Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

HERIBERT SMOLINSKY

Die Kirche am Oberrhein im Spannungsverhältnis von humanistischer Reform und Reformation

Originalbeitrag erschienen in: Freiburger Diozösanarchiv 110 (1990), S.23-37 23

Die Kirche am Oberrhein im Spannungsverhältnis von humanistischer Reform und Reformation

Von Heribert Smolinsky

Am 1. Mai 1518, mitten in einer sich dramatisch zuspitzenden Zeit, welche die Geschichtsschreibung einmal mit dem Namen „Reformation" belegen sollte, schrieb von Heidelberg aus ein junger Dominikanermönch einen Brief nach Schlettstadt, seiner Heimat. Der Empfänger des Briefes war ; der Absender war Martin Bucer, der spätere Reformator von Straßburg. Bucer berichtete in deutlich erregter Stimmung von der Heidelber- ger Disputation, die kurz vorher, am 26. April, hochoffiziell im Hörsaal der philosophischen Fakultät stattgefunden hatte und in deren Zentrum gestanden war. Er schrieb u. a.: „Ich habe gelesen, wie Du mit Deinem Stift unsere Theologen angegriffen und verletzt hast. Dies täte mir wahrlich leid, wenn es vergeblich wäre; und deshalb, damit Du Dir nicht als Sieger vorkommst, weil wir Heidelberger die Sache aufgegeben hätten (denn sonst hat uns unser Senior, der Wimpfeling, ganz hervorragend beschützt), will ich Dir einen Theologen entgegenhalten, zwar keinen von den unsrigen, der aber dieser Tage bei uns zu hören war... Es ist Martin, jener Kritiker der Ablässe, mit denen wir bisher viel zu nachsichtig waren... Mit stimmt er in allem überein, außer daß er ihn in dem einen zu übertreffen scheint, das, was jener nur andeutet, dieser offen und frei verkündet"2. Beatus Rhenanus, der Schlettstädter Humanist, erscheint bei Bucer als kri- tischer antischolastischer Theologe; Wimpfeling als Vaterfigur einer Heidel- berger humanistischen Opposition, und Erasmus von Rotterdam, die überra- gende Gestalt des europäischen Humanismus, als konform mit dem Augusti- nermönch Martin Luther3. Es sind die Empfindungen und Beobachtungen

' Als Vortrag am 11. April 1989 auf der Jahreshauptversammlung des Kirchengeschichtlichen Vereins des Erzbistums Freiburg gehalten. Zur Lit. siehe folgende Anmerkungen. Herrn Prof. Otto Herding danke ich für die freundliche Durchsicht des Manuskripts. 2 Zit. nach: Luther und die Reformation am Oberrhein. Ausstellungskatalog hg. von der Bad. Landes- bibliothek Karlsruhe, Karlsruhe 1983, 168-170. Vgl. A. Horawitz – K Hartfelder (Hg.), Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Leipzig 1886, Repr. Hildesheim 1960, Nr. 75, 107; Jean Rott (Hg.), Correspondance de Martin Bucer, Bd. 1, Leiden 1979, 58-72. 3 Zu Beatus Rhenanus vgl. Les amis de la Bibliotheque Humaniste de Sdestat (Hg.), Annuaire 35, 1985; Robert Walter, Un grand humaniste alsacien et son ipoque, Beatus Rhenanus, citoyen de Sdestat, ami d'Erasme (1485-1547). Anthologie de sa correspondance, 1986; John F. DAmico, Theory and 24 Heribert Smolinsky eines engagierten Zeitgenossen, die uns dieser Brief vor Augen führt. Bucer, selbst aus dem oberrheinischen Raum stammend, bestimmt die dortige Situa- tion mit den Grundakkorden „neue Theologie gegen alte Scholastik" sowie Kritik an der kirchlich-religiösen Praxis. Luther und das für die Reformation zentrale Ereignis der Heidelberger Disputation paßt er in diese Linie ein. Wir wissen heute, aus der Sicht des später Klügeren, daß seine Analyse falsch war. Aber konnte Bucer das 1518 erkennen? Bot nicht die Entwicklung in der oberrheinischen Kirche und Kultur Ansatzpunkte, die sein Urteil geradezu provozieren mußten? Hat nicht sogar , ein eher konservati- ver Mann, im kühnen Schwung eine Linie von Geiler von Kaysersberg über Erasmus bis hin zu Martin Luther gezogen4 ? Und hat schließlich nicht Jakob Sturm, der spätere Stättmeister von Straßburg, es gegenüber seinem alten Lehrer Wimpfeling 1524 noch deutlicher formuliert: „Bin ich ein Ketzer, so hant ir mich zu einem gemacht"? Es war derselbe Jakob Sturm, dem Wimpfe- ling rund 20 Jahre früher die Schrift „De integritate", eine Art „Priesterspie- gel", gewidmet hatte6. Machten die dort geschriebenen, für einen heutigen Leser eher biederen Gedanken den jungen Sturm zum Häretiker? Mit diesen Zitaten und Beobachtungen sind wir mitten im Thema: die Kirche am Oberrhein im Spannungsverhältnis von humanistischer Reform und Re- formation. Reformerischer Humanismus erscheint in ihnen als Signum der Situation. Die divergierende Entwicklung von Beatus Rhenanus, Erasmus und Wimpfeling einerseits, Bucer und einer Reihe oberrheinischer Humanisten an- dererseits ist der Beweis für die innere Spannung und ihr schließliches Ausein- anderbrechen, welche dieser Situation innewohnte. Wie stellen sich diese Ent- wicklung und ihre Bedingungen dar, die schließlich in eine neu formierte, konfessionalisierte oberrheinische Landschaft einmündeten?

Practice in Renaissance Textual Criticism. Beatus Rhenanus between Conjecture and History, Berkley u. a. 1988. Zu Bucer vgl. Robert Stupperich, Bucer, Theologische Realenzyklopädie 7, 1980, 258-270; Gottfried Hammann, Martin Bucer 1491-1551 zwischen Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft, Stuttgart 1989. Zu Erasmus und Luther vgl. Otto Hermann Fesch (Hg.), Humanismus und Reformation. Martin Luther und Erasmus in den Konflikten ihrer Zeit, München — Zürich 1985. Siehe auch: Hermann Ehmer, Martin Luther und der Oberrhein, in: ZGO 132, 1984, 135-152. 4 Vgl. Dieter Mertens, Humanismus und Reformation am Oberrhein, in: Luther und die Reformation am Oberrhein, wie Anm. 2, 48. 5 Wimpfeling an Sixt Hermann, 2. 11. 1524: C. Varrentrapp (Hg.), Zwei Briefe Wimpfelings, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 16, 1896, 288; Otto Herding — Dieter Mertens (Hg.), Jakob Wimpfeling. Briefwechsel, München 1989 (im Druck) Nr. 357. 6 Jacobi Wimphelingi de integritate libellus, Argentorati 1505. Zu Sturm vgl. Georges Livet u. a., in: Georges Livet — Francis Rapp — Jean Rott (Hg.), Strasbourg au coeur religieux du XVIe si&le, Strasbourg 1977, 207 ff. Die Kirche am Oberrhein 25 I.

Die Kirche am Oberrhein als Ort der Reform

a) Der Raum und seine Bedingungen'

Der oberrheinische Raum ist für den Historiker ein äußerst komplexes, pro- blematisches Gebilde, das in vager Beschreibung von Basel bis Mainz zu denken ist und sich politisch, wie überhaupt der deutsche Südwesten, als vielfältig darstellt. Größere Mächte waren Vorderösterreich mit den Schwer- punkten Sundgau und Breisgau sowie als Gegengewicht die später calvinisti- sche Kurpfalz. Als weitere Kräfte sind die Markgrafschaft Baden, die geistli- chen Hochstifte, Reichsstädte wie das bedeutende Straßburg oder der Zusam- menschluß der elsässischen Dekapolis zu nennen. Dazu kamen Reichsklöster, die Reichsritterschaft in der Ortenau und im Elsaß und eine Reihe weiterer Herrschaften, die nicht alle aufgezählt werden sollen. Die politische Komplexität, nach der sich später unter dem Zwang der Ter- ritorialisierung des Glaubens die jeweilige Konfession richten sollte, bedingte unterschiedliche Bewußtseinslagen: reichische Gesinnung z. B. im Elsaß, bür- gerlich-kommunales Bewußtsein in Städten wie dem seit 1501 zur Eidge- nossenschaft gehörigen Basel oder territoriales Denken konnten sich am Oberrhein entwickeln. Eine gewisse Vereinheitlichung erhielt diese Region durch die neue Öffentlichkeit, welche aufgrund der oberrheinischen „Druckerlandschaft" möglich war. Basel und Straßburg erwiesen sich als füh- rende Zentren des deutschen Buchdrucks. Sie wurden komplementiert von zahlreichen anderen Städten: Hagenau, Pforzheim, Schlettstadt, Heidelberg, Mainz, Worms, Speyer, Freiburg, Colmar, Konstanz – um nur die wichtigsten zu nennen'. Diese Infrastruktur war in der Lage, durch Bücher, Flugblätter und Bilddrucke eine Kultur zu schaffen, die es gestattet, die Kirche am Oberrhein einheitlicher als es die jurisdiktionelle oder politische Lage vermuten läßt, zu betrachten. Dazu kamen bedeutende Schulen g. Schlettstadt, seit Ludwig Dringenberg methodisch und inhaltlich führend, dürfte die bekannteste sein. Von den zahl-

' Aus der zahlreichen Lit. sei genannt: Remigius Bäumer — Karl Suso Frank — Hugo Ott (Hg.), Kirche am Oberrhein. Beiträge zur Geschichte der Bistümer Konstanz und Freiburg (= FDA 100), Freiburg 1980; Volker Press — Eugen Reinhard — Hansmartin Schwarzmaier (Hg.), Barock am Oberrhein, Karlsruhe 1985; Hans Maier — Volker Press (Hg.), Vorderösterreich in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1989. 8 Vgl. die folgenden Anmerkungen sowie Peter G. Bietenholz, Basle and France in the 16th Century. The Basle Humanists and Printers in their Contacts with Francophone Culture, Genve 1971; Peter Johanek, Historiographie und Buchdruck im ausgehenden 15. Jhdt., in: Kurt Andermann (Hg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988, 89-120. 9 Vgl. Joseph Knepper, Das Schul- und Unterrichtswesen im Elsaß von den Anfängen bis gegen das Jahr 1530, Straßburg 1905, sowie die jeweilige regionale Literatur. 26 Heribert Smolinsky reichen anderen sei nur Pforzheim genannt, wo z. B. die Reformatoren Philipp Melanchthon und Kaspar Hedio zur Schule gingen. Die Intensität der ober- rheinischen Lateinschulen läßt sich daran ablesen, daß in Straßburg von 1481 bis 1518 einunddreißig verschiedene Grammatiken und Lehrbücher gedruckt wurden10. Schließlich gab es die Rheinschiene entlang die oberrheinischen Universitäten Basel, Freiburg, Heidelberg und Mainz, deren geistiges Leben zwar zu je verschiedenen Zeiten unterschiedlich intensiv war, die aber eine Möglichkeit der Studenten- und Professorenmigration boten, wie sie die Humanisten liebten. Als 1529 die Stadt Basel endgültig die Reformation ein- führte, konnte Freiburg z. B. nicht nur für Erasmus von Rotterdam, sondern auch für Professoren und Studenten der Basler Universität neuer Wohn- und Studienort werden11. Theoretisch hätte sich dieses vielfältige Spektrum der oberrheinischen Kultur in die verschiedensten Richtungen entfalten können. Eine einlineare Entwicklung war bei der Vielfalt von vornherein nicht zu erwarten. Für die Kirche am Oberrhein wurden folgende Faktoren entscheidend: einmal die erste Welle des oberrheinischen Humanismus; zweitens die Beeinflussung und Umformung dieses Humanismus durch die Übersiedlung des Erasmus nach Basel; drittens eine durch die großen Konzilien von Konstanz und Basel im 15. Jahrhundert gebildete Reformfreudigkeit, die z. B. die synodale Aktivität im Bistum Basel beeinflußte und sich zudem mit dem wachsenden bürgerlichen Bewußtsein des Spätmittelalters und der damit verbundenen Laienfrömmig- keit und -emanzipation verbinden konnte. Im Blick auf die spätere Reforma- tion ist schließlich als ein wichtiger Faktor, der die Resonanz reformerischer und reformatorischer Ideen erklärt, ein starker Antiklerikalismus zu nennen, den der französische Historiker Francis Rapp in einer imponierenden Studie für das Bistum Straßburg nachgewiesen hat. Er zeigte, daß die Pfründenkumu- lation und die bedenklichen Wirtschaftspraktiken des Klerus z. B. in bezug auf den Zehnten »systembedingt" waren, d. h. abhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur und dem damaligen Preisverfall. Kritiker am Pfründensystem wie Jakob Wimpfeling erkannten das eigentliche Problem nicht, sondern suchten, moralische Ursachen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß Leute wie Wimpfe- ling gleichzeitig selbst mehrere Pfründen besitzen mußten, um leben zu kön- nen12.

10 Miriam Usher Chrisman, Bibliography of Strasbourg Imprints 1480-1599, New Haven — London 1982,109-111. 11 Vgl. die jeweiligen Universitätsgeschichten sowie Anton Schindling, Die katholische Bildungsreform zwischen Humanismus und Barock. Dillingen, Dole, Freiburg, Molsheim und Salzburg, in: Maier — Press, wie Anm. 7,137-176 (allerdings mit einem Schwerpunkt auf der späteren Zeit). 12 Vgl. Francis Rapp, Reformes et Reformation ä Strasbourg. Eglise et societe dans le diocse de Strasbourg (1450-1525), Paris 1974; Ders., Die elsässischen Humanisten und die geistliche Gesellschaft, in: Die Kirche am Oberrhein 27 b) Neues religiöses Bewußtsein als Folge der Druck- und Buchproduktion

Ein erstes Mittel, reformerische Impulse für Theologie und Frömmigkeit zu geben, war die Druck- und Buchproduktion, deren Wert für die Bildung eines öffentlichen Bewußtseins in der frühen Neuzeit heute immer deutlicher er- kannt wird. Was stellte man in der „Druckerlandschaft Oberrhein" her; was wurde verkauft und gelesen? Leider fehlen umfassende Studien, was vor allem für den wichtigen Basler Druck bedauerlich ist. Deshalb müssen wir uns auf das gut erforschte Straßburg paradigmatisch beschränken. Hier hat neben den großen Hilfsmitteln des „Repertoire bibliographique des livres imprimes en France au seizieme siede" besonders die englischsprachige Forschung, die weit stärker als die deutsche an den Strukturen der Kommunikation interes- siert ist, wertvolle Arbeit geleistet. Für Straßburg kann man sich auf die Untersuchungen von Miriam Usher Chrisman stützen, vor allem auf ihr 1982 erschienenes Buch „Lay Culture, Learned Culture. Books and Social Change in Strasbourg" (New Haven – London), zusammen mit der parallel herausge- brachten systematischen Bibliographie der Straßburger Drucke14. Der Straßburger Buchmarkt entwickelte sich bis ca. 1520, also bis zur begin- nenden Reformation, nicht durch eine Steuerung von oben, sondern nach den Interessen der Drucker, was die Eigengesetzlichkeit von Angebot und Nach- frage mit einschließt. Gleichzeitig ist der Einfluß des oberrheinischen Huma- nismus auf diesen Bereich zu beachten. Bedeutende Drucker wie Matthias Schürer standen mit den Humanisten in engen Kontakten, so daß deren Ideen indirekt auf den Buch- und Lesemarkt und damit die Formung der Frömmig- keit einwirkten. Die Reformation bediente sich später einer direkten Steuerung der Druckproduktion und machte sie sich als Mittel der Beeinflussung gezielt dienstbar15. Als erstes zeigt sich in den Jahren zwischen 1480 und 1520 eine interessante Gesamttendenz. Zwar war immer die religiöse Literatur vorherrschend, aber

Otto Herding — Robert Stupperich (Hg.), Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, Boppard 1976, 87-108. Allgemein zum Antiklerikalismus: Bob Scribner, Antiklerikalismus in Deutschland um 1500, in: Ferdinand Seibt — Winfried Eberhard (Hg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, Stuttgart 1987, 368-382. 13 Josef Benzing — Jean Muller, Bibliographie Strasbourgeoise. Bibliographie des ouvrages imprimes ä Strasbourg au XVIe siede. 3 Bde., Baden-Baden 1981-1986. Das Übergewicht Straßburgs läßt sich im Vergleich mit dem dazu unwesentlichen Hagenauer Druckwesen erkennen. Vgl. Josef Benzing, Bibliogra- phie Haguenovienne. Bibliographie des ouvrages imprimes ä Hagenau au XVIe si&le, Baden-Baden 1973. 14 New Haven — London 1982; Dies., Bibliography, wie Anm. 10. 15 Vgl. Chrzsman, Lay Culture, wie Anm. 14, 81. Zur Funktion des Druckes vgl. Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-modern Europe. 2 Bde., Cambridge u. a. 1979; Richard A. Crofts, Printing, Reform, and the Catholic Reformation in Germany (1521-1545), in: The Sixteenth Century Journal 16, 1985, 369-381; Mark U. Edwards, Jr., Catholic Controversial Literature, 1518-1555. Some Statistics, in: Archiv für Reformationsgeschichte 79, 1988, 189-205. 28 Heribert Smolinsky in diesem Zeitraum war ihr Gesamtanteil in einem kontinuierlichen Abstieg begriffen. Er betrug von 1480-1489: 60%; von 1500-1509: 34%; von 1509-1520 nur noch 23%. Man muß sich hüten, aus diesen Zahlen weitreichende Schlüsse zu ziehen. Die Auflagenstärke von Büchern ist z. B. schwierig zu ermitteln, und die Titelzahl, von der hier ausgegangen wird, ist allein nicht aussagekräftig. Für unser Thema ist deshalb eine zweite Beobachtung für die Situation charakte- ristischer. Bis ca. 1500 dominierte bei der religiösen Buchproduktion die mittelalterliche Literatur. Nach diesem Zeitpunkt traten zeitgenössische Au- toren in den Vordergrund. Die Entwicklung zeigte eine doppelte, innerlich zusammenhängende Richtung: Einmal hin zu einer stärkeren „Professionali- sierung" des Klerus, und zweitens eine Tendenz zur verstärkten, durch die Volkssprachlichkeit geförderten Laienfrömmigkeit. Beides deckt sich mit dem für diese Zeit allgemein feststellbaren individualisierten Heilsverlangen, das vor allem im städtischen Bürger- und Handwerkertum vorhanden war. Damit verbanden sich wachsende Ansprüche an den klerikalen Bildungsstand, dem umgekehrt die genannte „Professionalisierung" entsprach". In Straßburg erschien eine Fülle von Predigtliteratur, zuerst im Rückgriff auf Autoren wie die dem Dominikaner Petrus de Palude zugeschriebenen Sermo- nes oder die Predigten Vinzenz Ferrers". Nach 1500 dominierten mit großem Abstand die zahlreichen Ausgaben der Predigten des berühmten Straßburger Münsterpredigers Geiler von Kaysersberg, die sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache erschienen". Solche Texte konnten dem Kleriker die eigene Predigttätigkeit anregen und von gebildeten Laien gelesen werden. Direkt bezogen auf die bessere Ausbil- dung des Klerus waren Drucke wie das Confessionale des Antonin von Florenz, von dem 1484-1499 sechs verschiedene Ausgaben gedruckt wurden19. Das berühmte „Manuale Curatorum" des Baslers Ulrich Surgant, eine zentra- le Hilfe für den Prediger, brachte man in Straßburg 1506, 1516 und 1520 heraus, nachdem es 1503 in Basel erstmals erschienen warm. Die Erbauungs-, Betrachtungs- und Gebetbücher nahmen ab 1500 zu. Neben den und mehr als die Predigten waren sie geeignet, eine spezifische Lai- enfrömmigkeit zu fördern. 1501 kam eine erste deutsche Fassung des aus der

16 Zur Laienbildung und Volkssprache vgl. Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11, 1984, 257-354; Ders., Volkssprache als Element gesellschaftlicher Integration und Ursache sozialer Konflikte, in: Seibt — Eberhard, wie Anm. 12, 468-495. 17 Chrisman, Bibliography, wie Anm. 10, 11 ff. " Ebd., 15-17; vgl. Francis Rapp, Geiler von Kaysersberg, in: Theologische Realenzyklopädie 12, 1983, 159-162. 19 Chrisman, Lay Culture, wie Anm. 14, 83 ff. 20 Ebd., 91. Die Kirche am Oberrhein 29 oberrheinischen Spiritualität stammenden „Hortulus animae" auf den Markt. Kurze Zeit später fertigte ebenfalls eine deutsche Übersetzung an. Diese „Anthologie von Gebeten" hat im gesamten Druckwesen von 1498-1523 nach heutiger Zählung 103 Editionen erreicht. Ein guter Teil davon erschien in Straßburg. An der Gestaltung der beigegebenen Bilder haben die Straßburger ebenfalls großen Antei121. Für die religiöse Gebrauchsliteratur gab es deutsche Sterbebücher, Gebets- und Gebotslehren, einen deutlichen Schwerpunkt auf marianischen Texten sowie den Druck geistlicher Lieder. Es existierten barocke Titel wie „Von dem kremer Cristi, was er guttes zu vorkauffen hat", 1510 bei Hupfuff erschienen22. Wichtiger war es, daß man die Bibel auf vielfältige Weise zugänglich machte. Beliebt war die Verkündigung Mariens, die Betrachtung der Passion in Wort und Bild, z. B. das 1503 und 1517 erschienene „Das Büchlin wirt genant die Hymelisch Funtgrüb... betrachten das Lyden Cristi unsers lieben herren"; die „Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz" u. ä. 23. Die Druckuntersuchung läßt den Indizienschluß zu, daß der Rückgriff auf die Bibel die Heiligenlegenden zurückdrängte. Als ab 1515 der Bibelhumanismus, vor allem repräsentiert in Erasmus von Rotterdam, mit seinen Schriften auf den Markt kam, konnte er auf dieser biblischen Volksliteratur aufbauen, die das Interesse für die Sache der Schrift geweckt hatte. Bei der Analyse der religiösen Literatur könnte sich der Schluß nahelegen, aus ihr die spezifische Frömmigkeit der Kirche am Oberrhein abzuleiten. Vor einer solchen Vereinfachung ist zu warnen. Ob das Beispiel Straßburg reprä- sentativ ist, wäre noch zu erweisen. Schwerer wiegt der Einwand, daß es kaum möglich ist, den Rezipientenkreis dieser Drucke zu ermitteln. Wie weit ent- sprechende Leser, z. B. auch Pfarrer, das Gelesene mündlich weitergaben, ist eine zusätzlich offene Frage. Schließlich müßte die gesamte Frömmigkeitspra- xis der Zeit herangezogen werden, bei der eine Intensivierung angenommen werden darf. Trotz der Bedenken soll die These gewagt werden, daß es sich bei dieser Entwicklung um eine reformerische Veränderung handelte. Die Titelzahl der gesamten Literatur beweist zumindest, daß ein Lesepublikum vorhanden war. Auch damals druckte man für den Verkauf, nicht für das Lager. Die innere Entwicklung läßt vorsichtige Schlüsse auf eine Änderung der „Geschmacks- richtung" zu. Moralisch gefärbte Reform, Bibelnähe und Stärkung der Laien- frömmigkeit sind die Stichworte. Glaubt man Geiler von Kaysersberg, der bis 1510 Münsterprediger in Straßburg war, dann entsprach der Reformforderung

21 Ebd., 88; vgl. M. Consuelo Oldenbourg, Hortulus animae. Bibliographie und Illustration, Hamburg 1973. 22 Chrisman, Bibliography, wie Anm. 10, 22. 23 Ebd., 22, 24. 3 0 Heribert Smolinsky seiner Predigten zwar nicht ein Reformwille der Massen. Aber die Auflagen- zahl seiner Opera – nach Chrisman erreichten die Predigten 47 Auflagen – beweist, daß er nicht wirkungslos war24. Geiler war kein Humanist, und die Masse der gedruckten religiösen Litera- tur braucht nicht der humanistischen Reform zugeschrieben zu werden. Sie völlig davon losgelöst zu sehen, wäre aber falsch. Schon die enge Verflechtung von Druckern und Geilers von Kaysersberg mit den Humanistenkreisen um Wimpfeling zeigt, daß man von einem ineinander geschobenen Beziehungsge- flecht sprechen kann, aus dem man allerdings die eigentliche humanistische Reform herauspräparieren kann.

c) Die erste Welle der humanistischen Reform

„Bin ich ein Ketzer, so bin ich es durch Euch geworden", hatte Jakob Sturm 1524 seinem Lehrer Wimpfeling vorgeworfen. Damit sprach er die zentrale Gestalt der ersten Welle des oberrheinischen Humanismus an und machte dessen Reformprogramm für seine eigene Entscheidung zur Reformation verantwortlich. Die Schlußfolgerung dürfte vor einem kritischen Urteil un- haltbar sein, aber sie reizt dazu, einen Blick auf die reformerisch-humanisti- schen Ansätze zu werfen, für die Wimpfeling das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel ist. Es ist an dieser Stelle unmöglich, das Gesamtfeld des oberrheinischen Hu- manismus abzustecken, dessen hohe Wertigkeit im Kontext der deutschen humanistischen Bewegung unbestreitbar ist. Schwerpunkte befanden sich schon früh in Basel, dem Ort des „Humanistenkonzils", in dem Kreis um Heynlin von Stein und im Umfeld der Schlettstädter Lateinschule mit Wimpfe- ling, Beatus Rhenanus und vielen anderen. In Heidelberg existierte die Soda- litas Litteraria Rhenana, welche später in der Straßburger literarischen Sodali- tät eine Art Fortsetzung fand. In Freiburg waren der Kartäuser und der Jurist zentrale Vertreter des Humanismus". Mit ihren Briefen, Predigten, Satiren, Erziehungsschriften, Kirchenväter- editionen, Gedichten u. a. arbeiteten die oberrheinischen Humanisten an der Bildung einer öffentlichen Meinung. Die enge Verbindung zu den Druckern, um die herum sich bei Froben und Amerbach in Basel oder Matthias Schürer

24 Chrisman, Lay Culture, wie Anm. 14, 88. 25 Zu Reisch fehlt eine umfassende Biographie. Vgl. PaUmon Basun, Chartreuse du Mont S. Jean Baptiste prs de Fribourg en Brisgau 1345-1782, Salzburg 1987, 17-19. Zu Zasius vgl. Steven Rowan, Ulrich Zasius. A Jurist in the German Renaissance, 1461-1535, Frankfurt 1987. Siehe auch Rapp, wie Anm. 12; Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386-1986, Berlin u. a. 1986, 22 f.; August Riiegg,Die beiden Blütezei- ten des Basler Humanismus, Basel 1960; H. R. Guggisberg, Basel in the Sixteenth Century. Aspects of the City Republic before, during, and after the Reformation, St. Louis, Missouri 1982. Die Kirche am Oberrhein 31 in Straßburg Humanistenkreise gruppierten, erlaubte ihnen Einfluß auf die jeweiligen Publikationen. Ihre Reformvorschläge für die Schulen und Univer- sitäten zeigten ihr Interesse an Bildung und Erziehung 26 . Der oberrheinische Humanismus ist gekennzeichnet durch einen pädagogischen Optimismus, der auch sein kirchliches Reformprogramm charakterisiert und in dem Erziehung, Schule, Bildung tragende Säulen waren. Jakob Wimpfeling gab dem in seiner Schrift „Isidoneus Germanicus" Ausdruck, als er schrieb: „Das wahre Funda- ment unseres Glaubens, die Begründung jedes anständigen Lebens, die Ehre jedes Standes, das Gedeihen des Gemeinwohls, die Kenntnis der heiligen Schriften und der guten Wissenschaften, der Sieg über die Leidenschaften hängen alle nur von der Unterweisung ab, die man Kindern von klein auf angedeihen läßt"27. Diese Pädagogik war nicht ziellos, sondern auf den guten sprachlichen Stil ausgerichtet, der eng mit der Moral verknüpft war. Zwar gehörte der Zusam- menhang zwischen Moral und Rhetorik, Sprache und Vermittlung von Werten zu einer allgemein humanistischen Erkenntnis, aber für die oberrheinische Reform im Rahmen ihres pädagogischen Programms, das auf die Heranbil- dung von Staats- und Kirchendienern abzielte, verstärkte sich dieser Aspekt. Moralisch argumentierte auch das weitere Umfeld dieses Humanismus. Das gilt für Geiler von Kaysersberg oder den zeitlich späteren Franziskaner Tho- mas Murner, der die Predigten Geilers unter der literarischen Form der Nar- rensatire fortsetzen wollte, also Geiler und Sebastian Brant sozusagen mitein- ander verschmolz". Inhaltlich zielte die humanistische Reform auf die erhöhte Qualität vor allem der Weltgeistlichen und die Verbesserung der Seelsorge. Wimpfeling arbeitete auch konkret an einer Reform der Liturgie29. Die nationale Kompo- nente des oberrheinischen Humanismus floß in seine Kritik an der römischen Stellenbesetzungspraxis ein, indem er mit der Satire „Stylpho" die sog. römi- schen Curtisanen lächerlich machte". Atmosphärisch hat die damalige Praxis, sich im kurialen Umfeld die deutschen Pfründe zu besorgen, wesentlich zur Vorbereitung der Reformation beigetragen.

26 Vgl. Heribert Smolinsky, Der Humanismus an Theologischen Fakultäten des katholischen Deutsch- land, in: Gundolf Keil – Bernd Moeller – Winfried Trusen (Hg.), Der Humanismus und die oberen Fakultäten, Weinheim 1987,21-42. 27 Zit. bei Paul Adam, Der Humanismus zu Schlettstadt. Die Schule – Die Humanisten – Die Bibliothek, Obernai o. J., S. 41. Vgl. auch Otto Herding (Hg.), Jakob Wimpfelings Adolescentia, München 1965. 28 Vgl. Rapp, wie Anm. 18; . Elsässischer Theologe und Humanist, 1475-1537. Ausstel- lungskatalog Bad. Landesbibliothek Karlsruhe – Bibliothque nationale et universitaire de Strasbourg, Karlsruhe 1987. 29 Vgl. Rainer Donner, Jakob Wimpfelings Bemühungen um die Verbesserung der liturgischen Texte, Mainz 1976. " Jakob Wimpfeling, Stylpho, hg. Harry C. Schnur, Reclams Universalbibliothek Nr. 7952, Stuttgart 1971. 32 Heribert Smolinsky Es ist typisch für diese reformerischen Kreise des oberdeutschen Humanis- mus, daß sie sich um eine Rezeption der auf die Praxis und das Affektive zielenden Theologie des Pariser Theologen Johannes Gerson bemühten. Gei- ler von Kaysersberg und der Freiburger Theologieprofessor Johannes Brisgoi- cus, der die französischsprachigen Texte bearbeitete, schufen eine deutsche Übersetzung der Gersonschen Vorlagen, die wesentlich zur Vermittlung von dessen Gedankenwelt beitragen konnte. Nimmt man die Gerson-Rezeption als einen zentralen Punkt in dem Re- formbestreben des oberrheinischen Humanismus und versucht man eine vor- sichtige theologiegeschichtliche Einordnung, dann kann man diese Ansätze der sog. „Frömmigkeitstheologie" zuordnen, wie sie seit neuestem als eine typische Erscheinungsform kurz vor der Reformation herausgearbeitet wur- de. Sie war eine „praktisch-seelsorgerliche Theologie", deren Hauptintention „sich auf die rechte Gestaltung christlichen Lebens" richtete". In dieses Umfeld paßt auch die antischolastische Richtung der Reformer, die in den Spekulationen der spätmittelalterlichen Scholastik nur Lebensferne sahen. Es legt sich nahe, daß solche Konzeptionen eine Affinität zur Laienfröm- migkeit hatten und die entsprechende Literatur, von der gesprochen wurde, ergänzten. So konnte sich am Oberrhein eine aufgeschlossene Atmosphäre bilden, die zwar nicht an der alten Ordnung rühren und bei Wimpfeling den Laien vom Klerus geführt wissen wollte, aber den neuen reformatorischen Ideen gegenüber offen war.

d) Erasmus am Oberrhein"

Mit Erasmus von Rotterdam erreichte die humanistische Reform am Ober- rhein eine neue Qualität. 1514 besuchte er Basel, 1516 erschien dort bei Froben die erste Ausgabe des kritischen Textes des Neuen Testaments. Ab 1521 siedelte Erasmus ganz nach Basel über. Acht Jahre später, im April 1529, kam er wegen der Reformation in Basel nach Freiburg, wo er einige Zeit im „Haus zum Walfisch" wohnte und sich 1531 in der Schiffgasse 7 mit dem „Haus zum

" Vgl. Herbert Kraume, Die Gerson-Übersetzung Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschspra- chigen Gerson Rezeption, München 1980; Mertens, wie Anm. 4, 48. 32 Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982, V. " Vgl. Gerhard Ritter, Erasmus und der deutsche Humanistenkreis am Oberrhein, Freiburg 1937; Mertens, wie Anm. 4; Ernst-Wilhelm Kohls, Die theologische Lebensaufgabe des Erasmus und die oberrhei- nischen Reformatoren. Zur Durchdringung von Humanismus und Reformation, Stuttgart 1969; Cornelis Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München 1986; Ders., Erasmus und die Reformation in der Schweiz, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 86, 1986, 27-42; Lion E. Halletn, Erasme parmi nous, Paris 1987 (deutsche Fassung: Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie, Zürich 1989). Die Kirche am Oberrhein 33 Kindlein Jesu" eine eigene Wohnung kaufte. Ein Jahr vor seinem Tod, 1535, ging er nach Basel zurück. Am 15. Juli 1529 hat er die oberrheinischen Städte, in denen er so lange wohnte, in einem Brief an Willibald Pirckheimer beschrie- ben: „Fünfzehn Jahre sind es her, da begann ich mit Basel in Verbindung zu treten...; schließlich habe ich etwa acht Jahre dort ständig Gastfreundschaft genossen, angenehm und gut... die Stadt (war) für mich nahezu eine zweite Heimat geworden..." Zu Freiburg, wohin er kurz vorher gekommen war, hieß es: „Hier in Freiburg ist bisher alles nach Wunsch gegangen"34. Dem Oberrhein ist Erasmus bis zu seinem Tode treu geblieben. Die Einbindung in die dortigen Humanistenkreise dokumentiert sein ausge- dehnter Briefwechsel. Seit 1511 stand er mit Jakob Wimpfeling in Kontakt, wobei die Zahl der Briefe im Vergleich mit anderen spärlich blieb". Ab 1514 ist die Korrespondenz mit zwei Freiburgern, dem Kartäuser Gregor Reisch und dem Juristen Ulrich Zasius, feststellbar. Seit 1515 korrespondierte er mit Beatus Rhenanus, dem Benediktiner Paul Volz und mit Nikolaus Gerbel; ab 1516 mit Wolfgang Capito und Heinrich Glareanus, der 1529 ebenfalls Basel verließ und nach Freiburg kam. Mit dem Basler Bischof Christoph von Utenheim gibt es einen Briefwechsel seit 1517, und ab 1520 läßt sich eine sehr intensive Korrespondenz mit dem Konstanzer Domherrn Johannes Botzheim feststellen36. Die Liste ließe sich weiterführen. Teilt man die Briefpartner des großen Literaten Erasmus, dessen Wirkung in der Schriftlichkeit zu liegen scheint, in Gruppen ein, dann ist zusammen mit England und dem niederländischen Gebiet der Oberrhein die dritte Region, die für ihn von zentraler Bedeutung war. Es ist zu fragen, welche Reformideen der große Humanist, den Bucer 1518 ganz mit Luther gleichsetzte, in die oberrheinische Kirche einbrachte. Grundsätzlich gab es Gleichartigkeit oder Ähnlichkeiten. Der pädagogische Sinn, die moralische Ausrichtung, der Rückgriff auf die Quellen waren allen gemeinsam. An einer Verbesserung der Seelsorge war Erasmus ebenfalls inter- essiert. Aber in vielen Punkten ging er über die bisherigen Ideen hinaus. Man kann ihn als Bibelhumanisten bezeichnen, der die Heilige Schrift textlich, methodisch und inhaltlich neu erschloß. Die Druckmöglichkeiten des Ober- rheins waren dabei für ihn eine unentbehrliche Basis. In Basel erschien 1516 die erste kritische Edition des griechischen Neuen Testamentes. Oberrheinische

" Walther Köhler — Andreas Flitner (Hg.), Erasmus von Rotterdam, Briefe, Darmstadt 1986 (Nachdr. der 3. Aufl. Bremen 1956), 467, 468; Allen (Hg.), Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 12 Bde., Oxford 1906-1958, Nr. 2196. " Vgl. Otto Herding, Wimpfelings Begegnung mit Erasmus, in: Klaus Heitmann — Eckhart Schroeder (Hg.), Renatae litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance, Frankfurt 1973, 133-155; Herding — Mertens, wie Anm. 5, Nr. 280; Allen, wie Anm. 34, Nr. 224. 36 Die Nachweise sind über den Registerband von Allen, wie Anm. 34, zu führen, so daß auf eine langatmige Aufzählung verzichtet werden kann. Es wurde eine vollständige Auswertung durchgeführt. 3 4 Heribert Smolinsky Humanisten hatten geholfen: Nikolaus Gerbel aus Pforzheim, Wolfgang Capito, Johannes Oekolampad und Ludwig Ber. In der „Ratio seu Methodus" schuf Erasmus eine methodisch-hermeneutische Anleitung zum Schriftstu- dium. Die christologisch zentrierte ethische Auslegung stand im Mittelpunkt. Seine Idee war die „philosophia christiana", der von der Bibel belehrte und in ihr gelehrte Christ, welcher die Ethik des NT lebte. Theologie sollte nicht klerikal eingeschränkt sein, sondern für Erasmus galt: „Gelehrt zu sein ist wenigen gegeben, aber niemandem ist es verboten, Christ zu sein, niemandem, fromm zu sein, und ich wage noch kühner hinzuzufügen: Niemandem ist es verboten, ein Theologe zu sein" 37. Er plädierte für die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und steigerte: „Ich würde wünschen, daß alle Weiblein das Evangelium lesen, auch daß sie die Paulinischen Briefe lesen"" . Man sollte diese Sätze nicht überschätzen. Es schrieb sie ein Mann, der selbst nie ein einziges Wort in einer lebenden Sprache publizierte. Die „Paraclesis", aus der die Zitate stammen, kam erst 1520 in Augsburg und Straßburg in einer deutschen Übersetzung heraus". Aber die oberrheinischen Humanisten konn- ten Erasmus lesen. Die Sprengkraft der Gedanken hätte ihnen klarwerden können, wenn sie an das Edikt des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henne- berg vom 22. März 1485 dachten, der Übersetzungen theologischer Werke in die Volkssprache verbot'''. Geiler von Kaysersberg hatte noch gepredigt: „Es ist fast ein böß Ding, daß man die Bibel zu tütsch druckt... "41 . Jetzt klang es anders und für einen suchenden gebildeten Laien einleuchtender. Die Bibel erwies sich für Erasmus als ein Instrument, das für Reform und Kritik gleichermaßen geeignet war. Komplementär dazu brachte er die großen Kirchenvätereditionen heraus, welche die Schrift im Spiegel der Tradition auslegten. Bei allem Plädoyer für eine einfache Theologie war er nie für Primi- tivität oder das Aufgeben der christlichen Auslegungsgeschichte und ihres hohen Stellenwertes. Die Zusammenarbeit mit ihm regte die oberrheinischen Humanisten an, was sich in der Buchproduktion niederschlug. Als Beispiel sei Beatus Rhenanus und dessen Kirchenvätereditionen genannt". Ab 1511 fand Erasmus auch Resonanz bei Wimpfeling, der das „Encomium moriae", das

" Erasmus, In Novum Testamentum Praefationes, in: Paraclesis. Übers. von Gerhard B. Winkler: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften Bd. 3. Hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1967, 23. 38 Paraclesis, wie Anm. 37, 15. " Vgl. Heinz Holeczek, Erasmus deutsch. Bd. 1: Die volkssprachliche Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 1519-1536, Stuttgart 1983, 289 f. Irmgard Bezzel, Eras- musdrucke des 16. Jahrhunderts in Bayerischen Bibliotheken, Stuttgart 1979, Nr. 1423-1428. " Vgl. Schreiner, Laienbildung, wie Anm. 16, 299. 41 Zit. bei Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1, Freiburg 9. Aufl. 1883, 611. 42 Vgl. oben Anm. 3; Robert Walter, Un amitie humaniste: Erasme et Beatus Rhenanus: Les amis de la Bibliotheque Humaniste de Selestat (Hg.), Annuaire 36, 1986, 13-23. Die Kirche am Oberrhein 3 5 geistvolle „Lob der Torheit", herausbrachte. Erasmus hatte paulinische Er- kenntnis und satirische Kritik dort in die literarische Gestalt der Narrenlitera- tur, wie sie Sebastian Brant hoffähig gemacht hatte, gegossen. Verstanden haben das Buch damals wie heute die wenigsten. Es ist zu fragen, wieweit Wimpfeling zu ihnen zählte. Auf eine innere Gleichartigkeit zu schließen, wäre jedenfalls voreilig. Erasmus war kritischer als die erste Welle des oberrheini- schen Humanismus, griff theologisch tiefer, dachte bibelnäher, hatte einen pla- tonisierenden Hintergrund und argumentierte von einem christologischen Mittelpunkt her. Dem Laien gab er eine höhere eigene Wertigkeit. Vom oberdeutschen Humanismus unterschied ihn auch, daß er nicht kaiserlich- national dachte. Aus der Sicht des Historikers richtiger sah er die Zukunft in einer sinnvollen Balance territorialer Mächte, nicht in der Monarchia univer- salis des Kaisers".

II.

Die spannungsreiche Einheit und ihr Zusammenbruch

Wie jedes Denken, das auf Veränderung drängt, schuf die humanistische Reform eine Spannung. Sie ergab sich aus dem neuen Umgang mit der Bibel und den genannten Tendenzen der religiösen Buchproduktion, aus der vielfäl- tig vorhandenen Kritik, den inneren Zwistigkeiten zwischen Welt- und Or- densklerus u. a. Wieweit die erasmianischen Gedanken eine Spannung in den oberrheinischen Humanismus selbst hineintrugen, ist schwer zu entscheiden. Die Differenzen zeigen sich eher in der Retrospektive. Sicher spürte man die Unterschiede zwischen den Reformgedanken, dem Ablehnen jeder Änderung, den bedrohten Traditionen und den wirtschaftlichen Sachzwängen, die eine Reform verhinderten. Erasmus hat einen Teil der Probleme in einem Brief an Johannes Botzheim angesprochen, den er am 13. August 1529 aus Freiburg schrieb. Darin sah er die Reformunwilligkeit als Grund für die Reformation an. „Einen ziemlich bedeutenden Anlaß zu diesen Wirren haben gewisse Leute gegeben, die das Seil übermäßig strafften und es damit lieber zum Reißen bringen wollten, als es lockern und dadurch erhalten. Dem römischen Papst ...gebührt sehr viel Ehre; steigert man aber diese (päpstliche) Gewalt ins Unermeßliche, so hat man dieses Seil wenn nicht zerrissen, so doch sicher

" Vgl. Herding, wie Anm. 35, 140 ff. 44 Vgl. Dieter Mertens, Maximilian I. und das Elsaß, in: Herding — Stupperich, wie Anm. 12, 177-201; Franz Bosbach, Die Propaganda Karls's V. in der Kritik des Erasmus, in: Res Publica Litterarum 11, 1988, 27-47. 36 Heribert Smolinsky angerissen". Ähnliche Beispiele für die Reformunwilligkeit folgen in dem Brief. Das war keine objektive Darstellung der Ursachen der Reformation, spiegelte aber eine zeitgenössische Atmosphäre, die sich bewußt war, daß gut begründete Kritik an Lehre und Praxis der Kirche und das Selbstbewußtsein vieler Christen mit einem Teil des kirchlichen Lebens nicht mehr überein- stimmten. Die Kirche am Oberrhein hielt diese Spannung aus, obwohl es wegen der fehlenden Umkehr schon bei Geiler von Kaysersberg Zeichen der Resignation gab. Als Martin Luther seine Ablaßkritik und in Heidelberg seine theologi- schen Thesen brachte, hielt man ihn, wie das Beispiel Bucer zeigte, für ein weiteres Mitglied im Chor der Reformer. Aber die Einschätzung der Lage war falsch. Was für Bucer, Wimpfeling und Sturm als Bereicherung der spannungs- reichen Einheit erschien, zerbrach langfristig die alte Ordnung. Die Geister schieden sich, und die Kirche am Oberrhein brach als Einheit auseinander. Schon in den 20er Jahren führten ihre wichtigsten Städte, Basel und Straßburg, die Reformation ein. Territorien wie Baden und die Pfalz folgten nach dem Augsburger Religionsfrieden, duldeten aber schon früh reformatorische Pre- digten46. Vorderösterreich verfolgte einen dezidiert katholischen Kurs. Paradigmatisch läßt sich der Bruch am Schlettstädter Humanistenkreis ab- lesen, wo Wimpfeling und Beatus Rhenanus die Reformation schließlich ab- lehnten, während Bucer und andere ihre Anhänger wurden. Wie scharf die Freundeskreise und Kontakte gestört wurden, ließe sich durch eine Analyse des Briefwechsels von Erasmus zeigen, wo durch den Abbruch der Korrespon- denz die neue Lage deutlich wird. Hier sei nur sein letzter Brief an Wolfgang Capito zitiert, mit dem er lange in intensivem Austausch stand. Erasmus hatte gerade die große Auseinandersetzung mit Luther in der Schrift „De libero arbitrio diatribe" aufgenommen. Sie erschien Anfang September 1524 in Basel bei Froben. Am 2. September schrieb er an Capito. In zwei kurzen Sätzen faßte er noch einmal das humanistische Reformbestreben und die neue Bewegung zusammen, festgemacht an der eigenen und der Person Capitos. Es heißt dort: „Für die Sache des Evangeliums arbeite ich viel aufrichtiger als Du glauben möchtest. Deiner Kirche werde ich nämlich niemals einen Namen geben, außer ich werde eine andere gesehen haben" 47. Das Evangelium und seine Auslegung: an diesem Punkte schieden sich die Geister.

45 Köhler – Flitner, wie Anm. 34,472 f; Allen, wie Anm. 34, Nr. 2205. 46 Vgl. Ernst Walter Zeeden, Kleine Reformationsgeschichte von Baden-Durlach und Kurpfalz, Karls- ruhe 1956; Hans-Wilhelm Rohde, Evangelische Bewegungen und katholische Restauration im österreichi- schen Breisgau unter Ferdinand I. und Ferdinand II. (1521-1595), Diss. phil. masch. Freiburg 1957; Winfried Hagenmater, Das Verhältnis der Universität Freiburg i. Br. zur Reformation, Diss. phil. Freiburg 1968; Georges Livet – Francis Rapp –Jean Rott (Hg.), wie Anm. 6,207 ff.; Gottfried W Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen – Zürich 1979,452-501; Thomas A. Brady, Jr., Turning Swiss. Cities and Empire, 1450-1550, Cambridge u. a. 1985. 47 Allen, wie Anm. 34, Nr. 1485. Die Kirche am Oberrhein 3 7 Bedeutete dieser Bruch, daß die oberrheinische Reformation im Vergleich mit der humanistischen Reform etwas völlig Neues, Andersartiges gebracht hat? Dann wäre der Satz des Jakob Sturm „Bin ich ein Ketzer, dann bin ich es durch Euch geworden", Unsinn gewesen und hätten Bucer, Wimpfeling und andere keinerlei Urteilsfähigkeit besessen. Völlig auszuschließen wäre das nicht, aber die Wahrscheinlichkeit spricht gegen eine solche Annahme. Eine Reihe von Gründen weist tatsächlich auf innere Affinitäten hin, die den An- schluß an die Reformation erleichterten. Dazu gehörte der Rückgriff auf die Bibel, die Kritik an der Theologie und kirchlichen Praxis sowie an der Über- betonung der Werke, der Sinn für die Sprachen, die Höherbewertung des Inneren vor dem Äußeren und anderes mehr. Erregender als mögliche Ähnlichkeiten ist eine andere Beobachtung. Die fundamentale Differenz, welche Erasmus in der Anthropologie festgemacht hatte, verhinderte nicht, daß Ideen des oberrheinischen Humanismus in die re- formatorische Bewegung selbst hineingetragen wurden. Es ist bekannt, wie stark erasmianisches Denken auf Zwingli wirkte'''. Bei Bucer war es ähnlich. Er übernahm das Bild der Alten Kirche als Ideal und Maßstab, die Betonung des Geistigen und die Christozentrik. Der humanistische Sinn für die res publica war ihm präsent, und seine letzte Schrift „De regno Christi" war der konkre- ten, im oberrheinischen Humanismus so beliebten christlichen Lebensord- nung gewidmet". Die Irenik Bucers und seine Arbeit für die Einheit der Kirche, die er auf den Religionsgesprächen erprobte, zeigen die Spuren des Humanismus, dessen gelehrter Vertreter er immer blieb". Bei anderen ober- rheinischen Reformatoren war es ähnlich. Es ist bezeichnend, daß Wolfgang Capito sogar 1533 die in Freiburg entstandene Arbeit des Erasmus „De sarcienda ecclesiae concordia" ins Deutsche übertrugst. So konnten und wollten die oberrheinisch-humanistischen Reformatoren ihre Herkunft nicht verleugnen. Aus dem Bruch mit der katholischen Reform- bewegung folgte nicht der völlige Untergang von deren Ideen, sondern man transponierte sie und verschmolz sie mit der Reformation. Damit formte man diese um zu einer spezifisch oberrheinischen Gestalt. Das bedeutete langfristig zweierlei: einmal Spannungen und Streitigkeiten innerhalb der Reformation selbst, wie man sie im Abendmahlsstreit austrug und wie sie im spannungsrei- chen Verhältnis zwischen Lutheranern und den humanistisch-oberrheinischen

48 Vgl. Locher, wie Anm. 46; Ulrich Gäbler, . Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 1983, 41-43. 49 Martini Buceri Opera Latina 15. Hg. v. Francois Wendel, Paris — Gütersloh 1955. Vgl. Hammann, wie Anm. 3, 75, 208 ff. 50 Vgl. Robert Stupperich, Der Humanismus und die Wiedervereinigung der Konfessionen, Leipzig 1936; Gerhard Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit, Gütersloh 1980. 51 Holeczek, wie Anm. 39, 303; Irmgard Bezzel, wie Anm. 39, Nr. 1792. 38 Heribert Smolinsky Reformatoren in Straßburg seit den 30er Jahren greifbar werden". Zwar nicht allein durch dieses Erbe, aber von ihm mitbedingt folgte ein Zweites daraus: die Vielfalt der reformatorischen Bewegung am Oberrhein. Täufer, Spiritualisten, Zwinglianer, Straßburger Reformatoren und Lutheraner gingen aus der geisti- gen Lebendigkeit der oberrheinischen Kirche hervor und bestimmten schließ- lich zusammen mit der katholischen Kirche die konfessionelle Landschaft, in deren Traditionen wir leben.

52 Vgl. Thomas A. Brady, Jr., Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg, 1520-1555, Leiden 1978.