. Pötzl (sämtlich Brandstwiete 19, mel Klang“, hat einen anderen Ort als Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 . Dresden: Se- 20457 Hamburg) bastian Borger, Christian Habbe, Dietmar Pieper, Detlef Pypke, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Sigrid Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Dr. Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Oststra- Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, ße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie- Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Pe- Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- tra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Pe- Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- ters, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Christof Schepers, Rolf G. Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, An- Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG AKG 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) Philosoph Adorno (1960) Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Schonungslose Kritik 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Jerusalem: Dr. Stefan Simons, 1, Bet Eshel, Old Katamon, Jeru- 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM salem 93227, Tel. (009722) 61 09 36, Telefax 61 76 40 . 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM suggeriert wird. Es bezieht sich auf die Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Kritik des Benjaminschen Baudelaire- fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Aufsatzes. Weil Adorno von dieser Ar- Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) beit das Beste an philosophischem Ge- Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; halt erwartete, kritisierte er sie scho- fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, nungsloser und äußerte den Vorschlag, 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; sie umzuarbeiten. Aus dieser Konstella- 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, 226 30 35, Telefax 29 77 65 tion ist aber keine unterlassene Hilfelei- 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner stung herauszudestillieren. (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- Leipzig ULF LIEDKE jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. 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DEUTSCHLAND PANORAMA

Wahlkampf Plutoniumhandel Teurer Verdacht CDU-Flop gegen V-Mann Einen teuren Flop leistete Der Plutonium-Fall von sich CDU-Generalsekretär München hat zur Verstim- im Wahlkampf. mung zwischen dem Bundes- Er sandte an „alle Schulen in kriminalamt (BKA) und dem Deutschland“ eine Diskette, Landeskriminalamt (LKA) auf der „das Regierungspro- Bayern geführt. Intern kriti- gramm der Unionsparteien sierte das BKA scharf die zur bevorstehenden Bundes- bayerischen Ermittler, die tagswahl“ vorgestellt wird. Mitte August 330 Gramm Gedacht ist die Sendung, so waffenfähiges Plutonium si-

Hintze in einem Begleit- T. RAUPACH / ARGUS chergestellt und zwei Spanier schreiben, als „Beitrag zur Nierentransplantation sowie einen Kolumbianer Stärkung der Wahlmotivati- festgenommen hatten. Die on bei jüngeren Wählerinnen Organspenden nahme widersprechen. Eini- Aktion sei, so das BKA, als und Wählern“ und als Ange- gen Parteifreunden Seeho- Geheimsache ohne Abstim- bot für den Politikunterricht. CSU gegen fers ist der Gesetzentwurf al- mung mit anderen Kriminal- Die Ausgaben von rund lerdings zu liberal. Sie stören ämtern durchgezogen wor- 500 000 Mark kann Hintze Seehofer sich vor allem daran, daß den. Der Vorwurf russischer abschreiben: Von den etwa Mit einem Transplantations- nicht nur Familienmitglieder, Politiker, es habe sich bei zehn Millionen Schülern an gesetz will Bundesgesund- sondern auch Personen ent- dem Schmuggel um eine Pro- 35 000 deutschen Schulen heitsminister scheiden dürfen, die mit dem vokation deutscher Behör- sind maximal eine Million (CSU) regeln, unter welchen Toten „in einer auf Dauer den gehandelt, erhält inzwi- wahlberechtigt. Aber auch Voraussetzungen die Organe angelegten häuslichen Le- schen neue Nahrung. Die die werden nicht in den von Toten entnommen wer- bensgemeinschaft“ zusam- beiden Spanier hatten nach Genuß der CDU-Werbung den dürfen. Falls nicht schon mengelebt hatten – also Darstellung von Sicherheits- kommen: Die Gesetze sämt- zu Lebzeiten das Einver- Freund oder Freundin. Auch experten zunächst ein Waf- licher Bundesländer schrei- ständnis erklärt wurde, sollen Ärzte stoßen sich an Seeho- fengeschäft geplant. Nach- ben vor, daß sich die Schulen nach Seehofers Plänen die fers Ideen, weil der Minister dem ein Mitarbeiter des Bun- „einseitiger Parteinahme zu- Angehörigen des Toten ent- den „übergesetzlichen Not- desnachrichtendienstes da- gunsten oder zuungunsten scheiden. Der Arzt muß stand“ gezielt ausschließen von erfahren hatte, sei ein V- gesellschaftlicher oder politi- dann ein ausführliches Ge- will, mit dem bislang Medizi- Mann des bayerischen LKA scher Gruppen und Interes- spräch mit ihnen führen; sie ner Transplantationen ohne an die Händler herangeführt senverbände“ zu enthalten können innerhalb einer be- ausdrückliche Einwilligung worden. Bei Treffen in Ma- haben. stimmten Frist der Organent- rechtfertigten. drid habe er ausdrücklich

Die Bonner Staatsanwaltschaft war auch der Frage nachge- gangen, ob Vöckings Vorgesetzter, Staatsminister , an der Aktion beteiligt war. Vöcking hatte ausgesagt, er habe „im generellen Einvernehmen gehan- delt“, aber Schmidbauer nicht konkret informiert. Die Staatsanwaltschaft sah daraufhin keinen Anlaß, auch gegen den Staatsminister im Bundeskanzleramt Ermittlungen ein- zuleiten. Vöcking ist längst wieder in der Bonner Politik aktiv –als Mit-

DARCHINGER H. WINDECK / BONN-SEQUENZ arbeiter des CDU-Abgeordneten und Kanzlerfreundes Jo- Vöcking Schmidbauer hannes Gerster, Mitglied der Parlamentarischen Kontroll- kommission zur Überwachung der Geheimdienste. Geheimdienst Beim Verzicht der Staatsanwaltschaft auf ein öffentliches Gerichtsverfahren gegen Vöcking sollen Informationen aus dem Kanzleramt mitgespielt haben, Vöcking sei in eine grö- Strafbefehl gegen Vöcking ßere Geheimdienstoperation geraten; die sei in diesem Früh- Der Fall des ehemaligen Abteilungsleiters im Kanzleramt jahr erfolgreich abgeschlossen worden. Es sei besser, die gan- und späteren Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, ze Angelegenheit nicht mehr in einem Prozeß aufzurühren. Johannes Vöcking, soll per Strafbefehl erledigt werden. Nach Gesprächen von Schmidbauer mit dem polnischen Die Bonner Staatsanwaltschaft hatte gegen den in einst- Staatspräsidenten Lech Walesa sei es gelungen, so die Ver- weiligen Ruhestand versetzten Beamten wegen des Ver- sion aus der Regierungszentrale, einen Spitzenagenten rats von Dienstgeheimnissen ermittelt. Vöcking hatte im des Bundesnachrichtendienstes aus polnischer Haft samt April 1992 einer Journalistin ein nachrichtendienstliches Familie nach Deutschland zu holen. Polen habe den BND- Papier über einen angeblichen polnischen Spion an der Spion nur unter der Bedingung freigelassen, daß drei im Seite des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten und Westen enttarnte polnische Agenten nicht weiter verfolgt SPD-Kanzlerkandidaten Björn Engholm konspirativ zuge- würden. Zu diesem Trio habe der Mann im Umkreis von steckt. Engholm gehört.

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vier Kilogramm waffenfähi- ges Plutonium verlangt und dafür eine dreistellige Millio- nensumme versprochen. Die Aussicht auf Riesengewinne habe in Moskau Tür und Tor geöffnet.

Nato-Generalsekretär Claes ist Favorit Der belgische Außenminister Willy Claes ist hoher Favorit für die Nachfolge des verstor- benen Nato-Generalsekre- tärs Manfred Wörner. Der Belgier, so ein Bonner Spit- zendiplomat, führe derzeit „mit großem Abstand“ vor J. GUYAUX Claes

dem Norweger Thorvald Stoltenberg und dem Nie- derländer Hans van den Broek. Deutsche wie Fran- zosen schätzen den Soziali- sten Claes als kämpferisch und durchsetzungsfähig. Da- gegen stößt der niederländi- sche EU-Kommissar van den Broek auf deutschen Widerstand. Bundeskanzler hat ihm bis heute nicht verziehen, daß er sich als Bremser in die Verhandlungen um die deut- sche Vereinigung einmisch- te. Auch der norwegische Ex-Außenminister Stolten- berg gilt als chancenlos. Ge- gen ihn spricht aus der Sicht von Amerikanern und Deut- schen, daß er sich als Frie- densvermittler im ehemali- gen Jugoslawien, so ein Kohl-Gehilfe, „nicht eben mit Ruhm bekleckert hat“. Die Briten könnten sich ebenfalls mit Claes abfinden – falls ihnen die Belgier im Gegenzug helfen, Sir Leon Brittan als Generalsekretär der Welthandelsorganisation (vormals Gatt) zu installie- ren.

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Intellektuelle „DAS LICHTLEIN IST WEG“ Nur die Veteranen unter den linksliberalen Intellektuellen mischen im Wahlkampf mit. Die jungen Dichter und Denker halten sich heraus – oder denken rechts. Die geringe Unterstützung macht vor allem den Sozialdemokraten zu schaffen. Erst im Fall einer Großen Koalition wollen die Intellektuellen mobilisieren.

or diesemAnruferistunterDeutsch- obachtet es der Soziologe Ulrich Beck, , die vom Philosophen lands linksliberalen Intellektuellen „eine gewisse Genugtuung, daß die alte Peter Sloterdijk im Kasseler Kampf um Vderzeit niemand sicher: „Hallo, hier gespenstische Schlachtordnung wieder ein Direktmandat für die Grünen unter- spricht der Klaus.“ da ist“. Dafür sorgt die Gespenster- stützt wird, meint, der typische 35jähri- Der Heidelberger Rechtsanwalt und schlacht um die PDS. ge politische Intellektuelle von heute sei Plakatkünstler Klaus Staeck, 56, Wahl- Wo aber sind die Jüngeren, wo ist die entweder Journalist oder Kabarettist. helfer der SPD seit Willy Brandts Zeiten, nächste Generation? Der Berliner „Als Meister der Feder kommentieren telefoniert in diesen Tagen kreuz und Schriftsteller Bodo Morshäuser, 41, sie den Schein des Scheins.“ Politische quer durch die Republik. Wer als Kohl- klagt rechtfertigend über den „schlech- Projekte? Nein, danke. kritisch gilt, wer von Berufs wegen eini- ten Zugang zu den großen Medien“. Er Die alten Kämpen aber, die seit Jahr- germaßen renommiert schauspielert, guckt sich den Wahlkampf leiden- zehnten dabei sind, wirken bei allem musiziert oder schreibt, der hat geringe schaftslos im Fernsehen an. Engagement ausgepowert. „Ich schwim- Chancen, ihm zu entkommen. Staeck will wieder einmal große und wohlklingende Namen für einen Wahl- aufruf zugunsten der SPD sammeln. Rund hundert Prominente, vornweg der Vorsitzende des deutschen Schriftsteller- verbandes Erich Loest, der Rhetorikpro- fessor Walter Jens und der Atomwissen- schaftler Klaus Traube, machen wieder mit. Seit vergangenem Samstag fordern sie in großen Zeitungsanzeigen: „Der Wechsel ist fällig.“ Zwischen den Sozialdemokraten und den Intellektuellen herrscht wieder pri- ma Klima, sollte man meinen. Versöhnt der einträchtig empfundene Wunsch nach Wechsel Geist und Macht? Schön wär’s. In Wahrheit lauern hinter jedem Wahl- aufruf jede Menge Zweifel. Die Vor- und Nachdenker leisten ihre Unterschrift am liebsten mit gesammelten Bedenken. Ei- ne „Jetzt-geht’s-los-Stimmung“, die seit der Dortmunder Großkundgebung vom vorletzten Sonntag zumindest weite Teile der Sozialdemokraten erfaßt hat, will un- ter den Intellektuellen nicht aufkommen. Von Elan keine Spur. Unter dem Man- gel an Zuspruch von Geistesgrößen in Kunst, Literatur und Wissenschaft leiden alle Parteien, am meisten die SPD. Helmut Kohl muß weg, sind sich so ziemlich alle Intellektuellen einig. Aber was dann, fragen sie unsicher und abwar- tend. Scharpings Wahlhelfer aus der Kultur- szene sind fast ausnahmslos Veteranen

ihres Metiers. Sie lassen sich pflichtge- S. KRESIN mäß mobilisieren. Sie empfinden, so be- Wahlkämpfer Staeck, Scharping: Unterstützung von den Veteranen

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me ein bißchen mit, aber großen Spaß Tisch erzählt, was ihn umtreibt. Dann feilen Sottisen über die realen Politiker macht es mir nicht mehr“, bekennt Klaus geht er zur Tür raus ins Sekretariat, und erschöpft (Henryk M. Broder über Traube, 66, der zu Ruhm kam, weil ihn das Lichtlein ist weg“. Scharping: „So unwiderstehlich wie eine Verfassungsschützer Mitte der siebziger Diese „Mischung aus Ratlosigkeit und kalte Dampfnudel“). Schorlemmer hat Jahre alsSympathisanten der Terroristen Melancholie“ (Härtling) hat auch ande- eine neue „Kultur des Zynismus und der verfolgten. re Intellektuelle befallen. In ihrer Not Häme“ ausgemacht: „Solcher Zynismus Für Erich Loest, 68, der einst in Baut- tun sie beides – sie bekennen, und sie ist die Feigheit, eine Position zu wagen, zen inhaftiert war und der ein vereinter zweifeln. Und vor allem stellen sie An- auch aus kluger Angst vor der Blama- Deutscher aus Neigung und Gesinnung sprüche an die Politiker, die sie in ihrem ge.“ ist, ist der Faden zur Bonner Politik „fast eigenen Metier auch nicht einlösen. Als er Bundespräsident war, versuchte völlig abgerissen“ (siehe Kasten Seite Den Geistigen und den Mächtigen er- sich Richard von Weizsäcker als Vermitt- 21). Walter Jens, 71, der sich jahrzehnte- geht es ja ähnlich. ler zwischen den Intellektuellen und den lang über Verstöße wider den Geist der Utopien und Visionen haben sie ein- Politikern bei Kamingesprächen. Ihm Republik wortmächtig erregte, kann sich gebüßt, der Ideenvorrat ist aufgezehrt. schwebt ein deutscher Octavio Paz vor; für die pragmatisch gewordene SPD nicht Hier wie dort eiferndes Reden und be- der mexikanische Schriftsteller und Di- mehr begeistern: „Warum reden die ei- redte Sprachlosigkeit. Die Intellektuel- plomat ist eine Identifikationsfigur in sei- gentlich nicht mehr über Utopien?“ len klagen über die provinziellen Politi- nem Land. Heinrich Böll kam dem Ideal Auch der Schriftsteller Peter Härtling, ker; die Politiker klagen über die Wirk- am nächsten, nachdem er den Nobelpreis 60, der sich für das Friedensdorf am Ran- lichkeitsferne der Elfenbeinturmbewoh- bekommen hatte. de der Startbahn West als Schreiber ein- ner. So jemand fehlt. setzte und den Scharping zuletzt im Fe- Soviel Unverständnis gab es öfter Auch die ostdeutschen Intellektuellen bruar diesen Jahres zum dreistündigen schon in Deutschland. mischen sich nur bedingt ein. Der Autor Gespräch in der Mainzer Staatskanzlei Die Intellektuellen haben traditionell Günter de Bruyn unterstützt Wolfgang empfing, ist enttäuscht. ein eher romantisches Verhältnis zur Thierse (SPD) per Wahlaufruf, der Wis- Scharping besitze „eine sehr schöne Politik – die Politiker ignorieren die senschaftler Jens Reich gibt sich als Bera- menschliche Kraft“, sagt Härtling. Den- Dichter und Denker vorzugsweise im ter Scharpings her. Die drei Theologen, noch empfinde er „Verzweiflung, Trau- Gefühl der Unterlegenheit. Schorlemmer, Richard Schröder und er, Unverständnis“ über einen Politiker, Friedrich Schorlemmer, den Pfarrer , beteiligen sich zuverläs- „der soviel mitbringt und so wenig rü- und Sozialdemokraten, ärgert das Miß- sig an jeder politischen Debatte über die berbringt: Der leuchtet, wenn er am verhältnis, das sich schon mal in wohl- PDS oder die Einigungskrise; mehr gibt J. H. DARCHINGER Kanzler Brandt, Brandt-Anhänger Böll (1972): Schöne Erinnerungen an spannende Zeiten

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es nicht. Die einstigen DDR-Emigran- statt Strauß“) kam wie von selbst auf Er traf nahezu alle privat, die von Buch- ten wider Willen, Bettina Wegener und Touren. Alle waren wieder dabei. Hel- händlern prominent plaziert werden. Das Stephan Krawczyk („Hier habe ich eine mut Schmidt, das kleinere Übel, durfte Ergebnis der kleinen und großen Runden Bühne und ein Publikum, außerdem weiterregieren. ist immer das gleiche: Der Kandidat zahlt mir die Partei 2000 Mark“), singen Brandt hatte Graß, Schmidt hatte nimmt für sich ein, aber er reißt keinen für die PDS. Popper, Kohl hat Kohl. Seit der Lei- mit. Streiten wollen sie ja alle, die Intel- denszeit mit , der in Günter Graß ist der Prototyp des zwei- lektuellen, na klar. Nur: Wofür eigent- den siebziger Jahren sein Generalsekre- felnden Bekenners. Am vergangenen lich? Engagieren würden sie sich ja auf tär war, hält sich der Kanzler Geistes- Mittwoch war er nach Berlin gereist, um jeden Fall. Aber: Wogegen? schaffende gern vom Leib. Der Histori- in der Kulturbrauerei des Prenzlauer Die Intellektuellen verhalten sich der- ker Michael Stürmer („Das ruhelose Berges für den Sozialdemokraten Wolf- zeit so, wie es Hans Magnus Enzensber- Reich“) war kurzzeitig geschätzter Rat- gang Thierse, der es in seinem Wahlkreis ger einst über die Leitartikler der Frank- geber im Kanzleramt; die Schriftstelle- mitStefanHeymzutunhat, zutrommeln. furter Allgemeinen sagte: Jedem Lob für Thierse Sie ringen schreibend die folgte ein Schlag gegen Hände. die SPD, „die ich wegen Sie haben’s ja auch ihrer Asylpolitik verlas- schwer, vor allem mit ih- sen habe“. resgleichen. Sollen sie Zu Recht mußte sich mit Hans-Ulrich Klose Graß aus dem Publikum und Wolf Biermann in fragen lassen: „Warum den nächsten Golfkrieg sitzen Sie dann schon wie- ziehen? Oder es sich mit der auf einer SPD-Wahl- Heidemarie Wieczorek- veranstaltung? Ist das Zeul und Günter Graß Ihr persönlicher Fatalis- pazifistisch bequem ma- mus?“ chen? Sollen sie sich wie Der Tübinger Radikal- oder Ger- demokrat Jens, der schon hard Zwerenz für die in der „Brandt-Böll-Ära“ PDS ganz ins Getümmel fürdieSPD stritt,magnur werfen? Oder wenigstens noch vereinzelt als Wahl- Joschka Fischer unter- kampfherold auftreten. stützen, der in Frankfurt In Scharpings Auftrag mit Jürgen Habermas ge- schrieb er für das Regie- wohnheitsmäßig über die rungsprogramm eine Pas- letzten Dinge palavert? sage zur Kulturpolitik. Schlimmer noch: Die „Ich erhielt aus der Ba- neue rechte Intellektuel- racke nur eine Eingangs- lenszene hat mit ihrer bestätigung“, berichtet

Debatte um Nation und A. SCHOELZEL er. Westbindung für zusätz- Kontrahenten Heym, Thierse: Ins Getümmel geworfen Auch der unermüdli- liche Verwirrung unter che Günter Wallraff ha- den Linken gesorgt. Was tun gegen die rin Gabriele Wohmann darf schon mal dert mit dem Herausforderer des Dau- Noltes und die Zitelmänner? Schweigen mit auf Staatsreisen. erkanzlers. Aus gutem Grund: Im Au- oder gegenhalten? Das Nationale als al- Kohl komme gut ohne eine Kampa- gust vergangenen Jahres hatte er den ter 68er bekämpfen, oder mit Ernst gne der Intellektuellen zu seinen Gun- von islamischen Fundamentalisten ver- Bloch Gefühle fürs Vaterland als nun sten aus, meint Alexander Gauland, der folgten Salman Rushdie nach Rhein- einmal gegeben anerkennen? Oder mit jahrelang für nach- land-Pfalz eingeladen. Scharping sollte Habermas den Verfassungspatriotismus dachte – „sie würde ihm möglicherweise sich, das war Wallraffs Idee, mit europäisch erweitern? nur schaden“. Der zeitgenössische Be- Rushdie öffentlich solidarisieren. Geblieben sind die schönen Erinne- rufspolitiker, urteilt Gauland, sei ein Ein Treffen mit dem Kanzlerkandida- rungen an Zeiten, als die Politik dank pragmatischer Mensch kleinbürgerlicher ten, wehrte die Mainzer Staatskanzlei großer Gegensätze und spannender Al- Herkunft. „Was ist für Habermas an ab, sei nicht opportun, da mehrere ara- ternativen aufregend war. „Willy wäh- Kohl oder Schröder interessant?“ bische Staaten das Todesurteil billigten. len“, ertönte es 1972 im Wahlkampf uni- Erst als die Peinlichkeit publik wurde, sono aus Kulturzentren, Fernsehsen- traf sich Scharping mit Rushdie. dern und Schriftstellerstuben. „Wunder- Brandt hatte Graß, Um solchen Kleinmut in Sachen Men- bare Zeiten waren das“, schwärmt Gün- Schmidt hatte Popper, schenrechte kreist das Unbehagen der ter Graß noch heute. meisten Intellektuellen. Die enttäusch- Brandt, der Emigrant, der gelernte Kohl hat Kohl ten und rasch enttäuschbaren Citoyens Journalist, der Reformer und Friedens- verübeln der SPD, daß sie sich – Asylge- politiker, zog die Schriftsteller und Pro- Der Kanzlerkandidat Scharping be- setzgebung, Oskar Lafontaines Presse- fessoren magnetisch an. So sind sie: Sie müht sich, die Zunft der Denker und gesetz, Lauschangriff – der Regierung nehmen am liebsten Partei für Charis- Schreiber persönlich für sich einzuneh- Kohl anpaßt. matiker – oder was sie dafür halten. men. Im Dortmunder Westfalenstadion „Extrem versündigt“ habe sich da die Franz Josef Strauß war ihre allseits forderte er jüngst Künstler und Intellek- SPD, klagt Friedrich Küppersbusch, geschätzte Haßfigur. Im Wahlkampf tuelle in einem Anflug von Pathos auf: Moderator des Fernsehmagazins Zak. 1980 nannte er die Linksintellektuellen „Stehen Sie nicht abseits.“ Der 33jährige weiß noch, wie „die „Ratten und Schmeißfliegen“ – welche Bei drei „Ideentreffs“ suchte er die SPD uns in den Siebzigern einprügelte, Ehre. Der Anti-Wahlkampf („Freiheit Nähe zu Hunderten Kulturschaffender. das Grundgesetz sei das Nonplusul-

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tra“. Und dann zum Beispiel die Peters- Für die bürgerliche Intelligenz, die Der 16. Oktober rückt näher, die berger Beschlüsse zum Asyl: „Plötzlich materielle Not nicht kennt, zählen Bür- Wahl wird doch irgendwie spannend, hieß es: War alles nur Spaß, damals.“ ger- und Menschenrechte mehr als die aber viele Intellektuelle warten lieber ab Brandt gewann mit seinem Slogan Beiträge zur Rentenversicherung. Den und lauern der neuen Zeit entgegen. „Mehr Demokratie wagen“ Zulauf bei idealen Politiker wünscht sich der ge- Falls es zur Großen Koalition kommt, den Intellektuellen. Scharping setzte auf meine Intellektuelle von heute ohnehin kündigt Erich Loest an, würden die die Spießerparole: „Sicherheit statt als Mischung aus Richard von Weiz- Schriftsteller „mobilmachen wider den Angst“. säcker und Che Guevara. Stillstand“.

„Vieles selbst versaut“ Erich Loest über das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Politikern

Loest, 68, ist Vorsitzender des SPIEGEL: Gibt es kein Thema, das Sie SPIEGEL: Die Schriftsteller könnten Schriftstellerverbandes und lebt reizt, im Wahlgetümmel mitzuma- ja selbst Reformideen formulieren. abwechselnd in Leipzig und in chen? Worauf warten Sie? Bonn. Loest: Die Parteien sind so furchtbar Loest: Zugegeben, die Liste der weit weg von den Themen, auf die es Schriftsteller, die sich politisch SPIEGEL: Künstler und Intellektuelle wirklich ankommt. Keiner redet heu- überhaupt artikulieren wollen, ist sind im Wahljahr verstummt. Inter- te von der Notwendigkeit einer Ein- nicht lang. Das könnte sich aller- essiert Sie die Politik nicht mehr? wanderungspolitik. Keiner macht dings schon bald ändern: Wenn es Loest: Der Kontakt zu den Bonner sich wirklich Gedanken, wie wir mit in Bonn nach dem 16. Oktober zur Parteien ist fast völlig abgerissen. den Kindern der italienischen und Großen Koalition kommt, sind alle Die Funktionäre besinnen sich doch außerparlamentarischen Kräf- auf uns immer nur dann, wenn Wah- te gefragt, auch der Schrift- len vor der Tür stehen. Sogar zwi- stellerverband. Dann müssen schen uns und den Leuten vom SPD- wir mobil machen wider den Kulturforum, die eigentlich unse- Stillstand. Es ist auch unsere re Ansprechpartner sein sollen, Aufgabe, dafür zu sorgen, herrschte lange Zeit Funkstille. daß nicht alles in den Partei- SPIEGEL: Was war früher anders? strukturen versackt. Loest: und selbst Hel- SPIEGEL: Sie geben ein rot- mut Schmidt haben Schriftsteller um grünes Reformbündnis schon Rat gefragt. Leute wie Heinrich verloren? Böll, Siegfried Lenz und Günter Loest: Scharpings Troika hat Graß haben regelmäßig geantwor- mich positiv überrascht. tet. Der Dialog hat beiden Seiten Wenn die SPD sich nicht zu gutgetan. Heute ist der Nichtkontakt dieser Dreierlösung entschlos- die Regel. Ich finde das nicht nor- sen hätte, wäre alles dahin- mal. gedümpelt. So besteht we- SPIEGEL: Warum ist der Kontakt ab- nigstens wieder die Chan- gebrochen? ce zu einem Regierungswech- Loest: Ich habe das Gefühl, die Poli- sel. tiker mögen uns nicht mehr. Früher SPIEGEL: Viele ostdeutsche

haben die Kulturfunktionäre der KARWACZ Schriftsteller fühlen sich zur

SPD wenigstens unsere Schriftstel- K.B. PDS hingezogen. Woran liegt lerkongresse besucht. Zu dem dies- Schriftsteller Loest das? jährigen Treffen in Aachen ist nicht „Ich vermisse die große Reformdebatte“ Loest: Das sind im Herzen al- einer gekommen. Wo war Freimut te Linke, und ein bißchen Duve? Wo war ? Wo türkischen Gastarbeiter umgehen. Anarchie und Romantik ist auch blieb Günter Verheugen? Der Schriftstellerverband wird nach dabei. Viele ostdeutsche Intellektu- SPIEGEL: Der Schriftstellerverband der Bundestagswahl eine Initiative elle wurden zwar in der DDR von lag jahrelang in Fehde mit sich zur Einführung einer doppelten den Stalinisten gemaßregelt, hätten selbst. Überrascht Sie die Zurück- Staatsbürgerschaft starten. aber doch gern eine demokratische haltung der Politiker wirklich? SPIEGEL: Mehr interessiert Sie nicht? DDR gehabt. Jetzt suchen sie ihr Loest: Ich gebe zu, wir waren ein de- Loest: Ich vermisse eine große Re- Heil hinter der roten Fahne. solater Haufen, und natürlich haben formdebatte. Niemand traut sich SPIEGEL: Und was sucht Erich wir auch im Verhältnis zur Politik richtig ran an eine ökologische Poli- Loest? vieles selbst versaut. Mein Ziel als tik. Nehmen Sie nur die Diskussion Loest: Die PDS von Gregor Gysi Vorsitzender ist es, um mit Böll zu um das Tempolimit: Da vertreten ist für mich eine lächerliche Trup- sprechen, die „Einigkeit der Einzel- CDU und SPD an zwei Tagen drei pe. Ich bin ein rot-grüner Wechsel- gänger“ wiederherzustellen. Meinungen. balg.

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Die PDS werde im Wahlkampf Kampf gegen die Sozialdemokraten in- strumentalisiert. So erleichtere man Bombastisch das menschliche Zu- sammenwachsen nicht, sondern erschwere und festlegen verlangsame den Ver- einigungsprozeß. Das Der Wahlkampf ’94 findet sein findet Frührentner Weizsäcker. Thema: die PDS. Schröder Der Wahlkampf und Fischer wollen Gysi als Mini- werde „gegen eine Schimäre“ geführt. ster in die Regierung nehmen. „Der Kommunismus ist tot, aber der Anti- elmut Kohl wurde bei seiner Lieb- kommunismus lebt.“ lingsbeschäftigung gestört. Das Das findet Altrentner HFestmahl zur Verabschiedung der Scheel. Alliierten Schutzmächte in Berlins Daß da bleiben- Charlottenburger Schloß am vorigen der Schaden angerich- Donnerstag konnte der Gastgeber nicht tet werden könnte, genießen, weil sich zwei ältere Herren, weiß auch Wolfgang Schäuble, der die Einheit verhandelte. Trotzdem macht er wie von allen guten Gei- stern verlassen Stim- mung gegen das PDS- Häuflein alter SED- Kader und junger Lin-

ker, das 1990 von 11,1 J. H. DARCHINGER Prozent der Ostdeut- Widersacher Scharping, Gysi: Gemeinsam in die Regierung? schen, meistenteils den Verlierern der Einheit, gewählt worden fängen nicht wehre, lasse zu, „daß die- war. se Bundesrepublik Deutschland in ih- Beläßt es Kohl in seinen Wahlreden rem Fundament verändert wird“. noch dabei, die PDS-Leute in Anleh- Intern redet Schäuble ganz anders. nung an ein Zitat des SPD-Altvorderen Die PDS sei kein großes Problem. Die Kurt Schumacher als „rotlackierte Fa- werde an Bedeutung verlieren und schisten“ zu beschimpfen, so setzt ganz verschwinden, je weiter sich „die Schäuble mittlerweile Gregor Gysi und Lebensverhältnisse in Ost- und West-

G. STOPPEL seine PDS mit Adolf Hitlers Nazi-Partei deutschland einander angleichen“. Nur PDS-Gegner Schäuble gleich. ist es soweit noch lange nicht. „Komplott zu Lasten der Demokratie“ In einem Schreiben an die Mitglieder Der langweilige Wahlkampf ’94, von seiner CDU/CSU-Fraktion vom 29. Juli den etablierten Parteien an den unan- beide etwas schwerhörig, lautstark an verstieg sich der Vorsitzende zur Aussa- genehmen Wahrheiten des großen Pro- der Tafel über ihn unterhielten. ge, es gebe ein „Komplott zu Lasten der blemstaus in der Bundesrepublik vor- Die Bundespräsidenten außer Dien- Demokratie zwischen SPD und PDS“. beigeführt, hat sein Thema, immer- sten, Richard von Weizsäcker und Wal- Schäuble zog eine Parallele zur Macht- hin. ter Scheel, flankiert von Frankreichs ergreifung der Nazis, die 1933 von Aber warum soviel Aufregung? Vier Präsident Franc¸ois Mitterrand und dem Reichspräsident Paul von Hindenburg Jahre lang hat die SED-Nachfolgeorga- britischen Premier John Major, bestätig- in ein Regierungsbündnis gehievt wor- nisation weithin unbeachtet im Bonner ten sich wechselseitig in ihrer Empörung den waren. Parlament gesessen. In Brandenburg über das Niveau des Wahlkampfs ’94. Die SPD wolle mit Hilfe der PDS, halfen PDS-Abgeordnete immer mal Der sei „öde und inhaltsleer“ „den Erben des Totalitarismus“, regie- wieder der SPD/FDP-Minderheitsregie- (Scheel). Typisch jenes Kohl-Plakat, ren. Schäuble: „Mich erinnert dieses rung über die Runde. „auf dem nicht mal der Name einer Par- Denkmuster an die Naivität jener, die in Die schon siegesgewisse Bonner Re- tei, geschweige denn eine programma- den frühen dreißiger Jahren eine totali- gierungskoalition ist wieder unruhig ge- tische Aussage zu sehen ist“ (Weiz- täre Partei an der Regierung beteiligten, worden. Die PDS könnte ihr die Mehr- säcker). um sie vermeintlich in die Verantwor- heit verhunzen. Vorige Woche standen Für ganz und gar „unerträglich“ tung zu nehmen.“ laut Allensbach CDU/CSU und FDP (Weizsäcker) aber halten die zwei ehe- Die Gleichsetzung der PDS mit den bei 48,5 Prozent; SPD, Grüne und maligen Staatsoberhäupter aus den Rei- Nazis, verantwortlich für Auschwitz und PDS brachten es auf 48,8 Prozent. hen von CDU und FDP die Kampagne den Zweiten Weltkrieg, sollen die Uni- Die PDS hat beste Chancen, drei ihrer Mutterparteien gegen die PDS: ons-Abgeordneten hinaus ins Land tra- Direktmandate zu erringen. Die sozial- Wie diese Partei verteufelt werde, ma- gen. Fraktionschef Schäuble forderte sie demokratischen Genossen könnten so- che die Ostdeutschen zu den „Leidtra- auf, „dies den Wählern immer und im- gar nachhelfen. Aber weiß die SPD, genden“. mer wieder zu sagen“. Wer solchen An- wen Sie da unterstützt (siehe Seite 23)?

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In der SPD wird derzeit eine Erst- ne Koalition nehmen, falls SPD und Kanzlerschaft in Abhängigkeit von der stimmen-Kampagne zugunsten der Grüne am 16. Oktober keine eigene PDS nicht zur Verfügung stehen, sagt er PDS erwogen. In aussichtsreichen Kanzlermehrheit zusammenbekommen. landauf, landab, weil er die Wähler der PDS-Wahlkreisen im deutschen Osten Auch Schröder kann sich Gregor Gysi bürgerlichen Mitte nicht verschrecken würden dann SPD-Wähler per Mund- als seinen Bonner Kabinettskollegen will. funk animiert, mit der Erststimme die vorstellen – „zum Beispiel im Amt des Ist Scharping am Ende doch flexibel? PDS, mit der Zweitstimme SPD zu Wohnungsbauministers“, ebenfalls zur Vor kurzem noch wollte er nichts von wählen. Die SPD hätte doppelten Vor- Bewährung. Rot-Grün wissen. Jetzt gefiele ihm so- teil: Der potentielle Helfershelfer PDS , der zweite Flügel- gar eine Ampelkoalition. Mit den diszi- wäre im ; die Sozialdemo- mann Scharpings, mahnt seinen Vorsit- plinierten Kadern der PDS aber lasse kraten erlitten keine Stimmeneinbu- zenden, sich in Sachen PDS nicht sich doch leichter zusammenarbeiten als ßen. „bombastisch festzulegen“. mit den Liberalen, wirbt der unbedenk- Die PDS würde bei drei Direktman- Kanzlerkandidat Scharping aber liche Schröder für den Machtwechsel danten mit rund 30 Abgeordneten in bleibt stur – noch? Er werde für eine um jeden Preis. Bonn anrücken, wenn sie es auf insge- samt etwa 4 Prozent brächte. Schäuble nennt noch andere Gründe für die Kampfeinsätze seiner Union ge- gen das kleine politische Eigengewächs der Ex-DDR: Die Unterschiede zwi- „Wie in der SED“ schen Union und SPD, bis zur Aus- tauschbarkeit gefährlich verwischt, PDS-Vorstandsmitglied Karin Dörre über die Parteispitze würden nun mit „sensationellem Er- folg“, wie Umfragen belegten, wieder klar gemacht. SPIEGEL: PDS-Spitzenmann Gregor Gy- So lasse sich die eigene Anhänger- si preist die Partei öffentlich gern als ein- schaft mobilisieren, die auf Parolen von zig demokratische und ehrliche Alterna- der Güte „Freiheit statt Sozialismus“ tive. Erkennen Sie in solchen Sprüchen anspringe. So lasse sich die SPD-Kund- Ihre Truppe wieder? schaft spalten, die etwa zur Hälfte ein Dörre: Leider immer weniger. Oft wird Zusammenspiel mit der PDS ablehne. nur noch das Bild einer Partei beschwo- In Ostdeutschland stößt die antikom- ren, wie sie mal sein sollte, als wir mit der munistische Kampagne ins Leere. Nach SED Schluß machten. In der Realität er- Umfragen der Mannheimer For- lebe ich die PDS von innen anders. Von schungsgruppe Wahlen glauben 62 Pro- der „Partei der Erneuerung“ zu spre- zent der Wahlberechtigten dort, die chen, fällt mir zunehmend schwerer. PDS werde „zur Durchsetzung ostdeut- SPIEGEL: Wer bestimmt in der PDS, wo scher Interessen gebraucht“. Eine rot- es langgeht? grüne Minderheitsregierung mit PDS- Dörre: In vielen wichtigen Bereichen Duldung finden immerhin 44 Prozent spielt der Bundesvorstand keine wesent- der Ostdeutschen „gut“. liche Rolle, etwa bei der Aufstellung der Dem brandenburgischen CDU-Ge- Bundestagskandidaten. Daß die auf ei- genspieler von Manfred Stolpe, Peter ner Pressekonferenz vorgestellt wurden,

Wagner, paßt die Haudrauf-Mentalität erfuhren wirausder Zeitung. In der PDS- D. KONNERTH / LICHTBLICK a` la Schäuble und Kohl nicht recht: Spitze gibt es Geheimdiplomatie. Da PDS-Kritikerin Dörre „Die PDS als Partei und ihre Wähler mauscheln und kungeln, selbst bei strate- „Ich finde das zynisch“ sind für mich keine rotlackierten Fa- gischen Entscheidungen, Gregor Gysi schisten.“ und der frühere stellvertretende Partei- SPIEGEL: Gaukelt die Führung den Welch Geheul aber wird ertönen, chef, Andre´ Brie, gemeinsam mit ein Wählern eine PDS vor, die es nicht gibt? wenn wahr werden sollte, worüber der paar engeren Vertrauten. Der Vorstand Dörre: An der Basis, in den Kommunen, Grüne Joschka Fischer und der Sozial- hat, wenn alles schon gelaufen ist, kaum wird ehrlich und fleißig gerödelt, das er- demokrat Gerhard Schröder heute noch eine Chance, sich einzumischen. leben die Wähler. Aber das Interesse an schon reden? Beide wären bereit, die PDS an einer rot-grünen Bundesregie- rung zu beteiligen. Karin Dörre kleinzuhalten. Bei ihrer Wahl zur Bun- Beide sind der Überzeugung, daß die destagskandidatin hatte Kaiser, 34, Tolerierung einer rot-grünen Minder- gehört zum 18köpfigen PDS-Bundes- nur zugegeben, Kontakte zum Ministe- heitsregierung durch die PDS nach vorstand. Das ehemalige SED-Mitglied rium für Staatssicherheit gehabt zu ha- Magdeburger Muster in Bonn nicht in ist heute verantwortlich für die Partei- ben. Doch aus ihrer Stasi-Akte geht Frage kommt. zeitschrift Disput und Abgeordnete des nun hervor, daß sie unter dem Deckna- Fischer: „Wenn schon, denn schon. Berliner Landesparlaments. Der Streit men „Katrin“ jahrelang als Inoffizielle Dann sollte man die PDS auch einbin- um die stellvertretende Parteivorsit- Mitarbeiterin gespitzelt hat. Schon als den und zum Beispiel Gysi zum Mini- zende Kerstin Kaiser läßt Dörre, 39, Studentin lieferte sie der Stasi intime ster für den Aufbau Ost ernennen.“ nun an der Glaubwürdigkeit der Partei- Informationen über Kommilitonen und Dann könnten die PDSler ja unter Be- führung zweifeln. Während PDS-Spit- Dozenten und traf sich mit ihrem Füh- weis stellen, „was sie drauf haben“. zenmann Gregor Gysi öffentlich for- rungsoffizier in konspirativen Wohnun- Troikaner Schröder ist derselben An- dert, „Wahlkampf und Aufarbeitung von gen. Ihre Angaben wurden teilweise an sicht. Der designierte Wirtschaftsmini- Geschichte miteinander zu verbinden“, den sowjetischen Geheimdienst KGB ster in Rudolf Scharpings Spitzenmann- versucht die Partei, den Fall Kaiser weitergeleitet. schaft will die PDS mit in eine rot-grü-

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Macht, Geld und Parteiposten ver- „Kommunistische Plattform“. In unse- drängt die Erneuerung der politischen rer Zentrale im Berliner Karl-Lieb- Moral, die wir mal wollten. Seitdem es knecht-Haus versammelt sich ein – nicht nur noch darum geht, in den Bundestag nur für mich fragwürdiger – Verein na- zu kommen, werden politische Diskus- mens GRH. Hinter diesem Kürzel ver- sionen weggedrückt. Das Interesse „der birgt sich die „Gesellschaft zur rechtli- Partei“ steht wieder über allem, wie zu chen und humanitären Unterstützung“. schlechtesten SED-Zeiten. Kritik wird In ihrem Präsidium ist der ehemalige unterdrückt mit dem alten Argument, Leipziger Stasi-Chef Manfred Hum- das schadet uns jetzt, das nützt unseren mitzsch, zuständig für „territoriale Ar- Gegnern. Aber die Differenzen existie- beitsgruppen“. ren – je länger sie tabuisiert werden, de- Oder das „Ostdeutsche Kuratorium“, sto heftiger werden sie aufbrechen, spä- ein Zusammenschluß oft schwer durch- testens nach den Wahlen. Wer unbeque- schaubarer Organisationen wie die me Fragen stellt, wird schnell in Mißkre- „Gesellschaft zum Schutz von Bürger- dit gebracht. Das halte ich für eine recht und Menschenwürde“; oder die schlimme Entwicklung. So haben wir Gruppe „ISOR“, in der ehemalige An- damals in der SED gearbeitet, das ken- gehörige bewaffneter Organe mitma- ne ich noch. chen. Auf deren zentralen Treffen SPIEGEL: Um sich sauberzumachen, hat spricht unser Bundesvorsitzender Lo- die PDS 1991 beschlossen, daß alle Be- thar Bisky in unser aller Namen Gruß- werber für Parteiämter ihre Stasi- Vergangenheit offenlegen müssen. Ist das nur Theorie? Dörre: Der Beschluß wurde abge- schwächt. Unehrliche Genossen werden nicht mehr sofort von ih- ren Funktionen entbunden. Es ist den meisten Genossen nur noch lästig, wenn das Thema Vergan- genheit im Vorstand angesprochen wird, besonders wenn es um füh- rende Leute in der Partei selbst geht. Viele verstecken sich nach dem Motto: „Mal gucken, was sich überhaupt an Akten findet, dann können wir immer noch drüber re- den.“ Als wir durch die Medien erfuh- ren, daß Andre´ Brie für die Stasi Kameraden und Freunde jahrzehn- telang bespitzelt hat, wurde er von uns im Vorstand von seiner Funk- tion entbunden. Doch dann mußte ich mit ansehen, wie er mit Unter- stützung von Gregor Gysi zum Lei-

ter des Wahlbüros aufstieg. So ge- H. LINDNER / THIRD EYE wann er noch größeren Einfluß als Stasi-Informantin Kaiser zuvor. Vor dieser Entscheidung „Sie will nicht zurücktreten“ hat der Vorstand über seine kon- krete Stasi-Tätigkeit nicht geredet. worte. Demonstrieren wir da nicht ei- Auch hier mußten wir aus der Zeitung nen totalen Schulterschluß mit Ewig- erfahren, daß Andre´ Brie noch 1989 als gestrigen? Spitzel Geld von der Stasi bekam. Wenn SPIEGEL: Haben Sie nie versucht, die aus seinem Büro heute Wahlanzeigen Scheinheiligkeit zu beenden? mit Sprüchen wie diesem kommen: „Ex Dörre: Beim Parteitag im Januar 1993 oriente. Geboren im Wendeherbst ’89, habe ich im Vorstand den Antrag ge- aufgewachsen an den runden Tischen stellt, daß wir in Klausur gehen, um des Ostens, in die Schule der Demokra- über unsere Vergangenheit zu reden tie gegangen – PDS“, dann finde ich das und darüber, was das für unseren Poli- zynisch. tikstil heute heißt. Das Küchenkabinett SPIEGEL: Die PDS gibt sich als Fort- und eigentliche Machtzentrum um schrittspartei, ihre Mitglieder sind je- Gregor Gysi und Andre´ Brie will eine doch haufenweise NVA- und Stasi-Ve- solche Debatte aber nicht und ver- teranen? schleppt das Thema. Dörre: Zum größten Teil haben wir ehe- Jetzt verlangt die stellvertretende Par- malige SED-Mitglieder, aber was mit- teivorsitzende Kerstin Kaiser, daß wir unter an den Rändern der PDS los ist, ihre Stasi-Mitarbeit kommentarlos darüber wird so gut wie nicht diskutiert. übergehen. Dabei hat sie die Partei Problematisch ist da keineswegs nur die über das wahre Ausmaß ihrer Stasi-

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Zuträgerei belogen. Sie will aber nicht wird in allen Parteien. Die PDS hat sich standsmitglieder zu diskutieren. Da wur- vom Parteiamt zurücktreten, geschwei- dann prima etabliert. de immer wieder verschoben, vertröstet. ge denn auf ihre Kandidatur für den SPIEGEL: Warum regt sich bislang kaum Natürlich geht das auch anderen Vor- Bundestag verzichten. Das fordere ich Widerspruch? standsmitgliedern gegen den Strich. von ihr. Wenn sie sich durchsetzt, Dörre: Ich glaube, viele wollen inzwi- Doch wie zu DDR-Zeiten halten die ihre kommt die politische Moral in der PDS schen nichts mehr sagen. Einzelne ren- Schnauze und jammern nur privat. So ha- auf den Hund. Frühere Mauschelei mit nen mit ihrer Kritik gegen eine Wand. be ichmich und so haben sich viele andere dem Geheimdienst wird dann endgültig Über ein Jahr lang habe ich versucht, im zu SED-Zeiten oft genug verhalten, das eine Empfehlung für Spitzenämter in Vorstand über Andre´ Bries Spitzeldien- wollten wir in der PDS eigentlich nicht der „Partei der Erneuerung“. Gelogen steund über dieVergangenheit aller Vor- mehr. Y

Wählt Nadelmann! Scharping und seine Berater / Von Daniel Doppler

on Woody Allen gibt es eine dinäle eine Zeugin Jehovas heiraten Fall schwer verkleistert: „Mich inter- herzerweichende Geschichte, wolle und dies im Osservatore Roma- essiert ihr Sachverstand, nicht, wo sie Vderen Held Sandor Nadelmann no verkündet. Und daß ein anderer am 16. Oktober ihr Kreuzchen ma- heißt. Als dieser Nadelmann einmal Kardinal sich als Aufsichtsratsvorsit- chen.“ mit Freunden die Mailänder Scala be- zender in die Firma „Fromms Act“ Man könnte ja schüchtern einwen- suchte, beugte er sich in seiner Loge berufen läßt. Um zu erklären, er sei den, daß man bisher der Ansicht ge- so weit vor, daß er, kopfüber, in den strikt katholisch, aber bekennender wesen sei, zwischen „Sachverstand“ Orchestergraben fiel. präservativer Kinderverhüter. und „Wahlkreuzchen machen“ beste- Obwohl das tierisch schmerzte Dagegen ist, um zurück zu Schar- he ein gewisser Zusammenhang, man (man stelle sich vor: ein meterhoher pingzukommen,einSturzausder Lo- müsse über ersteren verfügen, um freier Fall auf hartes Gestühl, Noten- ge in den Orchestergraben ein kleiner letzteres zu tun. ständer, Steinboden), war Nadel- Unfall. Und man könnte weiter denken, mann zustolz zuzugeben, daß ihm mit Doch auch Scharping hat seinen daß jemand, der so gering von dem Sturz ein Mißgeschick widerfah- Stolz. Auch er will, wie Nadelmann, „Kreuzchen machen“ denkt, viel- ren sei. nicht zugeben, daß ihm mit solchen leicht selber, und sei es aus purem Also besuchte er die Mailänder Beratern ein wahlpolitisches Mißge- Sachverstand, am Wahltag Kohl... Oper fortan Abend für Abend und schick widerfahren ist. oder zumindest Joschka Fischer . . . wiederholte jedesmal den Sturz, ob- Denn wassind das für Berater, die, Nicht auszudenken! Aber vielleicht wohl er sich eine leichte Gehirner- sagen wir: für Mercedes-Benz wer- ist Scharping nur auf seinen Kopf schütterung zuzog. Lieber wollte er ben, um dann nach Büroschluß vor bzw. Biedenkopf gestürzt, für den er, mit Absicht furchtbar leiden, als un- den staunenden Augen des Publi- zum nackten Entsetzen seiner Genos- absichtlich als Tölpel der Schaden- kums in einen, sagen wir: Honda-Le- sen, Wahlwerbung machte. freude anheimzufallen. xus einzusteigen. Mit der in Beken- Die folgende Nadelmann-Ge- Soweit man weiß, geht Rudolf nerpose vorgebrachten Erklärung: In schichte ist nicht von Woody Allen, Scharping nicht oft in die Oper. Er hat einen Daimler bringen mich keine sondern nur so ausgedacht, und hat zur Zeit andere Sorgen. Da hat sich hundertzehn Pferde! trotzdem was mit Scharping zu tun, der Spitzenkandidat der SPD zwei, Scharping ficht das nicht an. Er weil sie Nadelmann in seiner schier wie er findet, brillante Berater für handelt heroisch wie Nadelmann. unbegreiflichen Güte und Großzü- sein Wahlkampfteam ausgeguckt und Und so erklärt er nicht etwa, er habe gigkeit zeigt. präsentiert siestolz als diejenigen, die sich mit Reich und vor allem Steil- Als nämlich der arme Sandor Na- ihn beratend zum Siege führen wür- mann vergriffen. Nein, er stürzt sich, delmann eines Tages im Kranken- den. Und was machen die berufenen ganz Wiederholungsopfer, voll in den haus nach einer Operation aufwachte Berater, was machen Britta Steil- Orchestergraben: „Ich wußte vorher, (er war wegen leichter Gehirner- mann und Jens Reich? daß sie nicht SPD wählen. Das hat schütterung eingeliefert worden), Sie erklären, daß sie Scharping mich nicht gestört!“ Und jetzt kommt hatte ihm der Chefarzt aus Versehen zwar beraten, aber nicht wählen wer- der schönste Satz: „Im Gegenteil!“ ein Bein amputiert. Ein völlig gesun- den. „Ich wähle das Bündnis 90“, sagt Nach diesem Bekenntnis wäre man des, versteht sich. JensReich. Und dasistnochnicht mal nicht überrascht, wenn Scharping, „Ich habe das schon vorher ge- das Schlimmste, wenn man hört, wie der über Kohl-Wähler in seinem wußt“, sagte Nadelmann, alsman den Britta Steilmann bekennt: „Ich wähle Team überglücklich zu sein scheint, aus der Narkose Erwachenden über Kohl!“ Schröder und Lafontaine nur mit vor sein Mißgeschick aufklärte. „Mirkam Einen Augenblick lang ringt man Freude pochendem Herzen in sein es weniger auf das bißchen Operation fassungslos nach Atem oder atemlos Team berufen hätte, damit sie einen an. Mehr darauf, daß der Chirurg vor nach Fassung: Armer Scharping! Mit Tag vor der Wahl erklären, daß, wenn seinem Kunstfehler von einem an sich seinen Beratern ist er nicht gut bera- schon nicht sie selber, eigentlich richtigen Gedanken und einer prinzi- ten. Kohl... piell klugen Überlegung ausgegangen Fastistesso, alshätte derPapst ent- Auch Scharpings Erklärung wirkt, ist.“ Sprach’s und schlief einbeinig, decken müssen, daß einer seiner Kar- als hätten sich seine Gedanken beim aber selig ein.

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im „Widerstand“ (FDP-Fraktionschef wählten Volksvertretungen wird es kaum Parteien ) gegen das DDR- anders aussehen. Regime. Besonders zäh ist das Beharrungsver- Die bürgerlichen Parteien nahmen mögen der „Unionsfreunde“ (DDR-Jar- sich 1989/90, was sie kriegen konnten. gon)inder CDU. Jörg Schwäblein, Frak- Verläßliche Die CDU schluckte neben der Block- tionschef der CDU in Thüringen, kanzel- partei Ost-CDU noch die Demokrati- te vergangene Woche im Landtag die sche Bauernpartei (DBD), die FDP ne- PDS als „Partei des Schießbefehls“ ab. Stützen ben den Liberaldemokraten (LDPD) Als Schwäblein noch zu DDR-Zeiten Er- die Nationaldemokraten (NDPD). Bei- satzkandidat für den Rat des Bezirks Er- Aus dem Glashaus kritisiert Helmut de Neuzugänge im christlich-liberalen furt war, hat er die Führungsrolle der Kohl die Nähe der SPD zur PDS: In Lager waren 1948 von abkommandier- SED mit Schwung verteidigt. ten Kommunisten gegründet worden, Eine verläßliche Stütze des Systems seiner eigenen Partei sind reichlich um Bauern oder Alt-Nazis in der wer- war auch der CDU-Bundestagsabgeord- Ex-DDR-Größen heimisch. denden DDR zu binden. nete , 38, aus Frankfurt Die neuen Brüder und Schwestern an der Oder. Mit 18 Jahren trat er in die wurden im Wendejahr 1990 von treuen Bauernpartei ein und machte eine steile ür Oskar Lafontaine hatte sich Hel- Vasallen der SED-Regenten zu Christ- Funktionärskarriere. Als Nachfolger von mut Kohl am Dienstag voriger Wo- oder Freidemokraten umgerubelt. Günther Maleuda, der heute für die PDS Fche Frohsinn verordnet. Wann im- Von den 67 ostdeutschen CDU-Abge- antritt, übergab er die DBD an die Uni- mer der Saarländer in der SPD-Troika ordneten im Bundestag sind nach einer on. Heute, so die Welt, ist er der einzige im Bundestag zur „politischen Schluß- SPD-Aufstellung 39 alte Blockflöten. Parlamentarier aus der zerstrittenen abrechnung“ mit der Regierung ansetz- Lothar de Maizie`re, der sich 1991 aus brandenburgischen CDU, „dem der te, lachte der Amtsinhaber. Wie nett, Bonn zurückzog, war seit 1956 Mitglied Kanzler in Sachfragen sein Ohr leiht“. Entgegen einer Empfehlung sei- nes Landesverbands will der Leip- ziger Rolf Rau noch einmal in den Bundestag. Rau, vor der Wende CDU-Bezirkschef in Leipzig, gilt in Bonn als Experte für Woh- nungspolitik und genießt das Ver- trauen der Basis im Wahlkreis. Vergessen ist, daß Rau noch im Wende-Herbst die Reihen zur SED schloß. Im November 1989 wollte der Mann, der später „durch das Studium der Werke von “ neue Ant- worten fand, weiterhin den „So- zialismus aufbauen“. Ein strammer Verfechter des al- ten Systems strebt von Rostock aus nach Bonn. Günter Kamm, Chef der CDU-Mittelstandsverei- nigung in Mecklenburg-Vorpom-

W. STECHE / VISUM mern, brachte es in der DDR zu Parteifreunde de Maizie`re, Kohl (1990): „Schande für Deutschland“ einem Direktorenposten bei der Tankstellenkette Minol. Als West- wie niedlich, dieser Herausforderer, der Ost-CDU und ihr letzter Vorsitzen- Reisekader durfte Kamm den Rostok- sollte das bedeuten. der. Kohls geschaßter Verkehrsmini- ker SED-Oberbürgermeister beispiels- Doch plötzlich war es vorbei mit lu- ster Günther Krause war Kreisvorsit- weise zur Kieler Woche begleiten. Sei- stig. Den wahlwirksamen Vorwurf, die zender in Bad Doberan, der sächsische ner Partei diente der Unionsfreund zeit- SPD mache gemeinsame Sache mit der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus weilig als hauptamtlicher Kreissekretär. PDS (Kohl: „Eine Schande für Deutsch- Reichenbach war der SED als CDU- Ulrich Fickel war vor der Wende Che- land“), hatte Lafontaine zurückgege- Bezirksvorsitzender gefällig. miedozent an der Pädagogischen Hoch- ben: „CDU und FDP haben sich in Von den 14 FDP-Direktkandidaten, schule Erfurt/Mühlhausen und bewies – schamloser Weise die alten kommunisti- die sich in Sachsen-Anhalt für den so seine Beurteilungen – „täglich sein schen Kader der DDR-Blockparteien Bundestag bewerben, gehörten 10 zu- ganzes Engagement für unseren einverleibt“, noch heute funktioniere vor einer Blockpartei an. Der FDP- sozialistischen Arbeiter-und-Bauern- das „Zusammenspiel der alten Kamera- Spitzenkandidat im benachbarten Thü- Staat“. Auch die Staatssicherheit, so be- den“. ringen, , trat legen Unterlagen, hatte viel Lob für ihn Die prächtige Laune des Kanzlers war 1961, im Jahr des Mauerbaus, der übrig. Als LDPD-Kreisvorsitzender sei dahin. Einige der angesprochenen LDPD bei und arbeitete zeitweilig im Fickel „von seiner politischen Wirksam- Blockflöten verließen empört das Ple- Bildungsausschuß des Bezirksvorstands keit her weit höher einzuordnen als viele num. Gera. SED-Mitglieder“. Der aufgewärmte Antikommunismus Auch in den CDU-Fraktionen der So hatte die Stasi Großes mit der von CDU, CSU, aber auch FDP hat ei- Länderparlamente haben die Blockflö- Blockflöte vor. Nach den geplanten ne Schwachstelle. Deren Parteifreunde ten das Sagen. Im alten sächsischen Kommunalwahlen 1990 sollte „Reserve- im Osten waren nun einmal nicht von Landtag stellen sie mehr als zwei Drit- kader“ Fickel eventuell LDPD-Chef Anfang an aufrechte Demokraten und tel der Abgeordneten. In den neuge- und stellvertretender Vorsitzender des

26 DER SPIEGEL 37/1994 . BIERSTEDT / OSTWESTBILD FDP-Minister Fickel Lob von der Stasi O. JANDKE / CARO FDP-Staatssekretär Günther „Bündnispartner der Arbeiterklasse“

Rates des Bezirks Erfurt werden. Dann kam die Wende, heute ist Fickel als FDP-Mann Wissenschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Thü- ringens. Auch Joachim Günther war als LDPD-Kreissekretär im sächsischen Oelsnitz und „freiwilliger Helfer der Volkspolizei“ ein treuer Diener seines Staates DDR und gehorsamer „Bünd- nispartner der Arbeiterklasse“. Zum Dank durfte er 1977 ein Fernstudium an der Akademie für Staats- und Rechts- wissenschaft Potsdam-Babelsberg be- ginnen. „Nach Abschluß des Studiums“, er- klärte LDPD-Funktionär Günther, wol- le er „eine Wahlfunktion im Staatsappa- rat übernehmen“. Es kam noch besser: Der gewendete Günther, inzwischen FDP-Mitglied, stieg zum sächsischen Parteichef auf, ist ein Spitzenmann der Ost-Liberalen und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbauministerium. Y

DER SPIEGEL 37/1994 27 Mitglieder der EU Beitrittsantrag gestellt EU-Mitglieder und Gründungsmitglieder bereits assoziiert Beitrittskandidaten der Ur-EWG 17. Ungarn 1. Belgien 18. Polen 2. Deutschland noch nicht assoziiert 3. Frankreich 19. Malta 15 4. Italien 20. Zypern 14 5. Luxemburg 21. Schweiz (strebt eine 6. Niederlande Art Teilmitgliedschaft an) 16 28 weitere Mitglieder Assoziierte Länder 7. Griechenland 22. Bulgarien 11 29 8. Irland 23. Rumänien 8 12 30 9. Spanien 24. Slowakei 10. Portugal 25. Slowenien (Assozi- 6 Länder mit Sonderstatus ierung steht kurz bevor) 2 18 beim Maastricht-Vertrag 26. Tschechien 1 11. Dänemark Länder mit Freihan- 5 26 12. Großbritannien delsabkommen 24 3 13 Beitrittskandidaten 27. Albanien bereits abgestimmt 28. Estland 21 17 23 13. Österreich 29. Lettland 25 noch kein Referendum 30. Litauen 10 4 14. Norwegen 9 22 27 15. Finnland Die Türkei hat 1987 den Beitrittsantrag 16. Schweden gestellt; ab 1.1. 1995 Zollunion, Vollmit- gliedschaft ist zur Zeit nicht vorgesehen; der Status der Nachfolgestaaten des 7 ehemaligen Jugoslawien ist mit Ausnah- me von Slowenien derzeit noch unklar. 19 20

lassen, was es mit der Kernforschung des stand ist die aus dem Jahr 1956 stam- Außenpolitik Herrn Schäuble auf sich habe. Selbst mende, für ursprünglich 6 Gründerstaa- Frankreichs Staatschef Franc¸ois Mitter- ten gedachte Konstruktion nicht länger rand, sonst stets in Treue fest an Kohls brauchbar. Seite, zeigte sich „beunruhigt“: Die Zukünftig, so fordern Schäuble und Germanische Deutschen sorgten für Verwirrung und Lamers, solle deshalb ein „fester Kern Unbeweglichkeit. von integrationsorientierten und koope- Anlaß für die Empörung war ein Vor- rationswilligen Ländern“ notfalls auch Roheit schlag aus der Euro-Provinz-Bonn, Be- allein vorangehen können. Die Ent- zirk CDU-Fraktion. Deren Chef Schäub- wicklung dürfe „nicht durch Veto-Rech- Das CDU-Manifest zur europäi- le ist es gelungen, mit seinen Thesen eine te anderer Mitglieder blockiert“ wer- schen Einigung weckt bei den Part- Art europäische Verfassungsdebatte an- den. Nur so sei der Widerspruch zwi- zustoßen – und das Vorurteil von den schen Vertiefung und Erweiterung in nerstaaten alte Ängste vor überheblichen Deutschen zu bestätigen. Europa zu lösen. deutschen Herrschaftsgelüsten. Mit Verve und Polemik, als ginge es Wenige Tage zuvor hatte Frankreichs um vitale innenpolitische Interessen, Premier Edouard Balladur ein ähnliches streiten Regierungschefs und Außenmi- Modell vorgeschlagen, ohne daß jemand olfgang Schäuble, Vorsitzender nister von Kopenhagen bis Madrid seit Anstoß genommen hätte. Den Zorn Eu- der CDU/CSU-Bundestagsfrak- vergangener Woche, wie und von wem ropas erregte Schäuble, weil er in einem Wtion, stieß zum „Kern des Kerns“ die Geschicke Europas künftig gelenkt Anflug „germanischer Roheit“ (Le vor. Mit seiner Entdeckung erschütterte werden sollen. Und das, so staunte EU- Monde) jedem seinen Platz zuweisen er, für ihn selbst völlig unerwartet, die Kommissar nach wollte – und so den Argwohn aller er- Staatsmänner Europas. Lektüre des Papiers, obwohl „der Inhalt regte, die er nicht zur europäischen „Äußerst überrascht“ rief der italieni- kein Grund zur Aufregung ist“. Avantgarde zählen mochte. sche Regierungschef bei Bundeskanzler Auf 14 Seiten legten Schäuble und sein In einem „festen Kern“ sollen sich Helmut Kohl an. Italien gehöre, wenn Europaexperte Selbstver- Deutschland, Frankreich und die drei schon nicht zum Kern des Kerns, so ständliches und oft Diskutiertes dar. Un- Benelux-Staaten weiter aneinanderbin- doch zumindest zum harten Kern, zürn- ter dem harmlosen Titel „Überlegungen den und die Führung übernehmen. In te Silvio Berlusconi. zur europäischen Politik“ beschrieben sie diesem innersten Zirkel Europas orte- Großbritanniens Premier, nicht min- die drohende Selbstblockade der Euro- ten Schäuble und Lamers noch einen der unwirsch, lehnte dagegen einen tele- päischen Union: Weil sich stets einige weiteren „Kern des festen Kerns“, fonischen Brandruf ab: „Das habe ich Mitglieder irgendwo verweigern – ob ein Allerheiligstes gewissermaßen: nicht nötig. Helmut weiß, was ich den- beim Umweltschutz, der Sozialpolitik Deutschland und Frankreich, auserse- ke“ – nämlich, daß John Major sich von oder dem Aufbau einer europäischen Ar- hen, wie ein Fixstern in der Welt der niemandem vorschreiben läßt, wo Eng- mee –, komme die ganze Union nirgend- Elementarteilchen Europas Staaten um land Platz zu nehmen habe. wo voran. sich kreisen zu lassen. Noch in diesem Monat, ließ Spaniens Die geplante Erweiterung der EU wird Diesen Rest will Schäuble in „konzen- Ministerpräsident Felipe Gonza´lez vom die Schwerfälligkeit des europäischen trischen Kreisen“ um das Zentrum her- fernen Paraguay aus mitteilen, werde er Geleitzugs noch verschärfen. In einem um aufbauen, mit einer „variablen Geo- nach Bonn reisen und sich von seinem Europa mit 20oder mehr Mitgliedern auf metrie“, die sich, „um natürliche Span- Freund, dem Bundeskanzler, erklären höchst unterschiedlichem Entwicklungs- nungen in einer vom Nordkap bis Gi-

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braltar reichenden Gemeinschaft auszu- Abgeordneten, wenn das Europäische nommen wird, der sich auf die Verlet- gleichen“, flexibel verändern soll. Parlament über Sozialpolitik debattiert, zung nationaler Interessen beruft, müß- Mit der namentlichen Einteilung der das Plenum verlassen? te abgeschafft oder zumindest stark ein- zwölf derzeitigen EU-Mitglieder in Lei- Eine Union, in der einzelne Länder geschränkt werden. Eine solche Mög- stungsklassen verletzte Schäuble unnötig sich ihre Beteiligung nach Belieben aus- lichkeit zur Blockade aller durch jeden Eitelkeiten. Der Ausschluß des EWG- suchen können, ist undenkbar – vor al- würde eine Union, die im nächsten Jahr- Gründungsmitglieds Italien aus dem fe- lem, wenn bis zur Jahrtausendwende zehnt bis zu 30 Mitglieder umfassen sten Kern werde in Rom noch lange nach- der größte Teil der mittel- und osteuro- könnte, allemal lähmen. hallen, so Bangemann: „Das kann man päischen Länder beitreten soll. „Das Wie aber solche Pläne, die einstimmig nicht machen.“ Auch der ehemalige Au- würde ein Flickerlteppich“, befürchtet beschlossen werden müssen, gegen das ßenminister Hans-Dietrich Genscher Bangemann, auf dem gemeinsame Poli- Veto eines John Major durchzusetzen warnt: „Auf jeden Fall werden die zentri- tik nicht mehr möglich wäre. sind, das weiß in Brüssel keiner zu sa- fugalen Kräfte gestärkt“ (siehe Inter- Zum Minimalkatalog der EU-Refor- gen. view). men, die ab 1996 von einer Regierungs- Die Reformanhänger setzen auf Zeit. Dabei wissen wohl auch die CDU-Au- konferenz ausgearbeitet werden sollen, Ihre Rechnung: Die Regierungskonfe- toren nicht so genau, wie ihre Vision von gehört deshalb, die Möglichkeit des renz beginnt in der zweiten Hälfte 1996. einem festen Kern-Europa zu verwirkli- „Opting-out“ künftig auszuschließen. Sie wird mindestens ein Jahr dauern. chen wäre. Im Rahmen der bisherigen In- Dann kann kein Staat aus einem ausge- Spätestens im April 1997 aber muß sich stitutionen geht es nicht, die Aufteilung handelten Kompromiß ausscheren. der in seiner Partei und beim Volk un- würde die Union sprengen. Auch das Vetorecht, das bisher von beliebte Major in Großbritannien zur Schäubles „harter Kern“ läßt sich des- jedem Mitgliedstaat in Anspruch ge- Wahl stellen. halb nicht in einem politischen Willens- akt schaffen, er kann allenfalls organisch wachsen. Schließen sich spätestens 1999 einige der EU-Länder zu einem Wäh- rungsverbund mit einheitlicher Währung zusammen, dann ergibt sich automatisch, „Bedenkliche Debatte“ so Bundesbankpräsident Hans Tietmey- er vorige Woche, ein Europa mehrerer Hans-Dietrich Genscher über die Schäuble-Thesen Geschwindigkeiten. Eine Währungsunion, das habe die Geschichte gezeigt, könne nur Bestand SPIEGEL: Herr Genscher, war der Vor- Genscher: hat klar Positi- haben, wenn sie in eine „funktionsfähige stoß Wolfgang Schäubles für ein „Kern- on bezogen für den bisherigen europäi- ökonomische und politische Rahmen- Europa“ nur ein Wahlkampf-Gag? schen Integrationskurs. Darauf allein ordnung mit klaren Entscheidungskom- Genscher: Das glaube ich nicht. Es war kommt es an. petenzen“ eingepaßt werde. Damit kön- eher der Versuch der Union, sich au- SPIEGEL: Eine unterschiedliche Ge- ne sich „eine Gruppe von Ländern bil- ßenpolitisch Gehör zu verschaffen, weil schwindigkeit bei der Einigung Europas den, für die der Übergang zur politischen die Außenpolitik seit langem die Domä- findet auch in anderen Ländern Anhän- Union von vitalem Interesse ist, während ne der FDP ist. Wie wichtig das auch in ger. Beschreibt Schäuble nicht einfach andere davon weniger stark abhängen“, Zukunft ist, zeigt die gegenwärtige Dis- die Realität? meinte der Chef der Bundesbank. kussion. Genscher: Realität ist die Notwendig- Der Beitritt zur Währungsunion, de- SPIEGEL: Der FDP-Außenminister war keit, Europa zügig zu einen und nicht ren Regeln im Maastrichter Vertrag ver- nicht informiert? Länder auszugrenzen. Die Zustim- bindlich festgelegt sind, wird also dar- mung, die die CDU/CSU-Vorstellung über entscheiden, wer in welcher Euro- im Ausland findet, ist eher spärlich. paklasse spielt. Schäubles Kern gehört Diese Zustimmung kommt nicht von wahrscheinlich dazu. Aber auch Irland engagierten Europäern, sondern von und die Beitrittsaspiranten Österreich, den Euro-Skeptikern. Aber ein großer Finnland, Schweden und Norwegen hät- Europäer wiePräsident Mitterrand hat ten gute Chancen, sich für die erste Euro- sich besorgt zu Wort gemeldet. paliga zu qualifizieren. SPIEGEL: Schäuble betrachtet seine Die Idee von einem Europa mit unter- „Kern“-Theorie als Motor für die Fort- schiedlichem Integrationstempo ist nicht entwicklung Europas. neu. Auch Major mußte in einem euro- Genscher: Deutschland und Frank- päischen Festvortrag an der Universität reich waren von Anfang an Motor der Leiden vorigen Mittwoch einräumen, es europäischen Einigung. Niemand hat sei „völlig in Ordnung, daß einige sich in danach von einem ausgrenzenden manchen Feldern enger oder schneller Kern-Europa geredet. Der Kern Euro- zusammenschließen“. pas ist seine Identität, und aus dieser Aber wie weit kann die EU auseinan- Identität kann man nicht Stücke her- derdriften, ohne zu zerfallen? Viel mehr ausbrechen, ohne sie zu beschädigen. als das, was im Vertrag von Maastricht SPIEGEL: Die Europäische Union soll ohnehin schon verabredet ist, so die Mei- auch nach Schäubles Vorstellungen of- nung der Brüsseler Europa-Planer, ist fenbleiben für weitere Länder. nicht mehr möglich. Genscher: Die Offenheit der Gemein- Schon die Tatsache, daß die Briten sich schaft ist so selbstverständlich wie die nicht nur von der Währungsunion, son- Motorfunktion Deutschlands und

dern auch von der gemeinsamen Sozial- S. HUSCH / TERZ Frankreichs. Aber die Dynamik der politik ausgeklammert haben, wirft gro- Ex-Außenminister Genscher europäischen Einigung beruhte immer ße Probleme auf. Sollen die britischen „Hohes Maß an Selbstüberschätzung“ darauf, daß innerhalb der EU nicht

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zwischen Kern- und Rest-Europa unter- schreiben. Eine weitere Vertiefung steht SPIEGEL: . . . und behindert die Aus- schieden wird. Alle müssen am Fort- nicht zur Diskussion. dehnung der EU auf neue Länder, vor schritt beteiligt werden, und das wird Genscher: England hat schon oft nein allem im Osten? auch weiter gelingen – wenn man es will. gesagt, ist aber, wenn der Zug sich in Genscher: Ich fürchte, ja. Auf jeden SPIEGEL: Sind Vertiefung der Einheit Bewegung setzte, schnell noch aufge- Fall werden die zentrifugalen Kräfte und Erweiterung der Union auf 16 Mit- sprungen. Auch Frau Thatcher war nie gestärkt. Die Unterscheidung innerhalb glieder oder gar mehr im Gleichschritt so eisern, wie sie sich gern nennen ließ. der Europäischen Union zwischen überhaupt möglich? SPIEGEL: Major plädiert nicht für einen Kernstaaten und Restgemeinschaft Genscher: Die europäische Gemein- Kern in Europa, sondern für unter- führt zur Kernspaltung. schaft empfängt ihre Vitalität aus zwei schiedliche Geschwindigkeiten mehre- SPIEGEL: Der CDU-Außenpolitiker Prozessen: der Erweiterung und der rer Gruppen. Karl Lamers hat die Initiative als ge- Vertiefung für alle. Wer diese Ziele auf- Genscher: Das beweist ja die Berechti- zielte Schocktherapie bezeichnet, um gibt, resigniert. Deshalb ist diese Debat- gung meiner Vorbehalte. Eine von Länder wie Italien mit der Wirklichkeit te so bedenklich. Deutschland ausgelöste Kern-Europa- zu konfrontieren. Ist das heilsam? SPIEGEL: Der britische Premier Major Diskussion verselbständigt sich, sie Genscher: In dieser Feststellung liegt will Gemeinsamkeit allenfalls für die führt zu einer Fragmentierung der Ge- ein hohes Maß an Selbstüberschät- Bereiche Währung und Wirtschaft fest- meinschaft . . . zung. Y

Uno ler Schattierungen schätzen zudem, daß es unter den insgesamt 184 Uno- Mitgliedern sogar eine Mehrheit für die Deutschen in der Vollversamm- Zu forsch, zu kernig lung gäbe. Dennoch wird Deutschland, ge- Der deutsche Einzug in den Sicherheitsrat ist vertagt meinsam mit Japan, nicht einfach in einen um zwei Sitze vergrößerten he Uno-Generalsekretär Butros fordert hatten, gaben sich allein die Weltsicherheitsrat einziehen. Italien Butros Ghali zur Weltbevölke- USA wohlwollend. Briten, Franzo- zum Beispiel legt sich schon mal aus Erungskonferenz in sein Heimat- sen und Russen, die als ständige Prinzip quer: Rom würde einem Bei- land Ägypten flog, gab er noch eine Ratsmitglieder ein Vetorecht haben, tritt des nördlichen EU-Partners nur Erklärung ab, mit der er Helmut mochten das Privileg noch nicht mit zustimmen, wenn es selbst in den Kohl und Außenminister Klaus Kin- dem alten Kriegsgegner teilen. Mitt- Zirkel aufgenommen würde. kel brüskierte. lerweile haben sie allerdings ihre Die Länder der Dritten Welt, die Die Vereinten Nationen hätten Meinung geändert, sie stehen den in der Uno-Vollversammlung die derzeit Wichtigeres zu tun, als über Deutschen nicht mehr im Wege. Mehrheit besitzen, zeigen sich aus die Erweiterung ihres Sicherheitsra- China, die fünfte Macht im Sicher- anderen Gründen unzufrieden. Sie tes nachzudenken. „Dieser Schritt heitsrat, ist vom deutschen Zuwachs akzeptieren nicht, daß noch mehr wird wahrscheinlich nicht mehr bis wenig begeistert, dürfte aber kaum Industrieländer im Sicherheitsrat zum 50. Jahrestag der Uno-Grün- Einwände erheben. Diplomaten al- vertreten sind, und wollen, daß ein dung stattfinden“, teilte er mit. Vertreter ihrer Interessen zu den Für Kanzler und Außenminister Fünf plus Zwei dazukommt. ist das eine herbe Botschaft. Kernig Ghali soll nun einen Mittelweg hatte vor allem Kinkel den An- finden, der den Weltkriegsverlierern spruch des vereinten Deutschland Deutschland und Japan sowie den auf einen Sitz im Allerheiligsten der Drittweltstaaten einleuchtet. Und Weltpolitik erhoben, in dem die das dürfte dauern. Denn Asiaten, USA, Rußland, China, Großbritan- Lateinamerikaner und Afrikaner nien und Frankreich als ständige können sich nicht darüber einigen, Mitglieder vertreten sind: „Wir wol- welches Land ihre jeweilige Region len rein in den Sicherheitsrat.“ im Sicherheitsrat vertreten soll. Deutschland gehöre als führende Indien etwa wird vom Todfeind Wirtschaftsmacht und derzeit dritt- Pakistan nicht akzeptiert, Nigeria größter Uno-Beitragszahler in dieses von arabischen Ländern auf dem erlauchte Gremium: „Dort spielt die afrikanischen Kontinent abgelehnt. Musik.“ Am liebsten hätten es Kohl Brasilien wird von Argentinien und und Kinkel gesehen, wenn die Deut- Mexiko als Wortführer Lateinameri- schen den Sitz im Sicherheitsrat kas nicht anerkannt. schon im nächsten Jahr, wenn der Detlev Graf zu Rantzau, Bot- 50. Jahrestag der Uno-Gründung ze- schafter der Bundesregierung bei lebriert wird, eingenommen hätten. der Uno, tut nun so, als hätten es die Daraus wird nun nichts. Deutschen ohnehin nicht eilig ge- Die Deutschen waren einfach zu habt, zum Mitglied erster Klasse auf-

forsch und zu unrealistisch. BLACK STAR zusteigen: „Wir haben nie gesagt, Als sie vor zwei Jahren zum er- Kinkel vor der Vollversammlung daß die Entscheidung bis zum 50. stenmal einen Sicherheitsratssitz ge- „Dort spielt die Musik“ Jahrestag fallen wird“, behauptet er.

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Werbeseite . STIEBING H.-P. Abschiedsfeier vor dem Brandenburger Tor*: Gute Zeiten multikultureller Besatzung

Hauptstadt Zapfenstreich mit Sandwich Irene Dische über die Verabschiedung der Alliierten in Berlin

Die deutsch-amerikanische Autorin Di- zum Sicherheitsrisiko. Überall sind schen all den großen Wagen herumzu- sche („Fromme Lügen“), 42, lebt in Sperren errichtet. Der Verkehr gerät ins schlendern und zuzusehen, wie sie für Berlin. Stocken, wenn sich die Mercedes-Ko- einen Dollar pro Gallone vollgetankt lonne langsam von einem „Ereignisort“ wurden. aum hatte der Berliner Innensena- zum nächsten bewegt. Staatliche Pracht- Für ein paar Greenbacks konnte auch tor Dieter Heckelmann meinen entfaltung ist unter den menschlichen der Zivilist in einem original Burger KAntrag auf doppelte Staatsbürger- Torheiten eine besonders augenfällige. King einen importierten Hamburger ge- schaft als „unbegründet“ abgelehnt und Fernab vom Geschehen, nördlich der nießen, konnte The Stars and Stripes le- meinen Wunsch, deutsche Staatsbürge- Heerstraße und im Süden entlang der sen, eine Zeitung, die die Verbindung rin zu werden, verworfen, da machten Clay-Allee, liegen jetzt ganze Stadtvier- mit der Welt des Sports und des Verbre- sich die letzten Amerikaner daran, tel tot und verlassen. Die „Charlotten- chens daheim nicht abreißen ließ. Und heimzukehren und mich hier zurückzu- burg First School“ der britischen Ar- jeden Mittwoch abend hatte er dort die lassen. mee, die meine Kinder besuchten und Gelegenheit, es sich bei einem romanti- Der 8. September ist der Tag der offi- wo sie lernten, wie man Briefe an die schen „candlelight dinner“ gutgehen zu ziellen Verabschiedung. Den ausländi- Queen schreibt, ist geschlossen und als lassen. schen Gästen, den französischen, briti- teure Privatschule wieder eröffnet wor- Auch ein unbefugter amerikanischer schen und amerikanischen Streitkräften, den. Zivilist konnte die großen PX-Läden be- die fast 50 Jahre lang in Berlin statio- Das „Truman Plaza“, das Einkaufs- treten, sofern er nur einen Militärange- niert waren, wird mit einer letzten Dar- zentrum für amerikanische Soldaten, hörigen fand, der ihn kurzfristig zum bietung, unter großem Aufwand an ho- ein wahrer Vergnügungspalast, ist seit Verwandten deklarierte. Der Super- her Kultur, Lebewohl gesagt. Zu den Mitte August verrammelt. Die Deut- markt war riesengroß, wie die Super- Glanzpunkten des Programms gehören schen haben nie erfahren, was ihnen da märkte zu Hause, hatte 50 verschiedene ein Ausflug zum Charlottenburger entgangen ist: Sie durften die hohen To- Sorten Cornflakes im Angebot und öff- Schloß, eine Leonoren-Ouvertüre im re zu dem Gelände, das den Vereinigten nete auch sonntags. Wenn ich Heimweh Deutschen Schauspielhaus, ein Großer Staaten gehörte, nicht passieren. Ame- bekam, ging ich dort einkaufen. Zapfenstreich. rikanische Zivilisten jedoch konnten Ich bekam oft Heimweh, und ich Drei Regierungschefs sind in der Zutritt zum Parkplatz erlangen – schon kaufte in amerikanischen Quantitäten, Stadt: ein kleiner, ein mittelgroßer und das ein Vergnügen besonderer Art: zwi- die mein kleiner deutscher Kühlschrank ein ganz großer, dicker. In Gegenwart gar nicht fassen konnte. Deshalb nahm ihrer Politiker wird die Bevölkerung * Am Donnerstag vergangener Woche. mich eines Tages die Frau eines freund-

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lichen CIA-Mannes, den ich durch mei- Es sind nur wenige Frauen anwesend, ne Kinder als „Johnny’s Daddy“ ken- die meisten mit Hüten, unter denen sie nengelernt hatte, mit ins Truman Plaza ihre Partner ohne weiteres überragen; und kaufte mir einen gebrauchten Kühl- aus architektonischem Blickwinkel ist schrank von General Electric. Dieser der Hut von Gabriele Henkel sicherlich Kühlschrank ist wie Alaska: nicht zu fül- der interessanteste. len. Wenn es je zu einer Nahrungsmit- Die Stimmung ist durch und durch telknappheit kommen sollte, kann ich nostalgisch. Die guten Zeiten der multi- im Hamstern ganz groß werden – „Wir kulturellen Besatzung sind vorbei. müssen vorausdenken“, sagt Helmut Als die Sandwiches verzehrt sind, be- Kohl. geben sich die Gäste hinaus in die Kälte. Das Publikum im Schauspielhaus ap- Während sie sich die Mäntel überziehen, plaudiert bei Sätzen wie diesen. Die murmeln sie etwas von Geschichte. Hel- ganztägige Feier strapaziert selbst abge- mut Kohl, John Major, Franc¸ois Mitter- härtete Veteranen, und wahrscheinlich rand und der amerikanische Außenmini- würden sie jeden Satz mit Beifall begrü- ster, Warren Christopher, sie alle er- ßen, der wie ein Schlußwort klingt. wähnten in ihren Reden, die in Deutsch- Nach der letzten Ansprache singt ein land stationierten einfachen Soldaten sei- Mädchenchor Lieder aus aller Welt, und en sich ihrer historischen Rolle deutlich bei der letzten Nummer, „Berliner bewußt gewesen. Seltsam, daß mir das in Luft“, fängt das Publikum an, mitzu- dem Viertel um das Truman Plaza nie klatschen. aufgefallen ist. Nein, das kleinbürgerliche Vorstadtle- ben wardort soabgekapselt wiekleinbür- gerliches Leben überall. Im Supermarkt diskutierten die Frauen über ihre Lieb- lingsserie im Fernsehen, gaben ihren Kindern hin und wieder eins über den Mund, wenn sie störten, und schrien sie an: „Shaddup you!“ Die jungen Männer in Uniform machten nicht den Eindruck, als seien sie auf einen Militäreinsatz ir- gendwie vorbereitet. Sie waren nicht in der Stadt, um es mit der riesigen Sowjet- armee aufzunehmen, die ja auch etliche Kilometer entfernt stationiert war, son- dern weil Berlin aus symbolischen Grün- den seinen eigenen Drei-Sterne-General hatte. Und ein Drei-Sterne-General braucht eben eine bestimmte Anzahl von Soldaten, um sie zu befehligen.

N. MATOFF Diese Männer trainierten, wie sie es im Schriftstellerin Dische Zivilleben in einem Fitneß-Center getan Lebewohl unter großem Aufwand hätten. Siesahen nicht aus, alswollten sie Leute, sondern als wollten sie die Zeit Die allgemeine Begeisterung und die totschlagen – eine wahrhaft moderne Ar- großen Männerhände bringen ein Getöse mee: verlottert, fettleibig, gelangweilt, hervor, indem dieStimmen der Mädchen freundlich, ans Knöpfedrücken gewöhnt, untergehen, und nur an ihren auf- und zu- aber ohne Zugang zuwichtigen Knöpfen. klappenden Mündern sieht man, daß das Die „military neighbourhood“ von Lied längst noch nicht zu Ende ist. Berlin-Lichterfelde erinnerte eher an Nachher stärken sich die Festgäste für Memphis als an Detroit, aber auch ein die Freiluftveranstaltung, den Großen New Yorker konnte sich dort heimisch Zapfenstreich, mit Sandwiches und Ge- fühlen. tränken im Foyer. Der Bischof von Fulda Warum bleiben meine Landsleute nimmt etwas Champagner in seinen nicht einfach da? Auf dem Programmzet- Orangensaft, nachdem sein russisch-or- tel der Abschiedsfeier steht: „Achtung: thodoxer Kollege einen Gin Tonic erstan- kurzfristige Änderungen sind noch mög- den hat. Und die Militärs lassen sich nicht lich!“ Wäre das Truman Plaza weiter ge- lange bitten, ein Glas zu leeren. öffnet geblieben, hätten die Soldaten kei- Geduldig erklärt der Oberst im russi- nen Grund gesehen, zu gehen. Jetzt ist es schen Generalstab, Naschdow, einer zu spät. „Wir schließen ein glorreiches neugierigen Journalistin seinen Rang und Kapitel der Geschichte!“ verkündet Mit- seine Pflichten, während sein deutsches terrand. Pendant, ein Herr Weisser, sich nach ei- Auf dem Flughafen Tegel winke ich nem Handkuß alter Schule gekränkt mit meinem weißen Taschentuch den zeigt, weil sie seinen Rang nicht erkennt. startenden Maschinen nach, aber nie- „Haben Sie jemals so viele Streifen gese- mand winkt zurück. In mir steigt jene ei- hen?“ fragt er gereizt und hebt seinen genartige Wehmut auf, die einen befällt, Arm. wenn man zurückgelassen wird. Y

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Atomkraftwerke Echt knackig Die Wissenschaft ist irritiert: Das Krebsrisiko erhöht sich in der Nähe von Atomreaktoren – aber nicht nur dort.

er Termin war reine Routine. Ab- geschieden in einem entlegenen DDachstübchen des Bonner Um- weltministeriums saßen die Mitglieder der Strahlenschutzkommission am ver- gangenen Donnerstag beisammen. Die Herren legten letzte Hand an eine seit längerem geplante Stellungnahme über die Risiken von Leukämieerkran-

kungen im Umfeld von deutschen Kern- P. FRISCHMUTH / ARGUS kraftwerken. Tenor der 60 Seiten dicken Leukämiekrankes Kind (in der Elbmarsch, 1991): Steinchen im Mosaik Empfehlung: Irgendwelche, durch ra- dioaktive Abgase aus Atommeilern her- für alle deutschen Atomkraftwerke er- ne ein und beäugten die Jahresringe ei- vorgerufene Krebsgefahren seien nicht wirken: Sie sollen „um den Faktor 20“ gens abgesägter Bäume – keine der Un- erkennbar. weniger Radioaktivität in die Umge- tersuchungen führte bislang zu eindeuti- Doch mitten in die Sitzung platzte die bung entlassen. gen Ergebnissen. Nachricht einer neuen Untersuchung. Seit Jahren mühen sich Wissenschaft- Das gilt auch für die jüngste Analyse Danach haben im engeren Umfeld ler, die Ursachen für eine rätselhafte des Bremer Professors Eberhard Grei- des Kernreaktors Krümmel östlich von Häufung von Krebserkrankungen in der ser. Monatelang waren im Auftrag Grei- Hamburg in den vergangenen Jahren niedersächsischen Gemeinde Elb- sers Rechercheure in einem 3577 Qua- nicht nur auffällig viele Kinder Leuk- marsch, in deren Nähe der Atommeiler dratkilometer großen Gebiet zwischen ämie bekommen, auch unter den er- Krümmel liegt, zu ergründen. Binnen Uelzen und Lübeck in Kliniken, Arzt- wachsenen Bewohnern ist der äußerst zwei Jahren erkrankten in dem Land- praxen und Gesundheitsämter ausge- seltene Blutkrebs ungewöhnlich häufig strich sechs Kinder an Leukämie – eine schwärmt, hatten Krankenakten einge- aufgetreten – ein Beweis für den Ver- gegenüber dem Bundesdurchschnitt um sehen und Totenscheine studiert. dacht, daß Atomkraftwerke die Krebs- das 85fache erhöhte Häufung (SPIE- Ergebnis: Bei Männern und Frauen risiken erhöhen? GEL 21/1993). unter 65 Jahren sei in einem Umkreis Soweit wollen die Experten nicht ge- Seither ist in der Region am Elbufer von fünf Kilometern um den Reaktor hen: Für sie sind die Befunde allenfalls praktisch kein Stein mehr auf dem ande- Krümmel das Erkrankungsrisiko „um 78 Steinchen in einem noch bruchstückhaf- ren geblieben: Den Bewohnern wurden Prozent signifikant erhöht“. Für eine ten Mosaik. Trotzdem will der nieder- Blutproben entnommen, um nach mög- Leukämieart, die besonders häufig als sächsische Sozialminister Walter Hiller lichen Chromosomenschäden zu fahn- Strahlenfolge auftaucht, stieg die Inzi- über eine Bundesratsinitiative jetzt eine den; auf der Suche nach radioaktiven denzrate bei Männern sogar auf fast das drastische Verschärfung der Auflagen Spuren sammelten Wissenschaftler Zäh- Dreifache. Freilich fanden die Wissenschaftler auch noch an anderer Stelle eine Krank- heitshäufung: In der Gemeinde Ber- kenthin bei Lübeck tauchten einige Leukämiearten ebenfalls zwei- bis drei- mal häufiger auf als normal. Bei Ber- kenthin gibt es weit und breit kein Kern- kraftwerk. Nester mit vielen Leukämiefällen (im Fachjargon: Cluster) finden sich quer durch die Republik. So fielen Medizi- nern im hessischen Stadtallendorf nahe Marburg mehr Blutkrebserkrankungen bei alten Leuten auf; das Städtchen war während des Krieges Standort einer Mu- nitionsfabrik. Im südniedersächsischen Münchehagen bringen die Forscher ein Leukämiecluster mit einer nahe gelege- nen Sondermülldeponie in Verbindung. Tatsächlich kann die Krankheit durch

T. RAUPACH / ARGUS allerlei Schadstoffe ausgelöst werden, Kernkraftwerk Krümmel: Zähne gesammelt, Bäume abgesägt etwa durch den Benzinzusatz Benzol so-

36 DER SPIEGEL 37/1994 wie, vermutlich, durch in bestimmten Chemikalien enthaltene Chlorverbin- dungen. Manche Wissenschaftler vertre- ten noch eine andere Ursachen-Theorie: Sie haben Leukämienester häufig in be- sonders abgelegenen Regionen festge- stellt, Gegenden, in denen über Jahr- hunderte ganze Sippschaften sich stets wieder untereinander verheiratet ha- ben. Vor allem aber gilt radioaktive Strah- lung als nachgerade klassischer Krank- heitsverursacher – unter den Bewoh- nern des japanischen Bombenortes Hi- roschima war die Leukämierate dra- stisch angestiegen. In der Umgebung von Nuklearanla- gen wurden immer wieder Krebshäufun- gen festgestellt. So beispielsweise in der Nähe der englischen Wiederaufarbei- tungsanlage Sellafield, zeitweise auch im Umfeld der deutschen Reaktoren Würgassen bei Kassel und Garching bei München. Eine vom Mainzer Institut für Medizi- nische Statistik und Dokumentation ge- fertigte Studie, in der alle westdeut- schen Atomkraftregionen untersucht 1000 Billionen Becquerel legal aus dem Kamin wurden, kam schon 1992 zu einem ähn- lichen Ergebnis wie das Greiser-Team: Danach liegt die Leukämierate bei Kin- dern unter fünf Jahren in der Nähe von älteren Atommeilern siebenmal höher als anderswo. Auch in Ostdeutschland war das Krebsrisiko für Kinder erhöht, in der Nähe des Reaktors Greifswald um 50 Prozent, beim Meiler Rheinsberg sogar um 200 Prozent. Das mittlerweile still- gelegte Kraftwerk Greifswald hat 1990 allein an radioaktiven Edelgasen rund 360 Billionen Becquerel aus dem Kamin geblasen, beim Reaktor Rheinsberg wa- ren es 10 Billionen Becquerel. Damit lag der Uraltreaktor gleichauf mit dem westdeutschen Kraftwerk Neckar 1. Das aber hält sich völlig im erlaubten Rahmen (von bis zu 1000 Billionen Bec- querel pro Jahr). Was westdeutsche Re- aktoren ganz legal an Radioaktivität ab- geben, findet der Gesundheitsdirektor im niedersächsischen Sozialministeri- um, Michael Csicsaky, „richtig knak- kig“. Die Initiative der Niedersachsen, die Emissionen der Kraftwerke drastisch zu begrenzen, würde zumindest bei eini- gen der älteren Reaktoren, etwa Stade, Biblis oder Würgassen, erhebliche Nachrüstungskosten verursachen. Doch Csicsaky hält das für gerechtfertigt: „Da kommt schließlich nicht Kölnisch Was- ser raus.“ Y

DER SPIEGEL 37/1994 37 KOMMENTAR Auf ein neues! RUDOLF AUGSTEIN

ein, es ist kein „Sieg“, wie der beraten lassen, will man doch wei- SPD-Fraktionsgeschäftsführer terhin das sogenannte familiäre NPeter Struck meint, daß die Umfeld zur Verantwortung ziehen: Abtreibungsdebatte in dieser Legis- Der Erzeuger des Kindes, der Va- latur nicht zu Ende gebracht wer- ter oder die Mutter der Schwange- den konnte, auch kein „Erfolg für ren, ihr Arbeitgeber et cetera soll- die SPD und die betroffenen Frau- ten laut Karlsruhe bestraft werden, en“. Wahr ist, daß alle Beteiligten wenn sie die Frau zur Abtreibung mit der bislang gültigen Übergangs- drängen – hier hätte man einen regelung ganz gut gefahren sind speziellen Leerlauf-Paragraphen, und auch noch weiterhin damit den die Koalition im Vermittlungs- werden auskommen können, falls verfahren denn auch preisgab. Nö- die endgültige Regelung erst in tigung ist ohnehin strafbar. zwei Jahren erfolgen sollte. Offensichtlich setzt die SPD nun Struck hofft auf neue Mehrheiten auf Zeit und auf eine Veränderung im neu zu wählenden Bundestag, des Bewußtseins. Sie nimmt dabei die ja immer noch möglich sind, ein gewisses Risiko in Kauf, sie und vielleicht auch darauf, daß der könnte sich darin nämlich täuschen. zuständige Senat des Bundesverfas- Den Vorwurf, sie erwarte sich sungsgerichts dieses Stoffes allmäh- „populären Zuspruch“, kann sie lich überdrüssig wird. aushalten. Erstens hat sie ihn, und Nur ist es keine „Blamage für zweitens eignet sich die komplizier- den Gesetzgeber“, daß er die vor- te Materie nicht für den Wahl- läufige Regelung einer wichtigen kampf, am wenigstens für den jetzt Sache durch das Verfassungsgericht laufenden sogenannten heißen. hinnimmt, wie in der FAZ aus der Alle Beteiligten sollten zunächst Feder Friedrich Karl Frommes zu noch einmal die beeindruckende lesen stand. Es genügt ja, daß der Rede der norwegischen Minister- Freistaat Bayern auch die nächste präsidentin Gro Harlem Brundt- Regelung mit den Vorgaben des land studieren, die sie auf der Gerichts für nicht vereinbar hält. Weltbevölkerungskonferenz in Kai- Anders als Fromme meint, hat ro gehalten hat. In Norwegen wie aber das BVG dem Gesetzgeber in den USA und in Frankreich, dessen „Hausgut“ sehr wohl wegge- andere Länder beiseite, ist die nommen, und zwar mit seinen Ur- Fristen-Abtreibung nicht rechts- teilen vom 25. Februar 1975 und widrig. 28. Mai 1993; diese Beschwerde In Pakistan ist die Abtreibung klingt alles andere als hohl. Es hat zwar nicht direkt verboten, aber Urteile gefällt, die in unserem auch nicht ausdrücklich erlaubt. Pa- Rechtskreis ziemlich einmalig sind, kistans Premierministerin Benazir noch recht katholisch eingefärbt. Bhutto zog deshalb vor dem Ple- Die Frauen sollen sich vor einem num in Kairo den Koran zu Rate. Schwangerschaftsabbruch beraten Selten hatten römische Kurie und lassen, gut. Aber wie soll diese Be- islamische Fundamentalisten solch ratung aussehen, wenn sie einer- eine Gelegenheit, Druck auf Regie- seits „ergebnisoffen“, andererseits rungen auszuüben, um ihren Stand- aber auf die Erhaltung des sich ent- punkt durchzusetzen. Darunter lei- wickelnden Lebens gerichtet sein det entweder die Autorität der muß? Glaubensführer oder die betroffene Es stimmt, daß die Union bereit Menschheit. war, eine notdürftig getarnte Kran- Bei uns haben die Parteien ihre kenkassenerstattung – auch dies Vermittlungsbemühungen fast er- von Karlsruhe nicht gebilligt – hin- leichtert fallenlassen. Die Vorgaben zunehmen. Ob sie das in einer neu- des Bundesverfassungsgerichts er- en Bundesregierung noch einmal schweren noch, was alle sich erhof- täte? Sie wird es, will sie den fen sollten: eine Regelung, durch Rechtsfrieden, wohl müssen. die Frauen nicht gedemütigt und Während die Schwangere selbst Reiche nicht bevorzugt werden. straffrei bleiben kann, vorausge- Vielleicht geschieht ja noch ein setzt, sie hat sich vorschriftsmäßig Wunder.

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SPIEGEL-Gespräch „Die Leitungen sollen glühen“ Telekom-Chef Helmut Ricke über Medienmacht und die Zukunft des Fernsehens

SPIEGEL: HerrRicke,wirhaben Ihnen et- ten und dafür knapp 200 Millionen Mark SPIEGEL: Ob die Telekom soviel Inno- was mitgebracht. Kennen Sie die ameri- investieren. Die Telekom erprobt die vation leisten kann? Tyll Necker, Präsi- kanische Zeitschrift Wired? schnellere Übertragung von Daten durch dent des Bundesverbandes der Deut- Ricke: Das macht jetzt wahrscheinlich ei- Glasfaser. Weil die Technik der Daten- schen Industrie, behauptet, Deutsch- nen schlechten Eindruck: Aber diekenne kompression rasch fortschreitet, passen land verliere den Anschluß an die Kom- ich, offen gesagt, nicht. bald viel mehr Kabel- und Satellitensen- munikationstechnologie. Schuld sei das SPIEGEL: Wired ist das monatliche der in die Übertragungskanäle. Und: Wir Monopol der Telekom. Zentralorgan der digitalen Kommuni- wollen herausfinden, wie die Kunden auf Ricke: Er hat recht – wenn das Monopol kationswelt. Die aktuelle Ausgabe ist die vielen neuen Angebote reagieren. langfristig bliebe. ganz spannend: Die europäischen Tele- SPIEGEL: Wie wird die neue Kommuni- SPIEGEL: Wird Deutschland technolo- kom-Unternehmen seien Ideenkiller, kationswelt aussehen? gisch zum Entwicklungsland? schreibt darin Nicholas Negroponte, Ricke: Wir liefern Schritt für Schritt neue Ricke: Mit den Einnahmen des Telefon- Chef des Media Lab beim berühm- Angebote und Dienste. Heute sind zwi- monopols wurden bis zum heutigen Tag ten Massachusetts Institute of Technolo- schen 20 und 30 Programme im Kabel, viele Milliarden Mark für Dinge be- gy. dazu kommt der Abo-Sender Premiere. zahlt, die mit der Telekommunikation Ricke: Im großen und ganzen sind die 1996 wird es in Deutschland 150 TV-Pro- nichts zu tun haben. Die Telekom könn- neuheitsbegeisterten Amerikaner bei gramme geben, außerdem können die te weiter sein. neuen Technologien und Medien munte- Kunden dann gezielt einzelne Sendungen SPIEGEL: Dann werden Sie wohl auch rer alsdieEuropäer. Dabei darf man aber und Filme kaufen. Und bis zum Jahre dem Technischen Direktor des Bayeri- nicht übersehen, daß in den USA viele 2000 werden mehr als 400 Programme im schen Rundfunks, Frank Müller-Rö- Seifenblasen produziert werden. Es gibt Angebot sein. mer, recht geben. Er hält das Monopol aber auch Felder, bei denen wir die Nase vorn haben. SPIEGEL: Wer die Zukunfts- technologie entwickeln will, braucht junge Quereinstei- ger, fordert Negroponte. Die haben es bei der Tele- kom wohl schwer. Ricke: Schauen Sie auf die in Europa eingeführte, weltweit modernste Über- tragungstechnik ATM. Sie gilt als die Technik, die den Information-Highway re- gieren wird. Darum benei- den uns US-Kollegen. SPIEGEL: Wo bleiben die großen Feldversuche, um das Zusammenwachsen von Telefon, Computer und Fernsehen zu studieren? Da entsteht ein Milliarden- markt, auf den Medien- und Computerkonzerne setzen: Die Bürger sollen Hunder- te von Programmen sehen können, per Fernbedienung M. LANGE / VISUM bei Warenhäusern bestellen Helmut Ricke SPIEGEL-Gespräch erläutert der Manager die oder sich ihren Wunschfilm Rolle der Telekom als Wegweiser auf der Da- zeigen lassen. ist Vorstandsvorsitzender der Telekom. Das tenautobahn. Für eine Medienmacht hält Ricke: Wir werden sechs Pi- Staatsunternehmen beherrscht fast jeden Be- Ricke, 57, die Telekom dennoch nicht. In der lotprojekte in Hamburg, reich der elektronischen Medien: Ob TV-Sen- digitalen Medienzukunft kennt er sich aus: Er Stuttgart, Berlin, Köln, der über Antenne, Kabel oder Satellit zu den war von 1982 an Chef des Elektronikunter- Nürnberg und Leipzig star- Zuschauern kommen – die Telekom ist immer nehmens Loewe Opta im fränkischen Kron- dabei und kontrolliert Sendeplätze wie Über- ach, ehe er 1989 vom damaligen Bundes- tragungsgebühren. Auch in der neuen Kom- postminister Christian Schwarz-Schilling zum Das Gespräch führten die Redak- teure Hans-Jürgen Jakobs und munikationswelt will Ricke mitmischen: Im Telekom-Vorsitzenden berufen wurde. Klaus Madzia.

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Werbeseite DEUTSCHLAND der Telekom für den „stärksten Brems- müssen in der MSG die großen Unter- klotz“ auf dem Weg zur Entwicklung nehmen vertreten sein. In den USA ist Medienmacht Telekom neuer Medien- und Kommunikationsan- das nicht anders. Deshalb boten sich in Viele Wege zum gebote. erster Linie diese zwei Gesprächspart- Ricke: So einfach ist das auch wieder ner an. Selbstverständlich haben wir Verbraucher nicht. Wir sind derzeit umgeben von auch alle anderen namhaften Anbieter Leuten, die sagen, alles würde mit einer geprüft. großen Liberalisierung einfacher. Da SPIEGEL: Der Hauptgesellschafter von äußern sich alle, die damit selbst gern RTL, die Compagnie Luxembourgeoise Geld machen wollen. Sie vergessen, daß de Te´le´diffusion, darf bei Ihrem TV- die Telekom das ganze Land versorgen Monopoly nicht mitmachen. Satellit Ricke: Aber Bertelsmann ist auch ein Astra Stück RTL – zumindest in Deutschland. Beteiligung der Telekom: 15,7 Prozent „Bei der Verwaltung SPIEGEL: Die großen Konzerne, will uns Die Betreibergesellschaft Société des Mangels scheinen, besetzen die Schaltstellen des Européenne des Satellites (SES), Luxemburg, Zukunfts-TV, kleinere Medienfirmen bedient 90 Prozent der europäischen gibt es nun mal Querelen“ bleiben draußen. Erst paktierten Mur- Satellitenhaushalte. doch und Kirch, um das Pay-TV-Ge- Eutelsat muß, auch die letzte Hallig in der Nord- schäft allein zu machen. Dann ging der Beteiligung: 12 Prozent see. Anfang 1998 wird nach EU-Vor- Bertelsmann-Konzern auf Partnerschau Das Verlustsystem der europäischen Fern- stellungen das Telefonmonopol ohnehin und fand die Telekom. In diese Allianz meldebehörden, 1983 gestartet, versucht freigegeben. wiederum ist Filmhändler Kirch, ein en- mit neuen leistungsfähigen Satelliten („Hot- SPIEGEL: Das ist noch eine lange Zeit, ger Freund von Kanzler Helmut Kohl, birds“) den geringen Marktanteil zu steigern. in der zuwenig passiert. Bedauern Sie unter Mithilfe des Bundeskanzleramts das Ende des Monopols? hineinkomplimentiert worden. TV-Sat Ricke: Nein. Es ist meine Überzeugung, Ricke: Dies ist eine Legende. Wir haben Beteiligung: 100 Prozent daß Innovation aus dem Wettbewerb hier eine rein unternehmerische Ent- Das technisch veraltete System der Telekom heraus entsteht. sendete nur 3 Programme und steht jetzt scheidung getroffen. Die Telekom zum Verkauf. SPIEGEL: Es sieht eher so aus, als wolle hat mit dem eigentlichen Medienge- die Telekom neue Monopole aufbauen. schäft eben wenig zu tun. Ricke: Was meinen Sie damit? SPIEGEL: Die Telekom ist der Me- Kabel-TV SPIEGEL: Zum Beispiel Ihren Einfluß dien-Monopolist in Deutschland. Mit 14,2 Millionen Haushalten beim Astra-Satelliten, der zu 90 Prozent Den Branchenelefanten geht es um ist das Telekommonopol den europäischen Markt beherrscht. Als ein Kartell, nicht um Innovation Europas größtes Kabelnetz. größter Einzelgesellschafter sollen Sie durch Wettbewerb. dafür sein, die freien Satelliten-Kanäle Ricke: Nein. Unser Kabelnetz mit künftig komplett an die Medienkonzer- 14,5 Millionen Teilnehmern ist, ne zu verkaufen, die ohnehin schon alles bildlich dargestellt, eine Autobahn. beherrschen: an die Gruppe des Film- Wir haben jetzt entschieden, darauf Datennetze * händlers Leo Kirch, an den weltweit nicht nur Autos fahren zu lassen, Datex-J Datex-J (Bildschirmtext) zweitgrößten Medienkonzern Bertels- sondern eine Speditionsgesellschaft # Größtes deutsches Kom- mann und den TV-Fürsten Rupert Mur- zu gründen. Die soll attraktive An- munikationsnetzwerk doch. gebote zu den Zuschauern bringen. mit 627000 Ricke: Das ist barer Unsinn. Wir wollen weder die Inhalte be- Anschlüssen SPIEGEL: Warum darf zum Beispiel stimmen noch verhindern, daß an- der öffentlich-rechtliche Rundfunk sein dere Spediteure entstehen. Im Gegen- Kulturprogramm Arte nicht über Astra teil: Wir freuen uns darüber. verbreiten? SPIEGEL: In Wahrheit kontrollieren Sie Abo-Fernsehen Ricke: Nochmals: Wir bestimmen die Mauthäuschen an dieser Autobahn: Media Service GmbH nichts. Allerdings sind derzeit die Kanä- Der Staat bestimmt, zusammen mit Beteiligung: 30 Prozent le noch knapp. Bei einer Mangelverwal- den zwei mächtigsten Konzernen der Vertrieb und Vermarktung tung gibt es nun mal Querelen. Was Branche, wer fahren darf und wer von Pay-TV-Kanälen und OK glauben Sie, wie froh wir sind, daß uns nicht. interaktiven Diensten (Filme WAHL auf Abruf, Teleshopping, MEK in Deutschland die Landesmedienan- Ricke: Das ist schlicht falsch. Es geht Videospiele); zusammen mit stalten das Problem abnehmen, die uns doch nur um einen einheitlichen Bertelsmann und Leo Kirch knappen Kapazitäten unter den Sendern zu verteilen. Die Telekom kann nur er- folgreich arbeiten, wenn sie neutral ist und keine Bindungen zu Anbietern hat. Interaktives Fernsehen Geplante deutsche Pilotprojekte SPIEGEL: Trotzdem zimmern Sie schon wieder ein neues Medien-Monopol. Sie ort teilnehmer haben mit Kirch und Bertelsmann die Berlin 50 ab Spätherbst 1994, Dauer: ein Jahr Firma Media Service GmbH (MSG) ge- Stuttgart 4000 ab Mitte 1995, zusammen mit ANT/Bosch, Hewlett-Packard, IBM, Alcatel/SEL gründet. Die soll exklusiv das digitale Hamburg 1000 ab Anfang 1995, zusammen mit Bertelsmann Abo-Fernsehen verwalten. So neutral und dem Sender Premiere ist die Telekom also nicht. Köln/Bonn 1000 ab Anfang 1995 Ricke: Von Exklusivität kann keine Re- Nürnberg 1000 ab Mitte 1995, zusammen mit Grundig und Quelle de sein. Die MSG steht jedem TV-An- Leipzig 100 ab Frühjahr 1995, mit erweiterten Anwendungen bieter offen. Wenn Deutschland bei Multimedia weltweit führend sein will,

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technischen Standard, denn kommt es Die existieren nur, wenn sie individuell zu keiner Einigung der Industrie, zahlt bezahlt werden. Die Haushalte werden letztlich der Kunde die Zeche. 144 Or- ihr Budget für elektronische Medien er- ganisationen aus 17 Ländern bemühen höhen und ein paar Zeitungen und sich gerade um verbindliche Normen. Zeitschriften weniger kaufen. SPIEGEL: Das Bundeskartellamt und SPIEGEL: Schon heute zahlt der Kunde die EU-Kommission, die den Fall der- rund 100 Mark monatlich, wenn er das zeit untersucht, haben große Vorbehal- gesamte TV-Angebot empfangen will. te gegen Ihr Schmuckstück. Warum Viel mehr werden die Zuschauer nicht geben Telekom, Bertelsmann und übrig haben. Kirch von ihren 90 Prozent an der Ricke: Wenn erst mal alle Zuschauer MSG nicht Anteile an andere Investo- 100 Mark ausgeben, ist es gut denkbar, ren ab? daß in Zukunft ein Sender die Basket- Ricke: Es ist nicht die Stunde, über ball-Oberliga zeigt, nur weil 20 000 bis Veränderungen der Gesellschafterver- 30 000 Leute regelmäßig für so einen hältnisse zu spekulieren. Gelingt es uns Special-Interest-Fernsehabend 20 oder 30 Mark zahlen wollen. Dafür kann die Telekom jedoch nur die technischen „Es entsteht ein Voraussetzungen schaffen. elektronischer Kiosk SPIEGEL: Manchmal fördern Sie einzel- ne Unternehmen scheinbar beliebig. für jedermann“ Dem Musiksender MTV zum Beispiel zahlen Sie Geld, damit er über die Ka- nicht, eine absolute Gleichbehandlung belnetze seine Pop-Clips verbreitet. Al- der Anbieter zu gewährleisten, werden len anderen Sendern stellen Sie Gebüh- wir von der EU-Kommission nie eine ren in Rechnung. Genehmigung erwarten können. Wir Ricke: MTV will sein Programm euro- wollen, daß unsere Leitungen glühen, paweit verschlüsseln. Wenn der Sender daß es 500 benutzte Kanäle gibt, nicht nicht mehr von allen ohne zusätzlichen nur 125. Die MSG ist volkswirtschaft- Aufwand empfangen werden kann, lich von großer Bedeutung und ein büßt das Kabel Attraktivität ein. Des- Stück Innovation in Deutschland. halb planen wir, aus reinen Marketing- SPIEGEL: Schon bei 150 Sendern Aspekten eine Pauschale an MTV zu braucht man den ganzen Feierabend, zahlen. nur um zu wissen, was überhaupt läuft. SPIEGEL: Ein anderes Beispiel: Dem Ricke: Das hängt von der Bedienungs- Kabelkanal aus dem Hause Kirch ha- freundlichkeit ab. Die Zuschauer wer- ben Sie vor zwei Jahren beim Start mit den sich nicht mehr, wie heute üblich, gezieltem Marketing geholfen. passiv berieseln lassen, sondern aktiv Ricke: Das war in einer Zeit, als wir das mitmachen . . . Kabelsystem noch attraktiver machen SPIEGEL: . . . und dafür mehr Geld mußten. Heute sind die Kanäle voll. ausgeben? SPIEGEL: Wie man es auch dreht und Ricke: Es entsteht ein elektronischer wendet: Immer grüßt die Telekom, die Kiosk mit Angeboten für jedermann. geheime Medienmacht der Republik.

Neue Medienwelt digitaler Daten von Video- und Musik- sequenzen vor der Übertragung redu- Abo-Fernsehen (Pay-TV): Kommerziel- ziert und beim Empfänger rücküber- le Sender, die ihr Programm nicht setzt. Auf diese Weise können die durch Werbung (wie RTL oder SAT 1) fi- Übermittlungswege (Satellit, Kabel) nanzieren, sondern durch Abo-Gebüh- mit jeweils vielen Sendern bestückt ren der Zuschauer (Premiere). In Zu- werden. kunft sollen die Bürger nicht nur ganze Verschlüsselungsstandard: Damit Abo- Sender, sondern auch einzelne Filme Fernsehen nur die Verbraucher sehen oder Konzertmitschnitte ordern kön- können, die dafür bezahlt haben, wer- nen (Pay per view). den die Bilder verschlüsselt und von Interaktives Fernsehen: Die sogenann- einem Zusatzgerät am Fernseher de- te Rückkanaltechnik soll den passiven codiert. In Europa existieren zur Zeit Fernsehkonsum der Zuschauer been- verschiedene Normen, etwa Syster den: Durch Signale der Fernbedienung (Premiere) oder Videocrypt (Sky-TV). können die Kunden über einen Glasfa- Die Telekom möchte in Zukunft für ser-Rückkanal zum Beispiel Videos auf ganz Europa einen einheitlichen Stan- den heimischen Bildschirm (Video on dard etablieren. demand) holen, bei Quiz-Sendungen ATM (Asynchronous Transfer Mode): direkt mitwirken oder bei Versandhäu- Technischer Übertragungsweg, bei sern Waren bestellen (Teleshopping). dem Filme, Musik und Texte als Daten- Datenkompression: Mit dieser Compu- pakete über Kabel- oder Telefonleitun- tertechnik werden die Riesenmengen gen transportiert werden.

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DEUTSCHLAND K. STRAUBE Experiment mit interaktivem Fernsehen*: „30 Mark für einen Basketball-Abend“

Ricke: Lassen Sie mich es einmal ganz Telefonmonopols Anfang 1998 „alterna- klar sagen: Die Telekom ist lediglich ein tive Netze“ aufzubauen, ermuntert von Transporteur, mit der Gestaltung von der Brüsseler EU-Kommission. Inhalten wollen wir nichts zu tun haben. Ricke: Wir sind natürlich für den Wettbe- SPIEGEL: Bleibt es denn bei Ihrer Macht werb, aber wir brauchen, gerade vor dem über den Transport? Was halten Sie von Hintergrund unseres Börsenganges, Pla- dem Vorschlag, das Kabelnetz zu ver- nungssicherheit in der Frage, wann denn kaufen, damit die Telekom AG zu Geld nun mit der Freigabe des Monopols zu kommt und die hohen Pensionsver- rechnen ist. Eine übereilte Lösung könn- pflichtungen der Mitarbeiter bezahlen te den Erfolg des Börsengangs der Tele- kann? kom gefährden. Ricke: Es war noch kein Interessent da. SPIEGEL: Herr Ricke, haben Sie eigent- In Amerika wurde Kabel erst attraktiv, lich einen elektronischen Briefkasten, als der Gesetzgeber das Recht einräum- um per Computer Post zu erhalten? te, über dieses Netz Telefondienste an- Ricke: Ja, im Bildschirmtext der Tele- zubieten. Das könnte auch in Deutsch- kom. Aber darum kümmert sich, ehrlich land für den einen oder anderen eine ge- gesagt, meine Sekretärin. wisse Faszination haben. Hauptsächlich SPIEGEL: Wie korrespondieren Sie mit steigt der Wert des Kabels durch die Di- Medienmanagern aus den USA? Schickt Ihnen Ihr Kollege Raymond Smith von Bell Atlantic oder Gerald Levin von „Wir sind froh über Time Warner Nachrichten über dasCom- jeden, der den Blasebalg puternetz Internet? Ricke: Wir haben immer noch das Tele- auf die Glut hält“ fon, über das man sehr individuell kom- munizieren kann. gitalisierung und die Vervielfachung der SPIEGEL: Vielleicht verkennen Sie die zu transportierenden Programme – auf neuen Möglichkeiten der Kommunikati- einen zweistelligen Milliarden-Betrag, on? Der Kanzler gab dafür ein inzwi- wie ich vermute. schen berühmtes Beispiel: Er forderte SPIEGEL: Ein Verkauf würde Ihre drän- freie Fahrt für Autos, als er in einer Talk- gendsten Finanzprobleme lösen. Show zu Daten-Highways befragt wurde. Ricke: Beim Kabel handelt es sich um Ricke: Es steht mir nicht an, das zu be- eine Ressource, über die wir, weil sie im werten. Wir sind über jeden Politiker Moment noch einem Monopol unter- froh, der ein bißchen Bewegung in die liegt, nicht frei entscheiden können. Ich Reihen bringt und den Blasebalg auf die würde eine Trennung von Kabel- und Glut hält. Telefonnetz für eine falsche Entschei- SPIEGEL: Herr Ricke, wir danken Ihnen dung halten. für dieses Gespräch. Y SPIEGEL: Die großen Konzerne Veba, Mannesmann und RWE stehen doch * Vorige Woche bei einer Medienkunstgruppe in längst bereit, schon vor dem Ende des Hannover.

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Unger schickte Brandschreiben nach zu beschwichtigen: „Lassen Sie die Eier Schürmann-Bau Bonn. Doch niemand wollte dem Ost- zu Hause und rollen Sie die Transparen- deutschen helfen. Solange der Verursa- te ein. Ich verspreche Ihnen: Wir wer- cher des Wasserschadens nicht festste- den Ihnen helfen.“ he, könne Bonn keinen Pfennig zahlen, Für Unger war die Sache „damit erst Auf Zuruf argumentierten die Juristen im Baumi- einmal erledigt“. Vogels Hilfsangebot nisterium. wertete er als Kanzler-Versprechen. Wenn sich das Kanzleramt sperrt Erst als Helmut Kohl im Europa- Als dann auch noch Kriedner zurück- und nichts mehr hilft, Wahlkampf Anfang Juni nach Thürin- rief und den Firmenboß zur Kohl-Kund- gen kam, hellte sich die Lage für Unger gebung auf dem Marktplatz in Meinin- hilft Jürgen W. Möllemann. auf. Nun interessierte sich plötzlich sogar das Kanz- ier können im Wahlkampf Wunder leramt für die Sorgen der wirken – auch wenn sie gar nicht hochwassergeschädigten Efliegen. Diese Lektion hat der ost- Ost-Firma. Denn Unger deutsche Unternehmer Jochen Unger hatte mit Krawall gedroht. jetzt gelernt. Die Helüsa-Belegschaft Monatelang versuchte der Geschäfts- werde Kohl einen lautstar- führer der Helüsa-Anlagentechnik ken Empfang bereiten, GmbH im thüringischen Schmalkalden kündigte er per Telefon von der Bundesregierung das Geld zu- dem örtlichen CDU-Politi- rückzubekommen, das seine Firma in ker Arnulf Kriedner an. den Bonner Schürmann-Bau gesteckt Plakate und Transparente hatte. seien gemalt. Und: „Die Als eine von 20 Firmen war die Helü- Eier in Meiningen sind sa dabei, als Weihnachten 1993 das schon ausverkauft.“ Hochwasser kam und den Betonrohling Es muß dieser Satz ge- im Parlamentsviertel flutete. Die Thü- wesen sein, der die Regie- ringer hatten Aufträge im Wert von 2,6 rungszentrale in Bonn aufs Millionen Mark für Klima- und Belüf- höchste alarmierte – Erin- tungsanlagen ergattert. Rechnungen nerungen an den Wahl- von 1,3 Millionen Mark waren noch of- kampf 1990 in Halle kamen fen. Und dieses Loch in der Firmenkas- hoch, als der Einheitskanz- se drohte die Helüsa (rund 130 Beschäf- ler im August unverhofft tigte) in den Ruin zu treiben. ins Feuer von Eierwerfern Bauministerin geriet. hatte andere Sorgen. Sie wollte den Zwei Stunden nach dem Klotz am Rhein schnell loswerden, mög- Gespräch mit Kriedner lichst an einen Privatinvestor verscher- meldete sich das Kanzler- beln. Die Ursachenforschung, wer denn amt bei Unger. eigentlich am 370-Millionen-Mark-De- Der für Haushalt und Fi- bakel schuld sei, interessierte sie weni- nanzen, Städte- und Woh-

ger. Noch weniger die Nöte, die den Ge- nungsbau zuständige Mini- ACTION PRESS schäftsführer Unger in Schmalkalden sterialrat Wolfgang Vogel Wahlkämpfer Kohl in Meiningen plagten. versuchte den Helüsa-Chef Drohung mit Eiern

gen einlud, war der sehr zufrieden. Der CDU-Mann verschaffte ihm einen roten Sonderausweis und damit Zutritt zum „Kreis der Auserwählten in den vorde- ren Reihen“ (Unger). Und er versprach sogar, er werde ihn hinterher mit dem Kanzler bekanntmachen. Ein gewaltiger Regenguß vereitelte das Gipfeltreffen. Kohl verließ fluchtar- tig den Marktplatz. Unger fuhr, klatsch- naß, nach Hause. Er wähnte sich den- noch seiner Sache ganz sicher. Nach der Europawahl, die glimpflich für die Union ausging, fühlte sich jedoch niemand mehr zuständig. Das Bau-Mi- nisterium mauert weiterhin: Man könne doch nicht „auf Zuruf“ (Staatssekretär Herbert Schmülling) eine der am Schür- mann-Bau beteiligten Firmen auszah- len. Das schaffe einen Präzedenzfall und bringe die juristische Argumentation des Bau-Ressorts ins Wanken.

CONTRAST PRESS Erschwerend kam hinzu, daß die He- Schaden am Schürmann-Bau: Offene Rechnungen lüsa nicht die direkte Vertragspartnerin

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fenbarungseid zu treiben. Krantz schoß sogar 150 000 Mark vor. Die Juristen im Bau-Ministerium blie- ben trotzdem hart: Solange der Urheber des Fiaskos nicht feststehe, könne nun mal kein Geld bezahlt werden. Nicht an die Helüsa und auch nicht an Krantz. Gegen solche schlagenden Argumen- te hilft kein Versprechen aus dem Kanz- leramt, sondern nur noch Jürgen W. Möllemann. Der FDP-Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen trat just in jenem Moment auf den Plan, als alles total ver- fahren schien. Und nun gelang plötz- lich, was eben noch unmöglich schien: Aus dem vertrackten Casus Helüsa wur- de über Nacht ein lösbarer „Härte- fall“.

D. SAUERSTROM / CONTRAST PRESS Zum Glück nämlich für alle Betroffe- Helfer Möllemann nen gibt es kurze Wege im Münsterland Ein lösbarer Härtefall und vor allem bei den Liberalen: Da sitzt Hertz-Ehefrau Renate für die FDP des Bundes ist. Die Firma ist am Schür- im Gemeinderat von Billerbek – mit gu- mann-Bau nur als Sub-Unternehmerin tem Draht zum Landesvorsitzenden der Aachener Heizungs-Klima- und Möllemann. Und zum Glück für Mölle- Lüftungsbaufirma H. Krantz Energie- mann ist dessen Parteifreundin Irmgard planung GmbH beteiligt. Schwaetzer Chefin im Bonner Bau-Res- Die Firma Krantz wiederum hatte den sort. Dort trafen sich, Mitte Juni, auf Millionenauftrag allein unter der Bedin- Möllemanns Betreiben, die drei betei- gung bekommen, daß sie einen ostdeut- ligten Firmen. schen Betrieb mit 51 Prozent beteiligte. Ende August überraschte Staatsse- So war die Helüsa an den Auftrag ge- kretär Schmülling die Juristen seines kommen. Hauses mit der Anweisung, nunmehr Nach dem Rhein-Hochwasser gerie- solle unverzüglich an die Firma Krantz ten auch die Aachener in die Bredouille. gezahlt werden. Das habe die Ministe- Bonn stellte die Zahlungen ein und kün- rin verfügt. digte die Verträge. Krantz kündigte der Es handele sich um einen akuten Här- Helüsa, die wiederum von ihren Zulie- tefall. Arbeitsplätze einer jungen ost- ferern bedrängt wurde – zum Beispiel deutschen Firma stünden auf dem Spiel. von der Firma Luftkanalbau Hertz im Der Rechnungshof werde gewiß zustim- münsterländischen Billerbek. men, auch das Kanzleramt sei einver- Im eigenen Interesse verzichteten die standen. Aus juristischen Gründen kön- West-Partner darauf, Helüsa in den Of- ne aber nicht direkt gezahlt werden, sondern nur über die Firma Krantz. Am vergangenen Montag kam der Scheck: 401 000 Mark für die Firma Krantz. Die zog die 150 000 ab, die sie der Helüsa vor- gestreckt hatte – mit Zinsen 173 000 Mark. Von den restlichen 228 000 Mark muß die Helüsa 160 000 an die Firma Hertz weiterrei- chen. Unterm Strich bleiben ihr 68 000 Mark – fünf Prozent der Gesamtforderung. Mit Eiern läßt sich gut drohen, weiß Ge- schäftsführer Unger in Schmalkalden nun. Der richtige Mann aber in der richti-

F.SOMMARIVA gen Partei ist viel bes- Unger-Firma Helüsa: Draht in den Gemeinderat ser. Y

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Werbeseite . C. THIEL Soldaten-Begrüßung am Bahnhof in Kursk: „Ich weine, weil ich hier sein kann“

Truppenabzug „Zwischen Himmel und Erde“ SPIEGEL-Redakteur Christian Habbe über die Heimkehr der russischen Berlin-Brigade

in Dutzend Paraden hat Jurij Ma- Jetzt ist er extra die 900 Kilometer aus „Wieso haben die Deutschen euch so karow in den letzten Monaten an- Lwow, dem ukrainischen Lemberg, ge- beleidigt?“ ruft ein Passant, der gelesen Egeführt. Er marschierte im Osten kommen, um sich vom Marschtritt der hat, wie deutsche Politiker die Russen und im Westen von Berlin, vor Kohl Brigade in die Zeiten alter Sowjetmacht gedemütigt und vom gemeinsamen Ab- und Jelzin und schließlich in Moskau. versetzen zu lassen. „Ich weine, weil ich schiedszeremoniell der West-Alliierten Doch diese Parade, die letzte vor- hier sein kann“, sagt er. ausgeschlossen haben. Sogar ihre Pan- erst, ist die schönste für ihn. Mit wuch- zerparade wurde den russi- tigem Bein-Schwung und gerecktem schen Militärs verboten, denn Kinn stapft Makarow seiner Truppe 500 Km die Ketten hätten das Ost-Ber- vorweg durch die Leninstraße im russi- liner Straßenpflaster beschädi- schen Kursk. Die Soldaten singen, Moskau gen können. Trompeten schmettern, leutselig grüßt RUSSLAND Nun beginnt die Zukunft der Berlin der General die Menge. POLEN Kursk Brigade im Flair sowjetischer Makarows „Berlin-Brigade“, als letz- DEUTSCH- Vergangenheit. Kursk, nach te russische Einheit aus Deutschland LAND UKRAINE dem Krieg mit Gepränge zur abgerückt, ist angekommen, wo sie Heldenstadt ernannt, hat viel künftig daheim sein soll. Mädchen von seinem stalinistischen Ge- schwenken Blumen, Väter kleine Kin- sicht bewahrt. Straßen tragen der. Zum Empfang am Bahnhof gibt es noch die Namen von Revoluti- Apfelsaft. Veteranen drücken die Rük- Neue Heimat onsgevattern, die Bahnhofsfas- ken stramm durch, daß die Orden wip- Vorletzte Woche ist die Berlin-Brigade heimgekehrt, sade krönt ein Sowjetemblem pen. die letzte Einheit der 340000 Mann starken West- mit sturmbewegten Bannern Ein Alter mit Stahlzähnen im Mund gruppe der russischen Truppen in Deutschland aus Gußeisen, auf dem zentra- und Tränen in den Augen zeigt auf (SPIEGEL 36/1994). Nun versuchen die Soldaten len Platz steht Lenin als Monu- zwei Reihen von Kriegsauszeichnungen aus Berlin sich in ihrer neuen Heimat einzurichten, mental-Skulptur mit erhobe- an seiner abgewetzten Jacke. 1943 hat der südrussischen Garnisonsstadt Durnewo bei nem Arm. Straßenbahnen voll Kursk. Sie wurde eilends mit deutscher Milliarden- er geholfen, bei der Panzerschlacht am hilfe gebaut. dicht gedrängter Menschen Kursker Bogen, ganz in der Nähe, der rattern über die leeren Boule- Nazi-Armee das Rückgrat zu brechen. vards des sowjetischen Frei-

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luft-Museums. Moskau ist weit, die Bei 25 Grad Frost – normale Januar- neue Zeit fern. Temperatur in dieser Gegend – haben „Was ist Kriminelles daran, daß Le- türkische Arbeiter fast rund um die Uhr nin hier noch steht? Ich bin in der So- geschuftet. Russische Subunternehmer wjetunion geboren und kann mich ja lieferten den Ingenieuren Ausschuß in schlecht gegen die eigene Biographie Mengen, es gab Massenstreiks und töd- stellen“, sagt Oberst Wiktor Smokarew, liche Unfälle. In aller Hast schütteten 40, der in Karlshorst für Schulung zu- die Baubrigaden die Betonquader in ständig war. „Das war immer unser Le- den Matsch. ben“, pflichtet Stabsarzt Andrej Eine Panzereinheit aus Altengrabow Schischkin bei. in Sachsen-Anhalt, die monatelang Schon ganz daheim in Kursk fühlt sich „zwischen Himmel und Erde steckenge- auch Oberleutnant Sergej Scherbakow, blieben war“ (Oberbefehlshaber Mat- 26, denn er hat vorgesorgt. Dreimal ist wej Burlakow) und vor dem Baustellen- er in den letzten Monaten per Auto von zaun kampierte, war als erste dran und Berlin hierher gefahren, immerhin je- zog in die noch feuchten Neubauten. weils fast drei Tage über achsenbrechen- Nun folgt die Berlin-Brigade aus Karls- de Straßen. Allerhand Hausrat hat er horst. Leutnants kommen in den Plat- herbeigeschafft, Videorecorder, Hi-Fi- tenbau, höhere Chargen in Reihenhäu- Anlage und Compu- ter. Bei zwei seiner Reisen ließ er sein je- weiliges Auto in Kursk. Nun stehen sie unten vor der Tür, der Opel und der Schiguli. Sie zeigen den Nach- barn, daß die Scherba- kows es vorläufig ge- schafft haben. In drei Zimmern wird der Offizier künf- tig leben, mit zwei Kindern und seiner Frau. Sie ist Kranken- schwester, hat aber auch Erzieherin und Köchin gelernt, wird also demnächst wohl in der Garnison Arbeit finden. „Wenn der

Mensch unbedingt ar- STEINBERG beiten möchte, wird er

auch was finden“, FOTOS: D. glaubt Scherbakow. Heimkehrer, Angehörige Das Rennen um die „Warum haben die Deutschen euch so beleidigt?“ Jobs, die ein Leben fast wie in Deutschland gestatten sollen, ser, General Makarow zieht in eine der hat schon begonnen. In der Nachbarwoh- kleinen Villen. nung des Plattenbaus sitzt Majorsgattin Aus Transport-Containern wuchten Elena auf einer Umzugskiste, zu ihren Neuankömmlinge ihr Hab und Gut die Füßen stapeln sich Kartons, aus Körben Treppen hoch. Vor dem Haus eines quellen Kleider, all der Besitz aus dem Obersten türmen sich Schrankwand, Westen. Ärztin Elena sieht „fürs erste Schlafzimmer und Sitzecke, alles noch la- keine Chance in meinem Beruf“. Siewird denneu und mit Folie abgedeckt. Haupt- eine Weile das Geschick von Heerscha- mann Arkadij Schischkin dagegen hat ren teils bestens ausgebildeter Offiziers- sich in Deutschland Gebrauchtmöbel frauen teilen, die nach der Rückkehr aus über das Anzeigenblatt Zweite Hand be- Deutschland nichts zu arbeiten haben, al- sorgt. lenfalls am Herd noch gebraucht werden. Dafür investierten Schischkins zu- Ihre neue Heimat heißt Durnewo, eine kunftsträchtige 600 Mark in die Rottwei- Schlafstadt für rund 1200 Offiziersfamili- ler-Hündin Adele, die künftig nicht nur en, die ein türkisch-deutsches Konsorti- den BMW 320der Familie bewachen soll: um binnen weniger Monate errichtet hat, Ein Nachbar hat den passenden Rüden ein paar Kilometer außerhalb von Kursk. auf der Futterliste, im neuen Rußland Durnewo ist einer der 40 neuen Garni- läßt sich mit den Welpen kampfkräftiger sonsorte, die für über acht Milliarden Hunde gutes Geld verdienen. Mark aus Bonn den heimkehrenden Offi- Manche Kollegen haben ihre Sieben- zieren gebaut wurden (SPIEGEL sachen nur unter Gefahr herangebracht. 44/1993). Die Westgruppe der russischen Truppen

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in Deutschland galt da- heim als Millionärsklub, ihre zuletzt in West-Mark bezahlten Offiziere wur- den beneidet wie auch als Geschäftemacher bearg- wöhnt, konnten sie doch in Militärtransportern al- lerhand nach Rußland verschieben. Jetzt müssen sie um ihre Reichtümer fürchten. Ein Flötist aus der Karlshorster Militärka- pelle hat eine komplette Videoausrüstung mitge- bracht und rechnet nun mit „Zoll-Forderungen“ der Mafia. Ein Major: „Vielleicht kommt ja ei- nes Tages meine Tochter nicht mehr von der Schu- le zurück und statt dessen ein Zettel, was ich bezah- len muß, um sie wieder- zusehen.“ Doch noch mehr An- kömmlingen graut es vor dem Frust in der Provinz. Ein Brigadist hörte in Karlshorst, nach Kursk seien seit den Zeiten der Zarin Katarina die Prosti- tuierten und Trinker ver- bannt worden. Der Sol- Plattenbau-Wohnungen in Durnewo dat: „Ich sehe vor allem „Wir treffen hier alle wieder“ Alkoholiker.“ Noch gibt es in der Siedlung Durnewo wel, ein Major, entdeckte im Keller weder Baum noch Strauch zwischen den seines Hauses die ersten Folgen der buntgestrichenen Wohnblocks. Das schinderhaften Bauarbeiten im Winter. Haus der Offiziere ist noch nicht fertig, Wasser steht manchmal knöcheltief auf das einzige Restaurant am Ort serviert der Betonsohle, Pilz wuchert grün an kein Bier. Nur spielende Kinder und ba- der Decke, oben schlägt das Parkett stelnde Autoeigner sorgen nachmittags Wellen. Die Warmwasserboiler funk- für etwas Bewegung auf den Straßen. tionieren nicht mehr, seit sie für einen Das Dorfleben muß sich erst noch Test abgeschaltet werden mußten. entwickeln, worüber sich nicht jeder „Alles wartet auf die Türken“, sagt freut: „Wir haben schon in Deutschland der Major und zeigt auf die Container- zusammengewohnt und treffen hier nun siedlung am Dorfrand, wo noch ein alle wieder“, sagt die Majorsfrau Ele- Trupp Garantiearbeiter stationiert ist, na. „aber keiner läßt sich blicken.“ „Große Sehnsucht nach Berlin“ habe Viele der Heimkehrer sind es jedoch er, gesteht schon nach wenigen Tagen in gewohnt, sich im Verfall einzurichten. der neuen Heimat ein schnauzbärtiger Die Miete kürzen sie auf ihre Art: Ne- Hauptmann, der sich im Overall über ben den Stromzählern im Treppenhaus den Motor seines Autos beugt. Viele baumeln bereits Magnete an Schnüren, hatten gehofft, daß sie ihren Wohlstand so rotiert die Drehscheibe langsamer. mitnehmen und erhalten könnten. „Kennen wir alles von früher“, sagt Doch das, so zeigt sich bereits, wird auf Major Pawel. Dauer nicht funktionieren. Wie zu Sowjetzeiten geht es nun Mißmutig schwenkt der Hauptmann wieder in seinen vier Wänden zu – mit öligen Fingern ein Bauteil der Zün- drangvoll eng. 31,5 Quadratmeter hat dung aus seinem VW-Passat durch die der Major abbekommen, zwei Zimmer Luft. Es ist durchgebrannt und, Hun- für die Eltern, die beiden Sprößlinge derte Kilometer von der nächsten VW- und die Möbel. Im Kinderzimmer steht Werkstatt, kaum zu ersetzen. Der Hausrat herum, im Elternzimmer se- Westwagen wird stehen und rosten. hen die Kinder fern, und ihr Vater trö- Auch die bunten Plattenbauten, mo- stet sich mit schwarzem Humor: „Erst derne Pracht im Vergleich zu Kursk, wenn die beiden größer werden, gibt verfallen bereits an einigen Ecken. Pa- es wirklich Probleme.“ Y

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Werbeseite . LAUE / ASPECT FOTOS: Ausgrabung am Dresdner Altmarkt: „Eine ganz exzellente Fläche“

in den neuen Bundesländern Archäolo- Altertümer gen Altertümliches zu Tage. Da wer- den Tonscherben und Knochenreste ausgegraben, Faustkeile und Schiffs- planken. Fundstätten für solche Kost- Noch barkeiten sind zumeist Bauplätze, neu erschlossene Wohngebiete, aber auch die Ostsee. jungfräulich Die Baukonjunktur im Osten hat nicht nur Maurern und Zimmerleuten Die Baukonjunktur im Osten Arbeit verschafft, auch die Archäolo- hat auch den Archäologen Arbeit gen sind betriebsam geworden. In den fünf Jahren seit der Wende haben sie verschafft: Allerorten buddeln bereits mehr Antikes geborgen als sie Zeugnisse der Frühzeit aus. während der gesamten vier Jahrzehnte DDR. Häufig rücken die Wissenschaftler ie Dame war etwa 30 Jahre alt, schon mit Bohrer, Schaufel und Maß- 1,53 Meter groß und vermutlich band an, noch bevor Bagger das Erd- Dschwanger, als sie starb. 7000 Jah- reich aufreißen. Sie kommen in amtli- re lang ruhten ihre Gebeine im chem Auftrag und sollen verhindern, Dresdner Untergrund. Dann wurden, daß die Reste der Frühzeit durch Bau- Ende Januar, die alten Knochen ausge- maschinen zerstört werden. buddelt – Arbeiter hatten sie bei der Die zur Zeit größte Ausgrabungs- Sondierung für einen Hotelneubau ent- stätte in einer Stadt haben die Alter- deckt. tumskundler auf dem Dresdner Alt- Das Skelett stammt aus der Jungstein- markt eingerichtet. Sie wollen dort zeit, die Archäologen tauften es auf den rund 1,6 Hektar Pflaster aufreißen Namen Rebekka. Sorgfältig eingegipst, und, bis 1996, Meter für Meter das verschraubt und verhakelt lagern die Erdreich durchsieben. 80 Helfer, zu- Knochen nun im Keller des sächsi- meist vom Arbeitsamt als ABM-Kräfte schen Landesamtes für Archäologie. finanziert, graben Tag für Tag, montie- Um weitere Details über das Schick- ren Zeltplanen über den aufgerissenen sal der Steinzeitdame herauszubekom- Flächen und installieren schon Heiz- men, wollen die Experten ihre Gebeine öfen für den Winter. demnächst im Computertomographen „Wenn man wissen will, wie eine durchleuchten. frühe Stadtwerdung aussieht“, sagt Ju- Rebekka gilt als bislang spektakulär- dith Oexle, Leiterin des sächsischen ster Steinzeitfund im deutschen Osten. Steinzeitskelett „Rebekka“ Landesamts für Archäologie, sei der Immer häufiger fördern auch andernorts Verschraubt und verhakelt Altmarkt „eine ganz exzellente Flä-

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che“. Als einstiges Zen- trum der alten Sachsen- siedlung biete der Platz heute wie ein Schau- fenster Einblicke in die Historie von Elbflo- renz. Die Archäologin schließt nicht aus, daß die Ausgrabungen das Datum der Stadtgrün- dung, bisher 1206, ver- schieben. Grabungen wie die in Dresden gehen ins Geld. Rund sieben Mil- lionen Mark hat Oexle im vergangenen Jahr zusammenbekommen. Das Geld stammt zum größten Teil von Fir- men, die auf archäolo- gisch interessanten Flä- chen investieren wollen. Nach den ostdeut- schen Bestimmungen Ausgrabung in Wustermark: Kostbarkeiten unter dem Wohngebiet zum Denkmalschutz können die Investoren verpflichtet wer- tel „Nicht nur Sand und Scherben“ zeigt Zu DDR-Zeiten durften die Tiefsee- den, die Ausgrabungen zu finanzieren. das archäologische Landesmuseum forscher den Meeresboden nicht betre- Freilich setzen die Archäologen, wo im- Jagdwaffen, Haushalts- und Kultgeräte ten, denn der galt als Grenzgebiet. Die mer es geht, auf freiwillige Kooperation – viele der Kostbarkeiten wurden erst SED-Oberen fürchteten zudem, daß mit den künftigen Bauherren. jüngst bei Ausgrabungen entdeckt. sich Wissenschaftler über den Seeweg Einen weiteren ergiebigen Fundort Auch in Berlin wollen die Archäolo- gen Westen absetzen könnten. haben die Wissenschaftler im Havelland gen demnächst ihre Zelte aufschlagen, Auch heute werden die Erkundun- entdeckt. Bei der Erschließung eines um in der Frühhistorie zu graben. Wenn gen der Unterwasserarchäologen ge- Wohngebietes in der Gemeinde Wuster- auf dem Marx-Engels-Platz die Attrap- stört: Raubtaucher stöbern in den mark waren Bauarbeiter auf Reste einer pe des alten Schlosses abgebaut ist, sol- Wracks gesunkener Lastsegler und 5000 Jahre alte Siedlung gestoßen. Ein len dort erste Erkundungen beginnen. Hansekoggen nach Schatztruhen. Spezialistenteam förderte daraufhin Der Berliner Landesarchäologe Wil- Die Taucher haben es vor allem auf rund 100 000 Fundstücke zu Tage, dar- fried Menghin hofft auf reiche Ausbeu- alte Waffen abgesehen. Auf dem unter Skelette von Steinzeitmenschen, te. Das Areal vor dem Palast der Repu- Schwarzmarkt kann eine Kanonenku- Keramikkrüge und 2000 Jahre alte Jagd- blik, so der Wissenschaftler, sei in der gel schon 300 Mark bringen, ein kom- Utensilien. Tiefe „gewissermaßen noch in jungfräu- plettes Geschütz gar bis zu 50 000 Vergangenen Monat wurde in der Ha- lichem Zustand“. Mark. velstadt Brandenburg eine Ausstellung Nach maritimen Altertümern for- Die Froschmänner arbeiten schnell mit Funden vornehmlich aus der Stein- schen die Kollegen im Norden. An der und gründlich. „Schon innerhalb weni- und Bronzezeit eröffnet. Unter dem Ti- Ostseeküste sind in den vergangenen ger Tage“, klagt Thomas Förster vom Jahrhunderten Tausende von Schiffen mecklenburgischen Landesverband Un- * Ausstellungsstücke des Landesmuseums Bran- gesunken, wie Flaschenpost aus der terwasserarchäologie, gelinge es den denburg: Gefäße aus der Jungbronzezeit, Bronze- wagenmodell, Trinkgefäß mit Vogelplastiken Vergangenheit liegen sie auf dem Raubtauchern, „ein Schiffswrack bis (1000 v. Chr.). Grund. auf die Knochen abzunagen“. Y FOTOS: D. SOMMER Ost-Altertümer*: Seit der Wende mehr Antikes geborgen als in vier Jahrzehnten DDR

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Gedenkstätten Charly lebt Gedrängel bei Karl Marx – vor allem Ostdeutsche zieht es in Scharen in sein Trierer Geburtshaus.

ie Brückenstraße in Trier ist nicht die allerfeinste Adresse der katho- Dlischen Bischofsstadt. Vorbei am „Shanghai Cafe´“ geht es zum „Pfand- haus Berlin“, gegenüber wartet „Yvonne’s Bar“ („Wodka Pour Lemon 2 Mark“) ab elf Uhr auf Kunden. Ein paar Häuser daneben steht ein sorgfältig renoviertes Bürgerhaus im

Barockstil. An der grauen Hauswand M. + J. TIETZEN hängt eine schwarze Steintafel, die ei- Karl-Marx-Haus in Trier: Prächtiger Knabe nen bärtigen Kopf zeigt. Erst wenn der „einen Sprung herüber“ zu Marx gefah- Besucher die blanke ren. Die Ausstellung im Hause mache Messingklingel drückt, „einen guten Eindruck“, sagt auch der öffnet sich die schwere Dessauer Pensionär Wolfgang Platz, 67. Eichentür zu der welt- Irritiert sind die Ostler nur darüber, weit bekannten Ge- daß sie im Erdgeschoß von einem Foto denkstätte in der der Christdemokrat Helmut Kohl an- Brückenstraße 10 – blickt. Der Bonner Regierungschef hatte dem Karl-Marx-Haus. 1974, damals Ministerpräsident in Im ersten Stock wur- Mainz, das Marx-Haus besichtigt. „Der de der Urvater des So- Bundeskanzler hier“, sagt ein Besucher zialismus am 5. Mai aus Sachsen, „das ist ein Ding.“ 1818 geboren. Dort, Viele der Marx-Neugierigen aus wo heute eine bronze- Deutsch-Ost sind jedoch enttäuscht von ne Büste des „größten dem, was sie in der Brückenstraße sehen. Denkers des Weltkom- Unter den Devotionalien findet sich munismus“ (Gäste- kaum Privates, weder der Lehnstuhl des buch) steht, entband Philosophen noch ein Gehrock oder we- die Frau des Rechtsan- nigstens ein Federkiel, mit dessen Hilfe

walts Heinrich Marx K. RUDOLPH / FORMAT das Kommunistische Manifest entstan- von einem prächtigen Direktor Pelger, Marx-Büste: Blumen von Honecker den sein könnte. Statt dessen sind die Knaben. Glasvitrinen und Wandtafeln mit Tex- Seit 1968 wird das Karl-Marx-Haus ne aus dem Osten, die zu Honeckers ten, Dokumenten, Handschriften und von der SPD-nahen Friedrich-Ebert- Zeiten nie bis nach Trier durften – nost- Buch-Originalen angefüllt – alles „ziem- Stiftung verwaltet. In Zimmer 11, etwas algisch gestimmte Normalbürger aus der lich dröge“, kritzelte ein Besucher ins unruhig zur Straßenfront gelegen, depo- ehemaligen DDR. 1993 zählte Pelger Gästebuch. nierten einst DDR-Chef Erich Honek- insgesamt 30 000 Marx-Pilger, außer Einige der vermißten Souvenirs gibt es ker und Chinas Parteichef Hua Guofeng den Ostdeutschen vor allem Chinesen noch, aber in Moskau. Bei einem Besuch ihre Blumengebinde. und Japaner; allein im August dieses in der russischen Hauptstadt entdeckte Die hohe Zeit der roten Staatsgäste Jahres waren es trotz der Hitzewelle fast Pelger, der derzeit an einer neuen Marx- ist freilich vorbei. „Die offiziellen Dele- 4000. Engels-Gesamtausgabe mitarbeitet, gationen“, sagt Gedenkstätten-Direktor Nicht nur Urlauber aus dem Osten, zahlreiche Marx-Reliquien im Keller des Hans Pelger, 56, „haben nach der Wen- ganze Schulklassen, Sportvereine und ehemaligen Kominterngebäudes. Greif- de stark abgenommen.“ Ein Vorstoß Seniorenzirkel wallfahren inzwischen trupps der Roten Armee hatten siein den der örtlichen Christdemokraten, die zum verordneten Idol von gestern, das Wirren des Kriegsendes requiriert. Bis Karl-Marx-Straße nebst Bus-Haltestelle im Marxismus/Leninismus-Unterricht heute verweigern die Russen die Heraus- auch noch umzubenennen, kam aber allgegenwärtig war und im Westen einst gabe. nicht durch. spöttisch „Charly Murx“ genannt wurde. Bei den Besuchern aus der ehemaligen Nach dem Ende des realen Sozialis- „Heute haben wir selbst Privateigen- DDR ist Honeckers Urahn noch immer mus schrumpfte zunächst die Zahl der tum an Produktionsmitteln“, gesteht ein umstrittener Mann. „Karl Marx“, namenlosen Besucher von jährlich Besucherin Marion Gruschke, 40, aus schrieb einer trotzig ins Trierer Gäste- 50 000 Hausgästen auf rund die Hälfte. dem sachsen-anhaltinischen Memleben. buch, „ist niemals gestorben.“ Daneben Inzwischen jedoch erlebt die Gedenk- Die Bauunternehmerin, 25 Angestellte, hat ein anderer Gast seine Antithese stätte neuen Andrang: Jetzt kommen je- ist von ihrem Urlaubsort in der Eifel knapp formuliert: „Ist er doch!“ Y

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Banken Etliche Anleger ließen sich von dem ver- meintlichen Superangebot ködern und schleppten bündelweise Bargeld in das Schwindel im Büro Frankfurter Büro der Bankerin. Die Sum- Ein peinliches Ermittlungsverfahren muß men wurden jeweils quittiert, später folg- derzeit die Zentrale der Dresdner Bank in ten Phantomauszüge, die in Einzelfällen Frankfurt über sich ergehen lassen. Eine gewaltige Geldvermehrungen auswiesen. Mitarbeiterin des zweitgrößten Kreditinsti- Der Schwindel flog auf, als einige Anleger tuts der Bundesrepublik (Werbeslogan: die angeblichen Riesengewinne abheben „Das grüne Band der Sympathie“) soll wollten. Obwohl die Bankangestellte zwi- Kunden um mehrere Millionen Mark be- schenzeitig in Untersuchungshaft saß und

trogen haben. Die Angestellte hatte Geld- ein Geständnis ablegte, zögert die K. STRAUBE anlegern versprochen, über die Luxembur- Dresdner Bank noch, den Geschädigten Minnier ger Niederlassung der Bank könne sie 30 ihr Geld zurückzuzahlen. Die Begründung: Prozent Rendite erwirtschaften, wenn die Es habe sich um „erkennbar unzulässige Peter Minnier strich seinen Kunden das Geld bar bei ihr einzahlten. Geschäfte“ gehandelt. Beamten die Dauererlaubnis für Dienstreisen. Jede Fahrt zu einem Informanten muß deutschland mit Stipendien künftig begründet und ge- von monatlich 1000 Mark nehmigt werden. fördern. Nach fünf Jahren sollen dann in ganz Deutsch- Kirche land 500 Studenten von Zu- schüssen profitieren. Finan- Zynisch und ziert werden sollen die Sti- pendien, wie auch bei ande- gedankenlos ren Förderwerken, überwie- Heftigen Widerspruch hat das gend vom Bonner Bildungs- offizielle Plakat zum Evange- ministerium. Die Pläne der lischen Kirchentag in Ham- Arbeitgeber, bisher geheim- burg im Juni nächsten Jahres gehalten, werden wohl auf ausgelöst. Als „zynisch“ und heftigen Protest von Gewerk- „gedankenlos“ haben Um- schaften und Sozialdemokra- weltverbände „angesichts der

ACTION PRESS ten stoßen: Das Bildungsmi- Diskussion über Ozonwerte Sortieranlage für Müll nisterium hat erst Anfang des und Tempolimit“ die auto- Jahres die Mittel für die be- freundliche, blaue Kirchen- Grüner Punkt ber gemeinnützig spenden stehenden Begabten-Stiftun- tagswerbung kritisiert und wollen, vor Gericht durch- gen gekürzt. grüne Alternativposter ent- Spenden kommen, drohen dem von worfen. Selbst die Polizei Anfang an mit finanziel- Verfassungsschutz sorgt sich, das blaue Plakat statt zahlen len Problemen kämpfenden könnte mit Verkehrszeichen Mehrere Firmen prozessie- DSD Einnahmeverluste von Schnüffeln verwechselt werden. Die Um- ren derzeit gegen das Duale rund zehn Millionen Mark. weltgruppen, die sich in einem System Deutschland (DSD), gegen Rechnung „Hamburger Arbeitskreis weil sie Lizenzgebühren für Begabtenförderung Mit ungewöhnlichen Maß- Verkehr“ auf das große Chri- den Grünen Punkt nicht be- nahmen wollen die Verfas- stentreffen vorbereiten, for- zahlen wollen. Begründung: Elite für die sungsschützer Niedersach- dern, das Problem Auto zum Das DSD habe Plastikver- sens ihre Kasse auffül- Kirchentagsthema zu ma- packungen mit Grünem Industrie len. Die Beamten verschik- chen. Wegen der Kontroverse Punkt nicht ordnungsgemäß Nach Gewerkschaften, Par- ken neuerdings Rechnungen, hält die Generalsekretärin des verwertet. Die DSD-Mana- teien und Kirchen will jetzt wenn sie Amtshilfe für ande- Kirchentags, Margot Käß- ger verlangen von über 50 auch die Industrie ein Begab- re Bundesländer leisten. Per- mann, nun einen Christen- Handelsunternehmen ausste- tenförderwerk gründen. Der sonen etwa würden von ih- abend über „Auto und Ver- hende Gebühren für das Jahr Arbeitgeberverband baut ei- nen nur noch überprüft, so kehr“ für „sehr wahrschein- 1992. Damals sollte die DSD- ne neue „Stiftung der deut- teilten die Niedersachsen ih- lich“. Partnerfirma Verwertungsge- schen Wirtschaft für Qualifi- ren Kollegen mit, sellschaft gebrauchte Kunst- zierung und Kooperation“ wenn der Auftragge- stoffverpackungen (VGK) auf, die schon im Sommerse- ber für die Fahrtko- den Plastikmüll verarbeiten. mester 1995, so das Pro- sten aufkommt. Bis- Die Firma wurde 1993 aufge- gramm, „unternehmerisch her war es üblich, daß löst; VGK-Müll war auf ille- denkende und handelnde sich die Verfassungs- galen Deponien in Frank- Menschen“ unterstützen soll. schützer gegenseitig reich entdeckt worden, die An der Stiftung beteiligt sind halfen, ohne dafür et- Staatsanwaltschaft ermittelt auch der Deutsche Industrie- was zu berechnen. wegen des Verdachts auf Un- und Handelstag und der Bun- Weitere Sparmaßnah- treue und Betrug. Sollten die desverband der Deutschen me: Der niedersäch-

Händler, von denen einige Industrie. Sie wird zunächst sische Verfassungs- FOTOS: A. BRÜGGMANN; H. LANGE die Rechnungs-Summen lie- 80 Fachhochschüler in Ost- schutzpräsident Rolf Kirchentagsplakat, Alternativposter

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PDS Sieg der Bananenfresser SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über die rote Renaissance im deutschen Osten

itlotrechterhobenemDamenschirmstehtFrauThymian im Nordwind unterm Schinkelschen Leuchtturm. Kopf- Mputz sturmfest gesprayt, Körpersprache entschieden al- legro. Ohne ein Zeichen von Ungeduld beobachtet sie, wie ihre Schutzbefohlenen morgenklamm aus der blau-weißen Erlebnis- bahn klettern. „Für den Leuchtturm ist die Zeit büschen knapp“, entscheidet die Reiseführerin: „Auf zu den slawischen Burgwällen.“ Es nieselt am Kreidefelsen von Kap Arkona auf Rügen. Vom nördlichsten Punkt der alten DDR aus tasten sich die Besucher,

dem Zungenschlag nach Kinder des westfälischen Kohlebek- OSTKREUZ kens, hinein ins größer gewordene Deutschland. Vereinzelt wird ein toter Baum bemängelt, mehrheitlich der sanfte Küstenschwung gerühmt. Auch der sozialistische Vorzei- gefelsen besteht vor den Augen der Weitgereisten. Abwärts

schreitet Frau Thymians Truppe ins „idyllische Fischerdorf“ FOTOS: S. BERGEMANN / Vitt, wo die schrotigen Genossenschaftsfischer von einst nun Urlauber am Kap Arkona auf Rügen: Stück erfreulichen Ostens vor ehrwürdigen Kähnen posieren und der Weg zu den Anden- kenständen fußzahm verläuft. Einfluß jener „linksgerichteten terroristischen Vereinigung“ Die Busfahrt vom Kap in Richtung Insel-Inneres bietet ein hin, die ein Bonner CDU-Mann im Osten des Vaterlands ent- Stück erfreulichen Ostens. Weizenfelder links und rechts der tarnt hat. Und doch zählt sich die relative Mehrheit der Insel- Allee, sauber abgeerntet. Das Geäst der knorrigen Linden und bewohner zu ihren Anhängern. Ulmen korrekt 4,50 Meter hoch ausgeschachtet, wie es die neue Bei den Kommunalwahlen im Juni haben Bauern, Kutterfi- Bundesnorm verlangt. Menschen am Wegrand, die sich mühen, scher und Schnellbootkommandeure auf Rügen Farbe be- offensiv gekleideten Urlaubern Waren und Dienstleistungen zu kannt – für die Partei des Demokratischen Sozialismus. Die verkaufen: Kremserfahrten, Fischbrötchen, Sonnenöl. PDS lag im Ziel vor sämtlichen „Volksparteien“. „Rotlackier- Nichts in den Dörfern des knospenden Erlebnisparks scheint te Faschisten“, sprach zornig der Kanzler aller Deutschen. friedlichen Cash-flow zu behindern. Nichts deutet aufstörenden Das Volk hatte versagt, nicht die Parteien. Am Ende der Nehrung das Kü- stendorf Glowe. 31,2 Prozent PDS bei den letzten Wahlen, Platz eins. Eilige Rügen-Reisen- de nehmen nur eine lästige Tem- po-50-Zone zwischen dem Krei- defelsen am Kap und jenen an der Stubbenkammer wahr. Ein paar Marinehäuser aus der Zeit, als Hitler den Durchstich vom Meer zum Bodden versuchen ließ. Im Kiefernwald KZ-ähnliche Sied- lungen aus den fünfziger Jahren, als die Führer der Partei, die im- mer recht hatte, politische Häft- linge zum selben Zweck kaser- nierten. Noch vor fünf Jahren war Glo- we eine berstende Baracke des so- zialistischen Badebetriebs. Wer keinen Platz in den Camps für Werktätige abbekommen hatte, klemmte sich einen Sack Kartof- feln unter den Beifahrersitz und steuerte den Zeltplatz an. Glowe schmuck zu nennen wä- re schamlos. Bei Nordwind beben die Nasen der Sonnenbadenden, die nichts vom Seeauslauf der Kläranlage ahnen. Auch übelrie- Glower PDS-Politiker Westphal: Kurzzeitig von den Leuten geschnitten chender Algenschlick will durch-

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Werbeseite schwommen werden auf tes erstand ein Haus dem Weg hinaus aufs im Zentrum, sein aus- offene Meer. Die Mole führendes Organ, der aus Findlingen zerfällt. CDU-Landrat Klaus Die Schweineställe am Eckfeldt, nahm darin Sandstrand sind abge- vorübergehend Quar- rissen. tier. Das Dorf muß sich Getreu Günter Mit- noch feinmachen für tags Motto aus Politbü- den gediegenen Gast, rozeiten – „Wollt ihr und nicht wenige westli- blauen Himmel oder che Investoren sind wil- was zu fressen?“ – wur- lens, das dafür nötige den Sahnestücke west- Geld im Dünensand zu wärts verschleudert. verbauen. Der Antrag Das Kartell der kurzen auf Anerkennung als Wege arbeitete rei- Seeheilbad lief, und ei- bungslos. ne Mutter-und-Kind- Wende-Reichtum in Binz: Kalkulationen bei Kaffee komplett Der damalige Bürger- Klinik wurde gerade meister von Glowe: mit dem Segen der Lan- CDU. Seine Frau, Frak- desregierung in den Kü- tionsvize im Schwe- stenschutzstreifen beto- riner Landtag, dito. niert, als die Sozialisten Der Landrat und sein im Dorf an die Macht Stellvertreter, berühmt kamen. für ihre Grußadresse Auf einer Datsche zum Jubiläum der Natio- beim verfallenden Zen- nalen Volksarmee drei tralen Pionierlager Jahre vor der Wende: spricht Helmut West- CDU. Die Landesregie- phal von Honeckers rung, die Bundestagsab- „Greisenregime, das geordnete Merkel, der unseren Staat verspielt Kanzler . . . hat“. Mit Rudi, der Die Kreisstadt Ber- noch Thälmann kannte, gen ist der Ort, wo das und zwei anderen ist leckere Stück deutscher der frühere Schuldirek- Insellandschaft filetiert tor der letzte im Dorf, wird. In den plastikbe- der bei der roten Fahne stuhlten Gasthausgärten blieb. 130 Genossen Ehemaliges Pionierlager in Glowe: Brotneid hungriger Brüder sitzen Herren mit pa- waren sie einst. stellfarbenen Hemden Westphal hat drei Staaten als Gemeinderat auf Rügen ge- über Kalkulationen bei Kaffee komplett. Draußen, in den stil- dient: dem sowjetisch besetzten Teil des Deutschen Reichs ab len Dörfern mit den Storchennestern, warten die Menschen auf Oktober ’46, der DDR von der Gründung bis zur Selbstauflö- Zeichen des Aufschwungs. Wer nicht am Stromkreis hängt, hat sung und seit vier Jahren der Bundesrepublik. Er ist jetzt 65 Pech gehabt. und Chef der PDS-Fraktion. Geschaltet wird am Markt 10 in Bergen. Hier sitzt Willi Plat- Den Kindern hat er in zwei Räumen des Backsteinhauses, tes, der Inselpate aus dem Rheinland. Auf Rügen, wojetzt jeder das er bewohnt, Deutsch und Geschichte beigebracht. Jetzt dritte ohne Job, im Vorruhestand oder Arbeitsbeschaffungs- schreibt er die Chronik des Dorfs und schüttelt die Hände der maßnehmer ist, zählt der Steuerberater zu den größten Arbeit- Leute. Er müsse nichts von dem bereuen, was er getan habe, gebern. In seinem Imperium dürfen als Strohmänner, Gastro- sagt Westphal. nomen und Subalterne auch einzelne Insulaner kassieren. Er kennt sie alle, alte Genossen und neue Demokraten. Sie Plattes hat alles unter seinem Dach, was er braucht. Den we- waren seine Schüler, Kollegen, Partner in der Nationalen gen Stasi-Vergangenheit entlassenen CDU-Landrat, der als Front oder an der Gewerkschaftsspitze. Barrikadenkämpfer Blockflöte die nötigen Verbindungen mitbringt und jetzt Häu- für einen besseren Staat waren sie nicht. ser projektiert. Auch Anwälte, ein Notar, das Grundbuchamt Folgerichtig hätte die Wende 1989 beinahe ohne das kleine und die Redaktion der von Plattes finanzierten Postille Rüganer Dorf am Meer stattgefunden. Ein einziges Plakat ist verbürgt: sind Mieter imHaus am Markt 10.Auf engstem Raum haben die „Schläft Glowe?“ Kurzzeitig wurde Westphal geschnitten, Insel-Oligarchen wahr gemacht, wovor die marxistischen Schul- wohl weil die Leute dachten, Nähe zum obersten Irrlehrer ver- lehrer ihre Kinder immer gewarnt hatten. gangener Tage könnte an den Futtertrögen des vereinten „Viele sind nachdenklich geworden“, sagt der wackere West- Deutschland Punkte kosten. phal in Glowe. „Die hatten beim erstenmal alle CDU gewählt.“ Dann kam der Fürst, Nachfahre derer zu Putbus, denen Wenn sie jetzt den bräsig-satten Kanzler zwischen halbnackten einst ein Sechstel der Insel gehörte. Er sprach freundlich zu Leibern im Seebad Binz sehen, messen sie seine früheren Worte den frisch vom Sozialismus Befreiten. Als er in den Kreisvor- an seinen jetzigen Freunden. stand der CDU gewählt worden war, ließ er wissen, er vermis- In Glowe gibt es eine Handvoll Gewinner und deutlich mehr se 145 Millionen Quadratmeter Rügener Bodens aus Familien- Verlierer. Westphal kennt sie und spricht mit ihnen. Die letzten besitz. sieben Fischer, an deren Imbiß „Zum Bückling“ er Platt Unter dem weiten Mantel der Nächstenliebe, den die christ- schnackt und die keinen Kaufvertrag für das Land kriegen, auf demokratische Kanzlerpartei und ihr Statthalter im Dorf über dem ihre Holzschuppen stehen. die verunsicherten Bürger breiteten, galoppierten weitere Oder Suppen-Peter, der stille Goldschmied aus Thüringen, Glücksritter nach Glowe. Der Kölner Steuerberater Willi Plat- der am Strand bis spät nachts Bier und was für den kleinen Hun-

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Werbeseite DEUTSCHLAND ger bereithält. Soll weg, so hatte es der CDU-Bürgermeister geplant, „verschwinden, der ganze Mist da, diese Rummelfritzen“. Glowe soll ein feines Seebad wer- den. Die Zahl derer, die den Müttern und Kindern aus der Reha-Klinik und den Vatis in den geplanten Fit- neß-Herbergen Ostseeschollen oder Surfbretter andienen wollen, ist be- trächtlich. Nicht zuletzt unter den PDS-Leuten, die jetzt die Bürgermei- sterin stellen. Auch sie sind für Jachthafen und Boutiquen an der Strandpromenade. Nur daß sie die noch nicht gebackene Wohlstandstorte ans eigene Volk verfüttern wollen, während die Ver- treter der anderen Parteien aufs Westkapital setzen. Da winken im Gegenzug Geschäftsführerposten, ein neues Haus oder die Leitung des Scheuerlappengeschwaders in der Kunden vor Kaufland-Markt in Berlin-Hellersdorf: Reviere im märkischen Sand Reha-Klinik. Und so entpuppt sich der von Bonn zur vaterländischen Jahre jung, gut ausgebildet, hohes Einkommen, zuletzt 42,1 Pflicht stilisierte Kampf zwischen aufrechten Demokraten und Prozent PDS. Kein Verliererbezirk. Tiefe Schluchten aus ewiggestrigen Sozialistensocken häufig als blanker Brotneid Sechs-Geschossern, die in der DDR „Fünf-Plus-Eins“ hie- zwischen hungrigen Brüdern. Daß die beim Monopoly Ausge- ßen, weil erst ab sechs Etagen Aufzug Pflicht war. Zwischen schiedenen auf die PDS setzen, ist der Basisarbeit der Partei und den Wohnblocks haben die Speerspitzen der kapitalistischen ihrem Marketing zuzuschreiben. Landungstruppen ihre Reviere im märkischen Sand abge- „Helfen Sie dem Verfassungsschutz“, heißt es da auf Flug- steckt. AldiSchleckerRenoschuhe. blättern, „beobachten Siedie PDS –wiesiefür eine gerechte Be- In den alten Dienstleistungswürfeln nisten neuerdings handlung der Menschen in den neuen Bundesländern eintritt.“ Fernweh-Dealer und Videohändler. Ansonsten rostbraune Von „der brachialen Art, wiedie ostdeutsche Landschaft nie- Platte bis zum Horizont. Vor dem Kaufland-Markt stehen dergewalzt wurde“, spricht Westphal beim Abschied am Gar- Direktverwerter im besten Alter mit Büchsenbier in der Mit- tenzaun, und daß er Gysi versprochen habe, alsder inGlowe auf tagssonne. Die Straßen heißen nicht mehr nach Antifaschi- einen Brat-Aal vorbeischaute, alles zum Wohl der Bürger zu sten und Politbüro-Mitgliedern. Die Schkeuditzer aber heißt tun. noch wie früher. Das klingt gut und ging schon einmal schief. Die Leute trauen Eckhaus, dritter Stock rechts wohnt Harald Jäger. Im Tür- Westphal trotzdem. Die DDR wollen sie nicht wiederhaben. rahmen ein massiger Mann, mäßig sächselnd, mit lustigen Nur einen Teil dessen behalten, was nicht einmal die DDR ganz Augen, der in die grüne Couchgarnitur bittet. Keine Galle kaputtgekriegt hat: ihren Strand, ihre im Gesicht, nichts vom aschgrauen Häuser, ihren Stolz. Zuchtmeister, der Transitreisende unter Peitschenlampen quält. Ein m Rand von Berlin reißen Vierteljahrhundert Stasi, abgelegt Schaufelbagger Furchen in eine wie das Uniformhemd und die acht- Azu beiden Seiten besiedelte schüssige Makarow Kaliber 9? Staubpiste. Irgendwo hinter den ab- Er sei Menschenfreund, sagt Jä- weisenden Fassaden muß die neue ger, immer gewesen. Wollte im Heimat des Mannes sein, der vorn Dienst sich in West-Menschen rein- stand, als alles anfing, Grenzüber- denken. Weltoffener seien sie ihm gang Bornholmer. Zehntausende vor vorgekommen, andere Bücher hat- der Schranke, die „Tor auf, Tor auf“ ten die gelesen. Er sollte die Frem- riefen und „Wir kommen wieder“. den abschöpfen. Wenn einer Honek- Der handeln mußte, als seine Vorge- ker ein „dummes Schwein“ nannte, setzten zum Abwarten rieten. die Gründe ermitteln. „Wollen wir Der schließlich am 9. November uns nix vormachen“, sagt er, „das 1989 kurz nach 22 Uhr den Befehl waren feindliche Lager.“ gab, das Tor nach Westen zu öffnen, Daß er auf der richtigen Seite gegen den Willen von Stasi-Generä- war, stand außer Frage. 1943 gebo- len und ZK-Mitgliedern und vielen, ren, mit 17 zu den Grenztruppen. die es nachher gern gewesen wären, Harte Schulung, bescheidenes wie Generalsekretär Krenz. Glück. Stolz auf den eigenen Staat, Termin mit dem Letztverantwortli- der die Fahne des Antifaschismus chen für den Fall der Mauer, Oberst- vorantrug. Blutjung heiratet Jäger leutnant a. D. bei der Hauptabtei- ein Mädel von der Patenbrigade lung VI im Ministerium für Staatssi- VEB Berliner Damenmoden und cherheit, Harald Jäger, 51. darf in der Hauptstadt der DDR Berlin, Stadtteil Hellersdorf. Mauer-Öffner Jäger bleiben. Liegt nachts auf Patrouille 135 000 Einwohner, im Schnitt 28 „Das waren feindliche Lager“ in den Ministergärten hinterm

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Reichstag, kann den Westen sehen, hören, schmecken. Ans „Nett anzuschauen, diese Verbrüderungen“, sagt Jäger: „Und Türmen kein Gedanke. dann siehst du, wie die jetzt mit der PDS umgehen.“ Drei Jahre nach dem Mauerbau braucht Mielkes Firma Män- „Die PDS ist nicht mehr die SED“, sagt er, und, trotz aller ner für die Paßkontrolle im Straßenbahnwagen am Übergang Kränkungen, seine Partei: „Ich wüßte nicht, was ich sonst Bornholmer Straße. Jäger sagt ja. 26 Jahre wird er dort blei- wählen sollte.“ ben. Zweimal, sagt Jäger, sei er drüben im Zoo gewesen, einmal Wie so viele hat er sich geborgen gefühlt, für alles war ge- in Oberammergau. Seit mehr als einem Jahr hat er das alte sorgt. Ausnahme, sagt Jäger: „Wollten viele die Welt sehen, Staatsgebiet der DDR nicht mehr verlassen. ham statt dessen ’ne Datsche gekriegt.“ Wenn er demnächst sein Kreuz macht, im Wahlkreis 261 Am 9. November 1989 fühlt er sich erstmals im Stich gelas- Hellersdorf-Marzahn, wo Gregor Gysi antritt, wird er sich sen. Vor seinem Schlagbaum steht das Volk und will auf den nicht wirklich für eine Partei entscheiden. Eher für ein Stück Ku’damm. Die Stasi-Oberen haben sich im Lagezentrum seines eigenen Lebens. Schnellerstraße verschanzt. Ein letzter Auftritt im alten Ge- Und das Gros der Frührentner und Umschüler von Zoll, wand: „Wir machten die Mitteilung den Bürgern, daß wir offi- Armee, Grenztruppen und Staatssicherheit, Familienmitglie- ziell keine Mitteilung erhalten hatten.“ der inklusive, ein PDS-Potential von fast zwei Millionen Men- Es nützt nichts mehr. Als die Menschen näherrücken und schen, wird es nicht anders halten. Anstalten machen, sich ihre Freiheit selbst zu nehmen, setzt Tief nistet der Groll in den Drei-Raum-Wohnungen von sich der gelernte DDR-Bürger Jäger über Befehle hinweg: „Ich Hellersdorf, Lichtenberg, Marzahn und Hohenschönhausen, habe von mir aus festgelegt, die Kontrollen einzustellen und wo unter den immergleichen Schrankwänden mit Samowar die DDR-Bürger durchzulassen.“ und Kupfernippes aus den sozialistischen Bruderländern die „Das war’s“, sagt sein Kollege Edwin Görlitz noch, während Säulen des besiegten Staates versuchen, aufrecht zu bleiben. Hauptmann Helmut Stöß tapfer den Schlagbaum festhält, da- Lebhaft wird dort der Sieg der Bananenfresser beklagt und mit der Kollaps seines Staates geordnet vonstatten gehe. daß der neue deutsche Staat sich entschlossen habe, die „so- ziale Erfahrung“ von Hunderttausenden einfach wegzuwischen. Daß Akademiker sich in Pommes-Buden und als Brock- hausverkäufer verdingen müssen, weil ihr Geheimdienst den Krieg der Systeme ver- loren habe. Ihr Geheimdienst, den selbst Neider zur Weltspitze rechneten. Daß sie sich mit verminderter Rente abstrafen las- sen sollen, nur weil sie dem Staat, der sie großzog, als Stützpfeiler dienten. Mit linksrheinischer Morallehre ist das Erdbeben, das die Männer und Frauen in den Ost-Berliner Plattenbausiedlungen erfaßt hat, nicht zu messen. Und wenn schon, so sagen die Verlierer, die ihre ei- genen Geschichtsbücher gelesen haben, dann müßte die Sprache anstandshalber auch auf Lischka und Krichbaum kom- men, SS-Chargen, die mit blutigen Hän- den in den Geheimdiensten der Bonner Republik willkommen waren und im Al- ter Versorgung vom Staat genossen. Nicht selten bricht im Vergleich mit dem Klassenfeind der ganze trotzige Stolz auf Errungenes heraus, brüchiger Dün- kel, der aus Unsicherheit ins hysterisch Plattenbauten in Berlin-Hellersdorf: Säulen des besiegten Staates Verherrlichende klappt. Ein aus Abschot- tung geborener Fundamentalismus kenn- Jäger hat umlernen müssen. Vorbei an seiner alten Sozial- zeichnet diesen unzynischen Volksschlag, dem der amerikani- baracke zu den Telefonzellen im Wedding, um Stellenanzei- sierte Westbürger suspekt und liederlich erscheint. gen abzurufen. Auf Staplerfahrer hat er umgeschult, doch „Ich habe nichts gegen Westdeutsche“, sagt der Strippenzie- keiner wollte ihn. Taxifahrer ging nicht, weil er sich die ge- her der alten Kameraden, der in Hellersdorf wohnt und eine forderten tausend Straßennamen im Westen nicht merken große Nummer war, „solange sie sich nicht benehmen wie ’ne konnte. Als Speiseeisverkäufer erhielt er den Zuschlag. Lore nackter Affen.“ Was bleibe ihm noch, sagt ein anderer, Nach 20 Monaten Arbeitslosigkeit mit dem Lieferwagen der früher ausgewertet hat, was an Erkenntnissen über den für Family Frost in die Wohngebiete und bimmeln. „Unter Klassenfeind verfügbar war, und der jetzt auf Podien seine meiner Gürtellinie“, sagt Jäger, er habe sich geschämt. Aber Vergangenheit verteidigt: „Ein kleines bißchen Stacheldraht ohne Arbeit sei der Mensch kein Mensch. Neuerdings ver- sein im neuen Deutschland.“ kauft er Zeitungen im Wohngebiet. Er habe seinen Platz im Leben gefunden, sagt er, nicht in der gesamtdeutschen Ge- uch auf halbem Weg zwischen Buchenwald und Belvede- sellschaft. re, im Weimarer Rathaus, wo der deutsche Geist verwal- Was vernünftige Politik sei, werde von der CDU als kom- Atet wird, tragen sich neuerdings Geschichten zu, die im munistisch denunziert. Und über die SPD, also da kann er Stufenplan „Landschaftsblüte Ost“ nicht vorgesehen waren. aus Erfahrung sprechen, er hat sie gesehen, die Genossen, Ein Oberbürgermeister aus dem Hessischen, mit minderen allen voran, wie sie ankamen Bornholmer Bonner Weihen versehen und nach eigenen Angaben „ohne Straße. Großer Bahnhof von Stasi-General Fiedler angeord- Rückfahrticket“ angereist, hat nach nur vier Jahren Amtszeit net, Umarmung und rein in die bereitstehenden ZK-Volvos: nachlösen müssen.

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Zwölf-Jahres-Vertrag aus Hannover an die Spitze der Stiftung Weimarer Klassik geholt worden ist. Ein kluger, feinglied- riger Mensch, der weltläufig den Luisen- flügel des herzoglichen Schlosses durch- streift. Die Nächte verbringt er zwischen Gründerzeit-Mauern in Nietzsches Ster- bezimmer. Tagsüber, hinterm verglasten Schädel des Massenmörders Fritz Haar- mann, sinnt er über Kunst im postsoziali- stischen Weimar nach. Er weiß, einen wie ihn holt man nicht in den Bratwurst- dunst, damit die Masse bedient werde. „Es tümelt genug hier“, sagt er. Kauffmann will das kulturelle Erbe der Stadt beleben: „Mausoleum allein“, sagt er, „reicht nicht.“ Er spürt aber auch die Gefahr, daß das Binnenklima durch ein Übermaß an intellektueller Sauer- stoffzufuhr kippen könnte. Die Schlappe des hessischen CDU- Altstadt in Weimar: „Hier klingelt nichts“ Manns war ein Warnschuß aus den Plat- tenbauten. Im Zwiespalt des Provinzpro- Auf den Stuhl im altdeutschen Rathaus ist sein Vorgänger pheten weiß Kauffmann sich eins mit dem alten Geheimrat, der zurückgekehrt, der Ex-SED-Mann Volkhardt Germer, inzwi- sprach: „Sie lassen mich alle grüßen und hassen mich bis zum schen parteilos, OB schon in der Wendezeit und zuvor etliche Tod.“ Jahre lang als Nummer zwei hinter dem CDU-Ratschef der ei- Kulturhauptstadt Europas 1999 wird Weimar sein, und des- gentliche Oberaufseher über das Schmuckkästchen des DDR- halb führt kein Weg zurück in den Sumpf der sozialistischen Tourismus. Kleinkunst, zu „Schwanensee“ klassisch und zum „Sommer- Schande dem Erbe von Goethe und Schiller, Herder und nachtstraum“. Fein ausgedacht, Rampenlicht der Welt zum Liszt, zuzüglich demjenigen des verdüsterten Nietzsche, haben Jahrestag von Goethes Geburt, deutscher Geist und Aufbau viele gedacht, die es gut mit Weimar meinen. Was war gesche- Ost in seliger Symbiose. hen? Seither dient das anstehende Jubeljahr zur Rechtfertigung Hatte nicht der importierte Landesvater Bernhard Vogel kulturpolitischer Großmannssucht. Sechs Millionen Besucher noch Tage vor der Wahl kundgetan, unvorstellbar, wenn aus- würden erwartet, sagt der neue alte Bürgermeister, eine Vier- gerechnet Germer . . .? Jetzt, wo wieder Geschichtshelden, telmilliarde Mark an Investitionen sei nötig. Das Haushaltsloch Geistesgrößen und Gekrönte, Gorbi, Eco, Hirohito, füße- für dieses Jahr beträgt 44 Millionen. Weimar ist pro Kopf ge- scharrend ante portas drängeln. Hatte nicht der amtierende rechnet die höchstverschuldete Stadt im Osten Deutschlands. CDU-Ratsherr unter dem Eindruck einer avantgardistischen Jede fünfte Mark geht in die Kultur. Nietzsche-Installation im Reitstall seiner Hoffnung Ausdruck In der stillen Gläserstraße abseits des Klassikbetriebs sitzt die verliehen, daß nicht gerade jetzt die Kräfte des Gestrigen . . .? Primaballerina des Weimarer Ballett-Ensembles, Kunstpreis- Hatte nicht sollen sein. trägerin und Altlast des sozialistischen Kulturbetriebs, Andrea Beim Festakt zum Jubiläum der Weimarer Verfassung vor- Römer. Eine schmale Frau von 34 Jahren, etwas verhuscht, bis vergangene Woche, wie zuvor beim Empfang des Studenten- zu ihrer Demontage Gegenstand begrenzten Starkults. Blumen schlächters Li Peng, übte sich die schwarze Elite bereits tapfer nach der Vorstellung, Autogramme im Theaterkasino. im neuen Gesellschaftsspiel: Der rote Schmuddelbruder Ger- Sie hatte einen DDR-typischen Weg als Tänzerin hinter sich, mer wird kalt lächelnd übergangen wie ein ungebetener Gast. Ausbildung in Leipzig, ab nach Weimar an die führende Thürin- Stempel-Rabe, einer der ersten, die ’89 aufgestanden sind, und einer der letzten, wie er sagt, die in dieser Stadt etwas an- deres als Kunst produzieren, Stempel nämlich, Stempel-Rabe also weiß, warum es so gekommen ist. Stempel-Rabe hat Peter Steins „Orestie“ auf dem Kunstfest gesehen, sieben Stunden bei 40 Grad Hitze, „gewaltig“, sagt er, „wir waren doch hier alle verblödet“. Ein paar hunderttau- send Mark hat das gekostet, gut, aber muß gleichzeitig das ge- samte Weimarer Ballett entlassen werden? „Was sollen die nun machen?“ fragt Stempel-Rabe: „Um auf den Strich zu ge- hen, sind sie zu dünn.“ Von ihm aus könne Weimar von „Pygmäenfrauen regiert werden und Albinos“, aber ordentliche Arbeit müsse endlich geleistet werden, sagt der grüne Ratsherr. Es gehe nicht an, die gesamte sanierte Marktnordseite an die westdeutsche Ve- ba zu verscheuern, über die Köpfe der Einheimischen hinweg: „Da klingeln die Kassen in Bochum, und es seufzt der Regen- wald in Kuala Lumpur“, sagt Stempel-Rabe, „nur hier klingelt nichts.“ Weltgeist und Mief im Gewirr der altdeutschen Gassen, nichts Neues, kein Nach-Wende-Symptom. Natürlich sei die Stadt „kulturell hecklastig“, sagt Bernd Kauffmann, der mit Stiftungs-Chef Kauffmann: „Mausoleum allein reicht nicht“

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Werbeseite DEUTSCHLAND ger Bühne, Frontrollen in der Nuß- ren in Weimar zu Ende gehen wür- knackersuite und als Madame Bova- de. ry vor vollen Sälen, als eines Tages Vier Männer traten an. „Sie haben im vorigen Jahr ein Herr aus Mün- sich sehr Mühe gegeben“, sagt Schlö- chen auf sie zukam und sich als künf- mer, „aber das paßte nicht. Die su- tiger Intendant der Weimarer Büh- chen einen Job, mehr nicht.“ nen zu erkennen gab: Günther Bee- Er hingegen sucht eine „leere Flä- litz, in der Branche als blasser Stern che, auf der man aufbauen kann“, und Chef des Münchner Residenz- und da ist Weimar ideal, kulturtopo- theaters bekannt. graphisch gesehen, weil „da noch kei- Wie lange sie ihren Beruf schon ner hingeschissen hat“. ausübe, habe der Mann aus dem We- Schlömer mag die Stadt und die sten wissen wollen. „16 Jahre“, hat Leute. Geist und Energien, die in der Andrea Römer geantwortet. „Was?“ Erde stecken, auch aus Zeiten, als habe Beelitz erwidert, „16 Jahre hüp- da, wo jetzt das Schwimmbad steht, fen Sie schon von einem Bein aufs eine Kultstätte der Germanen war: andere? Was können Sie denn?“ – „Immer wenn ich an dem schimmli- „Ich kann tanzen“, sprach Andrea gen Ding vorbeifahre“, sagt Schlö- Römer: „Über anderes nachzuden- mer, „denke ich dran, daß da irgend- ken hatte ich noch keine Zeit.“ Das wann mal die Chefs mit den Kerzen werde sich vermutlich ändern, gab standen.“ der Neue zu verstehen und erwähnte In der Lobby des Hotels Elephant etwas von Dienstbotengängen. steht in Regenmantel und Cape Hel- In Beelitz’ Gefolge reiste Joachim mut Newton und sagt, Weimar sei Schlömer, Choreograph, Tänzer und wunderbar, „l’Allemagne profonde“, im Gegensatz zum Schauspiel-Leiter man müsse ja nicht unbedingt hier le- ein Mann mit Zukunft. Schlömer gilt ben. Er spricht von Pflaumenkuchen als Lichtgestalt modernen Tanzthea- mit Streuseln und fragt nach den Plä- ters und Vertreter der avantgardisti- Primaballerina Römer nen für diesen Abend. „Abgelöste schen Essener Schule. Er ist der neue Altlast des Kulturbetriebs Ballerina?“ – „Faszinierend, phanta- Ballettchef in Weimar. stisch.“ Ein lockerer Lederjacken-Mann mit starken Augen, einer, Die Ballerina hat Schnittchen gemacht und aus dem Regal der aussieht, als wisse er, wo er hin will und mit wem. Er ist mit den Videos zwischen Nurejew und Neumeier ein histori- zum erstenmal im deutschen Osten, und noch staunt er aus- sches Dokument gezogen. Gruselige Qualität, Bilder wie bei dauernd. „Weißt du, was für die hier das Höchste ist“, fragt Ceaus¸escus Hinrichtung. Aufnahmen von der Abschiedsvor- er, die Gabel im Tagesgericht des Cafe´s „Goethe trifft Ni- stellung des Ensembles. Letzter Vorhang, Sektbegräbnis. na“: „Be´jart.“ Pause. „B-E-J-A-R-T.“ Steinzeit-Tanz. Zeit- Bis zuletzt, sagt sie, habe sie gehofft, daß die Moderne vor maschine verpaßt. Weimar als der Stätte des Klassischen haltmachen würde. Bis Andererseits verständlich, fügt er hinzu: „Die haben klas- zuletzt haben sie gekämpft, den Bolero vor dem Theater gege- sisch gemacht bisher, und das nicht gut.“ ben und in „Le sacre du printemps“ barfuß getanzt, klassisch Schlömer hat vortanzen lassen, das alte Ensemble, es könne man das beim besten Willen nicht mehr nennen. Es hat konnte nicht gutgehen. nichts genutzt. Die Tänzerinnen weigerten sich, nachdem sie ein Ar- Andrea Römer will am Theater weitermachen, die neuen beitsvideo des Neuen gesehen und begriffen hatten, daß Tänzer oder Schauspieler schminken, wer weiß. Wird sich es mit der Ära klassischer Schrittfolgen und Hebefigu- auch den Schlömer anschauen, sagt sie, nichts gegen den. Schuld seien jene, die „das einge- rührt haben“. Wer, ja wer? Sie weiß es nicht. Hat immer nur geprobt und getanzt, bis plötzlich Schluß war und einer die Musik abstellte. Wenn in Weimar die neue Zeit- rechnung anbricht und die Schein- werfer auf Schlömer und seine Trup- pe aus Ulm schwenken, wird es „Goldberg-Variationen“ geben. 25 Bienenkörbe und etwas Schalbeton wünscht der Meister als Kulisse, Organisches gegen Synthetisches, fruchtbarer Wesenskonflikt der Mo- derne. „Ich heb’ das Ganze aus“, sagt Schlömer und meint die Weimarer Ballettgeschichte, „schütt’ neue Er- de rein und hoffe, daß was Schö- nes draus wächst. Mit weniger Un- kraut.“ Y

* Goethe-und-Schiller-Denkmal vor dem Na- Klassisches Erbe in Weimar*: „Leere Fläche, auf der man aufbauen kann“ tionaltheater.

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Strafjustiz „Weder Haß noch Abscheu“ Gisela Friedrichsen über die Frau, die den Fußballspieler Oliver Möller niederstach

ormalerweise sagt niemand „Frau Raus“ zu ihr, wenn er sie an- Nspricht. Ist von ihr die Rede oder wird, wie so oft, über ihren Kopf hinweg über sie geredet, heißt es allenfalls „die Ilona“. Meist aber hat sie gar keinen Namen, sie ist bloß „die“. Die kann das doch nicht. Die versteht das nicht. Sie ist nicht „sie“, sondern „die“. Ilona Raus wurde kurz vor der Schei- dung ihrer Eltern vor 29 Jahren in Stutt- gart geboren. Die Mutter lebte bei der Geburt bereits allein, eine ältere Toch- ter hatte der Vater mitgenommen. Die ohnehin schwierige Lebenssitua- tion wurde bald weiter verdüstert, als sich herausstellte, daß mit dem Neuge- borenen etwas nicht stimmte. Es hörte so gut wie nichts. Knapp vier Jahre später, als die Mut- ter sich anschickte, wieder zu heiraten, lebte das Mädchen die Woche über in einem Gehörlosen-Kindergarten in Heilbronn. Nur am Wochenende und während der Schulferien kam es nach Hause. Probleme, sagt die Mutter als Zeugin vor Gericht, habe es nicht gege- ben. Heimweh habe das kleine Kind nicht gehabt: „Ich hab’ sie ja jede Wo- che geholt.“ Auf den Kindergarten folgte die Ge- hörlosen-Schule, die Ilona Raus bis zum 18. Lebensjahr besuchte. „Hat sie Lesen und Schreiben gelernt?“ fragt der Rich- ter. Ja, meint die Mutter. „Kann sie ei- nen Brief schreiben?“ Nein, das kann

sie nicht. HOLZNER / ZEITENSPIEGEL Ilona Raus kann weder ganze Sätze Beschuldigte Raus, Dolmetscherin, Anwalt Bächle: Ein Kind von 29 Jahren lesen noch bilden. Sie kann nur Stich- worte – keine Verben, keine Adjektive se. Die Eltern beherrschen die Gebär- – aufschreiben. Und die mag der Leser Entsetzen densprache überhaupt nicht. dann kombinieren und komplettieren, Zu Hause ging es irgendwie, reduziert und was er sich schließlich daraus zu- löste die Tat der gehörlosen Ilona auf das Nötigste. Die Eltern behandel- sammenreimt, bleibt ihm überlassen. Raus aus, die am 12. Januar ten das Mädchen einfach wie ein norma- Denn wenn Ilona Raus ein fortlaufender während eines Hallenfußball-Tur- les Kind. Sie gingen nicht selbstver- Text gezeigt wird, wenn sie sagen oder niers in Stuttgart auf den weithin ständlich mit der Behinderung um, son- bedeuten soll, ob das Geschriebene unbekannten HSV-Spieler Oliver dern sie taten so, als wäre sie nicht da. stimmt, dann nickt sie jedesmal eifrig Möller eingestochen und ihn Sie verdrängten die eigene Irritation. und deutet auf das Stichwort, das sie ge- schwer verletzt hat. Für die Polizei „Man hat sich da kein größeres Kopfzer- rade kennt. Die Eltern erinnern sich, war es eine Nachfolgetat des Se- brechen gemacht“, sagt der Stiefvater in daß die Kinder in der Schule „aufs Spre- les-Attentats, das der Täterin Auf- seiner Hilflosigkeit. „Probleme mit der chen getrimmt“ worden seien. sehen verschaffen sollte. Das Ver- Verständigung gingen irgendwie so un- Der uralten heftigen Diskussion um fahren gegen Ilona Raus zeigte ein ter“, sagt die Mutter. die Gebärdensprache beziehungsweise anderes Bild. Es endete mit der Ein- Der Versuch, Ilona Raus mit 19 in ei- die Lautsprech-Methode scheint auch weisung der Frau in die Psychiatrie, ner Haushaltsschule unterzubringen, Ilona Raus zum Opfer gefallen zu sein. wo sie erst einmal lernen muß, sich scheiterte bereits nach einer Woche. Al- Die Gebärdensprache hat sie nicht rich- mit anderen Menschen zu verstän- so wurde sie in eine Behinderten-Werk- tig gelernt, und ihr Stiefvater meint, daß digen. statt in Leonberg gesteckt, in der sie bis sie auch nicht gut von den Lippen able- zur Tat für knapp 500 Mark im Monat

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täglich achteinhalb Stunden an einer Maschine arbeitete – unter zum Teil schwer geistig Behinderten und Spasti- kern, die über keine Mittel oder Fähig- keiten zur Kommunikation mit Gehör- losen verfügten. Sie galt im Vergleich mit den anderen zum Teil mehrfach Behinderten als lei- stungsstark. Die Verständigung, wenn denn überhaupt eine stattfand, klappte wieder nur irgendwie, mit Händen und Füßen, ein paar selbst ausgedachten Zeichen und hin und wieder einem Zet- tel, auf den ein Stichwort notiert wurde. Außer mit Vater und Mutter zu Hau- se, mit denen sie sich wie mit den behin- derten Arbeitskollegen nur auf primiti- ver Ebene verständigen konnte, hatte Ilona Raus keinerlei Kontakte. Sie kannte keine anderen Gehörlosen. Die elterliche Wohnung verließ sie nur, wenn sie zur Arbeit ging, sich mal etwas zum Anziehen kaufte oder wenn sie alle BONGARTS Fußballspieler Möller: „Man ist wie vom Blitz getroffen“

unbekannte Erfahrung. Es gab etwas schlug Detlev einmal einen Gummiham- Gemeinsames, Fußball. Sie zogen sich mer auf den Kopf (als hätte sie ihm etwas an, doch ihre Behinderungen stießen sie einhämmern wollen). Ein anderes Mal immer wieder auseinander. verfolgte sie ihn auf dem Bahnhof mit ei- Wenn Detlev etwas sagen wollte, ge- nem Messer in der Hand, weil sie nicht riet er jedesmal in große Erregung. Er wollte, daß er aussteigt. zuckte mit den Armen, und die Bewe- Der Werkstattleiter nahm die Verän- gungen seiner Hände gerieten zu ab- derungen an Ilona Raus sehr wohl wahr. wehrenden Gesten, selbst wenn er etwas Er ermöglichte ihr ein Krafttraining, da- Liebes ausdrücken wollte. Er konnte mit sie etwas Dampf ablassen konnte. Sie Ilona Raus nicht in die Augen sehen. sei Ende des Jahre „richtig geladen“ ge- Das Zucken und Fuchteln trieb ihm den wesen; mit den ganzen Gefühlen, die da Kopf weg. Es schien, als drehte er sich hereinbrachen, sei sie nicht mehr fertig weg, schaute beiseite und schämte sich geworden. Sie befand sich innerlich in seiner Behinderung. Aufruhr, randvoll mit überwältigenden Sie aber, die Gehörlose, mußte seinen Emotionen, die kein Ventil fanden. Mund unbedingt mit den Augen fixie- Und nach Weihnachten fiel Ilona Raus ren, sie brauchte den Augenkontakt, dem Werkstattleiter alsbeunruhigend ru-

G. STOPPEL / ZEITENSPIEGEL wollte sie etwas verstehen. Sie verstand hig auf, wie versteinert und unnatürlich Sachverständiger du Bois sein Zucken als Abwehr. Beide erlebten bleich. „Eindrucksvoll und nachvollziehbar“ ihre Behinderungen so quälend wie Am 12. Januar 1994, einem Mittwoch, noch nie zuvor. Dieser Zustand dauerte stach sieinder Stuttgarter Hanns-Martin- zwei bis drei Wochen einmal ein Heim- das ganze Jahr 1993 an. Schleyer-Halle während eines Hallen- spiel des VfB Stuttgart besuchte. Auch Detlev wollte die Gebärdensprache fußball-Turniers dem HSV-Spieler Oli- da ging sie alleine hin. Zu Hause schau- lernen, um mit Ilona Raus kommunizie- ver Möller, 25, ein Klappmesser 10 bis 11 te sie auf den Fernseher und schrieb ren zu können. Sie wollte wieder ein Zentimeter tief von hinten in die rechte Wörter und Namen aus Fußballzeit- Hörgerät (nachdem ein Ohrenarzt ihr Flanke. Die Klinge durchstieß das schriften ab. leichtfertig Versprechungen gemacht Zwerchfell und verletzte die Lunge und Ilona Raus war ehrgeizig. Sie ging hatte) und mußte es, sich unter Schmer- die Leber. Der junge Mann hätte daran gern in die Werkstatt, wollte mehr ar- zen windend, wieder ablegen. Es dröhn- sterben können. beiten, schwierigere Aufgaben bewälti- te ihr den Kopf zu mit dem Lärm der Möller sah sich damals mit zwei Mann- gen, Geld verdienen. Ja, sie mußte bis- Maschine, an der sie arbeitete. schaftskameraden das erste Halbfinal- weilen fast gebremst werden in ihrem Sie trug keine Brille mehr, weil sie spiel an, er auf Platz 1 der 5. Reihe direkt Eifer und Tatendrang. Der Spürsamkeit sich damit häßlich fand. Sie wollte sich neben der Treppe, aufdersich Ilona Raus des Werkstattleiters war es zu verdan- von den Eltern lösen. Es gab Mißver- niedergelassen hatte, und wartete auf das ken, daß sie sich trotz ihrer überaus re- ständnisse über Mißverständnisse mit nächste Spiel. „Das Gefühl kennt man duzierten Möglichkeiten eine kleine Detlev, dann wieder Phasen der Hoff- nicht, man istwievom Blitz getroffen. Ich Welt schuf, in der allerdings nichts ver- nung, der Resignation, der Wut und des drehte mich um und sah die Frau. Das ändert werden durfte. Aufbegehrens. Messer steckte in mir. Im Reflex habe ich Doch dann begegnete sie Detlev, ei- Die Eltern, so sagen sie, bemerkten es wohl herausgezogen und fallen las- nem spastisch Kranken, der sich auf- von alledem nichts. Sie hatten andere sen.“ grund seiner Bewegungsstörung kaum Sorgen. Die Großmutter lag im Sterben, Dann lief er blutend zu den Umkleide- artikulieren konnte. Er interessierte sich der Stiefvater erlitt einen Herzinfarkt, kabinen, wo ihn ein Masseur notdürftig für die junge Frau – eine für sie völlig es kam alles zusammen. Ilona Raus versorgte, bis der Notarzt kam. Das

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Glück war mit Oliver Möller, der sich, der Polizei vom Tattag und vom Tag Sie meint sich auch zu erinnern, daß sobald er auf den Beinen war (nach zwei danach. Sie lesen sich, als habe der Kripobeamte bei ihr anrief und sag- Monaten spielte er bereits wieder), eine nichtbehinderte, uneingeschränkt te: Ich denke an so eine Geschichte wie wahrhaft fair verhielt. Es gibt kein Wort schuldfähige Person flüssig und zügig bei der Seles. des Selbstmitleids von ihm, kein Klagen Rede und Antwort zu Tat und Motiv „Die Beschuldigte suchte sich zu arti- und kein Anklagen. „Weder Haß noch gestanden. Ja, sie habe einen Spieler kulieren“, urteilte das Gericht in einem Abscheu“ verspüre er gegenüber der töten wollen, sie habe ihren Namen viel weiteren Sinn, und das ist gewiß Frau, die ihn verletzte, sagte er. Es sei und ihr Bild in die Presse, ins Fernse- richtig. Da es ihr mit Worten nicht ge- alles gut verheilt, psychische Probleme hen bringen wollen. lang, hat sie gehofft, die Bilder, die Me- habe er nicht. Seine Zeugenaussage vor „Es war klar: Sie wollte auffallen“, dien, die Öffentlichkeit hülfen ihr. Sie Gericht ist einfach und klar und bar je- berichtet der vernehmende Kripobeam- wollte erzwingen, daß von ihr Notiz ge- der falschen Dramatik. te, einer der sehr erfahrenen, routinier- nommen wird. Das Attentat ereignete sich in dem ten, bei Gericht geschätzten. Sie wollte, wie ein kleines Kind, zei- Augenblick, als Möller vielleicht eine Er habe die Verdächtige nach der gen, daß sie stark ist. „Sie hat sich eine Chance hatte, sich als Nachwuchstalent amerikanischen Eisläuferin fragen wol- Phantasielandschaft zurechtgelegt ähn- in die Bundesliga hinaufzuspielen. Nach len, auf die doch auch ein Attentat ver- lich dem Wahngebilde eines an der Psy- dem Attentat wurde sein Vertrag nicht übt worden sei. Deren Name sei ihm chose Leidenden“, so das Gericht wie verlängert, heute arbeitet er wieder als nicht eingefallen. Deshalb habe er den auch der Sachverständige du Bois. Ver- Bankkaufmann und spielt in einem Namen der Tennisspielerin Monica Se- mutlich ist vieles zusammengeflossen in Amateurverein. les erwähnt. Ob sie so etwas habe tun dieser Phantasielandschaft. Er hatte seinerzeit Strafantrag wegen wollen? Mama und Papa mag sie nicht, bedeu- Körperverletzung gestellt. Die Staatsan- Den Namen Seles kennt Ilona Raus. tete sie dem Sachverständigen, kluge waltschaft beschuldigte Ilona Raus des Wenn ihr der Name Seles vorgehalten Menschen auch nicht. Ein Auto möchte versuchten Mordes, begangen im Zu- stand der Schuldunfähigkeit, und bean- tragte, daß sie in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird. Die- sem Antrag hat die 9. Große Strafkam- mer des Landgerichts Stuttgart mit dem Vorsitzenden Richter Herbert Luip- pold, 64, am vergangenen Freitag nach zweitägiger, aufmerksam geleiteter Ver- handlung entsprochen. „Die Beschuldigte suchte sich zu artikulieren“

Der Tübinger Kinder- und Jugend- psychiater Dr. Reinmar du Bois, 46, er- stellte über die Beschuldigte ein außer- gewöhnliches Gutachten, dem das Ge-

richt ohne Einschränkung folgte. TELEPRESS „Glücklicherweise“, sagte Richter Luip- Attentatsopfer Seles (1993 in Hamburg): Eine Nachfolgetat? pold, „hat ein sehr erfahrener Sachver- ständiger eindrucksvoll und nachvoll- wird, nickt sie. Bedeutet das schon, daß sie haben, keine Brille mehr tragen, in ziehbar die Persönlichkeit und die Ent- es sich um eine Nachfolgetat handelt? die Schule gehen. Hören will sie, wenig- wicklung der Beschuldigten geschil- Der Stuttgarter Rechtsanwalt Achim stens ein bißchen. Ein Chef möchte sie dert.“ Bächle, 42, ein hervorragender Strafver- sein, viel Geld verdienen, gerne einen Die Kammer werde in ihrem schriftli- teidiger, rügt, daß zur Vernehmung ei- Freund haben, gerne heiraten, gerne ein chen Urteil zum Ausdruck bringen, ner zugegeben verstörten, aufgeregten Baby haben. Alle, die auf dem Gymna- kündigte Luippold an, daß Ilona Raus Gehörlosen, die auf den Kripobeamten sium waren, die Auto fahren können, nicht in einem normalen psychiatrischen den Eindruck einer Zehnjährigen mach- die Motorrad fahren können, alle, die Krankenhaus untergebracht werden te, kein Anwalt hinzugezogen wurde. etwas können, möchte sie umbringen. sollte. Denn laut du Bois muß sie erst „Wenn eine Beschuldigte nicht will, Wenn ihr sogenannte Prominente in einmal lernen, mit anderen Menschen dann muß ich ja den Anwalt womöglich den Sinn kommen, die sie für erfolg- zu kommunizieren. Erst dann, und das selber bezahlen. Soweit geht die Fürsor- reich und beneidenswert hält, fällt ihr kann bereits nach einem Jahr sein, sei gepflicht nicht“, lautet die Antwort des ein, wie benachteiligt sie ist. Dann eine Aussage über ihre Gedankenwelt schwäbischen Beamten. macht sie eine Handbewegung wie mit (also auch über die Wiederholungsge- So kam ins Protokoll, was die Dol- einem Messer oder fährt sich mit der fahr) möglich. „Ihre verrückte Denk- metscherin aus den lautlosen Wortfet- Hand quer über den Hals. weise halte ich für reversibel“, sagte du zen und Ilona Raus’ Körpersprache her- Sie ist ein Kind von 29 Jahren, das Bois. auslesen zu können meinte. „Wenn sich sich mit abnormen Rachephantasien in Warum hat sie es getan? Warum ge- das Protokoll flüssig liest, so ist das verzweifelter Not gegen immer stärker stochen? Warum Möller? Was wollte sie schon meine Formulierung. Ich muß werdende Frustrationen und Ängste erreichen? doch einen Satz daraus machen“, sagt wehrt. Ein Kind, das gegen eine Welt Es gibt nach den Regeln der Kunst sie vor Gericht. Und: „Das ist gefährlich wütet, die an ihm alles, aber auch alles verfaßte Vernehmungsprotokolle bei – aber das ist so.“ versäumt hat. Y

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KASSE MACHT SINNLICH Der prall gefüllte Jackpot brachte das Lotto-Spielvolk schier um den Verstand. Immer unverhüllter frönt die Gesellschaft der Gier nach Geld. Auch die Wirtschaft dreht das große Glücksrad: Hasardeure, aber auch Konzernstrategen und Banker übernehmen die Regeln einer weltumspannenden Glücksspielgemeinschaft.

Reich zu sein hat seine Vorteile; man hat zwar oft genug versucht, das Gegenteil zu beweisen, doch ist das nie so recht gelungen. John Kenneth Galbraith

as tippt Heidi Kabel? Wo macht Berti Vogts seine Kreuze? Dann, Wletzten Dienstag, war es „das Su- per-Hirn“, ein Computer, der seine Zahlenreihen ausspuckte und die Bild- Lesergemeinde auf die rechte Gewinn- straße wies. 42 Millionen – die Boulevardpresse spürte den Fieberphantasien nach: „Kann ich das ganze Geld an einem Tag verknallen? Macht Lotto süchtig? Soll man sich nach der Gewinn-Nachricht so- fort scheiden lassen?“

7 Einsatz fürs Glück 6 Umsatzentwicklung im Samstags- lotto in Milliarden Mark 5

4

3

2 1 0 1955 bis 1965 1965 bis 1975 1975 bis 1985 1985 bis 1993

Neugegründete Tippgemeinschaften und potentielle Multimillionäre, die fürchteten, im Glücksfall enttarnt zu werden, gaben sich Deckna- men: „Dagobert Duck, Entenhausen“, „Onkel Fritz und Papagei Lore“. Men- schenschlangen bis spät in die Nacht: Vor deutschen Lotto-Annahmestellen sah es bisweilen aus wie einst vor den Konsumläden in der DDR. Aus Usedom scholl ahnungslosen Wessis der Ruf entgegen: „Heute wird es nichts mehr.“ Dort karrt der Lottoku- rier die Scheine schon am frühen Nach- mittag ab. Kreuzberger Punks, denen sonst die Lottobude höchstens einen

P. LANGROCK / ZENIT Molli wert gewesen wäre, legten ihre ge- Lottospieler (in Berlin): Warteschlangen wie einst in der DDR schnorrten Märker in Tippscheinen an.

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Einen Glückspilz namens „Lotto-Lo- Ließ sich da noch auf so etwas wie de stünden dem entgegen. 342 Millionen thar“, der mit traurigem Schnauzbart Schicksal, Vorsehung oder einen ge- Mark, rund dreimal soviel wie sonst, lie- und Vorschulkind posierte, präsentierte rechten lieben Gott hoffen, der dem Zu- ßen sich vorletzte Woche die Deutschen Bild als Appetizer im allgemeinen fall auf die Sprünge hülfe? Der den ihren hochgeputschten Lotto-Enthusias- Glückshunger. Frankfurter Lottofilialen Geldsegen vielleicht auf eine fromme mus kosten. Die Chance, den Jackpot mußten Helfer engagieren, die den vie- Arbeitslosenfamilie mit behinderten zu schnappen, war unvorstellbar klein: len tausend Neutippern die Regeln ver- Kindern lenkte? Sie lag bei eins zu knapp 140 Millionen. klickerten. „Die Leute sind wie beses- Die Evangelische Kirche in Deutsch- Doch das konnte die Spielernation nicht sen“, meldete der Frankfurter Kioskbe- land unterbreitete, wohl mangels Gott- schrecken. Die Verlockung, in den Klub sitzer Frank Kägeler. vertrauen, den Vorschlag, den Jackpot der Lottomillionäre zu gelangen, der Zum zehntenmal hintereinander war schon vor seiner Ausspielung ganz oder jährlich um 200 Neuzugänge wächst, der erste Rang im deutschen Lottoblock teilweise der Flüchtlingshilfe in Ruanda war stärker. mangels Gewinner nicht ausgeschüttet zukommen zu lassen. Die Staatliche Nostalgisch blickten manche rück- worden, der Inhalt des Jackpots weiter Toto-Lotto-GmbH Baden-Württem- wärts in die gute alte Zeit. „Lotto“, gewachsen. Ende letzter Woche äußerte berg winkte ab: Schon rechtliche Grün- schrieb die FAZ, das war ehedem „die Lotto-Sprecher Wolf-Dieter Rösner die Erwartung, daß die Teilnehmer- und Umsatzzahlen vom vorausgegangenen Wochenende – 274 Millionen Tips auf über 32 Millionen Spielscheinen – noch einmal übertroffen würden. Was für ein Nervenkitzel – die Satiri- kerin Simone Borowiak inspirierte er (in der Woche) zu Spekulationen, was man mit den 42 Mio „grob gerechnet“ alles machen könne: 32 307mal Pauschalur- laub auf Mallorca, 3,5millionenmal ins Kino oder etwas über 35 Millionen Ta- feln Ritter-Sport-Schokolade. Rauschhaft erlebte die Nation den Endspurt auf die große Glücksverhei- ßung. „Waaahnsinn“, „irre“, „super“, die Exklamationen, in die Bild sonst bei Sturmkatastrophen und Rudi-Völler- Toren ausbricht, galten nun den sieben aus der Trommel plumpsenden Plastik- kugeln, als seien es die sieben Weltwun- der. Aus dem Nichts war er aufgetaucht wie der Komet Shoemaker-Levy, der auf Jupiter stürzte: der große Jackpot, ein Glücksgötze, der – vom Wettvolk B. BOSTELMANN / ARGUM mit immer größeren Opfergaben gefüt- Börsianer (in Frankfurt): Der Drang, aus Geld im Handumdrehen mehr Geld zu machen tert – von Woche zu Woche feister ge- worden war. Für die Lohnsteuerzahler mit schrumpfendem Realeinkommen und sinkenden Chancen auf dem Arbeits- markt ist der Millionenpott zu einem märchenhaften Goldschatz geworden. Er verheißt mehr als nur Wohlstand, mehr als das Eigenheim mit dem Merce- des in der Garage – diesmal war Reich- tum in Sichtweite, ein Vermögen, das auch Verschwender nicht so leicht klein- kriegen können. Niemanden schien es zu stören, daß ein Wunder nötig war, wenn man an den Pott herankommen wollte. Da halfen weder Talent noch Risikofreude, nicht Disziplin und auch nicht Tüchtigkeit – auch dramatisch erhöhte Spieleinsätze verbesserten die Gewinnwahrscheinlich- keit fast überhaupt nicht. Der Traum vom 42-Millionen-Glück setzte einen wahrhaft blinden Glauben voraus, einen schon wahnwitzigen Optimismus, ein wenig gestützt allenfalls noch auf die

absolute Chancengleichheit – deren DPA Schutzpatron heißt Zufall. TV-Glücksspiel „100 000 Mark Show“: Sisyphus-Qualen bei Lady Zack-Zack

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TITEL

Sehnsucht des Hausvaters, der am verloren hat, nimmt der Run aufs Geld und Geldgier werden in der modernen Samstagabend seufzend die Zahlen mit immer entschiedenere und immer bizar- Gesellschaft ohne Umschweife vorge- seinem Durchschlag verglich“ – wieder rere Formen an. führt. Von dem Wunsch, „die Radioak- nichts gewonnen. „Lotto, das waren bie- Wo Geld zur ranghöchsten Chiffre für tivität des Geldes zu spüren“, spricht dere Witwen, deren letzte Leidenschaf- Glück geworden ist, da lassen sich auch Andre´ Kostolany, der Guru unter den ten sich an Eierlikör und Karin Tietze- Menschen finden, die sich selbst verkau- Börsenspekulanten. „Kasse macht sinn- Ludwig entzündeten.“ fen, wenn der Preis nur stimmt. lich“ – dieser alte Erfahrungssatz des Inzwischen ist der vor das Spielervolk Selbstverständlich, erklärte die blon- Einzelhandels ist wahrer denn je. gehaltene Glücksbrocken ins Giganti- de amerikanische Foto-Schöne Anna Nicht nur die durch Werbung künst- sche angewachsen. Das steigert die Gier Nicole Smith, 26, hege sie tiefe Gefühle lich erzeugten Hierarchien der Zah- und erhöht die Spiellust. Aber die greift für ihren neuen Ehemann, den Öl-Milli- lungsfähigkeit („Es war schon immer et- ohnehin immer mehr um sich: Nahezu ardär Howard Marshall. „Ich will Liebe, was teurer . .“) haben das Geld gesell- allgegenwärtig ist die schaftlich so mächtig Jagd auch nach dem aufgewertet. Für weite kleinen Gewinn, dem Bereiche der Lebens- Schnäppchen – am kultur gilt inzwischen, deutlichsten im Fernse- daß nur noch Preise, al- hen. Dort zählen Ge- so Geldwertangaben, winnspiele zur Routine. die Vorstellungen vom Längst haben Game- Wert vermitteln. Shows wie „Glücks- Die zeitgenössische rad“, „Der Preis ist Kunst fasziniert die Be- heiß“ oder „Goldmilli- sucher von Messen und on“ ihren ursprüngli- Ausstellungen weithin chen Kick verloren. Ob wegen der Summen, die ein Dieter aus Berlin für so etwas auf Verstei- die „Glücksrad“-Chan- gerungen erzielt wer- ce auf bankrott dreht den. Künstler wie Base- oder eine Erika aus litz oder Beuys finden Hamburg den Weg aus weit über den Kreis der dem „Goldmillion“-La- Sammler und Kenner byrinth findet – die Bil- hinaus bloß der Preise der gleichen sich. Nur wegen massenhaft In- Masochisten sehen sich teresse: Geld schafft das wieder und wieder Aura und Magnetis- an, davon gibt es aller- mus. dings Millionen. Geldwert ist das ein- Wie weit die Leute zige, was allen in dieser gehen in ihrer Anbe- Gesellschaft unmittel-

tung des Götzen Geld, ULLSTEIN bar einleuchtet, der in ihrer Obsession, die Lotterie-Ziehung 1952: Seufzende Sehnsucht des Hausvaters kleinste gemeinsame schnelle Mark abzu- Nenner: ein 5000- stauben, führt exemplarisch die RTL- Leidenschaft, und ich will noch ein Ba- Mark-Mantel, 1000-Mark-Schuhe, ein Moderatorin Ulla Kock am Brink by.“ Der Gatte ist 89, auch Anna Nicole 200 000-Mark-Flitzer, ein 2-Millionen- (Branchenname: „Lady Zack-Zack“) in ist „nicht sicher, ob Howard noch Job, ein 750 000-Dollar-Turnier. ihrer „100 000 Mark Show“ vor, einer kann“. Ihr Einsatz ist hoch, aber der Von Moral redet niemand mehr, Imitation römischer Gladiatorenkämp- Gewinn kommt vermutlich schnell her- wenn die Summen nur hoch genug sind. fe. Für das Preisgeld quälen sich junge ein. In dem Land, in dem die sogenannten Paare über einen Parcours aus stähler- Klare Preisvorstellungen brachte der Besserverdienenden immer härter her- nen Hindernissen, erleiden Sisyphus- Schweizer Finanzmakler Arno Arndt angenommen werden sollen, nehmen es Qualen, wenn sie ein Laufband in Ge- mit in seinen Deal: Er habe die Absicht, alle widerspruchslos hin, wenn Sport- genrichtung nicht bewältigen können, heroen wie Becker, Stich und Schuma- und setzen ihre Nerven der Zerreißpro- cher sich der Steuer-Solidargemein- be des Alles oder Nichts aus. Das Glück trifft schaft nach Monaco oder Österreich Die Teilnehmer der „100 000 Mark die Helden entziehen. Bei soviel erspielten Millio- Show“ scheuen sich nicht, die peinliche nen, da hören wohl beide auf, der Neid Prozedur vor den Augen des Fernseh- als Schicksalsschlag und die Moral. volks durchzustehen. Darin verrät sich Der immer schneller werdende Tanz ein sozialer Wandel: Das Streben nach berichteten Bild und Sat 1, einer ausge- ums Goldene Kalb bildet sich auch auf Gewinn muß sich nicht länger maskie- suchten Frau eine Million zu bezahlen, den Kinoleinwänden ab. Die Filme aus ren; es kann sich, ob am „Glücksrad“ damit sie ein Kind von ihm empfange Hollywood haben schon immer das oder an der Börse, schamlos und öffent- und aufziehe. 9000 Frauen, behauptet amerikanische Glücksversprechen, den lich zur Schau stellen. Arndt, hätten sich beworben. Die „pursuit of happiness“, als Einladung Habgier ist von der Gesellschaft abge- Frankfurterin Alexandra Battiany, 25, zum Glücksspiel interpretiert: Ein ech- segnet. Derselbe Impetus, der Emil Lot- die ihre Bereitschaft öffentlich erklärte, ter Kinoheld holt sich das Geld, er muß tomann zum Kreuzchenmachen treibt, sieht keinen Grund für Skrupel: „Ande- es gewinnen, nicht verdienen durch Ar- hält das große Rad der wachstumsorien- re Leute bringen für eine Million jeman- beit. tierten Weltwirtschaft in Gang. Und seit den um, ich schenke Leben.“ Der „Showdown“, ohne den kaum ein mit dem Fall der Mauer der Kapitalis- Die unmittelbare sinnliche Ausstrah- amerikanischer Spielfilm auskommt, mus seinen ideologischen Gegenspieler lung von Geld, das Bündnis von Eros stammt aus der Pokersprache; es ist der

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wurde in die Gesell- vorstellbare Jackpot zum Fingerhut schaft von Brandstif- schrumpft. tern, Räubern, Blut- Und während die kleinen Leute, schändern und Huren harmlos abgelenkt, sich über ihre einzi- eingereiht.“ Das war ge Chance auf Reichtum erhitzen, wird einmal. vor den Zahlenschirmen der Finanz- Generalpleiten wie makler hauptberuflich um Einsätze ge- die des Bauspekulan- dealt, die selten kleiner sind als der dies- ten Jürgen Schneider jährige Klassenlotterie-Haupttreffer von und Fälle von unsau- zehn Millionen Mark. berer Selbstbedienung Der Hasardeursdrang, aus Geld im in der Chefetage wie Handumdrehen mehr Geld zu machen –

LGI / INTERTOPICS beim Mannesmann- und zwar ohne den mühseligen Umweg Ehepaar Marshall: „Ich will Liebe, Leidenschaft“ Konzernchef Werner über die Herstellung und den Vertrieb Dieter gelten in der nützlicher Dinge –, hat sich in den seriö- Moment, in dem die Karten aufgedeckt geldfixierten neuen Gesellschaft schon sesten Banken und Industriekonzernen werden. beinahe als Kavaliersdelikte. ausgebreitet. Statt ihre voluminösen Seit den Achtzigern wurde der Haupt- Immer mehr dubiose Kapitalanlage- Cash-Zuflüsse und Überschüsse in die gewinn, der dem Helden beim Happy- firmen tummeln sich auf dem deutschen reale Wirtschaft und neue Arbeitsplätze ending zufällt, vor allem in Geld gemes- Markt und gewinnen gutgläubige Inve- sen: ob Dan Aykroyd und Eddie Mur- storen. Naivität und Geldgier herrschen phy in den „Glücksrittern“ (1982) oder in allen Bevölkerungsgruppen. Auch Siemens und Michael J. Fox in „Das Geheimnis mei- Durch Wirtschaftskriminalität sei VW drehen mit nes Erfolgs“ (1986): Wer nur waghalsig 1993 in Deutschland insgesamt ein Scha- genug an der Börse spekulierte und den von 3,18 Milliarden Mark entstan- am globalen Glücksrad skrupellos seine Gegenspieler manipu- den, teilte das BKA letzte Woche mit. lierte, der kam ganz schnell an den Jack- Betrügereien mit Milliardenschäden flo- zu investieren wie einst in der solid-so- pot heran. Wer am besten bluffte, ge- gen auf. Anfang 1991 machte der bisher zialen Ludwig-Erhard-Marktwirtschaft, wann. größte Betrugsfall der Nachkriegsge- haben Börsianer und Finanzdirektoren Seit der Rezession Anfang der neun- schichte Schlagzeilen: Die Finanzie- die Kapitalmärkte in hochgestochene ziger Jahre gibt nicht mehr Poker das rungsfirma Ambros hatte Kleinanleger Wettbüros und Spielkasinos umgewan- Erzählmuster vor – jetzt ist es die Lotte- um 612 Millionen Mark geprellt. delt. rie, die keiner aus eigener Kraft gewin- Doch auch da, wo kein Betrug im Die Kapitalökonomie mit ihren kon- nen kann. Das Glück trifft die Helden Spiel ist, breitet die Zockermentalität stant wechselnden Aktien- und Wäh- als Schicksalsschlag. sich aus. Immer unverhüllter unterwirft rungskursen, ihren Zinsraten, Umlauf- Das war in „Pretty Woman“ so, wo sich das moderne Wirtschaftsleben renditen und Indikatoren ist zu einem der Zufall Julia Roberts mit ihrem Mär- den Regeln einer weltumspannenden einzigen riesigen Roulette geworden. So chenprinzen zusammenführte. Und Glücksspielgemeinschaft. wie auf Rot oder Schwarz, Gerade oder ebenso in „Ein unmoralisches Ange- So wie der ungeknackte aktuelle Jack- Ungerade oder auf eine der Zahlen, bot“, wo Demi Moore dank einer pot von Woche zu Woche angeschwol- können die Spieler ihre Wetten auf eine Schicksalsfügung den Mann trifft, der len ist, so wachsen, ganz unbemerkt von wachsende Vielfalt von Marktvorgän- ihr eine Million für eine Liebesnacht den lottotippenden Volksmassen, die gen plazieren: daß der Dollar bis zum bietet. gewaltigen Geld- und Kapitalmengen 30. November (oder sonst einem Ter- Und nun (demnächst auch in deut- weiter, die auf den internationalen Fi- min) gestiegen oder gefallen, daß Nord- schen Kinos), ganz direkt: der Film zum nanzmärkten zusammenströmen: ein seeöl teurer oder billiger sein wird. Jackpot. Titel: „It could happen to Ozean aus heißem Spekulationsgeld und Nicht einmal die witzigen Zyniker you“. Handlung: Polizist verspricht, Wertpapieren, neben dem der größte vom Londoner Economist behaupten, weil er kein Trinkgeld in der Ta- sche hat, einer Kellnerin, den Geteiltes Los Wohin die Lottoeinnahmen fließen (Beispiel Nordwest Lotto Hamburg) Gewinn mit ihr zu teilen, falls er mit seinem Lottoschein Erfolg Ausschüttung unter Provision für die hat. Er tippt richtig und kassiert den Gewinnern Lotteriesteuer Lottoannahmestellen vier Millionen Dollar. Den Rest der Zeit verbringt der Film da- mit, den Leuten weismachen zu wollen, daß Geld nicht glücklich mache. 8% Im Film rechnet Hollywood Verwaltungs- mit den Spekulanten ab, der 3,5% kosten und Wall-Street-Hai ist nur noch als 50% Werbung Bösewicht möglich. In der wirkli- chen Welt der Finanzmärkte und 16,7% Bodenspekulationen sind Zocker und Gangster im Nadelstreifen 22% Überschuß- bestens etabliert. abgabe „Das Zinsnehmen“, notierte an den Ham- burger Haushalt Bundesbankdirektor Otmar Is- sing in der FAZ, „stand lange Zeit auf einer Stufe mit dem Ka- pitalverbrechen, der Wucherer

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daß diese reinen Wettgeschäfte des In der Ära der Tauschwirtschaft galt „Casino Capitalism“ mehr produktiven noch die lebende Währung. Für 300 Sinn für die wirtschaftende Allgemein- Ochsen, berichtet Homer in der Odys- heit enthielten als die Tag und Nacht see, konnte der Sohn des Priamos frei- münzenschluckenden und münzenkot- gekauft werden; eine junge hübsche zenden einarmigen Banditen in den glit- Sklavin war schon für 20 Paarhufer zu zernden Spielpalästen von Las Vegas. haben. Im lateinischen Wort für Geld, Das hat auch die beiden namhaften „pecunia“, steckt „pecus“ (Vieh). deutschen Industriekonzerne, Siemens Die ersten professionellen Geldma- und VW, nicht gehindert, im großen Stil cher waren, etwa um 600 vor Christus, und mit unterschiedlichem Erfolg am die Griechen. Der Philosoph Aristote- globalen Glücksrad mitzudrehen. les erklärte den Vorteil: „Man kam Mit dem frappanten Resultat, daß überein, beim Tausch gegenseitig eine Siemens als belegschaftsstärkster deut- Sache zu nehmen und zu geben, die scher Industrieriese zuletzt zwei Drittel . . . im täglichen Verkehr handlich seiner Gewinne nicht mit seinem Pro- war.“ dukt-Sortiment von der Kaffeemaschine Was man mit dem Gelde machen bis zum Atomkraftwerk gemacht hat, muß, um es zu mehren, hat dann später sondern mit reinen Geldvermehrungs- ein anderer Aristoteles erläutert. Onas- geschäften auf den Finanzmärkten. Wo- sis, der griechische Reeder, sprach: zu dann noch der gigantische Aufwand „Dem Geld darf man nicht nachlaufen. industrieller Produktion, wozu die Man muß ihm entgegengehen.“

230 000 Arbeitsplätze Geld hat die Welt BPK allein im Inland? mobil gemacht. Ohne Lotterie-Gründer Casanova Bei VW lief es anders Ochsen mitzuführen „Das Volk zahlt freiwillig“ –Wolfsburg spielte und kann der Mensch nach verlor. Die Verluste Mallorca fliegen, an den Franzosenkönig Ludwig XV. zum vor allem aus Devisen- der Ecke ein Bier trin- Druck von Papiergeld zu überreden. Termingeschäften ken oder ein Freuden- Law wurde Direktor einer staatlichen brachten das Autowerk haus besuchen. Shake- Notenbank, setzte ein anfänglich florie- in Bedrängnis. Die Fi- speares Rat im „Othel- rendes System aus Banknoten und Ak- nanzgenies des Kon- lo“ genügt: „Tu Geld tien in Gang – was ihm jedoch bald aus zerns, kaum glaublich, in deinen Beutel.“ dem Ruder lief. 1720 brach das Law-Im- hatten sogar die Rück- Geld verschafft perium zusammen, es kam zum Staats- lagen zur Entwicklung Macht, und es birgt ei- bankrott. Law floh, Goldmünzen in der des neuen Polo-Mo- ne Verheißung, der Tasche. dells zu einem großen auch höchst edle Gei- Auf der Flucht, soeben den Bleikam- Teil verspekuliert. So ster verfielen: „Geld mern, Venedigs Hochsicherheitstrakt, tief war das schwarze heißt soviel wie ge- entkommen, war auch jener kleine ker- Loch in der Kasse, daß prägte Willensfrei- nige Mann, der im Jahre 1757 in Paris die Markteinführung heit“, schrieb Dosto- eintraf: Giacomo Casanova. Es ergab dieses neuen Typs um jewski. Und Rousseau sich, daß er mit einem führenden Kopf anderthalb Jahre ver- meinte: „Solange ich des französischen Finanzwesens ins Ge- schoben wurde. noch Geld in meiner spräch kam, der in Nöten war. Von „peanuts“ Börse habe, ist meine Paris-Duverney, so sein Name, hatte sprach Hilmar Kopper, Unabhängigkeit gesi- eine „Ecole Militaire“ gegründet und Sprecher der Deut- chert.“ brauchte Kapital. Es gebe eine Metho- schen Bank, als Auf die ordnende, de, raunte Casanova, ohne Mühen an nach der spektakulä- Handel und Wandel Geld zu kommen: Das Volk würde es, ren Schneider-Pleite stimulierende Kraft „völlig freiwillig“, liefern. Kurz darauf Handwerkerrechnun- des modernen Zah- war Casanova Direktor einer Lotterie.

geninHöhe von50Mil- U. RÖHNERT lungsmittels hob Ro- Als Venezianer war ihm dieses lionen Mark offenstan- Spielfilm „Pretty Woman“* bert Musil ab. Geld, Glücksspiel längst vertraut, Venedig den. Weiter kann sich Märchenprinz als Glückstreffer schrieb er, sei „die und Genua waren Hochburgen, in Flo- das Geld von seinem kräftigste und ela- renz gab es ein „Lotto“ bereits im Jahre realen Gegenwert nur noch entfernen, stischste Organisationsform, welche die 1530. Bei Casanovas Lotterie wurden wenn es sich vollends zu Bit- und Byte- Menschen bisher erreicht haben“. Die aus 90 Losnummern fünf Gewinnzahlen kombinationen verflüchtigt und im Kehrseite der Münze: Mit Geld hat alles gezogen. Drei Richtige brachten das Computer verschwindet. seinen Preis bekommen, Mensch und 5200fache des eingezahlten Betrages. Angebahnt wurde diese Entwicklung, Vieh, Arbeit und Vergnügen. Das Lotteriewesen war somit in als das Papiergeld in die Welt kam, der Geld als Macht, als Fluch – und als Frankreich etabliert; ein berühmter „Bankzettel“, wie der Kulturhistoriker Chimäre. Die Geschichte des Geldes ist Zeitgenosse Casanovas, Voltaire, wußte Egon Friedell schrieb, „der nichts ist als reich an Szenen, in denen sich Mammon es zu nutzen. Mit dem Beistand eines die leere Fiktion einer Ziffer“. von der tückischen Seite zeigte, Staaten Mathematikers errechnete er die Ge- Was, fragte die kluge „Encyclopædia ins Unglück riß und Millionen bankrott winnchancen und stieß auf einen Fehler Britannica“, unterscheidet eigentlich die machte. im System: Wenn er sämtliche Lose Banknote von einem herausgerissenen Im Jahre 1716 war es dem schotti- kaufte, würde er am Ende einen Ge- Fetzen Zeitungspapier? Nichts als die schen Glücksritter John Law gelungen, winn von einer Million Livres machen. gesellschaftliche Übereinkunft, daß sie Der Coup gelang und legte den Grund- etwas wert sei. * Richard Gere, Julia Roberts. stock des Voltaireschen Vermögens.

100 DER SPIEGEL 37/1994 TITEL

„Der Lotterieunternehmer macht sich Selbst bei Hasardeuren, denen Stuhlverstopfungen Nervöser“ beseitigt die menschliche Spielleidenschaft zunut- „krankhaftes Glücksspiel“ bescheinigt haben. ze“, definierte der Große Brockhaus wird, zögern die Verhaltenstherapeuten Von der freudianischen Neurosenleh- 1932. Das ehrwürdige Lexikon ver- in der Ambulanz der Psychiatrischen re weg, hin zu einer gesellschaftskriti- schwieg nicht, daß dagegen „soziale und Klinik der Uni Hamburg, sie „pauschal schen Betrachtungsweise wandte der sittliche Bedenken“ erhoben werden den Süchten zuzuordnen“. Die Sucht- Psychoanalytiker Erich Fromm die Fra- könnten, „besonders, da der Staat Vor- diagnose sei viel zu unspezifisch, die ge nach dem Ursprung der Geldlust. teile für sich zu ziehen sucht“. daran ausgerichteten Selbsthilfe- und Wenn die „Existenzweise des Ha- Daß der Staat Hauptnutznießer des Therapieverfahren lieferten deshalb bens“, wie Fromm formulierte, „die Ba- Toto- und Lottorummels ist (siehe Gra- „ausgesprochen schlechte Resultate“. sis einer Gesellschaft ist“, dann folgt fik Seite 99), wird nach wie vor gern ein- Den Psychoanalytiker Sigmund daraus, daß es für Erfolg und gesell- genebelt. Dann und wann erheben mo- Freud, geprägt vom spätbürgerlich ver- schaftliche Anerkennung nichts Über- ralisierende Politiker ihre warnende klemmten Wien des Fin de sie`cle, war zeugenderes gibt, als möglichst viel Stimme, so der SPD-Bundestagsabge- nicht nur das Gambeln, sondern alle Geld zu erwerben. Daß Menschen ge- ordnete Uwe Jens. Durch die „exorbi- Lust am Gelde anrüchig erschienen. nau das versuchen – sei es durch regel- tanten Summen“, die mittlerweile zu ge- Angesichts der historischen Figur des mäßige Arbeit oder durch hartes Lotto- winnen seien, könnten die Leute zum „Dukatenscheißers“ meditierte der spielen –, wäre demnach nicht beson- Spiel „verführt“ werden, fürchtet der ders verwunderlich. Politiker und fordert, die Gewinnsum- „Reich ist man nicht durch das, was me auf fünf Millionen Mark für sechs „Das Geld, das der man besitzt, sondern durch das, was Richtige zu begrenzen. Hat der Mahner Teufel schenkt, man mit Würde zu entbehren weiß“, recht? hatte einst Immanuel Kant moralisiert. Der monetär-erotische Reiz, hopp verwandelt sich in Dreck“ Donald Trump, der New Yorker Wol- oder top, kann sogar seriöse Banker kenkratzerspekulant und Protagonist süchtig machen. So meldete sich vor Traumdeuter über die „innigsten Bezie- protzigen Reichtums, sieht das anders: zwei Jahren ein Abteilungsleiter einer hungen des Geldes zum Drecke“. Es sei „Ich könnte nicht glücklich sein, wenn Mannheimer Bank bei der Staatsanwalt- ja bekannt, „daß das Geld, welches der ich arm wäre, dazu bin ich einfach zu schaft. Der Spezialist für Geldanlagen Teufel seinen Buhlen schenkt, sich nach verwöhnt.“ gestand den Ermittlern, er habe in den seinem Weggehen in Dreck verwandelt, Offenbar gibt es näherliegende Grün- zurückliegenden acht Jahren mit etwa und der Teufel ist doch gewiß nichts an- de, beim Glücksspiel mitzumachen, als 17 Millionen Mark Kundengeldern Lot- deres als die Personifikation des ver- die anale Fixierung. Die Hamburger to gespielt – und alles verloren. drängten, unbewußten Trieblebens“. Psychoanalytikerin Eva Breloer findet In Spitzenwochen hatte der Banker, Der Sammelwahn des Erwachsenen, es reichlich verwegen, bei all den Men- für rund 50 000 Mark, bis zu 800 Lotto- so folgerte Freud in seiner Theorie über schen, die momentan geradezu hyste- scheine ausgefüllt. Gewonnen hatte da- die anale Entwicklungsphase des Men- risch Lotto spielen, psychische Verwer- bei vor allem die Annahmestelle: Im schen, sei nichts weiter als die Konse- fungen schlimmster Art zu vermuten. Vertrauen auf den liquiden Großkun- quenz einer allzu strengen Reinlich- „Soll mir kein Psychologe kommen den schaffte sich der Filialleiter einen keitserziehung beim Kleinkind. Das und sagen, wer den Jackpot knacken Mercedes und eine Eigentumswohnung wehre sich durch die Zurückhaltung des will, sei anal, oral, genital oder sonstwie an. Stuhls gegen die peniblen, auf Regelmä- neurotisch gestört“, erklärt Breloer, Aber daß nun ein halbes Volk in die ßigkeit fixierten Hygieneforderungen „das sind Leute wie du und ich.“ Und Spielsucht getrieben werde, wie Uwe seiner Eltern. wer den Jackpot gewinne, also die run- Jens offenbar fürchtet – an dieser Mut- In ausführlichen Gesprächen über den 42 Millionen, der könne sich – für maßung haben Wissenschaftler ihre den „Geldkomplex“ will Seelenarzt vorhandene oder entstehende Psycho- Zweifel. Freud auch noch „die hartnäckigsten macken – die teuersten Therapeuten der

Sachpreise bis zu Freizeitarbeit Die beliebtesten Gameshows 250000 Mark Preise von maximal 100000 Mark plus 840000 Zuschauer Mittelklasse-Auto pro Sendung 6,8 Millionen Zuschauer pro Sendung seit Januar 1994 RTL RTL ZDF Der Preis ist heiß 100000 Mark Show Goldmillion mit Harry Wijnvoord mit Ulla Kock am Brink mit Wolfgang Lippert „Daschz isch schade“, sagt Nur die Peitsche fehlt der TV- Durchs Labyrinth führt Slimfast-Harry, der Herr mit Domina. Ihre Spielsklaven tun alles, der Weg, „Lippi“ bleibt dem Kaffeefahrten-Charme. und das auch noch freiwillig. meist drin hängen. seit Mai 1989 seit Oktober 1993 Preise von 10000 bis Sachpreise von 60000 15000 Mark plus Mit-

bis 100000 Mark TAUBERT/ACTION PRESS Sachpreise oder Bargeld telklasse-Auto bis zu 25000 Mark 4,5 Millionen Zuschauer 3,7 Millionen Zu- pro Sendung 2,7 Millionen Zuschauer schauer pro Sendung pro Sendung SAT 1 SAT 1 Geh aufs Ganze Glücksrad mit Jörg Draeger mit Frederic Meisner und Peter Bond

Der Mann mit dem Schnauzer vor verhäng- PRESS Es dreht, dreht und dreht (von 5000 Mark ten Bühnen – entweder ein Auto oder der bis bankrott), und dreht und dreht. „Zonk“. „Zonk“ heißt Niete. Zu Recht. CTION

seit November 1988 seit Januar 1992 HEINZ/A

DER SPIEGEL 37/1994 101 .

TITEL „Lotto hat kein Gedächtnis“ Der Berner Mathematik-Professor Hans Riedwyl über die Psychologie des Tippens

Riedwyl, 58, hat die bislang um- zahl 13 und die magische 7. Werden kombinationen. Ein guter Lottospie- fangreichste Lottostudie verfaßt. solche Ziffern ausgelost, gibt es re- ler spielt gegen alle anderen Betei- Als Datenmaterial dienten ihm ins- gelmäßig besonders viele Gewinner. ligten. Wenn er weiß, wie die spie- gesamt 17 Millionen Zahlenrei- SPIEGEL: Wer den Jackpot allein ha- len, kann er sich anders verhalten hen. ben will, muß biographische Daten und so seine Gewinnerwartung ma- meiden? ximieren. SPIEGEL: Herr Professor, dieses Mal Riedwyl: Richtig. Die Tipp-Techni- SPIEGEL: Welche Fehler kann der lagen gut 60 Kilo Tausendmark- ken ähneln sich. Viele Leute zeich- Lottolaie noch machen? scheine im Lotto-Jackpot. Hätten nen ihre Kreuzchen so auf den Riedwyl: Wir haben beobachtet, daß Sie einen todsicheren Tip geben Schein, daß der Rand ausgespart alle bislang gezogenen Gewinnkom- können? wird – vergleichbar einem Brief- binationen der Vergangenheit ge- Riedwyl: Im System 6 aus 49 gibt es schreiber. Häufig werden auch geo- häuft in der Statistik erscheinen. Je- knapp 14 Millionen Zahlenkombi- metrische Figuren ins Kästchenfeld der Tip, der mal einen Fünfer oder nationen und beim Sechser mit Su- gezeichnet. Die Diagonale von links Sechser gebracht hat, wird immer perzahl 140 Millionen. Wer sie alle oben nach rechts unten – 1, 9, 17, 25, wieder aufgeschrieben. ankreuzt, wird garantiert Lottomil- 33, 41 – tippen jede Woche Zehntau- SPIEGEL: Alte Glückszahlen, noch lionär. sende von Spielern. einmal gezogen, verhageln also die SPIEGEL: Das entspräche drei Lkw- Quote? Ladungen von Tippscheinen. Geht’s Riedwyl: Ja. Ein schönes Beispiel da- nicht ein bißchen einfacher? für ereignete sich 1977. Damals wur- Riedwyl: Leider nein. 1763 hat der den im deutschen Lotto exakt die Baseler Mathematiker Leonhard Zahlen ausgelost, die in der Vorwo- Euler die Gewinnchancen im Zah- che im holländischen Lotto ermittelt lenlotto errechnet und der Berliner worden waren. 205 Deutsche hatten Akademie vorgetragen. Seine For- sechs Richtige. mel gilt unverändert. Die Wahr- SPIEGEL: Wie tippt der Profi? Mit scheinlichkeit, einen Super-Sechser System? anzukreuzen, ist geringer, als mit Riedwyl: Systemscheine bringen dem Flugzeug abzustürzen. nichts. Ich empfehle folgende Tipp- SPIEGEL: Amerikanische Tipp-My- Strategie: Eine entsprechende An- stiker empfehlen, sich von Biorhyth- zahl von Spielkarten durchnumerie- men oder den Sternen inspirieren zu ren, gut mischen und dann sechs lassen. Karten ziehen. Würden alle Spieler Riedwyl: Das sind Scharlatane. Bei nach diesem Zufallsprinzip verfah- der Lottoziehung regiert der nackte ren, könnten sich nie solche Unsum- Zufall und sonst gar nichts. men im Jackpot anhäufen. SPIEGEL: Zehn Wochen lang ist der SPIEGEL: Angesichts der geringen Jackpot nicht geknackt worden. Ein Gewinnchancen schwappt jeden

Sprecher der Staatlichen Lottoge- KEYSTONE / DPA Samstag um acht eine Frustwelle sellschaft hat gesagt, das spreche Statistiker Riedwyl durch die Wohnstuben. Ist die staat- „jeder Statistik Hohn“. „Das Unwahrscheinliche tritt ein“ lich geförderte Verlotterung der Re- Riedwyl: Die Aussage kann ich nicht publik überhaupt zu verantworten? teilen. Daß der Jackpot so lange SPIEGEL: Gibt es noch andere Figu- Riedwyl: Das ist sicher ein Problem. nicht abgeräumt wurde, liegt allein rationen, die häufig auftauchen ? Auch das Lotto kann spielsüchtig bei den Spielern. Die meisten Tips Riedwyl: Zahlenreihen quer über machen. Aber wenn Sie nur einen werden auf vergleichsweise wenige den Schein, angekreuzte Eckfelder, Schein ausfüllen, ist die Sache in Zahlenkombinationen gesetzt, und Zickzack-Linien – alle nur denkba- Ordnung. Lotto ist das Börsenspiel deshalb bleiben viele leer. Unsere ren Muster. 1988 wurden einmal die des kleinen Mannes. Er freut sich Computerauswertungen ergaben, Zahlen 24, 25, 26, 30, 31, 32 ausge- auf etwas – und wird meistens ent- daß 25 Prozent aller abgegebenen lost. Das ergibt einen Block in der täuscht. Tips auf nur zwei Prozent der mögli- Mitte des Tippfeldes. Bei der Zie- SPIEGEL: Sie selbst betätigen sich chen Kombinationen entfielen. hung gab es 226 Sechser. auch als Glücksritter. Haben Sie zu- SPIEGEL: Wie sind solche Häufun- SPIEGEL: Besonders clevere Leute fällig schon mal gewonnen? gen zu erklären? wählen Zahlen, die in der Lotto- Riedwyl: Bisher nur kleine Beträge. Riedwyl: Viele Tips bestehen aus chronik besonders selten auftau- Aber ich tröste mich mit dem grie- Geburtsdaten, Monats- oder Jahres- chen . . . chischen Philosophen Aristoteles. zahlen. Ganz vorne liegt die 19. Die Riedwyl: Das Lottospiel hat kein Ge- Der hat gesagt: Zur Wahrscheinlich- großen Ziffern über 31 sind unterbe- dächtnis. Gerade solche Anti-Tips keit gehört auch, daß das Unwahr- legt. Beliebt sind auch die Glücks- gehören zu den beliebtesten Zahlen- scheinliche eintritt.

102 DER SPIEGEL 37/1994 .

Welt leisten. Kein Grund zur Sorge al- kann: die Befreiung Ausreichend Geld zu so. von der Lohnarbeit; ei- haben, das bleibt am Ob jemand nach Geld giert oder sich nen angehobenen Sozi- Ende die einzige ver- bescheiden gibt, hängt offenbar nicht alstatus (oder wenig- trauenswürdige Stütze davon ab, wieviel er besitzt. Nicht die stens seine Symbole); in einer Gesellschaft, in Schichtzugehörigkeit, nicht das Ein- die Droge Alkohol der sich auf Kinder, kommen, nicht das Eigentum sei ent- in jeder gewünschten Sippe, Nachbarn kaum scheidend über das Verhältnis des Menge; den Sitzplatz in noch bauen läßt. Menschen zum Geld, ermittelte der der Concorde und da- Was machen denn amerikanische Soziologe Lewis Ya- mit gesteigerte Mobili- die Lottogewinner für blonsky; das Verhältnis zum Geld sei tät; und Lustgewinn, gewöhnlich? Sie leben vielmehr eine Frage des individuellen wie ihn der Rockbarde weiter wie bisher, nur Charakters. besingt: „Du kannst dir eben gesicherter. Egal ob arm oder reich, in jeder keine Liebe kaufen, Jahr für Jahr über- Einkommensschicht fand Yablonsky 70 aber eine dunkle Li- bringen die lottoamt- Prozent, die einigermaßen zufrieden mousine und ein lichen Glücksboten

waren mit ihrem Kontostand – gegen- 16jähriges Mädchen.“ GAMMA / STUDIO X Hunderten von Groß- über 30 Prozent, die unbedingt mehr Längst nicht bei al- gewinnern die gute

haben wollten. len, die Woche für Wo- J. BARR / Nachricht. Die ihnen Der Psychologe Michael Argyle von che auf dem Lotto- Spekulant Trump die Tür öffnen, verfal- der Universität Oxford bestätigt den schein ihr Milliönchen Ohne Reichtum nicht glücklich len (nach einer sprach- Befund: Die Wechselbeziehung zwi- einfädeln, geht es um losen Schrecksekunde) schen Glück und Reichtum sei „er- den schillernden Seifenblasentraum vom dem Jauchzen, Schreien oder Schluch- staunlich schwach“. In einer amerikani- schier unerschöpflichen Goldregen. Ein zen. Aber wie sie sich in dem wahr ge- schen Untersuchung stuften sich 100 einziges Mal sechs Richtige tippen – das wordenen Traum dann einrichten, bleibt Multimillionäre kaum glücklicher ein könnte ganz konkret beim Gewinner die meistens doch bescheiden. als 100 aus dem Telefonbuch ausge- soziale Frage lösen. Da ist der Arzt, der seine Praxis abbe- wählte Durchschnittsbürger. Was die Leute nach dem Lottogeld so zahlt; der Ehemann, der seine kranke Aber was macht dann den Spaß aus, hecheln läßt, ist zunehmend auch eine Frau zu einem teuren amerikanischen was entfacht die unbändige Lust, die existentielle Angst, die sich durch das Herzspezialisten bringt; die Sekretärin, Millionen Lottospieler dazu bringt, ih- Wanken sozialer Sicherheiten hochge- die sich schon lange gewünscht hat, ih- ren Wetteinsatz zu wagen? Was am schaukelt hat. Der Gedanke an Geld ist rem Chef zu kündigen. Doch manchmal schärfsten begehrt wird, ist offenbar vielleicht das einzige Schutzmittel gegen neidet den Gewinnern die Umwelt noch der Katapulteffekt, der ruckartige Auf- das gesellschaftliche Beben, und er greift das schmale Glück. stieg aus der Sozialwohnung in die Bel- um sich in demselben Maße, wie Arbeits- Vier Wettfreunde aus dem sächsischen etage. plätze, gewohnte Lohnzuwächse und die Seifhennersdorf, allesamt Mechaniker in Wie sich das Leben ändern würde, Erschwinglichkeit von Wohnraum fragli- einer kleinen Schuhfabrik, gewannen wenn man an die in der letzten Woche cher werden. Ende August 7,7 Millionen Mark. Die ausgelobten 42 Millionen käme, das Die Hoffnung auf den unverhofften Männer beschlossen, das Geld anzule- konnten sich die meisten Mitspieler Batzen Geld wird angefacht durch die be- gen und einfach in ihren Jobs so weiter- wohl nur vage ausmalen. Aber ein soli- rechtigte Frage, woher denn in einer Sin- zuarbeiten wie bisher. Aber Mißgünstige der Lottogewinn von zwei bis drei Mil- gle-Society Hilfe für die unvermeidlichen in der stark von Arbeitslosigkeit betrof- lionen – das ist ein reales Wunschziel, Lebensnöte kommen soll, wenn nicht da- fenen Kleinstadt murrten: „Andere hät- denn das brächte Sonne ins Heim. durch, daß man in die Lage versetzt wird, ten den Arbeitsplatz nötiger.“ Der Bürger im D-Mark-Land weiß, alle dazu erforderlichen Dienstleistun- Auch Lothar Kuzydlowski, 48, Tep- was man für so ein Geld alles kaufen gen zu bezahlen. pichleger aus Hannover-Kleefeld, will bei seinem Lebensstil bleiben. „Lotto- Lothar“, seit langem arbeitslos und schon so blank, daß die Bank ihm das Konto gesperrt hatte, gewann letzten Monat zusammen mit seinem Bruder 7,8 Millionen Mark. Seine erste Entschei- dung: Statt billigen No-name-Dosenbie- res werde künftig nur Markenware ge- trunken. Reporter der Bild-Zeitung begleiteten Kuzydlowski auf seinem Einkaufstrip und erkundeten seine Wünsche: ein Bau- ernhaus für die Gattin, ein Pony für die Tochter und für sich selbst – Inbegriff von Extravaganz – den roten Lamborghi- ni. Das Auto wurde nicht abgeholt. Nicht mal eine Woche hielt Kuzydlowski den Rummel aus. Dann mietete er sich, am Mittwoch vor drei Wochen, ein schlich- tes Wohnmobil und machte sich samt Frau, Tochter und Hund davon. Y F. WILDE Lotto-Gewinner Kuzydlowski*: Statt No-name-Bier nur noch Markenware * Mit Gewinnzahlenreihe.

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WIRTSCHAFT

Umwelt ABGUCKEN BEIM NACHBARN Noch stemmt sich die deutsche Industrie gegen eine ökologische Steuerreform, doch die Front bröckelt: Immer mehr Unternehmensführer plädieren für Umweltabgaben. Erfahrungen in den Nachbarländern zeigen, daß Öko-Steuern die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben – oft aber vor allem dem Finanzminister nützen.

o viel wie in den vergangenen Wo- andererseits aber den Kohle-Bergbau weltabgaben plädieren, setzen wir uns chen hat Arthur Braunschweig subventioniert? verstärkt damit auseinander“, sagt Sschon lange nicht mehr vor dem Wieder einmal ist, glaubt man man- Bernd Dittmann, Leiter der Umweltab- Computer gesessen. Fast täglich läßt er chen Sprechern der Industrie, der Stand- teilung beim BDI. neue Tabellen und Statistiken ausdruk- ort Deutschland in Gefahr, drohen er- Immer mehr Wirtschaftsvertreter fin- ken, immer zum gleichen Thema. hebliche Verwerfungen der deutschen den sogar an den neuen Steuerideen Ge- Braunschweig ist Chef eines Schwei- Wirtschaftsstruktur – mit gewaltigen Fol- fallen. Der Bundesverband Junger Un- zer Verbandes für umweltbewußte Ma- gen für die Arbeitsplätze. ternehmer (BJU) und mehrere grüne nager. Vor kurzem hat er ein Computer- Vor allem die großen Wirtschafts- Unternehmerverbände kämpfen schon programm entwickelt, mit dem Unter- Dachverbände haben lange kräftig gegen lange für die Öko-Reform, neuerdings nehmer ausrechnen können, was sie für Öko-Steuern polemisiert. Als Argumen- aber sprechen sich auch Unternehmens- eine ökologische Steuerreform zahlen tationshilfe orderte der Bundesverband führer wie Edzard Reuter (Daimler- müßten. So eine Reform plant die der Deutschen Industrie (BDI) noch vor Benz) und Bernd Pischetsrieder (BMW) Schweizer Regierung. Deshalb hat kurzem eine Untersuchung beim Finanz- für Öko-Steuern aus. Braunschweig schon 300 Anfragen er- wissenschaftlichen Forschungsinstitut Am Dienstag dieser Woche wollen 16 halten. der Universität zu Köln. Doch weil Öko- weitere Unternehmer, darunter der Neuerdings fragen auch deutsche Un- Steuern dabei deutlich besser alserwartet Chef des AEG-Hausgeräte-Bereichs, ternehmen um Rat. „Die wollen jetzt wegkamen, halten die BDI-Lobbyisten Reiner König, und die Textilfabrikantin abgucken, wie wir damit klarkommen“, die Ergebnisse unter Verschluß. Britta Steilmann, gemeinsam mit dem glaubt der Umweltlobbyist. Doch allmählich stellen sich die Indu- Bund für Umwelt und Naturschutz Zusätzliche Umweltabgaben oder gar strievertreter auf das Unvermeidliche Deutschland (BUND) zu einer ökologi- eine grundlegende ökologische Steuer- ein. „Seit immer mehr Politiker für Um- schen Steuerreform aufrufen. reform: Kaum jemand zweifelt daran, daß auch in Deutschland der Verbrauch natürlicher Res- sourcen künftig erheblich ver- teuert wird. Fast alle Parteien wollen ver- stärkt auf Umweltabgaben set- zen. Und die Chancen für die Einführung einer europaweiten Energiesteuer, über die jahre- lang erfolglos verhandelt wur- de, sind gestiegen: Die Deut- schen wollen sich während ih- rer EU-Präsidentschaft dafür stark machen. Doch welche Steuern sollen in Deutschland eingeführt wer- den, um die Umwelt zu entla- sten? Machen solche Allein- gänge überhaupt Sinn – oder gefährden sie nur die Wettbe- werbsfähigkeit der deutschen Industrie? Wie paßt es zusam- men, daß die Bundesregierung einerseits fossile Brennstoffe wie die Kohle besteuern will,

* Links: Aufräumarbeiten nach dem Chemieunfall bei Hoechst (1993); rechts, Seite 105: verschmutztes Kühl-

wasser aus dem Kohlekraftwerk Offle- K. RUDOLPH / FORMAT ben. Umweltverschmutzer Chemie, Kohle*: Der Verbrauch natürlicher Ressourcen wird erheblich

104 DER SPIEGEL 37/1994 .

Die Öko-Pioniere aus der Wirtschaft haben ihre Strate- Ungleicher Wettbewerb gie von den Schweizern abge- 120 schaut: Im Nachbarland kam Preisentwicklung abzüglich der die Debatte erst in Schwung, als sich renommierte Unter- allgemeinen Lebenshaltungskosten öffentlicher nehmen in Tagesanzeigen 1985=100 Personenverkehr 110 und Unterschriftenaktionen für Öko-Steuern ausspra- chen. „Damit nahm man den Politikern das Alibi, daß 100 Öko-Steuern die Chancen im internationalen Wettbewerb ruinieren würden“, erinnert sich Hans Christoph Bins- 90 wanger, Wirtschaftsprofessor im schweizerischen St. Gal- Benzin len. 80 Die deutschen Unterneh- mer wollen nicht nur von den Quelle: RWI Schweizern lernen. Alle be- *geschätzt obachten genau, wie sich die 70 umstrittenen Abgaben in an- 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 8384 85 86 87 88 89 90 91 92 93* deren Ländern bewähren. Vor allem die skandinavi- schen Länder, aber auch die Niederlan- Dänemark ist der Anteil der Umweltab- wirkungsvolle Steuerreform. Erstmals de, Belgien, Österreich und Polen set- gaben am Steueraufkommen in den ver- wurden in einem Land extrem hohe Ab- zen in der Umweltpolitik auf Steuern. gangenen Jahren schon kräftig gestie- gaben für Umweltsünder vereinbart. Würde Bundesfinanzminister Theo gen. Bis 1998 soll er 15 Prozent ausma- Dennoch gibt es Mängel: „Bislang ko- Waigel (CSU) etwa Umweltsteuern chen. sten unsere Öko-Steuern den Staat nach schwedischem Vorbild einführen, Das Modell ist aus der Sicht der Wirt- mehr, als sie einbringen“, sagt Christ hätte er 48 Milliarden Mark zusätzlich in schaft attraktiv, weil die Lasten über- Steenwegen von den belgischen Grü- der Kasse. Selbst ein Öko-Umbau nach wiegend von den privaten Haushalten nen. polnischem Muster bedeutete 800 Mil- getragen werden. Zwar zahlt auch die Die belgischen Umweltverbände stört lionen Mark Mehreinnahmen. Industrie die neuen Abgaben, die unter vor allem, daß für etliche Bereiche un- BDI-Präsident Tyll Necker hat das anderem auf Kohle, Strom, Benzin, Ab- sinnige Ausnahmeregelungen ausgehan- dänische Modell entdeckt: „Die haben wasser und Abfälle erhoben werden. delt wurden: Bestimmte Verpackungen vorgemacht, wie so etwas funktionieren Aber die Unternehmen werden an an- für Fruchtsaft werden beispielsweise könnte“ (siehe Interview Seite 106). In derer Stelle entlastet. nicht belastet, wohl aber die für Limo- Finanzexperten sind nade. Da hatten sich große Lobbyisten von dem dänischen wie der Verpackungsriese Tetra-Pak of- Modell weniger begei- fenbar erfolgreich zur Wehr gesetzt. stert. „Da wurde auf Die Lobby war in fast allen Pionier- viele Abgaben einfach ländern erfolgreich. Fast überall wur- ein grünes Etikett den jene Industrien geschont, die be- draufgepappt“, weiß sonders viel Energie verbrauchen. Rolf-Ulrich Sprenger, Auch der schweizerische Entwurf und Umweltexperte beim die EU-Pläne für eine CO2-Energie- Münchner Ifo-Institut steuer sehen solche Ausnahmeregelun- für Wirtschaftsfor- gen vor. „Da wo die Öko-Steuern weh schung. Der Len- tun könnten, also umweltpolitisch wir- kungseffekt, also die kungsvoll wären, werden sie weggelas- abschreckende Wir- sen“, kritisiert der Kölner Finanzwis- kung für Umweltsün- senschaftler Karl-Heinrich Hansmeyer. der, fällt schwach aus. Das hat zum Teil absurde Folgen: Für Der Finanzminister Unternehmen mit mittlerem Energie- hatte viel erreicht, die Verbrauch kann es attraktiv sein, noch Umweltlobby wenig. mehr Strom oder Heizöl zu verbrau- Ein typischer Fall: chen, um von den Ausnahmeregelun- Auch in den anderen gen zu profitieren. Pionierländern sind Noch eine andere Ankündigung wur- die meisten Umwelt- de in kaum einem anderen Land umge- abgaben so niedrig, setzt: Nirgendwo gab es eine aufkom- daß sie bislang nur we- mensneutrale Reform, fast immer nutz- nig Veränderungen te der Staat die Gelegenheit, sich zu be- provozierten. dienen. Belgien ist eine Aus- In der Schweiz hat das jetzt zu einem nahme. Dort drängte heftigen Streit geführt. Nun soll die

T. RAUPACH / ARGUS die grüne Partei auf Hälfte des Öko-Steuer-Aufkommens an teurer werden eine umweltpolitisch Unternehmen zurückgegeben werden,

DER SPIEGEL 37/1994 105 .

WIRTSCHAFT

ein Drittel erhalten die privaten Haushal- diese für die Umwelt vergleichsweise und Aufwand bei der Steuereinziehung te, den Rest der Staat. „Wir sind ent- wenig bewirken würden. bei kaum einer anderen Abgabe so gün- täuscht“, klagt Caspar Eigenmann, der Mit der wachsenden internationalen stig wie bei der Mineralölsteuer. beim Schweizer Chemiekonzern Ciba- Verflechtung der Weltwirtschaft mache Dieser Vorzug gefällt auch Bundesfi- Geigy für Umweltschutz zuständig ist. es immer weniger Sinn, beispielsweise nanzminister (CSU). In Ciba-Geigy hatte sich in Zeitungsan- Erspartes zu besteuern, meint Hans- Waigels Amtszeit ist die Mineralölsteuer noncen seit Jahren für eine ökologische meyer. Die Steuerzahler wichen immer drittgrößte Einnahmequelle des Staates Steuerreform stark gemacht. Vorausset- häufiger ins Ausland aus. Also muß der geworden. Allein seit Mitte 1991 stieg der zung sei allerdings, daß die Einnahmen Staat neue Einnahmequellen finden. Steueranteil pro Liter Benzin um 41Pfen- des Staates dadurch nicht erhöht würden. Steigt die Einkommensteuer zu stark, nig. Gegenüber öffentlichen Verkehrs- Trotz aller Vorbehalte sind Finanzex- hemmt das die Leistungsbereitschaft. mitteln ist das Autofahren jedoch noch perten wie Hansmeyer fest überzeugt, Da erscheinen Energiesteuern vielen immer billig (siehe Grafik Seite 105). daß an höheren Energieabgaben kein Experten attraktiver. Zudem ist das Doch das könnte sich schon bald än- Weg vorbeiführt – und das sogar, wenn Verhältnis zwischen Steueraufkommen dern. Am Mittwoch vergangener Woche

„Wer verschmutzt, muß zahlen“ BDI-Präsident Tyll Necker über eine ökologische Steuerreform

SPIEGEL: Herr Necker, ein Teil der niger Geld zur Verfügung und können deutschen Industrie freundet sich mit weniger kaufen. der ökologischen Steuerreform an. Sie Necker: Der Unterschied ist trotzdem auch? gewaltig. Bei Verbrauchssteuern sind Necker: Die Begriffe ökologische Steu- die Voraussetzungen für in- und aus- erreform oder Öko-Steuern gefallen ländische Anbieter im betroffenen mir nicht; beide sind ideologisch be- Land gleich. Und die Exportchancen setzt. Aber der Gedanke, knappe Res- werden nicht verschlechtert. Durch sourcen über höhere Preise zu scho- Produktionssteuern werden dagegen nen, ist ein richtiger und nachvollzieh- unsere Firmen gegenüber ausländi-

barer Grundsatz, der sich in der Ver- schen Konkurrenten benachteiligt. CHRISTIAN SCHULZ / PAPARAZZI gangenheit bewährt hat. Die europäi- SPIEGEL: Mit einem deutlich erhöhten Industrie-Präsident Necker sche Automobilindustrie hat auch des- Benzinpreis könnten Sie sich eher ar- „Ein sinnvolles Modell“ wegen sparsamere Autos entwickelt rangieren? als ihre amerikanische Konkurrenz, Necker: Jede Übertreibung hat uner- Necker: Ein Beispiel, das vom Ansatz weil die Benzinpreise bei uns immer wünschte Folgen. Wenn wir die spar- her in die richtige Richtung führt, ist deutlich höher waren . . . samsten Autos der Welt entwickeln, die Abwasserabgabe. Wer Gewässer SPIEGEL: . . . sie hat es also nicht frei- haben wir im Wettbewerb einen Vor- verschmutzt, muß zahlen; wer Geld für willig getan. teil. Wenn allerdings die Industrie bei umweltfreundliche Investitionen aus- Necker: Der Staat kann durch Um- uns zu stark belastet wird, werden die gibt, kann diese Abgaben verringern. weltgesetze sinnvolle Anreize für neue Spar-Autos vielleicht noch hier kon- Das ist ein sinnvolles Modell, weil hier Technologien geben. Abgaben dürfen struiert, aber anderswo produziert, direkt Anreize für umweltfreundliches allerdings nicht zum Standortnachteil und es gehen Arbeitsplätze verloren. Verhalten entstehen. Da muß nicht für die Produktion in Deutschland SPIEGEL: Die Bundesregierung hat ge- erst Geld vom Staat eingesammelt werden. Darum meinen wir, daß die rade zwei neue Steuerregelungen vor- werden, von dem nachher niemand Kosten für die Nutzung der Umwelt gestellt. Umweltminister Klaus Töpfer weiß, wo es bleibt. nicht den Herstellern, sondern direkt hat Steuernachlässe für benzolarmen SPIEGEL: Sie mißtrauen den Verspre- den Verbrauchern angelastet werden Treibstoff angekündigt, Verkehrsmini- chen der Parteipolitiker, die mit den sollten. ster will die Kraft- Einnahmen aus einer ökologischen SPIEGEL: Wie müßte so eine Öko- fahrzeugsteuer nach Abgaswerten staf- Steuerreform die Arbeitgeberbeiträge Steuer aussehen? feln. Was halten Sie davon? zur Sozialversicherung senken wollen? Necker: Die Dänen, zum Teil auch die Necker: Viel. Da wird versucht, das Necker: Ich rechne nicht mit so einer Belgier, haben vorgemacht, wie so et- Verursacherprinzip konkret umzuset- Gegenfinanzierung. Die Erklärungen was funktionieren könnte: Dort wur- zen: Wer sich bemüht, die Umwelt zu aller Parteien zu dieser Frage bleiben den Steuern erhöht, die wie die Mehr- schonen, soll das am Portemonnaie diffus, die SPD hat die Öko-Steuerein- wertsteuer letztlich vom Endverbrau- spüren. Genau so sollten wir die Len- nahmen sogar schon mehrfach ver- cher bezahlt werden. kungsfunktion des Preises nutzen. plant: für eine Senkung der Lohnne- SPIEGEL: Auch bei erhöhten Ver- SPIEGEL: Gibt es heute schon in benkosten, für Umweltinvestitionen, brauchssteuern spürt die Industrie Deutschland Umweltabgaben, die Sie für die Steuerbefreiung des Existenz- Nachteile: Die Verbraucher haben we- für sinnvoll halten? minimums. Außerdem steht jede Par-

106 DER SPIEGEL 37/1994 vereinbarten in Brüssel Vertreter der Umweltministerien, daß die geplante europaweite Energiesteuer anders aus- sehen müßte als bisher gedacht: Es sol- len keine neuen Abgaben eingeführt, sondern vorerst bestehende Verbrauch- steuern erhöht werden. Wichtigster Po- sten in der Bundesrepublik: die Mine- ralölsteuer. Schöne Aussichten für Waigel oder dessen Nachfolger: Er kann seine ergie- bigste Geldquelle weiter abzapfen – und das Ganze mit Brüssel und edlen Öko- Motiven begründen.

tei vor dem Problem, daß bei erfolg- reichen Umweltabgaben, die zu um- weltfreundlichem Verhalten führen, die Einnahmen immer geringer wer- den. SPIEGEL: Gelingt es, die ökologische Steuerreform aufkommensneutral zu gestalten, profitiert die Wirtschaft ins- gesamt davon, behauptet das Deut- sche Institut für Wirtschaftsforschung. Necker: Nach diesen Berechnungen kommt es zu einer Entlastung für Ban- ken und andere Dienstleister, weil bei denen die Energiekosten kaum ins Ge- wicht fallen. Die Industrie wird bela- stet, wenn die Energiesteuer bei der Produktion ansetzt. Wir haben dann die absurde Situation, daß dem Be- reich, der dem stärksten internationa- len Wettbewerb ausgesetzt ist, die größten Lasten aufgebürdet werden. SPIEGEL: Insgesamt werden laut DIW neue Jobs geschaffen. Necker: Wir bezweifeln das. Das DIW berücksichtigt viel zuwenig die Verla- gerung industrieller Arbeitsplätze ins Ausland. SPIEGEL: Stellen Sie sich schon darauf ein, daß nach den Wahlen neue Um- weltabgaben oder Öko-Steuern einge- führt werden? Necker: Es wird wohl mittelfristig zu- sätzliche Umweltabgaben geben, ganz gleich, wer die Wahl gewinnt. Im Ge- genzug muß mindestens der unüber- sichtliche Wust an Umweltauflagen und Genehmigungshemmnissen ver- ringert werden. SPIEGEL: In der Vergangenheit haben BDI-Vertreter immer wieder direkt im Kanzleramt vorgesprochen, um neue Umweltgesetze zu verhindern. Wollen Sie auch gegen Öko-Steuern interve- nieren? Necker: Wir betreiben keine Verhin- derungspolitik, sondern wollen Lösun- gen, die nicht Arbeitsplätze und die deutsche Industrie gefährden. Dazu werden wir auf allen Ansprech- ebenen tätig. .

WIRTSCHAFT TRENDS

ÖTV Verbände VW-Chef Ferdinand Pie¨ch wünschen sich einen Präsidenten mit mehr Erfahrungen Chefin geht, im internationalen Geschäft. Asche-Geg- Krach im BDI ner favorisierten zwei andere Kandidaten: Probleme bleiben Gegen den von BDI-Präsident Tyll Necker Hans-Olaf Henkel, den künftigen Auf- Die ÖTV-Vorsitzende Moni- ausgeguckten Nachfolge-Kandidaten Klaus sichtsratschef von IBM Deutschland, oder ka Wulf-Mathies, die im Asche regt sich Widerstand. Manche BDI- den Krefelder Maschinenbau-Unterneh- nächsten Januar als EU- Obere ärgern sich über mer Jan Kleinewefers, der Kommissarin nach Brüssel Neckers Alleingang bei als Präsident des Ver- gehen will, hinterläßt einen der Kandidaten-Suche, an- bands Deutscher Maschi- Haufen Probleme. Dem Vor- deren ist der Vorstands- nen- und Anlagenbau stand der zweitgrößten deut- chef der Holsten-Brauerei auch Lobby-Erfahrung schen Gewerkschaft ist es „zu industriefern“. Necker hat. Wenn sich die BDI- bisher nicht gelungen, den hatte dem Bierbrauer auf Vizepräsidenten auf ihrer desolaten Haushalt zu sanie- eigene Initiative in dessen nächsten Sitzung in drei ren. Obwohl in den letzten Urlaub das Amt angetra- Wochen nicht auf einen zwei Jahren 250 von rund gen; dies wurde – bevor Kandidaten einigen, wird 3100 Stellen gestrichen wor- Necker seine BDI-Kolle- es Ende November auf den sind, ist das Defizit auf gen informierte – vorzeitig der Mitgliederversamm- fast 40 Millionen Mark ange- bekannt, als Asche die Ge- lung zum erstenmal in der schwollen – gut 15 Millionen nehmigung seines Auf- BDI-Geschichte zu einer mehr als im vergangenen

sichtsrats einholte. BDI- ACTION PRESS Kampfabstimmung kom- Jahr. Weil jeden Monat rund Präsidiumsmitglieder wie Asche men. 10 000 Mitglieder die ÖTV verlassen, entstehen in die- sem Jahr Einnahme-Ausfälle Automobile Entwicklung einer Alumini- zu informieren. Doch am En- von über 15 Millionen Mark. umkarosserie für das Ober- de wußten sie auch nicht viel: Kritische ÖTV-Mitglieder Die neue klassemodell A 8 forciert. Henkel, der seit zwölf Mona- bezweifeln, daß ihr Vorstand Dadurch konnte er zwar viel ten als erster Deutscher die die finanziellen Probleme be- Leichtigkeit Gewicht sparen, doch die IBM World Trade Europe wältigen kann. Auf dem Ausgerechnet die Sportwa- Produktion ist äußerst kom- mit Sitz in Paris leitet, verläßt außerordentlichen Gewerk- genfirma Porsche, an der pliziert und teuer. Zudem ist zum Jahresende das Unter- schaftskongreß in der näch- VW-Chef Ferdinand Pie¨ch der Aluminiumpreis inzwi- nehmen und zieht sich in den beteiligt ist, arbeitet mit schen stark gestiegen. Wenn Aufsichtsrat zurück. Nach 33 Hochdruck daran, eine wich- sich die leichteren Stahlka- Jahren im Dienste des Com- tige Pie¨ch-Entwicklung über- rosserien durchsetzen, kön- puterkonzerns und vielen flüssig zu machen. Im Auf- nen die Audi-Konkurrenten Jahren im Ausland wolle er trag mehrerer Stahlkonzerne mit wesentlich weniger Auf- „endgültig in die Heimat zu- entwickelt das Technik-Zen- wand den gleichen Gewichts- rück und noch mal etwas trum von Porsche eine beson- vorteil erzielen. ganz Neues anfangen“, er- ders dünne und leichte Stahl- klärte er den verdutzten Kol- karosserie. Das Gewicht ei- IBM legen. In seiner Zeit als ner Automobilkarosserie, Deutschland-Chef habe er durchschnittlich 280 Kilo, Henkel fast 8000 Angestellte in den soll damit um 80 Kilo gesenkt Vorruhestand geschickt, nun werden. Die Stahlfirmen, un- fängt neu an müsse er „die eigene Medizin ter ihnen Thyssen, British Genau eine halbe Stunde auch mal selber schlucken“. Steel und Nippon Steel, wol- nahm sich Hans-Olaf Henkel Auf fast allen Sprossen der len beweisen, daß Autoher- am Mittwoch vergangener Karriereleiter sei er der Jüng- steller auch mit Stahl leichte- Woche Zeit, um die Topma- ste gewesen. Nun stellte re Fahrzeuge herstellen kön- nager der IBM-Deutschland Henkel, 54, fest, „daß ich nen. Pie¨ch hatte bei Audi die über seine beruflichen Pläne bald zu den 200 ältesten

IBMern in Deutschland ge- G. STOPPEL höre“. Wie er den selbstver- Wulf-Mathies ordneten Vorruhestand ge- stalten will, ließ der Mana- sten Woche will der Bezirk ger, der sich auch immer wie- Hamburg beantragen, das der in der Wirtschaftspolitik Personal- und Finanzwesen engagierte, aber völlig im externen Profis zu übertra- dunkeln. Klar ist nur, daß er gen. „Das Fehlen jeder Per- sich nicht mit dem Aufsichts- sonalplanung und die nach ratsposten begnügen wird. wie vor undurchsichtige Schon bei seinem Verwal- Haushaltswirtschaft und Fi- tungsjob in Paris fühlte sich nanzplanung“, so monieren Henkel offenbar nicht ausge- die Hamburger, „haben we- lastet und klagte im engen sentlichen Anteil an der

IVB-REPORT Kollegenkreis über „zuwenig Schieflage der Organisati- Alu-Audi A 8 Gestaltungsmöglichkeiten“. on.“

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Pleiten Hinhalten und vertrösten Das Baugewerbe boomt wie keine andere Branche im Osten. Doch die Zahl der Konkurse wächst.

igentlich müßte es dem Magdebur- ger Bauunternehmer Manfred Stie- Eger blendend gehen. Vor vier Jah- ren bekam er das 1912 gegründete Fami- lienunternehmen zurück; der Betrieb läuft, seine 95 Leute sind gut beschäf-

tigt. F. BIERSTEDT / OSTWESTBILD Doch Stieger lebt „an der Schmerz- Baustelle in Ostdeutschland: „Kaum einer zahlt pünktlich“ grenze“. Vergangenen Monat konnte er wieder einmal nur mühsam die Lohngel- hat die Buchhaltung registriert; einer gestartet waren, sind schon in den er- der zusammenkratzen. Ein Kunde ist in begleicht jetzt in Monatsraten von 8000 sten Jahren nach der Vereinigung zu- Konkurs gegangen, andere begleichen Mark eine Rechnung vom August 1991. sammengebrochen. ihre Rechnungen mit monatelanger Viele Unternehmen mit hohen Schul- Wenn heute ein Unternehmen in Verspätung. „Kaum einer zahlt pünkt- den und noch höheren Außenständen Konkurs gehe, liege das kaum noch an lich“, klagt der Unternehmer. stehen so etwas nicht durch. Zügig Managementfehlern, meint Volker Das hat im Osten Tradition. Ob Kom- wächst in Ostdeutschland die Zahl der Spoer. „Die Hauptursache sind inzwi- munen, Firmen oder Privatleute: Wer Konkurse, mitten im Aufschwung Ost schen Zahlungsausfälle“, weiß der Ge- eine Rechnung erhält, schiebt sie erst rollt eine Pleitewelle durchs Land. Es schäftsführer des Baugewerbeverbands einmal in die Schublade, zu den Mah- kracht vor allem im Baugewerbe – einer Sachsen-Anhalt. nungen. Branche, die boomt wie keine andere. Auch Spoers Kollege Bernd Gajda Es sei nicht so schwierig, Aufträge zu Mit vollen Auftragsbüchern stürzten in vom Baugewerbeverband Mecklen- holen, merkte Gerd Hofmann, Ge- den ersten sechs Monaten dieses Jahres burg-Vorpommern hört ständig Klagen schäftsführer der Prüftechnik und Me- 331 ostdeutsche Baufirmen ab, fast so über die Zahlungsmoral: „Oft wird die tallbau Leipzig: „Die richtigen Proble- viele wie im gesamten Jahr 1993 (siehe Rechnung erst nach der dritten Mah- me kommen erst danach“ – nämlich Grafik Seite 114). nung bezahlt.“ dann, wenn er sein Geld eintreiben will. Es trifft vergleichsweise solide Fir- Ende vergangenen Jahres meldete in Wie nahezu alle Ost-Betriebe muß men. Zahlreiche Betriebe, die mit viel Zeitz die Baufirma Müller & Wolff auch die Magdeburger Elbebau lange Optimismus aber wenig Eigenkapital (400 Beschäftigte) Konkurs an. Einer auf ihr Geld warten. 80 säumige Zahler und Erfahrung in die Marktwirtschaft der Gründe waren „schleppende Zah- lungseingänge“, sagt der ehemalige Geschäftsführer Jens Vogler. Westdeutsche wie Vogler wundern sich noch immer über die seltsame Zahlungsmoral im Osten. Vogler: „Wenn nicht bezahlt wird, heißt es: Na und?“ So ließ sich die Gemeinde Roggentin bei Rostock einen schönen Gewerbe- park anlegen. Als das mit den Pla- nungsarbeiten beauftragte Hamburger Architektenbüro im Sommer 1992 die Rechnung – 104 000 Mark – schickte, winkte die Bürgermeisterin ab: Sie ha- be leider kein Geld. Die Hamburger Architekten warten seitdem auf den Betrag. Mancher Auftraggeber könnte die Rechnung pünktlich zahlen. Doch er legt lieber das Geld erst einmal zu fünf Prozent Zinsen bei seiner Bank an. In dem Dorf Staschwitz, etwa 30 Ki- lometer südlich von Leipzig, durfte die Mühlberg Dachsysteme GmbH zwei

K. STRAUBE Wohnblöcke sanieren. Die Abschlag- Unternehmerin Kühne, Arbeiter: „Die wichtigste Abteilung ist das Mahnwesen“ zahlungen wurden nie pünktlich über-

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wiesen. Als wieder einmal eine ein Relikt aus DDR-Zeiten, als Zahlung über 60 000 Mark aus- jeder gegen jeden eine Forde- blieb, ließ Firmenchef Dieter Einstürzende 335 rung hatte. Wer „Edelfleisch“ Mühlberg seine Sekretärin beim Neubauten 331 lieferte, bekam im Gegenzug – Auftraggeber, der Gemeinde irgendwann – Tapeten; der Langendorf, telefonisch anmah- Konkursanträge im Mann mit den Tapeten ver- nen. Bauhauptgewerbe in den sorgte auch seinen Nachbarn, Das Bürgermeisteramt fertig- neuen Bundesländern der ihm dafür neue Trabi-Rei- te die Anruferin barsch ab: Sie fen in Aussicht stellte. So hat solle das Drängeln unterlassen, sich alles irgendwie zurechtge- die 60 000 Mark würden frühe- rüttelt. stens in vier Wochen überwie- Die alte Denkweise hat die sen.DieGemeinde,sodieErklä- 97 Wende überlebt. Der Bauun- rung, habe ihre Mittel als Fest- ternehmer, der auf sein Geld geld angelegt. Mühlberg hat in- warten muß, vertröstet seinen zwischen Konkurs angemeldet. Baustoff-Lieferanten; der wie- Der nonchalante Umgang mit derum läßt sich die Reparatur- fälligen Zahlungen ist offenbar 26 Rechnung für seinen Lkw stun-

1991 1992 1993 1. Halbjahr 1994

Anstieg +273% +245% +128%* nat Konkurs an. Da erst „Das tut gegenüber merkte mancher Hand- dem Vorjahr werksmeister, daß er ja nicht für Uwe Seeler ar- dolle weh“ beitete, sondern einen Zum Vergleich: +179% +113% +76%* Vertrag mit der Firma Sol- Uwe Seeler hat einen gu- Anstieg aller terbeck hatte. Unternehmens- ten Ruf in Deutschland, Der Einkaufsmarkt in und so machten Baufir- konkurse im Osten Magdeburg ist fertig und men und Handwerksbe- *gegenüber dem 1. Halbjahr 1993 wird den Investoren eine triebe gern mit, als die sehr gute Rendite bringen: „Uwe Seeler + Partner Projekt beck-Bau-Stralsund GmbH, die Der Bau kostete 3,9 Millionen Magdeburg GbR“ einen Verbrau- rechtlich nichts mit der Solterbeck- Mark und wirft eine Jahresmiete chermarkt in Magdeburg und einen Bau-Gesellschaft mbH in Kiel zu tun von 342 000 Mark ab. Fachmarkt-Komplex im nahen hat. Schlimm trifft die Pleite eine Staßfurt errichtete. Die Trennung der beiden Solter- ganze Reihe von Ost-Betrieben, die Uwe Seeler hat aber auch einen beck-Firmen war eine weise Ent- nun wochenlang umsonst gearbeitet Geschäftspartner, dessen Ruf nicht scheidung, wie sich später heraus- haben. Die meisten der etwa 30 ganz so gut ist: Jens Solterbeck, ein stellen sollte. Die Stralsunder Firma Solterbeck-Opfer wissen noch großspurig auftretender Bauunter- war Generalunternehmer für die nicht, ob und wie sie die Verluste nehmer aus Kiel und Mäzen des Bauten in Magdeburg und Staßfurt. verkraften können. HSV („Ich hole Maradona“). Die Das Fußball-Idol und seine steuer- 450 000 Mark muß die Staßfurter beiden Projekte betreute die Solter- sparenden Freunde finanzierten die Installationsfirma Schulter abschrei- Ost-Investition. Ihr Geld ben; Dierk Schulter („Mit uns ist ging an die Solterbeck- ein böses Spiel getrieben worden“) Bau in Stralsund, und die glaubt nicht, daß er den Konkurs vergab die Aufträge an seines Unternehmens (13 Beschäf- regionale Baufirmen. tigte) vermeiden kann. Anfangs, so erinnert Zwar hat die Schlosserfirma sich ein Bauunterneh- Schaulatys nur einen Ausfall von mer, zahlte Solterbeck 21 000 Mark zu verwinden, aber pünktlich die Abschlag- auch dieser Betrag reißt dem Drei- zahlungen. Dann floß Mann-Betrieb ein böses Loch in die das Geld weniger pünkt- Kasse. 60 000 Mark fehlen der Ma- lich und schließlich über- lerfirma Kröning, 240 000 Mark haupt nicht mehr. dem Bauunternehmer Manfred Seeler und seine drei Stieger: „Das tut dolle weh, aber Partner, jeder mit 25 ich denke, daß wir’s überstehen.“ Prozent beteiligt, müssen Vorletzte Woche meldete Jens die beiden Objekte in Solterbeck, nach eigener Aussage Magdeburg und Staßfurt „im ganzen Osten aktiv“, auch für knapp kalkuliert haben. seine Kieler Firma Konkurs an. BONGARTS Ihrem Generalunterneh- Darüber wird noch manche Ost-

FOTOS: mer aus Stralsund ging Firma stolpern: Der selbsternannte Geschäftspartner Solterbeck, Seeler das Geld aus, und er HSV-Mäzen hinterläßt 38 Millionen Kein Geld für die Ost-Firmen meldete vor einem Mo- Mark Schulden.

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den, und die Kfz-Werkstatt kann vorerst ihren neuen Zaun nicht bezahlen. So bildet sich eine Kette von Betrie- ben, die alle gut ausgelastet sind, aber wenig Geld auf dem Konto haben. Wer dann die fälligen Krankenkassen-Beiträ- ge nicht pünktlich überweisen kann, steht vor der Pfändung und damit vor dem Ruin. Kaum eine der vor wenigen Jahren gegründeten Firmen hat Rücklagen bil- den können. Und ebenso gering wie das Eigenkapital der Betriebe ist die Bereit- schaft der Banken, mit zusätzlichen Krediten zu helfen. Nach Spoers Erkenntnis pumpen Banken einem ostdeutschen Unterneh- men nur halb soviel wie einer vergleich- baren West-Firma. Gleichzeitig hat der Ost-Unternehmer 50 Prozent höhere Außenstände als sein Kollege im We- sten. Geduldig warten die meisten Ost-Be-

triebe darauf, daß schließlich doch AP noch, irgendwann, gezahlt wird. Die Ford-Chef Trotman: Der gesamte Konzern wird gründlich umgebaut Hemmschwelle, einem säumigen Zahler den Gerichtsvollzieher ins Haus zu Nun wollen beide gemeinsam in die schicken, liegt im Osten erheblich höher Automobile Offensive gehen. Geplant ist eine welt- als im Westen. weite Zusammenarbeit in Produktion, Zu den wenigen Betrieben, die sich Entwicklung und der Ressourcennut- nicht monatelang hinhalten lassen, zählt zung. Mit Hilfe der Japaner will Ford die Magdeburger Firma Asphalt Kühne. Wichtiger vor allem auf den asiatischen Märkten „Bei mir gibt’s nur eine Mahnung“, sagt eine dominierende Position erobern. die Chefin Christiane Kühne – dann Trotman, im November vorigen Jah- schaltet sie ihren Rechtsanwalt ein. Pfeiler res zum Chefmanager der zweitgrößten Auch wenn sie bei schleppender Zah- Automobilfirma der Welt berufen, hat lung gleich ihre Leute und Maschinen Der US-Konzern Ford hat ehrgeizige vor wenigen Monaten einen gründlichen von der Baustelle abzieht, so ihre Erfah- Ziele: Er will, zusammen Umbau seines Konzerns eingeleitet. rung, kommt plötzlich ganz schnell das Von 1995 an sollen die wichtigsten Be- Geld. mit Mazda, weltweit expandieren. reiche Entwicklung, Produktion, Ein- Die Diplomingenieurin („Ich hatte ei- kauf und Verkauf weltweit von einem nen sehr guten Unternehmensberater“) en japanischen Autohersteller zentralen Management geführt werden. hat gelernt, wie schnell ein Betrieb in Mazda, sinnierte Ford-Chef Alex Auch in der Modellpolitik wird künftig die Pleite trudeln kann, wenn das Geld DTrotman vor Kollegen, „haben nur noch im Weltmaßstab gedacht. nur spärlich fließt. „Die wichtigste Ab- wir kurz vor dem Ertrinken aus dem In der neuen Strategie könnte Mazda teilung in meiner Firma“, sagt sie, „ist Wasser gezogen“. Nun stehe er vor für Ford zu einem wichtigen Eckpfeiler das Mahnwesen.“ dem Problem, „lassen wir ihn am werden. Manager-Teams beider Kon- Doch mit viel Nachsicht warten die Strand liegen oder helfen wir ihm auf zerne setzen derzeit Trotmans Vorga- meisten auf die längst fälligen Überwei- die Beine“. ben in konkrete Projekte um. In den sungen. Geduldig sind sie vor allem ge- Trotman hat sich genüber öffentlichen Auftraggebern – entschieden: Der ober- aus Angst, künftig auf eine Liste mißlie- ste Ford-Chef will Fahrgemeinschaft 100 biger Firmen gesetzt zu werden. nicht nur das Überle- alle Angaben weltweit 80 Die Kommunen selbst vergeben oft ben des japanischen Aufträge, bevor die Finanzierung gesi- Konkurrenten sichern; Umsatz 60 chert ist: Das Land hat Fördermittel Mazda soll auch bei 40 versprochen, stellt aber bald fest, daß es der Expansion der 20 die Zuschüsse kürzen muß. Wenn dann Amerikaner eine zen- kein Geld fließt, hat nicht die Stadt ein trale Rolle spielen. Mitarbeiter 1993 0 Finanzierungsproblem, sondern das Seit 15 Jahren schon 1990 1991 1992 1993 Bauunternehmen. ist Ford an Mazda mit in Milliarden Dollar 322000 30000 Als Anfang des Monats, auf einer rund 25 Prozent betei- 2 Vorstandssitzung des Baugewerbever- ligt. Doch Japans 0 bands Mecklenburg-Vorpommern in fünftgrößter Auto- Produktion 1993 Rostock, die Unternehmer über die ver- Konzern ist schwer –2 späteten Zahlungen bei öffentlichen angeschlagen, sieben Gewinn/ –4 Aufträgen grummelten, fragte Hauptge- amerikanische Ford- Verlust schäftsführer Bernd Gajda: „Warum Manager leisten seit 5,7 1,2 –6 lassen wir uns das gefallen?“ geraumer Zeit Sanie- Millionen Fahrzeuge –8 Eine Antwort hat er nicht erhalten. Y rungshilfe.

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dells, das mit den bei- den Flaggschiffen Le- xus von Toyota und Acura von Honda kon- kurrieren sollte. Ende 1992 mußte Mazda das Projekt stoppen. Die Abgesandten von Ford haben inzwi- schen zusammen mit der neuen Konzern- führung bei Mazda kräftig aufgeräumt. Deren wichtigster Kre- ditgeber und zweit- größter Aktionär, die Sumitomo-Bank, for- ciert nunmehr die Zu- sammenarbeit mit den Amerikanern. Offen- bar haben die Bankiers erkannt, daß Mazda nur so im Wettbewerb mit den größeren Kon- kurrenten bestehen kann.

H. SAUTTER / FOCUS Die Bank kann es Mazda-Fertigung in Japan: Ford-Abgesandte räumten kräftig auf sich allerdings nicht leisten, Ford durch Mazda-Werken in Thailand, Malaysia, daß sie ihre Produktion drastisch dros- den Verkauf ihrer Anteile den Weg zur Indonesien, Pakistan und auf Taiwan seln und reihenweise Fabriken schließen Mehrheit zu ebnen. Eine Übernahme sollen in wenigen Jahren auch Ford-Mo- mußten. wäre für die japanische Wirtschaft ein zu delle montiert werden. Gut ein Jahrzehnt haben die US-Her- großer Gesichtsverlust. Eine erste Vorhut unter Leitung von steller benötigt, ihre Werke zu sanieren Gegen eine fusionsähnliche Zusam- Norbert Kühne, dem ehemaligen Fi- und die Technik zu modernisieren. Der menarbeit der Konzerne gibt es dagegen nanzchef von Ford in Köln, bereitet mit Kraftakt hat sich gelohnt. Zum ersten- keine Einwände. In vielen Werken, vor rund hundert Mitarbeitern den Bau ei- mal seit 1980 werden die Amerikaner allem in Asien, wollen die beiden Part- ner gemeinsamen Fabrikation in China wieder mehr Fahrzeuge herstellen als ner nach dem Vorbild von Flat Rock, vor. Die Manager richten dort zur Zeit die asiatischen Konkurrenten. Michigan, verfahren. Dort rollt seit eini- Büros ein und schließen Verträge mit Ein erstaunlicher Wandel: Der US- gen Jahren das von Mazda konstruierte potentiellen Zulieferfirmen ab. Konzern Ford, den die Konkurrenten Sport-Coupe´ Ford-Probe von den Bän- In Japan, dem zweitgrößten Auto- aus Fernost schon nicht mehr ernst nah- dern. Die von den Amerikanern entwik- markt der Welt, peilt Ford 1998 einen men, muß heute beim Mazda-Konzern, kelten Typen sollen dagegen verstärkt Absatz von über 200 000 Fahrzeugen der wie alle japanischen Hersteller den auf den asiatischen Märkten mit dem pro Jahr an. Ein ehrgeiziges Ziel: Im vo- dort eingeführten Mazda-Emblem ver- rigen Jahr verkaufte der Konzern dort marktet werden. aus der amerikanischen Fertigung ledig- Die Amerikaner wollen Die koreanische Automobilfirma Kia, lich 5111 Fahrzeuge und erreichte nicht in Deutschland an der beide Konzerne beteiligt sind, einmal ein Fünftel der Verkaufszahlen wird in dem Verband wegen der niedri- von Mercedes, dem größten ausländi- japanische Autos bauen gen Produktionskosten eine wichtige schen Importeur in Japan. Funktion übernehmen. Einen vom Maz- Intern gibt Trotman schon die Losung Nimbus der Unbesiegbarkeit genoß, da 121 abgewandelten Kleinwagen läßt aus, Ford müsse General Motors (GM), Entwicklungshilfe leisten. Ford bei Kia bauen, er wird in Japan un- den größten Automobil-Konzern der Dem Ford-Partner haben 1993 nicht ter der Bezeichnung Festiva und in den Welt, überrunden. Diese Hürde wird nur, wie seinen heimischen Mitbewer- USA als Aspire vermarktet. schwer zu nehmen sein: Der Umsatz des bern auch, die schlechte Inlandskon- Gleichzeitig soll die Position von Erzrivalen aus Detroit liegt um rund ein junktur und der hohe Yen-Kurs zuge- Mazda in Europa gestärkt werden. Hier Viertel höher. setzt. Mazda hatte zusätzlich noch die verfügt der Konzern, als einziger unter Ford hat jedoch stark aufgeholt, bei Folgen schwerwiegender Management- den größeren Automobilherstellern Ja- den Gewinnen ist der Branchen-Zweite fehler zu verkraften. pans, noch über keine eigene Fabrikati- bereits an dem größten Autobauer vor- Obwohl das Unternehmen in Japan on. beigezogen. Noch vor kurzem schien ei- nur einen Marktanteil von knapp sechs Das soll sich ändern. Die Amerikaner ne solche Entwicklung undenkbar. Prozent besitzt, baute die Firmenfüh- haben auch schon einen Standort ausge- Nicht nur um Ford, sondern auch um rung für die unterschiedlichen Modell- sucht: das Ford-Werk in Saarlouis. die Konkurrenten GM und Chrysler reihen fünf getrennte Vertriebsnetze Die saarländische Automobil-Fabrik, stand es in den achtziger Jahren so auf. Das leisteten sich nicht einmal weit eine der modernsten Europas, ist der- schlecht, daß Fachleute den Niedergang größere Konkurrenten wie Nissan oder zeit nicht ausgelastet. Nun verhandeln der US-Autoindustrie für unabwendbar Mitsubishi. Ford und Mazda, welches Modell der hielten. Die japanische Konkurrenz hat- Eine Schlappe erlitt Mazda auch mit Japaner in Deutschland montiert wer- te den drei Autogiganten so zugesetzt, der Entwicklung eines Oberklasse-Mo- den kann. Y

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Doktor ball Dreams II (21st Century) hingegen am Computernetz folgt der Bildausschnitt dem Lauf des vir- tuellen Stahlballs. Die Kugel rast über Plug’n’Play – anschließen, Rampen, prallt an Kontaktfeldern ab loslegen, so heißt ein verfüh- oder verschwindet in einem Tunnel. Den rerischer Slogan der Compu- variantenreichen PC-Flipper Android terbranche. Eingelöst jedoch (Epic Mega Games) kann der Spieler als wurde das Versprechen, daß Shareware zunächst umsonst ausprobieren dem PC-Benutzer bei einer – derselbe Hersteller offeriert noch sieben Erweiterung seiner Hard- weitere programmierte Kugelbahnen. ware alle Sorgen abgenom- Auch Einsteiger, die bei Willi’s Pinball men werden, bislang nicht. (BHV Verlag) die Kugel rollen lassen, Darunter leiden vor allem dürfen unentgeltlich spielen und das Pro- viele PC-Benutzer, die ein Computerflipper „Tristan“ gramm zudem uneingeschränkt weiterko- Modem anschließen und sich pieren (Freeware). Neuerdings können per Telefonleitung in die Da- sich Flipperfans sogar unterwegs die Ku- tennetze einklinken wollen – Rütteln am Rechner gel geben: Die Spielkassette Kirby’s Pin- oft blockiert der Rechner, Videospielautomaten haben die wuchti- ball Land verwandelt den Handcomputer oder es erscheinen wirre Zei- gen Flippermaschinen aus den Kneipen Game Boy von Nintendo in einen Ta- chen auf dem Bildschirm. Er- verdrängt, seither holen sich die Freaks schenflipper – für die Augen ist der win- ste Hilfe leistet das Pro- am heimischen Computer einen Freiball zige Bildschirm allerdings eine Qual. gramm Modem Doctor aus nach dem anderen. Als Champion unter den USA. Zwar kann der den Flipperprogrammen gilt Tristan „Tristan“ (für Apple „Macintosh“ und PC). Amtex Soft- Doktor Fehler, die er im Mo- (Amtex Software): Es gibt Bonuszonen, ware, Belleville/Kanada; 69,95 Dollar. „Pinball Dreams dem oder im Computer auf- Kugelfallen und einen Jackpot wie im II“ (für PC). Vertrieb: Joysoft, Köln; 39,90 Mark. „Epic gespürt hat, nicht selbst be- richtigen Leben, mit der Leertaste kann Pinball“ (für PC). Rowohlt/Systhema Verlag, München; heben. Dafür präsentiert er, der Spieler sogar das Rütteln am Gerät 24,90 Mark. „Willi’s Pinball“(für PC). BHV, Korschen- auf Englisch, eine treffsiche- simulieren. Tristan präsentiert die gesam- broich „Kirby’s Pinball Land“ (für Game Boy). Nintendo; re Diagnose des Problems te Kugelbahn auf dem Monitor, bei Pin- 69 Mark. und teilt anschließend am Bildschirm mit, welche Ein- stellungen verändert werden Kremlin CD Guide“, eine dynastie Romanow und den ware, die nicht für Heimcom- müssen. neue Datenscheibe aus Ruß- goldziselierten Kunsteiern puter, sondern für die weit- land, führt auf dem Compu- der Hofjuweliere Faberge´ ge- verbreiteten Videokonsolen TITEL: Modem Doctor 5.2 (für PC/Dos). terbildschirm durch den alten widmet. Die Stationen des VERLAG: Hank Volpe, Baltimore, Mary- Stadtkern der russischen Rundgangs werden vom PC land/USA; Shareware, registrierte Ver- Hauptstadt, den Kreml. Die protokolliert, so daß der Be- sion: 19,95 Dollar. Compact Disc (CD-Rom) trachter einzelne Phasen des wurde vom Kreml-Museum Kreml-Besuchs am Bild- gemeinsam mit der Software- schirm wiederholen kann. Rundgang Firma Cominfo in Moskau durch den Kreml entwickelt. Mehr als 500 TITEL: „Moscow Kremlin CD Guide“ (für Farbbilder und Videosequen- PC, Dos/Windows). VERLAG: Cominfo, Der Reiseführer spricht Eng- zen informieren über Kultur- Moskau; 49 Dollar. lisch mit russischem Akzent, denkmäler und Kunstschät- sein R rollt aus dem PC- ze, jeweils eigene Multime- Lautsprecher: Der „Moscow dia-Kapitel sind der Zaren- Viel Rauch um Rex Ronan Raucherblutbahn im Videospiel Nach der Produktion von des japanischen Marktfüh- Computerspielen zur Aids- rers Nintendo programmiert Aufklärung (SPIEGEL wurde. Bereits in der Test- 45/1993) und für jugendliche phase steigerte das Video- Zuckerkranke schickt die ka- abenteuer, das bislang nur lifornische Software-Firma auf amerikanischen Konso- Raya Systems nun einen len gespielt werden kann, Chirurgen als Bildschirmhel- merklich das Gesundheitsbe- den ins Kinderzimmer. Rex wußtsein der Spieler. Kinder Ronan, so der Name der von Rauchern „wollten mit Spielfigur, wird – auf Mikro- ihren Eltern gleich eine Run- bengröße verkleinert – zur de spielen“, erzählt Steve Rettungsreise in einen Rau- Brown, Chef von Raya Sy- cherkörper geschickt. Er soll stems, „damit die das Rau- dort die Schäden beheben, chen aufgeben“. die langjähriger Tabakmiß- brauch in Adern und Lungen TITEL: „Rex Ronan“ (für Nintendo/US- angerichtet hat. Rex Ronan Konsole); Raya Systems, Mountain Kreml-Führer auf CD-Rom ist die erste Antirauch-Soft- View, Kalifornien/USA; 59,95 Dollar.

DER SPIEGEL 37/1994 123 Werbeseite

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Mit 2700 Mark Rente, von denen die Ökonomie Miete für das Haus 1600 Mark ver- schlingt, hat der alte Gelehrte kein Geld mehr für Bücherkäufe. Er ist auf Zusen- dungen von Freunden und Verehrern Lotto statt angewiesen. Die eigene soziale Lage veranlaßte den Arbeiteralltagsforscher, sich einer Sozialismus neokapitalistischen Massenbewegung anzuschließen: Er spielt Lotto und setzt Der Chefökonom der DDR ist pro- statt auf die Weltrevolution jetzt auf den duktiv wie eh und je – und immer Jackpot. Eine produktive Mischung aus takti- noch für Überraschungen gut. schem Geschick und schelmischem Charme war schon in der DDR sein eine ungezählten Weissagungen Überlebenselixier. Er nervte die SED- über den rapiden Untergang Gleichmacher immer wieder mit Plä- Sdes Kapitalismus findet Jürgen doyers für eine wissenschaftliche „Eli- Kuczynski heute eher lustig. „Naiv, te“, für Wettbewerb und mehr Markt- nicht wahr“, sagt der ehemalige DDR- wirtschaft oder gar mit dem Appell, Wirtschaftshistoriker und lächelt spitz- „vom Kapitalismus zu lernen“. Die Zahl bübisch. der Parteistrafen und der Orden hielten Die Orden aus alten SED-Zeiten ha- sich die Waage. be er inzwischen alle verschenkt, versi- Das SED-Theorieorgan Einheit kriti- chert Kuczynski, fast 90. Das klingt, sierte 1958 seinen „individualistischen J. GIRIBAS / GEGENDRUCK Marxist Kuczynski: Auf schlüpfrigen Boden geraten

als sei die DDR für ihn kaum mehr als Arbeitsstil“, mit dem Kuczynski „auf ein 80semestriges Zusatzstudium gewe- schlüpfrigen Boden geraten“ sei, und sen. zog das Fazit, „daß Genosse Kuczynski Die Fähigkeit, sich zu empören, hat nicht so fest auf dem Boden des Marxis- der muntere Marxist sich bewahrt. mus-Leninismus steht, wie er selbst „Wie kann man denn Obdachlosigkeit glaubt“. als Selbstverständlichkeit betrachten?“ 1955 wurde Kuczynski Mitglied der fragt er und schlägt sich fassungslos Akademie der Wissenschaften, deren mit der flachen Hand an die Stirn. Institut für Wirtschaftsgeschichte er bis „Selbstverständlich“ gebe es Alter- 1968 leitete. Dort erwarb er sich einen nativen zur Arbeitslosigkeit, verkündet internationalen Ruf als Ökonom, Histo- Kuczynski. Staatliche Programme für riker und „Nestor“ der DDR-Wirt- Wohnungsbau und Umweltschutz schaftsgeschichte. könnten rasch Vollbeschäftigung schaf- Kuczynski lieferte dem SED-Chef fen. Finanzieren will er das Ganze Erich Honecker Analysen der westli- durch den Abbau der Rüstung. Selbst chen Wirtschaft. Der theorieschwache solche altlinken Evergreens serviert er Generalsekretär übernahm die Texte schwungvoll als frische Ware. gern in seine Parteitagsreden. Mit un-

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schuldiger Miene lobte der Professor dann öffentlich die „großartigen“, prä- zisen Einschätzungen des Vorsitzen- den. Und doch wetterte Kuczynski in Bei- trägen für DDR-Kultur- und Wissen- schaftszeitschriften und bei Vorträ- gen nach seiner Emeritierung gegen „Phrasendrescher“ und „Schönfärbe- rei“ und forderte „fröhlichen Mei- nungsstreit“. Diese Widersprüche erklären sich aus seinem für einen SED-Genossen untypischen Lebenslauf. Schon wäh- rend des Studiums in Berlin, Heidel- berg und Erlangen schrieb der Bürger- sohn sein erstes Buch: „Zurück zu Marx“. Mit 25 Jahren trat Kuczynski 1930 in die KPD ein. Ende der zwanziger Jahre war er Chefstatistiker des Allgemeinen Ame- rikanischen Gewerkschaftsverbandes und begann die Arbeiten an seinem 40bändigen Hauptwerk „Die Geschich-

te der Lage der Arbeiter unter dem BUNDESARCHIV KOBLENZ Kapitalismus“. SED-Chef Honecker, Kuczynski (1978): Altlinke Evergreens als frische Ware 1936 emigrierte er nach London. Dort verdiente der junge Marxist sein len, veröffentlichte er mehrere tausend hat er sechsmal seine Memoiren vorge- Geld an der Börse, wo er Kapitalisten Schriften, „darunter aber nur 100 Bü- legt. In seinem Buch „Ein Leben in beim Spekulieren beriet: „Die waren cher oder stärkere Broschüren“, koket- der Wissenschaft der DDR“ beschei- sehr zufrieden mit mir“, erinnert er tiert er. nigt er sich selbst „Altersstärke“. sich. Zu seinen wichtigsten Werken gehö- Seine Aufsätze über Konjunktur und Nach Kriegsende zog er in die so- ren zehn Bände „Studien zu einer Ge- Klassenkampf, Zeitgeschichte und wjetische Besatzungszone. Er bekam schichte der Gesellschaftswissenschaf- schöne Literatur publiziert er mal in einen Lehrstuhl für Wirtschaftsge- ten“ und eine „Geschichte des Alltags der kommunistischen Zeitung Unsere schichte an der Humboldt-Universität des deutschen Volkes“. Das fünfbändi- Zeit (UZ), dann wieder im Times Li- und eine Mietvilla in Berlin-Weißen- ge Werk läßt der Autor wohlweislich im terary Supplement. see. Dort lebt er noch heute, umrahmt Jahr 1945 enden, bevor für einen Teil Der Verlust der DDR scheint den von 60 000 Büchern. des Volkes der sozialistische Alltag ein- alten Sozialisten weit weniger zu Kuczynskis Liebe zur Planwirtschaft setzte. schmerzen als viele seiner jüngeren hat offenbar auf sein Privatleben abge- Noch im 90. Lebensjahr verfaßt er et- Genossen. Nüchtern warnt er vor färbt. Als gelte es, Planzahlen zu erfül- wa 100 Artikel und 2 Bücher. Seit 1973 DDR-Nostalgie und konstatiert, „daß in der DDR die Pressefreiheit klei- ner war als unter Friedrich dem Gro- Ökonom Kuczynski melden, dann kann man das sehr wohl ßen“. verstehen – ebenso wie die Überpro- Sauer wird der alte Sozialist Kuczyn- über Kapitalismus und Sozialismus: duktion von Gänsehäuten“ (1973). ski nicht nur über Folgewirkungen des „Wieder leben wir in einer Zeit großer „Die Ursachen der Vertiefung der allge- Kapitalismus, sondern auch über seine Siege – von Siegen, an die man sich nie meinen Krise des Kapitalismus liegen Genossen, wenn sie gegen ihre eigenen gewöhnen darf: Siegen im stetigen Auf- andererseits in dem Vormarsch der Grundsätze verstoßen. bau des Sozialismus, während die Welt Kräfte des Fortschritts, allen voran die Wütend protestierte PDS-Mitglied des Kapitals von Krisen der verschie- sozialistischen Länder unter Führung Kuczynski gegen die „undemokratische densten Art geschüttelt wird“ (1972). der Sowjetunion“ (1976). Frechheit“ des PDS-Vorstandes, einem „Unsere Grundlebenshaltungspreise „Die Realität bestätigt eindrucksvoll Parteitag eine geschlossene Liste für sind in den letzten Jahren unverändert die Wahrheit der Leninschen Erkennt- einen neuen Vorstand zur Wahl vorzu- geblieben. Ich bin überzeugt, daß man nis: Imperialismus – das ist sterben- legen. Energisch kritisiert er die diese Tatsache später einmal . . . als der Kapitalismus“ (1976). „schlimme Kluft zwischen Parteifüh- wirklich einzigartig große Leistung un- „De omnibus debutandum (man muß rung und Parteibasis“. serer Republik auf wirtschaftlichem Ge- an allem zweifeln) – außer an der Me- Ungeniert nennt er den Zustand sei- biet betrachten wird“ (1983). thodenlehre des dialektischen und hi- ner Partei „wahrlich kümmerlich“ und „Die Bürokratie ist ganz schrecklich bei storischen Materialismus“ (1982). beklagt, daß es in der PDS im Gegen- uns“ (1987). „Natürlich ist von der Stalinzeit auch satz zur KPD der zwanziger Jahre „Lenin hätte jede Versammlung ausein- bei uns noch viel übriggeblieben. Ich „keinen bedeutenden Theoretiker“ andergejagt, in dereinmütige operative selbst habe bestimmt noch Elemente gibt. Beschlüsse gefaßt worden wären, weil davon, ohne es zu merken“ (1988). Doch auch bei solchen Attacken gibt er sich gesagt hätte, das sind offenbar „Die Währungs- und Wirtschaftsunion er sich als Schelm. Kuczynski schloß alles Schafe und Dummköpfe“ (1987). wie bisher geplant wird zu einer Kata- seine Attacke auf die PDS-Vorstands- „Wenn aber die Börsen des Monopolka- strophe für beide deutsche Staaten genossen mit einem fröhlichen „alles pitals Rekordstürze der Aktienkurse ver- werden“ (Mai 1990). Gute zum neuen Jahr für euch und un- sere Partei“. Y

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Vereine „DIE JUNGEN KNEIFEN“ Den deutschen Vereinen geht der Nachwuchs aus. Immer weniger Heranwachsende lassen sich für die organisierte Freizeit in Sportmannschaften und Traditionspflege-Klubs begeistern, neben Fußballern und Sängern beklagen auch Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz das schwindende Engagement.

arl Kraft ist ein Freund der Harmo- te, forderte der Vorstand „die Vereins- meinsamen Zweck freiwillig zusammen- nie, doch mitunter kommt er sei- mitglieder im gebärfähigen Alter“ auf, geschlossen und einer organisierten Wil- Knen Sangesbrüdern rüde: Er wer- „noch mehr für die Nachwuchsarbeit zu lensbildung unterworfen hat“, wie der de, erklärte der Dirigent des „Froh- tun“. Verein auf amtsdeutsch heißt. sinn“-Chors im hessischen Weiperz, sei- Ob seriös oder albern: Die Appelle „Sport ist im Verein am schönsten“ – nen Taktstock hinschmeißen, wenn von Vereinsoberen, mit nahezu allen der Spruch, mit dem der Deutsche nicht ab sofort jeder Sänger nach neuen Mitteln um neue, junge Mitglieder zu Sportbund Reklame macht, lockt immer Mitgliedern Ausschau halte – und zwar, werben, häufen sich. Nur bringen sie weniger junge Leute. Wer Volleyball bitte schön, „mit ganzer Kraft“. nicht viel. Die Lage im „Land der Verei- spielen oder im Stadtpark kicken will, Die Feuerwehrmänner aus dem thü- ne“, wie der Hamburger Soziologe braucht dazu keine Organisation; und ringischen Steinbach versuchten es auf Heinz-Dieter Horch die Bundesrepublik die Kids, die massenhaft den modischen die sanfte Tour: „Wir sind eine dufte nennt, ist ernst. Straßensportarten Rollerskate und Bas- Truppe“, schwärmten sie den Jugendli- Je entschiedener sich vor allem die ketball verfallen sind, erst recht nicht. chen im Dorfe vor, um sie dann anzufle- jüngeren Deutschen weg von der Soli- Noch immer sind, so hat die Deutsche hen: „Bitte kommt zu uns, wir brauchen dargemeinschaft und hin zu einer Gene- Gesellschaft für Freizeit für das Bonner dringend Nachwuchs.“ ration von Egoisten entwickeln (SPIE- Familienministerium ermittelt, mehr als Und weil die Tennisabteilung des GEL 22/1994), desto suspekter wird ih- 38 Millionen Deutsche in etwa 240 000 Turn- und Sportvereins Esslingen in der nen die „Vereinigung, zu der sich eine Vereinen organisiert. Nach Untersu- nächsten Saison „mangels Masse keine Mehrheit natürlicher oder juristischer chungen des Hamburger BAT Freizeit- Mädchenmannschaft aufstellen“ konn- Personen für längere Zeit zu einem ge- Forschungsinstituts sank jedoch allein in Deutscher Kaninchenzüchterverein: „Kaum noch Bereitschaft Jugendlicher, auf dieses Angebot einzugehen“ S. SCHMITZ .

GESELLSCHAFT

Westdeutschland die Zahl der Vereins- doch lieber mit meinen Freunden, wann ter.“ Doch das war einmal. Der Publi- mitglieder in den vergangenen Jahren und wo ich will“, klagt der 17jährige zist Helmut Cron schrieb schon 1959 im um rund zwei Millionen. Das einzige, Marco aus Köln. Merkur, der Verein von heute sei „ei- was steigt, ist das Durchschnittsalter. Zwar gab der Deutsche Fußball-Bund gentlich nur ein Schatten seines klassi- „Der Nachwuchs“, so der Berliner Ta- (DFB), als er in der vergangenen Wo- schen Vorbilds“. Cron meinte das rein gesspiegel, „mag nicht mehr.“ che seine jüngste Mitglieder-Bilanz ver- qualitativ. Inzwischen scheint der Ver- In Männergesangvereinen etwa er- öffentlichte, vorläufige Entwarnung: ein aber auch quantitativ ein Schatten- reicht das Durchschnittsalter mittler- Die Lage im A- und B-Jugend-Bereich dasein zu fristen. weile nicht selten 50 Jahre – und dies, habe sich nicht nur stabilisiert, sondern Längst blicken jene, die ihre Mus- obgleich derzeit noch die geburtenstar- sogar leicht verbessert. Doch noch 1993 keln, ihre Kondition und ihre Trinkfe- ken Jahrgänge im vereinsfähigen Alter forderte DFB-Präsident Egidius Braun stigkeit außerhalb fester Übungszeiten sind. Wenn die Entwicklung anhalte, im DFB Journal alle Vereine auf, sich trainieren, mitleidig auf die Vereinsmei- so der Karlsruher Chorexperte Thomas intensiver um die Heranwachsenden zu er herab. „Sport ist im Verein am schön- A. Troge, werde es in 30 bis 40 Jahren kümmern: „Dies geht über ein intaktes sten“ – von wegen. gesangvereinsfreie Zonen ge- Individualsportarten wie ben. Golf, Tennis oder Squash lau- Der Abgesang im Land der fen den Mannschaftssportar- weltweit höchsten Chordichte ten langsam aber sicher den hat schon begonnen: Die Rang ab. Und für das Überle- „Sängerrunde“ aus dem frän- ben in der Ellbogengesell- kischen Holzkirchen beispiels- schaft stählt man sich ohnehin weise mußte kürzlich betrübt am besten allein im Fitneßstu- das Ableben ihres Jugend- dio: Die Club-Card mit mo- chors bekanntgeben, beim natlichen Freidrinks ersetzt Männergesangverein Dort- den Vereinsausweis mit wö- mund wurde der Stammtisch chentlichem Pflichtprogramm. „Ewig Jung“ aus Altersgrün- Die aktuelle Beitrittsmüdig- den aufgelöst. keit wird oft mit dem überbor- Auch andernorts verstum- denden Freizeitangebot be- men die Kehlen: „Diese ollen gründet – die Uelzener Ju- Kamellen, die da gesungen gend-Psychotherapeutin Chri- werden, das ist doch Blöd- sta Meves hingegen sieht die

sinn“, erklärt der 21jährige M. LANGE / VISUM Ursache in der „geminderten Dirk aus Eschwege seinen Deutsche im Fitneßklub: Mitleid für die Vereinsmeier Bindungsfähigkeit“. Die sei Vereinsaustritt. Die Jugend ebenso Folge einer „unange- der Neunziger – so scheint es – messenen, nicht personenge- pflegt lieber Auto und Outfit bundenen Betreuung in der als das deutsche Liedgut. Kindheit“ wie die um sich In einer soziologischen Un- greifende Trägheit und Inter- tersuchung der Schwarzwald- esselosigkeit. Auch der Ham- gemeinde Zell am Harmers- burger Freizeitforscher Horst bach gaben 81,5 Prozent der Opaschowski interpretiert die Jugendlichen an, daß sie kei- Vereinsmüdigkeit als gefährli- nerlei Lust hätten zu Aktivitä- che Entwicklung hin zu einer ten auf Vereinsebene. In ei- völligen „Entsolidarisierung nem Sonderheft der „Hessi- im Alltag“. schen Blätter für Volks- und „Flanieren statt engagieren“ Kulturforschung“ heißt es zu sei das Leitmotiv der heutigen solchen Befunden: „Am guten Generation, die sich offen- Willen der Vereine, sich der sichtlich Narziß als Idol erko- Jugendlichen anzunehmen, ist ren habe, spotten die „Jugend nicht zu zweifeln, wohl aber Presse Informationen“, ein

an der Bereitschaft vieler Ju- H. SCHWARZBACH / ARGUS Pressedienst für Jugendzeitun- gendlicher, auf dieses Ange- Deutsche in der Diskothek: „Geminderte Bindungsfähigkeit“ gen. In dieses Bild paßt auch bot einzugehen.“ die Erkenntnis, die Reporter Nicht nur die Volkssänger werden von Vereinsleben, das nicht nur geprägt ist des Zeit-Magazins von ihren Streifzügen gravierenden Nachwuchssorgen geplagt. von Trainingseinheiten und dem saiso- durchs westdeutsche Schulsystem mit- Auch bei den Kaninchenzüchtern, im Pa- nalen Pflichtprogramm, sondern von brachten: „Das Hauptfach“ – so ihr Fa- rade-Metier deutscher Vereinsmeierei vielfältigen Aktionen jeder Art.“ Auch zit – „heißt Karriere.“ schlechthin, wird das Rammeln der der Deutsche Handball-Bund will, wie „Es gibt“, sagt Ernst Soukup, lange Zuchttiere in manchem Ortsverein nur die Frankfurter Allgemeine im Juni be- Jahre Vorsitzender des TSV Harthausen noch von zwei, drei fachkundigen Ju- richtete, „im Kampf um den Nachwuchs im Landkreis Heilbronn, „nur wenige, gendlichen überwacht. Selbst bei den zum Gegenangriff übergehen“ und ver- die sich überhaupt noch engagieren.“ In Fußballklubs sind auch angesichts der ge- suchen, die lustlosen Kids mit „Beach- der Gemeinschaft Verantwortung zu burtenschwachen Jahrgänge die Zeiten Handball“ wieder in die Vereine zu lok- übernehmen – davor schrecke fast jeder endgültig vorbei, in denen jedes Kuhdorf ken. zurück. Die meisten, so Soukup, inter- problemlos eigene Jugendmannschaften Kurt Tucholsky konnte in den zwanzi- essiere im Grunde nur der eigene Spaß aufstellen konnte. ger Jahren noch dichten: „In mein’ Ver- und der persönliche Vorteil. Martin „Immer nur blödes Konditionstraining ein werd ich erst richtig munter. Auf Janssen von der Essener Geschäftsstelle und kaum mal ein Match, da spiele ich die, wo nicht drin sind, seh ich hinun- der DLRG, der Deutschen Lebens-Ret-

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tungs-Gesellschaft, sieht „die Probleme Nun gibt es ein Deutschland, einen da beginnen, wo die Jugendlichen auch Fernsehen „Polizeiruf 110“ und noch immer keinen Aufgaben und Funktionen übernehmen Fernsehkrimi mit Geschichten aus der sollen. Da kneifen sie“. Wirklichkeit des Zuschauers. Vergange- Die Drückebergerei vor dem Engage- nen Sonntag stürmte Leslie Malton als ment ist für die Hilfsorganisationen Her mit Polizeipsychologin durch ein irrwitziges noch bedrohlicher als für Sport- und Drehbuch, angefüllt mit futuristischen Gesangsvereine. Beim Deutschen Ro- Schreckgespenstern – Polizeiruf 2001. ten Kreuz etwa sank die Mitgliederzahl der Leiche Nächsten Sonntag droht Roland Suso von 305 000 im Jahr 1992 auf 286 000 im Richters „Samstag, wenn Krieg ist“ – letzten Jahr. Für die Zukunft sei ihm, Unfähige Fernsehredakteure, knap- ein Neonazi-Spiel, das wegen seiner so sagt Eckhard Otte von der Bonner pe Budgets und das Diktat „holzschnittartigen Zeichnung“ (Film- Rotkreuzzentrale, „angst und bange“. Dienst) – der Böse, der Verführte mit „Kaum einer ist mehr bereit, seine der Werbespots verwandeln gute behindertem Bruder, die couragierte teure Freizeit für ein zeitraubendes Eh- Drehbücher in miesen TV-Brei. Kommissarin und der hallende Sprin- renamt bei uns zu opfern“, klagt Rainer gerstiefel im Fackelschein – beim dies- Mahn, Lübecker Kreisbeauftragter des jährigen Münchner Filmfest durchfiel. Technischen Hilfswerkes THW. Nur in or 23 Jahren bestiegen zwei Genos- Polizeiruf 08/15. ländlichen Gebieten könne man die Ju- sen Kommissare vom Fernsehen Die Klischees und der Realitätsver- gendlichen noch in alter Garnisonsstär- Vder DDR ihren Wartburg, um den lust ärgern den Seher allenfalls noch bei ke hinterm Ofen hervorlocken – vor al- „Fall Lisa Murnau“ zu lösen. Der männ- ambitionierten Sendungen wie „Polizei- lem, weil in der Provinz ansonsten liche Vopo nannte sich nicht der Alte, ruf 110“, „Tatort“ und den Fernsehspie- kaum etwas abgeht. sondern Leutnant. Sie trug, was die so- len. Auf den Serienhalden sucht längst In Großstädten dagegen „kann man fast überhaupt nichts mehr auf die Bei- ne stellen“, sagt Anette Pollack. Sie lei- tet die Jugendarbeit im Kreisverband München des Roten Kreuzes. Die Vereinsforschung hat – seit sie Max Weber Anfang des Jahrhunderts zu einem „ungeheuren soziologischen Thema“ erhob – auf die Bedeutung der sozialen Milieus bei der Rekrutierung von Vereinsmeiern hingewiesen: Mit- gliedschaften und Ehrenämter würden in der deutschen Provinz oft wie Adels- titel vom Vater auf den Sohn vererbt. In den zerfransten familiären Struktu- ren der Großstädte gelte dieses überlie- ferte Prinzip nicht mehr. So kommt es, daß ein ländliches Bundesland wie Rheinland-Pfalz rund 9000 DRK-Mit- glieder mehr hat als die Hauptstadt Berlin – bei ungefähr gleicher Einwoh- nerzahl. Doch selbst auf dem flachen Land sind die Jugendlichen nicht mehr allein mit Training, Trikots und Titeln zu ent-

zücken – sie wollen ordentlich unterhal- H. SCHRÖDER / SDR ten werden. „Gaudi-Wettbewerbe und Krimi „Polizeiruf 110“: Irrwitziges Drehbuch mit futuristischen Schreckgespenstern Zeltlager müssen sein“, berichtet Wil- helm Klug, Jugendfeuerwehrwart aus zialistische Mode hergab: knallenge Rip- keiner mehr nach Authentizität, psycho- Schlüchtern im Main-Kinzig-Kreis. penpullover überm Synthetik-BH. logischer Wahrheit und sauber gebauten Doch maximale Action bringt den Ver- Sonst aber glich die erste von 153 Geschichten. einsoberen nur bedingt Satisfaction: DDR-Folgen „Polizeiruf 110“ den Mu- Reedergattinnen in ewig weißen Vil- Selbst wenn man auf diese Weise bei stern der westdeutschen Konkurrenz len, dauerfiese Society-Hexen, perma- den Jugendfeuerwehren den Mitglie- „Tatort“, „Der Alte“ und „Derrick“: Er nent-patente Mütter, künstliche Beau- derschwund noch in Grenzen halten bosselte mürrisch und genialisch vor sich ties, Postkartenbilder zu Märchenprinz- kann, machen die meisten spätestens, hin; sie, wenn es eine Sie denn überhaupt Dialogen („Ich glaube, wir sollten unse- wenn der Wechsel in die Einsatzabtei- gab, hatte Einfühlungsvermögen und re Beziehung klären“) und süffigem lungen der Freiwilligen Feuerwehren meist nichts zu sagen. Der Täter (West) James-Last-Sound beherrschen den ansteht, den Absprung – es droht Ar- war nicht der Gärtner, sondern ließ wel- Bildschirm. beit. che arbeiten, ein fieser Unternehmer, Und auch das Lamento hierüber hat Wenn das Vereinsleben in Deutsch- sein Ostpendant offenbarte falsche indi- sich klischeehaft verhärtet: Es fehle an land wirklich zu den Kräften zählt, „die vidualistische Regungen im sozialisti- guten Drehbuchautoren, heißt es uniso- die Welt zusammenhalten“, wie die schen Kollektiv, das immer recht hatte. no – nicht nur in den kritischen Feuille- FAZ einmal per Leitartikel verkün- Die Krimistraßen hüben wiedrüben la- tons, sondern zynischerweise auch bei dete, dann steht der Weltuntergang, gen vorzugsweise regennaß im Dunkeln. Fernsehoberen, wenn die auf schöngei- zumindest in Deutschland, unmittelbar Aus den Storys reckte sich der pädagogi- stigen Tagungen über den Qualitätsver- bevor. Y sche Zeigefinger. fall des Mediums referieren.

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GESELLSCHAFT

Dabei wissen es die Macher der Bran- mindert bei Wiederholungen die Hono- schen Ort drin ist. Von einem Mächti- che besser. Der titanische Bilderdichter, rare der Profi-Autoren – und spiegelt ei- gen bei den Öffentlich-Rechtlichen der nur der Kunst verpflichtet, dem Me- ne ökonomische Machtverschiebung: wird der Satz kolportiert: „Drehbuch- dium seinen Genius aufzwingen kann, Wegen immer neuer Kanäle sind be- betreuung heißt: Gut reisen, gut essen ist eine Chimäre. Das Drehbuchschrei- rühmte und weniger berühmte Stars nur und gut ficken.“ ben ist nur ein Teil der Fernsehproduk- noch mit deutlich mehr Geld zu ködern. Die ZDF-Vorabendserie „Hotel Pa- tion und nicht der wichtigste. Scharfe Nach wie vor steht dem guten Dreh- radies“ wurde auf der klimatisch Konkurrenz, knappe Kassen, das Diktat buch eine Spezies entgegen, deren Eitel- freundlichen Insel Mallorca abgedreht. der Werbespots und die Imperative des keit die eigene Kompetenz oft bei wei- „Viermal besucht und geprüft“ habe er Massengeschmacks haben den Autor tem übertrifft: der Fernsehredakteur. das Sonnenparadies, erklärte der Pro- zum Fließbandarbeiter gemacht. Viele Autor Peter Zingler („Maus und Katz“) duzent Wolfgang Rademann freimütig Köche reden und schreiben mit, damit hat vor Jahren in Trans-Atlantik exem- und lobte die „landschaftlich schönen aus guten Stoffen der übliche Brei wird. plarisch die „Ermordung“ seines Skripts Ecken“. Wer sich ans Drehbuchschreiben zum „Tatort“-Krimi „Hüpfendes Auch hat noch nie die Furcht vorm macht, werfe erst mal einen Blick in die Fleisch“ beschrieben. Vom Redakteurs- Zapping so in die Dramaturgie gefunkt Liste des Verbandes der deutschen Spruch „Tolle Idee, so funktioniert’s“ wie heutzutage. Da müht sich ein Au- Drehbuchautoren, die aufgrund von führte ein zweijähriger Leidensweg tor um eine behutsame Introduktion, Rückmeldungen seiner Mitglieder ent- „zum Mischmasch aus meiner ursprüng- den glaubhaften Aufbau einer Person, standen ist. Der Weg zur Fernsehkunst lichen Filmidee“ (Zingler), der dann schon fährt ihm ein Redakteur in die ist verschlungen und verlangt Entschei- schließlich gesendet wurde. Parade: „Unsere Zuschauer müssen in dungen. Der Hamburger Krimi- und TV-Au- den ersten zwei Minuten den vollen Da martert sich das Gehirn eines Au- tor Frank Göhre kann bezeugen, daß Wahnsinn sehen.“ Also her mit der tors: Ein 90minüter beim Bayerischen sich an der Mischung aus argumentati- Leiche, bitte sofort eine Vergewalti- gung. Und erst der dramaturgische Ritt über die Werbeblöcke, bei den Priva- ten sind es manchmal vier. Da heißt es für den Dichter: „Plotpoints“ minuten- genau plazieren, Cliffhanger („Wird unser Held diese Gefahr überleben?“) so montieren, damit der Seher trotz Werbung dranbleibt. Schauplätze gestrichen, Figuren gestutzt, Ersparnis kassiert

Im Seriengeschäft gehorcht künstleri- sche Kreativität dem Diktat des Massen- geschmacks: Tiere kommen gut, befin- det ein Redakteur. Also trabt ein Viech durch Folge sieben. Wie bringen wir Spannung in eine Polizistenfigur? Laß ihn doch schwul sein – Outing in elf. Aber wie zwingen wir Exotik, möglichst mit Südseestrand, in die Altenheim-Ge-

ACTION PRESS schichte? So werden die urspünglichen Dreharbeiten für „Hotel Paradies“ auf Mallorca: „Viermal besucht und geprüft“ Konzeptionen verwässert. Am Ende, wenn das Drehbuch abge- Rundfunk brächte 44 000 Mark, würfe ver Unsicherheit, Willfährigkeit gegen- nommen ist, lauern die letzten Feinde: aber bei jeder Wiederholung den nämli- über Vorgesetzten und Arroganz man- Produzent und Regisseur. Die streichen chen Betrag ab. Bei Pro 7 läge Schreibers cher Damen und Herren in den Sendern Schauplätze, stutzen Figuren bis zur Un- Lohn allein schon bei 140 000 Mark pro wenig geändert hat. Göhre kennt die kenntlichkeit zusammen oder kassieren Serienteil, macht bei fünf Folgen summa Sprüche: Mal ist ein Drehbuch „irgend- beim auftraggebenden Sender die Diffe- summarum 700 000 Mark. Manko: weni- wie zu grau“, mal möchte einer oder ei- renz, die sich ergibt, wenn man statt der ger Ruhm und kein Wiederholungshono- ne „ganz generell Frauenfiguren stärker vorgesehenen 20 Drehtage den Film in rar (Branchenjargon: „buy out“). haben“. „Personen mit Ecken und Kan- 18 Tagen herunterkurbelt. Einer zahlt Doch die Kalkulation wird auch aus ei- ten“ sind sowieso immer gefragt, sie immer: die Qualität. nem anderen Grund schwieriger: Schau- müssen aber auch erwiesenermaßen Als der renommierte TV-Regisseur spieler schmälern die Autorenhonorare. „beim Publikum funktionieren“. Aber Bernd Schadewald einmal auf Jamaika Stars wie Günter Lamprecht oder Han- zugleich noch nicht dagewesen sein. Re- an sich, an den Schauspielern („Späte- nelore Elsner figurieren als Co-Autoren. dakteursforderung der höchsten philo- stens am Mittag fällt bei uns der Ham- Und es sind nicht immer nur deren schrei- sophischen Güteklasse: „Wir möchten mer“) und an dem Zurückbleiben des berische Qualitäten, die sie für diesen Menschen sehen.“ bisher Aufgenommenen hinter den Job qualifizieren. Vielmehr bietet sich Andere Branchenkundige wissen, daß Drehbuchintentionen verzweifeln woll- den Produzenten die Möglichkeit, die Treatments besonders dann wohlwol- te, tröstete ihn der Produzent: „Was Darsteller durch den Schreiberjob an zu- lend beurteilt werden, wenn für den Re- quälen Sie sich so, halten Sie doch die sätzliches Geld kommen zu lassen. Das dakteur eine Dienstreise an einen exoti- Kamera einfach auf die Palmen.“ Y

DER SPIEGEL 37/1994 141 Werbeseite

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

Festival wurde. Zum Festival, das bis Sonntag dauert, erscheint ein Pfeifen mit illustriertes Handbuch „zur Phänomenologie des Pfei- Ilse Werner fens“. Auf dem Berliner Festival „Pfeifen im Walde“ will der Jazz amerikanische Komponist Nicolas Collins das „Phäno- Mann men des Pfeifens“ hör- und erlebbar machen, mit Kon- vom Saturn R. SCHWALME / DIE TROMMEL Ost-Comic „Rolf und Robert“ zerten, Ausstellungen und Als die Trümmer des Kome- Workshops für Laien. Schä- ten Shoemaker-Levy 9 auf fer aus Deutschland kom- dem Jupiter einschlugen, Comics zogen die Machthaber mit men, Ilse Werner und auch raunten sich die Fans des vor Strafgesetzen und sozialisti- Tama´s Hacki, Professor an einem Jahr verstorbenen Frösi im scher Eigenproduktion zu der Regensburger Hals-Na- Jazzexzentrikers Sun Ra zu, Felde. Comic-Zeitschriften sen-Ohrenklinik sowieso. Im die Seele des Meisters sei ins Psycho-Krieg wie Fröhlich sein und singen Ost-Berliner Kulturzentrum All zurückgekehrt. Sein Tod Bonzen, Bauern, Stasi-Op- (Frösi) sollten Kids für den Podewil machen sie das, was zog neben solch esoterischen fer, Studenten, Kids und Sozialismus gewinnen, min- andere alltäglich tun – sie Vermutungen die branchen- Rentner: In den Jahren nach destens eine Figur in den pfeifen. Der ungarische Oh- üblichen postumen Lobhude- dem Mauerfall blieb kaum ei- Strips, so lautete die SED- renarzt Hacki wurde in Ost- leien nach sich. Nicht in diese ne Bevölkerungsgruppe der Vorgabe, mußte ein Pionier- europa mit seinen Pfeifkon- Kategorie gehört „Omni- ehemaligen DDR uner- halstuch tragen. Über alber- zerten und Fernsehauftritten verse Sun Ra“, ein dickleibi- forscht. Bis auf die Comic- ne Parteidiktate setzen sich so bekannt wie hierzulande ges Kompendium der Vereh- Zeichner. Ihr Leben erzählen Zeichner und Texter wie die Pfiff-Virtuosin Werner. nun zwei Berliner Autoren Reiner Schwalme und Ger- Im Freigelände um das historisch detailreich und ein- hard Unterstein hinweg. Podewil herum wetteifern fühlsam nach (Gerd Lettke- „Rolf und Robert“ rennen Schäfer, wer seinen Hund mann / Michael F. Scholz: nicht als Vorzeigepioniere per Pfeifkommando am be- „Schuldig ist schließlich jeder durch die gleichnamige Co- sten zu dirigieren weiß. – Comics in der DDR“. Mo- mic-Serie. Bereits Ende der Über weit entfernte Dächer saik Verlag, Berlin; 112 Sei- siebziger Jahre sehen die von Berlin werden sich zwei ten; 69 Mark). Gegen bunte beiden Berliner Jungs die Bewohner Gomeras in der West-Comics, verteufelt als DDR-Welt recht skeptisch. alten Pfeifsprache Silbo un- „Schmutz und Schund“, als Ein Blick, der dem Politbü- terhalten, die den Insulanern „Teil imperialistischer psy- ro abging: Der Comic sah als Verständigung diente, chologischer Kriegführung“, schärfer. bevor das Telefon erfunden G. WATERMANN / OUTLINE PRESS / INTERTOPICS Ausstellung Sun Ra

rung, das der Schriftsteller Vor allem bunt Hartmut Geerken und der Nina Hagen malt, das hat sie von ihrer Mutter Eva-Maria. Die Bibliograph Bernhard Hefele Werke der beiden sind nun öffentlich zu sehen – in der Berliner nun vorlegen. Das Buch ver- Akademie der Künste. Rockröhre Nina „protestiert mit Far- eint akribische Forschungs- be“, erläutert die stolze Mutter Ninas vor allem bunte Spray- arbeit und Deutungen der Phantasien. Sie selbst griff zum Pinsel, um sich den Psychiater ko(s)mischen Gedanken Sun zu ersparen. Neben Familie Hagen steuern auch andere Künst- Ras. Alle Varianten im Ge- ler ihr bislang verborge- samtschaffen des Mannes nes malerisches Œuvre vom Saturn sind kommen- zur Ausstellung „Im ande- tiert, ganzseitige Fotos von ren Metier“ bei. Hilde- Val Wilmer runden das Fan- gard Knef und Marianne Projekt ab. Nach der Lektüre Sägebrecht beweisen sich weiß man, daß es nicht ge- als Pinselvirtuosinnen, nügt, eine Sun-Ra-Platte zu Udo Lindenberg zeigt besitzen, sondern daß man Cartoons, Ute Lemper alle 186 haben muß. Denn großflächige Ölgemälde der Mann war ein Gesamt- Marke Junge Wilde. Den kunstwerk, und Omniverse Verdacht Ute Lempers – Sun Ra ist der Schlüssel dazu „vielleicht male ich ja bes- (Hartmut Geerken / Bern- ser, als ich singe“ – hat die hard Hefele: „Omniverse internationale Kunstkritik Sun Ra“. (Erschienen in

L. FISCHMANN / GRÖNINGER L. GRUNWALD allerdings bislang noch Geerkens Eigenverlag im Nina-Hagen-Werk, Mutter Eva-Maria Hagen nicht bestätigt. bayerischen Herrsching; 252 Seiten; 93 Mark).

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GESELLSCHAFT

Film „Monroe trifft Hitler“ Auferstandene Tote, malmende Monster, explodierende Hochhäuser: Computer, die solche Szenen für Hollywoods Kinohits produzieren, haben die Filmfabrik revolutioniert. Als weltweiter Marktführer hat sich mit schnellen Rechnern und Bildzauberern eine kalifornische Firma etabliert.

as sprechende Kaninchen mit Uhr und Weste, dem Alice ins Wunder- Dland nacheilt, steht als Porzellanfi- gur in Gartenzwerggröße auf dem Fuß- boden. Eine bessere Galionsfigur hätte sich Ed McCracken, Chef der Compu- terfirma Silicon Graphics, für sein Un- ternehmen nicht wählen können. Seine Rechner erzeugen moderne Mythen, so geheimnisvoll und unglaub- lich, wie es die Geschöpfe aus Lewis Carrolls Wunderland sind. Die leise brummenden Kisten aus McCrackens Reich lassen Dinosaurier lebendig wer- den, Riesenraumschiffe durchs Weltall schießen oder auf Wunsch tote Präsi- denten auferstehen. Nicht nur die postmodernen Mytholo- gen aus Hollywood, auch die Architek- ten der realen Welt nutzen die Bilder- computer von Silicon Graphics. Auto- mobilkonzerne konstruieren und testen virtuelle Fahrzeuge am Bildschirm, Chemiker großer Pharmafirmen de- signen neue Medikamente am Monitor. An Fabriken und Labors verkauft McCracken, 50, die meisten Computer. Doch wichtiger ist dem großen blonden Manager mit der Kassenbrille, daß sein Unternehmen zum gefragtesten Werk- zeuglieferanten für jede Form elektroni- scher Unterhaltung wird. Mit dem weltgrößten Medienkon- zern, Time Warner, plant McCracken die Zukunft des Fernsehens. 4000 Bür- SUGAR ger sollen sich in der ersten Phase des Projekts mit Hilfe des Full Service Net- works per Fernbedienung jederzeit 500 Fernsehkanäle in die Matratzengruft ho- len: Filme, Nachrichten, Videospiele – GROUP PHOTO BY: JIM alles steht auf Wunsch und gegen Be- zahlung bereit. Den erfolgreichsten Traumdienstlei- stern, der Walt Disney Company, liefert Silicon Graphics die Technik für dreidi-

INC. MULTI-MEDIA DESIGN mensionale Film-Erlebnisse: Besucher des Disney-Parks Epcot Center in Flori- da können auf dem fliegenden Teppich aus dem Kinohit „Aladdin“ durch die Wolken schweben – eine Hydraulik und Videobilder erzeugen eine fast perfekte

DESIGN BY SILICON GRAPHICS Illusion. COMPUTERMANAGER MCCRACKEN: Das Porträt des Silicon-Graphics-Chefs Und im Auftrag des japanischen Spie- entstand aus einem konventionellen Foto, das mit den Bildcomputern seiner le-Riesen Nintendo entwickelt die Fir- Firma für den SPIEGEL manipuliert wurde. ma im kalifornischen Silicon Valley ge- rade die ultimative Zeitverschwen-

146 DER SPIEGEL 37/1994 . ILM NEW LINE CINEMA HOLLYWOOD-FILM „FORREST GUMP“: Tom Hanks (r.) HOLLYWOOD-FILM „THE MASK“: Die Effekte sind in der Ko- spielt neben dem toten US-Präsidenten Richard M. Nixon. mödie wichtiger als die Handlung: Ein Bankkaufmann findet Die Sequenz wurde aus altem Filmmaterial digitalisiert. eine Maske, die ihn in bizarre Cartoon-Monster verwandelt. ILM ENGELMEIER HOLLYWOOD-FILM „TERMINATOR II“: Im Kinohit über HOLLYWOOD-FILM „THE ABYSS“: Mit dem Wassermonster den fast unsterblichen Bösewicht ließen die Spezialeffek- zeigte der Thriller als eine der ersten Produktionen, welche te vom Trickstudio ILM den Zuschauer besonders gruseln. Möglichkeiten Computerbilder den Regisseuren bieten.

dungsmaschine: Das Videospiel Ultra „Jurassic Park“. Mit der Hilfe von Sili- Die bunten Rechner sind anderen 64 soll die groben Blöckchenbilder der con Graphics zauberten Erfolgsregis- Grafikmaschinen überlegen. James bisherigen Nintendo-Geräte ersetzen seur Steven Spielberg und seine Techni- Clark, ein Informatik-Professor an der und fotorealistische Spiele-Abenteuer ker die malmenden Sauriermonster auf Stanford-Universität und Gründer von auf den Fernseher gaukeln. die Leinwand. Jeder Traum, jedes Mär- Silicon Graphics, hat ihnen diese Fertig- Die digitale Traumwerkstatt ist zur chen, jede noch so absurde Idee, so keiten beigebracht. Pilgerstadt für Manager der Medienwelt zeigte Spielberg damit dem Publikum, Zusammen mit einigen Studenten und der Unterhaltungsindustrie gewor- läßt sich in überzeugende Bilder ver- entwickelte er spezielle Chips und Soft- den, die McCrackens Mythen-Maschi- wandeln. McCracken: „Als ,Jurassic ware, nun können die Computer dreidi- nen selbst bestaunen wollen. Medienty- Park‘ soviel Geld machte, sind in Holly- mensionale, bewegte Bilder schneller coon Rupert Murdoch, weltweiter Herr- wood viele Leute aufgewacht.“ zeichnen als bisher entwickelte Mikro- scher im internationalen Film-, Fernseh- Die Firma selbst hat McCracken auf prozessoren. Jede Grafik besteht aus und Pressegeschäft, war schon da, zu 14 zweistöckige Gebäude verteilt, ganz Millionen kleiner Vielecke, deren Posi- den ersten Besuchern gehörten Bestsel- wie eine amerikanische Universität. Im tion mehr als 30mal pro Sekunde neu ler-Autor Michael Crichton und Regis- Innern weht der Geist der achtziger Jah- berechnet werden muß, um beim Be- seur Milos Forman. re: viel Chrom, Stahl, Wendeltreppen trachter die Illusion einer Bewegung zu Die Techniker bei Silicon Graphics und überall Pastellfarben. Die Konfe- erzeugen. „Geometrie Maschine“ nann- gehören zur Avantgarde der Computer- renzräume sind nach erfolgreichen Fil- ten Clark und seine sechs Mitstreiter ih- industrie. Die Riesen der Unterhal- men benannt: „Terminator“, „Wall re Erfindung, ohne die es die Company tungs- und Medienbranche, die zweistel- Street“ oder „Jagd auf roter Oktober“. nie gegeben hätte. lige Milliardensummen bewegen, haben Im Vorführraum stehen ein paar der Besonders spektakulär wird die Ma- sich mit dem Zwerg (Umsatz 1993: 1,9 Kultmaschinen, die sich auffällig von gie, wenn die Computer nicht techni- Milliarden Mark; 4200 Beschäftigte) den Computern der Konkurrenz unter- sche Konstruktionen verändern, son- verbündet. Die Konzernfürsten hoffen, scheiden: Sie sind nicht beige oder grau, dern Teile des menschlichen Körpers. die Computer könnten die Welt des En- wie dröge EDV-Designer die Rechenge- Im Demo-Raum hat Silicon Graphics tertainments in wenigen Jahren genauso häuse vorzugsweise gestalten, sondern ein besonderes Abtastgerät aufgestellt. verändern wie einst das Fließband die violett, hellrot oder grün. Und sie hei- Gäste nehmen auf einem schwarzen Industrieproduktion. ßen nicht 486-XPS, sondern Indy, Onyx Stuhl Platz, und ein roter Laserstrahl er- Angefangen hat alles, berichtet oder – ironisch – Reality Engine, Wirk- faßt die Konturen des menschlichen Ge- McCracken, mit dem Dino-Kultfilm lichkeitsmaschine. sichts. Keine 30 Sekunden später er-

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Materialschlachten nach immer spekta- kuläreren Effekten: visuelle Stunts, die mit den traditionellen Werkzeugen Pappmache´, Draht und Knetgummi nicht mehr zu realisieren waren. Die ILM-Manager ließen sich die Fähigkei- ten der Silicon-Graphics-Computer zei- gen. Die Nähe beider Firmen zueinander erleichterte die Zusammenarbeit: Sili- con Graphics ist nur wenige Minuten von der Stanford-Uni entfernt, mitten im Silicon Valley, eine Autostunde süd-

D. LAMONT / MATRIX / FOCUS lich von San Francisco. Lucas wieder- 3-D-SCANNER: Binnen Sekunden erfaßt ein Laserstrahl die Oberfläche eines um, in der Gegend geboren, siedelte Gesichts. Einmal im Computer gespeichert, läßt sich das Abbild beliebig mani- sein ILM-Studio im Norden von San pulieren. Francisco an. So konnten die Trickex- perten ohne große Mühe Hilfe von den Hardware-Cracks erhalten. Als einer der ersten nutzte Action- Filmer Cameron, 40, die erstaunlichen Fertigkeiten von ILM, wenn auch nur im kleinen Maßstab: Für das Tiefsee- abenteuer „The Abyss“ entwarfen die ILM-Designer mit Computerhilfe ein Wassermonster, das lachen und weinen kann – nur eine Reihe kleiner Sequen- zen im Film, aber ein großer Schritt für ILM und die digitalen Effekt-Erfinder. Der Anfangserfolg blieb nicht unbe- merkt. Viele Regisseure, darunter Spielberg und Lucas, nutzten fortan die digitalen Tricks in ihren Filmen. Es war wieder James Cameron, der in der Materialschlacht „Termina-

ILM tor II“, mit dem Muskelmann Arnold DREHARBEITEN ZU „TERMINATOR II“: Das Modell darf Körper und Gesicht Schwarzenegger als Hauptdarsteller, während des Abtastens durch einen Laser nicht bewegen. Computertechniker die Technik wirklich ausschöpfte. Er und Maskenbildner arbeiten beim Trickstudio ILM zusammen. überzeugte die Produzenten, mehr als 80 Millionen Dollar auszugeben, um die bis dahin visuell eindrucksvollste Fi- scheint auf dem Monitor die digitale gische Rituale erinnern. Auf dem Fir- gur der Filmgeschichte mit ILM zu rea- Kopie des Originals aus Fleisch und mengelände hat er einen Laden einge- lisieren: den zu Metall zerlaufenden, Blut. richtet, in dem die Mitarbeiter ihr Out- bösen Terminator. Wenige Befehle an den Computer, fit besorgen können – alles mit Firmen- Silicon Graphics mußte die Grafiklei- und schon wird aus Haut eine blaue logo, das den Besitzer zweifelsfrei als stung der Computer seither gewaltig Gummimasse, das menschliche Gesicht Stammesmitglied von Silicon Graphics steigern: „Wir messen den Fortschritt verwandelt sich in eine Horrorfratze ausweist. Bestseller ist ein Dino-T- hier in Dinosauriern“, sagt einer der oder Metallmaske. Shirt, Aufdruck: „Helping build a bet- Techniker, „vor zwei Jahren konnten Das ist die Macht der Bildwerkzeu- ter dinosaur“ („Ich helfe dabei, einen wir einen Dino animieren, letztes Jahr ge: Die Wirklichkeit, einmal dank der besseren Dinosaurier zu erschaffen“). eine ganze Herde.“ Abtastgeräte in Datenpakete atomisiert Die Nähe zu magischen Ritualen hat Die Dinos und der Terminator haben und im Speicher der Computer vorhan- sich McCracken von seinen bevorzug- die Marke Silicon Graphics im interna- den, kann beliebig manipuliert werden. ten Kunden abgeschaut: den Traumfa- tionalen Filmgewerbe berühmt ge- Collage oder Retusche sind in wenigen brikanten aus Hollywood. macht. Etwa 200 Millionen Dollar Um- Sekunden erledigt und danach selbst Wichtigster Kontakt war für satz machte die Firma in diesem Rech- für Fachleute nicht mehr zu erkennen. McCracken der Regisseur George Lu- nungsjahr mit Filmeffekten, für das Genauso können die Zauberer am cas, 50, der mit „Krieg der Sterne“ kommende Jahr rechnet McCracken Terminal eine neue Realität zusam- 1977 berühmt wurde. Sein Trickstudio schon mit doppelt soviel: Nach den Pio- menbasteln. Die Bildpunkte sind für Industrial Light and Magic (ILM), ge- niereinsätzen für ILM und die großen die Designer wie bunte Legosteine – gründet nach den Dreharbeiten für Studios sollen seine Produkte nun die Rohmaterial für virtuelle Welten. Der „Star Wars“, konstruiert seit fast 20 universellen Werkzeuge der Filmindu- Betrachter weiß oft nicht: Ist es noch Jahren für die großen Hollywood-Stu- strie werden. McCracken gründet gera- Wirklichkeit oder schon Silicon Gra- dios Weltraumkreuzer, explodierende de eine Tochterfirma, die sich eigens phics? Hochhäuser oder lebendige Untote. um diese anspruchsvolle Klientel küm- Wirklich fortschrittliche Technologie, Doch vor rund fünf Jahren stießen mern soll: Silicon Studios. schreibt der Science-fiction-Autor Ar- die Trickmeister bei ILM an die Gren- Anders als in „Terminator II“ sollen thur C. Clarke, ist von Magie nicht zen ihres Handwerks. Regisseure wie die Zuschauer die Manipulationen der mehr zu unterscheiden. McCracken James Cameron („Alien“, „Termina- Bildcomputer nicht mehr bemerken. nutzt denn auch Praktiken, die an ma- tor“) verlangten für ihre filmischen Eine Rettungsleine für den Stuntman

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ist zu sehen? Ein Mikro stört im Bild? raum-Märchen für die Der Computer retuschiert alles weg. Hälfte realisieren. Cameron und sein Regie-Kollege Lu- Sogar die digitale cas wollen die gesamte Filmproduktion Auferstehung wird mit mit den Silicon-Graphics-Rechnern ver- McCrackens Technik ändern. „Computer“, sagt Cameron, möglich. Der Schau- „sind ein völlig neuer Weg, Filme zu ma- spieler Brandon Lee chen.“ In den nächsten 15 Jahren werde starb während der die Rechnertechnik jeden Bereich der Dreharbeiten zu dem Produktion völlig verändern, nur auf die düsteren Horrorfilm Kamera könne niemand verzichten. Der „The Crow“. Die Pro- Regisseur, glaubt Cameron, „wird sich in duzenten ließen die INTERNATIONAL einen bequemen Sessel setzen und mit fehlenden Szenen mit

den Bildern am Computer spielen“ – Fil- einem Double nach- BUENA VISTA memachen als Video-Game. drehen, und der Sili- HOLLYWOOD-FILM „THE CROW“: Brandon Lee (r.) Mit der Technik werden die Holly- con-Graphics-Compu- starb bei den Dreharbeiten. Der Computer übertrug wood-Studios jede Menge Geld sparen. ter setzte auf den le- Lees Gesichtszüge auf einen anderen Schauspieler. Lucas hat das mit seiner TV-Serie „Die bendigen Körper, in Abenteuer des jungen Indiana Jones“ der Branche treffend schon vorgemacht. Nur 3 Millionen Dol- „Stand-In“ genannt, das Gesicht des me, sagt Estes, bei Silicon Graphics für lar hat eine Folge dank der Silicon-Gra- verstorbenen Stars. Das Einverständnis die Hochleistungssysteme verantwort- phics-Computer gekostet, ohne sie wäre der Witwe hatte der Regisseur zuvor lich, „in denen Marilyn Monroe auf das Budget wohl auf 30 Millionen Dollar eingeholt. Adolf Hitler trifft“. angewachsen – unbezahlbar für TV-Sen- Bei der Historien-Schnulze „Forrest Spannender als dieses oder ein ähn- der. Gump“ ließ Filmemacher Robert Ze- lich geschmackvolles Staraufgebot fin- Nach den Dreharbeiten setzte sich Lu- meckis („Roger Rabbit“) gar die toten det Estes, der lange Jahre als Keyboard- cas mit einem Cutter zusammen und US-Präsidenten John F. Kennedy und Spieler die Musik für Hollywood-Filme veränderte Landschaft, Komparsen Richard M. Nixon als Partner für einspielte, die Wiederverwendung des und Lichtverhältnisse am Bildschirm. Hauptdarsteller Tom Hanks reanimie- digital erzeugten Filmmaterials. „Möchten Sie noch etwas mehr Licht? ren. Die Leichenfledderer bei ILM ver- Liegen die Schauspieler, Monster und Wir haben tolle Sonne im Speicher“, wendeten altes Filmmaterial als Basis Kulissen einmal im Speicher eines Com- fragte etwa der Techniker den Regis- für die digitale Zauberei. puters, sind sie beweglich wie alle digita- seur. Die Zombie-Szenen dauerten in bei- len Daten. Genau wie die Geldeinheiten Die nächsten „Star Wars“-Filme von den Filmen nur wenige Sekunden. „Bis des globalen Marktes sekundenschnell Lucas, die etwa 1998 ins Kino kommen wir einen kompletten Film mit einem zwischen Tokio, Frankfurt und New sollen, würden mit konventioneller Film- Toten produzieren können“, sagt Greg York flitzen, sollen die Filmteile überall technik pro Folge mindestens 100 Millio- Estes, 33, „und alle Zuschauer von der in jeder Form verfügbar werden. nen Dollar kosten. Mit den digitalen Illusion überzeugen, vergehen noch fünf „Die Dinos sind im Speicher. Alles ist Helfern will der Regisseur die Welt- Jahre.“ Machbar wären dann Spielfil- bezahlt, damit ist der schwerste Teil der Arbeit getan“, sagt Estes. Flinke Programmierer nut- zen den Rohstoff bereits, um daraus ein Videospiel, eine Rummelattraktion oder eine billige TV-Serie zu machen. Für den neuen Geschäfts- zweig hat die Branche schon einen Namen gefunden: „Entertainment Recycling“. GegensolchenAusverkauf der Kinoträume hat sich Sili- con Graphics durch Allian- zen mit dem Mediengiganten Time Warner und der Spiele- Firma Nintendo gerüstet. Beide wollen mit dem neuen interaktiven Fernsehen, bei dem der Zuschauer selbst Fil- me, Programme und Dienst- leistungen per Fernbedie- nung anfordern kann, in die Wohnzimmer der westlichen Industriestaaten vordringen. Die Zukunft auf die- sem Milliarden-Markt, sagt

A. FREEBERG McCracken, beginne in zwei ENTWICKLUNGSLABOR BEI SILICON GRAPHICS: Um die Anforderungen der Regisseure bis drei Jahren – sobald die etwa für den Film „Jurassic Park“ zu bedienen, müssen die Entwickler die Grafikfähigkeiten Geräte für die Endverbrau- der Computer ständig steigern. Der Fortschritt wird „in Dinosauriern“ gemessen. cher billiger seien als 500 Dollar. Y

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AUSLAND PANORAMA

Serbien Abscheu vor Deutsch Während die deutsche Spra- che in Osteuropa einen Auf- schwung erlebt, kommt sie in Serbien auf den Index. In diesem Schuljahr bieten nur noch wenige Schulen Rest- Jugoslawiens Deutsch als P. KASSIN Deutsches Wohnungsbauprogramm im Moskauer Stadtteil Lefortowo

Rußland hen 120 Arbeiter ein fünfstöckiges Ge- bäude mit 45 Einzel- und 15 Doppelzim- mern hoch. Die Apartments werden ge- Hotel für Generale diegen mit Buchenmöbeln, Kühlschrank „Ausschließlich zweckgebunden für Woh- mit Minibar, Luxusbad und Telefon be- nungsbauprojekte“ sollten über acht Mil- stückt. Satellitenantennen auf dem Dach liarden Mark verwendet werden, die sorgen für störungsfreies Fernsehen. Ca- Bonn als Gegenleistung für den Abzug fe´, Restaurant, Sauna, Fitneßraum und der Sowjettruppen aus der ehemaligen Swimming-pool laden zum Entspannen DDR bereitstellte. „Kostengünstige Ge- ein – alles in anheimelnd skandinavischer staltung“ müsse eine „möglichst hohe An- Ausstattung. Das Hotel für Generale zahl von Wohnungen“ für heimkehrende nennen die russischen Auftraggeber

REUTER Militärs und ihre Familien sicherstellen. „Wohnheim“, in dem alleinstehende Offi- Serbenprotest gegen Deutschland Diese Vereinbarungen mit der Bundesre- ziere übergangsweise unterkommen kön- publik werden vom russischen Verteidi- nen. Und die für die finanzielle Abwick- Unterrichtsfach an. In Ser- gungsministerium mißachtet. Es läßt die lung verantwortliche Frankfurter Kredit- biens zweitgrößter Stadt Nis˘ dänische Firma Højgaard & Schultz und anstalt für Wiederaufbau erhob keine begann das neue Schuljahr den russischen Partner Komplex AG aus Einwände gegen das Projekt. Dabei hät- gleich mit einem Streik, da deutschen Steuergeldern ein hochfeines ten mit seinen Kosten – 11,4 Millionen aufgebrachte Eltern ihren Gästehaus für die Generalität errichten: Mark – mindestens 60 Wohnungen für Kindern nicht länger „die Im Moskauer Stadtviertel Lefortowo zie- Familien gebaut werden können. Sprache der neuen Herren- menschen“ zumuten wollten. Auf Plakaten stand: „Nieder nischen Rassenpolitik des 19. umlungern oder lärmen. mit dem Vierten Reich der Jahrhunderts zurückgekehrt. Derzeit läßt Dronkers von Deutschen“ und „Serbien Mit Hilfe des Vatikans, Juristen prüfen, ob seine gol- braucht keine arischen Österreichs und der katholi- dene Geschäftsidee mit der Ideen“. In Kraljevo verhin- schen Kroaten versuche holländischen Duldungspoli- derten Lehrer noch rechtzei- Deutschland seinen kolonia- tik in Einklang steht. „Sobald tig einen ähnlichen Eltern- len Einfluß auf die Balkanre- es die Gesetze erlauben“, protest, indem sie Deutsch gion auszudehnen und neue will der Besitzer dreier Cof- kurzerhand für alle Schüler Vasallenstaaten zu errichten. feeshops, der seit 28 Jahren vom Lehrplan strichen; wer bevorzugt Marihuana aus bisher auf die falsche Sprache Niederlande heimischem Anbau konsu- gesetzt hatte, kann nun in ei- miert, seine Ware auch euro- nem Schnellkurs Russisch Haschisch paweit versenden. Bislang oder Französisch nachholen. verschickte Dronkers Firma Obligatorisch für alle Pennä- per Post namens „Samenbank“ nur

ler ist jedoch die neue Ge- Einen neuartigen Service J. SCHWARTZ Saatgut für den Eigenanbau. schichtsklitterung im Gesell- verspricht der Rotterdamer Dronkers schaftskundeunterricht: Da- Geschäftsmann Ben Dron- Australien nach tragen die Deutschen kers, 44, den Freunden bene- derländischen Coffeeshops die Hauptschuld für den Zu- belnder Rauchwaren: Er will schließen wollen, in denen Mord in sammenbruch des jugosla- künftig Haschisch und Mari- die Droge frei erhältlich ist. wischen Vielvölkerstaates. huana per Post versenden. Anwohner beschweren sich „Vietnamatta“ Nach der Wiedervereinigung Damit kommt Dronkers Lo- zunehmend über Kiff-Touri- Der erste politische Mord in sei Bonn, so die Lernanwei- kalpolitikern entgegen, die sten, vor allem aus Deutsch- seiner 200jährigen Geschich- sung, zu der alten pangerma- zahlreiche der rund 2000 nie- land, die vor den Läden her- te sorgt für Unruhe auf dem

156 DER SPIEGEL 37/1994 .

fünften Kontinent. In Sydney erschossen Unbekannte aus einem Auto heraus den La- bour-Abgeordneten im Par- lament von Neusüdwales, John Newman, 47. Zu Newmans Wahlkreis gehörte der Vorort Cabramatta AP Newman, Verlobte

(„Vietnamatta“), dessen Be- wohner zu 60 Prozent aus Asien eingewandert sind. Unter ihnen entstanden Ban- den, die Geschäftsleute er- pressen und sich blutige Ver- teilungskämpfe liefern. Der als „Mr. Cabramatta“ be- kannte Newman führte einen Kreuzzug gegen die Krimi- nellen. Er erhielt Drohun- gen, sein Auto wurde mit Farbbeuteln beworfen und sein Büro beschossen, seit er dafür eintrat, überführte Mit- glieder der asiatischen Ban- den aus Australien zu depor- tieren. Dabei gehörte New- man nicht zu jenen Politi- kern, die Australiens Wandel zu einer multikulturellen Ge- sellschaft bedauern: Er war Karate-Sportler und mit ei- ner gebürtigen Chinesin ver- lobt. Australiens Einwanderer

asiaten 3,2% 50,1%

europäer 87,6% 26,6%

andere 9,2% 23,3% Sydney im Jahr 1947 1991

DER SPIEGEL 37/1994 157 .

AUSLAND

Schweden STEPTANZ AUF DER KLINGE Wuchernde Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit, schwindendes Selbstvertrauen: nach drei Jahren Regie- rung hat Schwedens bürgerliche Koalition abgewirtschaftet. Die Sozialdemokraten stehen bei den Parlamentswahlen vor einem Comeback – Wende rückwärts in der Sehnsucht nach dem alten Wohlfahrtsstaat. H. SCHUMACHER / DER SPIEGEL Sozialdemokratischer Favorit Carlsson, Schulklasse in Uppsala: „Ich glaube an das schwedische Modell“

eiteres Schweden: Rosige Pädago- ern zahlen, mit denen nach geltender so- nem Auto, das auf dem Dach durch eine gen singen mit fröhlichen Kindern zialdemokratischer Lehre die Vollver- enge Gasse rutscht, an deren Ende ein Hzur Gitarre. Alle starren auf den sorgung finanziert werden kann. Schüt- Abgrund klafft. Mann in der Mitte, der die Lippen be- zend breitet Carlsson die Arme über die Doch im Kampf um jede Stimme muß wegt, als kenne er den Text der Schul- Kleinen und beteuert: „Ich glaube an Carlsson die Hoffnung nähren, mit Ein- hymne. Eben noch hatten sie ihn mit das schwedische Modell.“ sparungen, Reformen und aufgekrem- „Ingvar! Ingvar!“-Rufen gefeiert und Trostloses Schweden: Mit jeder Minu- pelten Ärmeln sei jenes Rundum-sorg- um Autogramme bestürmt. te, die Carlsson sich durch Uppsala lä- los-System zu retten, das seine SAP in Auf seiner Wahlkampftour hat es Ing- chelt, schwellen Schwedens Staatsschul- 53 Regierungsjahren zum Markenzei- var Carlsson, Kandidat der Sozialdemo- den um 400 000 Kronen. Am Jahresen- chen Schwedens perfektioniert hat. kratischen Arbeiterpartei (SAP), in eine de werden es über 1300 Milliarden sein, Carlssons Bekenntnisse zur guten al- Gesamtschule von Uppsala verschlagen. mehr als eine Viertelbillion Mark. Die ten Zeit kommen an. Viele Schweden, Auftritt in einer Musterinstitution des Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 8 Pro- die ihr Land gegen Krisen immun glaub- schwedischen Wohlfahrtsstaats: lichter zent, ohne die öffentlichen Arbeitsbe- ten, sind durch die Baisse von Angst Bau mit Skulpturen auf den Fluren, die schaffungsprogramme wären es sogar 14 und Nostalgie befallen. Im liberalen Küche bereitet Mittagessen, Kinder von Prozent. Nie war die Krone weicher als Musterstaat wachsen soziale Spannun- Einwanderern und Asylanten erhalten heute. gen, rechtsradikale Jugendliche randa- Nachhilfe in 25 Sprachen. Der chronisch geblähte Staats- und lieren, das solidarische Gemeinwesen Schon Vorschüler werden hier den Wohlfahrtsapparat, seit Jahren auf wankt. In der Hoffnung, daß die Refor- ganzen Tag über betreut. So können die Pump am Leben erhalten, treibt Schwe- men der Sozialdemokraten schnell wir- Eltern arbeiten und die horrenden Steu- den in den Ruin. Das Land gleicht ei- ken und wenig schmerzen, dürfte die

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Mehrzahl der Schweden am kommen- den Sonntag Carlsson zum Nachfolger des bürgerlichen Regierungschefs Carl Bildt, 45, wählen. Selbst unter Intellektuellen genießt seine Partei den Ruf, das Land aus jeder Krise zu retten (siehe SPIEGEL-Ge- spräch Seite 161). Sorge bereitet der SAP nur noch die Sprunghaftigkeit der Wähler. 1991 gab die Hälfte der Bürger an, sich erst unmittelbar vor der Wahl entschieden zu haben. 16 Prozent wech- selten die Partei. Der unstete Wähler wird das Partei- engemenge auch diesmal durcheinan- derrütteln. Völlig unklar ist, was aus den Trümmern der bürgerlichen Koaliti- on von Bildts konservativen Moderaten (1991: 21,9 Prozent), Liberalen (9,1), Zentrum (8,5), Christdemokraten (7,1) und der zerstrittenen Mickymaus-Partei

Neue Demokratie (6,7) wird. Unter den J. LEIGHTON / NETWORK Kleinparteien scheint nur der Sprung Neonazis in Stockholm: Neid und Fremdenhaß sprießen der Grünen über die Vier-Prozent-Hür- de sicher. Der Traum von der satten ab- zialdemokratisches Musterland auf dem Obgleich die Wirtschaftsdaten inzwi- soluten Mehrheit wird sich für die SAP „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus schen zart nach oben tendieren, hängt (37,6 Prozent) wohl kaum erfüllen. und Kommunismus, ist klamm wie Bildt der Makel des thatcheristischen Carlssons Euphorie hält sich in Gren- kaum ein anderer Staat. Der EU-Kandi- Kaputtsanierers an. Da nützen auch Be- zen. Mit 59 Jahren, wenn sich viele dat – am 18. November wird das Refe- teuerungen nichts, die Krise sei nur Schweden in den Vorruhestand bege- rendum wohl knapp zugunsten des Spätfolge der jahrzehntelangen sozial- ben, sieht er „der härtesten Legislatur- Bündnisses ausfallen – erfüllt nicht eines demokratischen „Casino-Ökonomie“. periode der schwedischen Geschichte“ der von Brüssel gewünschten volkswirt- Dem spröden Carlsson reicht es entgegen. Er wird seine Landsleute schaftlichen Mindestkriterien. Allein schon, nur anders zu sein als Bildt. Der traktieren müssen wie kein Sozialdemo- die Zinsen verschlingen ein Viertel der Herausforderer ist ein alter Bekannter, krat zuvor, will er das Land nicht über Staatsausgaben. „Dieses System“, sagt der die Sehnsucht der Wähler nach Sta- die Klippe steuern. der Wirtschaftsexperte Anders Isaks- bilität bedient. Nach der Ermordung Der Parteichef, charismatisch wie son, „frißt sich von innen auf.“ Olof Palmes im Februar 1986, bis heute Knäckebrot, bezieht die Zustimmung Besorgt schlugen schwedische Finanz- für das Land ein Trauma, führte Sozial- seiner Landsleute vor allem aus dem manager im Juli Alarm. Skandia, die demokrat Carlsson die Regierung fünf Mangel an hochklassigen Gegnern. Sein größte Versicherungsgesellschaft des Jahre. Unverdrossen wie einst preist er einziger, der quirlige Premier Bildt, hat Landes, versetzte ihr 1,8-Milliarden- die Pampers-Gesellschaft, die ihre Bür- sich in den letzten drei Jahren systema- Kronen-Paket Staatsanleihen und rief ger von der Wiege bis zur Bahre an die tisch unbeliebt gemacht. zum Boykott schwedischer Papiere auf, Hand nimmt. An ihren Fürsorge- und Der Konservative baute 100 000 von „bis die Politiker das Schuldenproblem Bevormundungsstaat haben sich die 1,5 Millionen Jobs im öffentlichen wirksam bekämpfen“. Schweden gewöhnt wie an einen Blin- Dienst ab, kappte das denhund. Arbeitslosengeld von Folgerichtig setzen die Wahlkampf- 90 auf 80 Prozent, strategen der traditionellen Regierungs- führte einen Karenztag partei auf Nostalgie. An jeder Straßen- ein und trieb die Priva- ecke blicken gutaussehende Menschen tisierung vorsichtig von Plakaten und fragen, ob die Bürger- voran. lichen Renten, Arbeit und Ausbildungs- Ein Erfolg der Ein- plätze sichern. Die Antwort lautet stets: griffe war nicht zu spü- Das schafft allein die Sozialdemokratie. ren. Drei Jahre in Fol- Im betulichen Södertälje sitzen der ge sank die Produkti- Bauschreiner Jari Kälviainen, 34, und on. 200 000 Arbeits- seine Freundin Susanne Drane, 25, im plätze gingen in der In- Cafe´ der Arbeitslosenselbsthilfe und dustrie verloren, die klammern sich an die Versprechen der öffentliche Verschul- SAP. Kälviainen wurde vor zwei Jahren dung erreichte nahezu entlassen, weil seine Firma ohne öffent- die Höhe des Bruttoin- liche Aufträge einging; Susanne Drane landsprodukts. verlor ihren Job als Kindergärtnerin. Skandinaviens Pri- Wie viele Schweden macht das Paar mus, einst Europas so- derzeit die beunruhigende Erfahrung, daß der Staat, der für alle sorgt, inzwi- * Vor Wahlplakat der SAP: schen ein Mythos ist. Unlängst mußten „Wenn du weißt, daß Schwe- O. NÄSLUND sie ihr Auto verkaufen, fast 30 Prozent den stärker wird durch Ar- beit als durch Arbeitslosig- Arbeitslose Kälviainen, Drane* Zinsen für Kreditkartenschulden berei- keit“. „Carlsson läßt uns nicht allein“ ten wachsende Sorgen. Kälviainen trö-

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werden Konsum und Steuerein- Flaute im Norden Schwedische Wirtschaftsdaten im Vergleich nahmen wachsen – der Wohl- fahrtsstaat könnte weiterleben. Einwohner Schweden (S) Deutschland (D) USA Japan (J) Frankreich (F) Die geplanten Sparmaßnahmen, in Millionen 8,75 81,19 257,59 124,32 57,37 aufgeführt auf nur einer Seite im Wahlprogramm, addieren sich zu eindrucksvollen 61 Milliarden bruttoinlands- 26 780 23 030 23 120 28 220 22 300 inflationsrate produkt Veränderung zum Vorjahr in Prozent Kronen. pro Kopf in Dollar Solche Schönwetterpläne sto- 4,6 4,2 ßen selbst in Carlssons Partei auf 3,0 S D USA J F 1,3 2,1 Skepsis. „Man könnte aus gerin- geren Gründen Alpträume krie- gen“, sagt Leif Padgrotzky, an- öffentliche 83,0 48,5 63,9 74,7 52,5 S D USA J F gehender Finanzstaatssekretär verschuldung der nächsten Regierung. Tapfer in Prozent des bekennt er sich gleichwohl zum Bruttoinlands- haushaltsdefizite System: „Schweden ist nicht wie S D USA J F in Prozent des Bruttoinlandsprodukts produkts andere Länder. Mit der Vollbe- S D USA J F schäftigung wird unser Modell wieder aufleben.“ steuern und 50,4 40,0 29,8 30,2 43,7 +0,3 sozialabgaben – 3,3 –3,5 Zäh hält sich der Glaube, daß in Prozent des –5,8 die Trends der internationalen Bruttoinlands- Wirtschaft Schweden verscho- produkts S D USA J F –12,9 nen. „Doch die Rechnung Wachstum gleich Vollbeschäfti- gung geht nicht mehr auf“, fürch- urlaubstage sparquote in Prozent des ver- 14,6 14,1 tet Wirtschaftsexperte Isaksson. Tariflicher Jahresurlaub für die verar- 12,1 Der Industrieverband hat die beitende Industrie fügbaren Haus- 4,6 haltseinkommens 7,3 für eine annähernde Vollbe- 25 schäftigung benötigten Daten er- 30 S D USA J F rechnet. Um eine halbe Million 27 12 11 neuer Arbeitsplätze in Industrie, sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts Handel und privatem Dienstlei- S D USA J F stungssektor zu schaffen, seien 34,8 26,4 19,1 12,7 28,4 bis zum Jahre 2000 ein jährlicher Zuwachs von 5 Prozent und 600 S 8,2 S D USA J F Milliarden Kronen Investitionen nötig. D 8,9 Da aber die Sozialdemokraten frauenarbeit eine härtere Vermögens-, Kapi- USA 6,8 Anteil weiblicher Erwerbspersonen an allen erwerbsfähigen Frauen tal- und Aktienbesteuerung an- arbeits- J 2,5 84,0 58,6 69,1 61,7 58,7 gekündigt haben, werde das für losenquote Neuinvestitionen benötigte „Ri- in Prozent F 11,7 sikokapital nicht fließen“, warnt S D USA J F Verbandsgeschäftsführer Ma- gnus Lemmel. Die Sozialdemo- frauengehälter kraten hätten sich in einen Wi- Durchschnittlicher Verdienst von 89 derspruch verrannt: „Sie wollen 79 Frauen in der Industrie im Vergleich 73 65 reiche Unternehmen, aber keine zum Verdienst der Männer 43 reichen Unternehmer.“ (Männer= 100 Prozent) Längst gehen die Industrieka- S D USA J F pitäne eigene Wege. Obwohl der jeweils letzter verfügbarer Stand Export dank der abgewetzten Krone auf Hochtouren läuft, stet sich mit dem Schicksal von Kolle- Kann Carlsson solchen Hoffnungen sind für die 600 000 Arbeitslosen keine gen, die in der sozialdemokratischen gerecht werden? Seine Pläne für den Jobs in Sicht. Wegen der rigiden Ar- Boom-Ära voller Optimismus Boote, Aufschwung gleichen eher dem Step- beitsschutzgesetze vermeiden viele Fir- Häuser und Autos auf Pump gekauft tanz auf einer Rasierklinge. Denn die men Neueinstellungen. Statt dessen hatten. Jetzt sind sie ihren Job los, muß- Partei beharrt im Prinzip auf ihrem alten werden Überstunden gefahren. ten den Luxus in der tiefsten Rezession Instrumentarium, das schon jenen Stra- Über 60 Prozent der Beschäftigten in verramschen und stehen vor noch grö- tegen diente, die das Land in die Hyper- schwedischen Industrieunternehmen ar- ßeren Schuldenbergen. verschuldung trieben. beiten ohnehin außerhalb des Landes. Im nächsten Frühling ist Kälviainens Zuerst sollen die von Bildt gesenkten Dort fühlen sich auch die Konzernher- Anspruch auf Arbeitslosengeld abgelau- Steuern erhöht werden, die Mehrein- ren wohler. Sie speichern die Riesenge- fen. Dann müßte er zum Sozialamt – mit nahmen Arbeitsbeschaffungsprogram- winne aus dem Exportgeschäft in stabi- all den anderen, die Anfang der neunzi- men zufließen. So wurde einst die Ar- len Fremdwährungen, statt sie gegen ger Jahre ihre Arbeit verloren. Aber so- beitslosenrate auf der Traumquote von schwindsüchtige Kronen zu tauschen. weit, glaubt er, wird es nicht kommen: zwei Prozent gehalten. Isaksson, Autor des Bestsellers „Ingvar Carlsson läßt uns bestimmt Herrscht wieder Vollbeschäftigung, „Immer mehr, nie genug“, galt lange als nicht allein.“ so das Kalkül der Sozialdemokraten, Ketzer, weil er bei den Staatssozis ge-

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ächtete Begriffe wie „Abbau des Wohl- guay. Die ehemalige „Schweiz Latein- mische Schußfahrt an, drohen auch fun- fahrtsstaats“ oder „Privatisierung“ be- amerikas“, so analysierten zwei schwe- damentale Errungenschaften und Werte nutzte. Heute trifft er sich regelmäßig dische Wirtschaftsexperten, wurde letzt- der Schweden zu zerbröseln. Massenar- mit Göran Persson, dem sozialdemokra- lich auch von einem überdimensionier- beitslosigkeit teilt die egalitäre Gesell- tischen Anwärter auf den Posten des Fi- ten öffentlichen Apparat ausgezehrt: schaft zunehmend in Reiche und Arme. nanzministers. „Zu den reichsten Ländern gehörten Neid und Fremdenhaß, Politikverdros- Persson ist vom ersten Tag zu einem dem Per-capita-Einkommen nach im senheit und Kriminalität sprießen plötz- heiklen Spagat gezwungen. Wie soll er Jahre 1930 Großbritannien, Australien, lich im Land der Ferienhäuser. Hunderttausende neuer Arbeitsplätze Neuseeland, Argentinien, Uruguay und Diese Flut von Problemen, sagt Ing- schaffen, gleichzeitig aber die Staats- die Tschechoslowakei. 60 Jahre später var Carlsson, können allein die Sozial- schulden senken? Mit jeder geliehenen ist keines dieser Länder im Klub der demokraten bewältigen. Gleich am Krone schrumpfen seine Chancen, eige- Reichen vertreten.“ Montag nach der Wahl werde er „mit ne Wirtschaftspolitik zu machen. Schweden hat bereits ein Stück des der Modernisierung Schwedens begin- Scheitert Persson, droht ewiger Win- Abstiegs hinter sich. Der einstige Spit- nen“, beteuert der Favorit. Das aller- ter im Wohlfahrtsstaat, womöglich das zenreiter der Wohlstandsliga fällt lang- dings hatte er auch vor seinem letzten Schicksal des einst paradiesischen Uru- sam, aber stetig zurück. Hält die ökono- Wahlsieg versprochen.

SPIEGEL-Gespräch „Wir wählen die Waffen“ Der Schriftsteller Per Olov Enquist über Schwedens Systemwandel und den Mythos des Wohlfahrtsstaats

SPIEGEL: Herr Enquist, nach drei Jah- Enquist: Alle reden jeden Tag von Ar- Zentrum geschwächt ist. Das schwedi- ren bürgerlicher Regierung stehen beitslosigkeit und sagen, wir stehen im sche Modell setzte stets den starken Schwedens Sozialdemokraten offenbar Vorhof der Hölle. Gleichwohl ist das Staat voraus. Das wissen die Sozialde- vor einem neuen Sieg. Was ist Ihre Er- nicht die große Sorge und Frage im Wahl- mokraten. Es mag für deutsche Ohren klärung dafür? kampf. Emotionale Aufreger sind die seltsam klingen: Die Schweden sehnen Enquist: Das kommt – wobei ich die Abstriche bei den kommunalen Dienst- sich zurück nach Opfern, die sie auch Wahl noch nicht für entschieden halte leistungen, kurz die Folgen der System- früher ertragen mußten, die aber ein – einer Absage an die Systemwende wende für die kollektiven Grundbedürf- Stück der guten alten Gesellschaft zu- gleich und einem bekennerhaften Ja nisse. rückbringen oder wenigstens deren Ge- zum schwedischen Modell, das sich der SPIEGEL: Daran wird doch eine sozialde- borgenheit vermitteln. Volksseele offensichtlich tiefer einge- mokratische Regierung wenig ändern SPIEGEL: Die bürgerliche Koalition un- ätzt hat, als dies irgendein Analytiker können, weil sie auch sparen muß. ter Carl Bildt hatte doch gar keine unseres kollektiven Bewußtseins ge- Enquist: Was wir erleben, ist eine im Chance: Sie übernahm die Regierung, ahnt hat. Grunde gesunde Gesellschaft, deren als Schweden von einer Krise in die SPIEGEL: Der Wohlfahrtsstaat, obgleich marode, ist wieder at- traktiv? Per Olov Enquist Enquist: Die Leute wissen, was sie früher hatten. Die Verände- gehört zu den bedeutendsten Autoren rungen der letzten drei Jahre Skandinaviens. Der Erzähler und Dra- empfinden sie als schmerzliche matiker wurde in der einsamen schwe- Verluste, die unter die Haut ge- dischen Provinz Västerbotten gebo- hen. Am deutlichsten sind diese ren, 1100 Kilometer nördlich von Einschnitte in der kommunalen Stockholm. Während des Literaturstu- Kinderbetreuung, Kranken- und diums in Uppsala schloß er sich dem Altenpflege, vor allem aber an Kreis der „jungen Wilden“ um die Zeit- den Schulen. Dort war früher al- schrift Rondo an und wurde 1968 les umsonst: Schulspeisung, auch international bekannt mit dem Lehrbücher, Schreibhefte und Dokumentarroman „Die Ausgeliefer- Bleistifte. Heute müssen die El- ten“, der die Deportation baltischer tern dafür vielerorts in die eigene NS-Kollaborateure von Schweden in Tasche greifen. Das wird als be- Stalins Sowjetunion schildert. Zu wei- schämender Rückschritt empfun- teren Werken gehören eine Strind- den. berg-Monographie, der Essay „Ge- SPIEGEL: Mehr noch ins Gewicht stürzter Engel“ sowie der 1994 auf fallen dürfte die für Schweden deutsch erschienene, von der Rezen- hohe Arbeitslosigkeit von 14 sion vielgelobte Roman „Kapitän Ne- Prozent. mos Bibliothek“. Nach 18 Jahren Aus- landsaufenthalt lebt Enquist, 59, der- Das Gespräch führten die SPIEGEL-Re- zeit wieder in Stockholm.

dakteure Olaf Ihlau und Hermann Orth. P. HESSMAN

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nächste taumelte, dann der Immobilien- Enquist: Das mit dem Weltgewissen SPIEGEL: Das bezweifeln wir nicht im ge- markt wegbrach, die Banken wankten stimmte schon damals nicht. Palme war ringsten. Nur hatte Schweden einst eine und die Industrie in einer Schlankheits- eine flamboyante Führungsfigur, der die international geachtete Polit- und Kul- kur eine Viertelmillion Arbeiter entließ. gewaltsame Beendigung des Prager turszene. Wo sind denn die Nachfolger Enquist: Die Bürgerlichen stellten eine Frühlings und die amerikanische Krieg- von Erlander und Palme, von Ingmar äußerst schwache Regierung, weil sie führung in Vietnam heftig kritisierte. Bergman und Astrid Lindgren? darüber zerstritten waren, was denn nun Diese Rolle der Kritik hat jetzt anschei- Enquist: Wir sind halt ein kleines Land eigentlich getan werden sollte und was nend Norwegen übernommen, was doch mit nicht einmal neun Millionen Einwoh- nicht. Vor drei Jahren, bei der Ablö- sehr schön ist. Schweden hält sich bei- nern. sung der Sozialdemokraten, lag das spielhaft zurück. Nicht Schweden, das SPIEGEL: Vor 30 Jahren waren es noch Haushaltsdefizit nahe Null. Die Ursa- international immer behutsam auftrat, weniger. chen der Krise sind sicherlich am Ende sondern Palme war die Ausnahme, weil Enquist: Die 30schwedischen Genies, die des vorigen Jahrzehnts zu suchen. Aber er eine enorme intellektuelle Kapazität jetzt vielleicht noch unerkannt mitkünfti- letztlich konnten sich die Bürgerlichen und keinerlei Furcht hatte. gen Theaterstücken, Romanen oder Fil- nicht zu kraftvollem Handeln aufraffen. SPIEGEL: Hat nicht gerade sozialdemo- men internationalem Ruhm entgegen- SPIEGEL: Vor zwölf Jahren stand kratische Politik der Gleichmacherei da- wachsen, brauchen ihre Zeit. Wenn Sie Schweden schon mal am Abgrund. In für gesorgt, daß herausragende Persön- genau hinschauen, entdecken Sie eine ihrer Not werteten auch die Sozial- lichkeiten wie Palme heute fehlen? vitale Theater-, Film- und Literaturwelt. demokraten die Krone kräftig ab. Soll Enquist: Der Mythos der Gleichmache- Vielleicht sollten wir uns manchmal ein ein derartiges Krisenmanagement das rei war immer ein bißchen komisch. bißchen bescheidener geben. Wohlfahrtsmodell auch diesmal retten? Aber: Führungsfiguren wie Palme oder SPIEGEL: Auch um die viel gerühmte Enquist: Ich glaube, ja. Das Krisenbe- sein Amtsvorgänger Tage Erlander sind schwedische Toleranz steht es nicht mehr wußtsein ist enorm ausgeprägt. Eine ausgesprochene Raritäten. Die heutigen so gut. Wie in Deutschland werden nun- mehr in Schweden Ausländer angepö- belt, wurde eine Moschee abgefackelt. Enquist: Das ist wahr. Wir importierten im großen Stil Arbeitskräfte, meist Fin- nen und Jugoslawen. Nun ist unser Tole- ranzniveau gegenüber Einwanderern aus fremden Kulturen erstmals einer Zer- reißprobe ausgesetzt, das Ergebnis ist manchmal häßlich. Doch verglichen mit vielen anderen Ländern, hat Schweden Riesenmengen von Flüchtlingen aus aller Welt aufgenommen. Beißt sich indes die Arbeitslosigkeit fest, wird es unvermeid- lich zu Konflikten kommen. SPIEGEL: Sie haben lange im Ausland ge- lebt. Gleichwohl plädieren Sie gegen Schwedens Beitritt zur EU. Warum? Enquist: Das führt unweigerlich zu einem Verlust an Demokratie. Das Kernmotiv ist schlicht die Einsicht, daß ein kleines Land wie Schweden mit seiner spezifi- schen politischen Tradition und Kultur an Einfluß bei der Gestaltung der eige-

J. WIKSTRÖM / PRESSENS BILD nen Gesellschaft verliert. Vier Fünftel al- Bürgerlicher Regierungschef Bildt: Von einer Krise in die nächste ler Entscheidungen, die jetzt unsere Re- gierung oder auch die Gewerkschaften starke Regierung kann viel ins Lot rük- Spitzenpolitiker sind dagegen nur Tech- treffen, werden dann von anderen In- ken. Krisen beuteln auch andere euro- nokraten. Man sollte aber nicht verges- stanzen und Leuten gefällt. päische Staaten. Schwedens Industrie sen, daß das schwedische Modell in sei- Die Währungsunion beispielsweise mit blüht. Warum sollten wir die Krise ei- ner Blütezeit zwischen 1955 und 1985 ei- einer Europäischen Zentralbank beraubt gentlich nicht meistern können? ne der wenigen politischen Utopien war, uns eines der wichtigsten Instrumente für Es wird viel von einer dramatisch verdü- die in der Wirklichkeit funktionierte. die Steuerung unserer Wirtschaft, denn sterten Stimmung der Schweden gere- Sie verband Freiheit, Sicherheit, Gebor- die Geldpolitik unserer Reichsbank in det, ich finde das unbegründet. Die ge- genheit und Toleranz. Natürlich war die- den letzten 40 Jahren hat grundlegend sellschaftlichen Ideale sind weitgehend ses Modell bei jenen Kräften, die heute das schwedische Modell mitgestaltet. intakt. Gerade angesichts der Verände- als Marktwirtschaftler firmieren, unge- SPIEGEL: Als EU-Klubmitglied können rungen der letzten Jahre sagen viele: heuer verhaßt, weil es auf der politischen Sie Entscheidungen mitformen. Bleiben Nein, das wollen wir nicht. Und in Bühne einen besonderen Platz bean- Sie draußen, ist der Einfluß gleich Null. einer Umfrage sprachen sich kürzlich spruchte. Dieser Staat, die Gewerkschaf- Enquist: Draußen zu bleiben ist gleichbe- mehr als die Hälfte für höhere Steuern ten, die dank Staatsunternehmen ge- deutend mit der Möglichkeit, unsere po- aus. Kennen Sie eine andere Gesell- mischte Wirtschaft, all das war ein biß- litische Landschaft, vor allem die Sozial- schaft, deren Bürger höhere Steuern be- chen zu erfolgreich, wurde daher ange- politik, weiterhin selbst gestalten zu kön- fürworten? griffen, als egalitär und unterdrückend nen. SPIEGEL: Abhanden gekommen ist diffamiert. Ich habe 18 Jahre in Paris, SPIEGEL: Ein nordischer Block aus Dä- Schweden auch die Rolle des Weltge- Berlin, Los Angeles und Kopenhagen ge- nemark, Norwegen, Schweden und Finn- wissens, mit der Olof Palme als Premier lebt und weiß, daß wir in Schweden unge- land hätte doch in der EU erhebliches so virtuos umzugehen verstand. heuer viel Freiheit haben. Gewicht.

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Enquist: Diese 4 Län- Arbeit selbst versorgen neration zurückzuerobern, ist ein Phä- der haben in ihren Par- zu können. Deshalb nomen, das vor fünf Jahren niemand für lamenten insgesamt stemmt sich die Mehr- denkbar gehalten hätte. mehr als 20 politisch zahl der Frauen gegen SPIEGEL: Woher rührt das? unterschiedlich orien- den Beitritt. Enquist: Der Begriff des Volksheims als tierte Parteien. In Dä- SPIEGEL: Und im Zeit- Urmodell des schwedischen Wohlfahrts- nemark und Norwegen alter multinationaler staates aus den dreißiger Jahren sagt regieren Sozialdemo- Zusammenarbeit kann den Jungwählern nichts, wie Umfragen kraten, in Schweden das kleine Schweden zeigten. Als sie aber ihre ideale Gesell- und Finnland haben überleben? schaftsordnung konkret beschreiben bürgerliche Koalitions- Enquist: Natürlich kön- sollten, da kam genau das Volksheim in kabinette die Macht. nen wir das. Schweden seiner Blütezeit zum Vorschein, nämlich Es gibt nicht den nordi- gehört doch schon dem die Ordnung und Verhältnisse, die wir schen Konsensus. Europäischen Wirt- in den sechziger und siebziger Jahren SPIEGEL: Schwedens schaftsraum EWR an. hatten und die erst in den Achtzigern er- EU-Antrag wurde von Wir haben damit alle schüttert wurden. Diese Rückorientie-

der früheren sozialde- B. ERICSON Vorteile, die der freie rung ist ein geradezu aufregender Stim- mokratischen Regie- Premier Palme (1984) europäische Markt un- mungsumschwung. rung gestellt. War die Keinerlei Furcht serer Industrie zu bie- etwa von Sinnen? ten hat. Die Union aber Enquist: Die schwedischen Sozialdemo- besitzt politische Gestaltungs- und Nor- „Stockholm ist die kraten träumen von der engen Zusam- mierungskraft. Wir können sicherlich absolut aufregendste menarbeit mit allen europäischen Sozi- besser außerhalb der Union überleben. aldemokratien. Aber das ist eben ein SPIEGEL: Worauf gründen Sie Ihren Op- Stadt Europas“ Traum. Die nordischen Sozialdemokra- timismus, daß für die Wohlfahrtssysteme ten haben eine andere Gesellschaftsvi- noch genügend Geld vorhanden ist? SPIEGEL: Nostalgie sollte aufregend sion als ihre kontinentalen Genossen. Enquist: Wir haben auch früher Krisen sein? Überdies sind sie erfolgreich und wie- durchgestanden. Warum sollten wir in Enquist: Schweden erlebt für seine Ver- der im Aufwind, während die Sozialde- Schweden mit unserem Bildungsstan- hältnisse geradezu stürmische Zeiten, es mokraten Mittel- und Südeuropas im dard, unseren Wäldern und Bodenschät- istheute eines der aufregendsten Länder, Gegenwind treiben oder zerfallen. Ich zen, unserer Industrie und Hochtechno- Stockholm die absolut aufregendste vermag keine Konturen einer paneuro- logie so verdammt pessimistisch sein? Stadt Europas. päischen Sozialdemokratie zu erken- SPIEGEL: Wir bewundern Ihren uner- SPIEGEL: Wirklich? Vielleicht die schön- nen, keine Voraussetzungen für einen schütterlichen Glauben an die Beständig- ste, aber aufregend? eurosozialdemokratischen Konsensus. keit des schwedischen Modells. Enquist: Stockholm ist eine europäische Die schwedischen Sozialdemokraten Enquist: Ich bin nicht der einzige. Unter Metropole, die alles hat: Sie ist hart und reden ihren Wählern ein, die EU sei den Intellektuellen hat ein bemerkens- fordernd, gefährlich, voller Verbrechen, kein konservatives Projekt; rohe werter Orientierungswandel stattgefun- aber sie ist auch eine kulturelle Experi- Marktkräfte würden die Union nicht den. Zu Palmes Zeiten standen sie ent- mentierwerkstatt voller Möglichkeiten dominieren, statt dessen die EU zu ei- weder links von den Sozialdemokraten für Action und Vergnügen. nem sozialdemokratischen Projekt und haßten Palme, oder sie rückten nach SPIEGEL: Wie werden die Schweden avancieren. Das ist ein bodenlos naives rechts und begeiferten ihn in sprachloser denn beim EU-Referendum im Novem- Versprechen. Wut. Der Sinneswandel der Intellektuel- ber abstimmen, pro oder kontra? SPIEGEL: Die skandinavischen EU-Kri- lenistnur einZeichen. Daß esden Sozial- Enquist: Das hängt davon ab, wie die So- tiker betonen immer, daß von der Uni- demokraten gelungen ist, die junge Ge- zialdemokraten nach der Wahl agieren. on nur die Industrie und die Eine Handvoll der Spitzenkräf- Bauern profitieren . . . te hat sich auf den Unionsbei- Enquist: Das stimmt ja auch. tritt festgelegt, aber an der Ba- SPIEGEL: Es stimmt aber auch, sis ist der Widerstand sehr daß Brüssel sich nicht in die So- stark. zial- oder Frauenpolitik von SPIEGEL: Dieses Referendum Mitgliedsländern einmischt. entscheidet somit auch über Enquist: Absolut falsch. das Schweden des Jahres 2000? Schwedens Frauen, die zu über Enquist: Alles hängt ab vom 80Prozent berufstätig sind, fin- Ausgang des EU-Plebiszits. den ihr Einkommen vor allem Gewinnen die Befürworter, im öffentlichen Dienstlei- wird die schwedische Gesell- stungssektor. Wenn die Brüs- schaft wohl denen anderer eu- seler Wirtschaftspolitik in Zu- ropäischer Staaten ähneln, et- kunft von einer Eurobank mit- wa Holland, Belgien oder auch gesteuert wird, die vorwiegend Deutschland. Gewinnen die Preisstabilität will, muß sich Neinsager, bleibt Schweden das auf unseren Dienstlei- ungefähr das, was es heute ist: stungsbereich auswirken. ein Land mit vielen Proble- Der muß dann drastisch ein- men, aber mit seinen Eigenar- geschränkt werden, was wie- ten und einem eigenen Ge- derum die Erwerbsmöglich- sicht. keiten der schwedischen Frau- SPIEGEL: Herr Enquist, wir

en beeinträchtigt, ihr ver- T. TOMASZEWSKI / VISUM danken Ihnen für dieses Ge- brieftes Anrecht, sich durch Schwedisches Altersheim: Ein Stück Geborgenheit spräch. Y

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den Autonomieverhandlungen Palästina um Quadratmeter und Para- graphen ringt; im Stich gelas- sen fühlt sich der PLO-Vorsit- zende gleich von der ganzen Hosen runter Weltgemeinschaft, die mit den Hilfsgeldern für den raschen Trotz offizieller Zusagen stockt die Aufbau Palästinas knausert. Zahlung der Hilfsgelder für die Au- „Wir hofften auf Milliar- den“, gestand der Minister für tonomieregion. PLO-Führer befürch- Planung und internationale Zusammenarbeit in der ten Unruhen in der Bevölkerung. Autonomieregierung, Nabil Schaath, unlängst Vertrauten ie Mitglieder der Handelskammer seine Enttäuschung, „aber wir von Gaza hatten eine erbauliche erhielten nur einige Millionen“ DVeranstaltung erwartet. Immerhin – und die sind längst ver- wollte ihnen Palästinenserführer Jassir braucht. Schaath: „Wir haben Arafat die Zukunft der Autonomiege- kein Geld in den Kassen.“ biete schildern – und die hatte der PLO- Zwar versuchten die Palästi- Chef bislang in den schönsten Farben nenser Ende vergangener Wo-

ausgemalt. che auf einer internationalen GAMMA / STUDIO X Doch der Vorsitzende schwärmte Konferenz der Geberländer in Autonomieführer Arafat nicht von Jerichos Zukunft als devisen- Paris weitere sofortige Hilfs- „Ich war zu leichtgläubig“ trächtiges Touristenziel im Westjordan- zahlungen in Millionenhöhe land; und auch über den baldigen Auf- herauszuhandeln. Doch bei einem Tref- stehen weitgehend nur für gezielte Auf- stieg der Flüchtlingshochburg Gaza vom fen am Freitag nachmittag gab es ernste bauprojekte wie Straßenbau oder Ab- Elendsstreifen zum Badeparadies am Differenzen – die Sitzung wurde vertagt. wassersysteme zur Verfügung. Ausga- Mittelmeer fiel kein Wort. Statt rosarot Im fernen Gaza hielt Arafats Grollen ben für Verwaltung oder Löhne müssen sah Arafat schwarz. an. genau nachgewiesen werden. Die Ge- „Freund und Feind haben uns im Der PLO-Führer hatte wohl gehofft, berländer befürchten, ihre Millionen Stich gelassen“, jammerte der ergraute den Aufschwung in Palästina steuern zu könnten andernfalls in dem für Vettern- Freiheitskämpfer, „wenn nicht bald Hil- können wie seine Befreiungsorganisati- wirtschaft anfälligen PLO-Apparat ver- fe kommt, gibt es eine Katastrophe.“ on: Dort trifft er letztlich alle Entschei- sickern. Sogar Selbstkritik, sonst nicht gerade dungen selbst und fühlt sich eigentlich Die von der Weltbank geforderte Arafats Stärke, scheute der Redner niemandem verantwortlich. Die zugesi- „Transparenz und Berechenbarkeit“ wi- nicht. „Ich fürchte, ich habe versagt, ich cherten internationalen Hilfsgelder derstrebte der Autonomieverwaltung. war zu gutgläubig“, gestand der PLO- glaubte Arafat womöglich ähnlich aus- „Die Geber wollen jeden Knopf und je- Chef unter Tränen. geben zu können wie einst die Millio- de Tasche jedes Palästinensers in der Die Klage galt – ausnahmsweise – nenspenden der Ölscheichs vom Golf – Verwaltung überprüfen“, empörte sich nicht seinen israelischen Friedenspart- nach Gutdünken. Finanzchef Ahmed Kurajji, auch Abu nern, mit denen Arafat seit der Aussöh- Aber die für die nächsten Jahre ver- el-Ala genannt: „Wie wir die Hosen nung vor einem Jahr in Washington bei sprochenen knapp vier Milliarden Mark runterlassen müssen, das ist beschä- mend.“ PLO-Chef Arafat sprach schon von der „interna- tionalen Erniedrigungsbank“. Erst auf Druck der USA gründete die PLO den Palästi- nensischen Wirtschaftsrat für Entwicklung und Wiederauf- bau (Pecdar). Der stellte, zu- mindest weitgehend, Mitarbei- ter ein, die sich durch Leistung und nicht nur durch Loyalität qualifiziert hatten. Die Ober- aufsicht allerdings führt Arafat persönlich. Detaillierte Unterlagen über Kosten und Projekte fehlen den Weltbankmanagern frei- lich weiterhin. „Die können immer noch kein ordentliches Budget vorlegen“, berichtet ein Experte der Pariser Run- de: „Wir wissen nicht mal, wie groß das Defizit überhaupt ge- nau ist.“ Schätzungen gehen von 150 bis 225 Millionen

E. BAITEL / GAMMA / STUDIO X Mark aus, die nächsten sechs Palästinenser-Polizei im Gazastreifen: „Die Zeitbombe tickt“ Monate inklusive.

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Daß der Überblick bei den Abrech- nungen fehlt, ist nicht allein schuld der Bosnien Palästinenser. Denn entgegen den offi- ziellen Beteuerungen hat Israel keines- wegs alle benötigten Dokumente und Angaben rechtzeitig an die Autonomie- „Wir wählen die Waffen“ verwaltung übermittelt. So waren etwa die Gehaltslisten der Präsident Alija Izetbegovic´ über die Papst-Absage und neue Waffen Lehrer, die jüngst dem palästinensischen Erziehungsministerium vorgelegt wur- den, unvollständig. „Nun müssen wir SPIEGEL: Sie sind verärgert, weil der SPIEGEL: Diese Sorge sind Sie vielleicht noch einmal ganz von vorne kalkulie- Papst seinen Besuch in Sarajevo abge- bald los. Sollte das Waffenembargo ge- ren“, klagt ein entnervter Mitarbeiter der sagt hat. Vermuten Sie eine Intrige des gen die Moslems aufgehoben werden, Behörde. Vor allem Lohn- und Verwal- Uno-Beauftragten Akashi, den Sie seit wie es der amerikanische Präsident Bill tungskosten schlagen kräftig zu Buche. Monaten nicht empfangen? Clinton erwägt, wollen die Blauhelme Vom Arzt bis zum Straßenreiniger war- Izetbegovic´: Eine Revanche ist nicht abziehen. ten Tausende von Angestellten und Ar- ausgeschlossen. Akashi ist wütend auf Izetbegovic´: Das ist eine Erpressung. beitern, die früher von den israelischen mich. Er suggerierte dem Papst eine Ge- Sie wollen uns einschüchtern mit der Besatzern bezahlt wurden, auf ihr Geld. fahr, die niemals bestand. Alle Sicher- Drohung, keine Lebensmittel mehr an Lehrern wurde bereits bedeutet, daß sie heitsbedingungen waren erfüllt. die Zivilbevölkerung zu liefern und die noch mindestens zwei Monate ohne Ge- SPIEGEL: Was hätte Ihnen, einem über- Schutzzonen ihrem Schicksal zu überlas- hälter unterrichten müssen. zeugten Moslem, der Besuch des Ober- sen, obwohl unsere Kämpfer in den Selbst bei der palästinensischen Poli- hauptes der katholischen Kirche bedeu- Schutzzonen ihre schweren Waffen nie- zei, Aushängeschild der neugewonnenen tet? dergelegt haben, ja sogar den Uno- Selbständigkeit, steht Arafat in der Krei- Kommandeuren bedingungslos de. Die etwa 6000 Mann müssen schon unterstellten. dankbar sein, wenn sie die Hälfte ihres SPIEGEL: Eine schwere Anklage, Lohns erhalten. welche Alternative sehen Sie? Die im benachbarten Jordanien statio- Izetbegovic´: Die Uno-Verbände nierte Palästinensische Befreiungsar- schützen einige unserer Interes- mee, die demnächst im Westjordanland sen – aber nicht die wichtigsten. für Sicherheit sorgen soll, erhielt seit Juni Wenn man uns vor die Alternati- gar keinen Sold mehr. Um seine maulen- ve stellt: Uno-Blauhelme oder den Männer zu beruhigen, mußte Gene- Waffen, wählen wir die Waffen. ral Mohammed Abd el-Rahim gleichsam Die garantieren unserem Volk Jordaniens König Hussein anbetteln. zumindest das Überleben. Großzügig griff der Monarch in die Scha- SPIEGEL: Ihr Regierungschef Ha- tulle – und düpierte so seinen alten Ge- ris Silajdzˇic´ brüstete sich doch ge- genspieler Arafat. rade erst, an genügend modernste Streiks oder gar Unruhen unzufriede- Waffen heranzukommen. Wann ner Arbeiter, Polizisten und Soldaten rechnen Sie sich eine militärische wollen PLO-Führer nicht mehr völlig Chance gegen die Serben aus? ausschließen. Arafats Chefberater für Izetbegovic´: Wir brauchen mehr Wirtschaftsfragen, Mahir el-Kurd, warn- Waffen – vor allem Artillerie. te eindringlich vor den Folgen einer an- Erst dann können wir die Tschet- haltenden Zahlungsunfähigkeit: „Jede nik-Verbände des Radovan Ka- Verzögerung verschärft die Zeitbombe, radzˇic´ besiegen. Die militärische

die bereits unerbittlich tickt.“ REUTER Stärke der Serben läßt sich Eigene Steuern, die dem Autonomie- Bosnien-Präsident Izetbegovic´ schwer einschätzen – Analysen gebiet ein Stück Unabhängigkeit vom in- „Die Welt ist ein Irrenhaus“ von Militärexperten differieren ternationalen Finanztropf verschaffen beträchtlich. könnten, sind zwar vorgesehen; noch Izetbegovic´: Sehr viel. Ich wollte diesen SPIEGEL: Brauchen Sie nicht auch Flug- aber fehlen verbindliche Durchfüh- großen Mann in Sarajevo sehen. Die zeuge, um gegenhalten zu können? rungsbestimmungen. Planungsminister Welt ist ein Irrenhaus geworden, und der Izetbegovic´: Nein, denn gegen die fast Schaath schiebt den Israelis die Schuld Papst ist eine der wenigen Persönlichkei- 600 Flugzeuge der ehemaligen jugosla- zu: „Zur Umsetzung der Autonomie ten, die die moralischen Kriterien noch wischen Streitkräfte kämen wir ohnehin fehlt das Geld, das die weiter in unserem nicht verloren haben und zwischen nicht an. Das generelle Flugverbot über Namen eintreiben.“ Recht und Unrecht unterscheiden kön- ganz Bosnien ist ausreichend – wenn die Vor Anfang nächsten Jahres werden nen. Nato es weiter überwacht und bei Ver- eigene Palästinensersteuern jedoch SPIEGEL: Ihr Verhältnis zu den Blauhel- letzungen einschreitet. kaum greifen. Der ausbleibende Auf- men der Unprofor wird immer gespann- SPIEGEL: Und wenn das Waffenembar- schwung in der von Massenarbeitslosig- ter. go doch nicht aufgehoben wird? keit und hoher Inflation geplagten Regi- Izetbegovic´: Sie tolerieren alle Angriffe Izetbegovic´: Dann bleibt es beim Status on zehrt schon zu sehr am Nimbus des Pa- der serbischen Aggressoren, sogar in den quo. Karadzˇic´ hält derzeit 70 Prozent lästinenserführers, der sich zum überpar- Uno-Schutzzonen. Wir haben das Ge- des bosnischen Territoriums besetzt, der teilichen „Vater der palästinensischen fühl, daß uns der Rauch in die Augen Kampf wird weitergeführt wie im Box- Familie“ (Arafat) küren lassen möchte. sticht – aber wir sehen nicht, aus welcher ring – bis zum K. o. Das wird ein langer Eine Steuerdiskussion vor den für Mitte Richtung. Klar ist: Uno-Generalsekretär Krieg. Dezember vorgesehenen Wahlen würde Butros Butros Ghali steht im Dienst eini- SPIEGEL: Bei Bill Clinton wollen Sie ihn zu viele Stimmen kosten. Y ger Mächte – aber sicher nicht der USA. die Realisierung der im März in Wa-

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shington unterzeichneten moslemisch- kroatischen Konföderationsvereinba- Weltbevölkerung rung anmahnen. Worüber sind Sie ent- täuscht? Izetbegovic´: Ich habe gesagt: So geht es nicht mehr weiter. Am Dienstag werde Wie Würste ich mit Kroatiens Präsident Franjo Tudjman darüber sprechen und ihn fra- Überraschende Koalitionen, gen, ob er diese Koalition ernsthaft be- fulminante Auftritte – nur die absichtigt. Von Clinton und auch von Deutschland werde ich verlangen, daß Deutschen versagen auf sie als unsere Freunde und im Falle der Weltbevölkerungskonferenz. Washingtons als Mitunterzeichner unse- re Bemühungen unterstützen, die Ver- einbarung zu verwirklichen. eine fünf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges tritt der zweit- SPIEGEL: Sollte Ihre Vernunftehe mit Kmächtigste Mann Amerikas ans den Kroaten auseinanderbrechen, dürf- te diese Scheidung kaum friedlich ver- Podium der Uno-Weltbevölkerungs- laufen. Doch ein Krieg an zwei Fronten konferenz in Kairo – und preist die Er- würde das Ende der moslemischen Ver- rungenschaften des Kommunismus. teidigung bedeuten. Gemeint ist indes nicht das Reich des Bösen, die frühere Sowjetunion, son- Izetbegovic´: Wir werden alles tun, da- dern ein ideologischer Vasall in den mit es nicht soweit kommt. Tropen. SPIEGEL: Viel mehr, als die Illusion der „Die Regierung verschaffte Frauen Einheit Bosnien-Herzegowinas auf- wie Männern den Zugang zu Erzie- rechtzuerhalten, bliebe Ihnen nicht, ha- hung, richtete ein gutes Gesundheitssy- ben Sie unlängst beklagt. Ist diese Illu- stem für Mütter und Kinder ein und sion die Opfer noch immer wert? machte Verhütungsmittel leicht zu- Izetbegovic´: Wenn wir diese Illusion, gänglich“, erklärt US-Vizepräsident Al wie Sie es nennen, aufgeben, begeben Gore den Delegierten aus 155 Län- wir uns in die völlige Unsicherheit. dern. Das verblüffende Lob gilt dem Bosnien-Herzegowina ist ein internatio- südindischen Bundesstaat Kerala, den nal anerkannter Staat. Deshalb versu- jahrzehntelang Amerikas Systemfeinde chen wir, an diesem Konzept festzuhal- regierten, Kommunisten eben. ten. Die baltischen Länder haben mit Mit jenem Pathos, in das Amerika- dieser Illusion 50 Jahre Sowjet-Okku- ner gern verfallen, wenn sie ihr eigenes pation überstanden und sind heute wie- Land bejubeln, ergänzt der US-Vize: der frei. „Dies alles hatte zur Folge, daß die SPIEGEL: Und wenn die Welt eine Mos- Wachstumsrate der Bevölkerung auf lem-Republik als selbständigen Staat nahe Null fiel.“ Erfolge wie die in Ke- auf bosnischem Territorium anerken- rala und „Einsichten aus Entwicklungs- nen würde, könnte Sie das umstim- ländern“ seien „viel zuwenig beachtet“ men? worden, räumt Gore selbstkritisch ein. Izetbegovic´: Nein, das wäre zu riskant. Außerdem glaube ich, daß die Welt sich darüber kaum einig wäre. Y * In Karatschi (Pakistan). REUTER Demonstrierende Islamistinnen*: Am Scheideweg der Geschichte

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The Guardian, London

„Wir stehen an einem Scheideweg der nisationen. Gemeinsam mit Bürger- misten bei ihren ägyptischen Landsleuten Geschichte“, ruft Pakistans Premiermi- rechtlerinnen anderer Länder verwan- kaum mehr Gehör finden. nisterin Benazir Bhutto in den überfüll- deln sie das graue Sportstadion neben Ausgerechnet die so lange verhaßten ten Plenarsaal. Sie träume „von einem dem Konferenzzentrum in eine bunte Amerikaner beweisen in Kairo kompe- Pakistan, in dem jede Schwangerschaft Arena bemühter Familienplaner. tentes und liberales „leadership“ und ver- gewollt ist und die Geburtenkontrolle „Wenn die Diplomaten da drüben zichten auf vordergründige Großmach- funktioniert“, erklärt die moslemische nichts Ordentliches zustande bringen, tallüren; niemand kann sich ihrem Regierungschefin, obwohl sie Wider- müssen wir die Sache eben allein voran- Charme und ihrer Umtriebigkeit entzie- stand islamischer Fundamentalisten im treiben“, schimpft Frances Kissling, hen. So gewinnt US-Vize Gore die Sym- eigenen, bevölkerungsreichen Land be- Präsidentin von „Catholics for a Free pathie aufgeklärter Nicht-Regierungsor- fürchten muß. Choice“, die für das Recht der Frauen ganisationen, als er ihre jahrelange Lob- Katholische und moslemische Dele- auf Selbstbestimmung eintreten. byarbeit als „ermutigend, hilfreich und gierte quittieren die Forderung der Nor- entscheidend“ beschreibt. wegerin Gro Harlem Brundtland, „Ab- Unabhängige Frauen der erst 1980 treibungen zu entkriminalisieren, um Le- Der Vatikan mag gegründeten „International Women’s ben und Gesundheit der Frauen in aller die Schlacht gewinnen, Health Coalition“ aus New York sind Welt zu schützen“, mit Bravorufen. die Wortführer in der offiziellen US- Doch kaum sind die Starredner abge- den Krieg hat er verloren Delegation. Im traditionsreichen Shep- reist, bricht Zwist aus zwischen den Dele- heard’s Hotel wird ihr luxuriöser Emp- gierten. Wie, ob und an welcher Stelle im Doch so verständlich der Frust ange- fang zum bewegenden Ereignis: Eine neuen Uno-Aktionsplan von „sicheren sichts des Verhandlungsmarathons in Russin bittet um eine Trauerminute für Abtreibungen“ die Rede sein darf, be- der ersten Tagungswoche sein mag: Im alle Opfer des von Stalin 1936 verfügten schäftigt die Spitzenbeamten aller Konti- tausendjährigen Kairo gewinnt eine Abtreibungsverbots. Unzählige Frauen nente fünf Tage lang, weil die Sendboten neue Weltordnung erste Konturen. starben, weil das Dekret sie den Kurpfu- des Vatikans blocken. Erst am Freitag „Alles ist möglich“, schwärmt der schern ausgeliefert hatte. abend geben sie ihren Widerstand vor- Amerikaner Wirth und schmunzelt über Auch US-Medienmogul Ted Turner läufig auf, wollen aber gegen den Kom- „bizarre Koalitionen“. Aufgekratzt be- zeigt Omnipräsenz. Stündlich läßt er sein promiß erneut protestieren. richtet er von einem Treffen mit Regie- CNN-Fernsehen demonstrieren, wie „Beobachten Sie nie, wie Würste oder rungsvertretern des Iran, „der jetzt un- wichtig ihm das Thema Geburtenkon- Gesetze gemacht werden“, versucht US- sere Position bei der Familienplanung trolle ist. Der Globalsender will die Kon- Chefunterhändler Timothy Wirth aufge- zur Gänze unterstützt“. ferenz zu einem „historischen Ereignis“ brachte Frauenrechtlerinnen zu beruhi- Beinahe spielerisch finden die US- aufwerten. Kein Verhandlungsstoff gen, die in Kairo auf den Durchbruch Demokraten sich in der verwirrenden scheint zu banal, um ihn nicht zum Vor- zum Konzept der umfassenden „Repro- neuen Welt der Blockfreiheit zurecht. wand für Sondersendungen über die ductive Health“ hoffen, einer „Gesund- Bevölkerungspolitik muß sein, sie nützt Übervölkerung des Planeten zu nehmen. heitsfürsorge der Fortpflanzung“. allen, arm wie reich, argumentieren sie. Vorwürfe der Manipulation weisen Mehr als tausend Amerikanerinnen Es klingt so überzeugt und überzeu- CNN-Mitarbeiter mit dem Argument zu- vertreten am Nil Nicht-Regierungsorga- gend, daß selbst die ortsansässigen Isla- rück, alles diene dieser „verdammt guten

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AUSLAND

Sache“. Bei offiziellen Uno-Einladungen streiten Turner-Vertraute siegestrunken mit altgedienten CNN-Moderatorinnen darum, wer von ihnen sich zugute halten Verhöhnte Intelligenz könne, Ted und dessen Oscar-Frau Jane Fonda auf den richtigen grünen Kurs ge- Eklat um eine deutsche Wissenschaftlerin bracht zu haben. Soviel Glamour läßt fast Mitleid auf- elassen stand sie Freitag abend Für journalistische Anfragen aus kommen mit den blamierten Verlierern am Swimming-pool des Kairoer aller Welt blieb die Professorin un- des Uno-Welttreffens: dem Vatikan und GMarriott-Hotels. Beim offiziel- ansprechbar und feilte an einer ge- den Deutschen. len Empfang der deutschen Delega- wundenen Erklärung, die sie Die Strategie der römischen Kurie, mit tion prostete sie ihren Kollegen zu. schließlich durch loyale Beamte Gaddafis Libyen und anderen islami- Stunden zuvor hatte die Deutsche verteilen ließ. Was sie zu Papier schen Ländern eine fundamentalistische Presse-Agentur gemeldet: „Die um- brachte, bestärkte die Zweifel: Es Glaubensinternationale gegen die USA strittene Bevölkerungswissenschaft- sei ein „Denkverbot“, wiederholte und deren neue Verbündete zu schmie- lerin Charlotte Höhn verläßt die sie, „wenn man es für unzulässig den, macht die Träger schwarzer Kutten Weltbevölkerungskonferenz in Kai- erklärt, daß man sagt, daß die auf den Fluren nicht nur optisch zu Au- ro vorzeitig.“ hat- durchschnittliche Intelligenz der ßenseitern. te Höhns Rückkehr gefordert, eben- Afrikaner niedriger ist als die ande- „Selbst wenn die mit Hilfe des Heiligen so wie das Bündnis 90/Die Grünen. rer.“ Nur habe sie sich, behauptet Geistes jeden Verweis auf sichere Abtrei- Doch Charlotte Höhn, Leiterin Frau Höhn nun, „eine solche Posi- bungen aus dem Uno-Programm fernhal- des Bundesinstituts für Bevölke- tion nicht persönlich zu eigen ge- ten, so mögen sie die Schlacht gewinnen, rungsforschung in Wiesbaden, ver- macht“. den Krieg haben sie verloren“, meint mied jeden Kommentar über den George Moffett vom Christian Science von ihr provozierten Eklat – letzter Monitor in Boston. Umfragen belegen, Höhepunkt einer Woche offenkun- daß die überwältigende Mehrheit der Ka- digen Realitätsverlusts. tholiken längst nicht mehr auf dieStimme Bereits vor Konferenzbeginn hatte des Papstes hört, wenn Verhütungsfra- die Berliner Tageszeitung Auszüge gen entschieden werden müssen. aus einem Gespräch der Historikerin Auch den Deutschen droht ein Autori- Susanne Heim mit der Bevölke- tätsverfall auf der Weltbühne. Statt sich rungsexpertin abgedruckt. In diesem wie auf der Uno-Weltkonferenz zu Um- stufte Höhn „die durchschnittliche welt- und Entwicklungsfragen 1992 in Intelligenz der Afrikaner niedriger“ Rio de Janeiro als Vermittler für eine ein „als die anderer“. ökologische Umkehr zu profilieren, Der stellvertretende deutsche De- wirkt das Auftreten der meisten deut- legationsleiter, Professor Michael schen Delegierten in Kairo peinlich und Bohnet, wiegelte sofort ab: „Höhn provinziell. ist da reingelegt worden, da ist nix Der deutsche Delegationsleiter, Bun- passiert, die muß da durch.“ desinnenminister , Die Deutschen von Kairo solidari- nahm sich zu Wochenbeginn ganze 24 sierten sich. „Von der Tageszeitung Stunden Zeit für seinen Gastauftritt in muß man so etwas erwarten“, kom- Kairo. Als einziger Politiker bediente er

mentierte Ingrid Barbara Simon, AP sich keiner der offiziellen Konferenzspra- Referatsleiterin im deutschen Frau- Delegierte Höhn chen, sondern hielt seine Rede auf enministerium. Traditionsbruch verabsäumt deutsch. Auf die Vorhaltung, wie er als „Frau Höhn wird jetzt für Äuße- sechsfacher Vater das Bevölkerungs- rungen gehetzt, die ich auch bei Ih- Ein Höhn-Verteidiger in der wachstum kritisieren könne, konterte nen finden würde“, attackierte Hans deutschen Delegation machte alles Kanther: „Dieser Rat“ zu „weniger Kin- Joachim Maaßen, Unterabteilungs- noch schlimmer. Von der Statistik dern“ sei lediglich für die Länder der leiter im deutschen Arbeitsministeri- kommend: „Da gibt es ein paar Dritten Welt relevant. um, nachfragende Journalisten. Völker, bei denen das mit der nied- Die europäischen Partner reagieren Manfred Kulessa, in Kairo als rigeren Intelligenz zutrifft“, sagte zusehends gereizt auf den Starrsinn und Vertreter der evangelischen Kirche der Beamte Maaßen. „Das mag sta- das mangelnde Feingefühl der deutschen mit von der Partie, witzelte: „Der tistisch relevant sein, doch bevor Delegierten. So ist die Bevölkerungswis- Ausdruck verhöhnen bekommt eine ich das ausdrücke, muß ich die ethi- senschaftlerin Charlotte Höhn wegen ganz neue Bedeutung.“ schen Schlußfolgerungen erwägen.“ vermeintlicher rassistischer und eugeni- „Ich habe keine Fakten“, bedau- Immerhin ein Bevölkerungswis- scher Äußerungen in die Kritik geraten erte Höhns Vorgesetzter im Innen- senschaftler, Professor Rainer und mußte vor Konferenzende abreisen ministerium, Klaus-Henning Rosen, Münz von der Berliner Humboldt- (siehe Kasten). noch am Donnerstag nachmittag, Universität, distanzierte sich. Münz Besonders aufgebracht ist die türki- fünf Tage nach der Veröffentli- meinte, „die deutsche Bevölke- sche Delegation, da das deutsche Innen- chung. Dabei hatte das ARD-Früh- rungswissenschaft hat nach 1945 ei- ministerium im Uno-Dokument in jedem stücksfernsehen an diesem Tag Ton- nen Traditionsbruch verabsäumt“. Fall ein „Recht auf die Wiedervereini- bandausschnitte gesendet, die bele- Nur: Münz ist kein Mitglied der gung von Familien“ verhindern will. „Die gen, daß Frau Höhn korrekt zitiert deutschen, sondern der österreichi- sind ja schlimmer als der Vatikan“, kom- worden war. schen Delegation. mentiert ein Vertreter aus Ankara, „fürchtet sich Deutschland etwa vor einer neuen Türkenbelagerung?“ Y

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Wie Feuer und Wasser

BASSAM TIBI

arf ein Moslem verhüten? Darf eine feministische gestattet. Das ist herrschende Meinung in der islamischen Schriftstellerin wie Taslima Nasrin aus Bangladesch, Welt. D dem mit 113 Millionen Einwohnern drittgrößten isla- Der Koran bezieht die Vernunft an vielen Stellen ein und mischen Land, ungestraft eine moderne Interpretation des ermahnt die Gläubigen sogar zum kritischen Denken: „A-fa- Koran fordern? Haben Moslems einen Anspruch auf die vom la taakilun – Seid ihr nicht vernünftig?“ Woher beziehen die Westen so hochgehaltenen individuellen Menschenrechte? Ich Fundamentalisten dann aber das Recht, gegen die für unsere fürchte: nein. Welt überlebenswichtige Bevölkerungspolitik zu hetzen oder Liberale Moslems treten zwar für Geburtenkontrolle ein kritische Köpfe wie Nasrin zu bedrohen? und sehen keinen Widerspruch zum Koran, im Gegenteil. Sie Die Schriftstellerin hat kritisiert, daß etliche der tradierten berufen sich sogar auf die heilige Schrift: Der Koran, so ihre Koraninterpretationen nicht mehr zeitgemäß seien – mehr als überaus fortschrittliche Interpretation, verpflichte den Mos- 1300 Jahre nach Erstellung, gläubige Muslime sagen: nach lem, seinen Nachkommen ein würdiges Leben zu garantieren. der Offenbarung, des Werks wahrlich kein Wunder. Und sie Ergo sei bei allzu großer Armut, wie sie in etlichen Ländern hat gefordert, Interpretationen etwa über die Rolle der Frau der islamischen Welt immer noch vorherrscht, auch Geburten- zu überdenken. Damit hat Nasrin nichts anderes getan, als kontrolle im Sinne Allahs. das Recht auf freie Meinung in Anspruch zu nehmen; genau Fundamentalisten hingegen glauben, daß solche Beschrän- das aber ist mit der islamischen Lehre nicht vereinbar. kung ein Eingriff in den Willen Allahs ist, und verdammen jeg- Die Streitfrage zwischen fortschrittlich denkenden Mos- liche Bevölkerungspolitik als ketzerisch. Verhütung verträgt lems und Fundamentalisten oder, provokanter formuliert, sich nicht mit dem herkömmlichen Islam. zwischen dem Westen und dem Islam lautet: Hat der Mensch Auch für die individuellen Menschenrechte, deren univer- einen eigenen Willen und somit ein Recht, selbständige Ent- selle Verbreitung Uno und westliche Regierungen auf ihre scheidungen zu treffen, oder ist er ein von Allah gesteuertes Fahnen geschrieben haben, läßt der traditionelle Islam keinen Geschöpf? Platz, wie der Fall Nasrin zeigt. Was hat die Frauenrechtlerin Nach der islamischen Doktrin wird zwischen Rechten des Nasrin denn verbrochen, daß der Bangladescher Mufti Said Menschen und Rechten Gottes unterschieden. Wenn ein Fazlul Haq Amini der Autorin prophezeit, sie werde „der Be- Mensch einen anderen etwa körperlich verletzt, dann ist das strafung, die der Koran vorsieht, nicht entgehen“? Nasrin hat im Islam ein Verstoß gegen Rechte des Menschen. Die rigo- das universelle Menschenrecht der freien Meinungsäußerung – rose Antwort des Koran: „Leben um Leben, Auge um Auge, Religionskritik eingeschlossen – in Anspruch genommen. Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn“ (Sure 5,45). Darf gegen die Dichterin deshalb von islamischen Funda- Ein Moslem aber, der sich nicht mehr zum Islam bekennen mentalisten in aller Welt gehetzt werden? Aus traditioneller will, verstößt gegen ein Gottesrecht und wird zum Aposta- islamischer Sicht: ja. ten. Darauf steht im Prinzip die Todesstrafe: Sie kann aller- Denn der Islam, wörtlich: Ergebung in den Willen Gottes, dings ausgesetzt werden, wenn der abtrünnige Moslem Reue fordert absolute Hingabe. Der Koran ist heilig, Zweifeln nicht zeigt.

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Nur nach westlichen Maßstäben darf Taslima Nasrin für ihre ten, Regelungen und Strafen zu einem rigiden, alle Lebensbe- Kritik das Menschenrecht auf Meinungsäußerung beanspru- reiche umfassenden „Recht“. Deshalb ist die Scharia im Islam chen. Aus islamischer Sicht sind ihre Forderungen der Beleg eine allgemein verbindliche Lebensordnung mit einer Vielfalt für ihren Abfall vom Glauben und eine „Verletzung des Rech- von Interpretationsmöglichkeiten und kein System von gesetz- tes Allahs“. Damit steht das individuelle Menschenrecht der ten Normen im westlichen Sinne. Meinungsfreiheit im Konflikt mit dem islamischen Gottes- Bereits im islamischen Mittelalter wurde die Scharia als recht. Knüppel gegen kritische Philosophen benutzt, die – beeinflußt Die Verfolger von Nasrin versichern zwar, daß sie nicht ge- vom altgriechischen Erbe – eine Art islamischen Rationalis- gen Menschenrechte seien. Nur: Sie verstehen unter Men- mus entwickelt hatten. Wie heute Nasrin, wurden die islami- schenrechten etwas anderes als etwa europäische Schriftstel- schen Aufklärer aber schon seinerzeit von Vertretern der tra- ler, für die ihre Freiheit der Meinungsäußerung ebenso heilig ditionellen Scharia der Häresie beschuldigt und ihre Bücher ist wie die Würde des Propheten für einen strengen Moslem. verbrannt. Es kommt somit bereits in Ansätzen zu jenem „Zusammen- Wie sehr die Islamisten auch heute wieder, im Wortsinn, prall der Zivilisationen“, den der Harvard-Gelehrte Samuel zündeln, zeigt der Anschlag von Sivas. In der türkischen Stadt Huntington in noch viel größerem Ausmaß für die Zukunft waren 1993 bei einem Kongreß kritischer Schriftsteller und In- vorhersieht. tellektueller 36 Menschen durch ein Feuer im Tagungshotel ums Leben gekommen. Und nachdem der ägyptische Schrift- n der islamischen Gesellschaft gelten die Menschenrechte steller Farag Foda die Trennung der Politik von der Scharia nur im Rahmen der Scharia, der islamischen Gesetzge- gefordert hatte, wurde er erschossen. Ibung, wie der saudiarabische Außenminister Saud el-Fei- Der ägyptische Fundamentalisten-Mufti Mohammed el- sal 1993 auf der Wiener Uno-Menschenrechtskonferenz offen Ghasali sprach als Gutachter vor Gericht die Mörder gleich- bekannte. Die von der Weltgemeinschaft als individuelle Men- sam frei: „Jeder Moslem, der sich für die Aufhebung der Scha- schenrechte definierte Glaubensfreiheit, die Gleichstellung ria einsetzt, ist ein Apostat. Im Islam gibt es keine Strafe für von Mann und Frau, von Nichtmoslems und Moslems aber den Moslem, der einen Apostaten tötet.“ Diese Aussage ent- sind mit der Scharia nicht vereinbar. wickelte sich schnell zu einer allgemeinen Mord-Fatwa, ohne Die Autorin Nasrin stört sich besonders an den Koranaussa- daß sie – wie die berühmte Verurteilung Salman Rushdies gen über die Frauen. Für eine moslemische Frau, die es heute durch Ajatollah Chomeini – in die Schlagzeilen der westlichen ablehnt, sich einem Mann zu unterwerfen, ist es problematisch Presse gelangt wäre. hinzunehmen, daß der Koran eindeutig ver- Wer wie Nasrin die Benachteiligung der kündet: „Die Männer stehen über den Frauen durch den Koran und dessen konser- Frauen, weil Gott sie (von Natur vor die- Der Schlagstock vative Interpretationen anprangert, wer sich sen) ausgezeichnet hat“ (Sure 4,34). als liberaler Moslem für Empfängnisverhü- Der Koran gesteht zudem den Männern der Scharia tung einsetzt, wer dem konservativen Scha- besondere Rechte gegenüber den Frauen duldet keine ria-Verständnis eines Ghasali widerspricht, zu: „Und wenn ihr fürchtet, daß (irgend- der hat den Tod verdient. welche) Frauen sich auflehnen, dann ver- Meinungsfreiheit Die Ghasali-Fatwa ist denn auch für Ex- mahnt sie.“ Nützt dies nichts, dann wird tremisten der Freibrief für Gewalt gegen je- empfohlen: „Meidet sie im Ehebett und schlagt sie“ (Sure den Intellektuellen und Schriftsteller, der wie Taslima Nasrin 4,34). Kritik wagt und zeigt: Scharia und Menschenrechte vertragen Die Autorin Nasrin und andere Frauenrechtlerinnen wol- sich ebensowenig wie Feuer und Wasser. len, daß solche Koranverse neu ausgelegt werden. Diese For- derung nach einer zeitgemäßen Deutung des Koran ist der ein- enschenrechte sind angeborene und unveräußerliche zige Weg, den göttlichen Text mit den individuellen Men- Rechte der Individuen, ob Frau oder Mann, gegen- schenrechten zu versöhnen – das setzt aber eine aufgeschlosse- M über Staat und Gesellschaft. Das rigide Rechtssy- ne, ja im westlichen Sinne aufgeklärte islamische Gesellschaft stem, das islamische Gelehrte seit dem frühen islamischen voraus. Mittelalter dem Koran zuschreiben und Scharia nennen, ist Die von den Fundamentalisten propagierte schriftgläubige mit den auf diese Weise definierten Menschenrechten unver- Deutung, die in der moslemischen Bevölkerung weitaus ver- einbar. breiteter ist als modernere Interpretationen, führt jedoch da- Bereits im Mittelalter hat der islamische Rechtsgelehrte Ibn zu, daß der islamische Glaube und die individuellen Men- Teimija, der unter Fundamentalisten heute als der meistgele- schenrechte unvereinbar bleiben. Die sogenannte Islamische sene mittelalterliche Sakraljurist gilt, in einer seiner Schriften Deklaration der Menschenrechte von 1981 war nur der Ver- die Scharia als Rahmen der Politik umrissen. Seitdem schwebt such, alten Wein in neue Schläuche zu gießen. die jegliches Vernunftdenken ausgrenzende schriftgläubige Taslima Nasrin hatte das Glück, durch ihre Reise nach Scharia als Damoklesschwert über dem Kopf eines jeden selb- Stockholm, wo sie mit dem Tucholsky-Preis des schwedischen ständig denkenden Moslems. Pen-Clubs geehrt wurde, ihren Häschern vorerst entkommen Die Scharia trennt die Moslems von den Zivilisationen, die zu sein. Doch es gibt genügend Fälle von anderen kritischen sich zu den Menschenrechten bekennen. Um die große Kluft Moslems in Algerien, Ägypten oder auch in der Türkei, die zwischen Islam und Menschenrechten zu überbrücken und von Fundamentalisten verfolgt oder gar getötet wurden, ohne beide in Einklang zu bringen, benötigen Moslems eine Epoche daß die Weltöffentlichkeit davon erfuhr. In fundamentalisti- der Aufklärung. scher Umgebung ist es ein Risiko, zugleich ein Moslem und Dafür müßten sie gar nicht Europa nachahmen. Es würde ein Intellektueller zu sein, weil der Schlagstock der Scharia genügen, wenn Moslems auf ihre eigene, durch die Scharia un- keine Meinungsfreiheit duldet. terdrückte Tradition des von den griechischen Einflüssen be- Dabei kommt im Koran das Wort Scharia nur einmal vor fruchteten islamischen Rationalismus zurückgriffen. Dann lie- (Sure 45,18), und das auch nur im Sinne von Weg oder Rich- ßen sich auch Islam und Menschenrechte vereinbaren. tung, nicht aber im Sinne von Gesetz oder Rechtssystem. Die Scharia als religiöses Recht ist eine postkoranische Kon- Tibi, 50, in Damaskus geborener Moslem, ist Professor für struktion islamischer Schriftgelehrter. Im Laufe der Jahrhun- Internationale Politik an der Universität Göttingen; in dieser derte aber entwickelten sich diese von Menschen erarbeiteten, Woche erscheint sein Buch „Im Schatten Allahs – Der Islam den Gläubigen aber als gottgegeben dargestellten Vorschrif- und die Menschenrechte“.

172 DER SPIEGEL 37/1994 Werbeseite

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Frankreich Feine Hoheit Jacques Chirac fordert Premier Edouard Balladur heraus; der Zwist der Rechten um die Präsident- schaftskandidatur spitzt sich zu.

rankreichs Außenminister Alain Juppe´, von den Unbilden zwischen FBrüssel, Sarajevo und Ruanda zum Politprofi mit Sorgenfalten im Gesicht gehärtet, präsentierte sich plötzlich wie- der in einer Rolle aus alten Zeiten – der

des gaullistischen Heilspredigers. Die C. VIOUJARD / GAMMA / STUDIO X Arme wie zum Segen ausgebreitet, ver- Rivalen Chirac, Balladur: „Visionen für Frankreich“ kündete der Pariser Chefdiplomat, ne- benher Generalsekretär der Gaullisten- ten der politischen Buchmacher im Ren- über Chirac) – schon 1981 und 1988 bei partei RPR: „Möge Jacques Chirac uns nen um den Elyse´e-Palast, Balladur. Bewerbungen um das höchste Staatsamt den Weg zeigen. Er weiß, daß ihr ihm Außer Juppe´ sprachen sich Parla- gescheitert – konnte nicht mehr tatenlos folgt.“ Begeistert skandierten rund 2000 mentspräsident Philippe Se´guin, der zusehen, wie Balladur sich aufbaute und in der Weinstadt Bordeaux versammelte Fraktionschef in der Nationalversamm- allmählich in die Rolle des aussichtsreich- Junggaullisten: „Chirac pre´sident“. lung, Bernard Pons, und ein Monument sten Elyse´e-Anwärters der Konservati- Was bis vor kurzem nur schwer vor- des Gaullismus, Ex-Premier Jacques ven hineinwuchs. stellbar war, ging jetzt als „die politische Chaban-Delmas, für den RPR-Chef aus. Verärgert registrieren die Anhänger Bombe der Saison“ (Pariser Radio- Der greise Bürgermeister von Bordeaux Chiracs, wie der Widersacher die Staats- Kommentar) hoch: Gaullistenchef und Re´sistance-Held: „Chirac verkör- bank Cre´dit Lyonnais privatisiert und Jacques Chirac, 61, gewinnt die Ober- pert unsere Vision von Frankreich.“ Führungspositionen im staatlichen Fern- hand im Bruderzwist mit Gaullistenpre- Doch Chiracs Intim- und Erzfeind Bal- sehen mit seinen Gefolgsleuten besetzt. mier Edouard Balladur, 65, um die Kan- ladur – offiziell sind die beiden Zöglinge Balladur kann es sich leisten, selbstbe- didatur für das Amt des Staatspräsiden- des 1974 verstorbenen Staatspräsidenten wußt aufzutreten. Mit bis zu 63 Prozent ten. Georges Pompidou „Freunde seit 30 Jah- Zustimmung ist der Premier fast doppelt In einem wahren Handstreich spannte ren“ – will im Kampf um den Elyse´e nicht so populär wiesein Rivale im Pariser Rat- der Pariser Bürgermeister in Bordeaux einen Schritt zurückweichen. Damit artet haus. Unter der Regie des früheren Wirt- so ziemlich alle gaullistischen Schwerge- das bisherige Geplänkel zwischen den schaftsministers zeigt Frankreichs Öko- wichte für seine Präsidentschaftskandi- beiden Gaullisten um die Nachfolge des nomie Anzeichen von Aufschwung, die datur ein – gegen den bisherigen Favori- Sozialisten Franc¸ois Mitterrand in offe- Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannt nen Bruderkrieg aus – sich. zum Entzücken der Vor allem findet der Großbourgeois Sozialisten. Die seit Balladur immer stärkere Unterstützung der Katastrophe bei beim Koalitionspartner der Gaullisten, den Parlamentswahlen der UDF. Dieses Sammelbecken rechts- 1993 zerstrittene Linke liberaler Honoratioren verabscheut hofft, daß der Haus- Chirac. Ein UDF-Mann, Verteidigungs- krach bei den Rechten minister Franc¸ois Le´otard, hatte als er- ihrem Kandidaten für ster Prominenter die Parole „Balladur den Elyse´e-Palast hilft: pre´sident“ in Umlauf gesetzt. dem noch zaudern- Immer koketter kehrt Balladur den den Chef-Europäer Elyse´e-Kronprinzen hervor. Als erster Jacques Delors, 69. Premier der gaullistischen Republik fährt Eigentlich wollte der stets hoheitsvolle Regierungschef mit niemand, am wenig- Standarte am schwarzen Amts-Renault sten Chirac selbst, den 25 zu Kriegerdenkmälern – derlei war Präsidentschaftswahl- bisher Privileg des Präsidenten. Ende kampf schon acht Mo- August leistete sich Balladur einen „für nate vor dem Votum die Fünfte Republik beispiellosen Akt“ – beginnen. So wiegelte wie sich das große Regionalblatt der Top-Gaullist denn Sud-Ouest empörte: Öffentlich entwarf auch ab: Er sei bisher er Leitlinien für Frankreichs Außenpoli- nur „Kandidat in einer tik – ein flagranter Einbruch in eine ver- Debatte über die Zu- fassungsmäßig gesicherte Domäne des kunft unseres Lan- Staatschefs.

J. LANGERIN / SYGMA des“. Aber der „Bull- Gaullisten ärgerten sich über den Staatschef Mitterrand: Amüsierter Beobachter dozer“ (Pompidou „Größenwahn“ des Parteifreunds, und

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AUSLAND REUTER Chef-Europäer Delors: Nutznießer des Bruderzwists?

selbst Mitterrand, ansonsten amüsierter Bei Besuchen an der Basis, die ihn gar Beobachter der Konkurrenz um die auf die französischen Antillen führten, Nachfolge, rüffelte den Premier für bei deftigen ländlichen Buffets (ein Gaul- dessen Anmaßung: „Es kann nicht list in Bordeaux: „Seine Hoheit Edouard zwei Präsidenten gleichzeitig geben.“ wäre sich zu fein dafür“) erinnerte der Mitterrand wäre nicht Mitterrand, erdverbundene Abgeordnete aus der ar- wenn er bei den Diadochenkämpfen men südwestfranzösischen Corre`ze das um sein Erbe nicht einen gegen den gaullistische Fußvolk daran, wer mit anderen ausspielte. In einem Interview „glühendem Einsatz“ die letzten Parla- mit der konservativen Tageszeitung Le mentswahlen für die Rechte gewonnen Figaro vorigen Donnerstag lobte der habe: Chirac. In einem etwas nebulösen alte Stratege erst Balladur: „Er hat vie- Grundsatzpapier („Reflexionen über ein le Trümpfe, und er schlägt sich gut.“ neues Frankreich“) setzte er Balladurs Dann stichelte der Sozialist, Chirac pragmatischem Europakurs eine Politik habe „nicht genügend nachgedacht“, mit nationalen Akzenten entgegen. als er – statt nach dem Wahlsieg der Balladurs Bande zur UDF erklärte der Chefgaullist zum Verrat. Chirac: „Daß Ehrgeiz sich äußert, ist menschlich.“ „Ehrgeiz ist menschlich. Aber: „Was zählt, ist die Einigkeit.“ Bal- Aber was ladur erkannte die Gefahr, alsParteispal- ter abgestempelt zu werden. „Die Ideale zählt, ist die Einigkeit“ der Gaullisten sind die meinen“, versi- cherte er beflissen. Rechten 1993 selbst das Amt des Pre- Im Gegenzug demonstrierte der Gaul- miers zu übernehmen – Balladur vor- listenboß seinen Einfluß bis hinein ins schickte. Der nutzte seine Chance, sich Kabinett Balladur. Er ließ seinen RPR- mit der „beträchtlichen Anziehungs- Freund, Kulturminister Jacques Toubon, kraft der Macht“ dem Volk zu empfeh- gegen Balladurs Haushaltsplan rebellie- len. ren. Und öffentlich dankte Chirac dem Schließlich brachte der Staatschef gar Freund Juppe´ für den Treueschwur, der noch den fast vergessenen rechten Ex- auch einen Akt der Illoyalität des Außen- Premier Raymond Barre als „einen der ministers gegenüber seinem Regierungs- Fähigsten, den Staat zu lenken“, ins Ge- chef bedeutet: „Merci, Alain“. spräch. Zweimal hat der linke Mitterrand ge- Doch der zu Brachialmethoden nei- gen rechte Favoriten gewonnen, weil die gende Chirac verläßt sich auf seine In- sich gegenseitig ausmanövrierten. Jetzt stinkte. Er setzte dort an, wo er den hoffen Konservative hinter den Kulissen stärksten Rückhalt hat: bei der RPR-Ju- – Philippe Se´guin, Ex-Staatschef Giscard gend und in der Provinz. Vor jubelnden d’Estaing (UDF) und RPR-Innenmini- Jung-Gaullisten machte er den Rivalen ster Charles Pasqua –, daß die beiden nieder. Balladurs Popularität? Nicht Bi- Hauptakteure einander ins Patt bugsie- lanzen, so Chirac, sondern „Visionen ren. Das wäre die Stunde eines Kompro- für Frankreich“ zeichneten einen Präsi- mißkandidaten. denten aus. Balladur, ein Premier von Se´guin: Frankreich werde den Prä- Format? Chirac: „Ich war es, der seine sidenten bekommen, „den es ver- Nominierung durchgesetzt hat.“ dient“. Y

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Rußland Polizeikampf gegen Killer Mit Gewalt geht Präsident Jelzin gegen Kriminelle vor – mit Rechtsbruch gegen Rechtsbrecher, wie ihm Juristen vorwerfen. Doch Moskaus Mafia ist schwer zu knacken. Ein Menschenleben ist nicht einmal eine Kopeke wert, die Verbindungen der Gangster reichen bis in die oberste Staatshierarchie. KASSIN FOTOS: P. Razzia von Angehörigen der Sonderpolizei in Moskauer Hotel, Festnahme von Geiselnehmern durch Eliteeinheit: „Hat dir

er erste Versuch, vorsichtig den Doch in seiner Gier hat er dann Mikro- Geheimdienst und Polizei können Kopf zu heben, mißlingt: Ein fon und Funkgerät in der Gürteltasche nun jeden Verdächtigen 30 Tage in Dschwarzer Bomberstiefel trifft die seines Opfers ebenso übersehen wie die Haft halten, Wohnungen und Firmen linke Niere, ein Handkantenschlag das auf dem Parkplatz herumlungernden ohne umständliche Formalitäten durch- Genick. Walerij drückt sein Gesicht Gendarmen in Räuberzivil – „Mussor“ suchen, die Passagiere jedes beliebigen noch tiefer auf den schwarzen Asphalt. (Müll) im Russenslang. Den Dilettantis- städtischen Omnibusses filzen. Bank- „Schön artig, Kindchen“, hört er gerade mus muß Walerij büßen: Erst läßt An- und Geschäftsgeheimnisse gelten nichts noch. Dann bleibt ihm für eine Weile drej („Andi“), der Chef des Komman- mehr. die Luft weg. dos, die Zuschauer wegräumen, dann Für die von Kreml-Beamten erwar- Die Greifer im abgewetzten Sport- beginnt mit kräftigen Pistolenhieben ein tete Schwemme ausgehobener Geset- dreß blaffen zwei seiner Genossen – Verhör. zesbrecher stehen Sondergerichte be- Beine gespreizt, Hände auf dem Auto- Nach kaum fünf Minuten beginnt Wa- reit. Der geballte Einsatz staatlicher dach – an: „Bei der geringsten Bewe- lerij zu erzählen. Das Sonderkommando Macht soll laut Geheimdienstchef gung putzen wir euch weg wie die Flie- schwärmt in die Seitenstraßen aus und Sergej Stepaschin verhindern, daß gen.“ fängt fünf mit Handschellen, Gaspisto- Rußland „zum Verbrecherstaat ver- Rund um die Metrostation Domode- len und Messern bewehrte Hintermän- kommt“. dowskaja schaut ein gutes Hundert ner. Seit dem Untergang der Sowjetunion Moskauer der kinoreifen Vorstellung zu Die Kämpfer von der RUOP, Mos- zählen Rußlands Kriminalstatistiker je- – wortlos und stark irritiert: Keiner kaus Eliteeinheit gegen das organisierte des Jahr jeweils ein Drittel mehr an weiß zunächst, wo in dem rabiaten Verbrechen, sind unzufrieden: kein ein- Delikten: derzeit 2,8 Millionen. Die Stück die Guten stehen und wo die Bö- ziger großer Fisch und noch alle Patro- höchsten Zuwachsraten verzeichnen sen. nen im Lauf. Mord, Sprengstoffattentate und illega- Walerij gehört zu den Bösen. Noch Seit Präsident Boris Jelzin im Juni per ler Schußwaffengebrauch. 29 200 vor- vor einer Viertelstunde hat er mit einem Dekret der Unterwelt den Krieg erklärt sätzliche Tötungen allein im vergange- Händler vom benachbarten Möbelladen und die Polizei mit Sonderrechten ausge- nen Jahr – das sind etwa doppelt so in den Grünanlagen gesessen, um die stattet hat, sind die Männer mit dem klei- viele Tote wie (offiziell) in den neun Übergabe von 20 000 Dollar zu verhan- nen Aufnäher „Spezial Team“ am Ärmel Jahren des Afghanistankriegs. deln – letzte Rate in einem Erpres- losgelassen: Endlich dürfen sie zulangen Rußlands Unterwelt kontrolliert sungs-Deal, bei dem es für den Gutbe- und Rache nehmen für die Schmach, daß oder beeinflußt etwa 80 Prozent der tuchten ums nackte Leben ging, für Wa- sich Rußlands Ganoven seit Jahren wen- Wirtschaftsunternehmen. 5700 aggres- lerij um einen stattlichen Monatslohn. diger zeigen als die hilflose Polizei. sive Banden verunsichern die großen

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dein Papa nicht gesagt, du sollst keine Menschen entführen?“

Städte von Moskau bis Wladiwostok, jüngst ein Japaner auf Sachalin – werden leicht, tröstet sich Jerofejew, ist dies al- gestützt auf 100 000 freiwillige „Boje- bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. les ein „allgemeines Gesetz in Ländern, wiki“, zu jedem Auftrag bereite para- Platinbarren im Milliardenwert ver- die im Sturm der Geschichte außer Kon- militärische Schlagetots mit Armee- schwinden ebenso wie waffenfähiges trolle geraten“. oder KGB-Meriten. Auf „zehnmal Plutonium. Moskaus Spezialpolizisten glauben mehr als bei der Cosa Nostra in den Aus Hongkong heimkehrende Prosti- denn auch nicht, wirklich wieder in den USA“ schätzte FBI-Chef Louis Freeh tuierte bezahlen statt verlangter Provisi- Griff zu bekommen, was längst entglit- unlängst bei seinem ersten Moskau-Be- on mit ihrem Leben. Zwei Zehnjährige ten scheint. Verbissen, gar mit Lust hau- such die Zahl der Killer. räumen die Moskauer Münze aus – viel- en sie lediglich eine Schneise durch den Aus Angst, die kriminelle Welle aus dem Osten könne dem Westen auf lan- ge Sicht mehr zu schaffen machen als die entschlafene Ideologie von der Weltrevolution, bewilligte der sonst eher knauserige US-Senat eine 30-Mil- lionen-Dollar-Unterstützung für Mos- kaus Anti-Mafia-Attacke. Der Obolus vermag vielleicht das amerikanische Gewissen zu beruhigen. An der Lage eines Landes, in dem ein Menschenleben „symbolisch weniger wert ist als eine Kopeke“ (so der Moskauer Schriftsteller Wiktor Jerofe- jew), wird die Subvention nichts än- dern. Unter dem Mercedes des Chefs des größten Autokonzerns explodiert am hellichten Tag eine Bombe. Terrori- sten nehmen alle paar Wochen ganze

Busladungen von Passagieren als Gei- AFP / DPA seln. Ausländische Unternehmer – wie Bombenattentat auf Konzernchef: „Halber Schritt vor der kriminellen Diktatur“

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Großstadtdschungel, der sich gleich Fluchtversuch.“ Solche Drohungen be- Von 103 am dritten Juli-Sonntag in hinter ihnen wieder schließt. wirken kaum mehr als die Züchtigun- Moskau verübten Verbrechen, rühmt Draußen im östlichen Ismailowo, gen mit einem Jeansgürtel und Schläge sich die Polizei, „sind 102 bereits aufge- Magnet aller Kleinhändler und Spitz- ins Genick („Hat dir dein Papa nicht klärt“: 41 Bandenführer seien seit In- buben, wähnte sich Andis Truppe gesagt, du sollst keine Menschen ent- krafttreten des Erlasses in den Knast unlängst vor einem großen Fang. Spit- führen?“). Erst die „armenische Me- eingerückt. Doch in derselben Zeit stieg zel hatten eine Geiselnahme in der thode“ hilft: Dem ältesten Bandenmit- die Zahl der Auftragsmorde um das An- 3. Parkstraße gemeldet. glied wird die Hose heruntergezerrt derthalbfache. Aktionsablauf wie trainiert: Sichern und der Hals einer in der Küche ent- Präsident Boris Jelzin steht unter im Treppenhaus, Aufbrechen der Tür deckten Sektflasche in den After ge- Druck – und befindet sich dabei zwi- im dritten Stock, Einnahme der Woh- steckt. schen allen Fronten. Der Kampf gegen nung – eine enge Matratzengruft, ver- Bis zum Abend sind alle neun Mann die Unterwelt sei „wichtigste Bedingung wohnt und ohne Möbel. Das Herein- der Gang gefaßt. Nur der Auftragge- für einen Fortschritt der Reformen“, stürmen übernehmen die kleinen Flin- ber, ein „Schwarzer“ (Russenjargon ließ er durch Premier Tschernomyrdin ken in den schußsicheren Westen. Hie- mitteilen: „Jeder Russe muß sich sicher be mit MP-Kolben strecken einen Be- fühlen können.“ wohner nieder, lautes Gebrüll stellt „Wenn ihr nicht Dem Rechtsextremen Schirinowski seine beiden Kompagnons still. An der redet, fliegt reicht das nicht: Er hatte angeregt, Ver- Heizung sind zwei Geiseln angekettet: brecher gleich bei der Festnahme zu er- Leonid Gussakow, 40, von Beruf einer vom Balkon“ schießen, alle Großstädte ein halbes „Bisnesmen“, der Chef der Handelsfir- Jahr lang für Zuwanderer zu schließen ma Globus und sein Prokurist. für Kaukasier), bleibt unauffindbar. und Ausländer abzuschieben. In scheinbar korrekter Vertragsform Das RUOP-Hauptquartier in der Uliza Die Staatsduma, die sich bislang auf hatten die Gangster den Opfern bereits Schabolowka produziert Erfolgsmel- kein neues Strafgesetzbuch zu einigen die Privatwohnungen abgepreßt. Nur dungen. vermochte, hält den Präsidenten-Ukas ein Zubrot von 80 000 Dollar stand Die Beamtin Anna Roginskaja, in ei- für verfassungswidrig: Er verletze gel- noch aus. Das Geld war bereits ver- nem kleinen Kabuff oben unterm Dach tende Gesetze sowie die Menschenrech- plant: Am Tatort findet sich ein Anzei- für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, füt- te. Sogar die Jelzin-nahe Fraktion genblatt, in dem mehrere BMW- und tert ihr quietschendes Faxgerät: Wieder „Wahl Rußlands“ bemängelte die Mercedes-Angebote angekreuzt sind. 17 kriminelle Elemente gefaßt, meldet „Kompetenzüberschreitung“ des Präsi- Im frühkapitalistischen Rußland wird sie den Zeitungsredaktionen; der Jelzin- denten; Kommunisten zetern über ein der frische Reichtum auf denkbar ein- Erlaß zeige „Wirkung“. Die Kunst stati- „Vorspiel zu 1937“ (dem Jahr des fache Weise umverteilt. stischer Schönfärberei hat sich von den schlimmsten Stalin-Terrors).

Polizeikontrolle vor Moskauer Hotel, Festnahme von Erpressern: „Schwere Schläge gegen das Banditentum“

Wie ein Wirbelsturm entlädt sich der Staatskommunisten auf die nächste Ge- Große Worte, der Alltag im RUOP- Polizistenfrust: Ein Jüngling von studen- neration vererbt. Stab ist prosaischer. Nach jeder Aktion tischer Blässe, der „keinerlei Namen“ Unaufhörlich melden Moskaus Me- macht sich Ernüchterung breit. Aus sei- zu kennen vorgibt, krümmt sich bald dien seit Sommerbeginn aus allen russi- nem verqualmten Büro im ersten Stock tränen-, schweiß- und blutüberströmt schen Provinzen „schwere Schläge ge- des ehemaligen Stadtbezirk-Parteikomi- auf der Couch. Ein zusammengeschla- gen das Banditentum“. Polizeivideos im tees bemüht sich das Einsatzkommando gener Kumpan wird unterm Tisch ei- Fernsehen belegen angebliche Erfolge. telefonisch um Staatsanwälte und Un- merweise mit kaltem Wasser malträ- In Jelzins Heimat Jekaterinburg, ver- tersuchungsrichter. tiert. kündet ein Stadtsprecher, sei die Zahl Der Fang von Ismailowo ist erst ein- „Wenn ihr nicht redet“, flüstert der der Straßenverbrechen Diebstahl und mal nicht unterzubringen. „Nicht zu- muskelbepackte Bürstenkopf Kolja, Rowdytum im Juli schlagartig um die ständig“ oder „keine Zeit“ sind noch die „fliegt einer von euch vom Balkon: Hälfte zurückgegangen. wortreichsten Ausreden. Erst gegen

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Sonderpolizei vor Einsatz: Mit Lust durch den Großstadtdschungel

zwei Uhr nachts haben die Offiziere Jelzin hingegen tut so, als sei die Be- vom Spezial Team die neun Kidnapper stechlichkeit auf den staatlichen Mittel- auf verschiedene Moskauer Gefängnisse bau beschränkt. „Über jeden Korrupti- verteilt. onsverdacht Erhabene“ wie Kasannik Jede dritte Ermittlerplanstelle in Mo- aber würden aus der Umgebung des Prä- kaus Staatsanwaltschaft ist unbesetzt, sidenten verdrängt, behauptete die libe- jede zweite nimmt provisorisch ein Jura- rale Nesawissimaja gaseta frei nach Or- student ein. Im derzeit noch geltenden well: „Wie in den guten alten Zeiten – ei- Strafgesetzbuch aus Sowjetzeiten sind nige sind gleicher als die übrigen.“ die Delikte „Glückspiel“ oder „Porno- 274Verbrechen in der obersten Staats- graphie“ nicht näher definiert. hierarchie sollen danach allein in diesem Über die neue Verwahrfrist von 30 Jahr bis Ende Mai registriert worden Tagen können Rußlands Gefängnisdi- sein. Eine Strafverfolgung findet selten rektoren nur lächeln: Fast jede Haftan- statt; die Staatssicherheit nimmt solch stalt zwischen St. Petersburg und Cha- kompromittierendes Material lieber zu den Akten – Opportunitätsprinzip a`la russe. KP-Führer Sjuganow verkündet „Wie in alten Zeiten: schadenfroh: „Wir stehen einen halben Einige sind Schritt vor der kriminellen Diktatur.“ Der Arm der Mafia reicht inzwischen gleicher als die übrigen“ bis in die Gefängnisse. 16 bewaffnete Pa- ten verschafften sich im Mai mit Hilfe be- barowsk ist überfüllt. Seit 1917 wurde in stochener Wärter Zutritt ins Moskauer Moskau, das über genügend Lager im Butyrka-Gefängnis –bei belegten Broten Lande verfügte, gerade mal ein neues und Wodka berieten sie direkt in der Zel- Gefängnis gebaut; es ging dieser Tage in le mit ihren Spießgesellen. Betrieb. Die altehrwürdigen Anstalten Autor Jerofejew nennt für die krimi- „Matrosskaja Tischina“ (Matrosenruh) nelle Krise historisch-politische Gründe: und „Butyrka“ bieten jedem Insassen Millionen Russen hätten aus der Welt des knapp einen Quadratmeter Platz – ideale Gulag eine „Gaunerpsychologie“ mitge- Bedingungen, um in den „Filialen der bracht, eine positive Einstellung zu Ge- Hölle“ (Moskaus Obschtschaja gaseta) walt und Raub, tiefen Argwohn gegen- Weiterbildung für Kriminelle zu betrei- über jeglichem vom Staat gesetzten ben. Recht. Während die Kremlführung ihr Volk Volkes Stimme richtet über den Jelzin- mit Siegesmeldungen aus der Schlacht Ukas: Nur 17Prozent, so ergab eine Um- gegen die Verbrecherwelt eindeckt, wird frage in der Verbrechenshochburg Mos- laut Einschätzung des ehemaligen russi- kau, glauben daran, Rußland lasse sich schen Generalstaatsanwalts Alexej Ka- per Dekret von der Geißel massenhaften sannik „kein einziger großer Fisch“ ge- Verbrechens befreien. Ein Präsident, der faßt. Den Grund kennt nicht nur er: Tau- „mit krimineller Willkür gegen Rechts- sende von Spitzenbeamten, Deputier- notstand vorgehen will“, dreht der Jurist ten, Staatsanwälten und Chefs politi- Kasannik den Spieß um, „dient allein scher Parteien sind für die Polizei tabu. Rußlands Nomenklatura und der Ma- Bis in deren Spitze reicht die Korruption. fia“. Y

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dem Ruf der RPF-Regierung zu folgen Ruanda und nach Ruanda heimzukehren. Schon davon zu reden ist lebensgefährlich: Hu- tu-Funktionäre lassen Rückkehrwillige als Verräter umbringen. Hieb Statt auf Versöhnung zuzusteuern, wollen die Führer des alten Regimes Ruanda zurückerobern. Dafür rüsten im Nacken sie über 20 000 Soldaten der geflohenen ruandischen Armee in den Bergen bei Die Sieger in Kigali hatten sich als Goma in Zaire aus. weltweiter Geheimbund orga- Doch ein Sieg über die neuen Herr- scher im Land der tausend Hügel dürfte nisiert. Militärisch sind sie von den ihnen schwerfallen. Denn die RPF über- Hutu nicht mehr zu vertreiben. raschte Militärfachleute durch erstaunli- che Kampfkraft. In nur drei Mona- ten war es der Befreiungsfront gelun- m Kagera-Fluß treiben Leichen. Nicht gen, die von Frankreich ausgebildete Hunderte wie im April und Mai, als Ruanda-Armee zu besiegen, obwohl IHutu-Milizen in Ruanda eine halbe die (mit 30 000 Soldaten) über doppelt Million Tutsi hingeschlachtet hatten. so viele Kämpfer verfügte und mit Pan- Heute bergen Fischer fünf bis acht Tote zern und Hubschraubern in die Schlacht täglich aus dem Grenzstrom zu Tansa- zog. nia. RPF-Militärchef Paul Kagame, 37, Doch auch diese vergleichsweise ge- mußte seine Truppen dagegen in Fuß- ringe Zahl sorgt für Aufregung. Denn märschen von einem 1990 eroberten die meisten Toten sind an Händen und Streifen in Nordruanda gegen Kigali Füßen gefesselt und weisen Einschuß- führen. Die hochmotivierten und diszi- wunden am Kopf oder Machetenhiebe plinierten Rebellen – sie nennen sich im Nacken auf. „Inkontanyi“, die Tapferen – erreichten Die Mörder, vermutet der Spre- die Hauptstadt in vier Tagen. cher des Uno-Flüchtlingskommissariats, Dort manövrierte Kagame die Hutu- könnten Angehörige der geschlagenen Armee aus, indem er seine Truppen in Milizen sein, die immer noch durch weite mehreren Keilen ins Hinterland vorsto- Teile Ruandas marodieren. Den geflo- ßen und weite Gebiete erobern ließ. Die henen Hutu aber bestätigen die Leichen auf die Verteidigung von Kigali fixierten im Fluß ihre große Furcht: Die von Tutsi Regierungsstreitkräfte erkannten die dominierte Ruandische Patriotische Einkesselung zu spät. Kagames strate- Front (RPF), so glauben sie, räche sich gisch geplanter und gut ausgeführter nun mit Massenexekutionen. Tatsäch- Schlag wird nach Meinung des ehemali- lich kommt es zunehmend zu Über- gen kanadischen Uno-Befehlshabers in griffen der siegreichen Bürgerkriegspar- Ruanda, Generalmajor Rome´o Dal- tei. laire, in künftige Lehrbücher über Parti- Über eine Million Hutu-Flüchtlinge sanenkriege eingehen. halten deshalb lieber in den Elendsla- Die RPF, so stellte sich heraus, ge- gern von Tansania und Zaire aus, als hört zu den am meisten unterschätzten AFP / DPA Zairische Grenzposten, Ruanda-Flüchtlinge: Panik beim Abzug der Franzosen

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modernen Befreiungsbewegungen. Das Mbarara gewann der junge Flüchtling liegt an ihrer unauffälligen, aber wir- Kagame in den siebziger Jahren einen kungsvollen Organisation. Klassenkameraden namens Yoweri Mu- Während etwa Palästinenser und Kur- seveni zum Freund. Der baute seine ei- den in lärmenden Kampagnen – und gene Guerillatruppe auf und revoltierte auch mit Terroranschlägen im unbetei- gegen den damaligen Präsidenten Obo- ligten Ausland – die Weltöffentlichkeit te. Im folgenden ugandischen Bürger- aufrüttelten, machten die Exil-Ruander krieg kämpfte Kagame mit Tausenden (über eine halbe Million in Afrika und Exil-Ruandern an der Seite des späteren etwa 30 000 in Übersee) nie auf sich auf- Siegers Museveni. merksam. Als Präsident revanchierte sich Muse- So kannte kaum jemand die „Umury- veni: Er berief Kagame zum Chef der ango“, die „Familie“ – ein Netzwerk Spionageabwehr und schickte ihn auf ei- von Ruandern, das von Kenia bis Kana- ne Militärakademie in den USA. Später da zusammenhält. Dazu zählen sich so- wurden die Ruander zwar aus Ugandas wohl Generationen von Tutsi, die seit Armee entlassen. Aber Museveni ließ 1959 vor Pogromen aus Ruanda geflo- zu, daß sie sein Land als Hauptbasis für hen sind, wie auch Tausende Hutu, die ihren Befreiungskrieg benutzten. als Oppositionelle vertrieben wurden. Zu den Ruandern in Uganda stießen Die Familie sammelte Geld für die Landsleute aus Kenia, Belgien und RPF; in afrikanischen Exilländern muß- Amerika und halfen den Kämpfern als SIDLER / GAMMA / STUDIO X RPF-Militärchef Kagame: Vorstoß wie im Kriegslehrbuch

te sie ihre Kampagnen meist tarnen, et- Ärzte und Ingenieure. Allerdings durfte wa als Spendenaktion, um angeblich die RPF in Uganda nie ein offizielles Herzoperationen von Mitbürgern in US- Büro unterhalten. Wer ihre Funktionäre Kliniken zu finanzieren. treffen wollte, mußte in Kampala gehei- Wie einst die Zionisten gaben die me Telefonnummern wählen. Exil-Ruander den Glauben an die Rück- Nun sollen diese Aktivisten als Staats- kehr in die angestammte Heimat nie sekretäre und Minister in Kigali Ent- auf. Von staatlichen Jobs ausgeschlos- scheidungen treffen. Sie kontrollieren sen, arbeiteten sich viele in der Diaspo- ein Land, das weitgehend ohne Volk ist. ra als Geschäftsleute nach oben und in- „Das erste Ziel“, sagt der zum Vize- vestierten in die Bildung ihrer Kinder. präsidenten aufgestiegene Militärchef Von denen waren die meisten noch Kagame, „ist, allen zu vermitteln, daß nie in Ruanda. Die Sehnsucht nach der sie Ruander sind und die gleichen Rech- verlorenen Heimat lebte dennoch wei- te haben, ob sie nun zu den Hutu oder ter. „Nichts kann uns davon abhalten, Tutsi gehören.“ nach Hause zu gehen“, singen die Ruan- Doch wie sehr heute die meisten Hutu der in einer RPF-Hymne, „nicht die ihre Landsleute vom anderen Stamm Berge, nicht die Flüsse und schon gar fürchten, zeigte sich beim Abzug der nicht Ikinani“ – der „böse Mann“, wie Franzosen aus ihrer Schutzzone im Süd- sie den ums Leben gekommenen Präsi- westen: In weißen Ifa-Lastwagen nach- denten Habyarimana nennen. rückende äthiopische Uno-Soldaten lö- Strategie und Taktik hatten die RPF- sten Panik aus, weil sie in Statur und Führer in Uganda gelernt. In der Stadt Physiognomie den Tutsi ähneln. Y

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Werbeseite Psychotherapie Hauptstadt des Glücks Ein amerikanischer Psychologe hilft seinen Patienten freizügig mit der Psychopille Prozac. Nun droht ihm Praxisverbot.

pfel-Hauptstadt der Welt“ darf sich Wenatchee nennen, weil von dort Ajedes Jahr viele tausend Tonnen knackiger Äpfel verschickt werden. Das trockenwarme Klima im Tal des Colum- bia River verleiht den Früchten eine an- haltend rubinrote Farbe. Doch noch einen zweiten Hauptstadt- Titel führt neuerdings der Ort im US- Staat Washington, dessen rund 20 000 Einwohner sich mehr oder minder mit Äpfeln beschäftigen: Wenatchee steht in dem Ruf, die „Prozac-Metropole“ Amerikas zu sein, die Stadt, in der sich das modische Antidepressivum Prozac höchster Beliebtheit erfreut. Den neuen Superlativ verdankt das Städtchen dem promovierten Psycholo- gen James Goodwin, 47: Er war es, der „Wenatchee und Umgebung mit Hilfe der Psycho-Pille“ zu einem „Tal des Glücks“ gemacht hat (so die TV-Talk- masterin Oprah Winfrey). Rund 700 Patienten hat Psychologe Goodwin mit dem Medikament behan- delt, das sich zum Weltbestseller unter den chemischen Seelentröstern entwik- kelt (SPIEGEL 5/1994). Den meisten von ihnen geht es seither deutlich bes- ser. Jetzt könnte sich das „happy valley“ in Wenatchee wieder verdüstern – den Bewohnern droht der Rücksturz in ein Meer von Depression, weil ihr Behand- ler in die Klemme gerät: Die Psycholo- genkammer des Bundesstaates Wa- shington hat gegen Goodwin ein Unter- suchungsverfahren eingeleitet. Etliche Psychiater und psychologische Berater der Wenatchee Valley Clinic so- wie eine ehemalige Goodwin-Patientin stellten den Antrag. In öffentlicher An- hörung will nun die Psychologenkam- mer darlegen, daß Goodwin mit seinem freizügigen Prozac-Einsatz „die öffentli- che Gesundheit, Sicherheit und Wohl- fahrt“ bedrohe, wie es in dem Antrag heißt. „Sein Behandlungsstil paßt eben nicht in die amerikanische Kultur der Psycho- therapie“, verteidigt ihn Allgemeinme- diziner Ceci Asplund; er gehört zu dem Dutzend Ärzte in Wenatchee, denen

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AUSLAND PAUL / DER SPIEGEL FOTOS: R. T.FRARE / BLACK STAR Goodwin-Patientinnen Woolett, Sedlacek: Das Happy Valley vor dem Rücksturz in die Depression

Goodwin Patienten mit der Empfehlung blickend als ein Tal der Tränen“. Eine gewaltigt worden. Der Gewaltakt be- überwies, ihnen Prozac zu verschreiben. depressive Grundstimmung sei ihr schwor gleichartige Erinnerungen her- (Nach US-Recht darf Goodwin als Psy- „offenbar angeboren“, die Goodwin er- auf. Sie war als Sechsjährige wiederholt chologe keine verschreibungspflichtigen kannt und mit Gesprächen und Prozac sexuell mißbraucht worden. Medikamente verordnen.) „erheblich aufgehellt“ habe. „Ich mochte nicht glauben, daß ei- Als „reine Hexenjagd“ bezeichnet Auch für Goodwin ist der standesnei- nem so etwas zweimal im Leben pas- Camilla Sedlacek, 78, die „seit Silvester dische Hintergrund der Attacken „völlig siert“, sagt die junge Frau. Sie schloß letzten Jahres auf Prozac“ ist, das gegen klar“. Es gehe „nur ums Geld“, sagt der sich in ihr Zimmer ein, in 14 Tagen Goodwin angezettelte Verfahren. „Die Vietnam-Veteran. Seine Kollegen, nahm sie 20 Pfund ab, ehe sie auf Anra- anderen Psychiater und Therapeuten meint er, mögen sich „nicht damit abfin- ten ihres Freundes Goodwin aufsuchte. sind doch nur neidisch, weil sie nicht so den, daß jemand schnell eine richtige „Er redete mit mir zwei Stunden, er- erfolgreich sind wie Jim“, sagt die ge- Diagnose stellen und eine verhältnismä- läuterte mir seine Diagnose Depression bürtige Tschechin. Sie wanderte als ßig rasche und kostengünstige Therapie und schickte mich zu meinem Haus- Kleinkind mit ihren Eltern nach Ameri- einleiten“ könne. arzt.“ Auch der sprach eingehend mit ka aus und beschreibt ihr Leben „rück- Während US-Psychotherapeuten und ihr, kam zu dem gleichen Untersu- -analytiker bis zu 250 Dollar pro Sitzung chungsergebnis und verordnete, wie es berechnen und ihre Patienten häufig Goodwin empfohlen hatte, Prozac. jahrelang therapieren, stellt Goodwin Die tägliche 20-Milligramm-Dosis pro Gesprächsstunde 100 Dollar in wurde inzwischen auf die Hälfte verrin- Rechnung und bemißt die Behandlungs- gert, und Meegan Woolett glaubt sich dauer auf „maximal ein Dutzend“ Pra- „so weit im Griff“ zu haben, daß sie auf xisbesuche. Sie reichten aus, um „eine das Medikament bald ganz wird ver- Depression zu erkennen und den Be- zichten können: „Die Wolken sind handlungserfolg mit oder ohne Prozac weg.“ zu kontrollieren“, resümiert Goodwin Daß er ein „absoluter Pro-Prozac- seine nunmehr fünfjährige Erfahrung Mann“ sei, wie ihm nun unterstellt mit dem Medikament. wird, will Goodwin nicht gelten lassen. Auch in Deutschland wird das Mittel „Ich kombiniere lediglich meine Thera- (unter dem Markennamen „Fluctin“) pie mit einem chemischen Therapeuti- eingesetzt, wenn auch nicht so massen- kum.“ haft wie in den USA. Prozac und ähnli- Wer die Segnungen der Revolution, che Medikamente, sagt der Bonner die sich in den letzten Jahren bei der Psychiatrie-Professor Hans Jürgen Möl- Behandlung seelischer Krankheiten er- ler, seien „frei von bedeutsamen Neben- eignet habe, „nicht erkennen und an wirkungen“, die häufig bei herkömmli- seine Patienten weitergeben“ wolle, chen Antidepressiva auftreten und handle, so Goodwin, „unverantwort- Langzeittherapien begrenzen. lich, vielleicht sogar kriminell“. Bei mehr als jedem dritten Depressi- Ob der Psychologe aus Wenatchee ven schlägt das Medikament an. Bei der seine Ansichten dem Gremium vermit- 18jährigen Meegan Woolett, die in teln kann, von dessen Votum seine Li- Wenatchee tagsüber im Plattenladen zenz als Psychologe abhängt, steht da- Camelot Music jobbt und abends ins hin. Sicher ist, daß Goodwin, der den College geht, dauerte es zehn Tage: potenten Seelen-Aufheller seit Jahren „Dann begannen sich die Wolken in selber konsumiert, seine Meinung meinem Kopf zu verziehen.“ mit Nachdruck vertreten wird. „Ich Psychologe Goodwin Sie war Anfang Dezember letzten mache viel Getöse, und ich bin stolz da- „Ich mache viel Getöse“ Jahres „auf einer harmlosen Party“ ver- rauf.“ Y

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KULTUR SZENE

Film Kunst Russen-Schwejk Genähter Schrecken auf dem Acker Ein „Gefühl von Hoffnungslosigkeit“ und Das unbedarfte Bäuerlein, die Absicht, Mitmenschen „zu erschrek- ein russischer Bruder des bra- ken“, hat ihr der schwedische Museums- ven Soldaten Schwejk, macht mann Pontus Hulten schon vor Jahrzehn- als Rotarmist im Zweiten ten angemerkt. Nun, als Intendant der Weltkrieg die stalinistische Bonner Bundes-Kunsthalle, öffnet er die Maschinerie lächerlich: Bei Schreckenskammern der Künstlerin Eva den Filmfestspielen in Vene- Aeppli, 69, für deutsches Publikum (16. dig hatte jetzt die Verfilmung

September bis 15. Januar). Bevölkert sind H. HAMMARSKJÖLD der Satire „Die denkwürdigen sie von makabren, oft skelettartigen Pup- Aeppli-Werk „La Table“ (1967) Abenteuer des Soldaten Iwan pen und Puppenköpfen, mit der Hand und Tschonkin“ Premiere – gut einer Singer-Nähmaschine des Baujahrs delt. Im Paris der fünfziger Jahre, als Ehe- zwei Jahrzehnte nachdem Au- 1886 aus Seide, Samt und Baumwolle zu- frau des Kinetik-Künstlers Jean Tinguely, tor Wladimir Woinowitsch rechtgeschneidert, mit Kapok ausgestopft fabrizierte sie Handpuppen, um sie an mit seinem aus der UdSSR und bisweilen in Bronze abgegossen. Die Spielzeugläden zu verkaufen. Der 1991 herausgeschmuggelten Ro- gebürtige Schweizerin Aeppli, die in ländli- verstorbene Gefährte von damals figuriert man zum Gegenwartsklassi- cher französischer Idylle der Anthroposo- auch in der Bonner Ausstellung: Er und phie und Astrologie anhängt und auch zier- Aeppli-Nachfolgerin Niki de Saint-Phalle lich-surreale Texte drechselt, hat ihre To- thronen als Puppenpaar „Les Amoureux“ tentänze einst zu profanem Zweck eingefä- auf einem roten Sessel.

Bücher fahrung; andererseits ein bei deren Schluß-„Apotheo- „probates Mittel der Bevor- se“ sich aber „alles mit einer Von Astarte mundung und Entmündi- Explosion in reines Rot“ gung“. Vor allem in Holly- auflöst, kommt streckenwei- entmündigt wood laufe es glänzend, seit se erst dank Computertech- Hinter jedem steht eine – ei- sich Regisseure wie George nik zur Bühnenwirkung ne Mythe: hinter Alice Lucas („Krieg der Sterne“) (Regie: Franz-Josef Heu- Schwarzer die Göttin Astar- und Steven Spielberg („E. mannskämper). Der Künst- „Tschonkin“-Darsteller Nasarow te, die sich „von den Leibern T.“) vom Geist des Mythen- ler wollte Sprache, Farbe der Gefallenen nährt“; hinter forschers Joseph Campbell und Musik verschmelzen, ker wurde. Der tschechische Heiner Geißler der „listen- anwehen ließen und Mytho- hinterließ allerdings nur das Regisseur Jirˇı´Menzel, der mit reiche Führer“ Odysseus; Erzählmuster übernahmen. Fragment einer Partitur. russischen Schauspielern in hinter Arnold Schwarzeneg- Sehr mythisch, alles. Nach einer Aufführungsserie deren Sprache drehte, wird ger der Göttersohn Herku- in Hannover ist „Violett“ dem Original aufs schön- les, der durch „die Eifersucht Theater noch in Düsseldorf, London, ste gerecht: seiner Humani- seiner Frau stirbt“. Zwei Luxemburg und Brüssel zu tät und seinem schwarzen Münchner Autoren, Michael Rhythmisch sehen. Aufklärung über den Humor. Als Bewacher eines Titel des Spektakels liefert notgelandeten Flugzeugs auf an die Rampe die Kandinsky-Schrift „Über einen Acker abkommandiert, Die Akteure sind bunt ge- das Geistige in der Kunst“: doch von der Obrigkeit ver- mischt. Es treten unter ande- Werde ein Maler nach sei- gessen, wird Tschonkin ren auf: eine „Frau (grün)“, nem Befinden gefragt, so (Gennadij Nasarow) als ver- eine „zinnoberrote Kuh“, ein bedeute die Antwort „ganz meintlicher Nazi-Pilot Held wandernder „roter Punkt“ violett“ meist „nichts Erfreu- einer grotesken Verwechs- nebst einem „blauen zittern- liches“. lungskomödie. den Oval“ – Geschöpfe des Malers Wassily Kandinsky (1866 bis 1944). Der Pionier

JAUCH UND SCHEIKOWSKI der abstrakten Kunst hat das Mythenheld E.T. ungleiche Personal in einer Theatercollage mit dem Titel Görden und Hans Christian „Violett“ versammelt, die am Meiser, erforschten die „all- Freitag dieser Woche, 68 tägliche Macht der Mythen“ Jahre nach ihrer Vollendung, („Madonna trifft Herkules“, im Hannoverschen Sprengel- Wolfgang Krüger Verlag; Museum uraufgeführt wer- 29,80 Mark) und kamen zur den soll. Die Verspätung hat bitteren Einsicht: „Ohne My- Gründe: Kandinskys traum- thos läuft nichts“, weder in haft-diffuse Handlung, in der der Werbung noch in der Po- etwa „ein schwarzer Araber“

litik. Mythen seien, einer- zu Kirchenlied-Rhythmen SIECKMEYER seits, eine kollektive Welter- „an die Rampe marschiert“, „Violett“-Probe in Hannover

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KULTUR

SPIEGEL-Gespräch „ERFOLG IST GLÜCKSSACHE“ Broadway- und Hollywood-Regisseur Mike Nichols über Karriere, Krisen, Komik und seinen neuen Film „Wolf“

SPIEGEL: Mr. Nichols, könnten wir die- ses Gespräch nicht auf deutsch führen? Mike Nichols Nichols: Nein, wirklich nicht. Ich hatte einmal den Wortschatz eines Achtjähri- wurde 1931 als Michael Igor gen, aber das ist lange her. Peschkowsky in Berlin geboren und SPIEGEL: Haben Sie je versucht, die kam 1939 in die USA. Er feierte Er- Schauplätze Ihrer deutschen Kindheit folge als Kabarettist, dann als wiederzufinden? Broadway-Regisseur, ehe er 1966 Nichols: Natürlich, als ich zum ersten- erstmals eine Filmregie („Wer hat mal wieder nach Berlin kam, Mitte der Angst vor Virginia Woolf?“) über- sechziger Jahre. Wir wohnten am Oli- nahm. Seine weitere Karriere ver- vaer Platz. Ich habe ihn wiedererkannt, lief unstet, doch Filme wie „Silk- aber es erging mir wie den meisten wood“ (1983) oder „Working Girl“ Leuten mit ihren Erinnerungen: Alles (1988) bestätigten sein Können. war viel kleiner, als ich gedacht hatte. Nichols, der Porträtfotos von sich Am meisten hat mich das Kopfstein- verabscheut, ist in vierter Ehe mit pflaster fasziniert, weil es das in Ame- Diane Sawyer verheiratet, einer der rika ja nicht gibt: Wenn ich auf diese einflußreichsten politischen Fern- Steine vor meinen Füßen starrte, stie- sehjournalistinnen der USA. Sein gen die erstaunlichsten Bilder vor mir neuer Film „Wolf“ kommt diese Wo- auf. che in die deutschen Kinos.

SPIEGEL: Ihr Vater ist vor der Revo- W. MC BRIDGE / RETMA lution aus Rußland geflohen und hat dann die Tochter eines deutschen durch den Kopf, wie brutal er dann von SPIEGEL: Noch eine ganze Schar Schrift- Revolutionärs geheiratet. Ihr Groß- Soldaten erschlagen wurde: Auch damit steller war daran beteiligt. Es muß eine vater war der Schriftsteller Gustav hat der Holocaust begonnen. Vor kur- Künstler-Revolution gewesen sein. Landauer, der 1919 zu den Führern der zem, als im Fernsehen wieder einmal Nichols: Als ich in Chicago studierte, Räterepublik in München gehörte. In- „Der Schatz der Sierra Madre“ lief, kam ein Jugendfreund von Landauer teressieren Sie sich für diese Familien- dachte ich: Wie merkwürdig, dieser B. dorthin zu Besuch und wollte mich un- geschichten? Traven hat mit meinem Großvater zu- bedingt kennenlernen. So saß ich in ei- Nichols: Ich habe ein kleines Foto von sammen eine Revolution gemacht! ner Hotelhalle in diesem sommerheißen Landauer auf meinem Arbeitstisch ste- Chicago einem alten Herrn gegenüber, hen, und ich habe auch ein paar Bü- Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure der in seinem dicken Tweedanzug, in cher von ihm. Manchmal geht mir Urs Jenny und Matthias Matussek in New York. Mantel und Hut mächtig schwitzte und EVERETT COLLECTION FOTOS: Nichols-Filme „Die Reifeprüfung“, „Catch 22“: „Von Stroheim-Wahn und Fellini-Manie gepackt“

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mir erzählte, was mein Großvater für ein wunderbarer Mensch ge- wesen sei. Das war Martin Buber. SPIEGEL: Angeblich sind Sie als Achtjähriger allein mit Ihrem kleinen Bruder in die USA ge- kommen. Wie war das 1939 mög- lich? Nichols: Mein Vater war schon in New York, um ein drittes Mal – nach Rußland und Deutschland – die Zulassungsprüfung als Arzt zu absolvieren. Dann wurden wir Kinder hinübergeschickt, und die Mutter folgte erst mehr als ein Jahr nach uns. SPIEGEL: Was hatten Sie denn für Reisepapiere? Nichols: Der Hitler-Stalin-Pakt hat uns das Leben gerettet: Plötz- lich bekamen wir russische Pässe, und damit habe ich mich mit mei- nem Brüderchen auf der „Bre-

men“ eingeschifft. Mir ist be- FOTOS: PHOTOFEST wußt, daß wir nur durch diesen „Wolf“-Star Nicholson: „Gesellschaftsbild statt Gänsehaut“ glücklichen Zufall davongekom- men sind: Man lebt auf Pump, auf ge- stigten Jungen, der sich, um in der Klas- ter viele, wenn sie irgendwann aus- borgte Zeit, es ist ein unverdientes Ge- se zu überleben, zum Clown macht. bleibt, besonders verbittert. schenk. SPIEGEL: Ist das nicht der tiefere SPIEGEL: Sie haben sich vom Klassen- SPIEGEL: Hatten Sie eine Ahnung, was Grund, warum Komiker privat oft als clown zum Studentenkabarettisten fort- Sie in New York erwartete? miesepetrig und depressiv gelten? entwickelt und stiegen schließlich, um Nichols: Wie denn? Als ich auf dem Nichols: Quatsch! Diesen Typus gibt es 1960, durch Fernsehauftritte und eine Pier, wo wir angelegt hatten, die Neon- natürlich, aber es gibt auch das Gegen- langlebige Broadway-Show zusammen reklame einer Imbißbude mit hebräi- teil. Wenn ich an meine liebsten Komi- mit Elaine May zum berühmtesten Ko- schen Buchstaben sah, fragte ich, natür- ker-Freunde denke, an Steve Martin, an mödianten-Paar Amerikas auf. Woran lich auf deutsch: „Ist das erlaubt?“ Robin Williams oder Whoopi Goldberg, merkt man, daß man berühmt ist? SPIEGEL: Aber dann hat es Ihnen doch deren erste Show ich inszenierte: Das Nichols: Als Komödiant ist man erst Spaß gemacht, Amerikaner zu werden? sind sonnige Gemüter, die haben ein wirklich berühmt, wenn man von ande- Nichols: Wie viele glückliche Kindhei- echtes Talent zum Glücklichsein. Das ren Komödianten parodiert wird. Elaine ten gibt es denn in Wirklichkeit? Mein Problem des Komikers, meine ich, liegt und ich hatten es soweit gebracht. Vater starb viel zu früh, als ich zwölf woanders: Während viele Leute jahre- SPIEGEL: Sie beide waren privat nie ein war, und meine Mutter, ohne Sprach- lang, ja ein Leben lang auf Bestätigung Paar, wirkten auf der Bühne aber unzer- kenntnisse und ohne Beruf, mußte sich und Belohnung für das warten müssen, trennlich. Was war das Geheimnis die- mit Gelegenheitsarbeiten durchschla- was sie geleistet haben, bekommt der ser Beziehung? gen. Ihr ganzer Ehrgeiz war, sich gute Komiker die Zustimmung auf der Stelle: Nichols: Das fragen wir uns selber alle Schulen für ihre Kinder leisten zu kön- für jede Pointe das Lachen des Publi- zehn Jahre mal. Zum Beispiel: Wir ani- nen. Aber für mich war es ein Martyri- kums. Diese Sofort-Belohnung macht mierten einander. Die Spannung zwi- um. Ich war der Prototyp des veräng- abhängig, macht süchtig und macht spä- schen uns war optimal, weil jeder jeden EVERETT COLLECTION Nichols-Filme „Silkwood“, „Working Girl“: „In jedem Film schwingt die eigene Erfahrung mit“

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derruflich in einen Wolf verwandelt. Erst scheint es ihm Spaß zu machen, seine Umwelt mit animalisch schärfe- ren Sinnen zu belauern, Aggression auszuleben, und auch seine Sexuali- tät bekommt einen fri- schen Kick, doch dann kippt diese Erfahrung in Horror um. Könnte es sein, daß Sie mit Ih- ren diversen Autoren zu keinem Schluß ge- kommen sind, ob es letztlich gut oder schlecht sei, ein Wolf zu werden? Nichols: Es ist entsetz- lich, daran läßt der Film gewiß keinen Zweifel, jedenfalls für den sensiblen Litera- ten, den Jack Nichol- son spielt. Es ist ein

GLOBE PHOTO Sieg des Es über das Kabarettistenpaar May/Nichols (1959) Ich. Mein Modell war Duell der Pointenjäger natürlich „Die Ver- wandlung“ von Kafka, Abend noch schlagfertiger als der ande- und wenn man eine solche Fiktion wirk- re sein wollte. lich ernst nehmen will, muß man auch SPIEGEL: Und wer war besser? ihre ganzen Ambivalenzen ernst neh- Nichols: Elaine natürlich. Sie hat mich men. Mir ging es doch nicht um einen immer gerettet. Wir sind damals ausein- Werwolf-Gruselfilm, der dem Publikum andergegangen, weil sie sich als Schrift- Gänsehaut macht, sondern um das Bild stellerin versuchen wollte und ich als einer Gesellschaft, in der man sich Regisseur. Doch 20 Jahre später sind wünscht, man könnte zum Wolf werden, wir noch einmal zusammen auf die Büh- um zu überleben. ne gestiegen und haben, nicht zuletzt SPIEGEL: Der Film beginnt als scharfe, zum eigenen Vergnügen, „Wer hat brillante Kulturbetriebs-Satire und wen- Angst vor Virginia Woolf?“ gespielt. det sich dann ins Melodramatische... SPIEGEL: Als Parodie seiner selbst? Nichols: Liegt das nicht in der Zwangs- Nichols: Nein, wirklich nicht. Natürlich läufigkeit der Geschichte? waren wir überzeugt, daß nie wieder je- mand so viele Pointen wie wir aus die- sem Nachtstück herauskitzeln würde. „Ich bin unfähig, Aber zu meiner Verblüffung gab es ein eine Szene zu drehen, an paar Jahre später in New York eine Neuinszenierung, die ich noch witziger die ich nicht glaube“ fand – und der Regisseur war der Autor Edward Albee selbst. SPIEGEL: . . . und irgendwann fällt der SPIEGEL: Kann es sein, daß Sie alle paar Satz: „Manchmal gibt es ein Happy-End Jahre eine belebende Konfrontation mit auch für Leute, die nicht an Happy- Elaine May brauchen? Ends glauben.“ Das klingt wie eine Aus- Nichols: Offenbar. Das letzte Mal hat rede dafür, daß zum Filmschluß doch sie mich gerettet, als es um „Wolf“ ging, ein Hoffnungslicht aufgeht. und wir haben schon wieder ein neues Nichols: Wer fände die Vorstellung gemeinsames Filmprojekt. Das Dreh- nicht furchtbar, ein Wolf zu werden? buch zu „Wolf“ gefiel mir trotz langer Aber wer weiß, ob es dahinter nicht Mühsal mit zwei Autoren nicht recht, auch etwas wie eine Erlösung gibt? Ich Michelle Pfeiffer übrigens auch nicht, bin selten zufrieden, wenn ich einen und ich bin einfach unfähig, eine Szene Film gerade fertig habe, weil ich nur zu drehen, an die ich nicht glaube. So noch Versäumnisse und Fehler sehe. habe ich wieder einmal Elaine zu Hilfe Aber diesmal bei „Wolf“ denke ich, der gerufen, und sie hat die Rolle des Mäd- Film ist so geworden, wie ich ihn wollte, chens neu geschrieben. Sonst hätte Mi- gerade weil nicht alle Vieldeutigkeiten chelle Pfeiffer wohl nicht mitgespielt. wegpoliert sind. SPIEGEL: „Wolf“ ist die Geschichte ei- SPIEGEL: Als Sie 1965 dreimal nachein- nes Mannes, der sich langsam und unwi- ander den „Tony“ als bester Broadway-

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Regisseur des Jahres gewonnen hatten, lei professionelle Filmerfahrung. Da- porträtierte das Magazin Newsweek Sie mals konnte das niemand außer Eliza- in einer Titelgeschichte als neuen Show- beth Taylor durchsetzen: Sie wollte Business-Prinzen, aber auch als vergnü- mich unbedingt als Regisseur. gungssüchtigen Schickeria-Liebling mit SPIEGEL: Richard Burton hatte darauf Rolls-Royce, Chauffeur und Butler, der keinen Einfluß? von seinem Penthouse am Central Park Nichols: Es stimmt, daß ich mit Burton über ganz Manhattan vom East River schon viel länger und enger befreundet bis zum Hudson schaut. Waren Sie da- war. Aber bei „Virginia Woolf“ hat nie- mals glücklich? mand an ihn gedacht, nicht einmal Eli- Nichols: Als junger Mensch ist man zor- zabeth. Erst nachdem ich als Regisseur nig, rebellisch, unzufrieden. Glücklich- feststand, habe ich ihn gegen viele Zwei- sein lernt man erst nach Niederlagen, fel durchgesetzt. wenn man auch gelernt hat, daß Mißer- SPIEGEL: Heute hält man doch für un- folg die Regel ist und das Unerwartete denkbar, daß der Film nicht von Anfang der Erfolg: reine Glückssache. an für dieses Paar geplant war! SPIEGEL: Mit Ihrem ersten Broadway- Nichols: Klar. Aber ich habe öfter er- Hit haben Sie Robert Redford zum Star lebt, daß man für eine Sache blind ist, gemacht. Als Sie dann den Film „Die gerade weil sie so offen auf der Hand KINDERMANN Starpaar Taylor/Burton (1965)*: „Schwarze Tage“

Reifeprüfung“ vorbereiteten, nahm je- liegt. Burton galt als viel zu britisch, um dermann an, Redford würde die Haupt- einen neurotischen amerikanischen Pro- rolle kriegen. Warum haben Sie einem fessor zu spielen, und auch er war ja nicht total Unbekannten namens Dustin gerade ein Verlierertyp. Hoffman den Vorzug gegeben? SPIEGEL: Stimmt es, daß jede Arbeit mit Nichols: Redford war natürlich der er- dem Paar Taylor/Burton eine harte Zer- ste, mit dem ich Probeaufnahmen mach- reißprobe war? te. Und als ich ihm sagen mußte, er kön- Nichols: Unsinn. Ich wußte natürlich, ne das nicht spielen, weil er kein Verlie- daß Richard seine sogenannten schwar- rertyp sei, fragte er fassungslos: „Was zen Tage hatte, wo er schon morgens zu meinst du damit?“ Um es ihm zu erklä- betrunken war, um sich vor einer Kamera ren, sagte ich: „Weißt du, wie das ist, aufrecht zu halten. Und ich wußte, daß wenn man bei einem Mädchen ab- Elizabeth keine Frühaufsteherin war, blitzt?“ Er fragte wieder: „Was meinst was sogar in ihrem Vertrag stand. Und du damit?“ „Siehst du“, sagte ich, wenn ihr schwieriges Make-up fertig war, „genau darum kannst du keinen Verlie- das siezehn Jahre älter und fetter erschei- rertyp spielen.“ nen ließ, verabschiedeten die Techniker SPIEGEL: War es eigentlich schwer da- sich meistens gerade in die Mittagspause. mals, Mitte der sechziger Jahre, von der Aber Elizabeth hat mir total vertraut und Theater- zur Filmregie hinüberzuwech- sich nicht geschont. seln und „Wer hat Angst vor Virginia SPIEGEL: Dafür ist sie ja auch mit einem Woolf?“ zu drehen? Oscar belohnt worden. Wie kam es, daß Nichols: Es war nicht schwer, es war ei- nach ein paar Anfangserfolgen Ihre Ki- gentlich unmöglich. Ich hatte ja keiner- nokarriere ins Trudeln geraten ist? Nichols: Auch mich hat nach dem Jubel * In „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. um die „Reifeprüfung“ der Erich-von-

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Stroheim-Wahn gepackt und dazu die Williams oder „Der Tod und das Mäd- Fellini-Manie, und ich habe für die Dreh- chen“ mit Glenn Close und Gene Hack- arbeiten zu „Catch 22“ die sechstgrößte man. Es sieht aber aus, als hätten Sie in- Luft-Streitmacht der Welt zusammenge- zwischen resigniert. chartert. Heute denkt man anders dar- Nichols: Ja. In New York und nur in über, aber damals galt der Film als Flop. New York hat es keinen Zweck mehr. Vielleicht hatte ich auch sonst Pech, und Das Publikum ist lustlos, die Autoren irgendwann war meine Lust einfach weg. sind lustlos, und ich bin es auch. Ich habe sieben Jahre lang keinen Film SPIEGEL: Gibt es Filme, bei denen Sie gedreht und statt dessen als Regisseur heute bedauern, daß Sie sie nicht ge- und Produzent am Broadway mehr Geld macht haben? verdient, als ich mir je hätte vorstellen können. SPIEGEL: Das meiste davon haben Siean- „Die Jagd hat sich geblich nicht in Kunst investiert, sondern verschärft, die Stoffe in teure Pferde. Wann hat diese Leiden- schaft Sie gepackt? müssen extremer sein“ Nichols: Schon in meiner Jugend. Ich ha- be zum Teil auch mein Studium als Reit- Nichols: Vielleicht „The Last Tycoon“. lehrer finanziert, und als ich es mir leisten Ich bin kurz vor Drehbeginn ausgestie- konnte, begann ich eine eigene Zucht gen, als ich begriff, daß ich mich gegen aufzubauen. Und dann noch eine. Mich den Produzenten Sam Spiegel nicht be- interessierten immer nur Vollblüter, also haupten konnte: Entweder hätte er Araber, und so flog ich jedes Jahr nach mich erwürgt oder ich ihn. Polen, wo es die besten Jungpferde zu SPIEGEL: Galten Sie nicht auch bei der kaufen gab. In den staatlichen Gestüten Verfilmung von William Styrons Roman in Jano´w Podlaski, Mikołow und Ku- „Sophie’s Choice“ als Regie-Kandidat? rozwe¸ki war ichmit meinen Dollar ein ge- Nichols: Ich war wohl einer der ersten schätzter Gast. Leser des Buchs, weil Styron draußen in SPIEGEL: Also genaugenommen waren Connecticut mein Nachbar ist und es Sie als Pferdehändler tätig? mir gab, schon bevor es erschien. Als Nichols: Aber nein, das ist eine Leiden- ich aber über das Filmprojekt nachdach- schaft. Wenn man ein begnadetes Pferd te, wurde mir klar, ich kann nicht in ei- zum erstenmal sieht, istdas genauso elek- ner KZ-Dekoration hoch auf einem Ka- trisierend, als wenn man auf einer Probe- merakran sitzen und rufen: „He, ihr Ju- bühne einen Unbekannten namens Du- den, alle nach links! Und die SS-Männer stin Hoffman entdeckt. Aber voreinpaar rechts in eine Reihe!“ Das habe ich auch Jahren habe ich die beiden Gestüte ver- Steven Spielberg erklärt, als er vor ein kauft und halte nur noch zum Spaß ein paar Jahren mir „Schindlers Liste“ an- paar Pferde auf unserer Farm in Connecticut, wo wir die Wo- chenenden verbringen. SPIEGEL: Wenn Sie das heuti- ge Hollywood-Business mit dem Ihrer Anfänge verglei- chen: Was hat sich verändert? Nichols: Die Jagd hat sich ver- schärft, besonders seit auch das Fernsehen in jeder Talk- Show hinter dem „Freak of the Week“ her ist: Die Stoffe müs- sen extremer, brisanter sein. SPIEGEL: Kommt Ihre Wahl einer Horrorstory wie „Wolf“ dieser Erwartung entgegen? Nichols: Dann sähe er doch an- ders aus. Meine Filme sind nicht autobiographisch, und doch glaube ich, daß ich kei- nen machen könnte, in dem nicht eine starke eigene Erfah- rung mitschwingt. Das gilt für „Silkwood“ wie für „Regar- ding Henry“ oder nun „Wolf“. SPIEGEL: Sie haben auch in den letzten Jahren immer wie- der versucht, in New York un-

gewöhnliches Theater durch- B. LACOMBE / GAMMA / STUDIO X zusetzen: „Warten auf Godot“ Nichols-Inszenierung „Warten auf Godot“ mit Steve Martin und Robin „Alle sind lustlos“

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teiligung, die du hättest haben können, Kirchenleitung, pinsele gar zu gotteslä- dann wären auf deinem Konto jetzt 30 sterliche Nuditäten. Millionen Dollar mehr.“ Ich war natür- Entschlossen macht sich der sendungs- lich sehr geknickt, rief wie immer in sol- bewußte Gottesknecht (Hugh Grant)mit chen Tiefs Elaine May an und sagte: seiner Gattin (Tara Fitzgerald) auf den „Bitte tröste mich, mir sind 30 Millionen beschwerlichen Weg in die Blue Moun- Dollar entgangen, weil ich den ,Exorzi- tains und landet dort mitten in der Hölle sten‘ nicht gemacht habe.“ Aber sie sag- unchristlicher Zügellosigkeit. te nur: „Unsinn, Darling, wenn du ihn Denn der blasphemische Künstler gemacht hättest, wäre er doch ein Flop (Sam Neill) malt nicht nur Bilder voller geworden.“ So ist Elaine, und das Ko- Fleischeslust, sondern haust auch mit mische oder Schreckliche ist: Sie hat ja Weib, zwei Kindern und drei vollbusigen recht. Akt-Modellen in erotischer Harmonie. SPIEGEL: Sie planen nun die Verfilmung Mit milder Ironie und reichlichem Ge- des Romans „All the Pretty Horses“ von brauch der biblischen Verführungssym- Cormac McCarthy. Ist das nicht ein bole Schlange und Apfel schildert der Buch ohne Handlung? Autor und Regisseur John Duigan, wie Nichols: Das wird sich zeigen. Das sich die verklemmten Briten nach und Drehbuch ist fertig und eine der Haupt- nach in der australischen Einöde mora- rollen auch schon besetzt: Ich habe vor lisch akklimatisieren. ein paar Wochen in Irland einen herrli- Um den Seelen-Hirten zu provozie-

U. REIMER chen jungen Araberhengst gekauft. ren, steckt eines der Sirenen-Modelle bei Spielberg-Film „Schindlers Liste“ SPIEGEL: Mr. Nichols, wir danken Ih- Tisch immer wieder den Finger in die „Schuldgefühlen entkommt man nicht“ nen für dieses Gespräch. Y Butter und lutscht ihn lüstern ab. Der Pa- stor bleibt mit Mühe standhaft, doch sei- bot, weil er an sich selbst zweifelte. Ich ne Frau ist dem lasziven Treiben längst habe ihm Mut gemacht. Aber auch ich Film verfallen: Ein halbblinder Beau, der hätte nie gedacht, daß es ihm so überwäl- sonst die Pferde des Malers striegelt, tigend gelingen würde. streichelt die sexuell kurzgehaltene SPIEGEL: Ist das eine Sache des Generati- Theologen-Gattin zum vorher nie erleb- onsabstands? Schlange ten Höhepunkt. Nichols: Natürlich. Spielberg hat diese Doch wie Engländer nun mal in Fil- Geschichte gesucht, er fühlte sich von all men meist so sind: Das große Drama dem angezogen, was dahinterstand. Ich im Paradies bleibt aus. Geständnisse und anschlie- hingegen war mein Leben lang auf der ßende Vorwürfe tauscht das verunsicher- Flucht davor, ich wollte nie zurückschau- „Verführung der Sirenen“. Spiel- te Ehepaar wohlerzogen in Zimmerlaut- en, ich wollte auch diese Schuldgefühle film von John Duigan. Australien/ stärke aus. nie wahrhaben, die jeden Entronnenen So plätschert der Film lauwarm zwi- irgendwann einholen. Großbritannien 1994. schen jugendfreiem Softporno und un- SPIEGEL: Schuld? Ist das nicht absurd? terhaltsamer Gesellschaftskomödie da- Nichols: Man fühlt sich, indem man sich ustralien im Jahr 1930: Anthony hin. Jung-Star Hugh Grant, zur Zeit auf rettet, wie ein Verräter, auch wenn das Campion, ein junger anglikani- deutschen Leinwänden im Sommerhit absurd scheint. Letztes Jahr war ich ein- Ascher Priester aus England, soll „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ als mal bei E. L. Doctorow zu Gast, und Norman Lindsay, einen moralisch su- habitueller Kirchgänger im Einsatz, beim Essen kam ich neben der Frau eines spekten Maler, auf den Pfad der Tugend spielt nun auch in der Rolle des Geistli- Komponisten zu sitzen, die ich bis dahin führen. Der Künstler, so moniert die chen wieder seine Stammrolle: den emo- nur vom Sehen kannte. Nun erfuhr ich, tional mißgebildeten englischen Ober- daß sie gleich alt wie ich war und 1939 in * Mit Tara Fitzgerald (M.). kläßler. Y derselben Woche wie ich aus Deutsch- land herübergekommen war. Sieerzählte mir, ihre Schuldgefühle seien irgend- wann so quälend geworden, daß sie zu ei- nem Psychiater ging und sich aussprach. Der Psychiater sagte darauf: „Das ist un- glaublich! Sie ahnen ja nicht, wie lange wir Sie gesucht haben!Endlich haben wir Sie! Endlich haben wir die Person gefun- den, die am Tod der sechs Millionen Ju- den schuld ist!“ Diese Geschichte hat mich so tief getroffen, daß ich dort am Eßtisch in Tränen ausbrach. SPIEGEL: Und hat die Geschichte gehol- fen? Dieser Frau? Oder Ihnen? Nichols: Ja und nein. Aber eigentlich wollte ich doch erzählen, bei welchem Film ich am meisten bereue, ihn nicht ge- macht zu haben. Das ist „Der Exorzist“. Denn nach dem Riesenerfolg sagte mir

der Produzent triumphierend: „Wenn du BUENA VISTA ihn gemacht hättest, mit der Gewinnbe- Duigan-Film „Verführung der Sirenen“*: Erster Höhepunkt beim Pferdeknecht

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Flughafen von Meyer/Wittwer (1929)

Pavillon d’Esprit Nouveau von Le Corbusier (1922)

Haus Hubbe von Mies van der Rohe (1935) FOTOS: TH DARMSTADT Direktorenzimmer von Gropius (1923)

„Frühlicht“. Einer ihrer Protagoni- Architektur sten, Bruno Taut, trägt den Spitz- namen „Bruder Glas“. „Das große Licht“, schwärmt sein Mitstreiter Paul Scheerbart 1912, „macht den Wie in Eis Menschen gut.“ Bei Walter Gropi- us, dem Bauhaus-Gründer, heißt das wenig später nüchterner: geschnitzt „Vergrößert die Fenster!“ Diese architektonische Licht- Studenten bauen, was „Bauhaus“- Moral ist jetzt vorstellbarer gewor- Palast der Sowjets von Gropius (1931) Meister planten: an Computern der den: 38 Architekturstudenten der Moderne Architektur aus dem Computer: TH Darmstadt haben in einem Se- Darmstädter TH. Nicht alle minar für computergestütztes Design das Hallenser Flughafenprojekt (1929) (CAD) 25 Bauprojekte der frühen Mo- von Hannes Meyer und Hans Wittwer Stars bestehen den Bildschirmtest. derne in farbige CAD-Simulationen oder auch Verlorenes wie der Ausstel- übersetzt; zu besichtigen als Dia-Serie, lungs-„Pavillon d’Esprit Nouveau“ er Architekt, über Jahrtausende Videofilm und Buchdokument*. (1922) von Le Corbusier und Theo van ein „Erzfüger“ schwerer Steine, Nie gebaute, aber berühmt geworde- Doesburgs Straßburger Umgestaltung Dhebt ab. Er träumt von Licht- und ne Entwürfe wie der „Palast der So- eines Tanzcafe´-Interieurs (1926/28) – im Luftschlössern aus Glas, Stahl und Be- wjets“, den Gropius für einen Moskauer Computerbild, unter föhnig blauem Si- ton, er entwirft durchsichtige Pavillons, Wettbewerb 1931 gezeichnet hat, wie mulationshimmel, gewinnen sie nun ei- helle, kurvige Raumschiff-Räume, die ne seltsam magische, seltsam makellose den Ballast der Geschichte so mühelos Strahlkraft „wie in Eis geschnitzt“ – so * „Bauhaus + Avantgarde der 20er Jahre.“ CAD- abzuwerfen scheinen wie die Gesetze Simulationen, gefördert von Hewlett Packard, der der Architekt Manfred Koob, 44, der der Statik. TH Darmstadt, Fachbereich 15, El-Lissitzky-Str.1, die Arbeiten, neben anderen, als Lehrer Die Moderne, die kurz nach der Jahr- 64287 Darmstadt. Videokassette 400 Mark; das betreut hat. Buch „Bauhaus + Avantgarde der 20er Jahre“ er- hundertwende so herrlich illusionär be- scheint im Oktober in der Edition Braus, Heidel- Die klinische Reinheit dieser Präsen- ginnt, hat eine Zeitschrift namens berg; 78 Mark. tation ist natürlich eine Fälschung, auch

210 DER SPIEGEL 37/1994 so gut überprüfen wie noch nie zuvor in der Bau- geschichte. Den meisten Stars der Architekturhi- storie blieb die Computer- probe bisher erspart. Ei- nige müssen die fugenfei- ne Bildschirmpräzisierung durchaus fürchten. Entlarvt wird durch die Darmstädter Rekonstruk- tion etwa das Haus Hub- be, das der letzte Bau- haus-Direktor Ludwig Mies van der Rohe 1935 gezeichnet hat. Der Com- puter läßt sich von der Schönschrift der Meister- zeichnung nicht beste- chen: Gnadenlos führt er den Plan aus – und über- führt ihn seiner kantigen, kahlen Bungalow-Banali- tät. Der Videofilm errich- tet dieses Haus Stück für Stück aus Stahlträgern, Beton-Wandscheiben, Fenstern und Türen – al- Lenintribüne von El Lissitzky (1920) lein diese Baustellen-Si- mulation beeindruckt. Die Formsprache eines Gebäudes fast ausschließlich aus seiner technischen Konstruktion zu entwickeln – dies war in den zwanziger Jahren das gemeinsame Programm russischer Revolutionsinge- nieure, deutscher Bauhaus-Meister und holländischer „De Stijl“-Propheten. Der Verzicht auf das historische Fassadenko- stüm führte damals noch nicht zur tech- nokratischen Eintönigkeit. Das Straßburger Cafe´ des Holländers van Doesburg wirkt technisch kühl und zugleich formal differenziert. Darin steckt sogar ein Vorgriff auf das dekon- struktivistische Zuck- und Genie-Design unserer Tage. Die klotzig-simple Raster- Bauwelt der siebziger Jahre hätte sich bei einer rascheren Entwicklung der Compu- tertechnik vielleicht vermeiden lassen. Penible CAD-Simulationen hätten ab- schreckend wirken können. Cafe´ von van Doesburg (1928) Jetzt helfen sie, was die Pionierbauten Staubsauger-Ästhetik und Licht-Moral mit makelloser Strahlkraft der Moderne angeht, vor allem der stu- dentischen Frühreife. Beim Darmstädter wenn sie im Gesamtbild dem staubsau- verschwundenen Bauten auch mehr als Seminar haben die Architekten in spe gerischen Elan entspricht, den der Phi- die erhaltenen Schwarzweißfotos. nicht nur das Weimarer Direktorenzim- losoph Ernst Bloch der modernen Ar- Das – von größeren Architekturbüros mer von Gropius nachgebaut, sondern chitektur spöttisch bescheinigte. Nur die schon seit Jahren benutzte – Computer- immer auch selbst Gropius gespielt: Wo kranförmige Redetribüne für Lenins bild ist allen bisherigen Architekturdar- es bloß karge Skizzen oder unzulängliche „Proletarier“-Pathos, die der russische stellungen überlegen. Denn es klärt Far- Fotoreproduktionen gab, durften die Konstruktivist El Lissitzky 1920 ent- be, Gebäudekonstruktion und Material- Studenten bis zu 50 Prozent hinzukon- warf, wird mit menschlichen Benutzern textur punktgenau. Außerdem stellt es struieren – im Sinne der Meister. konfrontiert: Die Silhouetten der Zuhö- den Baukörper in eine konkrete Land- Sie taten es „mit Begeisterung“ rer entlarven den Aberwitz des überdi- schaft mit Bäumen, Hügeln, Gewäs- (Koob). Daß daraus demnächst eine mensionierten Podests. sern, Straßen, Himmel und – vor allem – neue Bauhaus-Blüte wächst, fürchtet Auch die anderen Computerbilder er- mit Licht und Schatten. Der Videofilm niemand mehr als der amtierende Des- schließen, trotz ihrer ikonenhaften Un- erlaubt dem Betrachter zusätzlich, im sauer Bauhaus-Direktor Rolf Kuhn. Er berührbarkeit, viel von der historischen Gebäude herumzuspazieren. zeigte am CAD-Experiment der Bild- Wahrheit des Entwurfs: mehr als die Die architektonische Qualität unge- schirm-Baumeister, wie Koob bezeugt, perspektivische Zeichnung, im Falle der bauter oder zerstörter Häuser läßt sich „keinerlei Interesse“. Y

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KULTUR

Intellektuelle „Massaker als Sinnsuche“ Der ungarische Autor Istva´n Eörsi über die seltsame Allianz von Heiner Müller und Botho Strauß

einer Müller beklagte kürzlich in Blendungswerkzeug vermengt, der Zeitschrift Lettre International, als Sinnsuche und Metaphysik! Hdaß die beiden deutschen Halb- Nichts wäre leichter, als die- Länder, einst vom Drang beseelt, sich se Argumentation damit ab- das andere einzuverleiben, nach der zutun, Müller benütze die Vereinigung verschwunden seien. An moralisch-geistige Krise der ihrer Stelle entstehe „ein unbenennba- Wohlstandsgesellschaften zur res Vakuum, das von der D-Mark zu- Rechtfertigung des Krieges in sammengehalten wird“. Bosnien oder in weiterem Sin- Darauf nun könne keine Nation und ne in Ex-Jugoslawien, was un- kein Nationalstaat, für Kleist noch eine zulässig ist. Idee und Utopie, aufgebaut werden. Begeht aber jemand vom Nach dem Ersten Weltkrieg, so Müller, Format eines Müller einen so habe diese Idee verstümmelt weiter da- groben logischen Fehler, so hinvegetiert und unter Hitler nur noch kann man mit gutem Grund zur Bindung suizidärer Energien ge- nach tieferen Ursachen su- dient. Heute sei Deutschland dagegen chen. So liegt die Vermutung nur noch „auf die Währungsunion redu- auf der Hand, er habe – koste ziert“. es, was es wolle – bloß geist- Dies ist kein deutsches Spezifikum. reich sein wollen. Um das Ver- Die westliche Welt hat seit dem Sozialis- gangene zu verdecken? mus keine humanistisch fundierte uni- Auch in Ungarn beginnen verselle Idee hervorgebracht. zahlreiche gebildete Ex-Marxi- Die Marktwirtschaft, die in Westeu- sten auf einmal, sich ihrer Ver- ropa und in den Vereinigten Staaten ihr gangenheit zu schämen. Blitz- prosaisches Wesen mit dem Fluidum des schnell schaufeln sie aus ihrem Wortes „Demokratie“ umhüllt, kann al- Kopf alles hinaus, was sie 30, le Bedürfnisse erfüllen, nur nicht den 40, 50 Jahre lang dort gespei- Bedarf der Menschen an Idealen. Es fin- chert haben, und füllen das so den sich allenfalls in den Ländern des entstehende Vakuum mit den einstigen Quasi-Sozialismus Menschen, erstbesten Ideenspänen, Ein- die – daran gewöhnt, von Idealen be- fallschutt und Gedankenfetzen seelt zu sein – mit orgastischer Verzük- aus. kung „Weltbaank“ und „Reprivatisa- Bewahren sie auch in diesem tioooon“ schreien. Zustand ihren früheren Gel- Die weltweite Kompromittierung des tungsdrang und dazu ihre alten Sozialismus ist aus dieser Sicht lebensge- geistigen Fähigkeiten, so ti- fährlich. Erscheint in nicht allzu ferner schen sie uns in einer bauchi- Zukunft nicht irgendeine demokratisch gen Schüssel eine Suppe auf, in

inspirierte und doch funktionsfähige Al- der inmitten allen möglichen M. JESPERSEN / OCTOPUS ternative zur zunehmend zentralisierten Grünzeugs prächtige Fleisch- Ordnung des Weltmarktes, können wir stücke schwimmen. Istva´n Eörsi tatsächlich in das – um Müllers Wort zu Man kann sich den Ursa- gebrauchen – Vakuum stürzen, das zwi- chen der Balkankriege aus ver- ist einer der bedeutendsten ungarischen Dra- schen unserer hochentwickelten Zivili- schiedenen Perspektiven nä- matiker und Essayisten. In Deutschland wurde sation und unserem barbarischen Trieb- hern. Mit Hegels Geschichts- Eörsi, 63, jahrelang von den Kommunisten mit leben klafft. philosophie können wir be- Berufsverbot belegt, vor allem durch sein anti- Heiner Müller beschwört Nietzsche haupten, keine Gemeinschaft totalitäres Theaterstück „Das Verhör“ bekannt. herauf: „Ein Wozu – das ist es, was die könne wichtige Etappen der Die deutsche Intellektuellen-Debatte berei- Menschheit nötig hat.“ Er führt das gan- gesellschaftlichen Entwicklung chert der Autor mit einer originellen Perspekti- ze Massaker auf dem Balkan auf den überspringen. Die südslawi- ve: Er sieht Gemeinsamkeiten zwischen dem Mangel an einem solchen zurück. „Das schen Völker wurden in eine linken Anarcho-Dramatiker Heiner Müller ist eine neue Qualität“, schreibt er. übernationale Einheit gezwun- („Hamletmaschine“) und dem elitär-konserva- „Krieg wird zur reinen Sinnsuche. Es ist gen, noch bevor sie ihre natio- tiven Botho Strauß, der seinen umstrittenen so gesehen eher ein Religionskrieg als nale Identität hätten herausbil- „Bocksgesang“ in dem neuen Prosabuch ein nationalistischer. Es ist ein metaphy- den können. Noch dazu lag das „Wohnen Dämmern Lügen“ noch überboten sischer Krieg.“ Das Toben des präzivili- politisch-militärische Supre- hat. Beide Autoren treffen sich, so Eörsi, in ei- satorischen Barbarentums, das postmo- mat nicht bei der reichsten und ner „Art von romantischem Antikapitalismus“. derne Technik mit Schindmesser und entwickeltsten Nation, so daß

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die Nation mit der stärksten Armee, die ein Großteil der Vermittlungsglieder serbische, mit dem Pathos der Gerech- verdummenden oder gar mörderischen tigkeit – des Gleichheitsstrebens – ihren Zielen dient. Aber wie kann bloß Hei- Krieg beginnen konnte. ner Müller, dieses durch und durch ur- Es stimmt auch, daß in diesem Krieg bane Wesen, der jahrzehntelang mit die Provinzmentalität gegen die Städte Marxisten die Schweine hütete, ein ins Feld zog. In den Jahrzehnten des Ti- solch primitives, romantisches, zivilisati- toismus wurden breite Schichten der onsfeindliches Gebräu auftischen? Landbevölkerung in die Städte gezwun- Um sich moralisch vom Odium sei- gen. Und da sie dort noch keine Wur- ner nationalsozialistischen Vergangen- zeln schlagen konnten, erfüllte sie die jugoslawische Krise mit einer Existenz- unsicherheit, die von den nationalisti- schen Führern – bemerkenswerterweise BESTSELLER stammen von Milosˇevic´ und Tudjman bis Karadzˇic´ alle ausnahmslos vom Dorf BELLETRISTIK – bis zum Wahnsinn angeheizt wurde. Wahrscheinlich sind beide Annähe- Grisham: Der Klient (1) rungen berechtigt. Außerdem gilt: Der 1 Hoffmann und Campe; Zerfall eines diktatorisch gelenkten 44 Mark Staates setzt stets eine Menge früher ab- gewürgter Energien frei, darunter auch zerstörerische. Die Greuel auf dem Bal- 2 Gaarder: Sofies Welt (2) kan können also als vieles bezeichnet Hanser; 39,80 Mark werden, nur eben nicht als Religions- krieg oder metaphysisches Gemetzel. 3 Høeg: Fräulein Smillas (3) Müller bringt uns brillante Gedanken- Gespür für Schnee gänge über Shakespeare und Brecht, Hanser; 45 Mark Augustus und Horaz, über die Revoluti- on und Gott, er erliegt aber auch immer Pilcher: Das blaue Zimmer (6) wieder der Versuchung, theoretisch ver- 4 Wunderlich; 42 Mark blüffen zu wollen. „In Deutschland geht es immer um den König, den man nie Crichton: Enthüllung (4) hatte und nie fand.“ Das ist zutiefst 5 Droemer; 44 Mark wahr; in Deutschland dreht sich tatsäch- lich alles um den König, und nur der Mayle: Hotel Pastis (5) vollen Wahrheit zuliebe müssen wir hin- 6 Droemer; 39,80 Mark zufügen: ausgenommen was sich nicht um ihn dreht. George: Denn keiner (7) Müllers Argumentation setzt sich 7 ist ohne Schuld fort: „Das ist die Basis des Stalin-Kults Blanvalet; 44 Mark vieler deutscher Intellektueller.“ Und was ist die Basis des Stalin-Kults der un- Grimes: Fremde Federn garischen (bulgarischen, italienischen, (9) 8 Goldmann; 39,80 Mark französischen, russischen . . .) Intellek- tuellen? Dreht sich in der ganzen Welt alles um den König? Was macht dann 9 Gordon: Der Schamane (8) dieses Drehen so spezifisch deutsch? Droemer; 44 Mark Abenteuerlich wird es, wenn Müller – unter Berufung auf Arnold Gehlen – Noll: Die Apothekerin (12) darlegt: „Es ist ein anderer Mensch, der 10 Diogenes; 36 Mark eine Melkmaschine anschließt, als der, der mit den Händen melkt. Das Zwi- Hellmann: (15) schenschalten von Apparaten brutali- 11 Laras Geschichte siert. Da immer mehr Apparate und Lübbe; 42 Mark Maschinen zwischen Mensch und Mensch stehen, nimmt die Brutalisie- Mollin: Laras Tochter (13) rung zu.“ 12 C. Bertelsmann; 49,80 Mark Ja, aber die Entwicklung der Zivilisa- tion geht nun mal so vonstatten, daß der Pilcher: Wilder Thymian (10) Mensch immer mehr Vermittlungsglie- 13 Wunderlich; 42 Mark der zwischen sich und den Gegenstand seiner Wünsche schaltet. Der Urmensch Auster: Leviathan biß in das lebende, rohe Fleisch – ist das 14 Rowohlt; 42 Mark vielleicht ein weniger brutaler Akt, als wenn wir unseren Braten mit Messer Begley: Lügen in und Gabel verzehren? 15 Zeiten des Krieges Auch ein Buch ist ein Instrument, ein Suhrkamp; 36 Mark Vermittlungsglied zwischen den Men- schen. Es läßt sich kaum bestreiten, daß

216 DER SPIEGEL 37/1994 heit zu befreien, erfand der Dichter promittiert, sein geistiges Wesen dage- Gottfried Benn die Theorie vom Dop- gen – was jene andere auch immer ge- pelleben. Leben, Denken und Schrei- brabbelt haben mag – sei rein geblieben. ben, gestand er, gingen bei ihm nicht Als Heiner Müller seine Stasi-Kon- konform – „Die Einheit der Persönlich- takte damit rechtfertigte, sie seien Teil keit ist eine fragwürdige Sache . . . Geist seines schriftstellerischen Schaffens ge- und Leben sind bei mir zwei völlig ge- wesen, das heißt, er habe in seinem Of- trennte Welten . . .“ Damit suggeriert fizier und der von ihm vertretenen Or- er, nur seine gewöhnliche Person habe ganisation lediglich ein hochbrisantes sich mit dem Nationalsozialismus kom- Thema gesehen, trat er in die Fußstap- fen Benns. Der Schriftsteller kann sich kraft seines Talents erlauben, was man dem Normalsterblichen übelnimmt, denn er hat moralische Sonderrechte. Die selbstbewußte Rechtfertigung SACHBÜCHER Müllers macht solch lächerliche Aus- flüchte überflüssig, er habe niemandem N. E. Thing Enterprises: (1) geschadet, er habe die Stasi genarrt und 1 Das magische Auge nicht umgekehrt und dergleichen mehr. Ars Edition; 29,80 Mark Also erstens: Wird die Arbeit eines Ge- nies von Stasi-Kontakten beflügelt, was N. E. Thing Enterprises: (2) zählen da so nichtige Nebensächlichkei- 2 Das magische Auge II ten, ob er damit anderen geschadet hat Ars Edition; 29,80 Mark oder nicht? Ogger: Das Kartell (3) Und zweitens: Warum hätte er scha- 3 der Kassierer den sollen? Ist es der Stasi doch mehr Droemer; 38 Mark wert als irgendwelche Spitzeldienste, wenn der ihr Verpflichtete es etwa im Carnegie: Sorge dich (5) 4 nicht, lebe! Scherz; 44 Mark In Deutschland dreht Ogger: Nieten in (4) sich alles 5 Nadelstreifen Droemer; 38 Mark um den König 6 21st Century Publishing: (6) westdeutschen Fernsehen beim Small 3D – Die Dritte Dimension talk mit westlichen Prominenten verhin- Ars Edition; 19,80 Mark dert, daß die Rede auf eine frische Lei- Hartwig: Scientology – (8) che kommt, die an der Berliner Mauer 7 Ich klage an von ostdeutschen Grenzern soeben pro- Pattloch; 34 Mark duziert worden war. Oder wenn er mit dem Westpaß in der Tasche erklärt, er 8 Fest: Staatsstreich (9) sei nicht bereit, über die Einschränkung Siedler; 44 Mark der Reisefreiheit der Ostdeutschen zu Wickert: Der Ehrliche diskutieren. 9 ist der Dumme Zur gleichen Zeit beweist der Künst- Hoffmann und Campe; 38 Mark ler mit einigen wirklich erstrangigen Stücken, daß auch er ein Doppelleben 10 Wickert: Und Gott (7) führt. In einem dieser Werke, in „Mac- schuf Paris beth“, stellt er alle Figuren als Ur- Hoffmann und Campe; 42 Mark schleim in einem warmen Moor dar. Er Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (10) subtrahierte aus Shakespeares erbar- 11 Integral; 19 Mark mungsloser Welt noch den geringsten Tropfen Menschlichkeit . . . Es waren 12 Phantastische Bilder (12) die Erfahrungen seines ureigenen Dop- Südwest; 14,90 Mark pellebens, die ihn dazu bewogen hatten. Paungger/Poppe: Vom (14) Nur wurde dieses Doppelleben nach 13 richtigen Zeitpunkt dem Zusammenbruch des ostdeutschen Hugendubel; 29,80 Mark Staates äußerst problematisch. Gott- fried Benns erniedrigendes Engagement 14 Schmidt: Das Jahr (11) zu Beginn der Hitlerei hatte sich voll der Entscheidung und ganz vor der Öffentlichkeit entfal- Rowohlt Berlin; 34 Mark tet, über das von Müller sickerten erst Dönhoff: Um der (13) im nachhinein ein paar vage Informatio- 15 Ehre willen nen durch. Siedler; 32 Mark Zudem war der Marxismus humani- stisch inspiriert, während sich die Nazis Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom zu einer aggressiv-antihumanen Ideolo- Fachmagazin Buchreport gie bekannt hatten. Letztere läßt sich einfach über Bord werfen, erstere wer-

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KULTUR L. FISCHMANN / GRÖNINGER REUTER R. WALZ Dramatiker Müller, Strauß (r.), Bürgerkriegsopfer in Sarajevo: Bis zum Wahnsinn angeheizt

den wir aber nur los, wenn wir sie zer- wandeln. Der Herrscher übernimmt die det er sich nicht für die mit geistreichen trümmern. Das Problem ist nun, daß Funktion des kultischen Opfers“. Auch Teilwahrheiten jonglierende aphori- sich die Trümmer immer wieder in die das ist eine sehr geistreiche Theorie, sie stisch splitterhafte Ausdrucksweise, Risse unserer Argumentationen schie- trifft tatsächlich auf jeden Herrscher zu, sondern für die Essayform, die er jedoch ben. Nur damit läßt sich das abenteuerli- und nur der vollen Wahrheit zuliebe in diesem Fall nicht auszufüllen vermag. che Pendeln Müllers zwischen prächti- müssen wir hinzufügen: ausgenommen Er sieht und spürt richtig, daß die gen realistischen Erkenntnissen und die, auf die sie nicht zutrifft. Fortschrittsreligion zuerst durch die dem irrationalen Kauderwelsch erklä- Der wahre König ist für Strauß die ökologischen Fakten erschüttert wurde. ren. Autorität, für die er sich in seinem Feld- Marx vertraute noch ungebrochen dar- In seinem „Bocksgesang“-Traktat zug gegen die Aufklärung gedanklich auf, die Naturschranken grenzenlos zu- (SPIEGEL 6/1993) bemerkt Botho nicht ganz redlich einsetzt: „Ich habe rückdrängen zu können, doch seither Strauß über die nationalistischen Strö- keinen Zweifel, daß Autorität, Meister- hat die Natur diesen Optimismus in sei- mungen in den neuen Staaten Osteuro- tum eine höhere Entfaltung des Indivi- ne Schranken verwiesen. Unser Fortbe- pas und Mittelasiens, daß wir es in unse- duums befördert bei all denen, die sich stand hängt davon ab, ob es uns gelingt, rer liberal-libertären Selbstbezogenheit zu verpflichten imstande sind, als jede neue natur- und menschenfreundlichere für verwerflich halten und gar nicht mehr Form der zu frühen leichtgemachten Alternativen für unsere Entwicklung zu verstehen, „daß ein Volk sein Sittenge- Emanzipation.“ finden. setz gegen andere behaupten will und Strauß vertraut nicht darauf, im Rin- Strauß steckt den Kopf lieber in den dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen“. gen von Autorität und Emanzipation er- Sand und empfiehlt ein altbewährt ro- Blutopfer – wie edel klingt dieses mantisches Rezept, die wahre, tiefe Wort! Es führt uns zurück ins Altertum, rechte Gesinnung, das heißt, „die Über- zu Iphigenie und Isaak und noch weiter Zwei Dramatiker macht einer Erinnerung zu erleben, die zu den Heroen und Halbgöttern, die in begegnen sich den Menschen ergreift, weniger den den Mythologien der Völker leuchten. Staatsbürger, die ihn vereinsamt und er- Das Blutopfer aber, auf das Strauß ver- im deutschen Vakuum schüttert inmitten der modernen, aufge- weist, bedeutet zumeist die Aufopferung klärten Verhältnisse, in denen er sein des Blutes von absolut unmythischen all- stere als Siegerin verkünden zu können, gewöhnliches Leben führt“. täglichen Frauen, Alten, Kindern. und fügt der Autorität noch das Meister- Strauß ruft zur Auflehnung gegen die Strauß postuliert wie Müller, daß die tum bei, der Emanzipation dagegen „Totalherrschaft der Gegenwart“ auf Massaker im Namen der Moral began- zwei Einschränkungen. Ebensogut und setzt sich für die in mythische Zei- gen werden – und schmuggelt mit dem könnte ein anderer, ein Anhänger der ten zurückreichende unaufgeklärte Ver- Wort Blutopfer eine religiöse Konnota- Aufklärung, schreiben: „Ich habe kei- gangenheit sowie für solch verhöhnte tion in die Deutung des Vorgangs. nen Zweifel, daß Emanzipation, Mei- Werte ein wie Autorität, Eros, die Sol- Die der zivilen Vernunft entglittenen stertum eine höhere Entfaltung des In- daten und die Kirchen. Und natürlich Aggressionen sind in der Tat archaisch. dividuums befördert bei denen, die sich auch für die nationale Identität. „Intel- Doch mitnichten erhaben, schon des- ihr zu verpflichten imstande sind, als je- lektuelle sind freundlich zum Fremden, halb nicht, weil sie sich zum Teil mit Hil- de Form der veralteten und verknöcher- nicht um des Fremden willen, sondern fe der Massenvernichtungsmittel der ten Autorität.“ weil sie grimmig sind gegen das Unsere Massengesellschaft austoben. Strauß Diese unfaire Argumentationsweise und alles begrüßen, was es zerstört.“ entfaltet, gerade vom deprimierenden ist vermutlich darauf zurückzuführen, Die „reine“ rechte Gesinnung gelangt Geist der Massengesellschaft angewi- daß Strauß außerstande ist, auf das Wi- somit zum großen deutschen „Unser“, dert, die Fahne der „wahren“ Rechten. derstreben, das die schreckliche gleich- das von Fremden und von fremden- In seinem Stück „Schlußchor“ schrieb schaltende Macht der Massengesell- freundlichen, brunnenvergiftenden In- Strauß: „Könige sind immer da und im- schaften bei ihm auslöst, ein Begriffsge- tellektuellen in seiner Existenz bedroht mer mächtig.“ In seinem „Bocksgesang“ bäude zu errichten. Er lehnt sich auf ge- wird, gelangt also in gewissem Sinne verkörpert der König die Macht der Fin- gen die 68er Heiligen der Linken. Da er dazu, die moralische Berechtigung sternis, „zieht alles Übel auf sich, um es jedoch gedanklich weniger scharf (und einer nationalen Säuberung zu verkün- dann in Stabilität und Fruchtbarkeit zu weniger zynisch) ist als Müller, entschei- den. Solche Wahrheiten dürften, beson-

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KULTUR

ders im heutigen Deutschland, wo sich eingestrichenen 60 000 Mark für eine ren, die „unbegreiflich häßlich“ sind Fremdenfeindlichkeit nicht nur in Jahnn-Werbung besonderer Art. Leser, und „unbegreiflich dumm“, „unvorstell- rechtsextremistischen Aktionen, son- die sich in der Lage sahen, die strapa- bar lieblos“ auch. Daß man sie, dieses dern auch im alltäglichen Tun und Las- ziöse Lektüre durchzustehen und ihr „mechanisch Erwärmte“, nach dem sen von Richtern, Staatsanwälten und Fazit in einem mindestens fünfseitigen „Gebrauch vergessen darf“, versteht Beamten äußert, nur in provokativ Essay zu ziehen, durften teilnehmen. sich von selbst. aphoristischer Form dargelegt werden Die besten Essays sollten mit 1000 Das Wüten gegen „Huren“ kennt in und würden selbst so noch peinlich wir- Mark belohnt werden. Jahnns Werk keine Grenzen. Für den ken. So ermutigt und verlockt, machte Umgang mit ihnen wird empfohlen: Vielleicht hat Heiner Müller recht. sich Venske ans Lektürewerk. Aber „einen Mast in den Schoß rennen . . . Nach der Vereinigung sind bei- spätestens im zweiten Teil der Trilogie, ein Messer in die Scheide . . . den Darm de Deutschlandhälften verschwunden. in der „Niederschrift des Gustav Anias in den Schoß leiten“. Doch in dem so entstandenen Vakuum Horn“, verging ihr die Leselust. Zu Die trotz jeder Warnung hin und wie- kam es trotz alledem zu einer erhabenen seltsam fand sie, wie die männlichen der doch aufglimmende Lust des Erzäh- Begegnung: Zwei der bekanntesten Romanhelden mit den Romanfrauen lers an der Frau wird endgültig dann so Dramatiker der östlichen und der westli- umspringen. gekillt: Sein Freund salbt ein Mädchen chen Hälfte des Landes haben von ihrer Ein junger Mann verliert seine Ver- mit Knoblauch und Asa foetida, einer links-marxistischen Vergangenheit nur lobte – sie wird ermordet. Was tut er? übelriechenden Essenz. Später läßt je- noch eine Art von romantischem Anti- Er entwickelt zu dem Mörder, der die mand noch „einen dicken Knüppel auf kapitalismus bewahrt. Liebste entstellte und mit Teer über- ihre fast entblößten Schenkel sausen“ – Von diesem Boden aus verherrlichen goß, eine innige Freundschaft. Als die- zur Sicherheit. Denn: „Von ihrer Be- beide grausame nationalistisch-rassisti- ser notorische Mörder später auf ein stimmung, ein weibliches Wesen zu sche Kriege. Müller meditiert über die anderes Mädchen mit dem Messer ein- sein, kann keine Macht der Welt sie er- brutalisierende Wirkung der technisier- sticht, nimmt der junge Mann den retten.“ ten Zivilisation, während Strauß den Nicht einmal die tote Frau Traum von der reinen Nation hegt. ist eine gute Frau. Angesichts Wenn aus keinem anderen Grund, so eines fremdgeschlechtlichen könnten wir uns schon allein wegen die- Leichnams beginnt ein Jahnn- ser Harmonie darüber freuen, daß es Held „damit, ihren Schoß zu zur deutschen Einheit gekommen ist. Y zerschneiden . . . Immerhin, die Öffnung einer Frau ist weich, es gibt kleine Kügel- Literatur chen und Sehnen und Bänder und Haare . . . Die Öffnung war gar bald zerstört, und ich hatte nichts gefunden. Ich . . . Mast in suchte Blase und Schleimtesti- keln auf, drang bis an die Mut- terwölbung vor. Alles ent- den Schoß täuschte mich“. Das ewige Jahnn-Schicksal Der Schriftsteller Hans Henny der weiblichen Wesen ist: Jahnn als ein monströser Frauen- „Man kann sie schänden, doch nicht lieben.“ hasser – „Weiberjahnn“, So geschieht es denn auch spottet eine neue Streitschrift. immer wieder: Acht „gesunde Burschen“ vergewaltigen ein „schwachsinniges Mädchen“. iese Landschaftsbeschreibungen! Der Erzähler findet das legi-

Du mußt das lesen“, schwärmte S. SCHAPOWALOW tim. Denn „wozu sollte dies Dder Ehemann. Er bekam leuchten- Autor Jahnn (1955) Mädchen erschaffen sein, de Augen, wann immer von dem „Gleitbahn, auf der wir ausrutschen“ wenn nicht zu dem, wozu sie es Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894 gebrauchten . . .?“ bis 1959) die Rede war. Freund zur Seite und tadelt ihn sanft: Leserin Venske wunderte sich: „Bei- Der Autor als Universalgenie: Dich- „Man straft die Anmut nicht mit Ver- nahe auf jeder Seite wird hier das weibli- ter und Orgelbauer, Architekturtheore- nichtung.“ che Geschlecht niedergemetzelt.“ Das tiker und Musikherausgeber, sein Womit haben die Frauen das ver- geht mitunter ganz schnell und beiläu- Hauptwerk „Fluß ohne Ufer“ ein Höhe- dient? Wofür müssen sie bestraft wer- fig: „Er trat in seine Stube. Er sah sein punkt der deutschen Literatur im 20. den? Sie müssen dafür büßen, daß sie Weib. Er erdrosselte es. Grundlos . . .“ Jahrhundert. So hatte es sich die Publi- Frauen sind. „Sie alle haben Brüste. Sie Diese Monotonie des Weiber-Mor- zistin Regula Venske, 39, eingeprägt; alle haben die Gleitbahn, auf der wir dens – war sie den erlauchten Jahnn- und diesen Genuß nicht länger von sich ausrutschen“, lamentiert der Erzähler. Fans – auch Alfred Döblin gehörte dazu fernzuhalten, hatte sie schon mehrmals Überhaupt diese weibliche Brust: Für – verborgen geblieben? Oder hatten sie beschlossen. Allein, es fehlte die Zeit die männlichen Romanhelden ist sie ei- den Umstand bloß für unwichtig gehal- für das Mammutwerk: Die „Fluß“-Tri- ne Zumutung, schlimmer kaum vorstell- ten? Venske beschloß: Eben davon soll- logie umfaßt rund 2500 Seiten. bar: „so unförmig, wie das Euter einer te ihr Essay handeln. Überzeugt, daß ih- Doch da geschah es, daß der Dramati- ergiebigen Kuh nicht sein kann“. re Pionierarbeit einen Preis verdient ha- ker Botho Strauß, 49, einen Wettbe- Auch der dritte Teil der Trilogie be, legte sie dem Aufsatz dann noch ei- werb auslobte: Jahnn-Enthusiast Strauß warnt die Leser: vor der „Vierschrötig- nen „frechen“ Brief an Botho Strauß stiftete 1989 die für den Büchner-Preis keit des weiblichen Fleisches“, vor Hu- bei, in dem sie die 1000 Mark als „das

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Werbeseite mindeste“ bezeichnete, das „ich jetzt zur Erholung brauche“. Vergebliche Weibermüh: Autorin Venske ging leer aus. Prämiiert wurden statt dessen verständnisvolle Betrachtun- gen mit verquasten Sätzen wie „Jahnn le- sen heißt Jahnn zitieren – die Punkte leuchten lassen“; eben lauter Leseerleb- nisse „hellwacher Betroffenheit“. Was die obsessiven Verstümmelungen weiblicher Leiblichkeit betrifft, erlauben sich die Jahnn-Adepten allenfalls die pflichtschuldige Verwunderung: „Son- derbar ist, daß man als Leser kaum Ab- scheu dagegen empfindet.“ Wettbe- werbsjuror und Jahnn-Herausgeber Ul- rich Bitz konstatierte leicht irritiert, der Tenor der von Frauen verfaßten Essays sei ein Stück getragen von Enttäuschung über Jahnns Umgang mit den Frauen. Regula Venske war nicht enttäuscht: Sie war entsetzt. Das aber wollte sie nicht für sich behalten. Überzeugt, daß es an- deren Jahnn-Leserinnen ähnlich ergan- gen sein müsse, und auch, um die Qual der Lektüre nicht ganz umsonst durchge- standen zuhaben, forderte sieLeidensge- nossinnen zur Mitarbeit an einem Sam- melband auf. „Weiberjahnn“ nennen Venske und Mitherausgeberin Frauke Hamann die Streitschrift, die daraus entstanden ist*. Das Buch, das Ende September er- scheint, ist allerdings weniger streitlustig ausgefallen, als Venske sich gewünscht hätte. Warum sollen „die Biber mit den Krokodilen über den Reiz der Auslö- schung der Biber diskutieren“, so fragt sich eine Autorin gelassen. Bei anderen überwiegt das Mitleid mit dem Erzähler Jahnn, der, indem er Män- ner Frauen morden läßt, „immer auch seine eigene imaginierte Weiblichkeit“ tötet (Hamann). Dennoch istdas Buch ein schriller Zwi- schenruf im anschwellenden Lob- und Preis-Gesang zum 100. Geburtstag des Autors im Dezember. Wahrscheinlich wird es bei der geplanten „multimedia- len“ Hamburger Jahnn-Feier die einzige polemische Stimme bleiben. Das Festkomitee besteht im wesentli- chen aus einer Prominenten-Schar, die vor zwei Jahren unter dem Vereinsnamen „Hans Henny Jahnn 100“ zusammenge- funden hat. Der Verein will den sprach- mächtigen Mord-Mystiker endlich als modernen Klassiker durchsetzen. Zum feinen Fanklub gehören Thalia-Chef Jür- gen Flimm, Hoffmann-und-Campe-Ver- leger Thomas Ganske und Zeit-Redak- teur Ulrich Greiner. Diese Herren wer- den sich nicht ausgerechnet im Jubeljahr der „Weiberjahnn“-Thematik anneh- men. Wer feiert, wühlt nicht gern in Lei- chen. Y

* Regula Venske/Frauke Hamann (Hg.): „Weiber- jahnn“. Eine Polemik zu Hans Henny Jahnn. Euro- päische Verlagsanstalt, Hamburg; 164 Seiten; 32 Mark.

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KULTUR

to zur Überlebensstra- Pop tegie, eine Mischung aus innerem Alarmzustand und Souveränität, die sich hinter dem verstei- Gangster nerten Gesicht ver- steckt, hinter der betont ruhigen Stimme und Cool dem skeptischen Blick. Erst vor ein paar Wo- Der Rapper Warren G erzählt in chen bekam Warren G zu spüren, daß ihn selbst sanftem Ton von Sex und Gewalt – sein Prominentenstatus mit weltweitem Hitparadenerfolg. in Long Beach nicht schützt. „Ich fuhr eine arren G steht in einer großen Straße hinunter. Als ich Hollywood-Tradition. Warren G um die Ecke bog, stand Wist ein Gangster. Ein bißchen da eine Gang, rief Mythos, ein bißchen Staatsfeind und ein ,Warren! Warren!‘ – bißchen Abziehbild. und schon habe ich die Warren G ist Rapper, Sänger und ersten Schüsse gehört“, Produzent – und er weiß, was sich für ei- erzählte er einem Jour-

nen Gangster gehört. Auf seiner Hit- nalisten der Rapzeit- FOTOS: PHONOGRAM single „Regulate“ singt er: „16 Kugeln schrift Vibe. „Ver- Popkünstler Warren G in Bodybuilder-Pose im Magazin, eine im Lauf. Sie fallen, sie dammt. Viele Leute „16 Kugeln im Magazin, eine im Lauf“ schreien, aber es ist zu spät. Warren G glauben, daß das alles hat den Fall geregelt.“ ein Witz ist. Aber die Kugeln sind Arrangements mit Live-Musikern, Eine schlichte Fabel vom Faustrecht echt.“ sanft rollende Baßlinien und einprägsa- der Straße. Einer von unzähligen Tex- Für die Unterhaltungsindustrie sind me Melodien geben dem Gangsta Rap ten über Sex und Gewalt, die das Genre die Gangsta Rapper ein Glücksgriff. In aus Long Beach ein Rhythm-and-Blues- des sogenannten Gangsta Rap bestim- einer Zeit, in der Reality-TV und Bou- Gefühl, das im Rap bisher als Verrat an men. Und Gangsta Rap ist seit Berry levardnachrichten die Reizschwelle des den Massengeschmack galt. Gordys Motown-Sound der erfolgreich- Massenpublikums immer weiter anhe- Pionier dieses Sounds war Warren Gs ste schwarze Musikstil. Es ist nicht so ben, sind die jungen Schwarzen aus älterer Halbbruder Dr. Dre, der im sehr die Musik als die Attitüde, die den den Ghettos die idealen Protagonisten Vorjahr mit seinem Album „The Chro- Erfolg von Gangsta Rap ausmachte. für den authentischen Thrill. Denn die nic“ den Durchbruch schaffte und ne- Warren G ist der erste, der einen Schritt Gangsta Rapper sind keine Poseure, benbei Snoop Doggy Doggs Millionen- weiterging. sondern fast durchweg echte Gangster. seller „Doggy Style“ produzierte. In- Auf seinem Debütalbum „Regulate Das schafft einen merkwürdigen zwischen ist Dr. Dre Herr über ein . . . G Funk Era“ hält Warren G seine Glaubwürdigkeitsbonus. Ice-T war der Rap-Imperium, das die Hits im „Laid- Stimme ganz ruhig, die Musik melodiös. erste, der aus seinem Vorstrafenregi- back Long Beach Groove“ dutzendwei- Nur der bedrohliche Unterton unter- ster Kapital schlug. Inzwischen se ausstößt. scheidet „Regulate“ von einer Rhythm- schlachten die Public-Relations-Spezia- Warren G bereichert diesen Stil mit and-Blues-Platte. listen jede Verkehrsstrafe ihrer Gang- den fröhlichen Harmonien des spätsieb- Ein Qualitätssprung in Sachen Gang- sterklientel für Pressemeldungen aus. ziger Summer Funk und den Gesangsli- ster Cool. Seit zwei Jahren ist Gangster Die Texte der Gangsta-Hits geraten nien des klassischen Soul. Da wird der Cool die Garantie für Hitparadenplätze. deswegen oft zum pubertären Geprot- P-Funk von George Clinton zitiert, von Zum Erstaunen der Branche gelangen ze: Da wird mit Feuerkraft geprahlt dem der G-Funk seinen Namen ableite- Underground-Stars wie Niggaz with At- und mit Geschichten vom Mord als Ri- te, der Schmelz von Marvin Gaye und titude, Dr. Dre und tual der Männlichkeit. Bobby Womack, und selbst Schmuse- Snoop Doggy Dogg Schwarze Kulturkriti- hits wie Michael McDonalds „I Keep weltweite Plattenbest- ker sehen im Gangsta Forgettin’“ geraten Warren G zum see- seller – und nun erweist Rap deswegen eine lenvollen Hit. sich Warren G auch Form von institutionali- Musikalisch ist Warren G ein Pionier, in der Bundesrepublik siertem Rassismus: die Texte seiner eigenen Songs aller- als Überraschungssie- Ghetto-Grusel als mo- dings beschränken sich auf die üblichen ger des Popsommers. derner Showkitzel. Gangstergeschichten. Die New Yorker In Long Beach, je- Auch Warren G, der Rapzeitschrift Source, in der Rapszene nem Stadtteil von Los in Interviews auf Fra- als Gradmesser für Geschmackssicher- Angeles, in dem War- gen nach seiner eigenen heit anerkannt, schrieb folgerichtig: ren G als Warren Grif- Gangstervergangenheit „Warum ,Regulate‘ kein Klassiker ist? fin aufwuchs, ist das ausweichend antwor- Weil die Texte mit der Musik nicht mit- Gangsterleben aller- tet, profitiert von dieser halten können.“ dings kein Mythos und Logik. Doch er ist der Dem Publikum war das egal. In den kein Klischee, sondern erste seines Genres, der Jeeps und Kabrios von Los Angeles bis tagtägliche Wirklich- den Erfolg nicht nur sei- Warnemünde lieferte Warren G den keit. Jeder Schritt kann ner Gangsterauthenti- Soundtrack dieses Sommers. „Gangsta hier der falsche sein, je- zität verdankt, sondern Rap, das war mal“, verkündet Warren des Wort zuviel. Gang- Rapper Warren G vor allem seiner Musi- G. „Mich wird man nie wieder von ster Cool wird im Ghet- Von L. A. bis Warnemünde kalität. Mord und Totschlag prahlen hören.“ Y

DER SPIEGEL 37/1994 223 Werbeseite

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WISSENSCHAFT PRISMA

Genetik Versuchspersonen erhobe- nen Befund berichteten Wis- Plünderei senschaftler der University of Wisconsin in Madison. Zu gestoppt den bei Rauchern beobachte- Den Raubzügen an den gene- ten Störungen zählen Ein- tischen Ressourcen des Lan- schlafschwierigkeiten, schwe- des will die indische Regie- res Aufwachen, Schläfrigkeit rung ein Ende setzen. Von am Tage und Alpträume. Die 1995 an verbietet ein neues Symptome, die den Begleit- Gesetz die unkontrollierte erscheinungen von Nikotin- Ausfuhr von über 9000 ver- entzug ähneln, sind womög- schiedenen Heilpflanzen so- lich auf das nächtliche Abfla- wie industriell verwendbaren chen der Nikotinkurve, aber Mikroben. Das indische Um- auch auf zigarettenbedingte

D. KONNERTH / LICHTBLICK weltministerium bezichtigte Atemschwierigkeiten zurück- Neue Röntgentechnik an der FU Berlin ausländische Pharmafirmen zuführen. Einen „Teufels- der Plünderei an der Arten- kreis“ sehen die Forscher Medizin ordneten Präparaten und vielfalt. So erziele das aus der darin, daß die nach schlech- deren Wirkstoffen auseinan- Heilpflanze Rauwolfia ser- tem Schlaf maladen Raucher Röntgen der. Die Autoren, Medizin- pentina gewonnene Bluthoch- – als zu einem vermeintlichen journalistin Annette Bopp druck-Medikament Reserpin Heilmittel – wieder zur Ziga- ohne Reue und Pharmakologe Gerd in den USA Jahresumsätze rette greifen. Mit einer speziellen Nachbe- Glaeske, Berater verschie- von 260 Millionen Dollar, oh- lichtungstechnik des Rönt- dener Krankenkassen, ha- ne daß Indien an den Erträgen genfilms soll es schon bald ben „kein Buch gegen Arz- beteiligt ist. Alle ausländi- möglich sein, die bei Rönt- neimittel“, sondern ein schen Firmen, die mit indi- genuntersuchungen anfallen- sachkundiges Nachschlage- schem Genmaterial erzeugte de Strahlenbelastung um werk zusammengestellt: Von Produkte vermarkten, sollen rund ein Viertel zu reduzie- „Akne“ bis „Zyklusstörun- künftig dafür zahlen. ren. Die an der FU Berlin gen“ sind Krankheiten und entwickelte Strahlensparme- Beschwerden beschrieben, Schlafstörungen thode soll besonders jenen die Frauen zu schaffen ma- Patienten zugute kommen, chen. Risiken und Nut- Raucher die beispielsweise nach dem zen schulmedizinischer, aber Einsetzen von Hüft- oder auch alternativer Arzneimit- im Teufelskreis Kniegelenksprothesen wie- teltherapien werden ver- Raucher leiden häufiger un-

der und wieder geröntgt wer- ständlich gemacht und be- ter Schlafstörungen als Nicht- P. FRISCHMUTH / ARGUS den müssen. Bei dem Ver- wertet. raucher. Über diesen an 3500 Raucher fahren wird der normal be- lichtete Röntgenfilm – unter genau definierten Rahmen- Hirnforschung Jahren hatte die Neurowissenschaftlerin bedingungen – nochmals be- Paula Tallal von der Rutgers University lichtet. Durch diesen Kunst- in Newark (US-Staat New Jersey) festge- griff der „Filmsensibilisie- Ausfall bei b, k und t stellt, daß Kinder, die kurze Stakkato- rung“ werden die Kontraste Legastheniker schreiben falsch, weil sie Laute schlecht hören, später Schwierig- in den Aufnahmen und deren schlecht hören. Belege für diese überra- keiten haben, das Lesen zu lernen. Das Aussagekraft deutlich ver- schende These haben jetzt Hirnforscher in bestätigen die Hirnschnitte von fünf ver- bessert. Boston gefunden. Schon in den siebziger storbenen Legasthenikern: Im sogenann- ten linken Kniekörper sind bei ihnen die Medikamente Großhirnrinde k t k Nervenzellen deutlich kleiner als in Ver- bt gleichshirnen von Nicht-Legasthenikern. Pillen-Ratgeber k b Diese Hirnstruktur aber ist die Relaissta- t k tion des Thalamus, in dem visuelle und für Frauen k t akustische Reize verarbeitet werden, ehe b t Die Medizinstatistik verrät k sie in die Großhirnrinde weitergeleitet t b die größeren Unterschiede: Thalamus t werden (siehe Grafik). Gerade die gro- Im Vergleich zu Männern k k ßen, bei Legasthenikern nur in geringer t b t b k leben Frauen länger, gehen Linker Kniekörper b t B  Zahl vorhandenen Zellen verarbeiten die b k jedoch häufiger zum Arzt  b k schnellen Stakkato-Laute, wie sie etwa in  t b B t b k und nehmen wesentlich k den Stoppkonsonanten b, k oder t vor- mehr Medikamente, vor al- kommen. Entwickelt wird derzeit ein lem Schmerz-, Schlaf- und Sprachcomputer, der diese Konsonanten Beruhigungsmittel. Ein neu- betont langsam wiedergibt, damit Leg- er, kritischer „Medikamen- astheniker sie deutlich hören und die zum tenführer für Frauen“ („Was Weg akustischer Signale im Gehirn Erkennen von Wörtern erforderlichen hilft?“ Kunstmann Verlag; Klangmuster im Gehirn verankern kön- 360 Seiten; 39,80 Mark) nen. setzt sich mit den meistver-

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . R. JANKE / ARGUS Transrapid-Versuchsstrecke im Emsland, Besucher: Für Steuerzahler eine Runde gratis

Transrapid FREIE FAHRT INS WAGNIS Nächste Woche wird das Planungsgesetz für den Transrapid verabschiedet. Im Zehn-Minuten-Takt soll der umstrittene Superzug vom Jahr 2004 an mit 400 km/h zwischen Hamburg und Berlin einherbrausen – trotz aller Warnungen von Kritikern, die den Magnetgleiter in eine Kostenkatastrophe rasen sehen.

hnungslos rastet ein Vogel auf der Dorthin pilgern Neugierige in Autos geben die Volksvertreter das Signal für hochbeinigen Betonkonstruktion und Omnibussen. „Großes L, kleines die freie Fahrt ins Wagnis. Aüber den Weiden des Emslandes. Athen“, so lautet die Gedächtnisstütze, Denn der Transrapid zählt zu den um- Als das leise Surren der elektrischen Ka- die Reisenden den Weg nach Lathen strittensten industriellen Großprojekten belwicklungen unter ihm einsetzt, hat er weist. Die Erprobungsstrecke in der der Republik. Der beträchtliche Zeitge- nur noch wenige Sekunden zu leben. Nähe des Dörfchens erinnert an einen winn, den die Magnetkissenbahn ver- Sein Dasein endet mit einem kurzen, futuristischen Freizeitpark. Eine Runde spricht, ist nach Ansicht von Fachleuten dumpfen Knall. „Taube“, sagt der gratis bietet Thyssen jedem Besucher – längst kein Garant für den Erfolg eines Bordtechniker hinter der gewölbten das Unternehmen steht in seiner neuen Verkehrsmittels. Als abschrek- Frontscheibe des Führerstandes. Sanft Schuld. Schließlich ist der Steuerzahler kendes Beispiel gilt das Überschallflug- beschleunigt der Zug auf 420 km/h. mit bisher 1,8 Milliarden Mark Haupt- zeug Concorde im Bereich der Luft- Tauben zerschellen häufig an der sponsor der Anlage. Reservierungen fahrt. Zwar ist es das schnellste Ver- Front des Versuchszugs, sagt der Mann werden dringend empfohlen. Für dieses kehrsmittel über den Atlantik. Durch- im Führerstand. Raubvögel sind schnel- Jahr sind alle Fahrten bereits ausge- gesetzt hat sich das Superflugzeug den- ler. Die kriegen meist den Absprung, bucht. noch nicht – zu teuer, zu laut, dazu ener- wenn der Fortschritt heranbraust mit Nun müssen die Gastwirte in der Um- gieverschlingend. 420 Sachen. Raubvögel sind von seiner gebung um ihre Geschäfte fürchten, die Horrorvisionen, immer wieder be- Art. Tage, in denen der Transrapid als skur- schworen von Umweltpolitikern und Das Erprobungsvehikel heißt „Trans- rile Achterbahn durchs Emsland gleitet, Naturschützern, begleiten die Diskussi- rapid 07“ und gleicht einem gefangenen sind womöglich gezählt. Die Versuchs- on um den Transrapid, der als schnell- Raubtier. Eingesperrt in die Enge einer anlage wird in absehbarer Zeit abge- stes Landfahrzeug ins nächste Jahrtau- 31 Kilometer langen Teststrecke. Seit baut, das System Transrapid hat als send zischen soll. Seine Kritiker sehen zehn Jahren erprobt Thyssen die Ma- Spielzeug ausgedient. Bald soll es ein in der rasenden Magnetbahn eine ökolo- gnetschnellbahn im Emsland. Der Vor- Teil der deutschen Infrastruktur sein. gische Bedrohung für die bisher kaum bote für „die neue Ära des Bahnver- Am 23. September wird der Bundes- zersiedelte Landschaft zwischen Berlin kehrs“ (Thyssen) diente bislang vorwie- rat das Planungsgesetz zum Bau der er- und Hamburg. Zwar sind die häßlichen gend als Touristenattraktion in dem sten deutschen Magnetbahnstrecke von Betonstelzen technisch nicht nötig. Der strukturschwachen Landstrich nord- Hamburg nach Berlin verabschieden. Transrapid könnte auch 40 Zentimeter westlich von Osnabrück. Nach jahrelangem politischen Gezerre über dem Erdboden dahingleiten.

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TECHNIK

Doch schon heute wird bei Thyssen kleinlaut eingeräumt, daß eine ebener- dige Trassenführung praktisch kaum durchsetzbar wäre. Ein in Bodennähe mit mehr als 400 km/h durchs Land sau- sender Zug würde zu einem unzumutba- ren Risiko für Mensch und Tier werden. So wird es also bei den meterhohen Auf- ständerungen bleiben. Nicht nur der optische Verdruß durch den 284 Kilometer langen Stelzenweg schreckt die Naturschützer. Sie warnen auch vor der angeblich ohrenbetäuben- den Lärmbelästigung durch die super- schnellen Züge. Öko-Kämpfer von Ro- bin Wood prognostizieren Windgeräu- sche, die sich „dem Lärm von Tiefflie- gern nähern“.

Streit gibt es seit Jahren auch um die J. SCHWARTZ Kosten der Anlage, Kritiker halten sie Passagiere im Transrapid 07: Sanft beschleunigt auf Tempo 420 für kaum kalkulierbar. Allein der Bau der Trasse soll laut einer Kabinettsvor- Der Magnetgleiter saugt nicht nur Geld bahntechnik. Die Begeisterung der lage 5,6 Milliarden Mark verschlingen, aus der Steuerkasse, er zieht auch Kun- Techniker für die neuartige Antriebs- deutlich mehr, als ein Ausbau des beste- den ab von der ohnehin finanziell ausge- methode ist begreiflich. Für sich be- henden Schienennetzes kosten würde. bluteten Bahn. Bahnchef Heinz Dürr trachtet, Kostenrechnungen beiseite, ist Obendrein ist bei dem völlig neuartigen hat bereits eine Forderung von 200 Mil- das Prinzip der nahezu reibungsfreien Bauprojekt nicht gesichert, ob die zu er- lionen Mark pro Jahr erhoben, als Aus- Fortbewegung des Magnetzuges dem wartenden enormen Investitionen sich gleich für die Verluste im Schienenge- klassischen Rad-Schiene-System klar jemals auszahlen werden. schäft. überlegen. Die Fachgruppe Verkehrswirtschaft All diesen Vorbehalten setzen die Den tonnenschweren Zug elektroma- beim Bundesverkehrsminister nannte Transrapid-Bauer von Thyssen eine an- gnetisch in die Schwebe zu heben erfor- das Finanzierungskonzept „unvollstän- dere Befürchtung entgegen: Deutsch- dert keinen besonderen Kraftakt; dafür dig“. Zahlreiche Sonderbauten für die lands Chance, sich als Pionier neuer reicht die gespeicherte Energie der Verknüpfung des exotischen Gleiters Verkehrstechniken in Szene zu setzen, Bordbatterien. Die Antriebskraft mit den klassischen Bahnsystemen sind könnte durch die politischen Bremsma- stammt aus Kabelwicklungen an den unvermeidlich, fehlen aber in der Pla- növer der Transrapid-Gegner verspielt beiden Unterseiten der Trassen (siehe nung (SPIEGEL 8/1994). Heftigen Wi- werden. Auch japanische Konzerne for- Grafik). Die Stärke der Stromzufuhr be- derstand leistet auch die Bundesbahn. schen seit geraumer Zeit an der Magnet- stimmt die Geschwindigkeit des Zuges:

Kraft aus Transrapid-Kufe der Trasse Führung Funktionsweise des Transrapid-Antriebs Antrieb Betontrasse Führung 3

1 Antrieb

2

Konventionelle von Tragemagneten (2) gehoben, reibungslos einen Zentimeter Lokomotiven übertragen ihre Antriebs- über der Trasse. Führungsmagneten (3) an den Innenseiten der kraft mittels Motor und Rädern auf die Schiene (rechts). Kufen halten den Transrapid in der Spur. Der Transrapid dagegen bezieht seine Schubenergie aus der Um Energie zu sparen und eine Überhitzung der Kabel- Trasse (Mitte). Das System gleicht einem in Längsrichtung wicklungen zu vermeiden, wird der Antriebsstrom lediglich in ausgebreiteten Elektromotor. Unter dem Fahrweg angebrachte jenen Segmenten der Trasse eingeschaltet, auf denen sich der Kabelwicklungen (1) werden unter Strom gesetzt und erzeugen Zug gerade befindet (unten). Die Trasse kann aufgeständert ein Magnetfeld, das den Zug vorwärtstreibt. Er schwebt dabei, oder ebenerdig geführt werden (links).

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TECHNIK

Sie wird vom zentralen Leitstand aus ge- braucht ein ICE 30 Ki- regelt, wie das Tempo der Modelleisen- lometer, die Magnet- bahn am Trafo des Hobbylokführers. bahn nur 5. So verlän- Der Zugführer im Cockpit der Magnet- gert ein zweiminütiger bahn greift nur im Notfall ein. Bahnhofsaufenthalt Mit deutlich geringerem Energiever- die Fahrzeit des Trans- brauch zischt der Transrapid auf seinem rapid bei einer Reise- unsichtbaren Kraftfeld dahin. Pro Passa- geschwindigkeit von gier, rechnet Thyssen vor, benötigt der 300 km/h nur um vier Magnetzug bei gleicher Geschwindigkeit Minuten. Der ICE ver- 30 Prozent weniger Strom als der ICE. liert dabei durch die Noch bei 400 km/h saugt der rasende längeren Brems- und Gleiter weniger Strom aus dem Netz als Beschleunigungszeiten ein ICE bei 300 km/h (siehe Tabelle). eine Viertelstunde. Daß dabei keineswegs der Lärm von Die Thyssen-Tech- Tieffliegern entsteht, geht aus Messun- niker glauben, mit gen des TÜV Rheinland hervor. Danach dem Transrapid die

erzeugt ein Transrapid-Zug bei Tempo 284 Kilometer lange J. SCHWARTZ 250 in 25 Meter Entfernung nur 82,5 De- Strecke Hamburg – Transrapid-Leitstand: Der Zugführer greift nur im Notfall ein zibel. Das entspricht dem Geräuschni- Berlin in 53 Minuten zurücklegen zu können. Bei einem Halt zwei Zusatzhaltestellen am Stadtrand Sparsamer Gleiter in Schwerin und zwei Zusteigstationen ein, Berlin-Spandau und Hamburg-Bill- jeweils an der Peripherie der Großstädte werder. läge die Fahrzeit bei 66 Minuten. Dort, so meinen sie, können die Um- Energieverbrauch Im Zehn-Minuten-Takt sollen die dy- steiger ihre Autos abstellen, auch das ei- ICE Transrapid 71 namischen Gleiter vom Jahr 2004 an ne gewagte Prognose. Wenn nur die Angaben in 64 zwischen den Städten hin- und hersau- Hälfte der erwarteten 15 000 Passagiere Wattstunden pro sen. Die Flotte soll 16 Züge mit je vier mit dem Auto käme, müßten an den Sitzplatz-Kilometer Wagensektionen umfassen. Die Kapazi- Stadtrand-Stationen jeweils mindestens 44 tät reicht für 15 000 Passagiere pro Tag 190 000 Quadratmeter für Parkflächen 43 in jede Richtung. bereitgestellt werden; das entspricht ei- 32 Optimistisch rechnen die Transrapid- nem Haus mit 27 Stockwerken und 33 Förderer mit 14,5 Millionen Fahrgästen einem Grundriß von der Größe eines 29 im Jahr – sie glauben auch zu wissen, wo Fußballplatzes – ein städtebaulicher die vielen Kunden vor allem herkom- Nonsens. men werden: von der Straße. Als Instru- Wenn die gewünschten Passagierzah- ment, das notorische Autofahrer aus len erreicht würden, dürften sie sich auf den stinkenden Blechkisten zieht, könn- keinen Fall gleichmäßig im Zehn-Minu- 200 250 300 400km/h te der umstrittene Gleiter laut Thyssen ten-Takt über dieganze Woche verteilen. sogar die Gunst der Grünen erringen – Das zeigen alle Erfahrungen im Eisen- eine kühne Wunschidee. bahn- und Nahverkehr. Dementspre- veau bei lebhaftem Stadtverkehr. Alle Wenn der Automensch, wie es die Le- chend müßte der hochfrequent kursie- vergleichbaren Schienenfahrzeuge sind benserfahrung erwarten läßt, mit dem rende Transrapid am Mittwoch vormit- schon bei Tempo 100 wesentlich lauter. Auto zum Transrapid-Bahnhof kommt, tag mit nur einem Wagensegment fahren, Erst die enormen Windgeräusche bei dürfte es eng werden. An den zentralen am Freitag abend dagegen mehrere Kilo- Tempo 400 machen den Transrapid Haltestellen Hamburg-Hauptbahnhof meter lang sein. Tatsächlich sind aber nur wirklich laut, allerdings keinesfalls lau- und Berlin-Westkreuz reicht der Park- Magnetzüge mit zehn Segmenten ein- ter als einen Intercity, der nur 200 fährt. raum nicht einmal für einen Bruchteil setzbar; schon die Länge der vorhande- Als Vorteil für Umwelt und Finanzen der erträumten Passagiermengen. Zäh- nen Bahnsteige setzt der Zahl der Wag- preisen die Thyssen-Techniker die er- neknirschend bauten die Planer deshalb gons Grenzen. staunliche Steigfähigkeit des Magnetzu- Daß der Transrapid ges an. Die Räder klassischer Lokomo- Mäßiger Krach dem täglichen Einsatz tiven drehen je nach Witterung und technisch gewachsen Zuggewicht bei Steigungen zwischen 1,2 Schallpegel in Dezibel ist, halten seine Erbau- und 4 Prozent durch. Der Transrapid Diskothek/ er für erwiesen. Im hat konstruktionsbedingt keine solchen Preßlufthammer 100 vergangenen Jahr setz- Traktionsprobleme. Mühelos erklimmt Intercity ten sie den weißen er Steigungen von 10 Prozent. Tunnel ICE Gleiter im Emsland ei- und Brücken könnten deshalb vielerorts Vorbeifahrt eines nem Dauertest mit eingespart werden. schweren Lkw in 90 fünf Meter Abstand ständigen Tempospit- Auch kann sich die Trasse, besser als zen um 420 km/h aus. jeder ICE-Schienenstrang, der Land- Transrapid Dem Zug bereitete schaft anpassen. Der Transrapid ist im- der Marathon keine Vorbeifahrt eines 80 stande, Kurven in hohem Tempo zu Pkw in der Stadt Probleme, wohl aber nehmen – ein Schlängelkurs bringt nur seinen Insassen. Nach geringen Zeitverlust. Die bessere Trak- Schreibmaschine 1700 Kilometern muß- tion des Magnetantriebs läßt den Trans- (für Benutzer) 70 te die Fahrt abgebro- rapid zudem wesentlich besser beschleu- chen werden. Der Er- nigen als seine Konkurrenten auf der 200 250 300 350 400km/h probungszug hat keine Schiene. Um 300 km/h zu erreichen, Toiletten. Y

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WISSENSCHAFT

Chance, das Blutgerinnsel, das die muskelzellen führt zu einer meßbaren Medizin Herzkranzgefäße verstopft, medika- Freisetzung von Troponin T. mentös wieder aufzulösen oder das Der an diesem Meßwert orientierte verengte Blutgefäß mit Hilfe einer „Trop T Schnelltest“, ein simpler Strei- aufblasbaren Ballonsonde freizuma- fentest, hat überdies den Vorzug, daß Schneller chen. der Arzt nur winzig kleine Mengen Blut Aber noch ein zweites Verfahren zur benötigt. Der Test kann ohne aufwendi- Infarktdiagnose ist nahezu gleichzeitig ge Laboreinrichtung in der Praxis nie- Befund entwickelt worden. In dieser Woche, dergelassener Ärzte oder auch zu Hause beim Kardiologenkongreß in Berlin, am Krankenbett vorgenommen werden. Neue Labortests ermöglichen die stellen der Herzspezialist Hugo A. Ka- Da das Troponin T noch für lange Zeit Früherkennung von Herzinfarkten. tus von der Universität Heidelberg und im Blut nachweisbar ist, kann sogar das Pharma-Unternehmen Boehringer noch nach Tagen festgestellt werden, ob Die Chance, rechtzeitig be- Mannheim die neue Methode vor. Sie der Patient einen Infarkt durchgemacht handelt zu werden, erhöht sich. ist ähnlich schnell, gleicht aber zusätz- hat – auch dann, wenn im EKG keine si- lich einen Nachteil des CK-MB-Tests cheren Zeichen für den Infarkt vorhan- aus. den sind. lle halbe Stunde wurde den Pa- Die beiden Labortests tienten, die mit Brustschmerzen in könnten künftig bei der Be- Adie Notfallaufnahme des Hospitals handlung von Herzinfarkt- in Houston gekommen waren, Blut ab- Patienten eine bedeutende gezapft. Über einen Zeitraum von Rolle spielen. Jedes Jahr sechs Stunden wurden die Bluttests erleiden schätzungsweise fortgesetzt – dann kannten 95,7 Pro- 260 000 Bundesbürger ei- zent der Patienten die richtige Antwort nen Herzinfarkt, 170 000 auf ihre Schicksalsfrage: ob sie einen überleben das dramatische Herzinfarkt erlitten hatten oder nicht. Ereignis nicht. Unter An 1110 Patienten wurde das neue Herzspezialisten gilt als si- Bluttestverfahren erprobt, über das cher, daß sich diese Zahl Robert Roberts und seine Kollegen senken ließe, wenn die vom Baylor College of Medicine in Ärzte schneller als bisher Houston jetzt im New England Journal zu einer Diagnose kämen of Medicine berichteten. Die hohe Zu- und dementsprechend frü- verlässigkeit – bei 57 Prozent der Ver- her mit der Therapie begin- suchspersonen gelang die Infarktdia- nen könnten. gnose sogar innerhalb einer Stunde – Eine raschere Infarkt- könnte den neuartigen Test zu einer diagnose könnte zudem wichtigen Säule der Diagnostik ma- ausufernde Krankenhaus- chen. etats senken helfen: Bis zur Bisher war eine verläßliche Herzin- Klärung ihrer mutmaßli- farkt-Sofortdiagnose aus vielerlei chen Infarktdiagnose be- Gründen überaus schwierig. Die für ei- legen die Patienten ne Therapie optimalen ersten Stunden Betten auf der teuren nach dem Einsetzen der typischen Intensivstation. Beispiel linksseitigen Brust- und Schulter- USA: Nur bei etwa jedem schmerzen verstrichen daher oft unge- zehnten amerikanischen nutzt. Patienten, der aufgrund ei- Bei dem von der Arbeitsgruppe um nes Verdachts auf Herzin- Mediziner Roberts entwickelten CK- farkt in die Notaufnahme

MB-Schnelltest handelt es sich um die S. HUSCH / TERZ einer Klinik eingeliefert Fortentwicklung eines seit zwei Jahr- Herzspezialist Katus: Teststreifen für den Infarkt und anschließend zur wei- zehnten bewährten Prinzips: Im Blut teren Beobachtung auf ei- des potentiellen Infarktopfers wird Das Enzym Kreatinkinase nämlich, ne Intensivstation verlegt wurde, bestä- nach einem Enzym namens Kreatinki- das bei dem texanischen Test gemessen tigte sich schließlich die Vermutung der nase (CK-MB) gefahndet, das von den wird, kommt nicht ausschließlich im Mediziner. infarktgeschädigten Herzmuskelzellen Herzmuskel vor. Deshalb kann der Andererseits wird eine große Zahl freigesetzt wird. Nachweis eines Herzinfarktes mit der von Herzinfarkten von den Ärzten gar Im Gegensatz zu einem schon seit CK-MB-Methode immer dann schwierig nicht entdeckt. Kardiologen vermuten, langem bewährten CK-Standardtest, werden, wenn beim Patienten gleichzei- daß zahlreiche kleinere Herzinfarkte bei dem bis zum Nachweis eines Herz- tig Verletzungen von Skelettmuskeln symptomarm („stumm“) verlaufen und, infarkts bis zu 24 Stunden vergehen oder bestimmte Muskelerkrankungen weil die typischen Anzeichen fehlen, konnten, benötigt das neue Verfahren, vorliegen. nicht erkannt werden. das einer Sonderform des Enzyms Das Heidelberger Verfahren hinge- Dieser Verdacht wurde durch Sek- nachspürt, nur 25 Minuten. Bereits gen beruht auf dem Nachweis eines aus- tionsstatistiken vielfältig belegt. Er- zwei Stunden nach dem Einsetzen er- schließlich im Herzmuskel vorkommen- staunlich häufig entdecken Patho- ster Infarkt-Symptome können die er- den Eiweißkörpers, des Troponin T. logen, wenn sie Verstorbene obduzie- höhten MB-Kreatinkinase-Werte ermit- Diese Substanz reguliert die bei der ren, die deutlichen Spuren eines Herz- telt werden. Muskelarbeit des Herzens auftretenden infarkts, von dem weder der Hausarzt Wenn ein Herzinfarkt so früh festge- Verkürzungen der Muskelfasern. Be- noch die Angehörigen etwas gewußt stellt wird, haben die Ärzte eine gute reits die geringste Verletzung von Herz- haben. Y

DER SPIEGEL 37/1994 231 . H. GUTMANN / FORMAT Brandverletzte Gottwald, ausgebrannter

Automobile Brandsatz im Tiefflug Feuerunfälle mit BMW-Limousinen werfen die Frage auf: Ist der Benzintank im Heck gefährlich?

er Brief, den der Hamburger Di- plomkaufmannHermannGottwald Dam 4. August 1993 an den Vor- standschef der BMW AG richtete, be- gann mit freundlichen Worten. „Seit Jah- ren“, schrieb Gottwald an Bernd Pi- schetsrieder, „habe ich Fahrzeuge Ihrer Firma mit Begeisterung und Freude ge- fahren – Sportlichkeit und Dynamik paß- ten auch gut zu meinem Weltbild.“ Doch schon wenige Zeilen später kipp- te die Tonlage. Absender Gottwald schil- derte die letzte Fahrt mit seinem Dienst- wagen, einem BMW 525i, Baujahr 1991. Sie endete in einem Inferno. Von einem schleudernden Fahrzeug abprallend, glitt der BMW am 29. August 1992 auf der Autobahn zwischen Bremen und Osnabrück über die Leitplanken und kam auf der gegenüberliegenden Fahr- spur zum Stillstand. Sekunden später stand der Wagen in Flammen. Gottwald, seine Frau und die Kinder Malte und Kathrin konnten sich aus dem brennenden Fahrzeug retten, trugen aber teilweise schwerste Verbrennungen davon. Adelheid Gottwald verlor mehr als 30 Prozent ihrer Haut. Der fünfjähri- ge Sohn Nils, der in der Mitte der Rück- sitzbank saß, starb in den Flammen. Der Verdacht, daß der Feuertod seines Sohnes in einem anderen Fahrzeug hätte verhindert werden können, kam Gott-

232 DER SPIEGEL 37/1994 BMW 525i: „Der Tank kann an der Unterseite aufgerissen werden“

wald erst später. Am 21. Oktober wirkung beschädigt (eingeschnitten, schickte der Kfz-Sachverständige Hein- aufgerissen) werden. rich Tiemeyer ein 22seitiges Gutachten über den Unfallhergang an die Ver- Bei anderen Fabrikaten, fügte der kehrspolizeistaffel Delmenhorst. Der Gutachter hinzu und nannte als Beispiel Ingenieur führte darin den Brandaus- einen Mercedes 190, „ist der Tank hinter bruch auf eine Beschädigung des Kraft- der Rücksitzbank installiert, die Unter- stofftanks zurück, „die entstand, als der seite wird von der Bodengruppe ge- BMW über die Mittelschutzplanke ge- schützt“. Der 80 Liter fassende Kunst- langte“. stoffbehälter des 5er BMW schwebt da- In diesem Zusammenhang äußerte gegen mit ungeschütztem Boden über Tiemeyer Kritik an der Tankanordnung dem Asphalt – ein Brandsatz im Tiefflug. bei diesem Wagentyp: Mit dem Sachverständigengutachten in der Hand wandte sich Gottwald an In Fahrzeugquerrichtung betrachtet, er- den TÜV Berlin-Brandenburg, der als streckt sich der Behälter über die ge- zentrale Autorität für die Abnahme von samte Breite des Kofferraumbodens. Automobiltanks in Deutschland gilt. Er Die Unterseite des Kraftstofftankes ist schilderte dem zuständigen Ingenieur bei Fahrzeugen der aktuellen 5er Bau- zunächst nur den Unfallhergang und reihe nicht weiter geschützt und kann nannte die Fahrzeugklasse. Die Ant- deshalb beim Überfahren eines Hinder- wort, so Gottwald: „Dann fuhren Sie nisses – hier offenbar Mittelschutz- wahrscheinlich einen 7er oder 5er planke – bei entsprechender Kraftein- BMW.“ Diese Limousinen zählen in ihrer Klasse zu den wenigen Wohin mit dem Tank? Modellen, bei denen, im Inter- Die meisten Hersteller – so etwa Mercedes in seinen esse eines großen, variablen Mittelklassemodellen – plazieren den Benzintank über Gepäckabteils, der Tank im oder vor der Hinterachse. Beim 5er BMW befindet sich Bereich des Kofferraums unter der Tank im Bereich des hinteren Wagenbodens. dem Wagenboden angeordnet ist. Bei Auffahrunfällen ist der Tank im Wagenheck jedoch Mercedes-Benz 250 besonders gefährdet. Zudem hat er nach unten eine große Angriffsfläche für Beschädi- Tank gungen. Seit langem bauen viele Au- tomobilhersteller deshalb die Hinterachse Tanks ihrer Fahrzeuge im ge- schützten Bereich über oder BMW 518i vor der Hinterachse ein. So empfehlen es auch Unfallfor- scher und Automobilklubs wie Tank etwa der ADAC. Das Kaufberatungsmagazin ADAC-Special beurteilt all- Hinterachse jährlich viele in Deutschland erhältliche Neu- und Ge-

DER SPIEGEL 37/1994 233 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite TECHNIK

brauchtwagen, unter anderem hinsicht- lich der Tankposition. Fast alle Modelle schneiden in dieser Rubrik gut ab. Sogar das Billig-Mobil Fiat Panda und die seit 1948 angebotene „Ente“, der Citroe¨n 2 CV, erhielten die lobende Bemerkung: „Tank an sicherer Stelle“. Die BMW 7er (bis Modelljahr ’94) und 5er nehmen dagegen in der ADAC- Liste eine Sonderstellung ein. Unter dem Rubrum „schlecht“ steht bei bei- den Modellen: „Tank im Heckdeforma- tionsbereich“. Diesen Verweis bekom- men sonst nur wenige Autos niedrigerer Preis- und Imagekategorien, etwa der Kleinwagen Citroe¨n Visa (bis 1988) und der Ford Scorpio. Gegen solche Kritik verteidigt sich BMW selbstbewußt. Offensiv erklärten die bayerischen Autobauer in einer In- formationsbroschüre zum 1986 heraus- gekommenen 7er, daß die allseits ver- pönte Einbaulage durchaus Methode habe. Von der Position über der Hinter- achse, wie sie BMW bereits bei der 1952 herausgekommenen V8-Limousi- ne („Barockengel“) realisiert hatte, sei die Firma, „durch neue Erkenntnisse der Unfallforschung klüger gewor- den, längst wieder abgegangen“. „Der Tank“, hieß es in dem Werbeschreiben weiter, „fand seinen Platz unter dem Kofferraum und damit so tief, daß er selbst bei Heck-Crashs durch andere Fahrzeuge direkt kaum getroffen wer- den kann.“ Dieser Überlegung mögen sich etliche unabhängige Unfallforscher nicht an- schließen. So pocht Dieter Anselm, Ge- schäftsführer des Zentrums für Technik bei der Allianz-Versicherung, darauf, „daß der Tank am besten unterhalb der hinteren Sitzbank und oberhalb der Hinterachse angebracht werden soll“. Sein Kollege aus dem Münchner Büro Kfz-Technik des HUK-Verbandes, Alexander Sporner, meint ebenfalls, daß der Tank „nicht im Heck, in der Front oder an den Seiten“ gelegen sein darf. In keinem Land der Welt schreiben jedoch Zulassungsbestimmungen eine bestimmte Einbaulage des Tanks oder gezielte Crashtests des Gesamtfahrzeugs für die technische Abnahme der Tank- anlage vor. BMW beruhigt die Kunden mit der Information, die Tanks seien „in einen massiven Rahmen“ eingebettet. Daß der beim Unfall von Hermann Gottwald nicht helfen konnte, liege an der „saudummen Konstellation dieses Einzelfalls“ (ein BMW-Sprecher). Nach monatelangen Analysen bekam Gottwald von der Rechtsabteilung des Münchner Unternehmens einen fünfsei- tigen Brief, in dem verschiedene theore- tische Unfallszenarien konstruiert wur- den. Diese sollten belegen, „daß die Tanklage immer ein Kompromiß aus

236 DER SPIEGEL 37/1994 den verschiedenen zur Verfügung ste- henden Alternativen sein wird“. Die Autoren entwickelten dabei be- merkenswerte Phantasie: „So ist ein Tank, der über der Hinterachse liegt, schlecht gegen scharfkantige Gegen- stände im Kofferraum zu schützen, die bei einem Heckaufprall in den Tank ge- trieben bzw. geschoben werden.“ In „der Auffassung, daß der Plazierung des Tanks im Unfallfahrzeug kein Kon- struktionsfehler von BMW zugrunde liegt“, zeichneten die Juristen Dr. Lö- chelt und Dr. Hirschberger mit freundli- chen Grüßen. Statistisch, verteidigen sich die BMW- Techniker, zeigen ihre Fahrzeuge grundsätzlich „keine signifikante Auf- fälligkeit“. Eine Aussage, die ebenso schwer zu belegen wie zu widerlegen ist. Denn es gibt keine umfangreiche Stati- stik über Brandunfälle, schon gar nicht mit einer Aufschlüsselung nach Fahr- zeugtypen. Die Autoversicherer, die selber nichts zu diesem Thema veröffentlichen, ver- weisen auf eine Auswertung der Bun- desanstalt für Straßenwesen, die 1989 alle Brandunfälle in Nordrhein-Westfa- 2000 Mark kassierte BMW von der Witwe des Verunglückten len – ohne Nennung von Firmennamen – erfaßte. Nach deren Hochrechnungen ist in Deutschland jährlich mit 550 Stra- ßenverkehrsunfällen mit Brandfolge zu rechnen, bei denen mindestens 40 Men- schen durch den Brand getötet werden. Den Unfallgutachtern der Dekra AG sind Feuerunfälle von BMW-Limousi- nen durchaus bekannt. Jüngst analysier- ten sie den Heckaufprall eines BMW 530i, der für die Fahrerin tödlich ende- te. Der Wagen kam am 7. November 1993 auf einer Landstraße ins Schleu- dern, prallte seitlich gegen einen Baum, drehte sich und stieß darauf mit dem Heck – bei etwa 40 bis 50 km/h Restge- schwindigkeit – gegen einen weiteren Baum. „Der Pkw“, heißt es im Dekra- Gutachten, „kam anschließend auf dem rechten Grünstreifen zum Stillstand und brannte dort vollständig aus.“ Nicht auszuschließen ist, daß sich BMW-Techniker längst über die Nach- teile der Tankposition im Wagenheck im klaren sind. Beim neuen 7er, der im Mai dieses Jahres eingeführt wurde, ha- ben sie den Tank vor der Hinterachse plaziert. Auch in den Modellen der nächsten 5er Generation (ab 1995) wird der feuergefährliche Kraftstoff nicht mehr im hinteren Aufprallbereich, son- dern vor der Hinterachse lagern. Entschädigungen an Feueropfer oder Hinterbliebene, die der Meinung sind, Werbeseite

Werbeseite WISSENSCHAFT der Münchner Autohersteller habe ihr schließlich Zinsen standen noch 3367,16 Doch die europäisch-amerikanische Schicksal mitzuverantworten, wurden Mark aus. Raumsonde „Ulysses“, unterwegs zur von BMW bisher nicht gezahlt. Her- Rita Schiemichen weigerte sich zu Sonne, hielt Kurs. Unbeeinflußt vom mann Gottwald, der den BMW-Chef Pi- zahlen – daraufhin wurde sie von der Sturm im All, schickte die Meßkapsel schetsrieder aufgefordert hatte, seine BMW Leasing GmbH verklagt. weiter ihre Datenfracht (umgerechnet Frau und seine Tochter mit jeweils Der Rechtsstreit endete mit einem zehn Schreibmaschinenseiten pro Minu- 100 000 Mark zu entschädigen, bekam Vergleich. Rita Schiemichen, die seit te) an die irdischen Bodenstationen – bi- nach langem Briefwechsel im März die- dem Tod ihres Mannes allein für drei zarre Berichte aus der bis dahin uner- ses Jahres eine endgültige Absage. Von Kinder sorgen muß, zahlte der BMW forschten Unterwelt des Sonnensy- einem Prozeß riet ihm sein Rechtsan- Leasing GmbH 2000 Mark und trug die stems. walt trotz deutlicher Einlassungen des Kosten des Verfahrens. Y Wie Kugeln beim Roulette kreisen Unfallsachverständigen ab. die Planeten auf einer tellerförmigen Die Aussicht, bei Produkthaftungs- Ebene um die Sonne. Mit einem gewal- prozessen gegen große Konzerne recht Weltraum tigen Kraftakt wurde mit Ulysses erst- zu bekommen, ist in Deutschland gerin- mals ein Flugkörper gleichsam von die- ger als etwa in den USA. Dort zahlen ser Planeten-Scheibe heruntergestoßen. die Hersteller manchmal sogar freiwillig Seitdem fliegt die Kapsel auf einer ge- an geschädigte Kunden, um peinliche Reise in die schwungenen Bahn von unten her auf Prozesse zu vermeiden. die Sonne zu (siehe Grafik). Als Präzedenzfall gilt der Rechtsstreit Am Dienstag dieser Woche erreicht um einen Ford Pinto in den siebziger Unterwelt Ulysses, nach einer Reisestrecke von Jahren, dem Richter nach einem Feuer- zwei Milliarden Kilometern, das Ziel: unfall eine ungünstige Tankposition an- Nach zwei Milliarden Flugkilome- den Südpol der Sonne. lasteten. Ford zahlte 6,5 Millionen Dol- tern durchs All erreicht die Schon jetzt haben die Sonnenforscher lar Entschädigung. viel dazugelernt. Während ihres Fluges Im Februar 1993 verurteilte eine Jury Forschungssonde Ulysses den vermaß die Ulysses-Sonde alles, was ihr in Atlanta den Hersteller General Mo- Südpol der Sonne. vor die Sensoren kam: geladene Teil- tors (GM) zur Zahlung von 101 Millio- chen aus dem Brutofen der Sonne, Ma- nen Dollar Zivilstrafe und 4,2 Millionen gnetfelder und Strahlung auf allen be- Schadensersatz: Der Fahrer eines GM- m letzten Herbst blies der Sonnen- kannten Frequenzen, sogar den Staub Pickup, dessen Tanks sich an den Seiten wind auf einmal kräftiger. Mit drei fremder Sterne. außerhalb des Rahmens befanden, war IMillionen km/h prasselte der vom Aus diesen Meßdaten wollen sich die nach einem Seitenaufprall verbrannt. Zentralgestirn ausgespuckte Teilchen- Astrophysiker ein umfassendes Bild von Bei BMW ist lediglich ein Fall einer strom gegen die Meßfühler der kleinwa- den Vorgängen auf der Sonnenoberflä- gerichtlichen Auseinandersetzung nach gengroßen Weltraumkapsel. che verschaffen. Von der Erde aus er- einem Brandunfall bekannt, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Hinterblie- Kurve zur Sonne benen des Opfers wurden Mission der Raumsonde Ulysses Heiße Gashülle Magnetfeld von den Anwälten des Her- Als erste Raumsonde wurde Ulysses aus der Bahnebene der (Corona) stellers heimgesucht. Planeten herauskatapultiert. Den nötigen Schwung für die Um- Am 24. Februar 1992 ver- lenkung ihrer Flugbahn gewann die Kapsel vom Schwerefeld unglückte Manfred Schiemi- des Jupiter. Bei dem riskanten Kurven-Manöver durfte Ulysses chen auf der A9 in der Nähe pro Kilometer höchstens einen Millimeter vom programmierten Kern des Hermsdorfer Kreuzes. Kurs abweichen. Auf ihrem Weg zum Südpol der Sonne mißt Sein Wagen, ein BMW 525i die Forschungssonde mit ihren Instrumenten ständig die vom (Baujahr 1991), kam von der Zentralgestirn ausgesandte elektromagnetische Strahlung, das Fahrbahn ab, überschlug sich solare Magnetfeld sowie den Sonnenwind. und prallte mit dem Heck gegen eine Birke. Zeu- gen beobachteten, daß der Radiowellen Juni bis Oktober Infrarotlicht Fahrer noch lebte, bevor das 1995: Überflug des Auto in kürzester Zeit Feuer Sonnen-Nordpols Sichtbares Licht Sonnenwind fing. UV-Licht Röntgenstrahlung Rita Schiemichen, die Wit- 6. Oktober 1990: we des Verunglückten, ließ Start von der Erde den Unfall nicht analysieren. Um sich mit dem Schicksal Sonne ihres Mannes nicht immer aufs neue beschäftigen zu 8. Februar 1992: Vorbeiflug am Jupiter müssen, wollte sie keinen Streit mit BMW. Doch die Erinnerung holte sie ein – in Form eines Mahn- Juni bis November 1994: Überflug des bescheides der BMW Lea- Sonnen-Südpols sing GmbH. Die forderte am 19. November 1992 die ab- Ulysses schließende Zahlung aus dem Wegstrecke Leasingvertrag für das ver- in 100 Tagen unglückte Fahrzeug. Ein-

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WISSENSCHAFT

i die Vulkane auf dem Jupiter- mond Io dabei beobachtet, wie sie jede Sekunde rund eine Tonne Schwefelteilchen und Sauerstoff ins All speien, ei- nen elektrisch geladenen Brei, der dazu beiträgt, das Magnet- feld des Gasplaneten aufzublä- hen; i Heliumatome aufgespürt, die aus weit entfernten Regionen der Galaxis kommen. Aus der Geschwindigkeit der Partikel konnte erstmals präzise er- rechnet werden, mit welchem Affenzahn Sonne und Plane- ten auf die übrigen Sterne der Galaxis zurasen: mit 95 000 Kilometern pro Stunde – weit schneller als bisher vermutet. Den Umweg über Jupiter nahm die Sonnensonde, um Schwung für ihren Abstieg zu ho-

ESA len. Verläßt ein Flugkörper das Sonnen-Sonde „Ulysses“: Staubwolken ferner Sterne aufgespürt irdische Schwerefeld, wird er zu- nächst – wie ein Passagier, der faßten ihre Instrumente bislang nur den gen auf die Erde besser voraussagen“ zu von einem fahrenden Zug abspringt – in brodelnden Äquator des Glutofens. „Es können. die gleiche Richtung geschleudert, in vermag auch niemand eine Karte von Am Sonnen-Südpol soll der irdische der die Erde um die Sonne rast. Keine der Erdoberfläche zu erstellen, wenn er Sendbote zugleich horchen, was von Rakete verfügt über die Schubkraft, die mit einem Flugzeug immer nur um den draußen reinkommt. Wenn geladene für eine Kehrtwende nötig wäre. Äquator fliegt“, erklärt der Physiker Pe- Teilchen aus fernen Bereichen der Vom Jupiter, dem massereichsten ter Wenzel, 56, wissenschaftlicher Lei- Milchstraße ins Sonnensystem eindrin- Brummkreisel unter den Planeten, muß- ter der Ulysses-Mission bei der europäi- gen, sind sie gezwungen, dem spiralför- te sich Ulysses dafür eine kräftige Porti- schen Weltraumorganisation Esa. migen Pfad des solaren Magnetfeldes zu on Bewegungsenergie abzweigen – nach Vor allem aber erhoffen sich die Ster- folgen – eine kräftezehrende Odyssee nenkundler Aufklärung über den Ur- durch eine Art elektromagnetisches sprung des rätselhaften Sonnenwindes. Schneckenhaus. „Den meisten interstel- Mit 95 000 km/h rast Die energiereichen Teilchen, aus de- laren Teilchen geht dabei die Puste aus, das Sonnensystem nen er besteht, werden mit Gaseruptio- nur die kräftigsten erreichen die Erde“, nen auf der Sonne bis zu den entfernte- erläutert Wenzel. auf die Milchstraße zu sten Planeten und weiter ins All trans- An den Polen des glühenden Gasge- portiert. Treffen sie auf die irdische stirns müßten es die Eindringlinge aber Art eines Skateboardfahrers, der sich Lufthülle, stören sie den Funkverkehr, eigentlich leichter haben: Laut Theorie von einem Lkw abschleppen läßt. Erst erzeugen farbenprächtige Polarlichter hat das Magnetfeld dort die Form einer danach war die Kapsel schnell genug, und belasten Passagiere in Verkehrs- geradlinigen Autobahn. „Seltsamerwei- um die Bahnebene der Planeten verlas- flugzeugen, die in großer Höhe den se steigt die Zahl der Teilchen aber we- sen zu können. Nordpol überfliegen. niger schnell an, als wir erwartet hat- Viel Geduld mußten die Sonnenfor- Chaotische Sonnen- ten“, berichtet Wenzel, scher schon vor dem Start von Ulysses windverhältnisse herr- „vielleicht gleicht das aufbringen. Ursprünglich sollte eine schen auf der Teller- Magnetfeld am Pol US-Raumfähre die Sonde bereits 1983 scheibe der Planeten: doch eher einer kurven- huckepack in eine Erdumlaufbahn hie- Schnelle Teilchenströ- reichen Landstraße.“ ven; von dort aus sollten Zusatzraketen me prallen auf langsa- Schon während der Ulysses anfeuern. me, heftige Turbulen- knapp zweijährigen Erst wurde der Start verschoben, weil zen entstehen, Schock- Reise zum Jupiter, wo es technische Probleme mit dem Space wellen branden durchs Ulysses aus der Ebene Shuttle gab. Dann, 1986, explodierte die All. In der Polregion der Planeten abtauch- Raumfähre Challenger – ein weiterer der Sonne hingegen te, hat die Sonde er- Rückschlag. Erst im Oktober 1990 bläst der Teilchenwind staunliche Entdeckun- klappte es. heftig, aber gleichmä- gen gemacht. So hat Nicht nur wegen der Zeitverzögerung ßig – und läßt sich so in Ulysses wollen die Astrophysiker ihre Spähson-

aller Ruhe studieren. HOOGTE i grobkörnige Staub- den künftig nicht mehr von Raumfäh- Der Esa-Forschungs- wolken gefunden, ren, sondern lieber wieder von altmodi- direktor Roger Bonnet die wie kosmischer schen Raketen ins All tragen lassen. hofft, nach Auswer- Schotter durch das „Wir hatten Angst um unsere Instru- tung der Ulysses-Daten Sonnensystem zie- mente“, erinnert sich Erhard Keppler

„die Schwankungen M. BAKKER / HOLLANDSE hen und offenbar von vom Max-Planck-Institut für Aerono- der Sonnenaktivität Esa-Forscher Wenzel fernen Sternen stam- mie, „so verdreckt war die Ladebucht und ihre Auswirkun- Viel gelernt men; des Shuttle.“ Y

240 DER SPIEGEL 37/1994 Werbeseite

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SPORT

Fußball ALLE ZÜNDELN WEITER Bundestrainer Berti Vogts wollte nach dem Weltmeisterschaftsdebakel einen radikalen Schnitt machen. Doch den früheren Verteidiger verließ wieder mal auf halbem Wege der Mut zur Offensive. So schleppt die Nationalelf trotz des Sieges in Rußland noch die Altlasten mit in die neue Zeit.

ie genossen den aufrechten Gang, nachempfinden, was in den vergange- Mag auch der inflationäre Gebrauch den sie so lange nicht wagen durf- nen 90 Minuten wirklich geschehen ist. des Wörtchens „neu“ – „neues System“, Sten. Und die letzten Meter des Tri- In Moskau wurden potentielle Zweifler „neue Spieler“, „neue Einheit“, „neues umphzuges von der Kabine zu den War- wieder einmal von geballter Zufrieden- Leben“ – die gelungene Renovierung tenden nutzte jeder auf seine Art. heit erschlagen: Nach dem „wichtigsten des deutschen Fußballs suggerieren: Die Kapitän Lothar Matthäus zupfte den Länderspiel der letzten Jahre“ (Mat- Schwierigkeiten bestehen weiter. neuen Seitenscheitel mit den Fingerspit- thäus) sah Möller gar die „Ehre der Noch immer fehlt es im Deutschen zen zu kameragerechter Eleganz; sein Nationalmannschaft“ gerettet. Fußball-Bund (DFB) unter Braun an Möchtegern-Nachfolger Andreas Möl- 59 Tage nach dem Ausscheiden bei Cleverneß und Kreativität. Noch immer ler blies wie ein pausbäckiger Posaunen- der Weltmeisterschaft badeten die schleppt die Nationalelf mit Lothar Mat- engel Luft in den tristen Flur des Mos- deutschen Profis in Selbstgerechtigkeit, thäus einen verdrängten Problemfall kauer Zentralstadions; der kernige Jür- als könne schon ein 1:0-Sieg über Ruß- durch. Noch immer schwelen Konflikte gen Kohler bleckte noch einmal die land in einem bedeutungslosen Freund- zwischen dem Dauerteenie Andreas Zähne, wie er es sonst immer dann tut, schaftsspiel das Debakel vergessen ma- Möller und dem Rest der Mannschaft. wenn er einen Gegner von den Füßen chen. Immerhin war Realitätsverlust Und schon wieder muß Bundestrainer geholt hat – deutsche Fußballhelden auf eine der Ursachen für den Niedergang Berti Vogts um Glaubwürdigkeit und dem Weg zum Nachspiel. – da scheint der „Weg zu neuen Arbeitsplatz kämpfen. Das findet für die Profis der National- Ufern“, den Verbandspräsident Egidi- Die Manager der Vereine, die sich elf unmittelbar nach dem Abpfiff vor us Braun seit Moskau zu erkennen von Samstag zu Samstag mehr am Boom Mikrofonen und Notizblöcken statt, glaubt, direkt zurück zu alten Fehlern der Bundesliga berauschen, betrachten wenn Kicker und Kritiker gemeinsam zu führen. den obersten Fußballehrer als Sorgen- A. HASSENSTEIN / BONGARTS AP Torschütze Kuntz, Trainer Vogts: „Im wichtigsten Länderspiel der letzten Jahre die Ehre der Nationalelf gerettet“

242 DER SPIEGEL 37/1994 kind, das mit Scheinsolidarität aus den Medien herausgehalten werden müsse. Artenschutz für Heribert Kartellamt stoppt TV-Vermarktung „Fußball ist so in“, meint der Münch- ner Manager Uli Hoeneß, „da scha- det ein Krach um das Nationalteam Die Ware ist erstklassig: Fuß- , nur.“ ball ist, wie die Hitlisten ’94 RTL-Hitliste 94 In Wahrheit halten die etablierten Pro- der vier großen Sender zeigen, zuschauer fi-Klubs, nach eigenem Verständnis auf allen Fernsehkanälen ein Quoten- sendung in millionen längst hocheffiziente Unternehmen, den bringer; gegen Jürgen Klinsmann und 1. Kindergarten Cop 12,4 Verband für eine Verwaltung, die den Lothar Matthäus hat selbst Thomas 2. Robin Hood 10,5 Sprung in die Moderne verschlafen hat. Gottschalk keine Chance. 3. Traumhochzeit 9,8 Abgesehen von der Direktion Öffent- Die Ware ist teuer: 100 Millionen lichkeitsarbeit, sagt ein Trainer, sei der Mark pro Saison kosten SAT 1 die 4. Frankfurt – Salzburg 9,5 DFB „auf allen Ebenen zweitklassig“ Bundesliga-Erstrechte, ARD/ZDF 5. Porto – Bremen 8,9 besetzt. Berti Vogts gilt ihnen da nur als zahlen 30 Millionen für die National- 6. Werner – beinhart 8,9 Teil eines insgesamt bröckligen Funda- elf und nationale Pokalspiele, RTL 7. Bremen – AC Mailand 8,8 ments. läßt sich die Champions League (den 8. Traumhochzeit 8,7 Doch der Fußballboom inDeutschland Pokal der Landesmeister) 30 Millio- schützt das Unternehmen Nationalelf, nen kosten, und die übrigen Europa- 8. Traumhochzeit 8,6 gibt Vogts mehr Zeit für einen Neuauf- pokalspiele werden für 60 Millionen 10. Dresden – Bremen 8,6 bau, alsder ursprünglich erhoffen durfte: von den Rechteagenturen ISPR Der Egoismus der Vereine, die den Ge- (Springer-Verlag/Kirch) oder Ufa Jetzt droht dem allgemeinen Glück schäftsgang nicht stören wollen,wirkt wie (Bertelsmann) auf die Sender verteilt. schwerer Verdruß: Das Bundeskar- eine Käseglocke. Damit konnten alle leben. „Gigan- tellamt will nicht mehr mitspielen. Selbst die Bild-Zeitung, von Vogts als tisch“ nennt Bayern Münchens Ma- Um „die Wettbewerbsmöglichkeiten Hauptgegner ausgemacht, wirkt unge- nager Uli Hoeneß den Geldfluß in die der Vereine zu schützen“, will es dem wöhnlich zahm. Unmittelbar nach dem Vereinskassen, die TV-Sender sind Deutschen Fußball-Bund die zentrale WM-Aus hatte das Boulevardblatt noch unter Berücksichtigung rechtlicher TV-Vermarktung verbieten. „Wir für Vogts ein Rücktrittsschreiben vorfor- und finanzieller Möglichkeiten mit wollen doch gar nicht geschützt wer- muliert und mit einem großen Pfeil gefor- der Verteilung des Gesamtpakets zu- den“, sagt Hoeneß. Auch der vorgeb- dert: „Unterschreiben Sie hier!“ frieden – und Fußballfans können an liche Monopolist DFB weist darauf Nach dem Moskau-Spiel fand Vogts- manchen Tagen beinahe stündlich hin, im Auftrag der Klubs zu Vorgänger Franz Beckenbauer, der sei- von Liveübertragung zu Liveübertra- handeln. Tatsächlich gehe es nach nen Nachfolger in den letzten Monaten gung zappen. Ansicht der Fußballer darum, den immer wieder kräftig gezaust hatte und klammen Fernsehfunkern von ARD sich seit dem Abschluß seines Kolumni- , ARD-Hitliste 94 und ZDF beizustehen, denen es im- stenvertrages mit Bild als eine Art Gott- mer schwerer fällt, im Preiskrieg mit- vater des deutschen Fußballs gebärdet, zuschauer sendung in millionen zubieten. plötzlich wieder warme Worte – Fußball Die Berliner Wettbewerbshüter, positiv, so die Blattmacher, diene der 1. Deutschland – Bolivien 19,4 glauben Vereine und DFB, entsprä- Auflage. 2. Deutschland – Belgien 16,7 Dabei müßte Vogts gar nicht auf das chen mit ihrem Vorstoß nur den Inten- Wohlwollen bauen, hätte er nur eine alte 3. Tagesschau 15,6 tionen jener Rundfunkpolitiker, die Fußballerweisheit befolgt. Die besagt, 4. Eiskunstlauf: Olympia-Kür 13,4 angesichts der lärmenden Sportunter- daß Abwehrspieler nach einem Befrei- 5. Tagesschau 13,1 haltung der Privaten die „ARD- ungsschlag vorrücken müssen, statt inder Sportschau“ für das letzte Edelweiß 5. Tagesschau 13,1 des TV-Journalismus halten – und Defensive zu verharren. Nach der WM in 7. Deutschland – Italien 13,1 Amerika hatte Vogts den langen Ball ge- Artenschutz für den graubärtigen treten und seinen „endgültigen Arbeits- 8. Eröffnungfeier der WM 12,8 Heribert Faßbender verlangen. Doch stil“ angekündigt: Den Libero Matthäus 9. Karneval in Köln 12,5 was, und das fragen sich nicht nur wollte er entfernen und den Profis gegen- 10. Tagesschau 12,1 Fußballfans, ist so schützenswert an über Härte zeigen (SPIEGEL 29/1994). Onkel Heribert? Doch dann blieb der ehemalige National- , , verteidiger mal wieder auf halbem Wege ZDF-Hitliste 94 Sat 1-Hitliste 94 stehen. zuschauer zuschauer Weil er, wieschon bei der Weltmeister- sendung in millionen sendung in millionen schaft, bei jeder seiner öffentlichen Posi- 1. Deutschland – Bulgarien 20,1 1. München – Nürnberg 11,9 tionsbeschreibungen unterschiedliche Si- gnale aussandte, verlangten Profis wie 2. Deutschland – Südkorea 18,9 2. Der Bergdoktor 10,4 Jürgen Klinsmann oder Matthias Sam- 3. Deutschland – Spanien 18,9 3. Der Bergdoktor 10,2 mer irritiert nach klaren Worten. 4. Brasilien – Italien 18,1 4. Kaiserslautern – München 10,0 Will er nun ein harter Hund werden, 5. Heute 16,5 5. Der Bergdoktor 10,0 weil Fußballer, „das steht fest“, mit Frei- 6. Wetten, daß…? 16,3 6. Karlsruhe – Salzburg 9,9 heiten „nicht umgehen können“? Oder möchte er ein väterlicher Freund bleiben, 7. Wetten, daß…? 15,8 7. Der Bergdoktor 9,6 weil „Fußballer lachen müssen, denn das 8. Wetten, daß…? 13,8 8. Schwarz greift ein 9,4 Leben ist so hart“? 8. Mainz bleibt Mainz 13,6 8. Der Bergdoktor 9,3 Wenn der Bundestrainer so öffentlich 10. Ein Fall für zwei 13,1 10. Der Bergdoktor 9,2 mit sich selbst diskutiert, verrät die Kör- persprache, wie wenig Entschiedenheit er sich zutraut: Die Hände gestikulieren

DER SPIEGEL 37/1994 243 nur unter der Tischplatte und hauen dort gegen einen Bierdeckel. Schon beginnen die Profis, denen Vogts doch gerade erst erklärt hat, er werde künftig nur mitnehmen, „wer sich für die Mannschaft zerreißt“, wieder jede Schwäche zu nutzen. Als der Bundestrai- ner vor dem Abflug nach Moskau in einer Mannschaftssitzung definiert, daß „kein Neubeginn“, sondern „ein Neuanfang“ anstehe, fragt einer leise, aber vernehm- lich „hä?“ – und für Sekunden lacht ein halbes Dutzend Fußballprofis. Und wenn der ehemalige Trainer Udo Lattek, den das Schicksal inzwischen bis auf den Kommentatorplatz eines Mini- senders hinuntergespült hat, in Moskau die Vogtschen Analysen („Wir müssen sehr, sehr zufrieden sein“)parodiert, grö- len Nationalspieler wie Schulkinder, die aus dem Hinterhalt den Lehrer mit dem Tafelschwamm beworfen haben. Auch die alten Machtspielchen, an de- nen sich bei der WM der ganze Frust ent- zündete, gehen weiter. Am wenigsten problematisch dürfte dabei das Hickhack um Matthäus sein. Vogts selbst wollte seinen Libero loswer- den; doch noch fehlen dem Kapitän sie- ben Länderspiele, um als Rekordnatio- nalspieler in die Annalen des Weltfuß- balls einzugehen –die Bestmarke hält der englische Torhüter Peter Shilton mit 125 Berufungen. Weil solche Rekorde in der engen Sichtweise deutscher Fußball- Funktionäre eine große Bedeutung ha- ben, ließ Vogts sich umstimmen – Mat- thäus durfte weitermachen. Daß dabei auch Ehefrau Lolita mit- sprechen durfte, kann die übrigen Profis allenfalls noch zu Heiterkeit veranlassen: Sie haben längst bemerkt, daß dem 33 JahrealtenLibero schlicht die Kraft fehlt, den Posten nach den Vogtschen Vorstel- lungen im Wechsel zwischen Defensive und Offensive auszufüllen. Der Kampf um die Matthäus-Nachfolge hat schon begonnen

Wenn Matthäus entsprechende Vor- haltungen des Trainers („Er muß nach vorne mehr tun“) damit kontert, daß er alt und erfahren genug sei, um zu „wis- sen, was ich wann zu tun habe“, werten die Kollegen es als Zeichen für die be- vorstehende biologische Lösung des Lo- thar-Problems: Hat der Kapitän erst mal den Rekord gebrochen, werde er schon still und leise von Bord gehen. Für die meisten hat die neue Zeitrech- nung bereits begonnen. Ungeniert prei- sen sie den Dortmunder Sammer schon als „den deutschen Fußballer schlecht- hin“. Das ist auch als ein Zeichen an Mittel- feldspieler Andreas Möller zu verste-

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hen, dem dieKollegen bei der anberaum- sportlichen Solidargemeinschaft sein, in ten WM-Aussprache unisono vorgewor- Eishockey der jeder von jedem profitiert. fen hatten, er habe in Amerika „die Ähnliche Konzepte verfolgen im An- Mannschaft hängenlassen“. Möller, der satz auch die Champions League der be- zeit seiner Karriere Leistungen und For- sten europäischen Fußballklubs oder die derungen nicht ins rechte Verhältnis Dollars Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft, brachte, sieht sich selbst als legitimen die von den Autokonzernen in eine Nachfolger des alternden Kapitäns. ideale Werbeveranstaltung umgestaltet Gekonnt wie einst sein Vorbild Mat- oder Tränen wurde. Doch so konsequent wie die thäus setzt er auf den Beistand der Me- DEL, die Auf- und Abstieg abgeschafft dien: Nach drei guten Spielen für Borus- Zum erstenmal organisiert sich hat, präsentiert sich bislang kein Cham- sia Dortmund kokettierte er mit einem eine deutsche Profiliga nach pionat als geschlossene Gesellschaft Rücktritt. (siehe Grafik Seite 246). In der neu- Der Bundestrainer wehrte sich, indem amerikanischem Vorbild. Doch das en Eishockeyliga wird, erstmals in er gegen die Russen zunächst eifrige Experiment hat allerlei Tücken. Deutschland, per Satzung dem Unter- Handwerker wieden Bremer Dieter Eilts haltungswert Vorrang vor dem sportli- oder den Kaiserslauterer Stefan Kuntz chen Wettkampf eingeräumt. nominierte, Möller dagegen auf die Re- olf van Hauten, 50, hat es kommen Vor allem die etablierten Klubs beob- servebank verbannte. Doch der, nach ei- sehen: Seit Wochen quellen immer achten den neuen Trend argwöhnisch. ner Stunde eingewechselt, zeigte sofort, Rneue Rundschreiben und Dienst- Sie hatten der Reform lange getrotzt – daß er weiter zur Konfrontation bereit anweisungen aus dem Faxgerät und doch mit dem Geld gingen ihnen auch ist: „Ich muß von Anfang an spielen.“ künden eigentlich davon, daß im deut- die Argumente aus. Als im vorigen Win- Nicht einmal vor seinem Präsidenten schen Eishockey endlich Professionali- ter Bayreuth und Memmingen wegen darf sich Vogts bei seinem dritten An- tät einkehrt. Doch wenn der Manager Zahlungsunfähigkeit mitten in der Sai- lauf, die Nationalelf fest in den Griff zu bekommen, sicher fühlen. Während der WM schon hatte Egidius Braun, der Ke- geln, Rosen und Rotkehlchen mag und sein Amt so versteht, daß er ständig „Unheil vom Verband abwenden“ will, mit permanenter Geschwätzigkeit seinen Trainer in Not gebracht. Erschrocken über die „vielen Mißver- ständnisse“, die er so produziert, hatte der Präsident „Bescheidenheit“ verspro- chen – um die Entscheidung seines „lei- tenden Angestellten“ Vogts, die WM- Sünder Bodo Illgner und Stefan Effen- berg auf Dauer zu suspendieren, sofort durch das nächste Interview zu konterka- rieren. Als Vogts mit Mühe fest blieb, verordnete sich Braun erneut selbst ein Redeverbot. Doch den Präsidenten, der bei seinen Arbeitsbesuchen in der DFB-Zentrale schon mal die Sekretärinnen anbrüllt und mit Vorliebe Taxiquittungen prüfen läßt, drängt es im Kreis seiner Kicker manisch zum großen Wort. Als in Moskau die Journalisten erst- mals nach der WM wieder ins deutsche Mannschaftsquartier gelassen wurden,

saß Braun schon in der großen Lobby des F. MAYFRIED / SPORTS Hotels Baltschug – und zwar exakt an je- Eishockey-Funktionäre Reindl, Jäkel: „Das Produkt stimmt noch nicht“ nem Tisch, an dem alle Medienvertreter vorbei mußten. Natürlich ließ der Präsi- der Düsseldorfer EG – mit einem Jah- son den Spielbetrieb einstellten, und in dent sich nicht lange bitten – und erklärte resetat von 11,5 Millionen Mark der FC Köln, München und Mannheim ähnli- wortreich, warum er definitiv „nichts Bayern der Liga – den Erlös des Dauer- ches drohte, sah Ulf Jäkel, Präsident des mehr sagen“ wolle. kartenverkaufs nachrechnet, „fehlt mir Deutschen Eishockey-Bundes, die Zeit Aus der Frankfurter Zentrale weht eine runde Million“. Solche Einbußen endlich reif für seine Lieblings-idee: „Die Vogts, der stets behauptet hat, er habe nähren seine Furcht, „daß am Ende al- Profiklubs müssen als gemeinsames Pro- sich schnell und allein zum Weiterma- les nur Papiergeschiebe war“. dukt vermarktet werden.“ chen entschieden, allerdings ein neues Angekündigt ist, wenn in dieser Wo- Jäkels Vision einer nach dem Vor- Gerücht entgegen. Der Bundestrainer, che die Deutsche Eishockey Liga (DEL) bild der nordamerikanischen National heißt es, habe sehr wohl bei Braun ange- in ihre erste Saison startet, ein Konzept, Hockey League (NHL) aufgebauten rufen und seinen Rücktritt angeboten. das eine marode Branche saniert, ja so- DEL hatte immerhin zur Folge, daß die Der Präsident habe überlegt, seine Funk- gar ein Modell, das eine neue Dimensi- Gläubiger der pleitegefährdeten Klubs tionärskollegen befragt und daraufhin on des Kommerzes eröffnet. Die DEL, sich plötzlich wieder in Geduld übten. abgelehnt: Er hatte keinen Besseren ge- so glauben die Verbandsoberen, werde Dabei gleicht die Radikalkur allenfalls funden. Y schon bald das Markenzeichen einer einer Währungsreform, die nur durch das

DER SPIEGEL 37/1994 245 ® Die neue Eiszeit Klubs: 12 der ersten Bundes- Wer professionell Eishok- liga und 6 Zweitligisten key spielen möchte, muß Spieler: rund 360 mit Beginn dieser Saison bei Etat: 123 Millionen Mark der Deutschen Eishockey Liga GmbH (DEL) eine Lizenz (Fran- Werbeeinnahmen: 57 Millionen Mark chise) erwerben. Franchise-Geber DEL-Aufnahmegebühr: 30000 Mark und -Nehmer arbeiten als rechtlich selbständige Unternehmen. Jährliche Lizenzgebühr: 7500 Mark Der DEL, deren Alleingesellschafter DEL-Titelsponsor: 5,5 Millionen Mark der Deutsche Eishockey-Bund ist, obliegt (Krombacher Brauerei) die Organisation und die Vermarktung der Liga. Wer die Mindestanforderungen (Stadion, DEL-Fernseh- 8 Millionen Mark vier Millionen Mark Etat, 15 Profispieler) erfüllt, vermarktung: (Pay-TV Premiere, ARD und ZDF) kann sich ohne sportliche Qualifikation in die DEL einkaufen. Monatlich wird die Geschäftstätigkeit al- ler Franchise-Nehmer von einem Wirtschaftsprüfer kontrolliert. Vom Herbst 1995 an müssen die Klubs ihre Werbepartner nicht mehr einzeln suchen – dann soll die DEL als Gesamtpaket vermarktet werden.

Vertrauen in eine bessere Zukunft ge- steigen die Gehälter. Und Cracks, die deckt ist. Die – noch nicht vorhande- schon in die Zweitklassigkeit ausgemu- nen – Werbepartner sollen das finan- stert waren, kommen zurück. Landshuts zielle Fundament bilden, das bundes- Manager Max Fedra: „Das sportliche weite Geschäft mit den Fan-Artikeln Niveau sinkt.“ („Merchandising“), für das es hierzu- Bisher hätten die Fans „zwei bis drei lande noch keine Erfahrungswerte gibt, schwache Teams hinnehmen müssen“, soll den Wohlstand garantieren. sagt der Düsseldorfer van Hauten, Von der schönen neuen Eishockey- „künftig sind es acht oder neun“. Und welt existiert nicht viel mehr als ein rot- auch für die Nationalmannschaft sieht er blaues Fähnlein-Logo, das mit dem Nachteile: „Die guten Spieler müssen Flair einer nordfriesischen Fährgesell- nicht mehr in jedem Liga-Match an die schaft daherkommt und für dessen Ent- Leistungsgrenze gehen.“ wurf eine Agentur 80 000 Mark kas- Doch nur mit einem Nationalteam sierte. (Jäkel: „Unser Aushängeschild“), das Dennoch mochte niemand den Neu- sich in der Weltklasse etabliert, das wis- beginn versäumen. Vor allem bei den sen auch die Vereinsvertreter, lassen Kollegen der Provinz- und Zweitliga- sich bundesweit Sponsoren finden. Und klubs hat Hans-Ulrich Urban, Präsi- die sind nötig, die zweite Stufe des DEL-Plans umzusetzen: die Gesamtver- marktung aller Klubs. Eine Million Mark Nach Jäkels Vorstellungen sollen ab mehr als der Saison 1995/96 auf den Trikots, Hel- men oder Hosen aller Vereine dieselben bisher für jeden Klub Firmen werben – so wie schon im Vor- jahr der Name der Krombacher-Braue- dent des Krefelder EV, „Dollarzeichen rei in den Bully-Kreisen sämtlicher Bun- in den Pupillen“ entdeckt. desligastadien zu lesen war. Solche Glo- Doch schon bald, prophezeit er, balverträge, glaubt Jäkel, würden jedem „werden salzige Tränen folgen“. Daß Klub eine Million Mark mehr als bisher gleich 18 Klubs in die erste DEL-Saison in die Kasse spülen. starten, hält Urban für einen schweren Diese Prognose hält der Krefelder Fehler: „In der freien Wirtschaft werden Urban für kühn: „Je größer der Ver- unrentable Betriebe stillgelegt, die DEL tragsumfang, desto mehr Nachlaß muß dagegen bläht die Liga auf.“ Während ich doch gewähren.“ Der Landshuter in der höchsten schwedischen Profiklas- Fedra hat wegen der unterschiedlichen se 8 Teams mitspielen und in der Vereinsstrukturen „erhebliche Zweifel, Schweiz eine Reduzierung von 10 auf 8 daß dieses System je funktioniert“. Eine Mannschaften diskutiert wird, ver- individuelle Vermarktung, glaubt auch schärft die Aufstockung von 12 auf 18 Alfred Schäfer, Präsident der Ratinger Klubs tatsächlich die Probleme im deut- Löwen, sei für seinen Klub „sicher pro- schen Eishockey. Schon immer litten die fitabler als eine durch die DEL“. Klubs darunter, daß es mehr Planstellen Die Bedenken orientieren sich an der als begabte Spieler gab. Realität. Viele Klubs werden von loka- Nun wird die Nachfrage weiter er- len Sponsoren unterstützt, für die eine höht. Da der Personalmarkt leer ist, bundesweite Werbung weder sinnvoll

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noch bezahlbar ist. „Unsere Partner“, weiß der Düsseldorfer van Hauten, Schwimmen „haben kein Interesse an der DEL.“ Etliche der Ideen, die Jäkel aus Amerika übernehmen wollte, sind be- reits vor dem ersten Spieltag vom „Glücklich wie nie“ Tisch: So wollte der DEL-Vordenker die Lizenznehmer dazu verpflichten, Dagmar Hase über große Gesten, Tränen und Gerechtigkeit nur 54 Prozent ihres Etats für Spieler- gehälter auszugeben – die Löhne sind weiterhin frei aushandelbar. Auf die Hase qualifizierte sich bei den SPIEGEL: Und die Tränen von Rom? Umwandlung der Profiteams in Kapi- Schwimm-Weltmeisterschaften in Rom Hase: Ich habe trainiert wie noch nie, talgesellschaften haben sich erst die für das Finale über 200 Meter Freistil – bis zu 100 Kilometer in der Woche, habe Hälfte der DEL-Teilnehmer eingelas- und gab ihren Platz an die im Vorlauf zwei Jahre nur auf dieses Ziel hingear- sen. Und selbst der gewünschten Na- gescheiterte Franziska van Almsick beitet: Ich wollte Weltmeisterin werden. mensänderung nach NHL-Art (Mün- weiter, die dann Weltmeisterin wurde. Dann passiert mir das gleiche wie Fran- chen Mad Dogs, Augsburg Panther) Einen Tag später verpaßte Hase, 24, in ziska van Almsick – aber mir bleibt nicht sind längst nicht alle gefolgt. „Die ihrer Spezialdisziplin 400 Meter Frei- die Möglichkeit, das Pech zu korri- DEG ist ein Markenartikel“, verteidigt stil als Neunte der Vorläufe das Finale. gieren. Da platzt mein Traum wie van Hauten den traditionalistischen Die Achte, Jana Henke aus Potsdam, eine Seifenblase, und ich soll nicht Kurs der Düsseldorfer. lehnte einen Verzicht zugunsten der heulen? Dem Widerstand im eigenen Lager Olympiasiegerin ab. SPIEGEL: Vielleicht machen Sie sich das setzt Jäkel, der in Kaufbeuren eine Leben wirklich selbst schwer? Steuerberatungskanzlei betreibt und SPIEGEL: Frau Hase, in der letzten Wo- Hase: Nur weil ich die Tränen nicht zu- dem örtlichen Eishockeyklub vorsteht, che hat die deutschen Fernsehzuschauer rückhalten kann? Quatsch. Mir geht es seine „Gespräche mit namhaften Rech- keine Frage mehr bewegt als diese: sogar so gut wie nie; von dieser WM ab- teverwertern“ entgegen. Denn am lieb- Warum weint Dagmar Hase immer? gesehen, bin ich wirklich glücklich. sten hätte es der Reformer, wenn ihm Hase: Sicher bin ich wirklich nah am SPIEGEL: Was ist nach 14 Jahren Lei- ein Medienmulti („Ich denke da an Wasser gebaut. Aber ich wurde aus ir- stungssport-Schinderei Ihr neuer Traum Kirch, Deyhle oder die Ufa“) die vom Glück? komplette DEL abkaufen würde. Hase: Durch meinen neuen Lebensge- Dann würde es kaum auffallen, fährten habe ich plötzlich einen großen daß die beiden DEL-Geschäfts- Freundeskreis, wir gehen viel aus – all führer, Franz Reindl und Franz das gab es früher nie. Ich mache eben Hofherr, zwar über 200 Länder- jetzt Dinge, die nichts mit Sport zu tun spiele absolviert haben, im Ver- haben. marktungsgeschäft aber eher un- SPIEGEL: Und dabei ist dann auch der geübt sind. Neid auf die Popularität der jüngeren Aber selbst Werbeprofis hätten Kollegin Franziska van Almsick verflo- es schwer. Weil Eishockey in die gen? dritte Reihe der TV-Anstalten Hase: Ich war nie neidisch. Franzi ist verbannt ist, fehlt potentiellen doch ein Teenie, der wegen seiner unbe- Sponsoren das wichtigste Kriteri- kümmerten Ausstrahlung ganz anders um: die Präsenz der Liga im Fern- zu vermarkten ist. Auf mich ist noch sehen. Von den Live-Übertragun- kein Manager zugekommen. Und zum gen des Pay-TV-Senders Premiere Klinkenputzen bei potentiellen Sponso- (rund 800 000 Kunden) abgese- ren bin ich nicht geschaffen. hen, wird es wie gehabt nur kurze SPIEGEL: Sogar im eigenen Team wird Ausschnitte in ARD und ZDF ge- behauptet, Sie würden für Ihren Start- ben – von den 18 Spielen eines verzicht nicht nur mit einer Urlaubsreise Wochenendes mithin nur Häpp- durch den Verband belohnt. Profitieren chen aus drei bis vier Partien. Sie nun von der, wie die Times schrieb, „Das Produkt stimmt noch nicht“, „power of money“ der Werbemillionä-

sagt DEG-Präsident Josef Klüh. BONGARTS rin Franzi? Jäkel setzt auf den Faktor Zeit Schwimmerin Hase Hase: Ich bin nicht käuflich. Wenn man – und daß die Eishockeyliga ein- „Warum soll ich nicht heulen?“ mir Geld geboten hätte, wäre ich selbst mal eine Saison ohne Skandale geschwommen. Es hat kein Geld gege- übersteht. Jeden Monat müssen die gendeinem Grund auch nur in emotio- ben, es wird kein Geld geben. Klubs ihre Kassenbücher einem Wirt- nal aufgeheizten Momenten interviewt. SPIEGEL: Sie müssen aber eine Reduzie- schaftsprüfer vorlegen. Die Transpa- Das war nach meinem Olympiasieg in rung der Sporthilfe befürchten. renz soll die Vereine anhalten, mit ih- Barcelona so . . . Hase: Das kann sein. Ich habe als Olym- rem Geld verantwortlicher umzugehen. SPIEGEL: . . . da galten Sie, weil Sie ei- piasiegerin meine Leistung nicht ge- Wer unsolide handelt, droht Jäkel, ne Freundin vor Dopinganklagen in bracht, da werde ich wohl aus der höch- „kann aus der DEL ausgeschlossen Schutz nahmen, mal als Schmierenko- sten Förderstufe rausfliegen. werden“. mödiantin, mal als Nörglerin. SPIEGEL: Auch das Mitleid mit der tra- Auch den möglichen Verzicht eini- Hase: Vielleicht hat sich manches gischen Figur dieser WM ist schnell vor- ger finanziell überforderter Klubs nach schroff angehört, aber so verbittert und bei. Was bleibt Ihnen dann von den Ta- der Saison sieht der Präsident inzwi- unzufrieden war ich auch nicht. Ich gen in Rom? schen ganz gelassen: „Ein Gesund- selbst sehe mich jedenfalls nicht als ver- Hase: Die tiefe Enttäuschung, daß ich schrumpfen könnte ganz guttun.“ Y härmte Querulantin. mein sportliches Ziel verpaßt habe. Y

DER SPIEGEL 37/1994 247 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

teffen Heitmann, 50, aomi Campbell, 24, britisches Mo- Ssächsischer CDU-Justiz- Ndel und, neuerdings, Autorin, ist minister, profiliert sich im ehrlicher als mancher bücherschrei- Wahlkampf als Galionsfigur bende Politiker. Zwar nennt auch das der Nationalkonservativen. Fotogirl in seinem ersten Roman Im sächsischen Wurzen ließ „Swan“, der beim Londoner Verlag er seine Zuhörer wissen, er Heinemann erscheint, den Namen könne nicht verstehen, war- des wahren Autoren nicht auf dem um die Polizei im Westen Buchdeckel. Aber, und das ist neu, zwar neonazistische Umzüge die Frau, die Campbell beim Abfas- zum Heß-Geburtstag verhin- sen des wilden Krimis zur Hand ging, dert, den Punker-Krawallen die freiberufliche Lektorin bei Heine- von Hannover aber „hilflos mann, Caroline Upcher, teilt sich mit gegenübergestanden“ habe. der Schönen das Copyright: „© Nao- Schließlich sei die hannover- mi Campbell und Caroline Upcher. sche Randale angekündigt Die Autorin und die Schreiberin ver- gewesen, „während die sichern, nach bestem Wissen und Ge- Rechten nur demonstrieren wissen gehandelt zu haben. Mein be- wollten“. Auf die Verharm- sonderer Dank gilt Caroline Up- losung neonazistischer Ge- cher.“ Damit hatte es sich aber auch walttäter als bloße Demon- mit der Ehrlichkeit. Für ihr literari- stranten hingewiesen, legte sches Debüt erhielt Naomi Campbell, Heitmann in der ultrarechten die sonst für Foto- und Vorführtermi- Postille Junge Freiheit nach: ne Tagesgagen bis zu 15 000 Mark Ob die Heß-Demonstranten kassiert, 230 000 Mark Honorar. tatsächlich Rechte seien, Ghostwriter Caroline Upcher muß „mag einmal dahingestellt sich mit einem kleinen Extra begnü- bleiben“. gen. Im Dezember wird Naomi Campbell ihr Debüt als Sängerin ge- eorge W. Bush, 48, Sohn ben. Die Songs auf der CD „Babywo-

Gdes früheren US-Präsi- NATIONAL PICTURES man“ singt das Model, so wird versi- denten George Bush und Campbell chert, natürlich selbst. Mitbewerber um den Gou- verneursposten im US-Staat Texas, ließ das rechte Au- sche Konkurrentin, Gouver- zung bekommen, aber wann, Wind. Auf dem Oktoberfest genmaß vermissen. Traditio- neurin Ann Richards, eben- das bestimmen wir. Und der Bayerischen Landesver- nell gehen texanische Gou- falls vorletzte Woche mit wenn es an einem Sonntag tretung vergangene Woche in dem Schießgewehr unter- ist.“ „Meinetwegen“, ruft der Bonn renommierte der Nord- wegs, hatte nichts zu befürch- kreidebleiche Struck tapfer friese mit 5,5 Millionen Kilo- ten. Sie schoß, absichtlich zurück. „Aber ich lass’ mir wattstunden Strom, die er oder nicht, daneben. von der Regierung nicht vor- jährlich mit zehn Windgene- schreiben, wann das Parla- ratoren zum kWh-Preis von eter Struck, 51, SPD- ment tagen muß.“ Die von 16,9 Pfennig ins Netz einspei- PFraktionsgeschäftsführer, der Regierung vorzeitig be- se. Das Beste aber sei, so bewies Mut vor Kanzlerallü- endete Sitzungsperiode des der pfiffige Bauer hinterm ren. Der Sozialdemokrat hat- Parlaments wird nun fortge- Deich, daß die Strommaschi- te am Mittwoch abend ver- setzt. nen „nicht in der Gewerk- gangener Woche verlangt, im schaft“ sind: „Sie streiken ziemlich leeren Bundestag eter Harry Carstensen, nicht, sie arbeiten sieben Ta- die Beschlußfähigkeit des P47, Bundestagsabgeordne- ge in der Woche, 24 Stunden Parlaments festzustellen. In ter der CDU von Nord- am Tag“ – sofern die Winde kürzester Zeit waren etliche strand, macht viel Kohle mit wehn. Abgeordnete aus einschlägi- gen Bierkneipen und Emp- fängen herbeigerufen, wenn-

AP gleich nicht in ausreichender Bush Zahl, unter ihnen ein empör- ter Bundeskanzler Kohl. verneurskandidaten am er- „Herr Struck, ich war vor 29 sten Tag der neuen Tauben- Jahren schon Geschäftsfüh- jagdsaison zum Anschießen. rer in einer Fraktion,“ giftete Bush knallte statt einer Tau- der Kanzler unter Anfeue- be einen Schreiregenpfeifer rungsrufen seiner Anhänger, ab. Flugverhalten und Gefie- „da gab es Sie noch gar derzeichnung des geschütz- nicht.“ Der Kanzler, nun in ten Vogels sind von der Tau- Zweikampf-Distanz vor dem be völlig verschieden. Der zierlichen Sozialdemokraten

Kandidat erhielt eine Strafe aus Uelzen und in Rage, M. SCHRÖDER / ARGUS von 70 Dollar. Seine politi- brüllt: „Sie werden Ihre Sit- Carstensen

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laus Jäger, 50, FDP-Wirt- Cschaftssenator in Bremen, erhielt rauchenden Beistand Sinn für von den Grünen. Der Libera- le hatte sich über ein in der Gerechtigkeit Hansestadt geplantes Gesetz zum Schutz von Nichtrau- chern beklagt: Dies könne der Tabakindustrie Bremens schweren Schaden zufügen. Fünf Bürgerschaftsabgeord- nete der Grünen, zumeist „tyrannische Nichtraucher“, setzten sich daraufhin zu ei- ner Aktion „Rauchen für Bremen“ zusammen. Das Quintett qualmte eine Stun- de lang und nahm auch kör- perliche Unbill wie Übelkeit und Erbrechen in Kauf. Den- noch will die Fraktion der Grünen ihrem Wirtschaftsse- nator aus der Bremer Ampel-

W. M. WEBER koalition SPD/FDP/Grüne Ziesel, Kohl weiter gefällig sein. Um den

orst Ehmke, 67, SPD-Bundes- H tagsabgeordneter, legt sich zum Abschluß seiner 25jährigen parlamentarischen Karriere noch einmal mit Bundeskanzler Helmut Kohl an. Anlaß für die Attacke des Sozialdemokraten ist Kohls Nähe zu der erzkonservativen Breitbrun- ner „Deutschland-Stiftung“. Ehmke hatte in seinem jüngsten Buch („Mittendrin – Von der Großen Ko-

alition zur Deutschen Einheit“) I. WAGNER CDU-Politikern vorgeworfen, daß Grüne beim „Rauchen für Bremen“ sie mit der von dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Ziesel geleite- stark defizitären städtischen ten Stiftung zusammenarbeiten. Ratskeller zu stützen, plant Laut Gerichtsentscheid, so der Par- der Hilfstrupp die Aktion lamentarier in seinem Buch, dürfte „Saufen für Bremen“. die „Deutschland-Stiftung“ zu den „demokratiefeindlichen Gruppie- olfgang Clement, 54, rungen“ gezählt werden. Gegen WMinister für besondere diese Behauptung hatte Ziesel eine Aufgaben in der nordrhein- einstweilige Verfügung beantragt, westfälischen Staatskanzlei, die vom Münchner Landgericht löste einen Urheberrechts- zurückgewiesen wurde. Ehmke streit in der Düsseldorfer schickte Kohl das nun vorliegende Landesregierung aus. In der Urteil: Das von Ziesel beanstandete Debatte um den Nachtrags- Zitat sei „rechtmäßig erfolgt“ und haushalt reimte der Sozi: dürfe „.... wiederholt werden“. War- „Stellen sich Konkurse ein, um, so will Ehmke wissen, habe ist’s die Wirtschaft ganz al- Kohl dem Stiftungschef Ziesel zu lein. Wenn dann aber Auf- dessen 75. Geburtstag „einen an- schwung lacht, hat’s der Hel- geborenen Sinn für Gerechtigkeit mut Kohl gemacht.“ Den bescheinigt“ und „auch noch den Schmähreim hatte der Mini- Preis der Deutschlandstiftung an- ster aus einer geplanten genommen“? Ziesels „völkisch-an- Wahlkampfrede von Finanz- tisemitische Ergüsse aus der Nazi- minister Heinz Schleußer ge- Zeit“, so Ehmke, seien doch „hin- klaut. Von dem Genossen reichend bekannt“ gewesen. Ziesel zur Rede gestellt, verwies legte jetzt beim Münchner Oberlan- Clement auf ein lyrisches desgericht Berufung ein. Vorbild: „Bei geistigem Ei- gentum bin ich so großzügig wie Bertolt Brecht.“

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Gestorben Nicky Hopkins, 50. Es gibt Pop-Idole wie Mick Jagger, die ohne Scheinwer- Terence Young, 79. Er wußte, daß Kino ferlicht verkümmern würden, und es nicht nur aus Bildern besteht, sondern gibt stille Stars, wie Nicky Hopkins, die vor allem aus dem Schwarz dazwischen, lieber im Hintergrund bleiben, zustän- und in seinen Filmen war ihm das Un- dig dort für den letzten Schliff der Musik sichtbare so wichtig wie die Farben, und die emotionale Balance während Menschen, Landschaften. Er inszenierte nervenaufreibender Tourneen. Der 1967 „Warte, bis es dunkel ist“, in dem Londoner Pianist begleitete Anfang der eine blinde Audrey Hepburn viel mehr sechziger Jahre den exzentrischen wahrnimmt als die Sehenden um sie her- „Screaming Lord“ Sutch und arbeitete um. Er machte Filme über die Dunkel- danach mit den Who, Jeff Beck, den männer von der Mafia und vom Ku- Beatles und der Flower-Power-Band Klux-Klan. Und er prägte den Stil der Jefferson Airplane. Seit Anfang der James-Bond-Filme, die nur auf den er- Siebziger galt er als assoziiertes sechstes Mitglied der Rolling Stones und kom- plettierte deren Sound mustergültig – zum Beispiel auf den Klassiker „Jumping Jack Flash“ oder „Sympathy for the Devil“. Hopkins starb vergange- nen Dienstag an den Folgen einer Herz- krankheit.

Max Kaminsky, 86. Er sah aus wie ein Gentleman vom Typus Cary Grant und spielte ungepanschten Swing. Der ame- rikanische Trompeter gehörte zum Hochadel des Jazz, nach dem man noch tanzte. Nicht schwofte. Zu den gesto- chenen Trompetensoli von Max Kamin- sky in den Bands von Red Nichols, Tommy Dorsey, Artie Shaw, Benny

DPA Carter und Eddie Condon hatte man die Lady zum Tanz zu führen. In seinen ei- sten Blick mit ihren Schauwerten protz- genen Dixie-Gruppen wurde ein relax- ten. Ob „Dr. No“ oder „Liebesgrüße aus ter und eleganter Nostalgie-Jazz ge- Moskau“ – die Tricks waren billig, die pflegt. Und durch seine nie überladenen britischen Actionspezialisten hatten Improvisationen leuchtete das Erbe von nicht soviel Geld. Und der Held sah nach Louis Armstrong. Max Kaminsky starb landläufigen Maßstäben leicht barba- am vergangenen Dienstag in Castle risch aus. Es war Youngs Regie, die Point (US-Staat New York). James Bond ineinen Helden verwandelte und die Schauplätze in Orte des Gla- James Clavell, 69. Der in Australien ge- mours und der Sehnsucht. Terence borene, in England aufgewachsene, spä- Young, der in Schanghai geborene Ire, ter in Hongkong, USA und Frankreich starb vergangenen Mittwoch in Cannes. lebende Schriftsteller verstand sich glän- zend darauf, seine Wolf Donner, 55. Unter den deutschen von westlichen An- Filmpublizisten seiner Generation war er sichten geprägten der mobilste, der neugierigste, stets auf Leser in die Welt des dem Sprung in ein exotisches Filmland Fernen Ostens zu oder eben zurück von einem Festival, un- entführen und diese entwegt auf der Suche nach frischer Be- ganz nebenbei, auch geisterung. Er war TV-Kulturmagazin- noch partiell wenig- macher beim Hessischen Rundfunk, stens, zu enträtseln. Filmkritiker bei der Zeit, Mitglied der Das Interesse Cla-

Kultur-Ressortleitung beim SPIEGEL, R. MELLOUL / SIGMA vells an der asiati- doch nirgends hielt es ihn lange, auch schen Kultur wurde nicht auf dem Posten des Berlinale-Lei- in der Zeit seiner japanischen Kriegsge- ters (1977 bis 1979), wo er dem Festival zu fangenschaft geweckt, die auch „meinen internationalem Prestige verhalf. Don- Charakter geformt“ hat. Mit seinen Intri- ner – in den letzten Jahren hauptsächlich gen-Romanen „Tai-Pan“ (1966), „Sho- für den Berliner Tip und die ARD tätig – gun“ (1975) und „Noble House“ (1981) war kein Kunstschwärmer, sondern ein wurde er zum Bestsellerautor und Millio- Mann der kämpferischen Vernunft, auch när. Auch als Drehbuchschreiber („Die in filmpolitischen Kontroversen, sein Fliege“) hat sich Clavell in Hollywood ei- letztes Buch (1993) hieß programmatisch nen Namen gemacht. James Clavell starb „Gegenkurs“. Wolf Donner starb ver- am Dienstag vergangener Woche im gangenen Dienstag in Berlin. schweizerischen Vevey.

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12. bis 18. September FERNSEHEN

MONTAG Söhnen, die aus Machtgier, DIENSTAG natsgehalt. Kein Wunder, Neid und Größenwahn sich 15.03 – 15.30 Uhr ARD 20.15 – 21.04 Uhr ARD daß sich Filimooni Bamugire selbst und die Welt vernich- nach der Vorlesung über Metro ten, ist mehr als ein histori- Die Gerichtsreporterin Wirtschaftsthemen eilends Der Frankfurter Allgemeinen sches Breitwandgemälde: ei- Die Hauptfigur dieser Serie auf den Weg macht, um in ei- verhalf das von Nena mit ne monumentale Metapher von Peter Zingler, die nem Nebenjob den Unterhalt schönem Mut zur Einfach- auf eine dem Untergang ge- Gerichtsreporterin Claudia für sich und seine Familie zu heit angesagte Jugend-Maga- weihte Welt. Bender (Gerit Kling), wolle, verdienen. Helmut Grosse zin („Briefeschreiben wird ja so urteilte die FAZ,im berichtet von der schwierigen Geist von 1968 mit erhobe- immer seltener“) zu ganz 21. 15 – 22.10 Uhr Sat 1 Lage afrikanischer Intellek- neuer Welterfahrung: „Viel- nem Zeigefinger das wahre tueller. leicht versteht man am mei- Was geschah wirklich? Leben lehren. Das aber ge- he im Zeitalter medialer sten dort, wo es nichts mehr TV-Autor Hendrik Hey un- 22.05 – 0.10 Uhr RTL 2 zu verstehen gibt.“ tersucht in seiner Reportage Glättung an der heutigen den Absturz einer Airbus- Wirklichkeit zielsicher vor- Der Regenbogen bei. Wie schön. 20.40 – 23.15 Uhr Arte Maschine, bei dem 1992 in Ins Reich der Sexualität führt der Nähe von Straßburg 87 die viktorianische Küsters- Ran Menschen ums Leben ka- 20.40 – 0.40 Uhr Arte tochter Ursula (Sammi Da- Der Altmeister des japani- men. Der Bericht präsentiert vis) nicht der stramme Gar- schen Films, Akira Kurosa- auch Interviews mit Techni- Themenabend: depionier, sondern die frei- wa, liebt die Kunst des We- kern der Firma Airbus. Joseph Beuys sinnige Sportlehrerin mit stens. In seiner Jugend, als Der Straßburger Sender tritt chronischem Männerhaß er noch Maler werden woll- 22.15 – 23.50 Uhr ZDF in die Fettnäpfe: Plakat- (Amanda Donohoe). Doch te, waren Ce´zanne, van künstler Klaus Staeck prä- die Verführerin heiratet, Ur- Gogh, Courbet seine Vorbil- Die Rache des Wolfes sula geht enttäuscht nach der; bei Dostojewski und Der Indianer Arthur (Gra- London, wird Lehrerin in ei- Gorki hat er sich später ham Greene, Star aus „Der ner tristen Primary School. Filmstoffe geholt, sein Lieb- mit dem Wolf tanzt“) taucht Sie trifft den Gardepionier lingsregisseur ist John Ford. wie ein Racheengel aus dem noch einmal, aber sexuell „Ran“ – das altertümliche Nichts auf. Er kidnappt ei- klappt es wieder nicht. Ken japanische Wort bedeutet nen pazifistischen Anwalt Russells zaghafte Annähe- Aufruhr, Umsturz, Tumult, (Ron Lea) sowie den Boß rung (England 1989) an den aber auch Wahnsinn, Chaos einer Papierfabrik, der mit- Schriftsteller D. H. Law- – ist ein zusammenfassendes, verantwortlich ist für die rence erinnerte den Tip an ei- krönendes Schlußstück all Abholzung der Wälder in ne Mischung aus Courths- jener Filme aus der Zeit der Nordkanada. Als er wieder Mahler und David Hamilton: Samuraikämpfe und Feudal- in den Weiten der Wildnis „Unbedingt zu empfehlen für kriege, in denen Kurosawa verschwindet, bleibt der An- Waldorf-Schulen, Frauen-

von der verfluchten, ewig walt geläutert zurück. Der SVEN SIMON gruppen mit libidinöser Kor- fortwirkenden Geschichte Fabrikant dagegen verharrt Beuys rektivtherapie, Kegelklubs, der Gewalt erzählt hat. in seinem Starrsinn. Richard heterosexuelle Ivory-Fans, Der Film (Japan/Frankreich Bugajski, der Regisseur die- sentiert unter anderem einen frustrierte Meteorologen, 1985) ist zu einem guten ses Öko-Westerns (Kanada Bericht über die erste umfas- Friedenauer FKK-Anhänger Teil durch Shakespeares 1991), liebt als Horrorspe- sende Beuys-Retrospektive mit Kellerwohnung und Bun- „König Lear“ inspiriert. Ku- zialist drastisch-gewalttätige in Paris. Außerdem gibt es deswehr- bzw. NVA-Ange- rosawas Drama von einem Schockmomente mit viel eine Dokumentation, die un- hörige mit chronischer Früh- Herrscher und seinen drei Blut. ter dem Titel „Jeder Mensch ejakulation.“ ist ein Künstler“ den Filzhut- mann bei der Arbeit als Ma- ler, Plastiker und Aktions- MITTWOCH künstler zeigt. Es folgt 20.15 – 21.10 Uhr ARD „Beuys als Politiker“ und Er- innerungen an seine Heimat Abgeschminkt („Kleve – eine Innere Mon- Im SPIEGEL erklärte die golei“). Dann ist Mitternacht Regisseurin dieses 1992 ge- lange vorbei, und der Wü- drehten deutschen Filmes, stensand aus Kleve treibt den Katja von Garnier, den Er- verdienten Schlaf ins müde folg der Komödie: „Tempo, Auge. Tempo, Tempo“. Kollegen wollten sie überzeugen, eine 21.15 – 21.45 Uhr West III halbe Stunde dazuzudrehen, um den Film auf Kinolänge Reporter zu bringen. Aber sie weigerte Einst war es eine Auszeich- sich. So ergänzte in den Ki- nung, an der Makerere Uni- nos Rainer Kaufmanns Kurz- versität in Uganda zu lehren. film „Der schönste Busen der Heute erfordert es Idealis- Welt“ die Vorstellung, eine

DEGETO / ARTE mus. Der bestbezahlte Pro- witzig-groteske Geschichte Szene aus dem Kurosawa-Film „Ran“ fessor erhält 300 Dollar Mo- von einem Bierbrauer, der so

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lange die Brüste einer Frau 21.15 – 23.55 Uhr Sat 1 reichte. Es geht hier nicht KIOSK begafft, bis sie auf ihn über- Schreinemakers live nur um Pool-Teenies aus der gehen. Der Busen-Film folgt Upperclass, sondern auch um 21.10 Uhr. Da ist sie wieder, die Sorgen- um Arbeiterkids. Im Serien- tante zwischen Krokodilsträ- aufgebot: Rapper-Girl Jodie Nationale ne und echtem Mitgefühl. 20.15 – 23.15 Uhr RTL (Abi Tucker), der grie- Geste Wenn bloß ihre Stimme nicht chischstämmige Mädchen- Der König der Wörter Fußball: Champions wäre. schwarm Nick und eine pro- geht ins Fernsehge- League blembeladene Südamerika- schäft: Mit 25,6 Prozent Schappi oder Champagner: 21.15 – 22.00 Uhr 3Sat nerin. Paris St. Germain gegen Bay- ern München. Aus Paris. Will Quadflieg zum 80. Geburtstag 23.25 – 1.00 Uhr ARD In den Wind geschrieben 21.25 -22.30 Uhr ARD Grau ist alle Theorie und grün die Kunst dieses großen Die verblasene Millionärsfa- Liebe und Tod in Sarajevo alten Mimen. Viktoria von milien-Saga von Douglas Die Dokumentation des Flemming gratuliert. Sirk (USA 1956, mit Lauren kanadischen Autorenteams John Zaritsky und Virginia Storring erzählt die Ge- schichte der Liebe zwischen einer Moslemin und einem

M. MEYBORG / SIGNUM Serben, die im Mai 1993 von Langenscheidt Heckenschützen ermordet wurden. beteiligt sich Andreas Langenscheidt, 42, an 22.15 – 23.00 Uhr ZDF dem für Ende 1994 an- gekündigten Münchner Der Sportspiegel Vollprogramm Kabel Interview mit Juan Antonio Plus. Der Einsteiger Samaranch, dem spanischen lenkt mit Firmen wie IOC-Präsidenten und Herrn Brockhaus und Polyglott der Ringe, der den Olympia- einen stattlichen Me- Ringelpiez wie ein absoluti- dienkonzern. Seit einiger stischer Fürst beherrscht. Zeit bereits liebäugelt er

mit elektronischen Ange- TELEBUNK boten und kaufte Ende DONNERSTAG „In den Wind geschrieben“-Darsteller Hudson, Bacall 1993 etwa die Sprach- 20.10 – 22.00 Uhr Vox computer-Firma Hexa- 23.15 – 0.45 Uhr ZDF Bacall, Dorothy Malone und glot. Nun will Langen- Das Attentat Rock Hudson) stellt selbst Rückkehr scheidt Bildungs- und Erpreßt vom französischen den Nachfahren „Dallas“ in zum Planet der Affen Ratgeberprogramme bei Geheimdienst, lädt der Jour- den Schatten. Kein Sturm Kabel Plus einbringen. nalist Darien (Jean-Louis Affentheater zweiter Teil, kann so viel Kitsch ausradie- Sein Verlegerfreund Hu- Trintignant) einen arabi- die Fortsetzung des wegen ren, wie hier in den Wind bert Burda, 54, mit 49,9 schen Oppositionspolitiker des hübschen Make-ups mit geschrieben wurde. Prozent Hauptgesell- nach Paris ein, damit er dort dem Oscar ausgezeichneten entführt wird. Der Thriller schafter, arbeitet an TV- Films „Planet der Affen“. 1.15 – 3.05 Uhr ZDF Spielarten seiner bunten von Yves Boisset (Frank- USA 1969, Regie: Ted Post. Zeitschriften (Focus, reich/Italien/Deutschland Asphalt Dschungel Glücks Revue, Mein 1972) verschleiert die wirk- Regisseur John Huston, der schöner Garten). Die Ver- lichen Vorgänge, die ihm FREITAG mit dem „Malteser Falken“ leger sind auf Filme der als Vorlage dienten. Vor 17.55 – 19.00 Uhr ZDF die Schwarze Serie Holly- Familie Leo Kirch (Sen- allem wird die Schuld von woods gestartet hatte, wollte deranteil: 24,5 Prozent) französischen Stellen auf Heartbreak High ein Meisterwerk des „Film angewiesen. Zudem ha- den Lieblingsbuhmann der Die schönen Zeiten, da RTL noir“ nach William R. Bur- ben sie kaum Aussicht, Franzosen, die CIA, abge- mit Dauerlutschern wie netts lakonischem Roman daß die Landesmedien- lenkt. „Gute Zeiten, schlechte Zei- inszenieren. Doch der anstalten Platz in den ten“ den Markt ungestört Asphalt ist zäh und klebrig Kabelnetzen schaffen. 20.15 – 20.59 Uhr ARD abgrasen konnte, gehen zu in diesem Thriller (USA Mit nationaler Geste for- Ende. ZDF-Unterhaltungs- 1950), vor lauter Symbolen dern die Gesellschafter Panorama chef Fred Kogel läßt jetzt 52 hatte Huston die Story aus deshalb, sie müßten, als Die Übertragung der Lotto- Folgen des australischen den Augen verloren, und „ausschließlich deutsche zahlen läuft am Samstag. Teenagerspektakels auf das den Zuschauern blieb vor Anbieter“, eine „faire Diese Information über- Publikum los und hofft, daß allem eine üppige, blonde Chance im Wettbewerb nimmt für mögliche Glossen es ähnlich boomt wie in sei- Nebendarstellerin im Ge- mit vielen ausländischen und die Humorlosigkeit der nem Ursprungsland, wo es dächtnis, die bald berühmt Anbietern“ erhalten. Lottogesellschaften keine binnen Wochen 70 Prozent werden sollte: Marilyn Mon- Gewähr. der 13- bis 17jährigen er- roe.

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SAMSTAG DIENSTAG 18.00 – 19.00 Uhr Pro 7 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 Crossroads SPIEGEL TV Der angesehene Rechtsan- REPORTAGE walt John Hawkins (Robert Das Comeback des Alex- Urich) war lange Jahre ein ander Ruzkoi – wie der Rabenvater. Eines Tages zaudernde Held der russi- entschließt er sich, seinen schen Opposition den Sohn Dillon (Dalton James) Kreml erobern will. auf eine Motorradtour durch Amerika mitzunehmen. Die US-Serie (1992/93) ist ein MITTWOCH Trip durch die Probleme der 21.55 – 22.40 Uhr Vox Zeit: Rassismus, Drogen- SPIEGEL TV THEMA sucht, Alkohol und Umwelt- zerstörung. Besonders das „Schamlosigkeit oder letzte Thema verlangt gera- Schwachsinn?“ Über die dezu nach Erkundung durch Grenzen des guten Ge- ein so naturfreundliches Ge- schmacks.

fährt wie das Motorrad. NEF 2 Szene aus „Wiedersehen in Howards End“ DONNERSTAG 18.10 – 19.04 Uhr ARD 22.00 – 22.30 Uhr Vox SONNTAG an und verzichtet ganz be- SPIEGEL TV EXTRA Air Albatros 20.15 – 22.35 Uhr Premiere wußt auf ein Pseudonym. Mit „Abenteuer Airport“, Der Erfolg läßt nicht auf Das Kapital im Kopf und dem Fliegerspiel vom Düs- Wiedersehen sich warten: Die Beziehung die Millionen im Koffer – seldorfer Flughafen – Hans- in Howards End zu einem ihrer Kunden, Werner Girke, einstiger jörg Felmy mimte einen wet- Die Geschichte zweier engli- dem einflußreichen Politiker SED-Vermögensverwalter tergegerbten Luftikus –, lan- scher Familien um die Jahr- Lord Bulbeck (Michael im Westen und heutiger dete die ARD, zumindest hundertwende und eines Caine), geht bald über das Vertrauter von Schiri- künstlerisch, eine Bruchlan- Hauses, das deren Schick- rein Geschäftliche hinaus. nowski, packt erstmalig dung. Nun geht der Süd- sal miteinander verbindet. Bob Swaims Verfilmung aus. westfunk mit dieser neuen James Ivory inszenierte das (England/USA 1986) des 26teiligen Serie in die Luft. Sittengemälde aus dem vik- Romans „Dr. Slaughter“ FREITAG Ein Kapitän einer Freibur- torianischen England mit von Paul Theroux ist kein 22.00 – 22.30 Uhr Vox ger Minifluglinie kämpft ums Anthony Hopkins, Emma Huren-Rührstück a` la „Pret- Überleben. Regie: Eberhard Thompson, Vanessa Red- ty Woman“, sondern ein in- SPIEGEL TV Itzenplitz. grave und Helena Bonham telligent konstruierter Thril- INTERVIEW Carter in den Hauptrollen, ler: Die selbstbewußte Wis- Barbara Cartland, die nach einer Vorlage von E. senschaftlerin erfährt, daß skurrile Schriftstellerin 20.15 – 22.00 Uhr ZDF M. Forster. Obwohl Forsters sie nur Teil einer raffiniert und Stief-Großmutter von Wetten, daß . . .? milde Erzähler-Ironie etwas ausgeklügelten Intrige ist, Prinzessin Diana, plaudert Thomas Gottschalk nach zu selten durchscheint, rettet bei der die Gegenseite noch über die derzeitige Situa- viermonatiger Pause wieder Ivory – was für eine Litera- ihre intimsten Regungen kal- tion am britischen Hof. auf Sendung, diesmal in turverfilmung ja allerhand ist kuliert. Köln. Mit dabei unter ande- – nahezu verlustfrei die weh- SAMSTAG mütige Botschaft der Erzäh- ren Kati Witt, Mariah 20.15 – 21.55 Uhr RTL 22.05 – 23.40 Uhr Vox Carey, Willy Millowitsch. lung: Wie leicht könnten alle einander verstehen lernen, Flieg mit Air-T-L SPIEGEL TV SPECIAL kämen nur richtige Bezie- Ende der Besatzungszeit. 20.15 – 22.15 Uhr ARD Das erste Reisequiz über hungen zustande, wäre nur den Wolken, in einem Air- Die Deutschen und ihre Der Spion, der mich liebte nicht jeder isoliert durch ei- bus mit Studiocharakter: Besieger. Roger Moore fährt in die- gene Vorurteile. Im Motto Frank Elstner hebt mit sechs seines Buches hat Forster sem 007-Film (England Kandidaten und Prominen- SONNTAG das mit zwei Wörtern ge- 1977, Regie: Lewis Gilbert) ten ab. Bedarf für das „nicht 21.50 – 22.30 Uhr RTL seinen dritten Filmeinsatz als sagt: „Only connect“ – Ver- ganz billige“ (RTL) dreiteili- James Bond. Die Polit-Sto- bindung ist alles. ge Konzept – Reisemagazin, SPIEGEL TV MAGAZIN ry: Ein Wahnsinniger (Curd Unterhaltung und Quiz in Saufen, bis der Arzt Jürgens) klaut in schöner 20.15 – 22.00 Uhr Pro 7 einem – sieht Thomas kommt – eine Nacht auf Ausgewogenheit der Sowjet- Pfundtner, Projektleiter für dem Münchner Oktober- union und den USA je ein Half Moon Street Elstner, „bei allen Alters- fest / Von Feind oder Atom-U-Boot samt Rake- Weil ihre wissenschaftlichen gruppen“. RTL will schon Freund erschossen – die ten. Die Love-Story: Der Arbeiten schlecht bezahlt beim Start ordentlich abhe- Legende um den Tod ei- angeknitterte Brite wird mit und unter fremden Namen ben: Die Anstalt rechnet für nes DDR-Grenzers / Baby einer großäugigen, schmach- publiziert werden, nimmt die die erste Sendung mit „einer gegen Bargeld – die min- tenden Russin (Barbara Politologin Lauren Slaughter ganz normalen Sonntagsquo- derjährigen Kinderhändler Bach) zusammengespannt, (Sigourney Weaver) einen te von sechs Millionen Zu- von Budapest. bis beide sich lieben. Nebenjob als Luxus-Callgirl schauern“.

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Überschrift aus der Ludwigsburger Zitate Kreiszeitung: „Sportler leben nicht län- ger als andere – Jedoch: Sie sterben aber Bonns Oberbürgermeister gesünder.“ in einem Brief an Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter zu dessen Gespräch mit Y dem SPIEGEL über seine Berlin-Visionen (Nr. 35/1994): Aus den Aachener Nachrichten: „Eine Entscheidung zur Ersatzbeschaffung ei- Mit großer Aufmerksamkeit habe ich Ih- nes Fahrzeuges für die Abschiebung ab- rem Interview entnommen, Deutschland gelehnter Asylbewerber, sowie Gefan- brauche jetzt die „Atmosphäre einer Me- genentransporte durch das Amt für Ab- tropole“, die Ihrer Ansicht nach „eine fallwirtschaft, Stadtreinigung und Fuhr- ganz andere Diskussionskultur“ ermög- parkwesen wurde zurückgestellt. Hier licht „als eine beschauliche Kleinstadt sollen zunächst mit dem Kreis Aachen wie Bonn, die ja deutlich neobiedermei- mögliche Kooperationen geklärt wer- erliche Züge trägt“. Gleichzeitig erklä- den.“ ren Sie das „unwiderrufliche“ Ende der „Bonner Republik“, weil angeblich Y Deutschlands Wohl die „Berliner Repu- blik“ verlangt. Darf ich mit einigen Zita- ten antworten? „Bonn hat schon deshalb eine wichtige Bedeutung, weil diese Stadt überall in der Welt einen so guten Klang hat. Bonn ist Schnittpunkt freundschaft- licher Kontakte nach Ost und nach West, nach Nord und nach Süd. Es atmet den Geist der Gastfreundschaft und den Aus der Bild am Sonntag Geist weltweiter Verbindungen.“ „Und von solcher Visitenkarte hat natürlich je- Y der Staatsbürger Nutzen.“ „Wir in die- sem Lande haben uns gemeinsam be- Aus dem SPIEGEL: „Gerüchte vom müht, dieses Werk der Versöhnung zu- Ableben des Reformers laufen freilich stande zu bringen. Bonn als Stadt hat da- jeden Sommer um, seit der dreimal kalt- zu eine entscheidend wichtige Rolle ge- gestellte Machiavellist vor 16 Jahren die spielt.“ „Es ist auf diese Weise zum Ab- Macht zum viertenmal an sich riß. Meist bild einer geschichtlichen Entwicklung sind sie falsch.“ geworden, die, ich wiederhole es noch einmal, aus deutscher Sicht und für Y deutsche Verhältnisse zu viel stolzer Aus der Bild-Zeitung: „Biograph Man- Zufriedenheit Anlaß gibt.“ (Quelle: sos Fazit: Brando ist ein Genie. Er zog Rede des Vorstandsvorsitzenden der immer Frauen an, die ihn verließen. Er Daimler-Benz AG Edzard Reuter am wollte immer ein Kind sein, das er nie 10. Februar 1989 im Alten Rathaus in war.“ Bonn.)

Y Die Zeit zum selben Thema:

Die durch ein SPIEGEL-Interview Ed- zard Reuters aufgekommenen Spekula- tionen über ein Interesse des Daimler- Chefs am Amt des Regierenden Bürger- meisters von Berlin haben im Stuttgarter Automobilkonzern für erhebliche Irrita- tionen gesorgt. Nicht zuletzt bei Reuter Aus dem Cuxhavener Veranstaltungs- selbst. Der 66jährige, der nach der kalender Hauptversammlung 1995 in Pension geht, will seine Bereitschaft, danach ein Y politisches Amt zu übernehmen, nicht Aus einer Werbung für Kroatienreisen primär auf die Hauptstadt beschränkt se- des Lohfeldener Reisebüros Fredrich in hen. SPD-Mitglied Reuter kann in Bonn den Niestetaler Nachrichten: „Dann kam zur Zeit weder eine überzeugende Au- die Grenze nach Kroatien. 3 Kugel- ßen- noch Wirtschaftspolitik erkennen. schreiber reichten aus, damit keinerlei Ein Wechsel in die Politik sei allerdings Kontrolle im Bus stattfand. Der Luxus- nur in einem Führungsnotstand vorstell- bus wurde durchgewunken. Nach 2 bar, in dem ein vom Bonner Parteienha- Stunden Fahrt war man enttäuscht, daß der unbelasteter Fachmann gefragt sein man immer noch keine Kriegsschäden könnte. Damit aber liegt die Latte so sah oder wenigstens einen Panzer. Aber hoch, daß allen Reuter-Spekulanten ei- nichts dergleichen.“ gentlich die Basis fehlt.

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