Universität GH Essen Fachbereich 1: Geschichte Seminar: Sozialgeschichte des modernen Sports Dr. Siegfried Gehrmann WiSe 1999/00

Der Sport als Mittel nationaler Rehabilitation:

Die Fußballweltmeisterschaft 1954

Eva Wilden XXX XXX XXX XXX XXX

LA Sek. I+II (Englisch/Geschichte) 7. Fachsemester Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 2

Inhalt

Einleitung ...... 3

I. „Das Wunder von Bern“ – Die Geschichte der Fußballweltmeisterschaft 1954 ... 4 I.1 Der Fußball in Deutschland nach 1945 und die Wiedergründung des Deutschen Fußballbundes 1949/50 ...... 4 I.2 Die Qualifikation und die Endrunde der Fußballweltmeisterschaft 1954 ...... 6

II. Die Nachkriegszeit und die frühe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945 bis 1955) ...... 8 II.1 Die Nachkriegszeit ...... 8 II.2 Die frühe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ...... 10 II.3 Das Freizeitverhalten der Bundesdeutschen in den fünfziger Jahren (unter besonderer Berücksichtigung des Sports) ...... 12 II.4 Massenmedien Radio und Fernsehen in den fünfziger Jahren ...... 13

III. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 als Mittel nationaler Rehabilitation...... 15

Resümee ...... 22

Literaturverzeichnis ...... 23

Anhang ...... 24

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 3

Einleitung

„Der Ausgang dieses WM-Endspiels stellt bis heute eine der größten Sensationen der Fußballgeschichte dar. Die ‚Helden von Bern‘ wurden in Deutschland zu einer Legende.“1 Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Fußballweltmeisterschaft von 1954, die in Bern/Schweiz ausgetragen wurde. Überraschenderweise konnte die deutsche Mannschaft bei diesem Turnier den Titel des Weltmeisters erringen. Dies war insofern erstaunlich, als zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg wieder eine deutsche Mannschaft zu einer Weltmeisterschaft (im Folgenden abgekürzt ‚WM‘) im Fußball zugelassen war. Demzufolge war das deutsche Fußballnationalteam als Außenseiter angereist und sorgte mit dem Titelgewinn für eine Überraschung. Gemeinhin wird dem WM-Sieg von 1954 eine die Grenzen des Sports überschreitende Wirkung zu gesprochen. Unmittelbar nach dem Endspiel schrieb Die Welt über den Sieg im Endspiel am 4. Juli 1954: „Der Endkampf um die Weltmeisterschaft im Fußball, die gestern in Bern ausgetragen wurde, brachte einen Sieg des Sports. Er sprengte den Raum seiner bisherigen Interessen und wurde zu einer Sache, die alle anging. Selten ist ein sportliches Ereignis mit so allgemeiner Spannung verfolgt worden.“2 Auch heute wird im Allgemeinen noch davon ausgegangen, daß der Gewinn der Fußball-WM eine besondere Wirkung auf die gesamte bundesdeutsche Bevölkerung hatte: „Mit diesem Tor schießt , Rückennummer 12, den Deutschen einen Teil ihrer Lasten von der Seele.“ (Guido Knopp über das entscheidende Tor zum 3:2)3 „... das 3:2 barg eine politisch-psychologische Dimension wie kein anderer Fußballsieg. Aus dem Abgrund dumpfer Schuld und tiefer Scham war eine zarte Blüte von Stolz und erwachendem Selbstbewußtsein erwachsen.“ (Ludger Schulz)4 „Der Titelgewinn von Bern 1954 hatte weit über den sportlichen Wert hinaus Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl einer ganzen Nation, neun Jahre nach dem Kriegsende.“ (Karl-Heinz Heimann)5 Diese Äußerungen verdeutlichen, daß der WM-Sieg von 1954 in der populären Überlieferung zum Politikum wurde. Einerseits wird davon ausgegangen, daß dieser überaus erfolgreiche Auftritt einer deutschen Mannschaft bei dem sportlichen Großereignis einer Fußball-WM Deutschlands internationales Ansehen wiederherstellte. Andererseits soll der sportliche Triumph der deutschen Mannschaft über die Vertreter anderer Länder der bundesdeutschen Bevölkerung ihr Selbstbewußtsein zurückgegeben haben, das infolge der Kriegsniederlage, der Besetzung und der Teilung Deutschlands stark gelitten hatte. Somit soll der Titelgewinn maßgeblich zur Entwicklung des ‚Wir- sind-wieder-wer‘-Gefühls und zur Konsolidierung der Bundesrepublik beigetragen haben. Im Folgenden soll die Frage erörtert werden, ob und inwiefern der WM-Sieg

1 Frei (1994), S. 13 2 zit. nach Gloede (1982), S. 263 3 zit. nach Dokumentationsfilm „Das Wunder von Bern“ der Sendereihe „Unser Jahr100. Deutsche Schicksalstage“ von Ulrich Lenze, Konzept und Leitung Guido Knopp, im Auftrag des ZDF, 1998 4 in: DFB (1999), S. 157ff 5 in: Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999, S.85

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1954 die genannten Auswirkungen hatte und der Sport tatsächlich als Mittel nationaler Rehabilitation diente. Bei der historischen Erfassung der Bedeutung des Erfolgs für den allgemeinen historischen Kontext stellt sich das Problem, daß es sich um Mentalitäten und Emotionen handelt, die nicht systematisch erfaßbar sind. Demzufolge bleiben die Ergebnisse dieser Arbeit notwendigerweise spekulativ. Im ersten Teil der Arbeit werden die Geschichte des deutschen Fußballs nach 1945 und die Ereignisse der Fußball-WM 1954 dargestellt. Der zweite Teil der Darstellung befaßt sich mit der politischen und sozialen Geschichte der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg. Besondere Berücksichtigung finden das Freizeitverhalten der Bundesdeutschen und die Entwicklung der Massenmedien. Im dritten Teil wird der Versuch unternommen, Verbindungen zwischen der sportlichen Entwicklung des Fußballs und der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der BRD nach 1945 herzustellen. Es soll erörtert werden, ob und inwiefern die sportlichen und politisch- gesellschaftlichen Ereignisse sich gegenseitig beeinflußten oder gar korrelierten.

I. „Das Wunder von Bern“ – Die Geschichte der Fußballweltmeisterschaft 1954

I.1 Der Fußball in Deutschland nach 1945 und die Wiedergründung des Deutschen Fußballbundes 1949/50 So unzutreffend der Begriff der ‚Stunde Null‘ für die Geschichte Deutschlands nach dem Kriegsende 1945 ist, so unpassend ist er auch für die Geschichte des Fußballsports in Deutschland. Bis in die Kriegsjahre gab es einen Ligaspielbetrieb und noch 1944 wurde ein Endspiel um die Deutsche Meisterschaft ausgetragen, das der Dresdener SC gewann. Zwei Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht am 7. Mai 1945 trugen der 1. FC Bayern und 1860 München noch ein Lokalderby aus und schon im Juni 1945 fanden wieder erste Fußballspiele statt.6 Dies mag verdeutlichen, daß das Fußballgeschehen in Deutschland durch den Krieg und die Besatzung nicht zum Erliegen kam. Es fanden sich immer wieder Gelegenheiten, um Fußballspiele zu organisieren und auszutragen, wenn auch kein regelmäßiger Ligaspielbetrieb möglich war. Obwohl die Besatzer zunächst die alten Vereine verboten, so spielten doch weiterhin die Mannschaften ehemaliger Vereine gegeneinander. In der amerikanischen Zone wurde gar im Spätherbst 1945 wieder ein regelmäßiger Oberligaspielbetrieb aufgenommen. Nach nur zwei Treffen am 22. September und am 13. Oktober 1945 konnte mit einer vom Stadtkommandanten Stuttgarts ausgestellten Lizenz eine die gesamte US-Zone umfassende Oberliga Süd mit 16 Vereinen gegründet werden. Schon am 4. November 1945 wurde der erste komplette Spieltag durchgeführt. In den anderen Zonen dauerte es weitaus länger bis landes- oder zonenweite Ligen gegründet werden konnten. Zwar wurden auf lokaler oder regionaler Ebene schon früher wieder Meisterschaften ausgespielt, aber die Oberligen Nord und West kamen erst in der Saison 1947/48 zustande. Aber auch Freundschaftsspiele erregten großes Zuschauerinteresse. Erfolgreiche Mannschaften, wie z.B. die des 1. FC Schalke 04, ließen sich für solche Spiele verpflichten. Bezahlt wurden sie mit Naturalien, die in der damaligen schlechten Ernährungslage überaus wertvoll waren. Schon 1947 gab es erste Überlegungen, wieder eine Deutsche Meisterschaft auszuspielen, die aber ohne

6 Vgl. Schulze (1986), S.59ff

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Ergebnis blieben. Im folgenden Jahr waren die Bemühungen erfolgreicher. In einer Endrunde aus acht Mannschaften (je zwei aus der amerikanischen, britischen und französischen, eine aus der sowjetischen Zone und eine Mannschaft aus Berlin) sollte im Pokalsystem die Deutsche Meisterschaft ausgespielt werden. Jedoch durfte der Meister der sowjetischen Zone, die SG Planitz, nicht zum Spiel gegen den Meister der amerikanischen Zone, den 1. FC Nürnberg, in Stuttgart ausreisen, so daß die Meisterschaft nur unter Beteiligung der Mannschaften aus den drei anderen Zonen ausgespielt wurde. Das erste Endspiel nach dem 2. Weltkrieg gewann der 1. FC Nürnberg vor 75.000 Zuschauern im Müngersdorfer Stadion in Köln mit 2:1 gegen den 1. FC .7 Mittlerweile hatten sich zwar wieder Landes- und Regionalverbände gegründet, jedoch gab es noch keinen Dachverband, der die verschiedenen Verbände unter sich versammelte. Nach 1933 war der DFB gleichgeschaltet worden und zunächst in ‚Fachsäule Fußball‘, später dann zum ‚Reichsfachamt Fußball‘ umbenannt worden.8 Erste Bemühungen zur Wiedergründung des DFB gab es im Frühjahr 1947, die aber scheiterten, da die französische Militärregierung die Beteiligung untersagte. Daraufhin gründete sich der ‚Bizonale Fußballausschuß‘, aus dem am 10. April 1948 der ‚Deutsche Fußballausschuß‘ (DFA) unter der Leitung von Peco Bauwens, einem ehemaligen Mitglied des Exekutivkomitees der Fédération Internationale de Football Association (FIFA), hervorging. Im folgenden Jahr führte der DFA in Stuttgart einen Bundestag durch, auf dem die Wiedergründung des DFB beschlossen wurde, die offiziell am 21. Januar 1950 erfolgte. Erster Präsident des DFB war wiederum Peco Bauwens.9 Auf internationaler Ebene wurde Deutschland jedoch im Sport ebenso isoliert wie in der Politik. Auf seiner ersten Sitzung nach Kriegsende (10.-12. November 1945) beschloß das Exekutivkomitee FIFA, daß Sportbeziehungen zu Deutschland (und Japan) nicht aufrechterhalten werden könnten und verbot dies seinen Mitgliedsstaaten.10 In der folgenden Zeit spielte der Schweizer Fußballverband eine wichtige Rolle, indem er wiederholt versuchte, in der FIFA eine Aufhebung des Spielverbots gegen deutsche Mannschaften und eine Wiederanerkennung des deutschen Verbandes zu erreichen. 1948 stellte man beim FIFA-Kongreß in London, den Antrag, den Spielverkehr mit deutschen Mannschaften wieder zuzulassen. Als dies abgelehnt wurde, organisierte die Schweizer Verbandsführung zusammen mit dem Sportoffizier der US-Militärregierung Axel Nielsen drei Freundschaftsspiele, die zwischen schweizerischen und deutschen Stadtauswahlen am 10. Oktober 1948 auf deutschem Boden gespielt wurden. Aufgrund dessen verlangte die FIFA vom schweizerischen Verband, die Beteiligten zu bestrafen. Zwar kamen die Schweizer dieser Forderung nach, aber im folgenden Jahr hob die FIFA das generelle Spielverbot gegen deutsche Mannschaften auf (7. Mai 1949). Daraufhin stellte wiederum der Schweizerische Fußballverband beim FIFA-Kongreß während der Weltmeisterschaft 1950 in Rio de Janeiro den Antrag, den DFB wieder in die FIFA aufzunehmen. Nach einer Vertagung der Entscheidung beim Kongreß, beschloß das Exekutivkomitee der FIFA am 22. September 1950 die Wiederaufnahme des DFB.11 Damit kam die internationale Wiederanerkennung und Gleichberechtigung

7 Vgl. Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999, S. 74ff 8 Vgl. DFB (1999), S. 35 9 Vgl. ebd., S. 39ff und Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999, S. 76 10 Vgl. DFB (1999), S. 39 11 Vgl. ebd., S. 39ff und Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999, S. 77ff

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 6 des DFB der politischen Anerkennung der Bundesrepublik auf internationaler Ebene um Jahre zuvor. Ebenso wie auf politischer Ebene so war auch der Fußball im Saarland in einer besonderen Situation. Im März 1945 wurde das Saargebiet von amerikanischen Truppen besetzt und im Juli in die französische Besatzungszone eingegliedert. Das Gebiet wurde von Deutschland abgetrennt, verwaltete sich eigenständig unter französischem Protektorat und wurde wirtschaftlich an Frankreich angeschlossen. Zwar spielten in den Jahren 1946 bis 1948 saarländische Fußballmannschaften in der Oberliga Südwest, aber in den Spielzeiten 1947/48 und 1948/49 spielte der 1.FC Saarbrücken ‚außer Konkurrenz‘ in der 2. französischen Division. Auch der Saarländische Fußballbund (SFB) führte ein unabhängiges Leben und ordnete sich weder dem deutschen noch dem französischen Dachverband unter (am 17. Juli 1949 lehnte die Versammlung des SFB den Beitritt zum Französischen Fußballverband ab). 1950 beschloß der SFB, die Aufnahme in die FIFA zu beantragen. Am 22. Juni des gleichen Jahres wurde der SFB, noch vor dem DFB, als eigenständiges Mitglied in der FIFA aufgenommen. Verbandstrainer des saarländischen Verbandes wurde der spätere Nationaltrainer des DFB Helmut Schön. Dennoch kehrte der 1. FC Saarbrücken in der Saison 1951/52 in die Oberliga Südwest zurück. Unter diesen Umständen war es besonders heikel, daß die deutsche Fußballnationalmannschaft in der Qualifikation zur WM 1954 ausgerechnet gegen das Saarland antreten mußte. Die Eigenständigkeit des SFB fand 1956 ein Ende, als der SFB am 8. Juli beschloß, die Wiederaufnahme in den DFB zu beantragen. Diesem Antrag wurde auf Seiten des DFB am 28. Juli stattgegeben. 12 So kam die Wiedereingliederung des SFB in den DFB dem deutsch-französischen Saarvertrag zuvor (27. Oktober 1956), infolgedessen das Saarland ab dem 1. Januar 1957 politisch und ab dem 1. Januar 1959 auch wirtschaftlich der Bundesrepublik wieder angegliedert wurde.

I.2 Die Qualifikation und die Endrunde der Fußballweltmeisterschaft 1954 Für die WM1954 waren die Schweiz als Gastgeber und Uruguay als Titelverteidiger direkt qualifiziert. Weitere vierzehn Plätze wurden unter 36 Mannschaften in 13 Gruppen ausgespielt. In der Gruppe 1 spielte Deutschland gegen Norwegen und das Saarland um den Gruppensieg. Aus den vier Spielen ging Deutschland mit drei Siegen und einem Unentschieden als Gruppenerster hervor (siehe Anhang) und war damit für die Teilnahme an der Endrunde der WM 1954 qualifiziert. Die Endrunde wurde nach einem umstrittenen Spielmodus ausgetragen. Dieser Modus sah vor, daß die vermeintlich acht stärksten Mannschaften, in geheimer Abstimmung bestimmt, gesetzt wurden13. Jeweils zwei der gesetzten Mannschaften kamen in eine Vorrundengruppe zusammen mit zwei ungesetzten und vermeintlich schwächeren Mannschaften. Der Modus sah vor, daß die beiden gesetzten Teams in den Vorrundenspielen ihrer jeweiligen Gruppe nicht gegeneinander spielten. Ebenso sollten auch die beiden ungesetzten Mannschaften jeder Gruppe nicht gegeneinander antreten. Dieser Modus war eingeführt worden, um die Chancen der vermeintlich stärkeren Teams zu verbessern, indem man gewährleistete, daß sie frühestens im Viertelfinale gegeneinander antraten und sich so in der Vorrunde nicht gegenseitig Punkte abnehmen konnten.

12 Vgl. DFB (1999), S. 88ff, Schulze (1986), S. 66 und Wange, S. 205 13 Die acht gesetzten Mannschaften waren Brasilien, England, Frankreich, Italien, Österreich, Türkei, Ungarn und Uruguay.

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Die deutsche Mannschaft war nicht unter den gesetzten Teams und spielte daher in der Gruppe 2 gegen die beiden gesetzten Mannschaften der Türkei und Ungarns. Die vierte Mannschaft in der Gruppe 2 war Südkorea, das ebenfalls ungesetzt war. Als Favoriten auf den Titel wurden Brasilien, Uruguay, Österreich, England und vor allem Ungarn gesehen. Ungarn war in dreißig Spielen unbesiegt und hatte überraschenderweise Englands Heimnimbus zerstört, als es die englische Mannschaft mit 6:3 im Londoner Wembley Stadium besiegte. Die deutsche Mannschaft galt bei ihrer ersten WM- Teilnahme nach dem 2. Weltkrieg als Außenseiter und ihr wurde von der deutschen Öffentlichkeit und der internationalen Presse kaum Aufmerksamkeit geschenkt. In einer Schweizer Zeitung, die sich mit den Titelchancen der teilnehmenden Teams auseinandersetzte, wurden nur fünfzehn Mannschaften aufgezählt und die deutsche Mannschaft einfach vergessen.14 In den beiden Gruppenspielen gewann Deutschland 4:1 gegen die Türkei und verlor 3:8 gegen Ungarn. Nach der hohen Niederlage gab es von deutschen Zuschauern und der deutschen Presse harsche Kritik am Nationaltrainer , da dieser fünf seiner Stammspieler auf der Ersatzbank hatte sitzen lassen. Nach den vier Gruppenspielen waren die deutsche und die türkische Mannschaft punktgleich, so daß es zu einem Entscheidungsspiel kam, das Deutschland 7:2 gewann. Aus der Gruppe 2 waren damit Ungarn und Deutschland für das Viertelfinale qualifiziert.15 Im Viertelfinale traf die deutsche Mannschaft auf Jugoslawien und gewann 2:0. Nach dem frühen 1:0 mußte die deutsche Mannschaft bis zum Schluß um den Sieg zittern, bevor Rahn in der 87. Minute das entscheidende 2:0 schoß. Im Halbfinale gegen Österreich machte das deutsche Team ein herausragendes Spiel und gewann 6:1, wobei es zur Halbzeit nur 1:0 gestanden hatte. Der Stürmer lieferte eine überragende Leistung und war an allen sechs Toren beteiligt. Auch das Zuschauerinteresse hatte stark zugenommen. Von den 58.000 Zuschauern im Baseler Stadion kam etwa die Hälfte aus Deutschland. Zum Finale mußte die deutsche Nationalmannschaft im Berner Wankdorfstadion vor 64.000 Zuschauern wiederum gegen Ungarn antreten. Nachdem die Ungarn früh mit 2:0 in Führung gegangen waren, konnte das deutsche Team noch bis zur Pause zum 2:2 ausgleichen. Nach einer Vorlage von Rahn schoß Morlock das 1:2 und Rahn erzielte das 2:2 nach einer Ecke von Fritz Walter. In der zweiten Halbzeit fiel lange keine Tor bis Rahn fünf Minuten vor Spielende das überraschende und entscheidende 3:2 für die Deutschen erzielte. Damit hatte die deutsche Nationalmannschaft zum Erstaunen vieler als Außenseiter den Titel des Fußballweltmeisters 1954 errungen. In Deutschland war die Freude über den Sieg unglaublich groß. Die deutschen Zuschauer im Stadion waren außer Rand und Band und der mitreißende Radiokommentar des ungläubigen Herbert Zimmermann ist berühmt geworden. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland erhielten die deutschen Spieler einen jubelnden Empfang.16 Die Geschichte des WM-Sieges 1954 ist unzählige Male erzählt worden, und die Anekdoten und Sagen, die sich um dieses Ereignis ranken, sind zahlreich.17 Bei der Siegerehrung nach dem Spiel kam es zu einer heiklen Situation, als die deutschen Zuschauer im Stadion die erste Strophe des Deutschlandlieds anstimmten. Der von Hoffmann von Fallersleben gedichtete Text (entstanden im Zuge der 1848er

14 Vgl. Schulze (1986), S. 67 15 Alle Ergebnisse der Gruppe 2, sowie die Ergebnisse aller Finalspiele sind im Anhang nachzulesen. 16 Vgl. hierzu Frei (1994) 17 Vgl. beispielsweise Jürgen Busche (1994), Deutscher Fußballbund (Hrsg.) (1999), Alfred Georg Frei (1994), Walter Gloede und Hans-Joachim Nesslinger (1982), Ludger Schulze(1986), Wange, Willy B. (1988), Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999

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Revolution) mit der Melodie von Joseph Haydn war 1922 zur deutschen Nationalhymne erklärt worden. In der Zeit zwischen 1933 und 1945 wurde es jedoch nur in Verbindung mit dem als ‚Horst-Wessel-Lied‘ bekannten nationalsozialistischen Kampflied gesungen. Seit 1952 ist die dritte Strophe des Deutschlandliedes offizielle Hymne der BRD, und das Singen der anderen Strophen ist verboten. Demnach sangen die deutschen Fußballanhänger 1954 die durch ihre nationalsozialistische Vergangenheit unpassend gewordene erste Strophe des Liedes. Diese Begebenheit wurde besonders im Ausland, aber auch in Deutschland gemeinhin mit Skepsis und Erschütterung wahrgenommen. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der als Kind die Ereignisse um die WM 1954 miterlebte, hat sich dazu wie folgt geäußert: „Ich weiß gar nicht, was die hätten singen sollen, die kannten die dritte doch gar nicht, die kannten doch den Text nicht, was sollten sie denn singen?“18 Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß erst seit zwei Jahren die dritte Strophe offizielle Hymne war, und daß in der Zeit davor jahrzehntelang ausschließlich die erste Strophe gesungen worden war, mag diese Annahme richtig erscheinen. Da der Text der dritten Strophe weithin unbekannt war, und es in den Jahren der Nachkriegszeit auch kaum Gelegenheiten gegeben hatte, bei denen öffentlich die neue deutsche Hymne gesungen wurde, war es den Deutschen im Berner Stadion im Überschwang ihrer Freude vermutlich gar nicht bewußt, welchen Text sie gerade sangen und welche Assoziationen damit verbunden waren.

II. Die Nachkriegszeit und die frühe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945 bis 1955)

II.1 Die Nachkriegszeit Mit der Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 hatte Deutschland den Krieg verloren und war besetzt durch die vier Alliierten (USA, Sowjetunion, England und Frankreich). Wenn das Kriegsende in Deutschland aus der Retrospektive auch oft als ‚Befreiung vom nationalsozialistischen Regime‘ bezeichnet wird, so muß es doch gekoppelt gesehen werden mit der darauf folgenden Besetzung und Bevormundung durch fremde Mächte. Für die „Noch-einmal-Davongekommenen“19, die Überlebenden des Krieges, die Menschen, die im besiegten und besetzten Deutschland lebten, bestimmte der „jeweilige politische oder soziale Standort“20, ob das Kriegsende primär als ‚Besetzung‘ oder als ‚Befreiung‘ empfunden wurde. Für eine Minderheit der Bevölkerung, für die Gegner, Opfer und Verfolgten des NS-Regimes, war das Ende des Krieges eine Befreiung von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, und sicherlich empfanden sie ein Gefühl der Erleichterung. Für die meisten Angehörigen der deutschen Gesellschaft jedoch war die Niederlage der NS-Diktatur zu unmittelbar mit der Niederlage und der Zerstörung des eigenen Landes verknüpft. Sie erlebten das Kriegsende als die „Ablösung einer Diktatur durch eine andere, die von der Kollektivschuld aller Deutschen ausging.“21 Demzufolge sahen viele Deutsche im Kriegsende eine schmachvolle Niederlage und empfanden vermutlich eher ein Gefühl der Enttäuschung und Demütigung. Die Gefühlslage der Bevölkerung im besetzten Deutschland (einschließlich der Millionen ehemaliger ausländischer Kriegsgefangener,

18 in: Dokumentationsfilm „Das Wunder von Bern“ der Sendereihe „Unser Jahr100. Deutsche Schicksalstage“ von Ulrich Lenze, Konzept und Leitung Guido Knopp, im Auftrag des ZDF, 1998 19 Glaser (1986) Aus den Trümmern..., S. 15 20 Kleßmann (1991), S. 37 21 Morsey (1995), S. 10ff

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Zwangsarbeiter und KZ-Insassen) war demzufolge ambivalent, und die Situation kann nur unter Berücksichtigung dieser Ambivalenz treffend gekennzeichnet werden. So bezeichnete Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik, 1949 bei der Verabschiedung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat den 8. Mai 1945 als die „tragischste und fragwürdigste Paradoxie“ unserer Geschichte, „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“22. Auch der deutsche Schriftsteller Thomas Mann erkannte die Ursachen der Gefühlslage der deutschen Bevölkerung, als er in einer Radioansprache 1945 an den Überlebenswillen der Deutschen appellierte und feststellte: „wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt“23. Mit dem Kriegsende stand „Deutschland ... zur alleinigen Disposition und Verantwortung der Besatzungsmächte“24. Die einzelnen Besatzungszonen wurden von den jeweiligen Militärgouverneuren der Alliierten geleitet. Besonders in den ersten Jahren nach Kriegsende gab es eine strikte Zonentrennung und Grenzübertretungen waren mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. Zum einen hatte dies wirtschaftliche Folgen, da die bisherige Infrastruktur nicht aufrecht erhalten werden konnte. Zum anderen vergegenwärtigte die Zonentrennung und die damit verbundenen Behinderungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit den Menschen alltäglich die Zerstückelung ihres Landes und die Präsenz der Besatzer. Alle Lebens- und Funktionsbereiche wurden zwangsweise bewirtschaftet bzw. kontingentiert, und der Einfluß der Besatzer reichte bis ins geistige und kulturelle Leben hinein.25 Aufgrund der Zonentrennung scheiterte noch 1947 der erste Versuch, wieder eine Deutsche Meisterschaft im Fußball auszutragen26, und der erste Deutsche Meister nach dem 2. Weltkrieg wurde erst 1948 mit dem 1. FC Nürnberg gekürt. Auch die Entnazifizierungsmaßnahmen in den ersten Jahren nach Kriegsende trugen zur Verunsicherung der deutschen Bevölkerung bei. So wenig sie auch die Einstellung der Menschen zum Nationalsozialismus beeinflußten, so führten sie der Bevölkerung doch den eigenen Irrtum und die eigene ‚Schuld‘ vor Augen. Wenn Kleßmann dies auch nicht überbewertet sehen möchte, so erkennt er doch einen Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der Entnazifizierung und den Erscheinungen der Entpolitisierung in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. In den Maßnahmen der Alliierten erfuhren die Menschen politisches Engagement als Risiko und, statt sich aktiv umzuorientieren, zogen sie sich in den Beruf und ins Privatleben zurück27 (s.u. zum ‚Freizeitverhalten‘). Wenn sich auch Aussagen über die Bewußtseinslage der Bevölkerung in der frühen Nachkriegszeit dem systematischen Zugriff entziehen, so hält Kleßmann folgende Aussagen doch für charakteristisch: Zum einen gab es eine deutliche Mißstimmung über die Politik und das Vorgehen der Alliierten. Zum anderen herrschte eine tiefe „Unsicherheit über das künftige politische Schicksal gepaart mit ... einer völlig diffusen politischen Meinungsbildung“28. Die mit der unmittelbaren Nachkriegszeit „assoziativ am engsten verbundenen Vorstellungen“29 waren die Zerstörung, der Hunger und der Schwarzmarkt. Diese drei Dinge beschäftigten besonders in den Städten die Menschen tagein, tagaus und prägten

22 zit. nach Morsey (1995), S.11 23 zit. nach Glaser (1986) Aus den Trümmern..., S. 15 24 Morsey (1995), S. 11 25 Vgl. ebd., S. 11ff 26 Vgl. Deutscher Fußballbund (1999) (im Folgenden abgekürzt mit DFB), S. 39 27 Vgl. Kleßmann (1991), S. 91ff 28 Ebd., S. 54 29 Ebd., S. 46

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 10 den gesamten Lebensalltag der Nachkriegszeit. Auf dem Land war die Lage etwas besser, da es weniger Zerstörung gab und vor allem die Ernährungssituation wesentlich besser war. In den Städten bestimmte die katastrophale Wohnungslage die soziale Gesamtlage.30 Etwa ein Viertel aller Wohnungen waren zerstört oder so stark beschädigt, daß sie unbewohnbar waren. Verschärft wurde das Wohnungsproblem noch durch ein stetiges Bevölkerungswachstum infolge der Zuwanderung aus dem Osten und der Rückkehr ehemaliger Soldaten aus der Gefangenschaft, die noch bis in die fünfziger Jahre anhielt. Noch 1950 gab es ein Defizit von 4.720 Millionen Wohnungen.31 Allein die räumliche Enge und der Zwang, mit Fremden unter einem Dach zu wohnen, barg ein großes Konfliktpotential. Hinzu kam die schlechte Ernährungslage, die die Alliierten durch eine Bezugsscheinwirtschaft zu organisieren und zu verbessern suchten. Eine durchschnittliche Essensration in der Britischen Zone Mitte 1946 wurde mit etwa 1050 Kalorien berechnet, was praktisch etwa zwei Scheiben Brot mit etwas Margarine, einem Löffel Milchsuppe und zwei kleinen Kartoffeln entsprach.32 Die Hilfsaktionen privater Wohlfahrtsverbände europäischer oder nordamerikanischer Länder (wie z.B. der CARE-Oragnisation) retteten viele vor dem Verhungern. Dennoch wurde der Schwarzmarkt zu einem bestimmenden Faktor im täglichen Leben, und auch das ‚Hamstern‘ wurde zu einer verbreiteten, wenn auch gefährlichen Aktivität. Somit führte auch die schlechte Ernährungssituation, neben der katastrophalen Wohnungslage und der politischen Orientierungslosigkeit, zu einem Zerbrechen des hergebrachten und akzeptierten Normen- und Wertesystems. In einer Zeit der „tiefen Verunsicherung“33 im Sozialen, Politischen und in der allgemeinen Lebenseinstellung bot nur noch der engste Lebenskreis Orientierung34. Auch dies mag dazu beigetragen haben, daß in den fünfziger Jahren das Phänomen des Rückzugs ins Private, der Konzentration auf die Familie und das Heim, auftrat.

II.2 Die frühe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1949 gründete sich die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem der Parlamentarische Rat am 8. Mai das Grundgesetz verabschiedete, fanden am 14. August die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag statt. Im September konstituierten sich Bundesrat und Bundestag in Bonn. Die Bundesversammlung wählte am 12. September Theodor Heuss, den Vorsitzenden der FDP, zum ersten Bundespräsidenten, und der Bundestag wählte am 15. September Konrad Adenauer, Vorsitzender der CDU in der Britischen Zone, zum ersten Bundeskanzler. Die erste Regierung der Bundesrepublik trat am 20. September mit ihrer Regierungserklärung an. Am folgenden Tag, dem 21. September, trat das Besatzungsstatut in Kraft. Das Statut schränkte die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der neuen Bundesregierung ein, indem es den westlichen Alliierten, vertreten durch die Hohen Kommissare, die die Militärgouverneure abgelöst hatten, verschiedene Vorbehaltsrechte sicherte. So überlagerte das Besatzungsstatut das Grundgesetz. Die Westmächte garantierten durch ihre Streitkräfte sowie durch ihre Verfügung über die Souveränität und Außenpolitik der BRD deren Sicherheit, übten aber auch eine dementsprechende Kontrolle aus.

30 Vgl. ebd., S. 52ff 31 Vgl. ebd., S. 52 32 Vgl. ebd., S. 47ff 33 Birke (1989), S. 30 34 Vgl. ebd., S. 30

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Infolgedessen wurde die BRD außenpolitisch von den drei Westmächten vertreten und war faktisch international entmündigt. Bis 1951 besaß die BRD kein Außenministerium und keine Auslandsvertretungen. Erst ab März 1951 durften diplomatische Beziehungen ins Ausland aufgenommen werden. Bis dahin hatte Bundeskanzler Adenauer sich internationales Gehör verschafft, indem er eine gezielte Interviewpolitik mit ausländischen Journalisten führte. Um so wichtiger wurden in dieser Zeit jedoch Beziehungen zu anderen Ländern auf nicht-politischer, wie z.B. auf sportlicher Ebene. So gab es beispielsweise im Internationalen Olympischen Komitee immer noch zwei Deutsche, die weiterhin auf gleichberechtigter Basis arbeiten konnten: Dr. Karl Ritter von Halt war von 1929 bis 1964 und Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg von 1926 bis 1956 IOC-Mitglied. Ebenso wichtig waren die ersten Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft nachdem sie 1950 wieder zum internationalen Spielbetrieb zugelassen war (nicht jedoch zur Weltmeisterschaft 1950)35 oder die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen 1952 in Helsinki. Bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten konnte sich die BRD im internationalen Rahmen präsentieren und internationale Kontakte pflegen und knüpfen, was ihr auf politischer Ebene noch versagt war. Mit dem Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 gab es eine erste Revision des Besatzungsstatuts, nach der die Demontagen verringert wurden, die BRD sich internationalen Organisationen anschließen durfte und erste konsularische Beziehungen aufgenommen werden konnten. Allerdings mußte die BRD infolge des Abkommens auch der Internationalen Ruhrbehörde beitreten und damit die bisher abgelehnte Kontrolle des Ruhrgebiets hinnehmen. Schon an diesem Vorgang wird die von den Alliierten eingeschlagene Taktik deutlich: Einerseits machte man Konzessionen und gewährte der Bundesrepublik schrittweise immer mehr Freiheiten, andererseits band man sie in internationalen Bündnissen und Gemeinschaften an sich, um sie gleichzeitig zu kontrollieren. Auch im Folgenden hieß die Parole der Alliierten (insbesondere Frankreichs) ‚Kontrolle durch Partnerschaft‘. Sie schlug sich z.B. im Vertrag über die ‚Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl‘ (‚Montanunion‘ vom 18. April 1951) nieder, in dem unter supranationaler Lenkung der wirtschaftliche Wiederaufbau und die politische Einigung Westeuropas unter gleichzeitiger Kontrolle der BRD und der Ruhrindustrie durch Integration angestrebt wurden, oder im Pleven-Plan, nach dem „deutsche Truppen auf der Basis kleinstmöglicher Einheiten in eine supranationale westeuropäische Militärorganisation eingegliedert werden sollten, um sie damit gleichzeitig zu kontrollieren“36. In der Strategie der Alliierten zeigte sich das immer noch vorhandene Mißtrauen und die Vorsicht gegenüber einem wieder erstarkenden Deutschland. In dieser Hinsicht war es für die Reputation und Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik äußerst wichtig, daß man sich 1952 auf das Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen mit Israel und 1953 auf das Londoner Schuldenabkommen einließ. Danach verpflichtete sich die BRD einerseits zu sogenannten Wiedergutmachungszahlungen an Israel, an Jüdische Organisationen und andere Verfolgte nicht-jüdischen Glaubens. Außerdem verpflichtete die Bundesrepublik sich zur Übernahme der Vor- und Nachkriegsschulden und bekannte sich somit zum Rechtsnachfolger des 3. Reichs. Die Konsolidierung der BRD wurde begünstigt durch die internationalen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges und durch die Einbeziehung der

35 Vgl. hierzu den Abschnitt ‚Der Fußball in Deutschland nach 1945 und die Wiedergründung des Deutschen Fußballbundes 1949/50‘ 36 Morsey (1995), S. 31

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Bundesrepublik in das Europäische Wiederaufbauprogramm. Dies war gewissermaßen die ‚Vorbereitung‘ zur späteren Integration der BRD in ein westliches Verteidigungsbündnis.37 Auch vergrößerte sich in diesem Kontext allmählich der „außenpolitische Handlungsspielraum durch den Abbau der Besatzungsherrschaft“38, so daß bis 1955 schrittweise die Gleichberechtigung erreicht wurde. Mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 wurde das Besatzungsstatut abgelöst und die Besatzungsherrschaft beendet. Die Hohe Kommission wurde aufgelöst und die Hohen Kommissare zu diplomatischen Vertretern ihrer Länder. Somit war die Bundesrepublik ein souveräner Staat, wenn auch gewisse Vorbehaltsrechte der Westmächte beibehalten wurden. Folglich wurden die ehemaligen Besatzer zu Schutzmächten, bestätigten ihre Sicherheitsgarantie und den Alleinvertretungsanspruch für die BRD und stationierten weiterhin ihre Streitkräfte im Land. Dennoch wurde die Bundesrepublik ein gleichberechtigter und mitbestimmender Faktor der internationalen Politik. Am 7. Mai 1955 trat die BRD der Westeuropäischen Union und am 9. Mai 1955 der NATO bei.

II.3 Das Freizeitverhalten der Bundesdeutschen in den fünfziger Jahren (unter besonderer Berücksichtigung des Sports) Generell gab es im Freizeitverhalten der Bundesdeutschen in den fünfziger Jahren eine Tendenz zur Ruhe und Entspannung und zum Rückzug in die Familie und ins Private. Nach der Arbeit gingen die wenigsten Menschen außerhäuslichen Aktivitäten nach. Bei einer ersten Repräsentativbefragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie im Oktober 195039 zu den ‚Interessengebieten’ der bundesdeutschen Bevölkerung waren die drei häufigst genannten Interessen ‚Sport‘ (20%), ‚Hauswirtschaft/Handarbeit‘ und ‚Musik/Singen/Konzerte‘(beide 18%). Der Sport war bei dieser und folgenden Befragungen eine männliche Domäne. Leider geht aus der Befragung nicht hervor, ob die Befragten, die Sport als Interessengebiet angaben, selbst als Aktive, als Zuschauer bei Wettkämpfen oder als Zuhörer am Radio sich sportlich ‚betätigten‘. Spätere Befragungen des Allensbacher Instituts zu der Frage, was die Bundesdeutschen am liebsten mit ihrer freien Zeit oder ihrem Geld tun würden, bestätigten die Tendenz zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben in die Familie und den engsten Freundeskreis. Als mögliche Ursachen für diese Entwicklung nennt Axel Schildt die zurückliegenden Kriegserfahrungen, besonders als Gefangene, oder auch den Arbeitsalltag, der durch hohe Lärm- oder schwere körperliche Belastungen gekennzeichnet war. Auch ließen „die wirtschaftlichen Erfolge ... Arbeit geradezu als alleiniges Lebensprinzip erscheinen“40, so daß viele eine ausgleichende Freizeitbeschäftigung neben der Arbeit gar nicht für erstrebenswert hielten. Während der gesamten fünfziger Jahre antworteten mehr als 80% der Befragten auf die Frage ‚Glauben Sie, es wäre am schönsten zu leben, ohne arbeiten zu müssen?‘ mit ‚Nein‘.41 Eine Erhebung in Marl aus dem Jahre 195542 kam ebenfalls zu dem Ergebnis, daß weniger als ein Fünftel der Befragten nach der Arbeit noch Aktivitäten außerhalb des Hauses oder des Gartens nachgingen. Bei den männlichen Befragten dominierte wiederum der Sport, während bei den weiblichen Befragten die Hand- und Hausarbeit vorherrschte. Bemerkenswert ist, daß diejenigen Männer, die Sport als Aktivität angaben, sich eher passiv, also als Zuschauer, denn aktiv am Sport beteiligten. Etwa ein

37 Vgl. ebd., S. 25 38 Ebd., S. 25 39 Vgl. Schildt (1995), S. 110 40 Glaser (1986) Aus den Trümmern..., S. 33 41 Ebd. 42 Vgl. Schildt (1995), S. 114ff

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Drittel der sportinteressierten Männer gab an, ein- oder mehrmals im Monat als Zuschauer auf den Sportplatz zu gehen. Eine bundesweite Schätzung aus dem Jahre 195343 über die aktive und passive Teilnahme am Fußballsport bestätigt das Ergebnis der Marler Erhebung. Die Schätzung kam zu dem Ergebnis, daß es nur 600.000 bis 800.000 aktive Spieler, jedoch etwa fünf Millionen Zuschauer an jedem Wochenende gab. Hinzu kamen noch etwa zwölf Millionen Fußballtotowetter, die an jedem Wochenende eine Mark verwetteten. Auch wenn von dieser Schätzung über den Fußballsport nicht auf andere Sportarten zu schließen ist, so gab es doch generell eine Tendenz, sich eher passiv als aktiv am Sport zu beteiligen. Eine bundesweite Repräsentativbefragung des DIVO-Instituts ergab noch im Januar 1960, daß ein Großteil der Befragten Interesse am Sport bekundete (52% der Befragten), wobei nur 25% angaben, selbst einer Sportart nachzugehen. Im Fußballsport war die Tendenz zur passiven Beteiligung auch noch 1960 besonders ausgeprägt: bei den Sportarten, für die Interesse bestand, rangierte der Fußball mit 51% auf dem ersten Platz, während nur 16% derjenigen, die Sport ausübten, Fußball spielten. Die Tatsache, daß beim Sport der Schwerpunkt „mehr auf passivem Konsum denn aktiven Tun lag“44, wurde von zeitgenössischen Kulturkritikern und Sportlehrern mit Ablehnung wahrgenommen. Mit dem Vorbild des Homo ludens sollte Spiel vor allem freies Handeln darstellen und zu sehr reglementiertes Spiel sei kein Spiel mehr. Auch Carl Diem, Rektor und Begründer der 1947 gegründeten Deutschen Sporthochschule Köln, propagierte das altgriechische Ideal der körperlichen und geistigen Vollkommenheit und befürchtete, daß sich das eigentliche Wesen des Sports verkehre. Sport müsse zweckfrei und um seiner selbst willen betrieben werden. Stattdessen diene der Sport zum Gelderwerb, und der Jugend würde ein schlechtes Vorbild gegeben.45 Diese Auffassung stand natürlich im Widerspruch zur allmählich beginnenden Professionalisierung des Sports.46 Zudem demonstrierten die fünf Millionen Zuschauer, die sich an jedem Wochenende ein Fußballspiel ansahen, eine andere Auffassung.

II.4 Massenmedien Radio und Fernsehen in den fünfziger Jahren In den fünfziger Jahren war das Medium Radio in Westdeutschland stark verbreitet, Axel Schildt spricht gar von den fünfziger Jahren als dem „westdeutschen Radiojahrzehnt“47. In einer Umfrage des Allensbacher Instituts aus dem Jahre 1948 wurde die Frage ‚Würde ihnen ohne das Radio viel fehlen?‘ von 56% der Befragten unmittelbar bejaht und weitere 26% schlossen sich weniger spontan, aber dennoch zustimmend an.48 Dementsprechend verfolgte ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung das WM-Endspiel 1954 in Bern auch im Radio und lauschte der berühmt gewordenen Radioreportage von Herbert Zimmermann. Die Bilder des Spiels sahen die meisten erst wenige Tage später in der Kinowochenschau. Es ist wichtig festzuhalten, daß erst im nachhinein die Bilder mit der Rundfunkreportage Zimmermanns kombiniert wurden. Diese Collage, die bis heute vom Fernsehen genutzt wird, wie z.B. auch in der

43 Vgl. ebd., S. 139 44 Glaser (1986) Kulturgeschichte Bd.2, S. 150 45 Vgl. ebd., S. 150ff 46 Vgl. Großhans (1997), S. 21ff: Großhans argumentiert, daß besonders das Fernsehen zur Entwicklung des Profisports, wie wir ihn heute kennen, beitrug. Nur durch die Vebreitungsform des Mediums Fernsehen, die ja erst in den fünfziger Jahren einsetzte (s.u. zu ‚Massenmedien‘), „konnte er der Profisport zum öffentlichen Ereignis und damit zum Geschäft werden.“ 47 Schildt (1995), S. 206 48 Vgl. ebd., S. 206

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 14 hier zitierten Dokumentation von Guido Knopp49, hat es zeitgenössisch nicht gegeben. Die Kombination der Reportage Zimmermanns mit den Filmbildern und deren ständige Wiederholung trug „künstlich geschaffen, wesentlich zur Erzeugung des Mythos ‚Das Wunder von Bern‘ bei“50 Das Medium Fernsehen kam in Deutschland zu Beginn der fünfziger Jahre wieder auf. Wie schon in den dreißiger Jahren startete man zunächst Versuchsprogramme. Offiziell begann der regelmäßige Sendebetrieb des Fernsehens in Deutschland am 25.12.195251. Sport war von Anfang an fester Bestandteil des Programms. So gab es bereits einen Tag nach der offiziellen Aufnahme des Sendebetriebs eine Fußball-Live-Übertragung. Im Versuchsprogramm des NWDR hatte es auch schon im August 1952 eine erste Live- Übertragung eines Fußballspiels gegeben.52 Obwohl den Mitarbeitern der Sportabteilungen des Fernsehbetriebes der „Ruch des Trivialen“53 anhaftete, wurde schon ab Februar 1953, nur zwei Monate nach Start des Fernsehens in der Bundesrepublik, regelmäßig jeden Sonntag ein Oberligaspiel übertragen.54 Eine wichtige Rolle in der Werbung für das neue Medium spielten sportliche oder andere Großereignisse. So wurden z.B. die Olympischen Sommerspiele in Helsinki 1952, die englischen Krönungsfeierlichkeiten für Elisabeth II. im gleichen Jahr oder ein erstes Fußballänderspiel zwischen Deutschland und Norwegen 1953 übertragen. Diese Ereignisse wurden jeweils von etwa zehntausend Deutschen verfolgt,55 zumeist in Gastwirtschaften, wo die Mehrheit in dieser Zeit ihre ersten Fernseherfahrungen machte. So berichteten die Gastwirte in Hamburg und Umgebung 1953 auch vom Aufschwung des Geschäfts durch die Anschaffung von Fernsehgeräten. Mit der zunehmenden Verbreitung von Fernsehern in Privathaushalten ging dieser Aufschwung natürlich nach relativ kurzer Zeit wieder zurück.56 Bei der Übertragung des WM-Endspiels 1954 aus Bern offenbarte sich dann die neue Dimension des Fernsehens, als eine halbe Million Deutsche die Übertragung verfolgten57, also etwa fünfzig mal so viele wie bei den o.g. Großveranstaltungen. Mit einer etwas großzügigeren Berechnung geht Großhans sogar von 1 bis 1,5 Millionen Menschen allein in Deutschland aus. Berücksichtigt man, daß es 1954 in Deutschland etwa 27.000 Empfangsgeräte gab, dann saßen laut Großhans‘ Berechnungen durchschnittlich zwischen 37 und 56 Personen vor jedem einzelnen Fernsehgerät.58 Sogar kleinere Sportvereine schafften sich Fernseher an, ganze Busse fuhren in Orte, in denen es ein Gasthaus mit Fernseher gab, und vor den Radio- und Fernsehgeschäften standen die Menschen in Trauben, um das Spiel zu verfolgen. Aber nicht nur in Deutschland, sondern europaweit war das Zuschauerinteresse groß. „Ca. 90 Mill. Menschen an 4 Mill. Fernsehgeräten verfolgten die Fußballspiele. 10-20 Personen pro Empfänger in Privathaushalten und 60-70 Personen in Gaststätten und sonstigen öffentlichen Stellen wurden als Maßstab angelegt.“59 Mit den Übertragungen der Fußball-WM aus der Schweiz setzte der Aufschwung des Fernsehens nicht nur in

49 Dokumentationsfilm „Das Wunder von Bern“ der Sendereihe „Unser Jahr100. Deutsche Schicksalstage“ von Ulrich Lenze, Konzept und Leitung Guido Knopp, im Auftrag des ZDF, 1998 50 Großhans (1997), S. 39 51 Vgl. ebd., S. 25 52 Vgl. ebd., S. 37 53 Ebd., S. 38 54 Vgl. ebd., S. 38 55 Vgl. Schildt (1995), S. 263 56 Vgl. ebd., S. 264 57 Vgl. ebd., S. 265 58 Vgl. Großhans (1997), S. 39 59 Joseph Hackforth (1975), zit. nach Großhans (1997), S. 39

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Deutschland ein. Der sportliche Höhepunkt des Jahres 1954 trug maßgeblich zur Etablierung des Fernsehens als neues Massenmedium bei. Zur Veranschaulichung mögen einige Angaben über die Anzahl der Fernsehhaushalte in Deutschland zwischen 1954 und 1956 dienen. Im Januar 1954 gab es 11.600 Fernsehhaushalte. Bis zum Juli des gleichen Jahres, dem Monat der Fußball-WM, hatte sich die Zahl bereits auf 27.600 gesteigert, also mehr als verdoppelt. Bis zum Januar 1955 gab es einen weiteren Anstieg auf 84.300 Fernsehhaushalte. Im Vergleich zum gleichen Monat im Vorjahr hatte sich die Anzahl etwa versiebenfacht, wobei der Anstieg in der zweiten Jahreshälfte, also nach der Fußball-WM, ungleich stärker war als im ersten Halbjahr. Bis zum Januar 1956 stieg die Zahl der Fernsehhaushalte noch einmal auf 283.800 an, verzehnfachte sich also im Vergleich zum Monat der Fußball-WM Juli 1954. Der zahlenmäßige Anstieg der Fernsehhaushalte stellte nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Steigerung dar, da sich in ihr der künftige Siegeszug des Fernsehens und die Entstehung der modernen Mediengesellschaft andeutete. Ebenso wie die Fußball-WM den ‚Fernseh-Boom‘ in Deutschland auslöste und auch im Folgenden der Fußball und der Sport im allgemeinen maßgeblich am Erfolg des Mediums beteiligt waren, so hatte das Fernsehen im Gegenzug natürlich auch Auswirkungen auf den Sport. Wenn es auch zu weit ginge hier im einzelnen die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung des Sports einerseits und der des Fernsehen anderseits zu erörtern, so soll doch darauf hingewiesen werden, daß das Fernsehen maßgeblich an der Professionalisierung des Sports beteiligt war. „Profisport in seiner heutigen Ausprägung wäre ohne das Medium Fernsehen nicht vorstellbar, erst durch dessen Verbreitungsform konnte er zum öffentlichen Ereignis und damit zum Geschäft werden.“60

III. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 als Mittel nationaler Rehabilitation

Rehabilitation Sozialmedizin und -hilfe: (Wiedereingliederung) Bez. für alle Maßnahmen (des [Sozial]staates oder privater Institutionen), mit denen Menschen, die infolge abweichenden Verhaltens oder von Krankheit aus dem gesellschaftl. Leben abgesondert wurden (z.B. Straffällige, Unfallgeschädigte, Kranke, körperlich oder geistig Behinderte, Drogenabhängige), zur sinnvollen Teilnahme am gesellschaftl. Leben befähigt werden. Rehabilitation Strafrecht: die Wiederherstellung des sozialen Ansehens einer Person, die Wiedereinsetzung einer Person in frühere [Ehren]rechte.61

„Die Welt ist zwar kein Fußball ... aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt.“ (Ror Wolf, Schriftsteller)62

Dieses Kapitel setzt sich mit der Frage auseinander, aus welchen Gründen der Sieg der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM 1954 eine derart hohe Bedeutung für die Deutschen gewann, besonders für diejenigen westlich der innerdeutschen Grenze. Bis heute ist der Erfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der ersten Teilnahme an einer WM nach 1945 Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Zudem wird diesem

60 Großhans (1997), S. 21 61 LexiROM, Meyers Lexikonverlag 62 zit. nach Hermann Glaser in: Frei (1994), S. 153

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WM-Titel häufig eine höhere Bedeutung beigemessen als den beiden folgenden (1974 und 1990). So hielten bei einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen 1998 54% der Befragten den WM-Titel 1954 für den wichtigsten, während nur 10% für 1974 und 16% für 1990 stimmten.63 Bei einer Umfrage des Fußballmagazins Kicker im Jahre 1999 wählten die Mitglieder des Verbandes Deutscher Sportjournalisten die WM-Elf des Jahres 1954 zur Fußballmannschaft des Jahrhunderts.64 Bei der gleichen Wahl wurde Sepp Herberger zum Fußballtrainer des Jahrhunderts gewählt, und Fritz Walter kam bei der Wahl zum Fußballspieler des Jahrhunderts auf den zweiten Platz hinter Franz Beckenbauer. Auch der derzeit amtierende Fußballnationaltrainer kommentierte dieses Wahlergebnis zustimmend: „Sepp Herberger war ein herausragender Trainer. ... Die WM-Elf von 1954 hat es besonders verdient, als Team des Jahrhunderts ausgezeichnet worden zu sein.“65 Diese Wahlergebnisse und die Ansichten sowohl der Bevölkerung als auch von Journalisten und Sportfunktionären verdeutlichen den sportlichen Stellenwert, den der WM-Erfolg von 1954 noch heute inne hat. Die in der Einleitung zitierten Einschätzungen offenbaren aber, daß dem Sieg gemeinhin eine größere gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen wird, die über den rein sportlichen Wert hinausgeht. Neben den Erfolgen der jungen Bundesrepublik, wie z.B. dem Wiederaufbau oder dem Wirtschaftsaufschwung (dem sog. „Wirtschaftswunder“), soll der WM-Titel von 1954 dazu beigetragen haben, daß in der Bevölkerung eine zuversichtlichere Stimmung aufkam, daß die Menschen ihre Gefühle der Scham und Demütigung ablegten und wieder stolz auf das selbst erreichte und auf ihr Land waren („Wir sind wieder wer.“). Nach Geyers Einschätzung hat der deutsche Sieg bei der WM 1954 „in der populären Mythologie seit jeher mehr zur Konstituierung der Bundesrepublik beigetragen als alle großen diplomatischen Staatsaktionen der Nachkriegszeit.“66 Im Folgenden soll erörtert werden, ob es sich bei dieser volksläufigen Beurteilung um die Überhöhung eines rein sportlichen Ereignisses handelt, oder ob diese Einschätzungen, zumindest in gewissem Maße, zutreffend sind.

In seiner Darstellung der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik spricht Morsey die Problematik der Identitätsbildung der Deutschen an. In Bezug zur Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik, in der als Fernziel die Einigung Deutschlands unter Zustimmung der vier Alliierten angestrebt wird, stellt er folgendes fest: „In dem Maße, in dem sich dieses Verfassungspostulat für absehbare Zeit als unrealisierbar erwies, entwickelte sich in der Bundesrepublik ein widersprüchliches Selbstverständnis. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein fehlte ein eigenständiges Staats- und Identitätsbewußtsein, ohne daß an dessen Stelle im Gefolge der verbreiteten Europaideologie ein neues Bezugssystem trat.“67 Auch Fulbrook, die sich sehr ausführlich mit der Identitätsbildung in beiden deutschen Staaten und im wiedervereinigten Deutschland befaßt, charakterisiert die Herausbildung eines deutschen Staatsbewußtseins oder Nationalgefühls als höchst problematisch. Die Schwierigkeiten resultieren nicht nur aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, sondern auch aus dem darauf folgenden Situationszusammenhang des Kalten Krieges, während dem die zwei deutschen Staaten in Konkurrenz zueinander traten und infolgedessen auch zwei unterschiedliche Identitäten zu bilden suchten.

63 Vgl. Dokumentationsfilm „Das Wunder von Bern“ der Sendereihe „Unser Jahr100. Deutsche Schicksalstage“ von Ulrich Lenze, Konzept und Leitung Guido Knopp, im Auftrag des ZDF, 1998 64 Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999, S. 20 65 zit. nach Spiegel Online, 12.11.1999 66 Geyer 1996, S. 55 67 Morsey (1995), S. 25

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„In the shadow of the Holocaust any notion of German national identity was uniquely problematic, uniquely tortured. It was not only that, after unleashing two world wars and organising a programme of mass genocide with unparalleled efficiency, any German nationalism was clearly utterly unacceptable, totally discredited: Germans, alone among European nations, could not even be ‘patriotic’ without arousing hackles and fears among their neighbours. ... Secondly, the two post-war German states were created by the forcible division of a defeated state, which had not only propagated a very strong version of national identity defined in racist terms, but had divided its own people between those who were accepted in the Volk community and those who were outcasts on ‘racial’ or political grounds. Each of the new states became engaged in a process of defining its own new identity, in opposition not only to the common past, but also to each other.”68 Somit fehlte besonders in den frühen Jahren der Bundesrepublik (und auch der DDR) eine nationale Identität. Es fehlten vor allem die Komponenten, auf denen sich eine solche Identität gründen konnte. Neben anderen Erfolgen, wie z.B. dem wirtschaftlichen Erfolg des Aufschwungs oder dem politischen Erfolg der Rehabilitation und Aufnahme Westdeutschlands in die Gemeinschaft der westlichen Länder, bot der WM-Erfolg der Fußballnationalmannschaft eine Projektionsfläche für ein nationales Bewußtsein oder eine nationale Identität. Die Gründung der Bundesrepublik 1949 oder das schrittweise Erreichen der Souveränität bis 1955 waren jedoch Erfolge, die im Bewußtsein der meist apolitischen Deutschen einen vermutlich weitaus geringeren Stellenwert einnahmen als der WM-Titel. Wie bereits dargestellt wurde, herrschte in der westdeutschen Bevölkerung die Tendenz vor, sich ins Privatleben zurückzuziehen und sich auf vornehmlich häusliche Aktivitäten zu konzentrieren. Demzufolge gab es vergleichsweise wenig politisches Engagement, und daher war vermutlich auch das Interesse für politische Ereignisse und Erfolge eher gering. Aus diesem Grund mag auch der sportliche Erfolg einer Fußballnationalmannschaft 1954 den Großteil der Bevölkerung eher berührt haben als die Aufnahme Deutschlands in die Westeuropäische Union 1955, eben weil es sich um einen Erfolg handelte, der auf einer vermeintlich unpolitischen Ebene stattfand. Zudem war die BRD zum Zeitpunkt des WM-Turniers im Juni und Juli 1954 auf politischer Ebene noch besetzt, unselbständig und international entmündigt (das Besatzungsstatut wurde erst im Mai 1955 aufgehoben). Demnach kam der sportliche Erfolg und der Triumph über die Fußballvertreter anderer Länder dem politischen Erfolg der internationalen Wiederanerkennung und Gleichberechtigung zuvor, ebenso wie auch schon die Wiederanerkennung und -aufnahme der deutschen Sportverbände im internationalen Sport zuvorgekommen war.69 Außerdem mag es für viele Teile der Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt haben, daß der Sport ein „historisch unbelastetes Feld“70 war. In den fünfziger Jahren wurde die nationalsozialistische Vergangenheit eher verdrängt, als daß man sich mit ihr auseinandersetzte, daher suchte man nach unbelasteten Freiräumen und Symbolen. Der Sport war solch ein unbelastetes Feld, und daher konnten viele nach dem Erfolg von Herbergers Mannschaft ihren nationalen Freudengefühlen freien Lauf lassen. Die Spieler der Nationalmannschaft von 1954 waren zudem ideale Identifikationsfiguren für breite Schichten der Bevölkerung, was vermutlich zur großen Wirkung des WM-Sieges entscheidend beitrug. Zum einen waren sie teilweise schon

68 Fulbrook (1999), S. 19 69 Das Nationale Olympische Komitee (NOK) für die BRD war 1950 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) anerkannt worden; im gleichen Jahr wurde der DFB wieder in die Fédération Internationale de Football Association (FIFA) aufgenommen. 70 Frei (1994), S. 20

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 18 vor und während des Krieges aktiv und bekannt gewesen. Sepp Herberger war selbst aktiver Spieler in Mannheim und Berlin gewesen und hatte zu Beginn der zwanziger Jahre drei Länderspiele gespielt. Schon 1936 hatte er das Amt des Reichsfußballtrainers übernommen. Fritz Walter, der zum Zeitpunkt der WM in Bern bereits 34 Jahre alt war, hatte 1938 sein erstes Spiel in der 1. Mannschaft des 1. FC Kaiserslautern und 1940 sein ersten Länderspiel absolviert. Ähnlich wie der Boxer Max Schmeling, der schon während der Jahre 1930 bis 1932 Weltmeister war, aber noch nach dem Krieg große Beliebtheit genoß und noch bis heute genießt, blieben Sepp Herberger und Fritz Walter über den Bruch von 1945 hinaus bekannte Persönlichkeiten, mit denen man positive Erinnerungen und Assoziationen verbinden konnte und verbinden durfte. Dieses Element der Kontinuität war besonders wichtig, da mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, der Besetzung durch andere Länder und der angestrebten Umerziehung (Entnazifizierung) das hergebrachte Werte- und Normensystem kollabierte. In dieser Situation fehlte es großen Teilen der Bevölkerung an Orientierungs- und Anhaltspunkten.71 Infolgedessen mögen solche Figuren, die nicht im Zusammenbruch mit untergegangen waren, immens wichtig gewesen sein. Wie man selbst, so hatten sie die sogenannte ‚Stunde Null‘ überlebt und waren nicht mit dem alten Regime untergegangen oder aus den ‚Ruinen des Neuanfangs‘ aufgestiegen. Zum anderen entstammten die Spieler der deutschen Nationalmannschaft von 1954 noch dem gleichen sozialen Milieu wie ihre Fans und wie der Großteil der deutschen Bevölkerung. Im Gegensatz zu den späteren Profispielern waren sie Amateure oder Halbamateure, und als Vertragsspieler der Oberliga erhielten sie bis zu 320,- DM Aufwandsentschädigung pro Monat. Sie hatten noch ganz normale Berufe erlernt, die sie auch geregelt ausübten. So hatte Fritz Walter beispielsweise eine Banklehre gemacht, und sein Bruder Ottmar eröffnete nach der WM in Bern eine Tankstelle. Außerdem waren sie teilweise als Soldaten im 2. Weltkrieg gewesen und hatten dort ähnlich Erfahrungen gemacht wie viele andere deutsche Männer. „Die Spieler stammten noch aus dem Umfeld ihrer Zuschauer und waren, wenn auch mit Privilegien versehen, die ‚Repräsentanten ihrer Klasse‘“72 Nach Ansicht des Historikers Klaus Hildebrand luden sie regelrecht dazu ein, sich mit ihnen zu identifizieren. „Sie entstammten genau dem Milieu der sie umjubelnden Anhänger, und insofern verkörperten sie Alltag und Triumph in einem.“73 Für viele mag es von großer Bedeutung gewesen sein, daß der überraschende Sieg in Bern einen Anlaß zum Feiern bescherte. Als die Weltmeistermannschaft am Tag nach dem Endspiel die Rückreise im modernsten Modell der Deutschen Bundesbahn, dem Dieseltriebwagen VT 08, antrat, säumten eine halbe Million Menschen die Strecke.74 In vielen Orten hielt der Zug an, und die Menschen feierten ‚ihre‘ Spieler und überreichten Geschenke. Einmal zwangen sie sogar den Zug zum Anhalten, obwohl im Fahrplan eigentlich kein Stopp vorgesehen war.75 Die Schaffhauser Nachrichten berichteten am Tag nach der Durchfahrt des Zuges (6.Juli 1954): „Daß die Heimreise der Weltmeister-Elf ein Triumphzug werde, konnte man sich vorstellen; was wir aber nur von Gottmadingen bis Konstanz sahen, übertraf alle Erwartungen. Gottmadingen bildete den Auftakt. Musikkorps auf dem Bahnhof, Fahnen, Blumen. Die Belegschaft der Fahr-Werke stellte an die zwanzig Traktoren auf; alle hornten bei der Durchfahrt des Zuges. Der Lärm steigerte sich, als selbst

71 Vgl. Birke (1989), S. 30 und Kleßmann (1991), S. 54 72 Großhans (1997), S. 37, in Anlehnung an R. Lindner/H. Th. Breuer, (1979) 73 Klaus Hildebrand, zit nach Rudi Michel, in DFB (1999), S. 269 74 Vgl. Frei (1994), S. 15 75 Vgl. ebd., S. 35ff

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die Fabriksirenen in das ungewohnte Konzert einstimmten. Alle entgegenkommenden Züge begrüßten den Extrazug mit Signalpfeifen. Entlang den Schienen standen Leute auf Wagen, Kisten, auf der Bahnböschung und versuchten, wenigstens einen der Spieler zu entdecken.“76 Nach Jahren des Krieges, der Besetzung, des mühseligen Wiederaufbaus und des Ringens um internationale Wiederanerkennung gab es wieder einmal eine Gelegenheit, etwas zu feiern und auf etwas stolz zu sein, das Deutsche in einem fair und friedlich ausgetragenen Wettstreit erreicht hatten. Im Zeitalter nach Auschwitz war gedankenloser nationaler Stolz oder selbstverständlicher Patriotismus nicht mehr möglich77, daher feierte man in den Orten entlang der Strecke das ‚hier und jetzt‘ und vor allem auch ein bißchen sich selbst. „Es war ein Fest der ‚kleinen Leute‘ ... und damals ein Fest sowohl des Vergessens der Vergangenheit wie auch der Hoffnung auf einen Neuanfang.“78 Der Sieg brachte ein Stück Normalität zurück und lenkte von der schmachvollen und schuldbeladenen Vergangenheit und dem demütigenden Kriegsende ab.

Eine mittelfristige Folge der Fußballweltmeisterschaft war der mit dem Turnier einsetzende Aufschwung in der Fernsehindustrie. Wie bereits dargestellt beeinflußten die Übertragungen aus Bern das Medienverhalten der Deutschen, und die Anzahl der Fernsehhaushalte stieg während der WM und in den folgenden zwei Jahren sprunghaft an, so daß die Produktion den Bedarf zunächst gar nicht decken konnte. Zwar hatte der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung, das sog. ‚Wirtschaftswunder‘, im Zuge des Koreakrieges (1950-1953) langsam eingesetzt, jedoch war 1954 die Konstanz des Aufschwungs noch nicht absehbar. Erst Mitte der fünfziger Jahre wurde die Vollbeschäftigung erreicht.79 So trug der durch die Fußball-WM ausgelöste Fernsehboom auch zum allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands bei, der langfristig das internationale Ansehen Deutschlands prägen sollte.80 Jedoch sollte nicht nur der Sport im allgemeinen und der Fußball im besonderen entscheidende Auswirkungen auf die Fernsehindustrie haben. Auch umgekehrt beeinflußte die Übertragung von Sportereignissen durch das Fernsehen maßgeblich die weitere Entwicklung des Sports. In diesem Verhältnis der Wechselwirkung zwischen dem Medium Fernsehen und dem Sport trug die mediale Verbreitung des Sports einerseits zur Professionalisierung desselben bei und begünstigte andererseits dessen Politisierung, wie sie anhand des Gewinns der Fußball-WM 1954 deutlich wird. Immer wieder wird in populären Äußerungen (siehe Einleitung) auf die die Grenzen des Sports überschreitende Wirkung des Titelgewinns hingewiesen. Knopp spricht in seiner Dokumentation davon, daß „... elf Kicker ... einem ganzen Volk den kollektiven Kick verschafften... – es war ein deutscher Schicksalstag, der 4. Juli 1954.“81 Auch der DFB betont wiederholt die historische Bedeutung des Sieges von 1954 für Deutschland, z.B. auf seiner aktuellen Homepage im Abschnitt über die Geschichte der Nationalmannschaft oder in seiner jüngsten Publikation 100 Jahre DFB. Die Geschichte

76 zit. nach Frei (1994), S. 43ff 77 Vgl. Fulbrook (1999), S. 2 78 Frei (1994), S. 16 79 Vgl. Morsey (1995), S45ff 80 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Horst Steffens, Historiker am Museum für Technik und Arbeit in Mannheim, in Frei (1994), S. 66ff 81 in: Dokumentationsfilm „Das Wunder von Bern“ der Sendereihe „Unser Jahr100. Deutsche Schicksalstage“ von Ulrich Lenze, Konzept und Leitung Guido Knopp, im Auftrag des ZDF, 1998

Eva Wilden: Die Fußballweltmeisterschaft 1954 20 des Deutschen Fußballbundes.82 In solchen Äußerungen wird der (Fußball-)Sport als Politikum behandelt, obwohl er nicht unmittelbar in den politischen Bereich gehört. „Wesentliche Voraussetzung für diese Überhöhung des Fußballs ist dessen mediale Verbreitung, durch die z.B. eine ganze Nation an dem Ereignis und damit auch an seiner Interpretation teilnehmen kann.“83 So trug die mediale Verbreitung der Fußball-WM 1954, in diesem Fall noch hauptsächlich durch das Radio und die Printmedien, aber auch schon durch das Fernsehen, dazu bei, daß die gesamte Nation am WM-Sieg teilhaben und ihn auch für sich beanspruchen konnte, wie es die Überschrift eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich macht: „Der Tag, an dem wir Weltmeister wurden“84. Die Überschrift schließt das gesamte deutsche Volk ein und meint nicht nur die Mannschaft, die eigentlich den Titel des Weltmeisters errangen. Jedoch spielen die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, im Sport nicht nur im Land selbst eine bedeutende Rolle indem sie der Bevölkerung die Möglichkeit bieten, ein Sportereignis zu verfolgen, auch wenn es am anderen Ende der Welt stattfindet. Bei der Übertragung von internationalen sportlichen Ereignissen, seien es Großereignisse wie z.B. eine Fußballweltmeisterschaft, die Olympischen Spiele oder ein Tennis Grand Slam Turnier oder auch nur ein Länderspiel zweier Handballnationalmannschaften, bieten die Massenmedien ein Forum für nationale Selbstdarstellung. Diese Funktion der Kombination aus sportlichem Ereignis und massenmedialer Verbreitung wurde in der DDR bereits sehr früh erkannt, die den Sport erfolgreich nutzte, um sich nach außen als Staat darzustellen und auf diesem Wege schrittweise die internationale Anerkennung zu erreichen. „In Verbindung mit modernen Kommunikationsmitteln ist der Sport zweifellos eines der wirkungsvollsten Medien, das die Darstellung des Nationalstaates und eines populären Nationalismus im 20. Jahrhundert erlaubt.“85 In diesem Sinne mag der WM-Sieg 1954 tatsächlich eine wichtige Rolle in der Konsolidierung der Bundesrepublik gespielt haben, da sie sich in einem internationalen Forum äußerst erfolgreich national selbst darstellte.

Abschließend soll noch der Frage nachgegangen werden, wie der Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 1954, der ja von einer Mannschaft errungen wurde, die ausschließlich aus westdeutschen Spielern bestand, östlich der innerdeutschen Grenze aufgenommen wurde. Es ist kaum bekannt, daß neben Herbert Zimmermann, der für die westlichen Radioanstalten kommentierte, auch ein Medienvertreter der DDR von der WM in Bern berichtete. Wolfgang Hempel kommentierte das Endspiel für Radio DDR und saß dabei offensichtlich in der ‚Klemme‘ zwischen Sport und Politik. Fachlich war seine Kommentierung sehr gut, er war dazu angehalten, stets von der ‚westdeutschen Nationalelf‘ zu sprechen, jedoch wirkte seine Moderation etwas emotionslos, was ihm auch von Fußballfans in der DDR vorgeworfen wurde.86 Auch der Kommentar in der Ostberliner Zeitung Junge Welt fiel etwas emotionsloser als die der westdeutschen

82 Der Spiegel-Redakteur Michael Wulzinger warf hingegen in einem Artikel im Januar 2000, der sich mit der NS-Vergangeheit des DFB beschäftigt, dem Deutschen Fußballbund vor, zwar einerseits gesellschaftliche Verantwortung zu reklamieren, andererseits aber sich dagegen zu sperren, „die politische Dimension seiner Historie anzuerkennen.“ So weigere sich der DFB bis heute seine Archive für unabhängige Historiker zu öffnen und verhindere damit, daß die unrühmliche Geschichte des DFB im 3. Reich umfassend erforscht und publiziert würde. Vgl. Der Spiegel, Heft 4/2000, 24.1.2000, S. 150ff 83 Großhans (1997), S. 14 84 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265/1999, 13.11.1999, S. 40 85 Geyer 1996, S. 56 86 Vgl. Rudi Michel in: DFB (1999), S. 574ff

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Zeitungen aus, wenn er auch voll des Lobes war und auch hier sprach man von einem ‚westdeutschen‘ Erfolg: „Ein großartiger Erfolg des westdeutschen Fußballsports, ja man kann ihn als den größten in der Geschichte des Fußballsports überhaupt bezeichnen. Wir schließen uns den zahlreichen Gratulanten an und wünschen den westdeutschen Fußballspielern auch weiterhin recht viel Erfolg.“87 Politisch trieben die beiden deutschen Staaten 1954 schon längst auseinander und orientierten sich nach zwei gegensätzlichen und verfeindeten Staatenbündnissen. Ein Jahr später wurde mit der Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO und der DDR in den Warschauer Pakt die Teilung Deutschlands ratifiziert. Im Kontrast zu den feindlichen politischen Verhältnissen und dem von den staatlich kontrollierten Medien verbreiteten Standpunkt wurde der Sieg der westdeutschen Mannschaft jedoch auch in der DDR gefeiert, und in Ostberlin sollen Volkspolizisten Freudenschüsse abgegeben haben.88 Diese spontanen Gemeinsamkeitsbekundungen zeigen, daß, nur fünf Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten, die Menschen sich noch nicht als getrenntes Volk oder als Bürger zweier feindlicher Staaten sahen und sich noch stärker auf ihre gemeinsame Vergangenheit besannen, als es in den folgenden Jahren der Fall sein sollte. Auch mag die spontane Freude mancher Ostdeutscher über den Sieg einer westdeutschen Mannschaft ein erstes Anzeichen dafür gewesen sein, daß sich das Feindbild des Kapitalismus und der Bundesrepublik in der DDR nie in der Form durchsetzen konnte, wie umgekehrt das Feindbild des Kommunismus und der DDR in der Bundesrepublik. Fulbrook geht davon aus, daß die Konstruktion eines Feindbildes in der Bundesrepublik viel einfacher war, da es eine Tradition des Antikommunismus gab. Auf der anderen Seite war die gemeinsame Vergangenheit im Bewußtsein der Bürger der DDR viel präsenter, und die Westdeutschen wurden nie wirklich als ‚der Feind‘ gesehen, zu dem sie in der offiziellen Propaganda gemacht wurden.89

87 zit. nach Gloede (1982), S. 265 88 Vgl. Gloede (1982), S. 81 89 Vgl. Fulbrook (1999), S. 18

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Resümee Die Erörterung hat gezeigt, daß die populären Einschätzungen über die Wirkung und Bedeutung des WM-Erfolgs von 1954 zutreffen. Zwar mögen politische Erfolge wie die Gründung der Bundesrepublik 1949 und die Aufhebung des Besatzungsstatuts 1955 wesentlicher Bestandteil der ‚Auferstehung‘ Westdeutschlands als eigenständiger Nationalstaat gewesen sein, einer Entwicklung, zu der der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 zugegebenermaßen wenig beitrug. Für die Bevölkerung aber, für die Menschen, die in dem heranwachsenden Staat lebten, hatten Ereignisse wie die Fußball-WM 1954 eine ungemein größere Symbolkraft als internationale Verträge oder Abkommen. Wenn der Titelgewinn auch nichts zur tatsächlichen politischen Entwicklung der frühen Bundesrepublik beitrug, so barg er doch eine enorm große ideelle Bedeutung durch seine Identifikationskraft. Große Teile der Bevölkerung konnten sich mit den Spielern der Mannschaft identifizieren und deren Erfolg für sich selbst beanspruchen. So war der Titel des Weltmeister eine Komponente der neu zu findenden nationalen Identität und ist in dieser Hinsicht gleichzusetzen mit anderen Komponenten, wie z.B. dem Wirtschaftsaufschwung. Auch in der Außenwirkung war der Titelgewinn ein wichtiger Faktor der nationalen Selbstdarstellung. Wenn auch nicht in dem Maße wie es aufgrund der massenmedialen Entwicklung heute üblich ist, so bot doch schon die WM 1954 ein internationales Forum, bei dem sich die Bundesrepublik als fairer und erfolgreicher Mitstreiter darstellen konnte. Abschließend bleibt festzustellen, daß der überraschende Erfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Fußball-WM 1954 tatsächlich über die Grenzen des Sports hinaus Wirkung auf die deutsche Bevölkerung als Ganzes hatte. Diese besondere Wirkung der WM 1954 war einzigartig und konnte von den folgenden Titelgewinnen 1974 und 1990 oder von ähnlichen Höchstleistungen in anderen Sportarten nicht wieder erreicht werden.

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Literaturverzeichnis Monographien, Sammelbände und Aufsätze Birke, Adolf M., Nation ohne Haus. Deutschland 1945 – 1961 Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 6, Berlin, 1989 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Deutschland in den fünfziger Jahren, Informationen zur politischen Bildung, Heft 256, Bonn, 3. Quartal 1997 Busche, Jürgen, ‚Der Mythos von 1954‘, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, hrsg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, B24/94, 17.6.1994, S. 13-15 Deutscher Fußballbund (Hrsg.), 100 Jahre DFB. Die Geschichte des Deutschen Fußballbundes, Berlin, 1999 Frei, Alfred Georg, Finale Grande 1954. Die Rückkehr der Fußballmeister, Berlin, 1994 Fulbrook, Mary, German National Identity after the Holocaust, Cambridge, Oxford, 1999 Glaser, Hermann, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948 (Bd. 1, 1985). Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition (Bd. 2, 1986), München und Wien Ders., Aus den Trümmern zur Moderne. Zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München, 1986 Gloede, Walter und Hans-Joachim Nesslinger (Hrsg.), Fußballweltmeisterschaft, Hamburg, 1982 Großhans, Götz-T., Fußball im deutschen Fernsehen Studien zum Theater, Film und Fernsehen, hrsg. v. Renate Möhrmann, a.M., 1997 Geyer, Martin H., ‚Der Kampf um nationale Repräsentation. Deutsch-deutsche Sportbeziehungen und die „Hallstein-Doktrin“‘, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 14/1, 1996, S. 55-87 Kleßmann, Christoph, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn,1991 Morsey, Rudolf, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969[Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd.19] 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, München, 1995 Schulze, Ludger, Die Mannschaft. Die Geschichte der Deutschen Fußballnationalmannschaft, München, 1986 Schildt, Axel, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg, 1995 Seitz, Norbert, ‚Von Bern bis Los Angeles. Die politische Geschichte der Fußballweltmeisterschaft‘, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, hrsg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, B24/94, 17.6.1994, S. 3-12 Wange, Willy B., Der Sport im Griff der Politik. Von den Olympischen Spielen der Antike bis heute, Köln, 1988

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Zeitungen, Zeitschriften (auch Online) Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265/1999, 13.11.1999 Kicker Sportmagazin. 100 Jahre deutscher Fußball (Sonderheft), November 1999 Neue Ruhr-Zeitung, Nr. 154/1954, 5. Juli 1954 Der Spiegel, Heft 4/2000, 24.1.2000 Spiegel Online, 12.11.1999 Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 153/1954, 5. Juli 1954 Die Zeit, Ausgabe 4/2000, 20.1.2000

Anhang Mannschaftsaufstellung Deutschland bei der WM 1954 Torhüter: , , Heinz Kubsch Verteidiger: , Friedrich Laband, , Heinz Erhardt Läufer: , Jupp Posipal, , Karl-Heinz Metzner, Paul Mebus Stürmer: Richard Hermann, , Fritz Walter, , Hans Schäfer, Helmut Rahn, Ulrich Biesinger, , Bernhard Klodt

Qualifikation zur WM 1954

Gruppe 1 (nur Spiele der deutschen Mannschaft):

Norwegen – Deutschland 1:1 (19.8.1953 in Oslo) Deutschland – Saar 3:0 (11.10.1953 in Stuttgart) Deutschland – Norwegen 5:1 (22.11.1953 in Hamburg) Saar – Deutschland 1:3 (28.3.1954 in Saarbrücken) Tabelle der Gruppe 1 1. Deutschland 7:1 Punkte 12:3 Tore 2. Saar 3:5 Punkte 4:8 Tore 3. Norwegen 2:6 Punkte 4:9 Tore Gruppenspiele Gruppe 2 Ungarn - Südkorea 9:0 (4:0) Türkei - Deutschland 1:4 (1:1) Ungarn - Deutschland 8:3 (3:1) Türkei - Südkorea 7:0 (4:0) Entscheidungsspiel: Deutschland - Türkei 7:2

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Tabelle der Gruppe 2 1. Ungarn 4:0 Punkte 17:3 Tore 2. Deutschland 4:2 Punkte 14:11 Tore 3. Türkei 2:4 Punkte 10:11 Tore 4. Südkorea 0:4 Punkte 0:16 Tore

Qualifiziert für das Viertelfinale sind Ungarn und Deutschland.

Viertelfinale

Jugoslawien - Deutschland 0:2 (0:1) Ungarn - Brasilien 4:2 (2:1) Österreich - Schweiz 7:5 (5:4) England - Uruguay 2:4 (1:2)

Halbfinale

Österreich - Deutschland 1:6 (0:1) Uruguay - Ungarn 2:4 (0:1, 2:2) n.V.

Spiel um Platz 3

Österreich - Uruguay 3:1 (1:1)

Finale

Deutschland - Ungarn 3:2 (2:2)