201604_Umschlag_außen.indd 1 der Blätterder internationale und für deutsche Politik 2016 LECTURE DEMOCRACY NACH DEM NACH KAPITALIS MASON U ?! MUS PAUL Friederike Habermann DeGrowth-Expertin Haus der Kulturen der Welt, Berlin Welt, der Kulturen der Haus Chaos Computer Club Computer Chaos Rieger Frank www.blaetter.de Moderation: Moderation: Hans-Jürgen Urban Hans-Jürgen Vortrag und Debatte mit: mit: Debatte und Vortrag 5. April 2016, 19 Uhr 2016, April 5. Eintritt frei Eintritt Mathias Greffrath IG Metall IG

Blätter 4’16 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Anne-Marie Slaughter Anne-Marie Das kleinere Übel? kleinere Das Clinton vs. Trump: der Mutterschaft der Michael Brenner James Carden Carden James Der Preis Der internationale deutsche und Blätter für Politik

Christian Füller die Ideologieund Elite der Kindesmissbrauch Evi Hartmann Sklavenhalter,Wir Teil II Niggemeyer Koch Lars und Martin FlüchtlingDer als Humankapital Fratzscher Marcel Republik Chancengleichheit ohne Überall Frank Beschuss unter Journalismus Jan-Werner Müller TriumphDer desPopulismus 4’16 15.03.16 12:21 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Susanna Böhme-Kuby, geb. 1947 in Michael R. Krätke, geb. 1950 in Lüne- Hamburg, Dr. phil., Literaturwissen- burg, Dr. rer. pol., Professor für Poli- schaftlerin und Publizistin, lebt und tische Ökonomie an der Universität schreibt meist in Venedig/Italien. Lancaster/Großbritannien.

Michael J. Brenner, geb. 1941 in New Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- York, Politikwissenschaftler, Prof. em. gelheim am Rhein, Jurist und Politik- für Internationale Beziehungen an der wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Universität Pittsburgh/USA. Jan-Werner Müller, geb. 1970, Dr. James W. Carden, Politikwissen- phil., Politikwissenschaftler, Professor schaftler, freier Journalist in Washing- für Politische Theorie und Ideenge- ton D.C., u.a. für „The Nation“. schichte an der Universität Princeton/ USA. Marcel Fratzscher, geb. 1971 in Bonn, Ph.D., Ökonom, Professor für Makro- Lars Niggemeyer, geb. 1975 in Pader- ökonomie an der HU Berlin, Präsi- born, Sozialwissenschaftler, Abtei- dent des Deutschen Instituts für Wirt- lungsleiter Arbeitsmarkt- und Beschäf- schaftsforschung. tigungspolitik des DGB-Bezirks Nie- dersachsen/Bremen/Sachsen-Anhalt. Christian Füller, geb. 1963 in Mün- chen, Politikwissenschaftler, Journa- Anne-Marie Slaughter, geb. 1958 in list und Autor. Charlottesville/USA, J.D. und Ph.D., Juristin und Politikwissenschaftlerin, Edgar Göll, geb. 1957 in Wetzlar, Dr. ehem. Leiterin des Planungsstabs im disc. soc., Soziologe und Verwaltungs- US-Außenministerium, Präsidentin wissenschaftler, als Zukunftsforscher des Think Tanks New America in Wa- in Berlin in Forschung und Lehre tätig. shington D. C.

Stefan Grönebaum, geb. 1962 in Düs- Frank Überall, geb. 1971 in Leverku- seldorf, Historiker, Referatsleiter im sen, Politik- und Medienwissenschaft- Wirtschaftsministerium des Landes ler, Journalist, Bundesvorsitzender Nordrhein-Westfalen. des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Robert Habeck, geb. 1969 in Lübeck, Dr. phil., Philosoph, Energieminister Barbara Unmüßig, geb. 1956 in Frei- in Schleswig-Holstein (für Bündnis burg im Breisgau, Politikwissen- 90/Die Grünen). schaftlerin, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. Evi Hartmann, geb. 1974 in Burghau- sen, Dr.-Ing., Professorin für Supply Neelke Wagner, geb. 1978 in Winsen/ Chain Management an der Universität Luhe, Politikwissenschaftlerin, Re- Erlangen-Nürnberg. dakteurin bei Mehr Demokratie e.V.

Bärbel Höhn, geb. 1952 in Flensburg, Alena Wagnerová, geb. 1936 in Mathematikerin, MdB (Bündnis 90/ Brünn/Tschechoslowakei, Schriftstel- Die Grünen), Umweltministerin a.D. lerin, Übersetzerin und Publizistin, in Nordrhein-Westfalen. lebt in Saarbrücken und Prag.

Martin Koch, geb. 1966 in Kassel, So- Kevin Watkins, Ph.D., Sozialwissen- zialwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter schaftler, Direktor des Overseas Deve- an der Universität Hannover. lopment Institute in London.

Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Wochenzeitung »der Freitag«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

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Monatszeitschrift 61. Jahrgang Heft 4/2016

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

201604_Blaetter.indb 1 16.03.16 12:14 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 4’16 5 Volksparteien im Visier: Der Angriff der AfD Albrecht von Lucke

9 SPD: Ohne Solidarität ist alles nichts Stefan Grönebaum

13 Gas durch die Ostsee: Deutsch-russischer Machtpoker Robert Habeck und Bärbel Höhn

17 Brexit: Raus aus dem »EU-Gefängnis« Michael R. Krätke

21 Italien: Renzi auf Schlingerkurs Susanna Böhme-Kuby

REDAKTION 25 Kubanische Gratwanderung Anne Britt Arps Edgar Göll Daniel Leisegang Albrecht von Lucke 29 Der Aktivist als Agent: Annett Mängel Zivilgesellschaft am Pranger Steffen Vogel Barbara Unmüßig

BESTELLSERVICE DEBATTE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] 33 Osteuropa: Vielfalt statt Einfalt ANZEIGEN Alena Wagnerová Tel: 030 / 3088 - 3646 E-Mail: [email protected] KOLUMNE

WEBSITE 37 Skandalon Kindersterblichkeit www.blaetter.de Kevin Watkins

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201604_Blaetter.indb 2 16.03.16 12:14 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

41 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel? 41 Donald Trump: Der Schrecken der Neocons James W. Carden 46 Hillary Clinton oder: Wie man das Weiße Haus verliert Michael J. Brenner

51 Der Preis der Mutterschaft Warum so wenige Frauen ganz oben und viel zu viele ganz unten sind Anne-Marie Slaughter

63 Schatten der Repräsentation: Der Triumph des Populismus Jan-Werner Müller

75 Fünfte versus Vierte Gewalt: Journalismus unter Beschuss Frank Überall

83 Der Flüchtling als Humankapital Wider die neoliberale Integrationslogik Martin Koch und Lars Niggemeyer BUCH DES MONATS

91 Republik ohne Chancengleichheit: 121 Von der Repräsen- Deutschland am Wendepunkt tation zur Resonanz Marcel Fratzscher Neelke Wagner

101 Wir Sklavenhalter, Teil II EXTRAS Wie viele Sklaven halten Sie – und wie lange noch? 39 Kurzgefasst Evi Hartmann 124 Dokumente 125 Chronik des Monats 111 Macht und Missbrauch Februar 2016 Wie die Ideologie der Eliten 128 Zurückgeblättert die pädosexuellen Täter deckt 128 Impressum und Christian Füller Autoren

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201604_Blaetter.indb 3 16.03.16 12:14 Anzeigen Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.) MEHR GEHT NICHT! Der Postwachstums-Reader

Mit Beiträgen von Alberto Acosta . Elmar Altvater Maude Barlow . Ulrich Brand . Jayati Ghosh David Harvey . Tim Jackson . Naomi Klein Serge Latouche . Barbara Muraca . Niko Paech Vandana Shiva . Barbara Unmüßig . Harald Welzer und vielen anderen

Jetzt bestellen – auf www.blaetter.de 336 Seiten | 18 Euro | ISBN 978-3-9804925-8-4

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201604_Blaetter.indb 4 16.03.16 12:14 KOMMENTARE UND BERICHTE

Albrecht von Lucke Volksparteien im Visier: Der Angriff der AfD

Nein, dieser 13. März, der angebliche tion firmiert – nämlich Union, SPD und „Super-Sonntag“, war noch kein Erd- FDP – und teilweise nicht einmal für beben, sondern bloß ein Erdrutsch. 50 Prozent der Wählerstimmen reicht, Aber er war ein deutliches Vorzeichen umfasste bis 1983 noch das gesamte für jenes Beben, das ein ähnlicher Er- Parteienspektrum. Deutlicher könnte folg der AfD bei den kommenden Bun- die Veränderung nicht sein. Die Konse- destagswahlen bedeuten würde. Die quenz: In allen drei Parlamenten kön- drei Landtagswahlen waren die ersten nen die bisherigen Koalitionen nicht Urnengänge nach Beginn der großen fortgesetzt werden, aufgrund massiver Flucht vor einem halben Jahr – inso- Verluste des kleineren Koalitionspart- fern waren sie auch eine erste Bilanz. ners. Neben der AfD als großem Sieger Sie alle kannten nur dieses eine The- gab es damit drei Verlierer – nämlich ma und nur einen unangefochtenen die drei Volksparteien: CDU/CSU, SPD Sieger, die AfD. Mit ihrem Erfolg in und, im Osten, die Linkspartei. den ersten zwei Flächenstaaten der Am direktesten ist die Attacke der alten Bundesrepublik ist die AfD jetzt Neuen Rechten auf die CDU/CSU. in der Hälfte der Landesparlamente Nach Ansicht von Horst Seehofer geht vertreten. Während in Karlsruhe noch es um den Bestand, die Existenz, ja um über das Verbot der alten, verbrauch- das Überleben der Union, was die Lage ten NPD zu Gericht gesessen wird, hat allerdings maßlos dramatisiert. Noch sich längst eine Neue Rechte gebildet, sind CDU/CSU die einzigen unange- mit Anschlussfähigkeit bis weit in bür- fochtenen Volksparteien im gesamten gerliche Milieus. Das stellt die Regier- Bundesgebiet. Allerdings hat auch die barkeit des Landes auf eine schwere Union unter dem Angriff der AfD er- Probe. Mit dem Aufstieg der AfD geht heblich Federn gelassen: In den beiden eine Destabilisierung der alten bun- traditionellen CDU-Ländern Rhein- desrepublikanischen Tektonik einher. land-Pfalz und Baden-Württemberg Die alte Bonner Dichotomie, gekenn- erzielten ihre Kandidaten Julia Klöck- zeichnet durch zwei stabile Volkspar- ner (zuvor sogar als Merkel-Nachfolge- teien, ist völlig aus dem Lot geraten. rin gehandelt) und Guido Wolf die his- Der Einzug der AfD in die Parlamente torisch schlechtesten Ergebnisse für hat das Parteiensystem massiv verän- ihre Partei. Erstmals in der Geschichte dert, was das Regieren und den Macht- Baden-Württembergs sind die Christ- wechsel zukünftig erheblich schwerer demokraten zudem nicht mehr stärks- machen wird. te Partei, sondern müssen sich hinter Bisher galt stets die Devise: Wenn den Grünen mit Platz zwei begnügen, nichts mehr geht, die Große Koalition und damit voraussichtlich mit der Rol- geht immer. Doch das gehört der Ver- le des Juniorpartners. Nur in Sachsen- gangenheit an. In zwei Landtagen, Ba- Anhalt konnte sich CDU-Ministerprä- den-Württemberg und Sachsen-An- sident Reiner Haseloff mit geringen halt, reicht es nicht einmal mehr dafür. Sitzverlusten durchsetzen – allerdings Und was heute als Deutschland-Koali- ist hier die Fortsetzung der alten „Gro-

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ßen Koalition“ aufgrund der immen- konnte Linken-Spitzenkandidat Wulf sen Stimmverluste der SPD unmöglich. Gallert gemeinsam mit Katrin Budde Dennoch ist die Lage der Union noch (SPD) in Sachsen-Anhalt von der Wie- verhältnismäßig luxuriös. Hier geht es derholung des rot-rot-grünen Rame- in der Tat „nur“ um die Frage, ob mit low-Erfolges in Thüringen träumen. der AfD zum ersten Mal eine rechte Doch die AfD macht allen rot-rot-grü- Alternative entsteht. Faktisch erlebt nen Koalitionsoptionen derzeit den nach der SPD nun die CDU ihr Grü- Garaus – und wohl nicht nur im Os- nen- und Linkspartei-Moment – die ten. Sachsen-Anhalt ist tatsächlich Spaltung ihrer angestammten Wäh- ein Menetekel für die linken Parteien: lerschaft. Rechts von der Union ist nun Den 24,2 Prozent für die AfD, aus dem nicht mehr nur noch die Wand, wie Stand erzielt, stehen Verluste von noch Franz Josef Strauß postulierte, 18,3 Prozent für SPD und Linkspar- rechts ist jetzt die AfD. Damit ist das tei gegenüber. Speziell für „Die Lin- Monopol der Union auf das Wähler- ke“ ist der Aufstieg der AfD existenz- spektrum rechts der Mitte in Gefahr. gefährdend. Denn die Basis als Volks- Das ist es, was Horst Seehofer fürchtet partei des Ostens ist überlebenswich- wie der Teufel das Weihwasser. tig für das gesamte Projekt Linkspar- tei. Das zeigen die nach wie vor margi- nalen Prozentzahlen im Westen. Selbst Attacke auf die Linke der Parteivorsitzende konnte als Spitzenkandidat in Baden- Weit dramatischer ist die Lage aller- Württemberg nur 0,1 Prozentpunk- dings auf der linken Seite des Par- te dazugewinnen (von 2,8 auf 2,9 Pro- teienspektrums – das ist die eigentli- zent). Die Herausforderung durch die che Überraschung des Wahltags. Denn AfD ist aber auch inhaltlich von exis- erheblich härter getroffen hat es die tenzieller Qualität für die Linkspartei: SPD. Sie erlebte einen der schlimms- Die AfD greift exakt das an, was „Die ten Wahltage ihrer jüngeren Vergan- Linke“ sich selbst auf die Fahnen ge- genheit. In Sachsen-Anhalt hat sich schrieben hat: nämlich „die Opposi- die Partei mit 10,6 Prozent glatt hal- tion“ im Lande zu sein. biert (nach 21,5 in 2011), genau wie in Teile der AfD drängen zudem über Baden-Württemberg mit 12,7 Prozent die Rolle der parlamentarischen Op- (nach 23,1 in 2011). Zudem ist sie in position hinaus. Sie stehen für die beiden Ländern nur noch viertstärks- Rückkehr der radikalen Systemkritik, te Partei – jeweils klar hinter der AfD. gegen das angebliche Kartell aus „Lü- Am Ende war es allein der persönliche genpresse“ und „Volksverrätern“. Es Erfolg von Malu Dreyer in Rheinland- ist kein Zufall, dass erneut eine gro- Pfalz, der über dieses Desaster etwas ße Koalition diese Opposition gebiert. hinwegtäuschen konnte. Fest steht: Bereits die erste „GroKo“ in der Ge- Nach dem Osten hat die SPD jetzt auch schichte der Bundesrepublik, von 1966 im Süden nur noch den Status einer bis 1969, produzierte ihren Widerstand Kleinpartei. Längst war sie hier von aus sich heraus. Aus dem Protest am einer potentiellen Mehrheitspartei zu großen Mehltau im Lande entstand die einer Mehrheitsbeschafferin gewor- Neue Linke, die Außerparlamentari- den – inzwischen reicht es nicht ein- sche Opposition, kurz APO. Heute ha- mal mehr dazu. Für die SPD bedeutet ben wir es wieder mit einer Großen Ko- die AfD somit in der Tat eine Überle- alition zu tun, allerdings entsteht dar- bensfrage, nämlich als Volkspartei. aus offensichtlich keine Neue Linke, Der dritte Verlierer der Wahl ist die sondern eine Neue Rechte samt rechter Volkspartei des Ostens, also die Links- APO, die längst weit mehr ist als eine partei. Noch vor gut einem halben Jahr „kleine radikale Minderheit“.

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Die Merkelsche Logik der (zumal oft Nach dem Abgang ihres Gründers nicht begründeten) Alternativlosigkeit Bernd Lucke bereits totgesagt, hat sie hat aus sich heraus die rechte Alterna- sich in der Flüchtlingsfrage neu „er- tive generiert. Insofern entpuppte sich funden“: Aus der kalten Professoren- der Name Alternative für Deutschland partei ist eine angebliche Kümmerer- als genial gewählt – ohne dass die AfD partei geworden – obwohl sie nach wie inhaltlich taugliche Alternativen zu vor wirtschaftspolitisch klar neoliberal bieten hätte. Statt dessen hat sie, spe- positioniert ist (von der Absage an den ziell in der Flüchtlingsfrage, das Un- Mindestlohn bis zu radikalen Steuer- behagen und die wachsende Fremden- kürzungen). Heute will die AfD, ähn- feindlichkeit in der Bevölkerung per- lich wie die FPÖ, dezidiert die Partei fide geschürt und instrumentalisiert. der sogenannten kleinen Leute sein, Merkels viel zu langes Schweigen hat mit dem Anspruch, letztlich selbst die die AfD stark gemacht, Seehofers ra- Mehrheitspartei im Lande zu werden, dikale Konfrontationspolitik gegen immer unter dem populistischen, aber die eigene Kanzlerin („Herrschaft des durchaus ernst zu nehmenden Slogan: Unrechts“) macht sie täglich immer „Wir – sprich: und nur wir – sind das stärker.1 Volk.“ Hierin liegt die eigentliche Heraus- forderung der AfD für das Land. Die Eine „national-soziale Bewegung“ entscheidende Frage lautet: Was ist ihr wirkliches Potential? Wie stark kann Zweifellos ist die AfD zu einem er- die AfD noch werden? heblichen Teil Fleisch vom Fleische Fest steht: Anders als Republikaner der Union. steht für und NPD hat die AfD eine echte Chan- die Fundamentalliberalisierung der ce, sich als relevante Kraft zu etablie- Union. Dagegen richtete sich die AfD ren. Denn im Gegensatz zu den noch als rechts-konservatives Korrektiv. stark NS-orientierten alten Rechtspar- Heute will sie allerdings weit darü- teien hängt sie nicht in den Themen ber hinaus – als eine national-soziale der Vergangenheit fest. Im Gegen- Sammlungsbewegung. Und tatsäch- teil: Mit der Fluchtfrage besetzt sie ein lich zieht sie als „Staubsaugerpartei“ Querschnittsthema mit dem Potential, Wählerinnen und Wähler aller Volks- das Land langfristig ethnisch und so- parteien an. Die Parteivorsitzende zial zu spalten. postulierte auf der ersten Entscheidend wird daher sein, ob es Pressekonferenz nach dem Wahltag, den Volksparteien tatsächlich gelingt, man stehe jenseits der klassischen Ka- bessere Alternativen als bisher aufzu- tegorien von links und rechts: „Wo wir zeigen. Eines kann man von der anma- sind, ist die Mitte.“ Und ihr Stellvertre- ßenden Reklamation der AfD lernen: ter, Jörg Meuthen, will all jene anspre- Ohne den Schutz ihres eigenen Volks- chen, die sich von den Konservativen, parteicharakters werden die „Altpar- von den Liberalen, von den Linken teien“ nicht verhindern, dass sich die verraten fühlen. Kurzum: Die AfD er- AfD tatsächlich selbst zu einer neuen hebt den Anspruch, selbst eine Volks- Volkspartei eigenen Typs aufschwingt. partei zu sein. Umso mehr kommt es für die alten Das Fatale daran: Im Zuge der Volksparteien darauf an, sich auf die Fluchtkrise ist es der AfD tatsächlich eigenen Volksparteiqualitäten zu be- gelungen, sich das Mäntelchen der so- sinnen. Das gilt zunächst für CDU/ zial engagierten Partei umzuhängen. CSU. Die Union wird in den nächs- ten Jahren alles daran setzen müs- 1 Vgl. Albrecht von Lucke, Der Triumph der sen, die rechts-konservativen Wähler AfD, in: „Blätter“, 3/2016, S. 5-8. zurückzugewinnen – durchaus auch

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durch eine entschiedene Hinwendung ängsten in Teilen der eigenen Wähler- zu stärker konservativen Themen: die schaft in Übereinstimmung zu brin- Angst vor Heimatverlust und das ge- gen. Genau das aber muss eine Volks- stiegene Sicherheitsbedürfnis, bei partei leisten, wenn sie nicht ihren Zu- gleichzeitiger Abgrenzung von allen spruch in der Bevölkerung verspielen rechtsradikalen Ressentiments. will. Nur so wird sich die Linkspartei Das gilt aber auch für die SPD. Der gegen die AfD behaupten können. Aufstieg der AfD verweist nicht zuletzt Verheerend wäre es dagegen, den auf ihr Versagen in der sozialen Frage. Forderungen der Rechten hinterher zu Mit Gerhard Schröders Agenda 2010 rennen, wie von der CSU seit langem wurde eine Politik der Desintegration praktiziert. Dass und wie eine Selbst- betrieben, große Teile der Bevölke- behauptung gelingen kann, zeigen da- rung wurden dabei abgehängt, nicht gegen die Ergebnisse im Südwesten. zuletzt in Ostdeutschland. Die AfD Die beiden Regierenden stellten sich schöpft jetzt auch die Wut der Margi- voll hinter die Kanzlerin. Und ihr Steh- nalisierten ab. Gerade in den Ohren vermögen wurde belohnt. von SPD und Linkspartei muss es wie Siehe Rheinland-Pfalz: Dort ge- Hohn klingen, dass sich die Anti-Min- wann eine standhafte Malu Dreyer destlohnpartei als „Partei des sozia- gegen eine sichtlich überschätzte Julia len Friedens“ (Frauke Petry) verklei- Klöckner. Oder Baden-Württemberg: det. Daher kommt es vor allem darauf Dort gelang es Winfried Kretschmann, an, die AfD bei ihren „asozialen“ For- ganz „Merkel in grün“, den Wahlsieg derungen zu stellen. Das wird für beide von 2011 noch zu übertreffen. Damals Parteien zur Gretchenfrage. hatte ihn die Fukushima-Katastrophe Die Landtagswahlen haben ge- ins Amt gespült, mit deutlichem Ab- zeigt, dass mit den 25 Prozent der SPD stand hinter der Union; diesmal wur- bei den letzten Bundestagswahlen die den die Grünen sogar klar stärkste Talfahrt der Partei keineswegs zu En- Kraft – ein historischer Erfolg. Die neue de sein muss. Im Gegenteil: Die La- „grüne Volkspartei“, wenn auch nur im ge der Partei ist desaströs. Gebunden Ländle, zahlt dafür aber auch einen, an eine große Koalition, geführt von nicht geringen, Preis. Dem Primat der einem massiv angeschlagenen Vorsit- Regierungswilligkeit („Regieren ist zenden, aber ohne Alternative eines Stilfrage“) wurden zahlreiche grüne Parteiwechsels oder gar eines Bruchs Inhalte geopfert, so dass von grüner der Koalition – bei Gefahr der eigenen Programmatik am Ende kaum mehr Zersplitterung –, kämpft die SPD um die Rede war. Kretschmann, der ver- ihr Überleben als Volkspartei. Immer- meintlich Wertkonservative, agierte hin scheint Sigmar Gabriel erkannt zu letztlich strukturkonservativ und, ge- haben, dass nur die Besinnung auf den rade in der Automobilkrise, im Zweifel eigenen Markenkern – „gesellschaft- für Daimler-Benz als den wichtigsten licher Zusammenhalt als Kernkompe- Arbeitgeber im Auto-Ländle. tenz der SPD seit 150 Jahren“ – der Par- Und dennoch, Rheinland-Pfalz und tei noch helfen kann. Dafür werden die Baden-Württemberg zeigen vor allem nächsten eineinhalb Jahre entschei- eines: Trotz der massiven Protest-Stim- dend sein. mung am rechten Rand gibt es weiter- Das Gleiche gilt – in noch gestei- hin eine starke Mitte. Dort befindet gerter Form – für die Linkspartei: Bei sich noch immer eine klare anti-popu- ihr geht es ganz direkt um die politi- listische Mehrheit – gegen die rech- sche Existenz. Offenbar ist es der Par- te Verhetzung. All das belegt, dass der tei nicht gelungen, ihren großen men- Höhenflug der AfD endlich sein kann, schenrechtlichen Anspruch in der wenn man der Neuen Rechten klar und Flüchtlingsfrage mit den Abstiegs- entschieden begegnet.

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Stefan Grönebaum SPD: Ohne Solidarität ist alles nichts

Keine Partei hat der Ausgang der drei gen des Asylrechts im Winter gedriftet. Landtagswahlen so hart getroffen wie Solidarität mit den Schwachen heißt die SPD. In Baden-Württemberg und aber ausdrücklich nicht nur mit den Sachsen-Anhalt ist sie nur noch eine Flüchtlingen. Die SPD war – und ist Kleinpartei und in Rheinland-Pfalz eigentlich immer noch – eine Partei der konnte nur die enorme Beliebtheit Arbeitnehmer. Die jedoch fühlen sich Malu Dreyers das Allerschlimmste ver- derzeit weder vom zerfallenden neo- hindern. Wie aber soll die deutsche liberalen EU-Projekt noch von der auf Sozialdemokratie auf dieses Debakel die schwarze Null fixierten Bundesre- reagieren? gierung sonderlich vertreten. Die schlechteste aller möglichen Aufgabe einer sich besinnenden Antworten wäre ein weiterer Rechts- SPD wäre es daher, die Arbeitnehmer- rutsch nach dem Vorbild der französi- rechte weder in der EU der polnischen schen Sozialisten. Geführt vom „Stra- PiS oder dem französischen Front Na- tegen“ Hollande übernehmen diese in tional noch auf deutscher Ebene den Folge der Attentate die Vorschläge der Grünen oder der Linken zu überlassen. Rechten (etwa auf Ausbürgerung der Der Hauptgegner oder das Hauptpro- Terroristen), stoßen damit das libera- blem sind dabei dezidiert nicht – wie le Lager endgültig ab und werden die im Falle der Rechten – die Flüchtlinge, Wahl der Originale befördern – Sarko- sondern das eine Prozent, das in den zys Konservative und Le Pens Front Na- vergangenen Jahrzehnten große Tei- tional. Genauso würde es der SPD er- le der Gewinne einkassiert und damit gehen: Offensichtlich treibt der herr- große Teile der angehäuften Vermögen schende Abwehr- und Abschottungs- eingestrichen hat – und natürlich sei- diskurs vor allem der AfD Wähler zu. ne Unterstützer in Unternehmen und Oder glaubt irgendjemand, dass die Verbänden, Universitäten, Medien und SPD für das Aussetzen des Familien- Parteien. nachzugs und Ähnliches gewählt wird? Gegen den neoliberalen Main- Was also tun? Die SPD müsste sich stream bedarf es eines europäischen endlich wieder auf ihren, durch die Pakts für mehr Investitionen in Bil- Agenda 2010 „nachhaltig“ beschädig- dung, in nachhaltiges Wachstum, er- ten, Markenkern besinnen: Solidari- neuerbare Energien und sozialen Zu- tät mit den Schwachen. Zu Recht kon- sammenhalt. Das allerdings verlangt statierte der Manager der Bundestags- von der Sozialdemokratie den Mut zu wahlkampagne 2017, Frank Stauss, bei neuen Partnerschaften. Das gilt auch der Vorstandsklausur in Nauen, die und gerade – mit Blick auf 2017 – für SPD arbeite an den Erwartungen ihrer Deutschland, wo ein solches Bündnis Anhänger vorbei: Die Mehrheit der offensichtlich nicht mit den Konserva- Deutschen, zumal die der SPD-Wäh- tiven zu machen ist. ler und -Anhänger, erwarte eine klar Nun erwartet weder in Brüssel noch solidarische Haltung gegenüber den in Berlin irgendjemand von der als Ju- Flüchtlingen. Stattdessen sei die Par- niorpartner mitregierenden Sozial- tei von „Refugees welcome“-Buttons demokratie, dass sie umsonst auf ihre im Herbst zu ständigen Verschärfun- Regierungsbeteiligung verzichtet. Sie

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sollte dafür gute Gründe haben. Und in der Eurozone und darüber hinaus die gibt es in der Tat: Die neoliberale verschlimmert. Die Politik der Zen- Umverteilungspolitik der letzten Jahr- tralbanken, die Banken mit frischem zehnte hat die soziale Ungleichheit in Geld zu fluten, muss dagegen so lange einem Ausmaß steigen lassen, das in- erfolglos bleiben, wie sich die Unter- zwischen neben dem sozialen Zusam- nehmen gerade angesichts der gerin- menhalt auch die ökonomische Wohl- gen öffentlichen Investitionsneigung fahrt der europäischen Staaten bedroht mit Investitionen zurückhalten. Dabei ist. ist angesichts der Probleme in Europa Wer aber soll all die Schulden, wie und bei seinen Nachbarn eine Unmen- die notwendigen Investitionen, bezah- ge an Investitionen erforderlich: in eine len, wenn die Vermögenden und die flächendeckende Energiewende, weg Unternehmen weiter geschont wer- von fossilen und hin zu erneuerbaren den? Mit den zusätzlichen Belastun- Energien, in eine Agrarwende hin zu gen durch die Integration der Flücht- marktfähigen, aber klein- und mittel- linge ist vollends klar geworden, dass betrieblich strukturierten Betrieben dies auf Dauer nicht mit der schwarzen im globalen Süden und in eine große Null und dem Verzicht auf Steuererhö- Bildungswende – zur individuellen hungen für Vermögende vereinbar ist. Förderung vor allem derer, die es be- Was wir gegenwärtig erleben, ist, sonders nötig haben. dass die konservative Seite ihre Poli- Das alles erfordert in der Tat ein tikziele sakrosankt gestellt hat – kei- Grand Design und wird in der gegen- ne Finanztransaktions-, Vermögen- wärtigen, fast solidaritätsfreien euro- oder nennenswerte Erbschaftsteuer –, päischen Landschaft nicht leicht zu während die sozialdemokratische Sei- verwirklichen sein. Auch hier braucht te ihre Investitionsziele aufschiebt oder es eine Koalition der Willigen, vermut- auf gnädige Brocken des Finanzmi- lich die alten kerneuropäischen Staa- nisters hofft. Dabei verliert sie auto- ten, die einen solchen New Deal für matisch ihre Glaubwürdigkeit bei den Bildung und Lernen, für ein soziales, Wählern. nachhaltiges und nichtfossiles Europa vorantreiben. Dabei gilt es, der zunehmenden pro- Wir brauchen einen New Deal tektionistischen Abschottungs- und migrationspolitischen Abwehrpolitik Dabei erleben wir seit Jahren, dass zu- der Konservativen mit einer Politik der sätzliche Investitionen sich auszahlen doppelt offenen Grenzen zu begegnen: – so wirken gegenwärtig die Ausga- Selbst der aktuelle „Global Risk Re- ben für die Flüchtlinge wie ein Kon- port“ des Schweizer Weltwirtschafts- junkturprogramm. Der jahrzehntelang forums zeigt deutlich, dass die Schlie- von neoliberalen Ökonomen und Ver- ßung von Grenzen einzelner europäi- bänden verteufelte Mindestlohn hat scher Länder Massenfluchten weder die Wirtschaft nicht abgewürgt, son- verhindern noch abwehren kann. Da- dern ganz im Gegenteil im Nachfra- für treffen die zunehmenden Perso- gebereich massiv angekurbelt. Wäh- nenkontrollen an den Grenzen und die renddessen sorgt die Sparpolitik seit damit verbundenen Einschränkun- Jahren europaweit für massenhafte gen von Arbeitsfreizügigkeit und Rei- Armut und für stotterndes Wachstum. sefreiheit die europäische Integration Selbst eine so „sozialistische Vereini- in ihrem Kern. Sie bedrohen auch den gung“ wie die OECD bescheinigt dem freien Warenverkehr und damit die Ba- deutschen Exportmodell, dass es mit sis der deutschen Ökonomie, in der be- seinen massiven Handelsungleichge- kanntlich rund jeder vierte Arbeits- wichten die ökonomischen Probleme platz vom Export abhängt.

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Stattdessen müsste eine sozialdemo- hierdurch wird Wachstum erzeugt, wie kratische Politik in Europa sich endlich Stieglitz und Greenwald gezeigt ha- die richtigen Gegner suchen: Konzer- ben,1 und nicht durch das Vermeiden ne, die keine Steuern zahlen, und be- von Investitionen und das Optimieren trügerische Banken, die dabei helfen; der bereits ausgetretenen Produktpfa- Unternehmen, die monopolistische, de. Gewiss: Das alles wirkt angesichts also marktbeherrschende Stellungen der gegenwärtigen europäischen So- anstreben oder – wie Amazon, Apple, zialdemokratie utopisch, aber wie rea- Google und Co – bereits besitzen und listisch ist die Annahme, dass man mit die immer stärkeren Einfluss auf die „more oft the same“ im Bündnis mit Entscheidungen vermeintlich frei ge- kapitaltreuen Konservativen den im- wählter Parlamente und Regierungen mer zahlreicheren Europagegnern von nehmen – über ein gewaltiges Lobby- rechts das Wasser abgraben kann? system, oftmals gehörige oder wenigs- tens hörige Medien, ein expansives Urheberrecht und außergerichtliche Gegen die neue Rechte Schiedsverfahren (TTIP). als »soziale Kümmerer« Wenn laut EU-Kommission auf lega- lem Wege jährlich bis zu 130 Mrd. Euro Diese haben – wie die polnische PiS an Steuern gespart werden, warum ist und der Front National – dagegen es nicht das dringendste Ziel der euro- längst die Verteidigung der Arbeit- päischen Sozialdemokraten, diesen nehmerrechte übernommen, die in Skandal endlich zu beenden? Statt- der Großen Koalition der letzten Jahre dessen behindern sie bei Luxemburg- allzu oft unter die Räder der „Wettbe- Leaks und ähnlichen Fällen im Bünd- werbsfähigkeit“ geraten sind. All das nis mit den konservativ-liberalen Par- gilt inzwischen auch für Deutschland: teien die Aufklärung. Auch hier muss die SPD weniger vom Wäre nicht stattdessen ein Bünd- Sozialpakt für alle reden als endlich nis der linken europäischen Parteien Kapital generieren bzw. umverteilen, geboten, um Steuervermeidung ent- wenn sie nicht weiter zusehen will, wie gegenzutreten und Steuerehrlichkeit immer größere Teile der Unterschich- wieder zu ermöglichen? ten in die Wahlenthaltung abdriften Zu einer solchen Kehrtwende in oder bei den Rechtspopulisten landen. der Steuer- und Finanzpolitik gehört Sie muss deutlich mehr staatliche Mit- schließlich auch die Abkehr vom neo- tel einsetzen: für Bildungs- und Weiter- liberalen Mantra, dass Schulden in je- bildungsgutscheine, eine Besserdotie- dem Fall etwas Schlechtes seien. Wie rung der sozialen und Humandienst- jeder kluge Kaufmann, Unternehmer leistungen, für Lebensarbeitszeitkon- und Banker weiß, sind nicht Schul- ten, die die Vereinbarkeit von Familie den an sich ein Problem. Im Gegenteil: und Beruf erleichtern, für Investitio- Angesichts des zurzeit konkurrenz- nen in den ausgebluteten öffentlichen los niedrigen Zinssatzes lautet die ent- Dienst und die Infrastruktur, für eine scheidende Frage, ob man die Kredite Mittelstandsförderung, die den Namen für die richtigen, zukunftsweisenden verdient, und vor allem für eine aus- Innovationen bzw. Produkte einsetzt. kömmliche Rente. Angesichts prekärer Und was für die Privatwirtschaft gilt, Erwerbsbiographien und stetig abge- gilt umso mehr für die europäischen senkter Nettorenten wird die Alters- Volkswirtschaften: Sie müssten al- sicherung ansonsten für viele kaum les tun, um so viele Mittel wie möglich Grundsicherungsniveau umfassen. flächendeckend in die Infrastruktur für lernende und innovationsfreundli- 1 Joseph E. Stieglitz und Bruce C. Greenwald, che Gesellschaften einzusetzen. Denn Die innovative Gesellschaft, Berlin 2015.

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201604_Blaetter.indb 11 16.03.16 12:14 12 Kommentare und Berichte

Kredite müssten es den Bürgern er- gleich populär, sondern wurde dies leichtern, genossenschaftlich auf er- erst in heftigen Kämpfen. Es ist doch neuerbare Energien umzusteigen und seltsam, dass der Mainstream der So- den eigenen Mittelstand zu fördern. zialdemokratie noch immer glaubt, Und vor allem bedarf es einer neuen man könne im Bund mit seinem (meist Großoffensive im sozialen Wohnungs- übermächtigen) Hauptgegner sei- bau. Aktuell benötigt das Land eher ne Ziele besser realisieren. Hier muss 400 000 als 300 000 neue Wohnungen eine Spitze, die vielfach ins Regieren jährlich für alle: Deutsche und Mig- verliebt ist, von der Basis daran erin- ranten. Ein solcher New Deal für eine nert werden, wen sie wohin führen soll. soziale und nachhaltige Bildungsrepu- Und wenn dies partout nicht verstan- blik Deutschland fände große Mehr- den wird, wie in der englischen Labour heiten bei den auf soziale Sicherheit Party, ist offenbar ein Elitenwechsel bedachten Wählern. Und er würde den unvermeidlich. anderen Europäern signalisieren, dass Geschieht dies dagegen nicht, es das in der Flüchtlingskrise plötzlich scheint ziemlich klar zu sein, was aus um Solidarität bittende Deutschland den Sozialdemokratien wird, die sich ernst meint mit dem Abbau der sozia- als Juniorpartner der Konservativen len Ungleichheit im eigenen Land. weiter auf den Marsch in die „markt- Die dadurch erwartbare Expansion konforme Demokratie“ (Merkel) bege- der Binnennachfrage würde auch den ben: Sie verlieren Handlungsfähigkeit anderen Ländern Chancen eröffnen, und Prinzipien, damit an politischer mehr Waren und Dienstleistungen Stärke und Glaubwürdigkeit, nicht zu- nach Deutschland zu exportieren. letzt an Wählern und Mitgliedern, Ein- Bei alledem wäre Klotzen, nicht Kle- fluss und Ansehen. ckern die Devise: Statt weiter dem dys- Die klassische „Kleineres Übel“- funktionalen Spar- und Wachstums- Strategie funktioniert unter postdemo- kurs der Neoliberalen hinterherzu- kratischen Vorzeichen einfach nicht trotten, müsste die SPD selbstbewusst mehr. Wer zu lange wartet mit der eige- soziale Gerechtigkeit als Produktiv- nen Erneuerung, wird entweder von kraft propagieren, die lernende Ge- links überholt wie in Spanien, Portugal sellschaft, die Bildungsrepublik als oder Griechenland, oder von rechts, Gerechtigkeitsproblem begreifen und wie in osteuropäischen Ländern. die Interessen der Arbeitnehmer nicht Auch traditionsreiche sozialisti- mehr als abhängige Variable einer abs- sche Parteien können sich überflüssig trakten Wettbewerbsfähigkeit verste- machen, wie das italienische Beispiel hen, sondern als Voraussetzung jeder zeigt. Das gleiche Land beweist aber nachhaltigen Konkurrenzfähigkeit. auch, dass neue Bündnisse, zum Bei- Fest steht: Das alles wäre nicht von spiel von sozialen Christdemokraten selbst zu haben. Man müsste sich tren- und demokratischen Sozialisten, nicht nen von diversen großen Koalitionen nur möglich, sondern auch erfolgreich in Europa. Aber was hätte die Sozial- sein können. Dagegen neigen große demokratie dabei zu verlieren? Offen- Koalitionen dazu, den sozialdemokra- sichtlich nur immer schwächere Wahl- tischen Partner immer weiter zu ver- ergebnisse. Zu gewinnen hätte sie da- kleinern oder zu entkernen, ob in Ös- gegen fast alles: ihre Glaubwürdigkeit, terreich oder bei uns. endlich wieder ein Ziel und damit neue Am Ende steht dagegen die Erkennt- Anhänger (wie das Beispiel Jeremy nis, dass es nie zu spät ist, sich auf seine Corbyns zeigt). Wurzeln zu besinnen. Oder wie schon Gewiss bedeutet das heftige gesell- Ferdinand Lassalle und Rosa Luxem- schaftliche Konfrontation: Aber auch burg wussten: „Die revolutionärste Tat Willy Brandts Ostpolitik war nicht bleibt, zu sagen, was ist.“

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201604_Blaetter.indb 12 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 13

Robert Habeck und Bärbel Höhn Gas durch die Ostsee: Deutsch-russischer Machtpoker

Derweil die EU-Sanktionen gegen vier Gründe: Mit der erweiterten Pipe- Russland weiter in Kraft sind, bahnt line kann weder die Ukraine stabili- sich im Energiesektor ein gewaltiger siert noch die Versorgungssicherheit Deal zwischen Berlin und Moskau für Osteuropa erhöht werden, überdies an: Die Nord-Stream-Pipeline durch führt sie zu einer erhöhten Gasabhän- die Ostsee vom russischen Wyborg gigkeit von Russland und behindert nach Lubmin bei Greifswald soll zwei den Klimaschutz. zusätzliche Röhrenstränge bekom- men. Damit könnte sie ihre Kapazität verdoppeln. Mit der geplanten Nord Das Ende des Kooperationszwangs Stream 2 sollen zusätzliche 55 Mrd. Ku- bikmeter Gas pro Jahr nach Deutsch- Denn erstens folgt Russland mit dem land geliefert werden. Neubau einem politischen Kalkül: En- Laut den Ausbaubefürwortern er- de 2019 laufen die Transitverträge mit halten Deutschland und andere euro- Kiew aus. Und geht es nach dem Willen päische Länder eine bessere Versor- Moskaus, wird dann kein russisches gungssicherheit, weil mit der erweiter- Gas mehr durch die Ukraine geleitet. ten Ostseepipeline das unsichere Tran- Die russische Regierung will damit sitland Ukraine umgangen wird. In der das Nachbarland strategisch isolieren. Tat soll Nord Stream 2 den Gastransport Dementsprechend entsetzt reagieren durch die Ukraine – und teilweise auch die osteuropäischen EU-Mitglieder auf durch Polen – künftig überflüssig ma- Nord Stream 2. Sie haben in Brüssel chen. Und niemand erinnert sich ger- bereits offen revoltiert. ne an die russisch-ukrainischen Gas- Ihre Sorge ist berechtigt: Aus geo- streits von 2006 und 2009, als Moskau politischer Perspektive ist die Stabili- die Preise für die Ukraine unverhält- tät der Ukraine von enormer Bedeu- nismäßig erhöhen wollte, um unlieb- tung. Deutschland und die EU müssten same Regierungen in Kiew in die Knie das größte Interesse daran haben, dass zu zwingen. Auf dem Höhepunkt der sich die Situation im Land nicht weiter Auseinandersetzungen drehte Moskau verschlechtert, sondern sich die Regie- der ehemaligen Sowjetrepublik den rung festigt, damit ihre Reformen grei- Gashahn zu. Die wiederum bediente fen können. sich aus den russischen Lieferungen Eine Lebensversicherung für Kiew für Europa, und der Gasnotstand verla- bildet dabei die Erdgaspipeline von gerte sich gen Westen. Russland nach Europa. Die sogenann- Doch dieses Argument überzeugt te Transgaspipeline verläuft durch die nur vordergründig und steht letztlich Ukraine, die Slowakei und Tschechien für eine kurzsichtige Politik. Weitet und liefert schließlich einen Großteil man den Blick, zeigt sich: Die Einwän- des Gases im bayrischen Waidhaus de wider den Ausbau der Pipeline sind ab. Russland will diesem Transport- gewichtiger. Gegen den Bau von Nord weg nun die geopolitische Bedeutung Stream 2 sprechen dabei vor allem nehmen.

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201604_Blaetter.indb 13 16.03.16 12:14 14 Kommentare und Berichte

Die Regierung in Moskau kalkuliert Marktmacht von Gazprom wachsen. folgendermaßen: Sie benötigt einen Momentan decken russische Liefe- ungestörten Gastransit nach Europa, rungen rund 38 Prozent des deutschen um das Putinsche System finanziell Gasverbrauches. Künftig dürften es bis am Leben zu halten. Daher kann der zu 50 Prozent sein, weil die Quellen in russische Präsident derzeit die Lage den Niederlanden und Großbritannien in der Ukraine nicht komplett eskalie- versiegen und diese Länder dadurch ren oder das gasabhängige Land mit zunehmend als wichtige Gasexporteu- überhöhten Preisen in die Knie zwin- re ausfallen. Damit wächst unweiger- gen. Denn solange das Gas durch die lich auch die politische Abhängigkeit Ukraine geleitet wird, würden solche der Bundesrepublik vom System Putin. Schritte Moskaus einen Energiekon- Denn Europa wird das Erdgas noch flikt mit Europa heraufbeschwören. für einige Jahrzehnte brauchen. Gas- Noch herrscht also eine Art Koopera- kraft ist die Brückentechnologie der tionszwang für die beiden verfeinde- Energiewende und ergänzt sich her- ten Lager. Dem will sich Moskau nun vorragend mit den erneuerbaren Ener- entziehen – mit gefährlichen Folgen. gien. Gerade angesichts dessen soll- ten jetzt nicht die bestehenden Haupt- importwege zementiert, sondern die Wirtschaftliche Einbußen Weichen auf eine Diversifizierung der Quellen gestellt werden. Benötigt Zweitens steht damit für die Ukraine wird dazu in erster Linie eine Flüssig- sowie andere süd- und osteuropäische gas-Strategie. Dieses Gas wird in gro- Länder auch ihre Versorgungssicher- ßen Tankern aus dem Mittelmeerraum, heit auf dem Spiel. So könnten Polen, aus Afrika oder dem Nahen Osten an- Tschechien oder die Slowakei zwar geliefert. In Wilhelmshaven bestehen über Lubmin oder über Italien mit seit Jahren Planungen für ein entspre- Erdgas beliefert werden. Doch sind chendes Anlandungs-Terminal. Diese die vorhandenen Gasleitungskapazi- warten aber weiter auf ihre Verwirkli- täten derart verteilt, dass der Ausfall chung, obwohl das benötigte Gelände der Transgas auf absehbare Zeit nur teilweise schon gekauft worden ist. bedingt kompensiert werden könnte. Schlimmstenfalls verstreichen Jahre, bis die entsprechende Infrastruktur Überholte fossile Infrastruktur errichtet wird. In der Folge würde die Liquidität des Gasmarkts in Mittel- Viertens aber wird zur Mitte des Jahr- und Südosteuropa stark abnehmen. hunderts – also in nur noch 34 Jahren Dies wiederum würde unweigerlich zu – auch die Abhängigkeit vom Gas zu einem Anstieg der Endabnehmerprei- Ende gehen müssen. So jedenfalls sind se in diesen Ländern führen und dürfte die Klimaschutzpläne Deutschlands mit erheblichen gesamtwirtschaftli- ausgelegt. Für den prognostizierten chen Einbußen verbunden sein. Verbrauch sind die momentan vorhan- Gegen Nord Stream 2 spricht, drit- denen Pipelines ausreichend, vermut- tens, nicht zuletzt die absehbare Ge- lich sogar überdimensioniert. Das gilt fährdung der energiepolitischen Un- insbesondere dann, wenn bei der Wär- abhängigkeit Deutschlands. Denn so meversorgung endlich die großen Effi- verlässlich Russland bislang als Liefe- zienzreserven gehoben werden: Eine rant war, so riskant ist doch sein dar- Steigerung der Energieeffizienz um aus erwachsender politischer Einfluss: 1 Prozent führt zu 2,6 Prozent weniger Selbst ohne Nord Stream 2 wird Russ- Gasnachfrage. land weiter der dominante Erdgasver- In dieser Situation neue Gaspipe- sorger für Deutschland bleiben und die lines zu bauen, wäre ungefähr genau-

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201604_Blaetter.indb 14 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 15 Anzeige so zukunftsweisend wie die Einwei- hung neuer Kohlekraftwerke. Schließ- „WIR SIND HIER, WEIL IHR lich gilt auch für Pipelines: Wo viel Geld ausgegeben wird, steigt der poli- UNSERE LÄNDER ZERSTÖRT” tische Druck für eine langfristige Nut- zung. So gesehen bilden die geplanten 10 Mrd. Euro für den Ausbau der Nord Stream ein hohe Hürde für einen wirk- samen Klimaschutz und damit auch für das Auslaufen der Gasnutzung. Hin- zu kommen weitere Investitionen, die sich amortisieren sollen: Laut den deut- schen Fernleitungsbetreibern im Gas- bereich fallen nochmals rund 4 Mrd. Euro für den Ausbau der Infrastruk- tur auf deutschem Boden an. So müs- sen rund 750 Kilometer neue Pipeline- röhren verlegt und etliche Verdichter- stationen gebaut werden, damit das zusätzlich aus Russland ankommende Gas in Lubmin weiterverteilt werden kann. Außerdem muss der Anschluss an die Pipeline in die Benelux-Län- der hergestellt werden. Auch bedarf es einer Verbindung zum bayrischen Waidhaus, wo die Transgas-Röhre durch die Ukraine endet. Somit dürf- te sich die Endrechnung für den Aus- bau der Nord-Stream-Pipeline auf über 14 Mrd. Euro summieren. Zwar muss „Kippings ausführliche Eindrücke von auch für Flüssiggasterminals viel Geld in die Hand genommen werden, im engagierten Flüchtlingshelfern, Vergleich zu Pipelineprojekten sind einer au ebenden Zivilgesellschaft dies mit 500 Mio. bis zu einer Mrd. Euro jedoch absolut überschaubare und vielen, vielen Menschen, die Summen, die deutlich schneller abge- eben nicht PEGIDA sind, lassen einen schrieben sein dürften. Statt mit Nord Stream 2 eine fossile optimistischen Blick in die Zukunft Infrastruktur und damit eine fossile Abhängigkeit auf Jahrzehnte zu fes- wagen.” tigen, brauchen wir eine bessere Ver- Emran Feroz, NachDenkSeiten sorgung mit erneuerbaren Energien und Maßnahmen, um die Nachfrage zu Jetzt reinlesen auf verringern. Dazu zählt eine ehrgeizi- www.westendverlag.de ge Strategie für energieeffizientes Hei- zen und Kühlen. Diese sollte den Aus- tausch ineffizienter Heizungssysteme unterstützen und den Brennstoffwech- Wer üchtet schon freiwillig sel von Erdgas zu erneuerbaren Ener- 208 Seiten, 16,00 Euro giequellen fördern, beispielsweise zu Solarthermie, Geothermie und nach- ISBN: 978-3-86489-133-5 haltiger Biomasse.

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201604_Blaetter.indb 15 16.03.16 12:14 16 Kommentare und Berichte

Dennoch setzt sich Sigmar Gabriel als bei ihrer Wirtschaftspolitik machen Energie- und Wirtschaftsminister in- lässt, richten sich alle Blicke auf die tensiv für die zweite Ostseepipeline EU. Bisher hat sie bei Großprojekten ein. Mehr noch: Er wirbt sogar dafür, dieser Art darauf geachtet, dass Wett- bei den strengen EU-Vorgaben – die bewerbs- und Transparenzregeln ein- eine Trennung von Förderung, Trans- gehalten und Marktteilnehmer nicht port und Verkauf im Gasbereich vor- an den Rand gedrängt werden. An den sehen – ein Auge zuzudrücken. Im europäischen Wettbewerbshütern ist Oktober 2015 traf er Russlands Präsi- beispielsweise Ende 2014 die von Gaz- denten Wladimir Putin und Gazproms prom geplante South-Stream-Pipeline Konzernchef Alexei Miller zu bilatera- über Griechenland, Bulgarien und Ita- len Gesprächen über die künftige Ver- lien gescheitert. Deswegen sind diese sorgung der Bundesrepublik mit rus- Länder jetzt auch, gelinde gesagt, we- sischem Gas. Bei dieser Gelegenheit nig begeistert, wenn Gabriel versucht, erklärte Gabriel, es sei das Wichtigs- eine ähnliche Pipeline durch die Ost- te, „dass die Regulierungskompetenz see durchzusetzen – und das unter Um- in den Händen der deutschen Organe gehung der Wettbewerbsregeln. liegt“. Damit solle eine „Einmischung South Stream konnte auch deswe- von außen“ vermieden und „die Mög- gen nicht verwirklicht werden, weil lichkeit für politische Einmischung in Gazprom meist schnell aussteigt, wenn dieses Projekt“ begrenzt werden, so es um faire Regeln für einen funktio- der Minister. Konkret bedeutet das: Die nierenden Wettbewerb geht. Es bleibt seinem Wirtschaftsministerium unter- zu hoffen, dass die EU bei der Vertei- stellte Bundesnetzagentur soll die digung dieser Spielregeln auch im Fall juristische Regulierungshoheit über der Nord-Stream-Pipeline hart bleibt, Nord Stream 2 erhalten. selbst wenn es dabei gegen Berlin geht. Denn noch hat der Bau an der Pipe- line nicht begonnen. Bis jetzt gibt es Brüssel übergehen, Moskau nützen nur eine Absichtserklärung von Sep- tember 2015. Darin verständigten sich Damit aber würden die eigentlich zu- die beteiligten Unternehmen grund- ständige EU-Kommission und insbe- sätzlich auf den Bau von Nord Stream 2. sondere der slowakische Kommissar Gazprom kooperiert dabei mit den Maroš Šefcˇovicˇ ausgebootet. Dies be- deutschen Unternehmen E.on und der träfe insbesondere die Anschlusspipe- BASF-Tochter Wintershall sowie mit lines auf deutschem Boden, die das Engie/GdFSuez (Frankreich), Shell zusätzlich ankommende Gas aus der (Niederlande/England) und OMV (Ös- Nord-Stream-Pipeline weiterverteilen terreich). Sie haben die New Euro- müssen. Sie fallen unter die Regulie- pean Pipeline AG gegründet, die in rungshoheit der EU-Kommission. der Schweiz sitzt – und an der Gazprom Es kann also nicht verwundern, eine 50prozentige Beteiligung hält. dass Gabriel immer mehr Gegenwind Angesichts dessen wäre die Bun- zu spüren bekommt. Die geplante Er- desregierung gut beraten, die Ver- weiterung der Nord-Stream-Pipeline handlungsposition der EU-Kommis- ist zu einem Politikum in der EU ge- sion gegenüber Russland zu stär- worden – und das zu Recht: Der Aus- ken, anstatt die Marktmacht von Gaz- bau liegt nicht im Interesse Deutsch- prom weiter anwachsen zu lassen. Und lands und nicht im Interesse Europas. die SPD sollte überdenken, ob Nord Er folgt auch nicht der Linie des Pariser Stream 2 – angesichts des wachsen- Klimaschutzabkommens. Da sich das den Unmuts im Süden und Osten – die CDU-geführte Kanzleramt vornehm europäisch-russischen Beziehungen zurückhält und die Sozialdemokraten nicht eher gefährdet als stabilisiert.

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201604_Blaetter.indb 16 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 17

Michael R. Krätke Brexit: Raus aus dem »EU-Gefängnis«

Nun ist es also amtlich: Kaum vom schaft, mal die des deutschen Steuer- Brüsseler Gipfel zurück, verkündete zahlers, eiskalt durchgedrückt. Und der britische Premier David Cameron Cameron und seine Tories hielten ihr den D-day, den Tag der Entscheidung. die Stange, vereint in der Abwehr jeder Am 23. Juni sollen die Briten über Aus- innereuropäischen Solidarität. Kein tritt oder Verbleib in der EU abstim- Wunder also, dass Merkel ihrem bes- men. Und die Voraussetzungen für ten Verbündeten einen Erfolg gegönnt einen Verbleib sind nicht die schlech- hat. Von einer „grundlegenden Re- testen: Alle Granden der EU, Angela form“ der EU, wie Cameron tönt, kann Merkel an der Spitze, haben David Ca- dabei keine Rede sein. Kein einziges meron Ende Februar jenen Scheinsieg der strukturellen EU-Probleme wur- beschert, den er brauchte, um daheim de angegangen, sie kamen noch nicht auf der Insel das scheinbar unvermeid- einmal auf die Agenda. Das Einzige, liche Referendum doch noch bestehen was erreicht wurde: Der Status quo zu können. Sozialleistungen von EU- wurde fortgeschrieben, und zwar zum Einwanderern können ab jetzt massiv Schlechteren. gekürzt werden, und das Vereinigte Die Briten haben in der EU seit jeher Königreich ist endgültig nicht mehr einen Sonderstatus verlangt und fata- an das EU-Ziel einer „immer engeren lerweise auch eingeräumt bekommen. Union“ gebunden. Dass Cameron sich Die eiserne Lady Thatcher wollte 1984 die Brexit-Farce selbst eingebrockt hat, ihr Geld zurück und erhielt prompt aus rein innen- bzw. parteipolitischen einen Sonderrabatt, der bis heute be- Gründen, ist vergeben und vergessen. steht: Großbritannien erhält 66 Prozent Der Premier kann sich glücklich prei- seines Nettobeitrags an den EU-Haus- sen, denn Angela Merkel braucht ihn halt zurückerstattet, was natürlich zu und seine Regierung als Verbündete. Lasten der übrigen Nettozahler geht, Ohne britische Rückendeckung wäre die diesen britischen Anteil überneh- es ihr in den vergangenen Jahren sehr men müssen. Aufheben lässt sich diese viel schwerer gefallen, die europäi- Sonderregelung nur, wenn die Briten schen Nachbarländer, Griechenland zustimmen – und auf diese echte Re- an der Spitze, in der Weise zu überrol- formidee ist noch kein britischer Pre- len, wie sie es wieder und wieder getan mier nach Thatcher gekommen. hat. Die deutsch-französische Achse Die innereuropäische Reisefreiheit nonchalant zu demolieren und statt- endet noch immer an der britischen dessen eine pur wirtschaftsnationale Grenze, am Schengen-Abkommen hat Politik auf Kosten der EU-Nachbarn sich das Vereinigte Königreich nicht zu betreiben: Mit dem gleichgesinnten beteiligt. Es ist auf Dauer der Wäh- britischen Nationalisten an ihrer Seite rungsunion ferngeblieben und zudem ging das. das Mitgliedsland der EU, das am häu- Was angesichts der Flüchtlingskrise figsten von „Opt-outs“ Gebrauch ge- allzu schnell unter den Tisch fällt: Mer- macht hat, um sich an einzelnen Maß- kel hat in der sogenannten Eurokrise nahmen der Union nicht beteiligen zu die nationalen Interessen Deutsch- müssen. Das gilt für die europäische lands, mal die der deutschen Wirt- Justiz- und Innenpolitik, sogar für die

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201604_Blaetter.indb 17 16.03.16 12:14 18 Kommentare und Berichte

europäische Charta der Grundrechte. weiligen Inländer, auch wenn das zu- Die britischen Sonderrechte entstan- nächst nur wenige Sozialleistungen den dabei stets nach dem gleichen betrifft. Für Cameron ist die Sache Muster: London bekam im Tausch für klar: Die EU hat abermals bewiesen, einen Verzicht auf sein Veto ein Opt- dass sie bereit ist, britischen Sonderin- out-Recht. Mit jedem EU-Vertrag seit teressen nachzugeben, sie hat die Aus- Maastricht ist so die Zahl der briti- nahmestellung Großbritanniens fest- schen Opt-outs gestiegen. geschrieben. Alle EU-Mitgliedstaaten Dank seines immerfort bestätigten sind gleich, aber Großbritannien ist der und erweiterten Sonderstatus steht gleichste von allen. Was will man mehr Großbritannien de facto schon lange als nationalstolzer Brite? mit einem Bein außerhalb der EU. Es Wie hältst Du es mit Europa? Das ist ist hoch an der Zeit, sich von der fatalen ein alter Streit auf der Insel. Die Tories Illusion zu befreien, es gäbe so etwas sind in der Frage seit langem tief ge- wie ein „Europa mehrerer Geschwin- spalten, sie sehen die ökonomischen digkeiten“. Nein, die Briten folgen der Vorteile und sie fürchten bzw. ver- europäischen Integration nicht in eini- abscheuen, was sie als Einmischung gem Abstand und in gemächlicherem einer fremden Macht vom „Kontinent“ Tempo – sie folgen überhaupt nicht, wahrnehmen. Sie artikulieren eine weil ihre Konzeption einer EU weni- Ambivalenz, die in der britischen Ge- ger als einen gemeinsamen Markt vor- sellschaft, bei den Eliten wie beim ge- sieht. Eine Freihandelszone würde ih- wöhnlichen Fußvolk, ungebrochen nen völlig reichen. Auf einer Sonderbe- vorherrscht: die mentale und intellek- handlung zu bestehen und eine Extra- tuelle Distanz zu Europa (oder dem wurst nach der anderen zu ordern, ent- „Kontinent“, zu dem man sich als Insel- spricht dem britischen Nationalgefühl volk nicht zählen will), wie die eifrig durchaus. Den steileren Spielarten des gepflegte Illusion, noch immer eine britischen Nationalismus jedoch reicht Großmacht zu sein. das noch lange nicht. Deren Gefange- Von solchen Illusionen lebt die Bre- ner ist aber David Cameron ebenso wie xit-Kampagne, die von der großen die gemäßigten Euroskeptiker in sei- Mehrzahl der britischen Medien tag- ner Partei. täglich befeuert wird. Da werden „blü- hende Landschaften“ mit goldenen Bergen versprochen, sobald die Briten Schotten und Waliser pro Europa sich vom Joch Europas befreit haben. Da wird der Brexit in schrillstem Ton Die Details der in Brüssel getroffenen als Ausbruch aus dem „EU-Gefängnis“ Vereinbarungen zeigen, dass man den gepriesen, so Boris Johnson, der popu- Briten ohne Rücksicht auf Verluste ent- läre Londoner Bürgermeister, der gu- gegengekommen ist. Cameron hat er- te Aussicht hat, Cameron zu beerben, reicht, dass die Briten von allen weiter wenn der über ein verlorenes Referen- gesteckten Zielen einer europäischen dum stürzen sollte. Von den enormen Integration ausgenommen bleiben. Er Kosten und Risiken eines Austritts will hat erreicht, dass die Vetorechte der man nichts wissen, im Gegenteil: Nicht Mitgliedsländer gestärkt wurden und wenige beschwören das Common- er hat erreicht, dass die geltenden Re- wealth als goldene Alternative zur EU. geln zur Freizügigkeit von Arbeitneh- Kurioserweise sind es die kleine- mern in der EU massiv eingeschränkt ren und eigentlich erklärt nationalis- werden dürfen, und zwar nicht nur auf tischen Parteien im Königreich, die der Insel. Fortan werden im EU-Aus- Schottische Nationalpartei und die Wa- land arbeitende EU-Bürger nicht mehr lisische Nationalpartei, die ohne Wenn die gleichen Rechte haben wie die je- und Aber in der EU bleiben wollen.

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201604_Blaetter.indb 18 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 19

Ihnen ist der britische Großmachtchau- prominente Wortführer der außerpar- vinismus, wie ihn vor allem die UKIP lamentarischen Linken und einige Ge- pflegt, höchst suspekt. Nikola Stur- werkschaftsführer trommeln für den geon, die resolute Chefin der SNP, hat Brexit, weil sie die EU für nicht refor- schon angekündigt, dass im Brexit-Fall mierbar halten. In ihrer gegenwärtigen ein neues Referendum über die Unab- Form sei die EU ein neoliberales Bü- hängigkeit Schottlands folgen werde. rokratiemonster, das jede linke Politik Ein unabhängiges Schottland dürfte unmöglich mache. Das Paradebeispiel, unverzüglich die Aufnahme in die EU das sie alle anführen, ist das Scheitern beantragen. der Syriza-Regierung, die von Merkel, Der neue Labour-Chef Jeremy Cor- Schäuble und Co. zur Kapitulation ge- byn, der sehr erfolgreich dabei ist, die zwungen wurde. Corbyn, so die EU- Labour Party von innen heraus, mit Gegner, würde es nicht anders erge- Hilfe hunderttausender Neumitglie- hen. der zu erneuern, hat die Politik der EU dagegen immer wieder kritisiert. Er stimmte gegen den Maastricht-Ver- Corbyns Dilemma trag, er stimmte 1975, beim ersten bri- tischen Referendum über den Verbleib Dieses Argument kann Corbyn in der in der EWG, für den Austritt. Jedoch Tat nicht ignorieren. Sein Dilemma ist erklärte er schon im Sommer letzten das Dilemma der europäischen Lin- Jahres, dass er dieses Mal für den Ver- ken: Sie kann mit der EU, wie sie heute bleib in der EU kämpfen werde – und ist, nach zwei Jahrzehnten neolibera- die Labour Party mit ihm. Und zwar ge- ler Hegemonie nicht glücklich sein; rade weil er die EU in ihrer gegenwär- sie kann sich aber auch nicht ernsthaft tigen Form für höchst reformbedürf- gegen die Fortsetzung eines europäi- tig hält. Corbyns Argument – wie das schen Projekts wenden, das die Klein- der Schottischen Nationalpartei und staaterei und die nationalistischen Fu- der britischen Grünen – lautet schlicht, rien gerade überwinden soll. dass die Chancen zur Erneuerung der Die europäische Einigung war und EU besser stünden, wenn man es von ist ein linkes Projekt von Anfang an; innen, als vollwertiges Mitglied der die Idee der „Vereinigten Staaten von Union, versucht. Corbyn hätte als bri- Europa“ wurde lange vor dem Ersten tischer Regierungschef wohl das Zeug, Weltkrieg aus dem Geist der Sozialis- tatsächlich die dringend erforderliche tischen bzw. Sozialdemokratischen Reform der EU an Haupt und Gliedern Internationale geboren. Konservati- anzustoßen, möglicherweise im politi- ve und Liberale waren erst nach den schen Tausch gegen einen Verzicht auf Katastrophen zweier Weltkriege hin- die Opt-outs und Sonderrechte Groß- reichend klug geworden, um sich an britanniens. einem derartigen Experiment zu betei- Das ist keine Kleinigkeit, denn La- ligen, sogar die „Keine Experimente“- bour war nicht immer so entschieden Partei Konrad Adenauers. proeuropäisch gesinnt. Tony Benn und Die EU wurde in ihrer langen Ge- Michael Foot, zwei bis heute legendä- schichte entscheidend von linken Re- re linke Labour-Chefs, plädierten offen formern geprägt. Kaum jemand hat sie für einen Austritt aus der damaligen so geprägt wie Jacques Delors, der am EWG, in ihren Augen ein unheilbar längsten dienende Kommissionspräsi- „kapitalistischer Club“. Solche Stim- dent und der eigentliche Architekt der men gibt es in der Labour Party nach Union und etlicher zentraler Gemein- wie vor. Eine Handvoll Abgeordneter schaftsprojekte. Unvergessen ist auf hat sich bereits unter der Firma „Leave der Insel, wie er mit einer einzigen lan- Labour“ zusammengefunden. Auch gen Rede vor der Generalversammlung

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201604_Blaetter.indb 19 16.03.16 12:14 20 Kommentare und Berichte

des britischen Gewerkschaftsdachver- Machtposition der Gläubigerstaaten bands TUC 1988 die traditionell chau- dort weit weniger überwältigend ist als vinistischen britischen Gewerkschaf- im Fall Griechenlands. ten (und damit Labour) für die europäi- Bleibt die Frage, die sich nicht nur sche Integration gewann: mit dem Pro- die Briten stellen müssen: Was ist jekt eines „sozialen Europa“, für das er eigentlich erreicht, wenn man sich dann in den folgenden Jahren etliche nach einem Brexit – links oder rechts – Bausteine geliefert hat. Die europäi- außerhalb der EU wiederfindet, befreit schen Sozialfonds, von denen die süd- von angeblichen „Diktaten“ aus Brüs- und osteuropäischen Beitrittsländer sel? Was kann man mit der dann an- erheblich profitiert haben, sind im We- geblich wiedergewonnenen Souverä- sentlichen sein Werk. nität tatsächlich anfangen? Die Marktfundamentalisten, die Auch die größten und stolzesten Na- nach ihm kamen, haben den Bau der tionalstaaten Europas sind heute nur EU dann allerdings schwer beschädigt noch Kleinstaaten. Allerdings Klein- und bei seinen Bewohnern in Miss- staaten, die auf den Weltverkehr und kredit gebracht. Das ist jedoch kein Welthandel ebenso angewiesen sind Grund, ihnen das Terrain kampflos zu wie auf die Weltfinanz. Sich davon überlassen, im Gegenteil. durch hohe Grenzzäune abzuschotten, Es ist schlicht nicht wahr, dass die gelingt nicht einmal der Weltmacht neoliberale Ausrichtung der EU-Politik USA. Die Briten werden nach einem unumkehrbar sei. Der Vertrag von Lis- Brexit sehr bald merken, dass sie das sabon, der 2009 an die Stelle des 2005 industrielle, finanzielle und militäri- in Referenden in Frankreich und den sche Potential schlicht nicht haben, das Niederlanden gescheiterten Verfas- zu einer Großmacht nun einmal gehört. sungsentwurfs trat, kann – und muss – Selbst der Exportgigant Bundesrepu- selbstverständlich geändert werden. blik mit seiner im Vergleich zu Groß- Die überall, außer in Merkelland, wach- britannien gigantischen industriellen sende Unzufriedenheit mit der Austeri- Basis verfügt darüber nicht. Gegen- tätspolitik und ihren falschen Verspre- über wirklichen Großmächten, gleich chungen macht Vertragsänderungen ob sie sich historisch auf dem auf- oder auf Dauer unvermeidlich. absteigenden Ast befinden, haben die Hinter der genialen Idee, man müsse Länder und Völker Europas auf Dauer aus der EU austreten, um wirtschafts- nur eine Chance – wenn sie sich föde- und finanzpolitische Handlungsfrei- ral, als neue bundesstaatliche Einheit heit zurückzugewinnen, die man für organisieren. eine entschieden linke Politik brau- In dieser können und werden die che, steht nichts als die Enttäuschung heutigen Nationalstaaten eine ähnli- über die schwere, aber absehbare Nie- che Rolle spielen wie heute die Länder derlage, die die Phalanx der Gläubi- in der Bundesrepublik. Autarkie und gerstaaten der Syriza-Regierung bei- der Rückzug ins schützende Gehäuse bringen konnte. Diese Enttäuschung des Nationalstaats oder gar Sozialis- ist verständlich, aber ebenso irrational mus in einem Land: Das sind alles hoff- wie die wild übertriebenen Erwartun- nungslos überholte Glaubensartikel. gen, die die Syriza-Akteure selbst und Selbst der wütendste Nationalismus ihre Anhänger in der europäischen bietet keinen Schutz vor den Stürmen Linken an diesen Regierungswechsel des Weltmarkts, heute weniger denn geknüpft hatten. Andere Konflikte – je zuvor in der Geschichte des Kapita- wie der mit der neuen portugiesischen lismus. Das kann – wie auch und ge- oder der mit einer immer noch mögli- rade die Dramen an den europäischen chen neuen spanischen Linksregie- Grenzen zeigen – nur die politische rung – können anders ausgehen, da die Einheit Europas leisten.

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Susanna Böhme-Kuby Italien: Renzi auf Schlingerkurs

Auf dem Brüsseler Parkett ist Matteo Einsatz gegen Korruption und Steuer- Renzi zuletzt durch lautstarke Polemik flucht.1 aufgefallen. So zogen sich die Vise- grád-Staaten den Zorn des italieni- schen Premierministers zu, weil sie die Von der Realität eingeholt europäische Umverteilung von Flücht- lingen verweigern und damit auch sein Tatsächlich hält Italien unter den Land belasten. großen europäischen Nationen seit Gestritten wird aber vor allem über langem einige Negativrekorde: Die die europäische Haushaltspolitik. Die Steuerhinterziehung hat extreme Aus- EU, so klagte Renzi, müsse allen Mit- maße erreicht, während zugleich die gliedstaaten nützen und nicht nur Lohnabhängigen unter der europa- einem Land. Gemeint ist Deutschland, weit höchsten Steuerlast ächzen. Die dessen wirtschaftspolitischer Kurs in Jugendarbeitslosigkeit gehört zu den Europa dominiert, aber in Rom zu- höchsten in der EU, ebenso die Zahl nehmend auf Widerstand stößt. Renzi der Arbeitsstunden pro Kopf. Zugleich mahnt durchaus Schritte an, die zu sind die Produktionsanlagen nur we- einem Kurswechsel in der EU beitra- nig ausgelastet, und die Investitions- gen könnten. Jedoch ist seine Kritik quote in Bildung, Forschung und Ent- am deutschen Beharren auf Kürzen wicklung liegt auf einem Tiefstand. und Sparen nur bedingt glaubwürdig: Der jungdynamische Matteo Renzi Denn im eigenen Land treibt er selbst versprach vor zwei Jahren wortreich, die geforderten neoliberalen Reformen die größten Produktionshindernisse stärker voran als alle seine Vorgänger. abzubauen und die vielen brachliegen- So wirkt manches an seinen Brüsse- den kreativen Ressourcen zu nutzen. ler Auftritten bloß wie Theaterdonner, Jetzt aber droht die Realität den Regie- inszeniert fürs heimische Publikum: rungschef einzuholen und veranlasst Im Juni stehen wichtige Kommunal- ihn zu forschen Tönen auch gegenüber wahlen an, bei denen Renzis Demo- Brüssel. kratischer Partei (PD) Stimmenverlus- Renzi treibt also primär die Sorge um te drohen. Beppe Grillos 5-Sterne-Be- sein politisches Überleben und weni- wegung ist ihr dicht auf den Fersen ger eine grundsätzliche Kritik am wirt- – und punktet nicht zuletzt mit Fun- schaftspolitischen Kurs der EU. Anders damentalkritik am Euro. Obendrein als manche Beobachter jenseits der schwindet auch Renzis Popularität: Alpen annehmen,2 wird er sich daher Haben nach den Europawahlen im Mai nicht zur Gruppe linker austeritätskri- 2014 immerhin 56 Prozent der Wähler tischer Bewegungen in Spanien, Por- ihr Vertrauen in ihn bekundet, sind es tugal oder Griechenland gesellen. Das heute gerade noch 38 Prozent. Die von zeigte sich deutlich bei der Griechen- ihm geführte Regierung steht nach landkrise im Sommer 2015, ebenso wie zweijähriger Amtszeit kaum besser da: Über die Hälfte der Befragten be- 1 Vgl. 2 anni di Governo Renzi nel giudizio degli italiani, www.demopolis.it, 22.2.2016. wertet die Arbeit des Kabinetts negativ 2 Vgl. etwa Steffen Vogel, Spanien und Portugal: und vermisst vor allem einen stärkeren Der linke Aufbruch, in: „Blätter“, 2/2016, S. 17-20.

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bei seinem Vorgehen im Inland: Seine Diese Schwäche zeigt auch das Posi- linken Kritiker in der PD lässt er ziehen, tionspapier zur „strategischen Reform ohne mit der Wimper zu zucken. Bei der der EU“, das Wirtschaftsminister Pier Durchsetzung seiner Reformen setzt Carlo Padoan Mitte Februar vorgelegt er pragmatisch auf den rechten Koali- hat. Einerseits konstatiert Rom, die tionspartner (die Partei des ehemali- bisherige expansive Geldpolitik der gen Berlusconi-Intimus Angelino Alfa- EZB erweise sich als ungenügend, um no) und sogar auf die noch weiter rechts einen Aufschwung anzustoßen.4 stehende Opposition: Schließlich ver- dankt er sein Regierungsbündnis der Zustimmung des Cavaliere selbst.3 Die Wähler umwerben Gern greift er auch zur Vertrauens- frage, selbst bei Verfassungsrefor- Andererseits steht die Regierung zu men. Die bedürfen daher im Oktober allen neoliberalen Richtlinien, nach 2016 noch der Bestätigung durch eine denen der Sozialstaat und die Arbeits- Volksabstimmung. Dieses Plebiszit sti- rechte abgebaut werden und denen lisiert Renzi bereits jetzt zu einer Ab- zufolge Privatisierungen und eine wei- stimmung über ihn selbst als Regie- tere Liberalisierung der Kapitalmärkte rungschef – und gar über Leben und anzustreben sind. Folglich stellt Renzi Tod Italiens. Vorsorglich hat Renzi die keineswegs das europaweit vereinbar- Führungsposten bei der RAI, dem öf- te Ziel ausgeglichener Staatshaushalte fentlichen Fernsehen, mit Leuten aus infrage, geschweige denn den Fiskal- seinem Netzwerk besetzt. Eine mehr pakt – also genau jene Abkommen, die als nur gewogene Berichterstattung ihn an höheren Ausgaben zur Stimu- von großen Teilen der Medien ist ihm lierung der Wirtschaft hindern. Wo- also sicher. Betont wird im Fernsehen rum es ihm lediglich geht, ist der Spiel- immer wieder die positive Wirkung raum von einigen Dezimalpunkten des des Jobs Act, eines Herzstücks seiner Primärüberschusses (der im Haushalt Reformen: Dieses Gesetz schwächt erzielt wird, wenn unter Ausklamme- unter anderem den Kündigungsschutz rung des Schuldendienstes ein Plus und förderte bisher den Abschluss von verbucht werden kann). Einen solchen 764 000 neuen unbefristeten Arbeits- gibt es seit Jahren, und könnte Renzi verträgen. Für jeden erhielten die diesen ausschöpfen, stünden ihm ei- Unternehmer bisher 8000 Euro Erlass nige Milliarden Euro mehr zur Verfü- der Lohnnebenkosten. Doch handelt gung, um die Italiener bis zur nächsten es sich in gut 80 Prozent aller Fälle bloß Parlamentswahl 2018 zu umwerben. um die Umwandlung einer bereits be- Schon jetzt versucht er, die Wählerin- stehenden prekären Beschäftigung. nen und Wähler mit großen Gesten Neue Arbeitsplätze entstanden hin- an sich zu binden: Bezieher mittlerer gegen nur in geringer Zahl. Spätestens Einkommen erhalten bereits seit 2014 nach Ablauf der Förderung droht die pauschal 80 Euro mehr pro Monat (als Reform, die 12 Mrd. Euro kostet, also zu Steuererlass). Und künftig sollen alle verpuffen, sofern es zu keinem wirk- Jugendlichen zu ihrem 18. Geburtstag lichen ökonomischen Aufschwung 500 Euro aus der Staatskasse erhalten – kommt. Auch deshalb erhebt Renzi zum „Konsum von Kultur“. Die öffent- nun in Brüssel Anspruch auf größere lichen Bildungsausgaben aber wur- finanzielle Spielräume bei der Ausga- den in den vergangenen beiden Jahr- benpolitik. Nur fehlt auch dafür eine zehnten um viele Millionen gesenkt tragfähige Investitionsplanung. 4 Vgl. Rudolf Hickel, Macht und Ohnmacht 3 Vgl. Susanna Böhme-Kuby, Renzusconis Ita- der EZB. Warum Europa eine gemeinsame lien, in: „Blätter“, 10/2014, S. 9-13; dies., Bull- Finanz- und Wirtschaftspolitik braucht, in: dozer Renzi, in: „Blätter“, 7/2015, S. 25-28. „Blätter“, 2/2016, S. 93-100.

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und das Schulsystem entsprechend lich am stärksten leiden. Rom und Paris verschlechtert. Ähnlich unausgego- schwebt hingegen eher ein europäi- ren sind die Regierungsvorschläge für sches Gegengewicht zum mächtigen mögliche Neuinvestitionen: Das Posi- Deutschland vor. Dies geschieht im tionspapier von Padoan setzt auf die Falle Renzis auch aus innenpolitischer 315 Mrd. Euro des Juncker-Plans. Das Not: Die bisherige, deutsch geprägte gleicht allerdings einer Luftbuchung: europäische Wirtschaftspolitik nimmt Denn das Geld für Junckers Initiative seiner Regierung die Luft zum Atmen. soll überwiegend von privaten Inves- Denn schon jetzt ist absehbar, dass je- toren kommen, und es gilt als fraglich, ne Schätzungen über die ökonomische ob die Summe erreicht werden kann. Entwicklung Italiens, auf denen die Selbst im günstigsten Fall werden die- Haushaltsplanung basiert, zu optimis- se Mittel in der gesamten EU verteilt tisch geraten sind: So wird das letztjäh- – und nicht allein Italien zugute kom- rige Anwachsen des Bruttosozialpro- men. Ein wirkungsvolles Konjunktur- dukts um 0,8 Prozent als Aufbruch aus programm sieht anders aus. der Rezession verbucht. Doch wenn das erwartete Wachstum in Zukunft ausbleibt, dürfte es Rom schwerlich ge- Luft zum Atmen lingen, Defizit und Neuverschuldung im vorgesehenen Rahmen zu halten. Konsequenter zeigt sich Renzi, wenn Dann würde der Druck aus Brüssel es um eine gemeinsame europäische wachsen, und Italien stünde vor erheb- Wirtschaftspolitik geht. So fordert er lichen finanziellen und sozialen Prob- etwa einen europäischen Fonds zum lemen. Schutz gegen Arbeitslosigkeit. In die- sem Zusammenhang weist er auch darauf hin, dass Italien zu den Netto- Fatale Wende zahlern der EU gehört und dass von den jährlich nach Brüssel abgeführten Ohnehin ist dieser Druck zum Kürzen 20 Mrd. Euro nur 12 Mrd. für Investi- in Italien konstant gegeben. Er resul- tionen an Rom zurückfließen. Auch tiert aus den hohen Staatsschulden plädiert Renzi erneut für Eurobonds: des Landes. Beim Tauziehen der letz- Diese sollen den Flüchtlingsnotstand ten Jahre zwischen Brüssel und Rom finanzieren helfen, wovon nicht zuletzt ging es denn auch zumeist um deren Italien profitieren würde. Denn die Absenkung: Die Schulden wachsen große Wanderungsbewegung dürfte kontinuierlich an, weil sie das Land das Land künftig noch stärker betref- mit einem Zinsdienst von jährlich rund fen, wenn die Schutzsuchenden nach 80 Mrd. Euro belasten. Längst überstei- der Abriegelung der Balkanroute auf gen die gezahlten Gesamtzinsen die anderen Wegen gen Norden ziehen. eigentliche Staatsschuld.5 Dieser fatale Am bedeutsamsten ist aber, dass Ren- Kreislauf kann durch keine Sparpolitik zi eine Forderung Frankreichs unter- nachhaltig aufgehalten werden, son- stützt und sich für einen europäischen dern nur durch einen Schuldenschnitt. Finanzminister ausspricht. Geht es In Gang gesetzt wurde dieser Kreis- nach Rom und Paris, wird dieser über lauf mit der Trennung von Banca d‘Ita- ein eigenes Budget verfügen. Das ist lia und Finanzministerium im Sommer entscheidend: Denn ohne eigene, euro- 1981. Bis dahin hatte sich die Regie- päische Mittel wäre ein solcher Mi- rung direkt finanzieren können, indem nister nichts anderes als ein Wächter sie Staatsanleihen ausgab. Sie sprach Berlins, der die Einhaltung jener Aus- teritätspolitik kontrolliert, unter denen 5 Vgl. Paolo Ferrero, La truffa del debito pubblico, die südeuropäischen Staaten bekannt- Rom 2014.

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den Zinssatz dieser Anleihen mit der re zu begrenzen. Zu deren Errungen- Zentralbank ab, und diese übernahm schaften zählte beispielsweise die die nicht verkauften Papiere zum ga- „Scala mobile“, die automatische An- rantierten Zins, der unter der Infla- passung der Löhne an die steigenden tionsrate lag. Diese Zusammenarbeit Inflationsraten. Nun aber begann die schloss Zinsspekulationen aus und bot Umschichtung der finanziellen Res- nach dem Krieg die staatlichen Rah- sourcen von unten nach oben. menbedingungen für das italienische Einen ähnlichen Mechanismus be- Wirtschaftswunder mit seinen „chine- obachten wir heute bei der Europäi- sischen“ Zuwachsraten. Doch mit der schen Zentralbank. Sie gebietet zwar Autonomie der Zentralbank ab 1981 immerhin der zerstörerischen Speku- wurde der Markt der italienischen lation auf Staatsanleihen Einhalt, seit Staatsanleihen für die private Spekula- EZB-Präsident Mario Draghi 2012 sei- tion geöffnet. Denn für nicht verkauf- ne berühmte Aufkaufgarantie ver- te Papiere musste der Staat nun den kündet hat. Gleichzeitig aber leitet Zinssatz erhöhen, der bald über der In- sie ihre Geldflut aus dem sogenann- flationsrate lag – und den Käufern bis ten Quantitative Easing nicht direkt an heute ordentliche Gewinne sichert: Im die europäischen Staaten weiter, son- Schnitt lag die Verzinsung über die dern schickt sie – bis Mitte März zum Jahrzehnte bei gut 4 Prozent. Niedrig-Zinssatz von unter 0,05 Pro- Diese Wende in der italienischen zent – an die Banken, die damit weiter Wirtschaftspolitik markierte ein Etap- an der Börse spekulieren. Könnte Ita- penziel, um die Kosten der erfolgrei- lien seine Staatsschuld von inzwischen chen Arbeitskämpfe der 1970er Jah- etwa 2200 Mrd. Euro zu denselben 0,05 Prozent finanzieren, würde dies das Land lediglich gut eine Mrd. Euro pro Jahr kosten – eine Ersparnis von etwa 79 Mrd. Dann würde der Staat über ge- nügend Spielraum verfügen, um Wirt- Anzeige schaft, Land und Institutionen zu sa- nieren. So aber muss Jahr für Jahr die Finanzspekulation mit vielen Milliar- den bedient werden. Auch deswegen ist die Realwirt- schaft in Italien von anhaltender Stag- nation geprägt. Da helfen auch positi- ve Exportdaten in einzelnen Teilbran- chen wenig. Denn der Binnenkonsum und die Löhne stagnieren seit allzu lan- ger Zeit. Italien befindet sich in einer Art Schuldknechtschaft. Und solange man an der Legende festhält, der Staat sei verschwenderisch und frühere Ge- nerationen hätten „über ihre Verhält- nisse gelebt“, wird sich daran wenig ändern. Vielmehr benötigt Italien – ge- nau wie andere europäische Länder – einen Schuldenschnitt. Der aber bleibt in Berlin und Brüssel ein Tabu, Grie-

[email protected] chenland kann ein Lied davon singen. shop.welttrends.de www.welttrends.de Das macht wenig Hoffnung auf eine al- ternative Entwicklung in der EU.

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201604_Blaetter.indb 24 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 25

Edgar Göll Kubanische Gratwanderung

Der sozialistische Inselstaat Kuba steht Dass Kuba neue Wege einschlagen einmal mehr vor immensen Heraus- muss, ist auf dem Inselstaat weitge- forderungen. Auf dem kommenden hend Konsens. Weil dem Land Roh- Parteitag der Kommunistischen Partei stoffvorkommen fehlen und es zugleich (PCC) Mitte April muss die kubanische über eine gut ausgebildete Bevölke- Führung grundlegende Richtungsent- rung verfügt, strebt die Regierung in scheidungen treffen – in der Innen- wie Havanna ein technologiebasiertes Ent- in der Außenpolitik. wicklungsmodell an: Mit entsprechen- Innenpolitisch müssen die seit fünf den Strukturprogrammen sollen aus- Jahren unter der Leitung von Raúl Cas- gewählte ausländische Unternehmen tro verstärkten Maßnahmen zur „Ak- ins Land gelockt werden, die dann tualisierung des Sozialismus“ endlich Arbeitsplätze für Ingenieure, Techni- Erfolge zeitigen. Nur dann ließen sich ker und Wissenschaftler schaffen. Das die Wirtschaftsleistung erhöhen und neue Investitionsgesetz von 2014 hat die alltäglichen Versorgungsproble- die Erwartungen bislang allerdings me der Bürgerinnen und Bürger spür- nicht erfüllt: Die US-Blockade, die bar beheben. Raúl Castro ist sich der strikten Beschäftigungsbedingungen Herausforderung bewusst. Auf dem und die immer wieder verschobene letzten Gipfel der Bolivarischen Alli- Währungsreform schrecken Investoren anz (ALBA) Ende 2014 betonte er: „Das noch immer ab. Für die Kubaner selbst Überleben des Sozialismus hängt von ist die seit der Krisenperiode der 1990er der Entwicklung der Produktivkräf- Jahre neben dem Peso existierende te ab. Gleichzeitig sind die sozialen konvertible Devisenwährung CUC ein Programme der Revolution nicht ohne Mechanismus der sozialen Ungleich- Wirtschaftskraft zu erhalten. Dazu be- heit: Manche Waren sind nur mit CUC nötigt man finanzielle Ressourcen.“ zu kaufen. Dessen Abschaffung ist eine Um diese zu bekommen, muss Ku- hochsensible Herausforderung. ba seine außenpolitischen Beziehun- Darüber hinaus müssen die Wirt- gen ausbauen und bestenfalls ein En- schaft und die Verwaltung verschlankt de der Wirtschaftsblockade erreichen. und modernisiert werden. Die Mobili- Die kubanische Führung muss daher sierung von vorhandenen Ressourcen die derzeitige Annäherung an die USA und deren Management sowie die da- und andere westliche Staaten fortfüh- zu erforderlichen Ausbildungs- und ren – und zugleich eine Antwort auf die Qualifikationsmaßnahmen sind nach Schwächung wichtiger lateinamerika- wie vor unzureichend – insbesondere nischer Partnerstaaten finden. in der Landwirtschaft. Zentrale Her- Überstürzen will die alte Führungs- ausforderungen sind die Erhöhung der generation unter Raúl Castro dabei Löhne, um Anreize zur Arbeit zu schaf- nichts. Sie folgt der Devise „Mit Be- fen, und der Kampf gegen die grassie- dacht, aber ohne Pause“. Die selbst auf- rende Korruption. erlegte Besonnenheit ist in der Tat rat- Bereits seit Jahren versucht die Re- sam: Denn politische Fehlentscheidun- gierung, die Landwirtschaft weiterzu- gen könnten das ganze kubanische Ge- entwickeln, da die Nahrungsmittel- sellschaftssystem ins Wanken bringen. importe einen Großteil der begrenzten

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201604_Blaetter.indb 25 16.03.16 12:14 26 Kommentare und Berichte

Deviseneinnahmen Kubas aufzehren. nahme der 1961 von den USA abgebro- Bisherige Reformen haben immerhin chenen diplomatischen Beziehungen dazu geführt, dass Privateigentümer an; vorausgegangen waren 18 Monate inzwischen auf etwa einem Viertel der lange Geheimverhandlungen – unter- landwirtschaftlich verfügbaren Flä- stützt von Papst Franziskus. che rund 57 Prozent der kubanischen Seither kam es zu offiziellen Ver- Nahrungsmittel produzieren. Aller- handlungsrunden und der Aufnah- dings wurden dabei weitere Engpässe me diplomatischer Beziehungen. Eine sichtbar: Finanzierungsmöglichkeiten neue Phase der Nachbarschaft zwi- in Form von Krediten gibt es in Kuba schen den beiden so unterschiedlichen kaum, Maschinen und Benzin sind Staaten scheint angebrochen. Doch für ebenfalls Mangelware. Zudem zeigen Kuba stellt diese Annäherung eine wei- viele Kubaner wegen ihrer hohen Qua- tere riskante Gratwanderung dar, denn lifikation wenig Interesse, in der Land- die Unterschiede zwischen den USA wirtschaft zu arbeiten. und Kuba sind grundsätzlicher Natur: Regierung und Gesellschaft müs- hier eine offensive, imperiale Politik sen also eine schwierige Gratwande- der Supermacht aus der „Ersten Welt“, rung vollführen und dabei eine ange- dort das Vorbild eines unabhängigen messene Balance zwischen wirtschaft- Entwicklungsweges für zahlreiche licher Effektivität und kubanisch-ka- Länder der sogenannten Dritten Welt. ribischem Lebensstil halten, zwischen Weitere Unterschiede bestehen hin- individueller Leistung und garantier- sichtlich der ökonomischen und mi- ter gesellschaftlicher Versorgung. litärischen Macht, im Charakter der Die Chancen der Gratwanderung Systeme – Sozialismus oder Kapitalis- liegen in einer – dringend notwendi- mus, „Kultur des Seins“ oder „Kultur gen – Verbesserung der Lebensbedin- des Habens“ – und schließlich auch in gungen. Die Risiken bestehen darin, der Intention der langjährigen Kontra- dass auch Kuba die Folgen kapitalis- henten: Kuba möchte eine faire Nach- tischen Wirtschaftens erfährt: Entso- barschaft, die USA wollen durch neue lidarisierung, Konkurrenzkampf, Hy- Taktiken der soft power den lange an- perkonsum sowie soziale und ökologi- gestrebten regime change in Havanna sche Ausbeutung und damit verbun- erreichen. Einschlägige US-Institutio- dene Negativeffekte wie Kriminalität, nen – wie die United States Agency for Drogenmissbrauch und Aggressionen International Development (USAID) – nach innen wie nach außen. tun ebendies, in dem sie Millionenbe- träge bereitstellen, die der Unterstüt- zung bzw. dem Aufbau oppositioneller Die Annäherung an die USA Gruppen in Kuba zugute kommen. Das Themenspektrum der Regie- Diese Gratwanderung wird Kuba rungsverhandlungen ist breit: von kaum ohne internationale Unterstüt- Flugverkehr, Schmuggel und Tele- zung gelingen. Ein wichtiger Faktor ist kommunikation über Ein- und Aus- dabei das Verhältnis zu den Vereinig- wanderungsfragen, neuen Regulatio- ten Staaten. nen bei der Durchführung der US-Blo- Die Annäherung zwischen Havanna ckadegesetze bis hin zu Menschen- und Washington war lange vorbereitet rechten und der Auslieferung politi- worden. Am 17. Dezember 2014 räum- scher Flüchtlinge. Besonders deutliche te US-Präsident Barack Obama das Veränderungen werden für Kuba nach Scheitern der bisherigen Kubapolitik Lockerung der restriktiven Reisebe- seines Landes ein. In zeitgleich ausge- stimmungen im Tourismussektor er- strahlten Fernsehansprachen kündig- wartet: 2014 reisten bereits 369 000 US- ten er und Raúl Castro die Wiederauf- Bürger nach Kuba – meist mit Sonder-

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201604_Blaetter.indb 26 16.03.16 12:14 Kommentare und Berichte 27

regelungen zu Bildungszwecken oder gen keine Anzeichen eines Entgegen- über Drittstaaten. Schätzungen zufol- kommens. ge werden absehbar bis zu drei Millio- Die Blockade umfasst ein Ausfuhr- nen US-Touristen pro Jahr Kuba besu- verbot von US-Produkten nach Kuba chen. Schon jetzt sind Kubas Kapazitä- sowie ein Einfuhrverbot kubanischer ten überlastet. Waren in die Vereinigten Staaten. Auch wenn Kuba auf eine Normali- Selbst Waren, die unter Verwendung sierung der Beziehungen hofft, so stellt kubanischer Rohstoffe wie Nickel her- es zugleich auch klare Bedingungen an gestellt wurden, dürfen nicht impor- die USA – darunter ein Ende der Blo- tiert werden. ckade, die Rückgabe des Territoriums In den Jahren 1992 und 1996 wur- des US-Militärstützpunktes in Guantá- de die Blockade zusätzlich verschärft: namo und die Beendigung der vielfäl- Drittländer oder deren Unternehmen tigen subversiven Aktionen. Dazu ge- müssen seitdem mit Sanktionen rech- hören beispielsweise die Propaganda nen, sollten sie Handel oder Finanz- des US-amerikanischen Senders Martí transfers mit Kuba betreiben. Aller- oder des „Cuban Medical Professional dings fordert die UN-Generalversamm- Parole“, die im Ausland tätige kubani- lung bereits seit 1992 alljährlich fast sche Gesundheitsarbeiter zur Emigra- einmütig ein Ende der Blockade. Den- tion in die USA bewegen wollen. noch bestrafte das US-Justizministe- In Menschenrechtsfragen zeigt sich rium allein während der Regierungs- Havanna ebenfalls offensiv: Die Regie- zeit Obamas in etwa 130 Fällen Trans- rung sucht nach eigenen Angaben den aktionen von Institutionen aus Dritt- „Dialog auf Augenhöhe“ und spricht ländern mit Kuba hart: So musste die „Folterpraktiken in US-Gefängnissen, französische Bank BNP Paribas im Ju- die rassistischen Polizeiübergriffe und ni 2014 die Rekordstrafe von neun Mrd. die geringeren Löhne von Frauen für US-Dollar unter anderem wegen ihrer gleiche Tätigkeiten“ offen an.1 Geschäfte mit Kuba zahlen. Eine ähnli- che Strafaktion erfolgte am „D-17“: Als Obama vor über einem Jahr eine Än- Blockade aus Rache derung der US-Politik gegenüber Ku- ba ankündigte, verhängte das Office Die zentrale Hürde für bessere ge- of Foreign Assets Control gegen die meinsame Beziehungen ist aus Kubas Commerzbank eine Strafe in Höhe von Sicht jedoch die seit knapp 55 Jahren 650 000 Dollar, weil sie gegen unilate- bestehende US-Blockade gegen das rale US-Embargobestimmungen ver- Land. Nach wie vor sieht die kubani- stoßen habe. sche Führung in ihr eine „institutiona- Ähnlich wie die US-Regierung stellt lisierte Rache“2 der USA, weil sich ein auch die Europäische Union für den kleines Land von dessen Dominanz be- Ausbau der bilateralen Beziehungen freite und „im Hinterhof der USA“ eine Vorbedingungen an Kuba. Sie betreffen sozialistische Gesellschaft aufbaute. die Menschenrechte, den Systemwech- Aufgrund der derzeitigen politischen sel und den Ausbau der Marktwirt- Verhältnisse in Washington dürfte die schaft. Dieser „Gemeinsame Stand- Blockade jedoch nur schwer zu über- punkt“ wurde 1996 parallel zur Ver- winden sein: Derzeit halten die Repu- schärfung der US-Gesetze gegen Ku- blikaner im Abgeordnetenhaus wie ba und mittels direkter Einflussnah- auch im Senat die Mehrheit – und zei- me der Clinton-Administration begon- nen. In dem Beschluss werden zahl- 1 Vgl. „Die USA ändern nicht die Ziele ihrer reiche konkrete Einflussnahmen be- Politik“, Interview mit Gladys E. Ayllón Oliva, in: „junge Welt“, 6.2.2015. nannt; einen solchen Politikansatz ver- 2 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 19.12.2014. folgt die EU ansonsten gegenüber kei-

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201604_Blaetter.indb 27 16.03.16 12:14 28 Kommentare und Berichte

nem anderen Staat. Nach einer länge- der: Während Venezuela Erdöl zu Prei- ren Eiszeit zwischen der EU und Kuba sen unterhalb des Weltmarktpreises begannen 2013 wieder offizielle Ge- liefert, zahlt Kuba unter anderem mit spräche – unter anderem auch deshalb, medizinischen Dienstleistungen. weil über die Hälfte der Mitgliedstaa- ten bereits bilaterale Abkommen mit Kuba geschlossen und damit den rigi- Der lange Atem der Revolution den Ansatz unterhöhlt hatten. Auf Seiten der EU und auch der Die alte Generation der kubanischen Bundesregierung gibt es nur verhal- Revolution von 1959 wird voraussicht- tene Fortschritte bei der Annäherung lich 2018 offiziell abtreten. Raúl Castro an Kuba. Bislang nahmen lediglich hat bei seiner Wahl angekündigt, kein Außenminister Frank-Walter Stein- weiteres Mal zu kandidieren. Zuvor meier und Bundeswirtschaftsminister möchten die alten Revolutionäre der Sigmar Gabriel direkten Kontakt mit jüngeren Generation alte Hemmnisse der kubanischen Regierung auf – ohne in Bürokratie und Wirtschaft aus dem konkrete Abkommen mit dieser abzu- Weg räumen und eine gute Nachbar- schließen. schaft mit den USA hinterlassen. Auf- Dabei sollten globale Herausforde- grund der Erfahrungen des letzten rungen wie der Klimawandel, das Ar- Jahrzehnts kann man davon ausgehen, tensterben und die soziale Polarisie- dass dieser Übergang in die Post-Cas- rung dazu verleiten, mit Nachdruck tro-Zeit relativ konfliktfrei verlaufen und Vehemenz Kooperation zu begin- wird. Voraussichtlich wird eine „kol- nen, zumal Kuba in Sachen nachhal- lektive Führung“ noch stärker als bis- tiger Entwicklung sehr gut dasteht. her die Geschicke des Landes steuern, So wären Umwelttechnologien deut- denn die akuten Herausforderungen scher Unternehmen für die Entwick- der kubanischen Gesellschaft sind lung eines nachhaltig ausgerichteten nicht länger primär mit einer „charis- kubanischen Sozialismus eine sinnvol- matischen Führung“ zu meistern. Vor le Investition. Die weitere Annäherung allem die Jugend ist ungeduldig. sowohl an die USA als auch an die EU Die politische und wirtschaftliche hat für die kubanische Regierung ent- Zukunft Kubas hängt allerdings nicht scheidende Bedeutung – nicht zuletzt zuletzt vom Ende des 56 Jahre andau- weil ihr andernorts Bündnispartner ernden „Zermürbungskrieges gegen abhanden kommen. Ende vergange- die kubanische Revolution“ ab.3. nen Jahres haben die linksgerichteten Die Zeichen dafür stehen vorerst Regierungen in Venezuela wie auch in gut: US-Präsident Obama besuch- Argentinien wichtige Wahlen verloren. te Kuba im März – noch vor Ende sei- Die neue konservative Parlaments- ner Amtszeit. Und auch wenn manche mehrheit in Venezuela und die neue einen von außen herbeigeführten Re- Regierung Argentiniens haben umge- gime Change und damit das Ende des hend essenzielle Vereinbarungen mit tropischen Sozialismus fürchten, so Kuba aufgekündigt und weitere ähn- überwiegt doch innerhalb der kuba- liche Aktivitäten angekündigt. Sollte nischen Bevölkerung die Zuversicht, beispielsweise der Handel mit Vene- weiterhin einen eigenen Weg gehen zu zuela eingestellt werden, würde das können. Wie auch immer dieser am En- Kuba überaus hart treffen: Etwa 15 Pro- de aussieht – eine eigenständige Ent- zent des kubanischen Bruttoinlandpro- wicklung wäre den Kubanerinnen und dukts ist direkt oder indirekt von der Kubanern allemal zu wünschen. wirtschaftlichen Kooperation mit Ve- 3 Vgl. William M. LeoGrande, Kuba: Das Ende nezuela abhängig. Hierzu zählt vor al- des Zermürbungskriegs, in: „Blätter“, 4/2015, lem die Öl-Partnerschaft beider Län- S. 21-24.

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Barbara Unmüßig Der Aktivist als Agent: Zivilgesellschaft am Pranger

Anfang Februar verabschiedete das is- und bürokratischen Auflagen über raelische Parlament nach heftiger De- Hetzkampagnen und Zensur bis zu of- batte ein Gesetz, das sich gezielt gegen fener Repression durch Geheimdienste die Arbeit von Nichtregierungsorgani- oder die Polizei. Das Ziel ist jedes Mal sationen richtet: Künftig müssen NGOs das gleiche: Die Regierungen wollen ihre Geldquellen offenlegen, wenn gezielt die Arbeit politischer, sozialer sie mehr als die Hälfte ihres Budgets und ökologischer Aktivisten, von Frau- von ausländischen öffentlichen Ein- enrechtlerinnen und Menschenrechts- richtungen erhalten. Justizministerin verteidigern behindern. Ajelet Schaked, die das Gesetz ein- Zwar ist dies beileibe kein neues gebracht hatte, will so die angebliche Phänomen, allerdings erleben wir seit Einmischung fremder Regierungen in einiger Zeit eine neue Qualität der Re- die inneren Angelegenheiten Israels pression. Dabei gleichen sich die Maß- eindämmen. nahmen, mit denen die Regierungen Rund 7000 Kilometer von Jerusa- auf Proteste reagieren. Unter ihnen bil- lem entfernt plant die chinesische Re- den die sogenannten NGO-Gesetze – gierung ebenfalls, ihre Kontrolle über neben Repressionen und auch gewalt- internationale NGOs zu verschärfen: samen Aktionen – das markanteste Ein neues Gesetz soll ausländische Instrument, um die Arbeit der zivilge- NGOs, die in China aktiv sind, kon- sellschaftlichen Akteurinnen und Ak- trollieren (Law on the Administration teure vor Ort zu sabotieren. Zentrales of Overseas Non-Governmental Orga- Mittel dabei ist, ihnen den Geldhahn nisations). Im zweiten Entwurf des Ge- aus externen Quellen zuzudrehen. setzes wird deutlich, worum es eigent- In mehr als 60 Ländern sind in den lich geht: Ausländer geraten ins Visier, vergangenen drei Jahren derartige weil sie seit neustem der „Gefährdung Gesetze initiiert oder verabschiedet der nationalen Sicherheit“ verdächtigt worden. Allein zwischen Juni 2014 und werden; Forschungsreisen werden auf Mai 2015 zählte CIVICUS, eine globale „westliche Infiltration“ hin geprüft.1 Organisation, die sich für mehr Bürger- Peking erachtet solche Maßnahmen beteiligung einsetzt, 96 signifikante als notwendig, um die Stabilität im Einschränkungen zivilgesellschaftli- Lande zu wahren. cher Rechte.2 Besonders beunruhigend Dies sind nur zwei Beispiele, die für ist: Längst greifen nicht nur autoritä- einen überaus beunruhigenden ak- re, sondern auch demokratische Regie- tuellen Trend stehen: Weltweit ge- rungen wie in Israel oder in Indien zu hen Regierungen massiv gegen zivil- derart repressiven Maßnahmen. gesellschaftliche Aktivistinnen und Offenbar sehen sich selbst frei ge- Aktivisten vor. Die Maßnahmen rei- wählte Regierungen sowohl durch in- chen von einschränkenden Gesetzen terne als auch externe Akteure be-

1 Vgl. Kristin Shi-Kupfer, Der Westen darf nicht schweigen, in: „Süddeutsche Zeitung“, 2 Vgl. CIVICUS, State of Civil Society Report 2.3.2016. 2015.

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droht. Um die Einmischung von außen um eingeschränkte Handlungsspiel- als unzulässig zu verunglimpfen, ver- räume für die Zivilgesellschaft. weisen Regierungen allzu gerne auf Regierungen – vor allem aus dem die Einflusspolitik des Westens der globalen Süden – wehren sich gegen letzten Jahre – die „Kriege gegen den den wachsenden inneren Druck durch Terror“ in Afghanistan und Irak, die politisch, sozial und ökologisch moti- vom Westen unterstützten „Farbrevo- vierte Proteste. Insbesondere Korrup- lutionen“ unter anderem in Georgien tion und Machtmissbrauch der Eli- und der Ukraine sowie die Arabellion.3 ten treiben mitunter hunderttausende So haben die direkte und indirek- Menschen auf die Straßen – unter an- te Einflussnahme – mit ihren mitunter derem in Brasilien, Venezuela und Ru- dramatischen Folgen – dazu geführt, mänien. Ebenfalls zugenommen ha- dass westliche Demokratieförderung ben lokale Proteste gegen Staudäm- im Allgemeinen und Geldtransfers me, illegale Abholzung von Wäldern an nichtstaatliche Organisationen im und Landraub sowie gegen die sozia- Besonderen zunehmend als illegitim len und ökologischen Auswirkungen gelten. von Bergbau und anderen großen In- Dabei rechtfertigen die Regierun- frastrukturprojekten. Zudem ermög- gen ihren Widerstand gegen externe licht die digitale Technik den Demons- Demokratieförderung meist mit der tranten eine schnelle Vernetzung weit völkerrechtlich garantierten Souverä- über das Lokale hinaus und lässt ihre nität ihres Landes. Doch die existieren- Proteste zugleich international sichtbar den globalen Regelwerke zu grundle- werden. Ebendies schafft eine zusätz- genden Menschenrechten – die Allge- liche Bedrohung für die Entwicklungs- meine Erklärung der Menschenrechte, modelle und Profite der nationalen der Wirtschafts- und Sozialpakt sowie politischen und ökonomischen Eliten. regionale Menschenrechtskonventio- nen – garantieren Grundrechte, die für in- und ausländische Akteure gleicher- Nichtregierungsorganisationen maßen gelten. Der Pakt für bürgerliche als ausländische Agenten und politische Rechte erlaubt es bei- spielsweise nicht, die politische Tätig- Grundsätzlich sind Gesetze, die die keit von ausländischen Organisationen Arbeit von NGOs regeln, durchaus zu beschränken. wünschenswert. Hierzulande bestim- Das Verbot der Einmischung in in- men beispielsweise die Regeln des nere Angelegenheiten ist nicht zuletzt Vereinsrechts den Handlungsrahmen durch die allgemein gültigen Men- nichtstaatlicher Akteure: Sie räumen schenrechte gemildert. Einschränkun- ihnen den Status der Gemeinnützigkeit gen dieser Rechte sind allerdings unter ein, gewähren steuerliche Bevorzu- bestimmten rechtsstaatlichen Voraus- gung und legen Mindeststandards für setzungen und aufgrund gesetzlicher interne Verfahren fest. Entscheidend Regelungen zulässig: Terroristische ist aber, dass all diese Regeln die Orga- und kriminelle Vereinigungen dürfen nisationsfreiheit unangetastet lassen. selbstverständlich verboten werden. Jedoch schränken vor allem auto- Wie aber die Rechtspraxis vor Ort aus- kratische Regierungen ebendiese Or- sieht und wer definiert, was beispiels- ganisationsfreiheit oftmals ein. Ihre weise als „terroristisch“ eingestuft NGO-Gesetze verfolgen das Ziel, die wird, ist Teil der Auseinandersetzung Handlungsspielräume der einheimi- schen Gruppen massiv zu begrenzen, 3 Vgl. Thomas Carothers und Saskia Brechema- indem finanzielle Zuwendungen ab- cher, Closing Space: Democracy and Human Rights Support under Fire. Carnegie Endow- geschnitten oder staatlich kontrolliert ment for International Peace 2014, S. 25. werden.

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So trat in Russland bereits 2006 ein ror als Vorwand, um demokratische neues NGO-Gesetz in Kraft. Und 2012 Organisationen mundtot zu machen. – Wladimir Putin war gerade wieder Die Auswirkungen zeigen sich gegen- in den Kreml eingezogen – wurden al- wärtig besonders deutlich in Ägypten: le Organisationen, die „Geld aus dem Dort gibt es kaum noch Raum für kri- Ausland bekommen“ und „sich poli- tisches zivilgesellschaftliches Engage- tisch betätigen“, verpflichtet, sich als ment. Viele Menschenrechtsaktivis- „ausländische Agenten“ zu registrie- tinnen schätzen die Lage vor Ort der- ren. Weil dem kaum jemand nachkam, zeit schlimmer ein als unter der Herr- wurde das Gesetz 2014 dahingehend schaft Hosni Mubaraks. verschärft, dass der Staat eine Organi- sation auch gegen deren Willen derart einordnen kann: Wer nun seine Mate- Zwei Morde pro Tag rialien nicht mit „ausländischer Agent“ kennzeichnet – was für die meisten Anderswo sind nicht einschränkende Russen wie „Spion“ und „Feind“ klingt Gesetze das größte Problem für NGOs, –, muss mit hohen Strafen rechnen. sondern die Gefahr für Leib und Le- Seit 2015 können ausländische NGOs ben. Denn immer häufiger werden obendrein für „unerwünscht“ erklärt Aktivistinnen und Aktivisten gezielt werden. Und nicht nur in Russland getötet. So wurde erst Anfang März die wird das Etikett „westlicher Agent“ für international bekannte honduranische Diffamierungskampagnen verwendet, Menschenrechtlerin Berta Cáceres er- sondern auch in Israel, Venezuela oder mordet. Sie hatte seit Jahren gegen das Ecuador. Staudammprojekt Agua Zarca protes- Das russische Gesetz dient anderen tiert, an dem auch das deutsche Unter- Regierungen als Vorbild. Äthiopien, nehmen Siemens beteiligt ist.4 Algerien, Jordanien, Nepal, Turkme- Der Tod von Cáceres ist beileibe nistan und andere gehen aber noch kein Einzelfall. Honduras gilt zwar als weiter: Hier müssen extern finanzier- das gefährlichste Land für Umwelt- te Organisationen sogar ihre geplanten aktivisten weltweit: Dort starben zwi- Aktivitäten zur Genehmigung offen- schen 2010 und 2014 offiziell 101 Um- legen oder Gelder durch staatliche Ka- weltaktivistinnen und -aktivisten; die näle leiten. Andere Länder erheben Be- Dunkelziffer liegt vermutlich erheb- richtspflichten, die nicht nur von einem lich höher, da die Morde oft in abge- Interesse an Transparenz und Rechen- legenen Gegenden geschehen. Doch schaft geleitet sind, sondern Aktivis- auch in anderen Weltgegenden steigt ten vor allem schikanieren sollen, bei- die Zahl getöteter Umweltschützer seit spielsweise Indonesien, Indien und Jahren kontinuierlich an: 2014 kamen Bangladesch. Charakteristisch für die weltweit 116 von ihnen ums Leben – meisten neuen NGO-Gesetze ist, dass etwa zwei pro Woche.5 Ins Visier ge- den Organisationen aufgetragen wird, raten dabei vor allem jene, die Macht nicht gegen die „öffentliche Ordnung und Kontrolle hinterfragen, Korruption und Sicherheit“ oder gegen nationale und Ungerechtigkeiten offenlegen und Interessen zu verstoßen. Der entspre- sich nicht in Initiativen der Industrie chende Passus ist in der Regel bewusst einbinden lassen, sondern deren politi- offen formuliert, um den Spielraum der schen Einfluss zurückdrängen wollen. Regierung zu erweitern. Daneben schränken auch Sicher- 4 Vgl. Die Mörder von Berta Cáceres kamen heitsgesetze, Antiterrorgesetze und nach Mitternacht, www.boell.de, 4.3.2016. Mediengesetze die Arbeit zivilgesell- 5 Vgl. Global Witness, How many more? 2014’s deadly environment: the killing and intimida- schaftlicher Akteure massiv ein. Nicht tion of environmental and land activists, with a selten dient der Kampf gegen den Ter- spotlight on Honduras, 2015.

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201604_Blaetter.indb 31 16.03.16 12:14 32 Kommentare und Berichte

Tatsächlich verteidigen die Mächtigen dienschaffende ermordet worden.8 Sie überall dort, wo es um Kontrolle und stammten unter anderem aus Indien, Ausbeutung natürlicher Ressourcen Kambodscha, den Philippinen, Indo- geht – von Kohle, Öl und Gas über Was- nesien und Russland. Besonders dra- ser, Wälder, Land und Biodiversität –, matisch ist die Lage in Äthiopien. Dort vehement ihre Geschäftsmodelle.6 So wurden zwischen März und Septem- denunzierte der bolivianische Vize- ber 2011 sechs Journalisten verhaftet präsident Álvaro García Linera ein- und der Unterstützung des Terroris- heimische Thinktanks und NGOs als mus angeklagt; weitere sechs wurden Vertreter eines „imperialen Umwelt- in Abwesenheit vor Gericht gestellt. diskurses“. Und die Regierung in Neu Es folgten drakonische Urteile: Im De- Delhi entzog dem indischen Green- zember 2011 wurden zwei schwedi- peace-Ableger sogar die Lizenz – eine sche Journalisten zu elf Jahren Haft Kampfansage an all jene Aktivisten, verurteilt, zwei äthiopische Journalis- die sich dem nationalen Wachstums- ten erhielten im Januar 2012 jeweils 14 modell entgegenstellen. Jahre und ein Blogger im Exil wurde zu Unter dem Verweis auf westliche lebenslanger Haft verurteilt. Eine Rei- Einflüsse und „Moralvorstellungen“ he von Zeitungen wurde eingestellt, attackieren Regierungen Organisatio- und zahlreiche kritische Journalisten nen, die Frauenrechte einfordern, und haben das Land verlassen, bevor es zu vor allem die Organisationen von Les- einer Anklage kommen konnte. ben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- Diese globale Repressionswelle hat gendern und Intersexuellen (LSBTI).7 in vielen Ländern dramatische Aus- Deren Rechte werden zu westlichen wirkungen. In Russland ist der Groß- Werten herabgestuft, die das Fami- teil der Menschenrechtsaktivisten sei- lienbild und die Kultur des eigenen ner Hauptfinanzierungsquellen be- Landes zerstörten. Die Aktivisten gel- raubt worden. Von Kenia bis Indien lö- ten als Staatsfeinde; Zeitungen veröf- sen sich zahlreiche NGOs auf; ihre kri- fentlichen ihre Namen auf schwarzen tischen Protagonisten gehen ins Exil. Listen. LSBTI-Rechte werden derzeit Auch aus China ziehen sich Partner unter anderem besonders massiv in von NGOs oder Stiftungen zurück. Sie Armenien, Serbien, Russland, Uganda fürchten Schikanen oder gar Krimina- und der Türkei sowie im EU-Mitglieds- lisierung. land Ungarn eingeschränkt. Doch die Regierungen waschen ihre Neben Aktivisten geraten auch en- Hände in Unschuld: Schließlich sei zi- gagierte Journalistinnen und Jour- vilgesellschaftliches Engagement prin- nalisten ins Visier der Behörden. Der zipiell weiterhin erlaubt. Tatsächlich jüngste Bericht der Reporter ohne aber gestatten sie dies nur, solange Grenzen veranschaulicht die Brutali- die NGOs bereitwillig staatliche Auf- tät, mit der Regierungen und Konzerne gaben abdecken. Anspruch auf demo- insbesondere gegen Umweltjournalis- kratische Teilhabe aber sollen sie nicht tinnen und Umweltjournalisten vorge- erheben und die strukturellen Ursa- hen: Seit 2010 sind mehr als zehn Me- chen von Armut tunlichst verschwei- gen. Dieser Druck zur Selbstzensur er- 6 Vgl. Maina Kiai, Promotion and protection of geht heute nicht mehr nur in Diktatu- all human rights, civil, political, economic, so- ren, sondern auch in Demokratien. Für cial and cultural rights, including the right to Bürgerinnen und Bürger verheißt das development, United Nations General Assem- bly, Report A/HCR/29/25 2015, S.14. schlechte Zeiten – weltweit. 7 Vgl. ILGA Europe, Promoting and Enabling Civil Society Environment, 2015, S. 17 f.; dies., 8 Reporters Without Borders, Hostile Climate for State Sponsored Homophobia 2015; Library of Environmental Journalists. Report 2015. Vgl. Congress, Laws on Homosexuality in African dazu auch den Beitrag von Frank Überall in Nations, 2014. dieser Ausgabe.

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201604_Blaetter.indb 32 16.03.16 12:14 DEBATTE

Osteuropa: Vielfalt statt Einfalt

In der Januar-Ausgabe der »Blätter« übte Helmut Fehr heftige Kritik an der autoritären Entwicklung der vier Visegrád-Staaten, insbesondere Ungarns und Polens, aber auch Tschechiens und der Slowakei. Eine einseitige Sicht und ahistorische Verengung des Blicks sieht darin die deutsch-tschechische Publizistin Alena Wagnerová.

Das Verhältnis der postsozialistischen die anderen sehr schnell als Schlech- Länder Mittel- und Osteuropas gegen- tere, Unfähigere, einfach Zweitrangi- über dem Westen nach 1989 lässt sich ge abgestempelt, ohne ihre Eigenart mit zwei Worten erfassen: Einholen zu berücksichtigen. Der Status des- und Rückkehren. Spielt sich das Ein- jenigen, der etwas nachzuholen und holen zwischen zwei ungleichen Part- einzuholen hat, setzt sich dabei in der nern ab, dann bedeutet die Rückkehr Betrachtung dieser Länder als ein nur die Wiederherstellung einer ur- Stereotyp für Jahrzehnte fest, ganz sprünglichen Gleichheit, die – aus gleich, ob die Lebenswirklichkeit die- welchen Gründen auch immer – ge- sem Muster und vor allem der eigenen stört wurde.1 Und sagen wir es gleich: Selbsteinschätzung noch entspricht. Je weiter östlich eines der postsozia- Und genau dies ist die Situation, in der listischen Länder liegt, umso weniger sich die mittelosteuropäischen, insbe- ging es nach dem Zusammenbruch des sondere aber die osteuropäischen Län- sozialistischen Systems um eine Rück- der, heute befinden. Sie fühlen sich zu kehr als vielmehr um ein Einholen. einem zweiten Europa abgestempelt Das Einholen setzt allerdings voraus, und als solches behandelt. dass der Einzuholende, in diesem Fall Die Art und Weise, wie man jüngst der Westen, dem anderen voraus ist. Polen nach dem Regierungswechsel Nur solange der Einzuholende für den zur Ordnung gerufen und mit Sank- Einholenden einen besseren Teil der tionen bedroht hat, ähnelte der Maßre- Welt darstellt – besetzt mit Attributen gelung eines ungehorsamen Schülers. wie modern, fortschrittlich, wohlha- Wehrt er sich, wird das als die Bestä- bend, demokratisch, frei –, erscheint tigung seines hartnäckigen „Ungehor- der Prozess des Einholens erstrebens- sams“ interpretiert. Gegenüber Groß- wert und wird verfolgt. britannien würde man sich so etwas Allerdings betrachtet der Einzuho- nie erlauben, selbst die Kritik an Silvio lende allzu oft seine Form der Existenz Berlusconi fiel zurückhaltender aus. nicht als Angebot an die anderen, son- Auch der Artikel von Helmut Fehr in dern als Anspruch mit einem normati- den „Blättern“ ist weitgehend in die- ven Charakter. Dadurch aber werden sem paternalistischen Stil verfasst: Er referiert die Erscheinungsformen 1 „Prags Rückkehr nach Europa“ betitelte z. B. der Abschottung der vier Visegrád- „Die Zeit“ in der Ausgabe vom 16. März 1968 den Artikel von Theo Sommer über den Prager Staaten, ohne auf ihre tieferen, in ihrer Frühling. historischen Erfahrung liegenden und

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201604_Blaetter.indb 33 16.03.16 12:14 34 Alena Wagnerová

unterschiedlichen Formen einzuge- bemerkbar in den unterschiedlichen hen.2 Die vierzig Jahre des Sozialismus Einstellungen der tschechischen Ge- und die Zeit nach 1989 blendet Fehr sellschaft zur Flüchtlingsfrage, die als Erfahrungsräume einer Gesell- in den deutschen Medien allerdings schaft völlig aus. Stattdessen greift der kaum Widerhall finden. Hier liest man Autor auf postösterreichische Quel- vor allem die skandalösen Äußerungen len aus den 1930er und 40er Jahren von Präsident Miloš Zeman, der die zurück, die noch die alten Begriffe Flüchtlinge als Horden bezeichnete wie „Bauernschläue“ und Ähnliches und sie mit dem Trojanischen Pferd benutzen – und zementiert alte Vor- verglich. Mögen auch die xenophoben stellungen, indem er sie auf aktuelle populistischen Sprüche des umstrit- politische Prozesse anwendet. tensten Oberhauptes in der Geschichte der Republik – und auch seines Vor- gängers Václav Klaus – in einem Teil » Tschechien fühlte sich wieder in die der tschechischen Gesellschaft Gehör zweite Reihe versetzt, als jemand, finden, so darf man sie dennoch nicht der sich den Befehlen von Brüssel mit der Haltung der Regierung zu den und Berlin fügen sollte. « EU-Flüchtlingsquoten gleichsetzen und sie als offizielle Standpunkte der tschechischen Regierung verstehen. Mit dieser einseitigen Sicht aber wird Unmissverständlich formulierte viel- man den innergesellschaftlichen De- mehr der tschechische Ministerpräsi- batten dieser Länder nicht gerecht: dent Bohuslav Sobotka seine gegen- Die Worte Einholen und Rückkehren teilige Auffassung in einem Zeitungs- stellen nämlich auch unterschiedliche interview: „Ich bin überzeugt, dass Ziel- und somit Wertvorstellungen dar. wir die zukünftigen Führungskräfte Besonders deutlich wurde das in der unserer linken Partei eher unter den Auseinandersetzung um die Orientie- Freiwilligen finden, die im Sommer rung der postsozialistischen Tschechi- auf den Balkan gingen, um dort den schen Republik zwischen Václav Ha- Flüchtlingen zu helfen. Ich würde sie vel und Václav Klaus. Während Havel nicht auf den Plätzen suchen, wo man ausschließlich von der Rückkehr nach Xenophobie, Hass und Rassismus Europa sprach, redete Klaus vom Ein- predigt.“3 holen Europas. Ging es Havel damit Dass die Regierung die Flüchtlings- um die Rückkehr in die Kultur- und quote ablehnte, lag nicht in der Angst Wertegemeinschaft des demokrati- vor der „Islamisierung“ des Landes schen Europas, der sich auch die erste begründet. Sie empfand die Quote Tschechoslowakische Republik zuge- vielmehr als eine bürokratische Regle- hörig fühlte, verband Václav Klaus mit mentierung der EU von oben herab – dem Einholen den Thatcherismus, die die noch dazu ohne Rücksprache und neoliberale Form der kapitalistischen ohne Kenntnis der konkreten Bedin- Ökonomie. Er verfolgte ein technokra- gungen erfolgte und auch über die tisches zivilisatorisches Projekt, Havel syrischen Flüchtlinge hinwegsah, die dagegen ein Kulturprojekt. gar nicht in der Cˇ R bleiben wollten. Diese Auseinandersetzung um die Man fühlte sich – wohl etwas übersen- Orientierung der Republik bildet den sibel – wieder in die zweite Reihe ver- schwankenden Boden der tschechi- setzt, als jemand, der sich den Befehlen schen Politik und nimmt verschie- von Brüssel unter einer dominanten dene Formen an. Sie macht sich auch Bundesrepublik fügen sollte.

2 Vgl. Helmut Fehr, In geschlossener Gesell- 3 Bohuslav Sobotka (Interview), Eine vernünf- schaft. Ostmitteleuropa und die Rückkehr des tige Integration der Flüchtlinge ist möglich, in: Autoritären, in: „Blätter“, 1/2016, S. 77-83. „Lidové noviny“, 23.1.2016.

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201604_Blaetter.indb 34 16.03.16 12:14 Osteuropa: Vielfalt statt Einfalt 35

Hinzu kam eine aktuelle Debatte im US-Amerikaner. Von einer generellen Land, die momentan intensiv und auch Abschottung des Landes gegen Aus- selbstkritisch geführt wird: Die Tsche- länder kann also kaum die Rede sein. chische Republik sieht sich als eine Vielmehr lehnt nur ein Teil des politi- ausgebeutete ökonomische Kolonie schen Spektrums Flüchtlinge als „kul- der großen wirtschaftlichen und finan- turfremde“ Muslime ab. Wie das Tau- ziellen Akteure, die fast alle aus dem ziehen zwischen den demokratischen Ausland kommen. Seit 2006 fließen die und den rechtspopulistischen Kräften Gewinne dieser Firmen aus dem Land letztlich ausgeht, ist freilich offen – wie ab und werden nicht mehr reinves- auch anderswo in Europa. tiert, sie tragen somit nichts mehr zum Wachstum bei: Im Jahr 2014 waren das 488 Mrd. Kronen, bei einem Gesamt- » Der radikale Systemwechsel haushalt des Staates in Höhe von 1200 erschütterte die postsozialistischen Mrd. Kronen. Zugleich gehören die in Gesellschaften zutiefst und des- Tschechien gezahlten Löhne zu den orientierte sie moralisch. « niedrigsten in der EU. „Der Kuchen, den wir zu Hause backen, wird anders- wo gegessen“, formuliert es lapidar die Auch die Visegrád-Gruppe insgesamt Ökonomin Ilona Švihlíková. – Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn – bildet in dieser Frage keinen homogenen Block. Doch eines ist ihren » Wie das Tauziehen zwischen den Mitgliedern wie allen postsozialisti- demokratischen und den rechts- schen Ländern gemein: Der radikale populistischen Kräften letztlich aus- Systemwechsel von 1989 erschütterte geht, ist offen – wie auch anderswo sie zutiefst und desorientierte sie mo- in Europa. « ralisch. Denn der Zusammenbruch des sozialistischen Systems – interpretiert als Sieg des Kapitalismus über den So- Zugleich zeigt sich die Tschechische zialismus – war kein Sieg der sozialen Republik durchaus mit den Flücht- Marktwirtschaft, sondern einer des lingen solidarisch: Sie unterstützt mit Neoliberalismus, der zur Machtideolo- Millionenbeträgen die Hilfsarbeit vor gie avancierte. Die bisher weitgehend Ort in Syrien, Jordanien und im Liba- egalitären Gesellschaften der sozia- non. In Syrien sorgt beispielsweise die listischen Länder wurden mit einem NGO Cˇ loveˇ k v tísni (Mensch in Not) rasanten Anwachsen der sozialen Un- mit ihrer Hilfe für das Überleben und gleichheit und Unsicherheit konfron- Bleiben der Menschen in der Provinz tiert, die mit einer zuvor unbekannten Idlíb. Teilung der Gesellschaft in Arm und Kaum bekannt ist auch, dass in Reich einherging. Zwar wecken diese Tschechien heute bereits mehr als Erscheinungsformen des Neoliberalis- 100 000 Immigranten aus der Ukraine mus auch in Westeuropa ein tiefes Un- leben, fast 35 000 aus Russland und behagen, doch lebten Westeuropäer gut 4700 aus Weißrussland. Für die nie in einer so weitgehend egalitären Menschen aus der früheren Sowjet- Gesellschaft, in der Eigentum und Geld union ist Böhmen ein traditionelles tatsächlich wenig galten. Für die Bür- Asylland; außer ihnen leben heute in ger der sozialistischen Länder aber war der Tschechischen Republik auch eine das ihre Lebenswelt – die ihnen auch sehr gut integrierte Gruppe von etwa dadurch genommen wurde, dass das 60 000 Vietnamesen, tausende Mongo- Bild des Sozialismus sehr schnell auf len, Chinesen, Moldawier, Kasachen, die Gewaltherrschaft der Staatssicher- Serben, Burmesen und knapp 6300 heit reduziert wurde. Damit wurden

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201604_Blaetter.indb 35 16.03.16 12:14 36 Alena Wagnerová

ihr Leben entwertet und ihre Identität Prager Frühlings, nahm den Menschen in Frage gestellt. Zweifellos waren die die Hoffnung auf eine sozialistische sozialistischen Länder totalitäre Re- Demokratie und mündete in dem Nihi- gime mit einem unterschiedlichen Maß lismus der Normalisierung. Schließ- an politischer Gewalt; doch für einen lich – drittens – demontierte der Sys- durchschnittlich anpassungsfähi- temwechsel von 1989 den Glauben an gen Menschen, und dies ist immer die einen demokratisch gehegten Kapita- Mehrheit, war es vor allem die soziale lismus, der den Menschen ihre Würde Sicherheit, die zählte, Modus Vivendi lässt. Denn kann der Westen, wenn er einer „partizipatorischen Diktatur“.4 die europäischen Werte so schätzt, wie Hinzu kam, dass neben neuen poli- er behauptet, ein solches Maß an sozia- tischen Akteuren nicht zuletzt die ler Ungleichheit zulassen und sich alten Funktionärsschichten Gewinner noch demokratisch nennen? des Umbruchs waren. Sie konnten sich mit ihrem Vorsprung an Informationen schnell in der neuen Wirtschaftsord- » In dieses inzwischen national- nung einrichten, wie es am Beispiel populistische Nirwana möchten Polens Mathias Wagner schildert.5 einige nun zurückkehren und Möglicherweise wirkte diese neue wieder sie selbst sein.« Schicht der Kapitalisten dabei mit, als die genossenschaftlichen Ansätze bei der Transformation der staatlichen Dieses dritte Wertevakuum lässt eine Betriebe zugunsten ihrer Privatisie- erneute Zuwendung zum Nationalis- rung unterbunden wurden, ebenso mus für viele verführerisch erschei- wie das Nachdenken über einen mög- nen. Im 19. Jahrhundert hatte er sich lichen dritten Weg. Die Profiteure des letztlich als die Triebfeder der Eman- neuen Kapitalismus erfüllten zwar die zipation der tschechischen Nation be- neoliberale Norm des Erfolges. Nur währt, an deren Ende die politische erreichten diese selbst ernannten Eli- Selbstständigkeit stand. In dieses in- ten ihren Reichtum in der Regel mit zwischen nationalpopulistische Nir- Mitteln, die keine Achtung verdienten. wana möchten einige nun zurück- So musste der Erfolg selbst zur morali- kehren, wieder sie selbst sein, statt schen Kategorie werden – die ethische sich vergeblich als Einholende um die Desorientierung als ein Teil des Para- Anerkennung Europas zu bemühen. digmenwechsels war damit perfekt. Hier liegt der Grund für die hohe An- Die tschechische Gesellschaft stellt ziehungskraft des rechtspopulistisch- in diesem Zusammenhang einen nationalistischen Gedankengutes in besonderen Fall dar, denn der Umbruch Teilen der tschechischen Gesellschaft. nach 1989 ist schon die dritte gesamt- Angesprochen fühlen sich davon ge- gesellschaftliche Frustration, die sie rade diejenigen, die bei der Neuver- in den letzten siebzig Jahren erlebte: teilung der Güter zu kurz kamen und Die erste, das Münchener Abkommen sich in der neuen Klassengesellschaft 1938, degradierte die Werte der Demo- ausgegrenzt und unbeachtet fühlen – kratie und des Republikanismus und fast als eine Art Flüchtlinge in ihrem öffnete dem Sozialismus den Weg. Die eigenen Land. Diese Erfahrung der zweite, 1968, das gewaltsame Ende des sozialen Deklassierung teilen sie mit dem Prekariat des Westens. Vielleicht 4 Vgl. Mary Fulbrook, Ein ganz normales stellt diese Erfahrung bei aller Unter- Leben – Alltag und Gesellschaft in der DDR, schiedlichkeit dieser Länder das Bin- Darmstadt 2008. 5 Vgl. Mathias Wagner, Polnische Spaltung, in: deglied zwischen den rechtsradikalen „Blätter“, 2/2016, S. 21-24. Strömungen in Europa dar.

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201604_Blaetter.indb 36 16.03.16 12:14 KOLUMNE

Skandalon Kindersterblichkeit Von Kevin Watkins

Jedes Jahr sterben mehr als eine Million Beispiel hat im vergangenen Jahrzehnt Kinder am Tag ihrer Geburt, eine wei- eine kleine Armee von 38 000 Gesund- tere Million stirbt während ihres ersten heitsarbeitern aufgestellt. Lebensjahres. Fast die Hälfte aller To- Auch die internationale Zusammen- desfälle von Kindern ereignen sich in arbeit war entscheidend. Die Hilfe für der neonatalen Phase (also in den ers- Kinder- und Müttergesundheit ist er- ten 28 Lebenstagen) – mit steigender heblich angestiegen und beträgt zurzeit Tendenz. Die große Mehrheit dieser To- 12 Mrd. US-Dollar. Die Entwicklungs- desfälle kann vermieden werden. Aber hilfe hat nicht nur einen wichtigen Bei- wenn wir die aktuellen Trends fort- trag zum Aufbau von öffentlichen Ge- schreiben, wird es bis 2030 immer noch sundheitsprogrammen geleistet, son- 3,6 Millionen tote Kleinkinder geben. dern auch wesentlich dazu beigetragen, Unter den 169 Zielen nachhaltiger Impfstoffe, Mückennetze und medizini- Entwicklung, die die Vereinten Natio- sche Behandlungen zu entwickeln und nen im vergangenen September verab- einzusetzen. Das wiederum hat dazu schiedeten, lag das wichtige Ziel begra- geführt, dass die Kindersterblichkeit ben, „vermeidbare Kindersterblichkeit” bei den wichtigsten tödlichen Infek- bis 2030 zu beseitigen. Es ist eine Auf- tionskrankheiten – Lungenentzündung, gabe für unsere Generation, für deren Durchfall, Malaria und Masern – seit Bewältigung mehr notwendig sein wird 2000 um 70 Prozent gesunken ist. als UN-Kommuniqués. Die vorherigen Doch jetzt zu den schlechten Nach- „Millenniumziele“ haben wichtige Fort- richten: In der Zeit, in der Sie diesen Ar- schritte erzielt; die Anzahl an Kindern, tikel lesen, sterben mehr als 30 Kinder die vor Erreichen ihres fünften Geburts- an vermeidbaren oder behandelbaren tages starben, ist von zehn Millionen Ursachen. Um den Fortschritt zu be- im Jahr 2000, als die Millenniumziele schleunigen, müssen wir eine Gesund- verabschiedet wurden, auf 5,9 Millio- heitsversorgung und andere Interven- nen 2005 gesunken. Einige der ärmsten tionen entwickeln, die an den Ursachen Länder der Welt verzeichneten dabei des Gesundheitsrisikos für so viele Kin- die wichtigsten Erfolge. der und deren Mütter ansetzen: Armut, Dieser Fortschritt wurde von ver- Verwundbarkeit und Ungleichheit. schiedenen Faktoren begünstigt, wie Wenn Gesundheitsversorgung für eine einer sinkenden Armutsquote und er- größere Personenzahl verfügbar ge- heblicher Investition in öffentliche Ge- macht wird, ist das ein Anfang. Aber sundheitssysteme. Durch den Einsatz Arme werden zu oft ausgegrenzt, selbst von Krankenschwestern, Hebammen wenn es Krankenhäuser gibt. und anderem Pflegepersonal ermög- Nehmen wir Indien, wo weltweit ein lichten diese Systeme eine Erweite- Fünftel aller Sterbefälle bei Kindern rung von Schwangerschaftsvorsorge, verzeichnet werden. Fast allen Frauen einfachen geburtsbegleitenden Maß- aus den reichsten 20 Prozent der Haus- nahmen, sauberer Abnabelung und halte stehen Schwangerschaftsvorsor- postnataler Versorgung. Äthiopien zum ge und ausgebildetes Gesundheitsper-

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201604_Blaetter.indb 37 16.03.16 12:14 38 Kolumne

sonal bei der Geburt zur Verfügung. Kommuniqué-Papier nicht wert, auf dem Unter den Ärmsten sind es lediglich 10 sie gedruckt sind. Die Entwicklungs- Prozent, das ist eine schlechtere Quo- länder müssen mindestens fünf Prozent te als in den meisten Teilen der Sahel- ihres Bruttoinlandseinkommens für Ge- zone. Das starke Wirtschaftswachstum sundheit ausgeben, die Gebühren für hat nichts dazu beigetragen, dieses Un- die Gesundheitsversorgung von Mutter gleichgewicht zu mildern. und Kind abschaffen und sicherstellen, Und Indien ist nur ein Beispiel. Jedes dass Finanzmittel – und qualifiziertes Jahr gebären 36 Millionen Frauen in Gesundheitspersonal – so zugewiesen Ländern mit mittlerem und niedrigem werden, dass die Ungleichheiten in der Einkommen ohne eine qualifizierte Versorgung reduziert werden. Hilfskraft. Eine noch höhere Anzahl an Nicht zuletzt spielt die Entwicklungs- Kindern erhält nach der Geburt keinen hilfe aus dem Ausland eine wichtige Gesundheitscheck. Die große Mehrzahl Rolle. Hier muss der Schwerpunkt von dieser Frauen und Kinder haben eins ge- krankheitsspezifischen Interventionen meinsam: Sie sind arm. Mit einer Mutter, auf den Aufbau von Gesundheitssys- die ein niedriges Einkommen hat, steigt temen verlagert werden. Wir brauchen das Risiko der Kindersterblichkeit um eine globale Übereinkunft, um die einen Faktor von 2-3 in vielen Ländern Finanzierungslücke zu schließen. Es Südasiens und der Sahelzone. werden rund 30 Mrd. Dollar benötigt, Kinder mit armen Müttern haben zu- um universalen Zugang zur Gesund- dem eine geringere Wahrscheinlich- heitsversorgung zu erreichen. Um eine keit, geimpft zu werden oder ins Kran- effektive Versorgung zu gewährleisten, kenhaus gebracht zu werden, um dort muss die gesamte Bevölkerung eines eine Behandlung wegen potentiell töd- Landes Zugang zu qualifiziertem Ge- licher Krankheiten wie Lungenentzün- sundheitspersonal erhalten. Allein in dung und Durchfall zu erhalten. der Sahelzone müssen dafür eine Mil- In bitterster Armut lebende Frauen lion Menschen rekrutiert und in Heilbe- dazu zu zwingen, die Gesundheitsfür- rufen ausgebildet werden. sorge für sich und ihre Kinder selbst zu Jede Strategie zur Erreichung des bezahlen, manifestiert Ungleichheit und Ziels der Beseitigung der Kindersterb- ist eine Garantie für Ineffizienz und Kin- lichkeit bis 2030 muss über den Ge- dersterblichkeit. Eine öffentlich finan- sundheitssektor selbst hinausgehen und zierte allgemeine Gesundheitsversor- sich auf die allgemeineren Ungleichhei- gung ist nachweislich das Gegenmittel ten fokussieren, die die Kindersterblich- dagegen. Aber politische Eliten in Län- keit begünstigen, wie beispielsweise in dern mit einer hohen Sterblichkeitsrate den Bereichen Ernährung, Bildung und wie Indien, Pakistan und Nigeria – die- Zugang zu sauberem Wasser und Sani- selben, die die Entwicklungsziele unter- täreinrichtungen. Mädchen brauchen schrieben haben – haben bisher noch zusätzlichen Schutz vor frühen Zwangs- nicht gehandelt. ehen und früher Mutterschaft. Wenn es die Regierungen ernst mei- In der ganzen Welt sind Kinder einer nen mit dem Versprechen, die Kinder- tödlichen Kombination aus Ungleich- sterblichkeitsrate zu senken, müssen heit, Ungerechtigkeit und Geschlech- sie in ihren Gesundheitssystemen für terdiskriminierung ausgesetzt. Sie Gleichheit sorgen. Sie könnten begin- haben etwas besseres verdient. Das nen, indem sie nationale Ziele einfüh- Versprechen, die vermeidbare Kinder- ren, um die Differenz der Sterblichkeits- sterblichkeit bis 2030 zu beseitigen, ist rate zwischen den reichsten 20 und den unsere Chance, dafür zu sorgen, dass ärmsten 20 Prozent in den nächsten sie- sie es auch bekommen. ben Jahren zu halbieren. Aber Ziele, die nicht finanziell abgedeckt sind, sind das © Project Syndicate, Übersetzung: Eva Göllner

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201604_Blaetter.indb 38 16.03.16 12:14 KURZGEFASST

James W. Carden und Michael J. Brenner: Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel?, S. 41-49

Im US-Vorwahlkampf stößt Donald Trump inzwischen selbst bei Neokon- servativen auf Ablehnung. Grund dafür sind aber nicht seine rassistischen Äußerungen, so der Journalist James W. Carden, sondern seine Kritik an Militärinterventionen. So könnten überzeugte Neocons jetzt zu Hillary Clinton wechseln. Denn die Demokraten sind ohnehin seit langem orientie- rungslos, analysiert der Politikwissenschaftler Michael J. Brenner.

Anne-Marie Slaughter: Der Preis der Mutterschaft. Warum so wenige Frauen ganz oben und viel zu viele ganz unten sind, S. 51-61

Seit Jahrzehnten wird für mehr Gleichberechtigung in Wirtschaft und Poli- tik geworben. Dennoch sind Spitzenpositionen überwiegend mit Männern besetzt, während sich in prekären Arbeitsverhältnissen vor allem Frauen finden. Die Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter identifiziert das bis heute größte Armutsrisiko – die Mutterschaft. Dagegen plädiert sie für eine neue Wertschätzung der Fürsorge, damit Familie und Beruf end- lich vereinbar werden.

Jan-Werner Müller: Schatten der Repräsentation: Der Aufstieg des Populismus, S. 63-74

Ob in Frankreich oder den USA, in Polen oder Deutschland: Die populisti- schen Bewegungen wachsen. Diese reagieren, so der Politikwissenschaft- ler Jan-Werner Müller auf eine Krise der Repräsentation. Darauf aber kann nicht mit einem Populismus von links geantwortet werden, sondern mit einem Plädoyer für ein demokratisches und nichtpopulistisches Europa.

Frank Überall: Fünfte versus Vierte Gewalt: Journalismus unter Beschuss, S. 75-82

Derweil AfD und Pegida gegen die „Lügenpresse“ zu Felde ziehen, hat die Gewalt gegen Journalisten in Deutschland massiv zugenommen. Der neue Bundesvorsitzende des Deutschen-Journalisten-Verbands, Frank Überall, sieht die Vierte Gewalt der klassischen Medien in massiver Gefahr – durch eine sich immer mehr radikalisierende Fünfte Gewalt der neuen zuneh- mend „asozialen“ Netzwerke. Um die Demokratie zu schützen, müsse die Politik die gefährdete Unabhängigkeit der Medien daher dringend vertei- digen – und von den Hetzern und Pöblern unterscheidbar machen.

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201604_Blaetter.indb 39 16.03.16 12:14 40 Kurzgefasst

Martin Koch und Lars Niggemeyer: Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik, S. 83-89

In der Debatte um den ökonomischen Nutzen oder Nachteil von Flucht und Migration stehen sich Optimisten und Pessimisten scharf gegenüber. Die Sozialwissenschaftler Martin Koch und Lars Niggemeyer vertreten dagegen eine differenziertere Position: Angesichts der weiter existieren- den, bloß kaschierten hohen Sockelarbeitslosigkeit muss Integration unter neoliberalen Vorzeichen misslingen. Nur bei einer weitreichenden Umver- teilung von Arbeit bieten sich reelle Chancen – und zwar für alle.

Marcel Fratzscher: Republik ohne Chancengleichheit: Deutschland am Wendepunkt, S. 91-100

Nachdem Verteilungsfragen lange Zeit als überholt galten, erfahren sie nicht zuletzt seit Thomas Piketty eine neue Konjunktur. Der Ökonom Marcel Fratzscher kritisiert die mangelnde Chancengleichheit sowie die höchst ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung in Deutsch- land. Er ist überzeugt: Eine Verringerung dieser Ungleichheiten nützt uns allen – sie ist gerechter, effizienter, und hilft letztlich auch bei der Integra- tion von Flüchtlingen.

Evi Hartmann: Wir Sklavenhalter, Teil II. Wie viele Sklaven halten Sie – und wie lange noch?, S. 101-110

Wir alle sind uns einig: Sklaverei gehört abgeschafft – und trotzdem tun wir es nicht. Im zweiten Teil ihrer Analyse fragt die Ökonomin Evi Hart- mann, wieso wir solche Verhältnisse zulassen – und damit selber Sklaven halten. Wir sind darauf sozialisiert, so ihre Argumentation, unsere Gefühle zu verdrängen, wodurch der Moral die Basis entzogen wird. Nur wenn wir uns selbst und anderen immer wieder die Empathiefrage stellen, hat mora- lisches Verhalten eine Chance.

Christian Füller: Macht und Missbrauch. Wie die Ideologie der Eliten die pädosexuellen Täter deckt, S. 111-119

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Kindesmissbrauchsfälle ans Licht gekommen. Doch vollständig – und in ihrer ganzen Tiefe – aufgeklärt wurden sie bis heute nicht. Der Journalist und Autor Christian Füller stellt die Frage, wie an sehr unterschiedlichen weltlichen und geistlichen Ins- titutionen ganz ähnliche Missbrauchsstrukturen entstehen konnten. Sein Fazit: Gerade elitäre pädagogische Ideologien sowie die Doppelmoral der Täter ermöglichen sexualisierte Gewalt und die Vertuschung der Taten.

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201604_Blaetter.indb 40 16.03.16 12:14 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel?

Die USA erleben derzeit eine enorme Polarisierung. Im Rennen um die Präsidentschaftsnomi- nierung erhitzen die Kandidaten beider Parteien die Gemüter. Scharfe Töne fallen dabei jedoch keineswegs nur zwischen Demokraten und Republikanern, sondern auch innerhalb der beiden Lager: Donald Trump stößt unter etablierten Konservativen auf schroffe Ablehnung. Und Hillary Clinton schlägt im demokratischen Milieu breite Skepsis entgegen, wie auch der überraschend hohe Zuspruch für ihren Konkurrenten Bernie Sanders zeigt. Doch was sind die Gründe für das Unbehagen an den bislang führenden Kandidaten der eigenen Partei? Dem gehen die folgen- den beiden Texte von James W. Carden (© Agence Global) und Michael J. Brenner nach. Die Übersetzung stammt von Karl D. Bredthauer. – D. Red.

James W. Carden Donald Trump: Der Schrecken der Neocons

u den erfreulicheren Aspekten des US-Präsidentschaftswahlkampfs Z 2016 gehört die Verstörung in Kreisen der Neokonservativen. Ausge- löst wurde sie von Donald Trumps erstaunlichem Erfolg bei den republika- nischen Primaries. Die Versuchung, darüber Schadenfreude zu empfinden, liegt nahe. Sie wird aber gedämpft durch die zunehmend realistisch erschei- nende Annahme, dass es Trump tatsächlich gelingen könnte, sich die Nomi- nierung zu sichern. In diesem Fall drohen düstere Aussichten, allerdings nicht für die Republikaner – sondern für die Demokraten. In seinem Hausblatt „The Weekly Standard“ beschimpfte William Kris- tol, Sohn des Ur-Neocon Irving Kristol, Donald Trump als einen, der stolz die „Gier rechtfertigt“, der „frech dem Ehebruch frönt“ und der sich über „die Sanftmütigen (die ‚Loser’) dieser Welt unverhohlen mokiert“. Robert Kagan von der Brookings Institution wählte die Seiten der „Washington Post on Sun- day“, um die bevorstehende Übernahme der Grand Old Party durch Trump mit der Heimsuchung Thebens durch die Pest zu vergleichen.1 Max Boot, der

1 Vgl. Robert Kagan, Trump is the GOP‘s Frankenstein Monster. Now he‘s strong enough to destroy the party, in: „Washington Post“, 25.2.2016.

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201604_Blaetter.indb 41 16.03.16 12:14 42 James W. Carden

bekannte neokonservative Militärhistoriker, erzählte „Vox“, dass „Donald Trump ihn buchstäblich um den Schlaf“ bringe. Er glaubt, Hillary Clinton „wäre Trump bei weitem vorzuziehen“. Und Boot steht damit durchaus nicht alleine da. Zusammen mit Dutzenden neokonservativen Wissenschaftlern, Lobbyisten und Ex-Regierungsvertretern hat er einen Offenen Brief unter- zeichnet, der Trumps außenpolitischen Vorstellungen „wüste Inkonsistenz“ und „Prinzipienlosigkeit“ vorwirft. Trump würde, heißt es da, „mit der Auto- rität seines Amtes Dinge tun, die Amerika weniger sicher machen und unser Ansehen in der Welt vermindern“.

Das Monster der Republikaner?

Fortschrittliche Stimmen meinen, Trumps Erfolg sei lediglich die natürliche Folge einer von den Republikanern gepflegten Unduldsamkeit, deren Fie- berkurve während der Obama-Jahre, wie manche nicht grundlos anneh- men, alle Rekorde brach. In dem viel beachteten Blog „Daily Kos“ schrieb Laurence Lewis, das Establishment der Republikaner könne „nur sich selbst verantwortlich machen. Jahrzehntelang haben sie Rassismus, Misogynie, Bigotterie und Aggressionen aller Art gehätschelt, und nachdem sie so der amerikanischen Identität verlustig gingen, ist es jetzt an ihnen, mit den Fol- gen zu leben [...] dieses Monster haben sie selbst herangezüchtet.“ Fast gleichlautend äußerte sich Robert Kagan in seiner „Washington Post“- Kolumne: „Trump ist kein Zufall. Er ist, ganz im Gegenteil, ein Geschöpf der Partei, ihr Frankenstein-Monster.“ So richtig das sein mag, dürfte es Lesern doch schwerfallen, sich einer verbreiteten Abscheu seitens der Neokonserva- tiven zu erinnern, als Ronald Reagan, an niedrigste Instinkte appellierend, gegen Welfare Queens hetzte, also gegen Frauen, die angeblich gezielt von Sozialleistungen leben. Auch ging keine Welle der Empörung durchs Esta- blishment, als Mitt Romney höflich vorschlug, illegale Einwanderer sollten sich selbst abschieben. Schließlich gibt es da noch den Fall der Sarah Palin, die während ihrer kurzen, aber denkwürdigen Schicht als Vizepräsident- schaftskandidatin der Republikaner im Jahr 2008 routinemäßig verkündete, Barack Obama treibe sich gern mit Terroristen herum, was Kundgebungs- teilnehmer regelmäßig animierte, „Verrat!“ und „Tötet ihn!“ zu brüllen. Ist Trump aufhetzende Rhetorik (und Schlimmeres) vorzuwerfen? In der Tat. Ist dergleichen bei republikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen ungebräuchlich? Keineswegs. Was also hat Donald J. Trump an sich, das die Neocons in den Wahnsinn treibt? Ein Hinweis vorab: Sein Rassismus ist es nicht. Was sie in die Luft gehen lässt, ist Trumps Apostasie, insbesondere in Sachen Außenpolitik. Und zum Entsetzen der Kagan, Kristol, Boot et al. wird Trump um so populärer, je deut- licher er sich von neokonservativen Glaubensartikeln absetzt. Man beachte Äußerungen wie die folgenden, die Trump kürzlich auf einer Wahlkundge- bung in Huntsville (Alabama) von sich gab, etwa zum Irak: „Wenn wir einige dieser Burschen [er hatte sich gerade zum wiederholten Male auf Lindsey

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201604_Blaetter.indb 42 16.03.16 12:14 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel? 43

Graham, einen schon ausgeschiedenen Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur 2016 bezogen] übers Militär reden hören, wer- den wir weitere 20 Jahre dort [im Irak] bleiben. Das ist unmöglich! Sehen Sie, wir haben im Irak schon zwei Billionen Dollar ausgegeben. Und wir haben absolut nichts davon.“ Ähnlich deutlich wird er mit Blick auf Russland: „Was ist falsch daran, mit Russland zusammenzuarbeiten, statt immer nur mit ihm zu kämpfen und zu kämpfen? Was ist falsch daran, Russland den IS so richtig bombardieren zu lassen? Was ist daran falsch?“ Nun ja, wenn man als Neocon fast 15 Jahre lang ganz wild auf einen neuen Kalten Krieg mit Russland war – um Länder, die für die Vereinigten Staaten weder strategisch noch ökonomisch oder historisch sonderlich relevant sind –, dann ist an Trumps Äußerungen schon allerhand falsch.

Trump vs. Tea Party

Robert Kagan möchte uns glauben machen, der Trumpismus sei ein natür- licher Auswuchs der Tea-Party-Politik. „War es nicht die wüste Obstruk- tionspolitik der Tea Party – die wiederholten Drohungen, die Regierung auf- grund politischer und gesetzgeberischer Differenzen lahmzulegen [...]. War es nicht, neben vielen anderen, Ted Cruz, der diese Tonlage wählte und so einem Anderen, noch Respektloseren den Weg bereitete [...]?“ Netter Versuch! Denn den entscheidenden Teil spart Dr. Kagan aus: Es waren die Neocons, die den Aufstieg der Tea Party bei den Zwischenwahlen von 2010 nur zu gern gefördert haben! Jacob Heilbrunn beobachtete damals in „The National Interest“: „[...] die Zwischenwahlen werden keine Verän- derung der Außenpolitik bewirken, zumindest nicht auf der Rechten. Es wird nicht einfach nur ‚mehr vom Gleichen’ geben – es wird viel mehr davon geben. Und aus eben diesem Grund werden die Neocons, die schlau genug waren, die Tea Party zu unterstützen, ihre Vormachtstellung in der Grand Old Party auf außenpolitischem Gebiet behalten.“ Tea-Party-Anhänger sind ganz einfach Neocon-Ultras. Prüft man Trumps Äußerungen zur Außenpolitik, wird man – so undeutlich und bombastisch diese sein mögen – kaum sagen können, der Trumpismus gleiche der Tea- Party-Ideologie, die wir kennen. Das sind zwei Paar Schuhe. Nehmen wir die Auseinandersetzung um das Iran-Abkommen: Im vergan- genen Sommer sponserte die Tea Party eine Kundgebung gegen das Abkom- men vor dem Kongress in Washington. Bei den Hauptrednern handelte es sich um niemand anderen als Ted Cruz, den Liebling der Tea Party, und Donald Trump. Cruz tönte, falls die Einigung mit dem Iran zustande komme, „wer- den Amerikaner sterben, Israelis werden sterben, Europäer werden sterben.“ Eine Tirade ohne Ende. Trumps Einwand hingegen lautete, er halte den Deal für grottenschlecht, weil „unsere Politiker dämlich“ sind. Neuere Äußerungen Trumps über das Atomabkommen liegen auf der glei- chen Linie. Auf der bereits erwähnten Kundgebung in Huntsville brüllte er: „Diese Perser! Die Perser verstehen sich auf‘s Verhandeln! Die haben übri-

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201604_Blaetter.indb 43 16.03.16 12:14 44 James W. Carden

gens alle mein Buch über ‚Die Kunst des Verhandelns‘ (‚The Art of the Deal‘) gelesen, das könnt Ihr mir glauben! Unsere Leute haben es nicht gelesen.“ Er beklagt nicht, dass überhaupt verhandelt wurde, sondern dass es, wie er meint, schlecht getan wurde. Auch gegen den Konsens in Sachen Israel, den Tea Party und Neocons teilen, verstößt Trump. Mitte Februar verkündete er beim Fernsehsender MSNBC auf die ihm eigene umständliche Art, als Präsident würde er versu- chen, wie ein ehrlicher Makler zwischen Israelis und Palästinensern zu ver- mitteln. „Lassen Sie mich eine Art Unparteiischer sein [...]. Wissen Sie, eine Menge Leute sind beim Versuch, diesen Deal zu machen grandios geschei- tert. Ich will also nicht sagen, wer schuld ist. Ich glaube nicht, dass das hilft.“

Neokonservative für Clinton

Solch ketzerische Positionen in Sachen Außenpolitik und die breite Zustim- mung, auf die Trump bei den Primaries an der republikanischen Basis stößt, treiben so stramme Neocons wie Kagan und Boot jetzt zu der Erklärung, sie stünden bereit – für Hillary! Auch andere führende Neocons prangerten Trump gleich zu Dutzenden an, nachdem dieser am Super Tuesday so gut abgeschnitten hatte. Es könnte sein, dass die Republikanische Partei sich in den kommenden Monaten spaltet. Doch die Demokraten, insbesondere sol- che, die Realisten und Kriegsgegner sind, sollten sich in dieser Hinsicht nichts vormachen: Es handelt sich um eine durchaus bedenkliche Entwicklung. Eine der großen Paradoxien der jüngsten amerikanischen politischen Geschichte besteht darin, dass die heutigen Neocons über die Maßen ideo- logisch geprägt sind, während dies für ihre Vorfahren ganz und gar nicht galt. E. J. Dionne erklärt in seinem Klassiker „Why Americans Hate Politics“ („Warum Amerikaner Politik hassen“), dass die ursprünglichen Neocons Ideologien zutiefst misstrauten. So verkündet, wie Dionne berichtet, bereits die erste Ausgabe ihres von Irving Kristol 1965 mitbegründeten Hausblatts „The Public Interest“ rundheraus, dass es „im Wesen der Ideologie liegt, ihre eigene Wirklichkeit zu erfinden; und genau diese vorgefassten Weltbilder sind die schlimmsten Hindernisse, wenn man wissen will, worum es über- haupt geht.“ (Manchmal fällt der Apfel doch recht weit vom Stamm.) Mit der Zeit rückte die erste Neocon-Generation nach rechts, nicht zuletzt aus Abscheu vor dem Studentenaufruhr der späten 1960er Jahre und, so Dionne, wegen „der Neigung vieler Anhänger der Neuen Linken, die Paläs- tinensische Befreiungsorganisation (PLO) in den Kanon revolutionärer Orga- nisationen aufzunehmen, die linke Huldigungen verdienen.“ 1980 fanden die von Carters Präsidentschaft enttäuschten Neocons in Kaliforniens Gou- verneur Ronald Reagan ihren neuen Helden. Seither sind die Republikaner ihre Partei. Zum Präsidenten gewählt, berief Reagan eine Reihe Neocons in hohe Ämter, darunter Jeane Kirkpatrick (UN-Botschafterin) und William Bennett (Bildungsminister) als zwei der Prominentesten. Doch das war erst der Anfang. Unter Reagan, aber dann auch unter dem entschieden nicht-

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201604_Blaetter.indb 44 16.03.16 12:14 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel? 45

neokonservativen Präsidenten George H. W. Bush, fassten die Neocons im National-Security-Establishment festen Fuß. Und von dort aus beeinflussen sie (zusammen mit ihren liberal-interventionistischen Verbündeten) bis zum heutigen Tage die amerikanische Außenpolitik in hohem und höchst ver- derblichem Maße. Und deshalb ist es so gefährlich, wenn Kagan und Boot sich jetzt für Hillary Clinton erklären: Wenn auch nur eine kleine Zahl einflussreicher Neocons sich der Partei wieder zuwenden, der sie entstammen, würde sich die Mar- ginalisierung derjenigen Demokraten beschleunigt fortsetzen, die für eine progressiv-realistische Außenpolitik eintreten. Wie auch sonst sollte es kom- men in einer Partei, die sowohl liberale Interventionisten als auch Neokon- servative beherbergt? Weit hergeholt? Wir sollten gewarnt sein: In seinem Sammelband „Neo- conservatism: An Autobiography of an Idea“ von 1995 schrieb Irving Kristol, dass die von ihm mitbegründete Bewegung „problemorientiert [ist]. Sie wird sich gern mit der Republikanischen Partei verbinden, wenn diese Partei die Probleme richtig2 anpackt; wenn nicht, wird sie sich von ihr trennen.“ Sollten die Demokraten die Neocons in ihrer Partei willkommen heißen, wäre das eine Tragödie – für ihre Partei und für das Land.

2 Unübersetzbares Wortspiel. Die Originalformulierung „if the party is ‚right’ on the issues“ bedeutet auch: Wenn die Partei in diesen Fragen rechts steht [Anm. d. Übers.].

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201604_Blaetter.indb 45 16.03.16 12:14 46 Michael J. Brenner

Michael J. Brenner Hillary Clinton oder: Wie man das Weiße Haus verliert

ie Clinton-Maschine zieht nicht, wie sie sollte. Dabei wird sie vom kom- D pletten Establishment der Demokratischen Partei angetrieben und hätte ihr Idol eigentlich in den letzten Winkel Amerikas und schließlich ins Weiße Haus tragen sollen. Sie könnte dort noch immer ankommen. Doch nun muss sie einen viel trügerischeren und ungewisseren Weg nehmen, als Hillary und ihre Entourage sich das je hätten vorstellen können. Gesäumt wird der Parcours von Sachverständigen, Funktionären und Ana- lysten, die das Spektakel mit der gewohnten Konzentration auf Belanglosig- keiten begleiten und sich dabei ebenso überzeugt vom eigenen Durchblick zeigen, wie die Heldin selbst. Dies alles war vorhersehbar. Es entspricht der Engstirnigkeit und – ja – Inzucht, die seit langem sowohl die Führung der Demokraten als auch die Expertokratie kennzeichnen. Man könnte ein Vermögen mit Wetten gegen den „Washington-Konsens“ machen, dessen einzigartige Begabung zum Fehlgriff sich ebenso in der nicht enden wollenden Kette missglückter Aus- landsabenteuer zeigt wie in der Wahlpolitik. Diese Experten vermitteln den Eindruck, sie alle nippten bei Starbucks am Dupont Circle an den Double Lattes der anderen. Der aus dieser Orientierung resultierende Schaden, der den traditionellen Wählern der Partei, der Integrität des öffentlichen Diskur- ses im Lande und Amerikas Interessen weltweit zugefügt wurde, ist unab- sehbar – und womöglich nicht wieder gutzumachen.

Sanders – der letzte Demokrat

Dennoch sollte man die Pathologien bilanzieren, die durch diesen jüngsten schmerzhaften Zusammenstoß mit der Realität offenkundig geworden sind. Was zunächst ins Auge springt, ist die Entkoppelung der politischen Eliten von dem Land, das sie angeblich kennen oder jedenfalls regieren wollen. Bernie Sanders Erfolg zeigt dies sehr klar. Sein größter Vorzug besteht schlicht und einfach darin, dass er als „Demokrat“ auftritt – sprich: als Reprä- sentant jener Demokratischen Partei, die sich in der Mitte des 20. Jahrhun- derts herausbildete und deren Grundsätze den sozio-ökonomischen Interes- sen und philosophischen Überzeugungen der meisten heutigen Amerikaner entsprechen. Er ist seit der Präsidentschaftskandidatur Walter Mondales 1984 der erste, der seine Kampagne in diesem Sinne führt. Mondales Niederlage

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201604_Blaetter.indb 46 16.03.16 12:14 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel? 47

brachte seinerzeit viele Politiker zu der Überzeugung, die Zukunft gehöre dem Reaganschen Politikgebräu, das gewitzte Braumeister aus zweifelhaf- ten Zutaten – diskreditierten Allheilmitteln und Mythen – zusammengerührt und als neueste Offenbarung verkauft hatten. Marktfundamentalistische Wirtschaftsmodelle, eine Karikatur des amerikanischen Individualismus à la Ayn Rand, zügelloser Umgang mit Geld, außenpolitische Muskelspiele unter dem Vorwand, für die Demokratie zu missionieren, und demagogischer Anti- Etatismus – das alles wurde zu einem berauschenden Cocktail zusammenge- rührt. Es funktionierte insoweit, als der billige Erfolg sich aus latentem Ras- sismus, Nationaldünkel und evangelikalen Leidenschaften speisen konnte sowie aus einem gierigen Eigennutz, der aus der Befreiung der 1960er Jahre auch entstanden war. Die orientierungslosen Demokraten unterschätzten die Gefahr massiv und verloren schließlich aus den Augen, wer sie eigentlich waren. Schlimmer noch, viele von ihnen fanden in dieser eingebildeten neuen Welt für sich eine komfortable Nische. Zu ihnen gehören die Karrieristen, die zeitgeistigen Intellektuellen und die ehrgeizigen Politiker, die glaubten, sie hätten den Königsweg zur Wiedererlangung von Macht und Ruhm entdeckt. Gemein- sam formten sie die Demokratische Partei in eine „Wir auch“-Hilfstruppe der aufsteigenden konservativen Bewegung um. Und heute sind es radikal- reaktionäre Republikaner, die Wahlen auf bundesstaatlicher wie kommuna- ler Ebene spielend für sich entscheiden, den Kongress im eisernen Griff hal- ten und ihre Macht rücksichtslos dazu eingesetzt haben, die Justiz in einen Bündnispartner ihrer Partei zu verwandeln.

Obama – der überparteiliche Heiler

Sicher, die Demokraten haben zweimal das Weiße Haus übernommen. Bill Clinton gelang der Einzug dank der Kandidatur Ross Perots, und angesichts einer schwachen Opposition schaffte er vier Jahre später die Wiederwahl. In seiner Amtszeit rückte er sowohl politisch als auch ideologisch zusehends nach rechts („Die Ära des Big Government ist vorbei.“). Was folgte, war der Aufstieg der Republikaner. Nur der Absturz der Bush-Regierung in außen- wie innenpolitische Katastrophen ermöglichte einen Barack Obama. Doch der präsentierte sich nicht als Verkörperung der Werte seiner Partei, sondern als eine Art transzendenter überparteilicher Heiler – allenfalls rosarot ange- haucht. Ein Prophet ohne Botschaft oder Sendung. Jegliche fortschrittliche Idee, die er anklingen ließ, ging alsbald in der schamlosesten Bauernfänge- rei der politischen Geschichte Amerikas unter. Auch das war allerdings vorhersehbar. Schließlich hatte Obama dreimal Ronald Reagan als den Mann benannt, der seine Vorstellung vom Präsiden- tenamt am stärksten beeinflusst habe. Obamas Regierungspolitik ließe sich rechts von Richard Nixon verorten – sowohl was die bürgerlichen Freihei- ten als auch was den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs angeht. Seine Regierung machte sich geradezu einen Spaß daraus, „Progressive“ zu ver-

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201604_Blaetter.indb 47 16.03.16 12:14 48 Michael J. Brenner

leumden – ja, Rahm Emanuel, der Stabschef des Weißen Hauses, ließ es sich sogar nicht nehmen, deren Vertreter daselbst persönlich zu beschimpfen. Es handelt sich um eine Regierung, zu deren Hauptstützen die wiedergeborene „Progressive“ Hillary Clinton zählte. Der im Wahlkampf 2008 verheißene Neubeginn wurde schon in den ersten Regierungsmonaten aufgegeben, als die Demokraten noch in beiden Häusern die Mehrheit hatten. Dass Obama sich auf die Seite der Wall-Street-Barone schlug, eröffnete der Tea Party die Chance, Wut und Angst in eine finanziell bestens ausgestattete Bewegung umzuleiten, die – so anti-etatistisch wie borniert – heutzutage die politische Landschaft beherrscht. So war es Obama, der den letzten Nagel in den Sarg der alten Demokratischen Partei trieb. Diese Entwicklung der amerikanischen Politik lief de facto darauf hinaus, an die zwanzig Prozent der Wählerschaft zu entrechten. Diese Leute sind Bernie Sanders‘ Wähler. So einfach ist das. Sicher, es kommt auch auf die Per- sönlichkeit an, aber erst in zweiter Linie. Den Menschen Sanders zeichnen Integrität, Offenheit, Ernst, Transparenz und Anstand ebenso aus wie der Umstand, dass er einfach die Wahrheit sagt. Doch was vor allem zählt, ist nun einmal die Botschaft. Ein alter Jude aus Brooklyn, der sich rühmt, „Sozialist“ zu sein, macht auf der politischen Bühne der USA keinen zwingenden Ein- druck. Immerhin: Sanders ist intelligent und innenpolitisch wohlinformiert, weder Phrasendrescher noch Formulierungskünstler und im Auftreten stets der Gentleman, der sich zu keiner Respektlosigkeit hinreißen lässt. Von der Washingtoner Außenpolitik hat Sanders weitgehend Abstand gehalten. Clinton hingegen war die Wächterin des zweiten Akts im Historienspiel des amerikanischen Scheiterns und Fiaskos im Mittleren Osten.

Clinton – die Vertreterin einer schlappen Orthodoxie

Zu Clintons Unzulänglichkeiten und Misserfolgen kommt erschwerend das Misstrauen hinzu, mit dem sie viele Menschen erfüllt. Das wusste man auch schon vor einem Jahr. Umfragen ergaben für sie höhere Negativbewertun- gen, als je zuvor irgendein ernsthafter Kandidat, Frau oder Mann, zu ver- zeichnen hatte. Warum also wurde sie gekrönt, und das schon lange vor Wahlkampfbeginn? Warum zeigten sich keine anderen Bewerber? Warum gingen die hohen Tiere der Partei so selbstgefällig mit der Aussicht auf eine weitere Wahlniederlage um? Als Antwort hört man oft, es habe niemanden sonst gegeben. Doch der Hauptgrund dafür, dass das Parteiestablishment der Demokraten geschlos- sen hinter Hillary aufmarschierte, besteht in fehlenden Überzeugungen und in einer politischen Furchtsamkeit, die erstens daher rührt, dass diese Leute Geiseln der Großspender sind, und zweitens daher, dass zurückliegende Misserfolge ihr Selbstvertrauen untergraben haben. Dass sie sich sämtlich einer schlappen Orthodoxie verschrieben haben, konnte alle Welt in den letzten Monaten und Wochen erkennen, als Hillarys Gefolgsleute auf den Panikknopf drückten. Das bot kein schönes Schauspiel.

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201604_Blaetter.indb 48 16.03.16 12:14 Clinton vs. Trump: Das kleinere Übel? 49

Standhafte Demokraten haben sich mit ihren weit hergeholten und faden- scheinigen Argumenten für Hillary blamiert: Das beginnt bei den Redakteu- ren der „New York Times“ und Paul Krugman (der Hillary jetzt als legitime Erbin Obamas sieht, den er hagiographisch zu „einem der wichtigsten und erfolgreichsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte“ verklärt). Und es endet bei der von Gloria Steinem und Madeleine Albright angeführten feministischen Brigade. Das soll nicht heißen, es gebe keine vernünftigen und nachvollziehbaren Gründe, für ihre Wahl zu plädieren. Es ist der falsche Zungenschlag dieser prominenten Empfehlungen, der zeigt, wie hohl der Kern der Demokrati- schen Partei ist. Deren Führer lassen keine Gelegenheit aus, ihre politische Beschränktheit zu demonstrieren und die Furcht davor, ihre sehr enge per- sönliche Komfortzone verlassen zu müssen. Die schlichte Wahrheit lautet, dass die Führung der Demokraten seit Jahr- zehnten handzahm und verängstigt ist. Diese Leute können kein Blut sehen – schon gar nicht das ihrer Gegner. Da musste 2012 erst ein Newt Gingrich kommen, um das Problem räuberischer Hedge Fonds und der Private-Equity- Praktiken beim Namen zu nennen. Als Obama das Thema widerwillig auf- griff, war die Resonanz groß – so groß, dass Vertreter der Wall Street sich zusammentaten, um dem Weißen Haus in aller Schärfe ihr Missfallen kund- zutun. Flugs stoppte Obama die Anzeigenkampagne. Und jetzt ist es Donald Trump, der lautstark erklärt, dass die Intervention im Irak sich auf Lügen stützte und dass unsere heutigen Probleme in der Region auf sie zurückgehen. Kein Demokrat, nicht einmal Sanders, ist bereit, diesen Sachverhalt ähnlich nachdrücklich anzusprechen. So geht das seit 2008, und die Beispiele ließen sich vervielfachen. Wir haben es mit einer Ver- lierermentalität zu tun. Man gelangt nicht ins Weiße Haus, wenn man nie- mandem wehtun will. Gewiss, alles spricht dafür, dass Hillary Clinton auf dem Wahlparteitag in Philadelphia letztlich nominiert werden wird. Doch ebenso groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kandidatur sich als Totgeburt erweist. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich die Republikaner irgendwie aus ihrer adre- nalingetränkten Trotzphase befreien können und einen vernünftigen Kandi- daten aufstellen. Denn die einzige Hoffnung der Demokraten besteht darin, dass die Opposition einen Kurs beibehält, der ähnlich selbstmörderisch ist wie ihr eigener. Soviel zum Zustand der amerikanischen Politik.

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201604_Blaetter.indb 50 16.03.16 12:14 Der Preis der Mutterschaft Warum so wenige Frauen ganz oben und viel zu viele ganz unten sind

Von Anne-Marie Slaughter

eute konzentrieren sich viele Feministinnen vor allem auf ein Pro- H blem; und zwar nicht auf die gläserne Wand oder den „sticky floor“,1 ein Begriff, den die Soziologin Catherine White Berheide Anfang der 1990er Jahre für die Tatsache prägte, dass Frauen ganz unten in schlecht bezahl- ten Jobs ohne große Aufstiegschancen „festkleben“. In den meisten Bran- chen und Berufen haben es Frauen inzwischen bis ganz oben geschafft, in der Politik, der Universität, bei Stiftungen und in vielen weiteren Spitzen- jobs. Das Problem der Feministinnen ist vielmehr der „Great Stall“, der große Stillstand, also der Umstand, dass es beim Frauenanteil in all diesen Sparten seit Anfang der 1990er Jahre kaum Zuwachs gegeben hat. Offenbar kleben wir bei 15 Prozent fest, in guten Sparten bei bis zu 20, in schlechten nur bei 5 Prozent. Dieser Stillstand treibt heute viele feministische Forscher und Vertreter des öffentlichen Lebens um. Fünfzig Jahre nach der zweiten Welle der Frau- enbewegung werden Mädchen in dem Glauben erzogen, dass sie alles sein können, was sie wollen. Sie drängen mit hervorragenden Zeugnissen aus den besten Schulen in den Arbeitsmarkt. Doch wenn man sieht, dass immer mehr talentierte Frauen in ihre Karriere starten,2 ist es umso frustrierender festzu- stellen, wie wenige es dann wirklich bis an die Spitze schaffen. Auch mich beschäftigte dieses Problem sehr lange, und mein Artikel im „Atlantic“3 knüpfte genau daran an. Inzwischen habe ich freilich begriffen, wie sehr es den Blick verzerrt, wenn man sich vor allem auf Frauen in Spit- zenjobs konzentriert, obwohl das verständlich sein mag, wenn man Frauen Zugang zu den entscheidenden Hebeln der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Macht verschaffen möchte. Doch wir verhalten uns damit genauso, als würden wir zur Diagnose einer Krankheit die Symptome nur in einem einzigen Körperteil untersuchen.

* Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch von Anne-Marie Slaughter, „Was noch zu tun ist. Damit Frauen und Männer gleichberechtigt leben, arbeiten und Kinder erziehen können“, das soeben im © Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln erschienen ist. © 2015 Anne-Marie Slaughter. Die Überset- zung aus dem amerikanischen Englisch stammt von Elsbeth Ranke und Violeta Topalova. 1 Barbara Presley Noble, At Work: And Now the „Sticky Floor“, in: „New York Times“, 22.11.1992. 2 Judith Warner, Perfect Madness: Motherhood in the Age of Anxiety, New York 2005. 3 Anne-Marie Slaughter, Why Women Still Can’t Have It All, in: „The Atlantic Monthly“, 6-7/2012.

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Wenn es unser Ziel ist, wirkliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Gesellschaft zu schaffen, dann müssen wir dringend die Situa- tion aller Frauen betrachten.

Ein verbreitetes Muster

Wenn wir nicht nur die Frauen mit großen Karrieren in den Blick nehmen, dann wird eine recht unschöne Symmetrie sichtbar. Denn ja, wir sehen viel zu wenige Frauen ganz oben, aber zugleich sehen wir viel zu viele Frauen ganz unten. Die Statistiken in beiden Richtungen sind alarmierend. Frauen besetzen weniger als 15 Prozent der Führungspositionen in den 500 umsatz- stärksten US-Unternehmen und 62 Prozent der Niedriglohnjobs.4 Als Folge daraus lebt ein Drittel aller erwachsenen Frauen in Armut oder knapp an der Armutsgrenze. Besonders düster ist das Bild für alleinerziehende Müt- ter. Fast zwei Drittel von ihnen arbeiten in den untersten, schlecht bezahlten Jobs ohne jede Flexibilität und ohne Sozialversicherung.5 Wenn wir den Blickwinkel auf diese Art erweitern, erweisen sich die Lösungsvorschläge der letzten Jahre (teilweise auch meine eigenen), mit denen Frauen vorangebracht werden sollten, als absolut unvollständig. Es ist schlichtweg nicht plausibel, dass so viele Frauen in der amerikanischen Gesellschaft deshalb so weit unten stehen, weil sie sich nicht genügend anstrengen, zu perfektionistisch sind oder zu wenig Selbstvertrauen haben. Womöglich tragen diese Faktoren dazu bei, dass gut ausgebildete Frauen mit vielversprechendem Karrierestart ausgebremst werden, aber sie können nicht erklären, warum alleinerziehende Mütter weiterhin durch alle Netze fallen und in Armut enden. Natürlich leben Frauen ganz oben und Frauen ganz unten in ziemlich unterschiedlichen Sphären, so dass es also auch unterschiedliche Erklärun- gen dafür geben kann, warum sie nicht weiter vorankommen beziehungs- weise gar nicht erst hochkommen. Die britische Ökonomin Alison Wolf weist allerdings darauf hin, dass Frauen seit jeher das gleiche Schicksal geteilt haben: „Ob in der Elite oder bei den Ärmsten, in Irland wie in Indien, das Lebensziel der Frauen waren immer Ehe und Kinderkriegen. Man heiratete gut – oder schlecht. Man brachte lebende Kinder zur Welt, die einen unter- stützten – oder nicht. Von diesen Realitäten hing für eine Frau das gesamte Leben ab“, schreibt sie in ihrem Buch „The XX Factor“.6 Heute aber, so Wolf, würden die Lebenserfahrungen von Frauen extrem auseinanderdriften, so

4 Statistical Overview of Women in the Workplace, in: „Catalyst“, 3.3.014, www.catalyst.org. 5 Maria Shriver und Olivia Morgan, The Shriver Report: A Woman’s Nation Pushes Back from the Brink, New York 2014; Laryssa Mykyta und Trudi J. Renwick, Changes in Poverty Measurement: An Examination of the Research SPM and Its Effects by Gender, U. S. Census Bureau Working Paper, Januar 2013; Suzanne M. Bianchi, Feminization and Juvenilization of Poverty: Trends, Rela- tive Risks, Causes, and Consequences, in: „Annual Review of Sociology“, 25/1999, S. 307–333; Sara McLanahan und Erin Kelly, The Feminization of Poverty: Past and Future, in: Handbook of the Sociology of Gender, New York 1999, S. 127-145; Diane Pearce, The Feminization of Poverty: Women, Work and Welfare, in: „Urban & Social Change Review“, 1-2/1978, S. 28–36. 6 Alison Wolf, The XX Factor: How the Rise of Working Women Has Created a Far Less Equal World, New York 2013, eBook, S. 17-18.

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dass das „Frausein“ an sich nicht mehr als Kategorie zu sehen sei, die eine gemeinsame Erfahrung definiere. Ich zweifle Alison Wolfs Daten nicht an, aber betrachtet man die Fakten über Frauen der Ober- und Unterschicht, so zeichnet sich in ihren auf den ers- ten Blick so verschiedenen Erfahrungen doch ein gemeinsames Muster ab. Haben wir es einmal wahrgenommen, so geht es uns wie bei der Betrachtung eines impressionistischen Gemäldes, das erst richtig sichtbar wird, wenn wir einen Schritt zurücktreten. Von der richtigen Stelle aus betrachtet, fügen sich die vielen kleinen Farbkleckse zu Mustern, die eine erkennbare Szene bil- den, eine Tischgesellschaft oder ein Blumenfeld.

Ehrgeiz und Fürsorge

Den Schlüssel zu unserem Muster liefern zwei komplementäre mensch- liche Antriebskräfte: auf der einen Seite der persönliche Ehrgeiz, also der Impuls, in einer Welt der Konkurrenz egoistische Interessen zu verfolgen, auf der anderen Seite die Fürsorge, also der altruistische Impuls, andere voran- zustellen. Männer und Frauen werden von diesen beiden Hauptimpulsen gleichermaßen angetrieben. Anthropologen, Soziologen, Psychologen und Neurowissenschaftler untersuchen, wie unterschiedliche Impulse in unse- rem Gehirn und das daraus resultierende Verhalten dem Menschen Über- leben und Fortschritt ermöglicht haben. Unsere Rivalität und unser Bemü- hen, den anderen auszustechen, treiben Innovation und Wandel an, aber zugleich sind wir auch soziale Lebewesen, die Beziehungen und mensch- liche Gemeinschaft brauchen. Die Anthropologin Sarah Blaffer-Hrdy etwa hat beobachtet, dass die menschliche Fähigkeit, sich um Fremde zu küm- mern, so einzigartig ist, dass „zusammen mit Sprache und abstraktem Den- ken diese Fähigkeit zum Mitgefühl eine Quintessenz der Menschlichkeit darstellt“. Ja, genau das „definiert uns als Menschen“.7 Vereint also alle Frauen der Kampf, den persönlichen Ehrgeiz und die Für- sorge in einem System zu kombinieren, das das eine belohnt und das andere straft? Wenn es sich aber um zwei gleichwertige und gleich notwendige menschliche Antriebskräfte handelt, warum ist das dann so? Höhere Wert- schätzung für Einkommenserwerb als für Fürsorge lässt sich genauso wenig rechtfertigen wie die Diskriminierung von Weiß oder Schwarz, Hetero oder Homo, Mann oder Frau. Persönlicher Ehrgeiz bringt Geld. Aber Fürsorge bringt Menschen. Denken wir einmal darüber nach. Unzählige Frauen beschreiben wieder und wieder, wie sie plötzlich unsichtbar wurden, sobald sie eine bezahlte Arbeit aufgaben und sich um ihre Kinder oder andere Angehörige kümmer- ten. Die Soziologin Pamela Stone etwa zitiert dazu Maeve (52), eine ehema- lige Anwältin: „Es war, als würde ich mit einem Mal nicht mehr existieren. [...] Wissen Sie, vor einem halben Jahr habe ich noch in der Staatsanwalt-

7 Sarah Blaffer-Hrdy, The Past, Present and Future of the Human Family. Tanner Lectures on Human Values, Vortrag an der University of Utah, 27./28.2.2001, www.tannerlectures.utah.edu.

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schaft gearbeitet und mich um lauter coole Fälle gekümmert. Mein Name stand sogar in der ‚New York Times‘. [...] Jetzt bin ich niemand mehr.“8 Ein Niemand. Anders gesagt: Wenn man bloß für andere sorgt – was genauso essenziell, wenn nicht essenzieller für das Überleben des Menschen ist als das Geldverdienen –, dann verliert man seinen Wert als Person. Und genau diese Entwertung, diese Diskriminierung von Betreuungsarbeit ist der Punkt, der die Erfahrungen von Frauen ganz oben und ganz unten ver- bindet. Beschließt eine junge Anwältin oder Bankerin mit aussichtsreichem Karrierestart, abends rechtzeitig nach Hause zu gehen, um mit ihren Kin- dern essen zu können, oder auch in Teilzeit zu arbeiten, dann ist sie weg vom Fenster – das heißt von der Aussicht auf einen Spitzenjob. Und wenn sie ganz aussteigt, bildet ihre Zeit mit den Kindern einen schwarzen Fleck im Lebens- lauf, ein Loch, das sie vergeblich kaschieren und wegerklären muss, wenn sie versucht, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.

Die Frau ganz unten

Nun zu der Frau ganz unten. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist sie eine alleinerziehende Mutter, die gar keine andere Wahl hat, als Einkommens- erwerb und familiäre Betreuung allein zu bewerkstelligen. Die Hälfte der alleinerziehenden Mütter in den USA verdienen weniger als 25 000 Dollar im Jahr.9 Im Vergleich zu Alleinerziehenden in anderen reichen Industrienatio- nen haben amerikanische Alleinerziehende das höchste Armutsrisiko und erfahren am wenigsten staatliche finanzielle Unterstützung.10 Solche Statistiken sind eine abstrakte Zusammenfassung des Lebens sehr vieler Menschen. Ein konkreter Fall: Ranie Sherr, alleinerziehende Mutter zweier Kinder in South Scranton, Pennsylvania, verdient den Mindestlohn. Aufgrund von Problemen mit der Kinderbetreuung und einem Sturz auf dem Glatteis des langen Winters 2013 fehlte Sherr einmal an vier Tagen in einer Woche. „Mit meinem nächsten Wochenlohn bekomme ich nur 7,5 Stunden bezahlt“, erzählte Sherr der „Times­ Tribune“ in Scranton. „Ich weiß nicht, wie ich damit über die Runden kommen soll.“11 María, alleinerziehende Mutter in Providence, Rhode Island, bekam für ihren Fabrikjob 7,40 Dollar Stundenlohn. Fiel sie für eine Schicht aus, weil ihr Sohn krank war, dann wurde sie zwei Wochen lang aufs Abstellgleis gestellt und bekam weniger Stunden zugeteilt, wenn sie endlich wiederkom- men durfte. Forschern vom Urban Institute erklärte sie: „Ich hatte nicht ein-

8 Pamela Stone, Opting Out? Why Women Really Quit Careers and Head Home, Berkeley 2007, S. 145. 9 „Single Motherhood in the United States – A Snapshot”, Legal Momentum, Women’s Legal Defense and Education Fund, 2012, www.legalmomentum.org. 10 Timothy Casey und Laurie Maldonado, Worst Off – Single Parent Families in the United States: A Cross-National Comparison of Single Parenthood in the U. S. and 16 Other High Income Countries, Legal Momentum, Women’s Legal Defense and Education Fund, Dezember 2012, www.legalmo- mentum.org; Matt Bruenig, The Poorest Norwegian Children Are Twice as Rich as the Poorest Ame- rican Children, Demos: An Equal Say and An Equal Chance for All, 12.1.2015, www.demos.org/ blog/1/12/15/poorest-norwegian-children-are-twice-rich-poorestamerican-children. 11 Terrie Morgan-Besecker, Minimum Wage Earners Struggle to Survive, in: „Times-Tribune“, 22.12.2013.

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mal genug Zeit für eine Toilettenpause. Man darf nicht öfter als zweimal am Tag zur Toilette, und dann wird man angeschrien: ‚Wo warst du?’, ‚Jetzt aber dalli!’ – unglaublich. Und sie beobachten einen auf dem Weg zur Toilette und gehen einem nach. ‚Dalli, Dalli!’, ‚Bist du etwa müde? Hier kannst du nicht müde sein!’“ Schließlich verlor María diesen Job und damit für neun Monate auch ihren Betreuungsplatz für ihr Kind. Dann fand sie eine neue Arbeits- stelle mit besseren Vorgesetzten, verdiente aber immer noch wenig und war für die Betreuung ihres Sohns sehr unflexibel.12 Als Gesellschaft wertschätzen wir, dass Ranie und María ein eigenes Ein- kommen erzeugen. Und tatsächlich zielte die ganze Sozialreform unter Prä- sident Bill Clinton13 darauf ab, dass die Bezieher der Sozialhilfe für Familien mit Kindern (damals Aid to Families with Dependent Children), also über- wiegend alleinerziehende Mütter, für ihr Geld auch arbeiten gingen. Das ist gut so, wenn man wie ich an Würde und Wert bezahlter Arbeit glaubt. Warum aber glauben wir nicht genauso an Würde und Wert der Fürsorge für andere? Insbesondere, wenn diese „anderen“ unsere eigenen künftigen Mit- bürger sind? Wir haben weder bezahlbare Krippen noch Kindergärten oder Ganztagsschulen, die die Lücken in der Kinderbetreuung schließen würden. Wir haben keine bezahlten Urlaubstage für Angestellte, deren Kinder krank sind. Das führt dazu, dass sich eine Mutter mit kleinen Kindern ein instabi- les, unzuverlässiges Netz von Betreuern zusammenschustern muss, und das stellt ein erhebliches Hindernis dar, um in der Arbeit Erfolg zu haben und sich aus der Armut zu befreien.14

Der tägliche Kampf der Mittelschichtfamilien

Für Familien aus der Mittelschicht ist das Ringen um den Ausgleich von Betreuungsarbeit und Einkommenserwerb eine tägliche Mühsal und häu- fig der Tipping-Point, der sie in Armut und Schulden treibt. In ihrem Buch „The Two Income Trap“ beschreiben Elizabeth Warren und Amelia Warren Tyagi, wie eine Scheidung Gayle Pritchard, Personalreferentin mit College- Abschluss, in den Bankrott trieb.15 Sie konnte sich von ihrem Jahresgehalt von 46 000 Dollar die Kreditraten für das bescheidene Eigenheim der Familie nicht mehr leisten, und ihrem Exmann wurde für den Unterhalt der Kinder kein hoher Beitrag abverlangt. Pritchards Geschichte ist leider sehr verbrei- tet: „Mutterschaft ist heute der weitaus beste Indikator dafür, dass eine unver-

12 Ajay Chaudry, Juan Pedroza und Heather Sandstrom, How Employment Constraints Affect Low-In- come Working Parents’ Child Care Decisions, Urban Institute, Brief 23.2.2012, www.urban.org. 13 1996 Welfare Amendments, Social Security History, www.ssa.gov/history/tally1996.html; Mary B. Larner, Donna L. Terman und Richard E. Behrman, Welfare to Work: Analysis and Recommendati- ons, in: „The Future of Children“ 1/1997), www.futureofchildren.org; Mary Daly und Joyce Kwok, Did Welfare Reform Work for Everyone? A Look at Young Single Mothers, in: „Federal Reserve Bank of San Francisco Economic Letter“, 3.8.2009, www.frbsf.org. 14 Joan Entmacher, Katherine Gallagher Robbins, Julie Voghtman und Lauren Frohlich, Insecure & Unequal: Poverty and Income Among Women and Families 2000-2012, National Women’s Law Cen- ter, September 2013, www.nwlc.org. 15 Elizabeth Warren und Amelia Warren Tyagi, The Two-Income Trap: Why Middle-Class Mothers and Fathers Are Going Broke, New York 2003, S. 97-122.

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heiratete Frau aus der Mittelschicht bankrottgeht.“ Diese Mütter bezahlen den Preis dafür noch lange ab, auch wenn die Kinder längst aus dem Haus sind. Ann Crittenden weist außerdem darauf hin, dass unbezahlte Betreu- ungsarbeit weder für die Rente noch für andere Sozialleistungen angerech- net wird, so dass Mutterschaft zum „weitaus größten Risikofaktor für Alters- armut“ wird.16 Privilegierte Frauen, die es sich leisten können, vorübergehend aus dem Job auszusteigen oder flexiblere Arbeitszeiten zu wählen, damit sie Zeit für die Kinderbetreuung haben, verzichten damit vielleicht auf Beförderungen und die leuchtenden Ziele, die ihnen während ihres Studiums immer vor Augen standen. Arme Frauen dagegen, die sowohl Verdienerinnen als auch Betreuerinnen sind, sind viel stärker in Bedrängnis und fragen sich, wie sie ihre Familien überhaupt ernähren sollen. Häufig geben sie jede Hoffnung auf, jemals aus der Armut herauszufinden, in der sie aufgewachsen sind, und ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen zu können. Ohne die Unter- schiede zwischen diesen Frauen ignorieren zu wollen, bezahlen sie alle dafür, dass sie eine geliebte Familie haben, die ihre Fürsorge braucht. Die mangelnde Wertschätzung von Betreuungsarbeit ist die Wurzel, das grundlegende Problem, aus dem in vielen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft Verzerrung und Diskriminierung erwachsen. Wenn wir die Augen öffnen und die Brille wechseln und uns statt auf „Frauen und Arbeit“ auf das Wechselspiel von persönlichem Ehrgeiz und Fürsorge konzentrieren, dann erkennen wir neue Lösungen und neue Bündnisse, die Fortschritt und Wandel die Türen öffnen können. Die ungelöste Frage der Fürsorge kann zu einem neuen politischen Banner werden, unter dem sich alle Frauen ver- einen können.

Neue Schwesterlichkeit

Die Frauenbewegung, die Anfang der 1970er Jahre als Frauenbefreiung auf- trat, war Teil der sehr viel umfassenderen sozialen Revolution der 1960er und 1970er Jahre. Das Schlagwort der Frauenbewegung war die „Befreiung“: von Stereotypen, Einschränkungen, Podesten, Schubladen, Diskriminierung, Sexismus, Belästigung, BHs und Korsetts – von allem also, was Frauen in festen Rollen einsperrte. Die jungen Leute wollten sich vom Konformismus des Establishments der 1950er Jahre befreien – von den grauen Anzügen, den perfekten Ehefrauen und den pausenlosen Martinis, man schaue nur die Fernsehserie „Mad Men“. Schwarzamerikaner wollten sich vom institutiona- lisierten Erbe der Sklaverei befreien. Gemeinsam war all diesen Bestrebun- gen die Revolution für Gleichheit, Chancengleichheit, Frieden und vor allem Gerechtigkeit: gleiche Rechte vor dem Gesetz. Die Frauen vereinten sich in einem schwesterlichen Gefühl. Eines der wichtigsten Ziele der Bewegung war, sexuelle Belästigung zu definieren

16 Ann Crittenden, The Price of Motherhood: Why the Most Important Job in the World Is Still the Least Valued, New York 2001, S. 6.

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und strafbar zu machen, die Gesetze zur Vergewaltigung zu verschärfen und dafür zu kämpfen, dass Frauen die Kontrolle über ihren eigenen Körper erhielten. Über die Frage, ob es wünschenswert war, außer Haus zu arbeiten, war man vielleicht unterschiedlicher Meinung, aber quer durch Hautfarben, ethnische Herkunft, Klassen und Religionen konnten die Frauen gemein- same Sache dagegen machen, als Sexobjekt behandelt zu werden. Gloria Steinem, eine Ikone des damaligen Feminismus, die erfolgreich Minirock mit Medienkompetenz und Führungstalent kombinierte, hielt im Frühsommer 1970 eine Ansprache am Vassar College,17 die zum Manifest für ein viel weiteres Verständnis dessen wurde, wofür Frauen kämpften. Sie nannte die Frauenbewegung eine „revolutionäre Brücke“, „zwischen schwarzen und weißen Frauen“ sowie zwischen Frauen und den „Bauarbei- tern und Vorstadtbewohnern, zwischen Präsident Nixons ‚schweigender Mehrheit’ und den jungen Leuten, vor denen sie Angst hat“. Frauen könnten das Bindeglied zwischen all diesen Gruppen darstellen, so Steinem, weil sie „Schwestern sind; sie haben viele Probleme gemeinsam, und sie können mit- einander kommunizieren“. Steinems Gedanken sind bis heute inspirierend, aber schon damals setzte sie viel voraus. Viele ärmere Frauen und ganz sicher viele Schwarzameri- kanerinnen fühlten sich nie wirklich dazugehörig. Keine zehn Jahre nach Steinems Ansprache prägte zum Beispiel Alice Walker den Begriff „woma- nism“18 als Sammelbegriff für den Feminismus, aber mit stärkerem Fokus auf den Erfahrungen farbiger Frauen und allgemein unterdrückter Gruppen. Vierzig Jahre später hat sogar die einst so machtvoll begründete Schwes- terlichkeit deutlich Federn gelassen. Frauen aus wohlhabenden Milieus, aus der Mittelklasse, der Arbeiterklasse sowie arme Frauen führen ein sehr unterschiedliches Leben. Schwarzamerikanerinnen, Hispanoamerikane- rinnen, Frauen asiatischer Herkunft, lesbische Frauen, verheiratete Frauen, allein lebende Frauen, den Demokraten nahestehende Frauen, den Repub- likanern nahestehende Frauen, Frauen im Beruf, Frauen, die zu Hause blei- ben – sie alle haben unterschiedliche Lebenserfahrungen, und viele lassen sich von Interessenvertretungen repräsentieren, die selbst ganz unterschied- liche Ziele verfolgen. Alle aber haben sie, jede auf ihre Weise, erfahren, wie Betreuungsarbeit zugunsten anderer Arbeit diskriminiert wird – wie alle Frauen überall auf der Welt.

Reich und Arm: Die große Kluft

Mir wurde vorgeworfen, als privilegierte, wohlhabende, liberale weiße Frau könne ich mir gar nicht vorstellen, was für ein Leben die allermeisten Frauen in den USA überhaupt führten. Die feministische Denkerin Catherine Rot- tenberg zum Beispiel argumentiert, allein der Gedanke der „Vereinbarkeit“

17 Gloria Steinem, „Women’s Liberation“ Aims to Free Men Too, in: „Washington Post“, 7.6.1970. 18 Alice Walker, In Search of Our Mothers’ Gardens: Womanist Prose, San Diego 1983; Patricia Hill Col- lins, What’s in a Name? Womanism, Black Feminism, and Beyond, in: „Black Scholar“, 1/1996, S. 9-17.

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von Beruf und Familie sei nur etwas für Privilegierte. „Nach der Private Woman und der New Woman und der Superwoman“, so schreibt sie, „kann man jetzt also auch von der Balanced Woman sprechen“ – freilich nur „unter Tilgung oder Ausschluss der ganz großen Mehrheit der Frauen“.19 Rotten- berg zufolge legen wir viel zu viel Wert auf Glück und positive Gefühle und viel zu wenig Wert auf „gleiche Rechte, Gerechtigkeit und Emanzipation als eigentliche Ziele des (...) Feminismus“.20 Susan Faludi, Trägerin des Pulitzer-Preises und Autorin feministischer Bücher wie „Die Männer schlagen zurück“ und „Männer – das betrogene Geschlecht“, sieht in Büchern wie „Lean In“ und in meinem Artikel im „Atlan- tic“ den Beweis dafür, dass wir den kollektiven Kampf um die Befreiung der Frau aufgegeben haben und uns lieber auf den individuellen Fortschritt der ohnehin bereits privilegierten Frauen konzentrieren; wir seien inzwischen selbst Teil eines korrupten Systems. „Seit über vierzig Jahren finden ‚Dress for Success’ und ‚Having It All’ Eingang in den Befreiungswortschatz und verdrängen zunehmend den eigentlichen feministischen Traum, die Gesell- schaft zu verändern“, schreibt Faludi. „Vierzig Jahre danach sehen wir die traurigen Früchte dieser Schwäche. Wir definieren Feminismus inzwischen als das Recht der Frau, sich vom System besitzen zu lassen, sich genauso besitzen zu lassen, wie Männer das längst tun.“21 Ich bedauere ebenfalls, dass der Feminismus die Frauen heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Streben nach einem breiten gesellschaftlichen Wandel vereint. Ich war mir völlig bewusst, dass ich meinen Artikel für ein relativ wohlhabendes und gut ausgebildetes Publikum schrieb. Doch viele Frauen aus weniger privilegierten Milieus schrieben mir, dass meine Erfah- rungen und Blickwinkel auch sie ansprachen. Tanya Sockol Harrington zum Beispiel, die bei der Feuerwehr arbeitet. Sie bedauerte, dass sie das College-Examen nicht ablegen konnte, das sie für ihren beruflichen Aufstieg brauchen würde. „Als Mutter von vier Kin- dern, von denen eines gesundheitliche Probleme hat, und Frau eines Man- nes mit Vollzeitjob kann ich dieses Ausbildungsniveau ganz einfach nicht erreichen“, schrieb sie mir. „Ich habe meinen Highschool-Abschluss und die rettungsdienstliche Ausbildung an unserem lokalen College. Mein Mann ist zwar lieb und nett, aber de facto entfällt doch der Mammutanteil der Haus- arbeit auf mich.“22 Die Frage, wie wir die Fürsorge für andere mit unseren persönlichen Zie- len unter einen Hut bekommen, haben Tanya und ich gemeinsam. Wer diese Gleichheit der Erfahrungen leugnet, leugnet damit, dass Frauen in niedrige- ren Einkommensklassen dieselben Ziele haben. Wir alle haben unseren Ehr- geiz für Bildung und Berufsleben, aber wir wollen auch für unsere Angehö- rigen da sein. Recht haben Catherine Rottenberg und andere allerdings mit ihrem Hinweis, dass die Konzentration auf die Vereinbarkeit von Beruf und

19 Catherine Rottenberg, Hijacking Feminism, Al Dschasira, 25.3.2013, www.aljazeera.com. 20 Dies., Happiness and the Liberal Imagination: How Superwoman Became Balanced, in: „Feminist Studies“, 1/2014. 21 Susan Faludi, Feminism for Them?, in: „The Baffler“, 24/2014. 22 E-Mail an Anne-Marie Slaughter vom 10.8.2012.

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Familie in erster Linie Frauen mit Karriere anspricht. „Vereinbarkeit“ ist ein Luxus. Gleichheit ist eine Notwendigkeit. Wenn wir nicht mehr über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie reden, sondern über die Diskriminierung von Fürsorge und Pflege, dann sieht die Sache ganz anders aus. Dann sehen wir die Parallele zwischen der Mutter, die nach dem Mutterschutz flexible Arbeitszeiten möchte und daraufhin weniger interessante Aufträge mit weniger wichtigen Kunden bekommt, und der Weigerung eines Arbeitgebers, einer arbeitenden Mutter (oder einem arbeitenden Vater) Krankheitstage, private freie Tage oder irgendeine Art von Flexibilität zuzugestehen. In beiden Beispielen handelt es sich um eine Diskriminierung zugunsten der Arbeitnehmer, die die Kinderbetreuung an andere abtreten können. Und in beiden Fällen geht der Arbeitgeber davon aus, dass man nicht gleichzeitig engagierte Kinderbetreuung und gute berufliche Arbeit leisten kann. Warum aber sollte das nicht gehen? Zumin- dest sollte man die Arbeitgeber einmal zwingen, diese Annahme zu belegen. Genauso diskriminierend ist die verbreitete Haltung, die Jahre, die eine Frau außerhalb der bezahlten Arbeitswelt verbracht hat, als schwarzes Loch in ihrem Lebenslauf zu verstehen, und unsere Unfähigkeit, die jährlich Hun- derte von Millionen23 unbezahlter Betreuungsarbeit in privaten Haushalten in unser Bruttosozialprodukt mit einzubeziehen. In beiden Fällen nehmen wir an, dass Betreuungsarbeit keine wirklich relevante Tätigkeit ist, obwohl sie doch ganz entscheidend ist für Würde und Wohlbefinden von Senioren und Kranken und für die körperliche und kognitive Entwicklung der Kinder. Und dass diese Arbeit auch den Betreuer persönlich weiterbringen und in anderen Kontexten wertvoll sein kann, lassen wir völlig außen vor.

»Pauperisierung der Mutterschaft«

In den unteren Einkommensschichten ist der Preis der Mutterschaft sehr viel bitterer: Die Ökonomin Nancy Folbre sprach bereits 1985 von der „Pauperi- sierung der Mutterschaft“.24 Dreißig Jahre später veröffentlichte die ange- sehene Russell Sage Foundation eine Aufsatzsammlung über Betreuung und Betreuungspolitik in den USA, und Folbre und ihre Koautorinnen zäh- len darin auf, in wievielerlei Hinsicht Familien mit niedrigem Einkommen unter der relativen Knappheit der öffentlichen Betreuungshilfen leiden.25 Üblicherweise haben sie mehr Kinder als Familien mit höherem Einkom- men, und damit steigt gleichzeitig sowohl der Bedarf an Kinderbetreuung als auch an höherem Einkommen. Zugleich haben sie „mit niedrigen Löhnen und wenig Erspartem“ sehr viel größere Schwierigkeiten, die besonderen Ansprüche älterer oder kranker Angehöriger zu decken. Und wenn Mütter auch auf allen Lohnniveaus schlechter bezahlt werden, so wirkt sich dieser

23 Riane Eisler und Kimberly Otis, Unpaid and Undervalued Care Work Keeps Women on the Brink, The Shriver Report, 22.1.2014, www.shriverreport.org. 24 Nancy Folbre, The Pauperization of Mothers: Patriarchy and Public Policy in the United States, in: „Review of Radical Political Economics“, 4/1985, S. 72-88. 25 Dies. (Hg.), For Love and Money: Care Provision in the United States, New York 2012, S. xiv.

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Unterschied bei Familien, die ohnehin weniger haben, umso verheerender aus.26 In unserem neuen Wortschatz ist die Formulierung vom „Preis der Mut- terschaft“ ein Paradebeispiel für die Diskriminierung von Betreuungsarbeit, und dieses Problem existiert quer durch das gesamte Einkommensspektrum. Wenngleich die Folgen für arme Frauen erheblich schlimmer sind, ist rela- tiv gesehen dennoch die Pauperisierung der Mutterschaft am unteren Ende gleichzusetzen mit dem Preis der Mutterschaft am oberen Ende. Würden wir Betreuungsarbeit wirklich wertschätzen – also anerkennen, dass sie nicht nur notwendig ist, sondern auch wichtig, wertvoll und schwer –, dann wür- den wir keine Mühe scheuen, um sie zu erleichtern und zu fördern, und dann würden wir Arbeitnehmer nicht aufgrund unserer Annahmen bewerten, sondern aufgrund ihrer Leistungen.27

Bezahlte Betreuung

Am leichtesten lässt sich beziffern, wie viel uns Betreuungsarbeit wert ist, wenn wir uns ansehen, wie wenig wir dafür zu bezahlen bereit sind. Soziale und pflegerische Berufe gehören zu den am schlechtesten bezahlten Jobs in den USA. Zudem sind „in den meisten schlecht bezahlten Jobs gering- verdienende schwarzamerikanische Frauen und Frauen mit Migrationshin- tergrund deutlich überrepräsentiert“.28 Das alte Trio der Geringschätzung: Frau, farbig, Betreuung. Ai-jen Poo, eine bemerkenswerte junge Amerikanerin chinesischer Herkunft, setzt sich mit einer Kampagne mutig und zielstrebig dafür ein, Einkommen und Lebensumstände von bezahlten Betreuungskräften zu verbessern. Seit zwanzig Jahren kümmert sie sich um Frauen mit Migra- tionshintergrund;29 und dank ihrer Arbeit entstand schließlich die Domestic Workers’ Bill of Rights in New York, die Tagesmüttern und Zugehfrauen die Bezahlung von Überstunden garantiert, einen Ruhetag pro sieben Arbeits- tage, drei bezahlte Urlaubstage im Jahr sowie expliziten Schutz der gesetzli- chen Grundrechte im Staat New York.30 In ihrem Buch zu dieser Kampagne, The Age of Dignity, beschreibt sie eine „Gewinnerkoalition quer über Ras- sen, Klassen, Geschlechter und Alter hinweg“: Gewerkschafter, Farmarbei- ter, „Verbände für Rassengleichheit, für Immigranten, Frauenorganisationen, kirchliche Gruppen, Studenten, Prominente“.31 Wie wichtig die Arbeit dieser Frauen ist, stellt sie auch in Zusammenhang mit dem „Senioren-Boom“ in den

26 Michelle Budig und Melissa Hodges, Differences in Disadvantage: How the Wage Penalty for Motherhood Varies Across Women’s Earnings Distribution, in: „American Sociological Review“, 5/2010, S. 705-728; Michelle Budig, The Fatherhood Bonus and the Motherhood Penalty, Third Way Next 2013, www.content.thirdway.org. 27 Die an dieser Stelle im Buch folgenden Passagen „In der Mitte gefangen“ und „Frauen jeder Haut- farbe“ (S. 124-129) haben wir aus Platzgründen gekürzt. – D.Red. 28 Folbre (Hg.), For Love and Money, a.a.O., S. xi. 29 „Ai-jen Poo”, National Domestic Workers Alliance, www.domesticworkers.org/aijen-poo. 30 „Domestic Workers’ Bill of Rights“, New York State Department of Labor, www.labor.ny.gov. 31 Ai-jen Poo mit Ariane Conrad, The Age of Dignity: Preparing for the Elder Boom in a Changing America, New York 2015, S. 115.

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201604_Blaetter.indb 60 16.03.16 12:14 Der Preis der Mutterschaft 61

USA, den wir mit dem Altern der Babyboomer erleben; und sie unterstreicht, dass bei Betreuungsarbeit der Chef kein Feind sein darf. Denn die Arbeit- geber von Angestellten in der häuslichen Pflege sind eben sehr häufig genau die Menschen, um die sie sich kümmern, oder aber die Eltern oder Kinder dieser Menschen. Entscheidend ist hier, dass die wirtschaftlichen, sozialen und menschlichen Dimensionen der Betreuung so viele Menschen betreffen, und diese Berührungspunkte lassen sich in traditionellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lagern nicht fassen. Der Chirurg und Autor Atul Gawande, der in seinem Buch „Sterblich sein“ seine Erfahrungen mit älteren Patienten und mit seinem eigenen Vater beschreibt, ruft uns ins Gedächtnis, dass wir zwar heute vielleicht nicht besonders gut für uns sorgen, aber nicht werden vermeiden können, dass wir später einmal Pflege brauchen. „Die Chancen, um das Pflegeheim herumzukommen“, so Gawande, „stehen bes- ser, je mehr Kinder man hat, und nach den wenigen Studien, die es dazu gibt, scheint das Vorhandensein von wenigstens einer Tochter entscheidend für das Maß an Hilfe zu sein, das man erhalten wird.“32 Demnach sollte uns allen daran gelegen sein, dass unsere Kinder oder unsere jüngeren Verwandten, wenn wir einmal in diesem Lebensstadium sind, auch in der Lage sind, zu unserer Betreuung beizutragen. Betreuung und Pflege jetzt wertzuschätzen, ist also in unserem ureigenen Interesse.33

Eine Koalition für die Fürsorge

Fürsorge, Betreuung, Pflege: Diese Trias kann der Schwesterlichkeit der frü- hen Frauenbewegung wieder auf die Sprünge helfen und eine noch viel brei- tere menschliche Koalition schmieden. Familiäre Betreuungsarbeit ist ein Bindeglied für Frauen aller Einkommensstufen und quer durch alle Ethnien. Sie bündelt die Erfahrungen heterosexueller und gleichgeschlechtlicher Paare, älterer Generationen und der Jüngeren. Sie bietet einen gemeinsamen Maßstab für die Qualität eines Lebens als Single oder als Verheirateter, für Paare und Gemeinschaften verschiedenster Ausprägung. Die Wertschätzung der Betreuungsarbeit kann auch als Kompass für die Ausarbeitung neuer Maßnahmen für Arbeitsplatz und Politik dienen. Wenn wir von Arbeitgebern, Politikern und Normalbürgern die Erklärung verlan- gen, warum eigentlich persönlicher Ehrgeiz wichtiger und wertvoller sein soll, als für andere zu sorgen, dann rücken wir klar in den Blick, was wir zwar sagen, aber nicht tun, und was wir zwar annehmen, aber nicht zugeben. Ich möchte eine Gesellschaft, die es jeder und jedem ermöglicht, eine erfüllende Karriere zu haben, oder einfach einen guten Job mit gutem Gehalt und gleichzeitig ein Privatleben, das genug Platz lässt für die tiefe Freude, andere lieben und für sie sorgen zu können.

32 Atul Gawande, Sterblich sein: Was am Ende wirklich zählt. Über Würde, Autonomie und eine ange- messene medizinische Versorgung, übersetzt von Susanne Röckel, Frankfurt a. M. 2015, S. 103. 33 Die an dieser Stelle im Buch folgende Passage „Betreuung außerhalb der Familie“ (S. 131 f.) haben wir aus Platzgründen gekürzt. – D.Red.

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201604_Blaetter.indb 61 16.03.16 12:14 Anzeige Lässt sich Moral outsourcen?

Wenn Sie Kleidung tragen, Nahrung zu sich nehmen, ein Auto fahren oder ein Smartphone haben, arbeiten derzeit ungefähr 60 Sklaven für Sie und mich. Wie fühlen Sie sich damit? Das fragt BWL-Professorin Evi Hartmann und meint es nicht rhetorisch. Unsere Wirtschaft macht uns alle zu Sklavenhaltern – das führt uns jedes Drei-Euro-T-Shirt vor Augen. Dennoch machen wir weiter mit. Wir können die Globalisierung nicht abschaffen, auch können wir die Spielregeln nicht ändern. Doch wir können anders spielen, zeigt die Expertin für globale Netzwerke – drastisch, originell und aus dem persönlichen und unternehmerischen Alltag gegriffen.

2016 · 224 Seiten · € 17,95 · Auch als E-Book erhältlich

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201604_Blaetter.indb 62 16.03.16 12:14 Schatten der Repräsentation: Der Aufstieg des Populismus Von Jan-Werner Müller

b Marine Le Pen oder Viktor Orbán, ob Donald Trump oder die AfD: Der O Populismus ist auf dem Vormarsch. Über seine Ursachen wird dagegen heftig gestritten. Schenkt man einer Reihe politikwissenschaftlicher Modelle Glauben, gibt es so etwas wie eine konstante Nachfrage nach Populismus. Zehn bis fünfzehn Prozent der Wählerstimmen seien für Populisten in Europa immer „drin“, heißt es zum Beispiel. Entscheidend ist allein, ob jemand ein entsprechendes Angebot zur Befriedigung der Nachfrage bereitstellt. Wenn gemäßigt nationalistische oder konservative Parteien ihre antimul- tikulturellen Positionen nicht räumten, entstehe auch keine Nische für Popu- listen; täten sie dies jedoch (wie etwa die CDU in den späten achtziger Jahren oder wohl auch aktuell durch Angela Merkels Flüchtlingspolitik), sei plötz- lich Platz für populistische Konkurrenten – was dann in der alten Bundes- republik den jähen Aufstieg der „Republikaner“ zur Folge gehabt habe und derzeit den von AfD und Pegida.1 Andere Beobachter sehen die Ursachen eher in einer spezifischen „Krise der politischen Repräsentation“, die vor allem Europa seit den 1970er Jah- ren durchlebe: Volksparteien, so heißt es immer wieder, seien dem Unter- gang geweiht; damit verschwinde eine Institution, welche nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa sehr viel für die Integration verschiedenster gesell- schaftlicher Gruppen getan habe. Anders als im Zentrum, der katholischen Weltanschauungspartei, hätten sich in der CDU sowohl Protestanten als auch Katholiken wiedergefunden (und schließlich auch Atheisten, die man kulant zu Anhängern eines „humanistischen Weltbildes” umtaufte). Dabei waren Volksparteien – trotz des Namens, der das ja durchaus sug- gerieren könnte – eben gerade nicht populistisch: Man wollte zwar mög- lichst viele Schichten und Wählergruppen erreichen sowie zwischen ihren verschiedenen Identitäten und Interessen vermitteln, hatte aber keinen moralischen Alleinvertretungsanspruch (zumindest ab dem Moment, als die

* Der Beitrag basiert auf „Was ist Populismus?“, dem neuen Buch des Autors, das am 14. April im Suhrkamp Verlag erscheint. 1 Oder zum Beispiel im Falle Schwedens den Siegeszug der „Schwedendemokraten“, nachdem die konservative Partei sich in Einwanderungsfragen in die Mitte bewegt habe. Timo Lochocki, Which political processes hamper and benefit right populist parties’ advances – Lessons from the German case 1982-2012, in: Institute of European Democrats (Hg.), Rising Populism and European Elections: Collection of Selected Contributions, S. 128-152.

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201604_Blaetter.indb 63 16.03.16 12:14 64 Jan-Werner Müller

CDU nicht länger versuchte – was in der Frühphase der Bundesrepublik ja durchaus der Fall war –, die Sozialdemokraten als Wegbereiter einer kom- munistischen Diktatur zu brandmarken). Die Unterschiede zu der „anderen“ Volkspartei wurden zwar klar herausgestellt, ja sogar dramatisiert; dabei war jedoch immer mitgedacht, dass es in Staaten mit vielen inneren Interes- senkonflikten und auch ideologischen Gegensätzen Platz für mehr als eine Volkspartei geben musste. Ein Extrembeispiel dieser Logik war Österreich, wo vor dem Hintergrund der Erfahrung des Bürgerkriegs der Zwischen- kriegszeit alle Akteure anerkannten, dass es in der Alpenrepublik eigentlich mindestens zwei legitime „Völker“ gab und dass Schwarze und Rote irgend- wie miteinander auskommen mussten.

Krise der politischen Repräsentation?

Nun ist der Umstand, dass die Volksparteien immer mehr Stimmenanteile einbüßen, sicherlich kein Anzeichen für eine Krise der Repräsentation an sich. Im Gegenteil: In stabilen liberalen Demokratien bedeutet eine Aus- differenzierung von Parteiensystemen, in denen die meisten, idealerweise gar alle Parteien sich gegenseitig als legitim anerkennen und zum Teil auch Bündnisse schließen können, einen Zugewinn an Pluralismus – und das auch im normativ gehaltvollen Sinne, weil Interessen und Identitäten differenzier- ter vertreten werden können. Insofern ist der Aufstieg von sogenannten Pro- grammparteien nicht automatisch etwas Schlechtes (oder gar ein Warnzei- chen, dass Berlin zu Weimar werden könnte). Man sollte den catch-all parties – den Allerweltsparteien, die über das ganze politische Spektrum hinweg auf Wählerfang gingen – oder den Massenparteien, die möglichst viele Mit- glieder auch lebensweltlich an sich binden wollten, nicht allzu viele Tränen nachweinen.2 Zwar stellten die Massenparteien für viele Bürger eine Verbin- dung zum demokratischen System her. Nur: um welchen Preis? Man mag die üblichen soziologischen Thesen von der zunehmenden „Individualisierung“ und vom Siegeszug „postmaterieller Werte“ ja etwas zu allgemein oder auch normativ problematisch finden, aber kann man sich ernsthaft eine Rückkehr in die 1950er Jahre wünschen, als die Milieus fest- gefügt waren, politische Parteien ganze Parallel-Lebenswelten organisier- ten und im Zweifelsfall der Paterfamilias oder der Priester bestimmte, wie gewählt wurde? Natürlich beschränkt sich die Diagnose von der Krise der Repräsentation nicht auf den Niedergang der Volks- und Massenparteien. Peter Mair und viele andere Politologen haben darauf hingewiesen, dass die Mitgliederzah- len praktisch aller Parteien dramatisch gesunken seien, dass das Wahlver- halten immer volatiler werde und dass gewisse gesellschaftliche Gruppen – vor allem die Jüngeren und die sozioökonomisch Schwächsten – den Wahl-

2 Heiko Giebler, Onawa Promise Lacewell, Sven Regel und Annika Werner, Niedergang oder Wan- del? Parteitypen und die Krise der repräsentativen Demokratie, in: Wolfgang Merkel (Hg.), Demo- kratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 181-215.

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urnen immer häufiger fernblieben.3 Unterschichten, so heißt es häufig, näh- men stets weniger an der Politik teil und ihre Interessen würden immer weni- ger repräsentiert: ein Teufelskreis. Die Parteien wiederum koppelten sich von der Gesellschaft zusehends ab, ja würden gar zu „Kartellparteien“ und ver- schmölzen mit dem Staat. Das Vertrauen in Parteien (wobei andere staatliche Institutionen oder Institutionen ganz allgemein da nicht dramatisch besser abschneiden) befinde sich im permanenten Sinkflug, die Menschen wollten am liebsten alle politischen Autoritätsfiguren loswerden. Eine Stimmung, die sich in Slogans ausdrückt wie „¡Que se vayan todos!“ oder „Qu’ils s’en aillent tous!“ („Alle sollen sie abhauen!“), die sich aber auch in den von Beppe Grillo inszenierten „V-Days“ Bahn brach (wobei das „V” für „vaffanculo“ stand, zu Deutsch: „Leck mich am Arsch“). „Protest” ist beim „Guardian“ inzwischen sogar eine eigene Nachrichtenkategorie.4

Die Herrschaft des Sachzwangs und der Aufstieg der Protestparteien

Laut Mair könnte es jedoch bald noch deutlich schlimmer kommen: Die Anzeichen, dass Parteien ihre Programme in der Regierung auch tatsächlich durchsetzen, würden schwächer. Mit einem von Mair geprägten, leider nicht elegant ins Deutsche zu übertragenden Gegensatz: Parteien seien zuneh- mend responsible, aber nicht länger responsive. Sie passten sich verantwor- tungsbewusst Sachzwängen an, seien für die Wünsche der Wähler aber nicht mehr wirklich empfänglich. Daran schließt sich häufig die These an, sogar in ihren Politikidealen würden die Parteien sich immer ähnlicher, die Ver- antwortungsethik diktiere schon die Zeilen der Grundsatzprogramme und nicht nur das Verhalten in der Praxis. Der Aufstieg von Protestparteien sei dann nur eine logische Folge, wobei nicht jede Protestpartei automatisch eine populistische Partei sein muss. Auffällig ist dabei freilich, dass gerade Protestparteien die Idee eines pluralistischen Parteiensystems nicht mehr ernst nehmen – oder sich gar darüber lustig machen. So signalisierte beispielsweise die satirische „Best Party“ in Island, die sich vorübergehend immerhin das Bürgermeisteramt in Reykjavik sichern konnte, bereits mit ihrem Namen, dass sie den politischen Wettbewerb der Ideen und Interessen für eine Absurdität hielt. Die Welle neugegründeter Parteien, deren Anführer versprechen, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, deutet in eine ähnlich antipolitische Richtung: Man denke etwa an das „Team Stronach“ in Österreich (initiiert von einem öster- reichisch-kanadischen Geschäftsmann, der seine Partei ungefähr so demo-

3 Peter Mair, Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, London 2013. 4 Ivan Krastev interpretiert die globale Protestwelle als eine Art Aufstand einer libertären Mittel- klasse, der kein positives Programm aufweise, sondern einer „democracy of rejection“ den Weg bahnen würde (vgl. Ders., Democracy Disrupted: The Politics of Global Protest, Philadelphia 2014). Wenn diese These stimmt, würde der vermeintlich aktive, de facto aber eher passive Protest ein- hergehen mit der von Bernard Manin und Jeffrey Green beschriebenen „Publikumsdemokratie“ (audience democracy); vgl. Bernard Manin, The Principles of Representative Government, New York 1997; Jeffrey Edward Green, The Eyes of the People: Democracy in an Age of Spectatorship, New York 2010.

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201604_Blaetter.indb 65 16.03.16 12:14 66 Jan-Werner Müller

kratisch führte wie Berlusconi seine Forza Italia) oder die ANO 2011 („Aktion der unzufriedenen Bürger“) des tschechischen Unternehmers Andrej Babisˇ (Babisˇ, seines Zeichens zweitreichster Bürger seines Landes, ist derzeit Vize- premier und Finanzminister der Tschechischen Republik). Dazu kommt dann noch eine Reihe von Bewegungen und Figuren, die am liebsten außerhalb der etablierten politischen Kanäle und Arenen agieren würden: die Indignados in Spanien, Beppe Grillo, bevor er sich zur Teilnahme an den Parlamentswahlen entschloss, und nicht zuletzt Pegida in Deutsch- land – was nicht heißen soll, dass diese Phänomene in normativer Hinsicht etwas gemeinsam haben oder dass sie allein deshalb problematisch wären, weil sie sich explizit als außerparlamentarisch verstehen. Sie verstärken jedoch den Eindruck, dass die Zeit der repräsentativen Politik, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, zu Ende geht – und wir uns möglicherweise in Richtung einer postrepräsentativen Politik bewegen.

Das Ende des »Goldenen Zeitalters der Demokratie«?

Was ist von solchen Diagnosen zu halten? Wie bei vielen „Post”-Begriffen ist die Grundidee desto plausibler, je weniger man über Geschichte weiß. Denn wie beispielsweise der Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel betont hat, ist die Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter der Demokratie in Westeuropa eine mehr oder weniger bewusste Geschichtsklitterung (von Osteuropa ganz zu schweigen).5 Die These, früher hätten Bürger mehr partizipiert; die Idee, einst hätte es viel mehr Handlungsspielraum für die Politik gegeben; die Annahme, in der Vergangenheit seien die eindeutig identifizierbaren Wün- sche der Wähler von den Parteien schnurstracks umgesetzt worden, sobald sie Regierungsverantwortung übernahmen – all dies ist empirisch höchst fragwürdig. Und doch liest man immer wieder Sätze wie: „Blickt man aus heutiger Sicht auf die ersten Nachkriegsjahrzehnte zurück, so wird immer deutlicher, dass es sich um eine historische Ausnahmeperiode gehandelt hat – eine Goldene Ära nicht nur des Friedens und des Wohlstands, sondern auch der Demokratie. Diese hatte als Massendemokratie eine Form angenommen, in der die normativen Prinzipien der Souveränität, Teilhabe und Gleichheit optimal zur Geltung kamen.“6 Wirklich? Die westeuropäischen Eliten, die nach 1945 liberale Demokra- tien errichteten, setzten ihre Hoffnungen gerade nicht auf mehr Bürgerbe- teiligung.7 Im Gegenteil, in den Ländern, in denen Faschisten an die Macht

5 Vgl. Merkel, a.a.O., S. 181-215. 6 Frank Decker, Bernd Henningsen und Kjetil A. Jakobsen, Revolte von rechts, in: Dies. (Hg.), Rechts- populismus und Rechtsextremismus in Europa: Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden 2015, S. 13-25, hier: S. 13. Hier ist sicherlich die Nachfrage erlaubt, ob Deutschland und Italien „souverän“ waren und ob Frauen und sexuelle Min- derheiten seinerzeit der Aussage zugestimmt hätten, dass die Prinzipien der Teilhabe und Gleich- heit „optimal“ zur Geltung kamen. 7 Eine ausführliche Version dieses historischen Arguments findet sich in meinem Buch „Das demo- kratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“, Berlin 2013.

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gelangt waren oder während der deutschen Besatzung Unterstützung sei- tens der Bevölkerung erfahren hatten, betrachtete man das Ideal der Volks- souveränität mit größter Skepsis. Ja mehr noch: Man fürchtete sich sogar vor den möglichen Auswirkungen parlamentarischer Souveränität. Denn war das nicht eine der Lehren aus der Geschichte? Der Reichstag hatte, so dachte man im Nachhinein, Hitler zum Reichs- kanzler gemacht; die Nationalversammlung hatte Marschall Pétain 1940 alle Macht übertragen (was nicht heißen soll, dass die „Lektionen“, die da aus der Geschichte gezogen wurden, auch wirklich korrekt waren; es geht hier allein um die Wahrnehmung der Zeitgenossen – die beispielsweise Konrad Ade- nauer seinem Tagebuch anvertraute, wenn sich sein politisches Misstrauen gegenüber den Deutschen wieder einmal regte).8 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, weshalb Institutionen, deren Spitzen nicht direkt von den Bürgern gewählt werden – das Bundes- verfassungsgericht ist in diesem Zusammenhang das beste Beispiel –, nach 1945 einen Siegeszug antraten. Den obersten Gerichten kam in den fragi- len Demokratien der Nachkriegszeit schließlich in erster Linie die Aufgabe zu, Minderheiten vor tyrannischen Mehrheiten zu schützen. Insbesondere in Deutschland und Italien sollten sie zudem verhindern, dass die Demokratie durch antidemokratische Parteien, die auf legalem Weg an die Macht kämen, ausgehöhlt werden könnte. In diesem Kontext sind auch die beiden bisher einzigen Parteiverbote zu sehen: der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1956. Kurz, es ging hier um die wehrhafte Demokratie oder, im Falle Italiens, die democrazia pro- tetta.9 Der konstitutionelle Rahmen der Politik nach 1945 ist ohne den ausge- prägten Antitotalitarismus der Eliten nicht zu verstehen. Beobachter haben denn auch zu Recht von einer Verfassungspolitik im Zeichen des kategori- schen Imperativs „Nie wieder Totalitarismus!“ gesprochen.10 Anders als im Klischee von den souveränen demokratischen National- staaten auf der einen und den jeder demokratischen Kontrolle enthobenen Brüsseler Bürokraten auf der anderen Seite behauptet, stand die europäische Integration nie im Widerspruch zu diesem Demokratieverständnis. Vielmehr war Europa eine Art supranationales Dach der antitotalitären europäischen Nachkriegsarchitektur: Auch Europa – in Form des Europäischen Gerichts- hofs in Luxemburg sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte in Straßburg – verschrieb sich beispielsweise dem Grundrechtsschutz und schränkte den Handlungsspielraum der einzelnen Völker weiter ein. Auch hier galt: Das Ideal der Volkssouveränität sollte so weit wie möglich heruntergedimmt werden.

8 Vgl. auch Peter L. Lindseth, The paradox of parliamentary supremacy: Delegation, democracy, and dictatorship in Germany and France, 1920-1950s, in: „Yale Law Journal“, 113/2004, S. 1341-1415. 9 Vgl. Samuel Issacharoff, Fragile Democracies, New York 2015. Autoren, die Verfassungsgerichte als undemokratisch kritisieren, betonen denn auch, dass es in fragilen Demokratien gute Gründe für „judicial review“ geben kann; vgl. Jeremy Waldron, The core of the case against judicial review, in: „Yale Law Journal“, 115/2006, S. 1346-1406. 10 Catherine Dupré, „Unconstitutional constitution: A timely concept“, in: Armin von Bogdandy und Pál Sonnevend (Hg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, Baden-Baden 2015, S. 351-70.

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201604_Blaetter.indb 67 16.03.16 12:14 68 Jan-Werner Müller

»68« und die »Krise der Repräsentation«

Bekanntlich geriet dieses relativ restriktive Demokratieverständnis in den späten 1960er und 1970er Jahren unter Druck: Die 68er, vor allem aber die Neuen Sozialen Bewegungen wollten nicht nur bestimmte inhaltliche Ziele durchsetzen – sie wollten auch eine andere, offenere, weniger etatistische Politik. Insofern lassen sich diese Bewegungen durchaus als eine plausible Antwort auf eine seinerzeit tief empfundene „Krise der Repräsentation“ deu- ten: Außerparlamentarische Opposition war notwendig, weil die Parteien in den Volksvertretungen keine erkennbaren Alternativen anboten; öffentlich- keitswirksamer Protest musste sein, weil patriarchalische Führungsfiguren – alte Männer wie Kurt Georg Kiesinger und Charles de Gaulle – nicht ein- sehen wollten, dass ihre Zeit als Beschützer der fragilen Demokratien vorbei war (wie auch die Väter in den Familien nicht bereit waren anzuerkennen, dass der Paterfamilias die „Familieninteressen“ nie wieder so würde reprä- sentieren können, wie es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich gewesen war). Alle möglichen Autoritäts- und Repräsentationsverhältnisse mussten neu justiert und vor allem neu autorisiert werden. In gewisser Weise war die westeuropäische Nachkriegsordnung also schon immer anfällig für den auf den ersten Blick „populistischen“ Vorwurf, das Volk bleibe eigentlich außen vor. Der Historiker muss zugeben: Ja, genau, aber so war es auch gedacht. Die Eliten betrachteten „das Volk“ mit einer gehörigen Portion Misstrauen und pflegten ein antitotalitäres, wenn man so will: antipopulistisches Ethos. Und so ist es möglicherweise kein Zufall, dass es in Deutschland bis heute keine bundesweiten Volksabstimmungen gibt. Und dass etwa Marine Le Pen es sich für den Fall eines Erfolgs bei den Prä- sidentschaftswahlen zum Ziel gesetzt hat, den Einfluss des Verfassungsge- richts zu reduzieren. So mancher Populist legt denn auch gern seine Finger in diese Wunde. Viktor Orbán beschreibt die Nachkriegseliten wie folgt: „Sie hatten keine Angst mehr vor Kommunismus oder Faschismus, sondern vor den Massen, besonders den politisch aktiven Massen. Weil der Faschismus auf demokra- tische Weise an die Macht gelangt war, denkt die heutige westeuropäische Elite, dass man mit dem Volk vorsichtig sein sollte, weil die Entscheidungen des Volkes große Schwierigkeiten bereiten können. Also, die Demokratie wird von ihnen als wichtig erachtet, aber noch besser ist es, wenn die Macht nicht vom Volk ausgeübt wird.“11 Dabei übersieht er jedoch, dass sich auch das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften erheblich gewandelt hat. Die politischen Systeme in Europa erwiesen sich als durchaus anpas- sungsfähig: Neue Parteien wie die Grünen entstanden; Hierarchien und patriarchalische Kulturen der Ehrerbietung änderten sich grundlegend oder lösten sich auf (Niklas Luhmann hat dazu mit seiner unnachahmlichen Lako- nie angemerkt: „und plötzlich konnte man über den Rasen laufen“).

11 Zit. nach Zsolt Enyedi, Plebeians, citoyens and aristocrats or Where is the bottomof the bottom-up? The case of Hungary, in: Hanspeter Kriesi und Takis S. Pappas (Hg.), European Populism in the Sha- dow of the Great Recession, Colchester 2015, S. 235-250, S. 248.

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Alles schon gehabt? Europa anno 2016

Es ist vor diesem geschichtlichen Hintergrund also wenig plausibel, mit Blick auf die Krise Europas und die Kritik an „Brüssel“ pauschal von einer prä- zedenzlosen Repräsentationskrise zu sprechen. Kann man die aktuelle Kri- sendiagnose und das damit einhergehende Unbehagen, möglicherweise in einer reinen „Fassadendemokratie“ (Wolfgang Streeck) zu leben, somit kur- zerhand vom Tisch wischen? Keineswegs. Die Diagnose muss jedoch auf einer differenzierteren Ana- lyse der gegenwärtigen politischen Situation in Europa aufsetzen. Der Ver- such, Haushaltsdisziplin in einer europäischen Verfassung zu verankern, wirkt auf den ersten Blick wie eine Weiterentwicklung der Grundprinzipien der „eingehegten Volkssouveränität“ der Nachkriegszeit. „Schuldenbrem- sen“ in den Verfassungen aller Euroländer, Überwachung nationaler Haus- halte durch die Europäische Kommission, „Durchgriffsrechte“ für einen Währungskommissar – all das lässt sich sicherlich mit guten Gründen kriti- sieren, aber es scheint keinen völligen Bruch mit der Nachkriegsdemokratie und ihrem Grundprinzip der selbst auferlegten Disziplin darzustellen. Mit anderen Worten: Statt wie beispielsweise Hans Magnus Enzensberger den Exitus der Demokratie per Rettungsmaßnahmen für den Euro festzustellen, sollte man nüchtern anerkennen, dass die Europäer schon lange in einem stahlharten Gehäuse eingeschränkter Demokratie leben. Plus ça change, plus c’est la même chose? Nun, so einfach liegen die Dinge dann doch wieder nicht. Denn die bisherigen, in den Augen der Bürger legi- timen Einschränkungen der Volkssouveränität ließen sich damit begründen, dass sie letztlich dem Schutz der Demokratie selbst dienten. Etwas Vergleichbares lässt sich beispielsweise vom Fiskalpakt wohl kaum sagen – wollte man sich nicht zu der Behauptung versteigen, Schuldenab- bau ziele allein darauf, den demokratischen Handlungsspielraum zukünfti- ger Generationen zu sichern. Zudem sind zwar auch Gewaltenteilung und Grundrechte im Detail politisch umstritten, sie können jedoch prinzipiell legitimiert werden (Redefreiheit beispielsweise ist für die Demokratie kons- titutiv), anders als Richtlinien, laut denen die Gesamtverschuldung eines Landes sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen darf. Bei einer solchen Vorschrift handelt es sich um eine höchst kontroverse, von keiner geschichtlichen Erfahrung gedeckte und, wie Kritiker sagen würden, willkürliche Grenzziehung. Und darüber hinaus um eine sich allein am deut- schen Patienten orientierende Rezeptur für Rezessionen: Nun sollen auch die anderen auf „interne Abwertung“, eine angebotsorientierte Wirtschaftspoli- tik und Exportüberschüsse setzen – eine politische Richtungsentscheidung mit weitreichenden Folgen, die während der Eurokrise unter dem Druck der Kreditgeber zustande gekommen ist. Ganz abgesehen davon, dass man die Regeln mit Hilfe hoch bezahlter Zahlenartisten wohl immer irgendwie umgehen kann. Statt also zu folgern, dass sich die Europäer, die ohnehin längst an eine eingeschränkte Demokratie und supranationale „Aufsicht“ gewöhnt sind,

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nun eben noch ein bisschen mehr einschränken müssen, sollte man sich an eine der Ideen von 1968 erinnern: Märkte sind auch Institutionen, die Macht produzieren – und diese Macht kann man nicht einfach abschaffen, sie muss aber immer wieder neu autorisiert (und das heißt: reguliert) werden.

Unbehagen durch Kontrollverlust – und die Sehnsucht nach dem »guten Populismus«

Das gegenwärtige Unbehagen gründet in Erfahrungen des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins (die übrigens denen von schikanierten Familien- mitgliedern oder von Studenten in einem feudalistischen Universitätssystem gar nicht so unähnlich sind). Als fatal erweist sich nun, dass die Lösungen für die Eurokrise stets als alternativlos präsentiert wurden sind. Beobachter haben an dieser Stelle von „policy without politics“ (also von technischen Maßnahmen ohne inhaltliche Auseinandersetzung) gesprochen, auf welche die Populisten nun mit so etwas wie Identitätspolitik ohne politische Ideen antworten würden (so die Politikwissenschaftlerin Vivien Schmidt). Wobei der Gegensatz zwischen – sehr verkürzt gesagt – Technokratie und Populis- mus viel weniger scharf ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.12 Schließlich suggerieren die Technokraten, es gäbe nur eine rationale policy, während ein Populist behauptet, es gäbe nur einen wahren Willen des Vol- kes. Anders ausgedrückt: Sowohl Technokratie als auch Populismus sind ihrer inneren Logik nach antipluralistisch. Beide brauchen keine Debatten und keine Parlamente, in denen über unterschiedliche Optionen diskutiert und in denen möglicherweise überraschende Entscheidungen getroffen wer- den – denn die richtige Antwort steht ja ohnehin bereits fest. Hier treffen sich also wirklich einmal zwei Extreme – nämlich in einer gemeinsamen antipoli- tischen Haltung. Das ist auch der Aspekt, der aktuelle Diagnosen einer Krise der Demo- kratie mit den Erfahrungen früherer Generationen verbindet. Es geht nicht darum, politische Institutionen radikal umzugestalten, sondern darum, ille- gitime Macht unter Kontrolle zu bringen. Und ohne Druck von unten wird dies kaum möglich sein. Nur wie und in welcher Form? Ist hier vielleicht doch Platz für einen legitimen Populismus, für einen Populismus von links? Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe vertritt die These, der neoliberale Konsens habe den Populismus erst hervorgebracht. Statt zu akzeptieren, dass Politik immer Konflikt bedeute, habe man den Bürgern suggeriert, es gebe eigentlich nur eine rationale policy oder eine klare Kon- sensposition, welche sie als Wähler nur noch abzusegnen hätten. Schuld an dieser Entwicklung seien die (heute oft schon vergessenen) Verfechter des „Dritten Weges“, also sozialdemokratische Parteien, die letztlich vor der neo- liberalen Hegemonie kapituliert hätten, aber auch Philosophen wie John Rawls oder Jürgen Habermas, die Politik laut Mouffe als Maschine zur Pro-

12 Christopher Bickerton und Carlo Invernizzi Accetti, Populism and technocracy: Opposites or com- plements?, in: „Critical Review of International Social and Political Philosophy“, 7.4.2015.

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duktion von Konsens und damit gründlich missverstanden hätten. Die Wahl zwischen Mitte-rechts und Mitte-links, so Mouffe einmal eher flapsig, sei so wie die zwischen Coke und Pepsi. Und diese „postpolitische“ Situation habe dann schließlich den Rechtspopulismus hervorgebracht, dessen Vertre- ter gegen Migranten ins Feld zögen und die „Einheit des Volkes” durch den Ausschluss der Einwanderer zu konstruieren versuchten.13 Stattdessen gälte es, den Rechtspopulisten nachzueifern – allerdings unter normativ richtigen Vorzeichen. Man könne den ausschließenden, de facto rassistischen Populismus ablehnen, so Mouffe, und doch gleichzeitig „die populistische Dimension der Demokratie, die den Entwurf eines Volkes ein- fordert“, würdigen. Deshalb besteht die Aufgabe darin, einen linken Populis- mus zu konzipieren. Gemäß der Theorie von Ernesto Laclau hieße dies vor allem, eine Reihe von Forderungen der Bürger, die von der etablierten Politik nicht erfolgreich abgearbeitet werden können, zu einer „Kette der Äquivalenz“ zusammenzu- schließen und in einer zentralen, symbolisch aufgeladenen Forderung zuzu- spitzen. Eine Forderung, die der Staat mit administrativen Mitteln nicht erfül- len kann – und deswegen ein demand, an dem sich ein wirklicher Konflikt entzünden würde. Man solle also mit einer für alle sichtbaren und verständ- lichen symbolischen Fahne aufs Schlachtfeld ziehen – und die Ordnung auf dem Schlachtfeld müsse so klar wie möglich sein. Die Linke, so Mouffe, solle einen fundamentalen Antagonismus in der Gesellschaft deutlich machen – aber nicht den zwischen Volk und Migranten, sondern den zwischen dem Volk und dem, was Mouffe etwas blass „die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus“ nennt. Dies klingt ein wenig wie die „Wrong Address Theory“ des großen Sozial- wissenschaftlers Ernest Gellner: Als das Handbuch der Befreiung an die Klassen verschickt wurde, sei der Post ein katastrophaler Fehler unterlau- fen, weshalb es bei den Nationen landete. Man muss also nur die aktuelle Anschrift des wahren Adressaten herausfinden und die Lieferung dann kor- rekt zustellen. Mit anderen Worten: Der Populismus ist dummerweise bei den Rechten angekommen, wo er doch für die Linken gedacht war.

Die strukturelle Logik des Populismus – und die ihm inhärente Gefahr

Diese Position verdient eine differenzierte Auseinandersetzung – und zwar nicht nur deshalb, weil sich beispielsweise Podemos die beiden Theoretiker Laclau und Mouffe zu Parteiideologen auserkoren hat. Mit vor allem Laclau stimme ich durchaus in der Ansicht überein, dass Populismus sich nicht an spezifischen politischen Inhalten festmachen lässt (Laclau warnte denn auch immer wieder vor einer rein „ontischen“ Analyse des Populismus). Populis- mus hat eine innere, strukturelle Logik (oder in Laclaus Worten: eine spezi- fische „Logik der Artikulation“).

13 Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus: Unser Gegner sind nicht Migranten, sondern die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus, www.ipg-journal.de, 30.3.2015.

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201604_Blaetter.indb 71 16.03.16 12:14 72 Jan-Werner Müller

Laclau setzt dann jedoch sein ontologisches Verständnis von Populismus mit dem Politischen an sich in eins – denn „Politik“, so Laclau, bedeute nichts anderes als die „Konstruktion eines Underdogs als historischem Akteur“, der die bestehende institutionelle Ordnung infrage stellt (oder, um im Bild zu bleiben, das Establishment in die Waden beißt).14 Diese Attacke auf das Bestehende ist wiederum – verkürzt, aber nicht falsch gesagt – Teil des Kampfs um Hegemonie.15 Wer, so Laclau und Mouffe, die Hegemonie erringt, kann eine politische Kultur als Ganze verändern; das Sagbare und auch das Machbare können sich grundsätzlich verschieben; der „Alltagsverstand“ der Menschen, so hoffte schon Antonio Gramsci, kann sich grundlegend wan- deln. Populismus wird so vom vermeintlichen „Schmuddelkind“ zur politi- schen Operation par excellence: der Konstruktion eines „Wir“, das bei Laclau und Mouffe, anders als bei den hier als Populisten titulierten Akteuren, wie Orbán oder Le Pen, allerdings immer anfechtbar bleibt. So versuchen Mouffe und Laclau einerseits, das Wort „Populismus“ von dem schlechten Beigeschmack zu befreien, den es in Europa mittlerweile praktisch ausnahmslos hat. Tatsächlich ist die semantische Situation in den USA und in Südamerika eine andere – und Laclau blieb wohl zeitlebens nicht nur Sozialist, sondern auch Peronist (der im Übrigen von den populistischen Kirchners gelegentlich um Rat gebeten wurde).16 Der springende Punkt besteht darin, dass die Theorie von Laclau und Mouffe, wo sie sich auf die politische Praxis bezieht, entweder einfach eine andere Beschreibung von Demokratie im Sinne Claude Leforts ist – Demo- kratie ist institutionalisierter Konflikt, bei dem es keine Gewissheiten gibt, außer dass man sich an die demokratischen Spielregeln hält – oder aber eigentlich undemokratisch, weil man mit dem populistischen „pars pro toto“ doch Ernst macht und die anderen politischen Akteure von der gemeinsa- men demokratischen Bühne (Lefort) zu drängen sucht.17 „Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk.“ Dieser moralische Alleinvertretungsanspruch ist das Kernanliegen aller Populisten.

14 Ernesto Laclau, Populism: What’s in a name?, in: Ders., Populism and the Mirror of Democracy, Lon- don: 2005, S. 32-49, hier: S. 47. 15 Laclau schreibt: „[M]an […] sieht schnell, dass die Möglichkeitsbedingung des Politischen und die Möglichkeitsbedingung des Populismus identisch sind: Beide setzen soziale Teilung voraus; bei beiden gibt es ein verschwommenes Demos, das auf der einen Seite ein Teil der Gemeinschaft ist (ein Underdog), auf der anderen jedoch ein Akteur, der sich selbst, auf antagonistische Weise, als die ganze Gemeinschaft inszeniert“ (Ders., a.a.O., S. 48). 16 Diego Sehinkman, La última entrevista de Ernesto Laclau con La Nacion, in: „La Nacion“, 13.4.2014. Laclau bezeichnete Mauricio Macri – der die Wahlen im Dezember 2015 gewann – als einen Feind (und nicht nur: Gegner) des Kirchnerismo. Die Analyse der strukturellen Logik des Populismus ist bei Laclau nicht so wertfrei, wie es den Anschein haben mag: Von der ontologischen Ebene werden weitreichende Schlüsse für die ontische gezogen, etwa wenn Laclau einfach behauptet, seit den 1980er Jahren sei das „ontologische Bedürfnis“, soziale Antagonismen auszudrücken, bei den fran- zösischen Arbeitern eben größer gewesen als die „ontische Anbindung“ an einen linken Diskurs. Oder einfacher gesagt: Die französischen Proletarier wollen immer auf Teufel komm raus einen Konflikt mit den Mächtigen anzetteln; deswegen wählen sie heute den Front National. Ernesto Lac- lau, On Populist Reason, London 2005, S. 88). 17 Mouffe schreibt denn auch: „Ursprünglich war meine Intention eine ‚metaphorische Neudefinition’ der liberalen demokratischen Institutionen“ (Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch den- ken, Berlin 2014, S. 27); vgl. zur Kritik an Mouffe und vor allem an Laclau Andrew Arato, Political theology and populism, in: „Social Research“, 80/2013, S. 143-172; Stefan Rummens, Democracy as a non-hegemonic struggle? Disambiguating Chantal Mouffe’s agonisticmodel of politics, in: „Cons- tellations“, 16/2009, S. 377-391.

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201604_Blaetter.indb 72 16.03.16 12:14 Schatten der Repräsentation: Der Aufstieg des Populismus 73

Demokratie ist dagegen immer pluralistisch und konflikthaft, und es ist absurd zu behaupten, Rawls und Habermas hätten mit ihren normativen Theorien an dieser Realität etwas geändert.18 Gleichzeitig sind Konflikte in der Demokratie stets institutionell eingehegt (Laclau sprach von einem „verwalteten Antagonismus“); die Kontrahenten betrachten sich als legitime Gegner, anstatt einander als Feinde zu bekriegen, die es möglicherweise gar zu vernichten gilt. Genau das ist jedoch das Selbstbild der realexistierenden Populisten, wie sie hier – anders als bei Laclau – verstanden werden.

Für ein demokratisches – das heißt für ein nichtpopulistisches – Europa

Wenn Mouffe selbst die Gegner des aus einer linken Perspektive konstru- ierten Volkes abstrakt als anonyme „Kräfte des Neoliberalismus“ bezeich- net (als handele es sich dabei um physikalische Kräfte), deutet dies darauf hin, dass die Theoretiker des linken Populismus eine Personalisierung des „Volksfeindes“ bewusst vermeiden wollen. Worin besteht dann aber noch die „Konstruktion“ eines Volkes? Was bedeutet es, wenn ein Volk gegen abstrakte „Kräfte“ kämpft? Möchte man mit dem „P-Wort“ lediglich die Stimmung ein bisschen anheizen? Oder besteht der Gedanke darin, die Leidenschaften der Bürger, die sich ange- sichts des neoliberalen Konsenses nicht richtig austoben können, sollten bes- ser nach links als nach rechts gelenkt werden?19 Oder begegnen wir hier schließlich einer Versuchung wieder, die Helmut Dubiel schon Mitte der 1980er Jahre angesichts der normativen Untiefen identifiziert hatte, die er bei linken Denkern ausmachte, die mit dem Populis- mus flirteten: die Tendenz nämlich, eine „instrumentelle Einstellung gegen- über den unaufgeklärten Bewusstseinspotentialen beizubehalten und sie lediglich in den Dienst der ‚richtigen Sache’ zu stellen. Aber wäre nicht eine um Aufklärung bemühte ‚emanzipatorische’ ‚Bild‘-Zeitung ein Widerspruch in sich?“20 Es ist nicht evident, wodurch eine Linke sich besserstellt, die nicht nur Kri- tik am – sehr verkürzt gesagt – Neoliberalismus formuliert, sondern neben einem ökonomisch-politischen Gegenprogramm auch noch „ein Volk ent- wirft“, wie Mouffe es fordert. Würde es da nicht ausreichen, wenn eine wie- derbelebte Sozialdemokratie sich ein neues und überzeugendes Programm für mehr Gleichheit auf die Fahnen schriebe? Oder erhofft man sich durch den Begriff „Volk“ zusätzliche Mobilisierungs- oder gar Emotionalisierungs- effekte? Haben wir es mit einer verschämten Anleihe bei den Nationalisten zu tun, wenn Wolfgang Streeck im Europa der Gegenwart ein „Staatsvolk“

18 Anders liegen die Dinge im Hinblick auf die empirische Annahme, die ideologische Konvergenz der großen Parteien schaffe Raum an den politischen Rändern – das ist wohl immer richtig. 19 „Wird die agonistische, pluralistische Dynamik von einem Mangel an demokratischen Identifika- tionsformen behindert, so gibt es für Leidenschaften kein demokratisches Ventil.“ (Mouffe, Agonis- tik, a.a.O., S. 30). 20 Helmut Dubiel, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt a. M. 1986, S. 33-50, hier: S. 10.

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201604_Blaetter.indb 73 16.03.16 12:14 74 Jan-Werner Müller

einem „Marktvolk“ gegenüberstellt?21 Politik ist Konflikt, aber was genau ist durch diese volkshaften – ich sage bewusst nicht: völkischen – Umschreibun- gen gewonnen? Fest steht: Ein Europa, in dem sich Rechts- und Linkspopulisten, bewaff- net mit ihrem jeweiligen „Volks“-Entwurf, gegenüberstehen und sich im Zweifelsfall gegenseitig die politische Legitimität absprechen, ist eine Hor- rorvision. Was wir stattdessen benötigen, ist eine Auseinandersetzung über grundlegende politische Richtungsentscheidungen wie beispielsweise die Alternative zwischen mehr Integration und mehr Abgrenzung. Fest steht aber auch: Solange wir in repräsentativen Demokratien leben, wird es auch ihren Schatten, also Populismus geben.

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201604_Blaetter.indb 74 16.03.16 12:14 Fünfte versus Vierte Gewalt: Journalismus unter Beschuss Von Frank Überall

ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo in der Republik gegen die K „Lügenpresse“ gepöbelt wird. Kein Tag, an dem Journalisten nicht Zigtausende von Hass-Mails erhalten. Und all das in einer Zeit, in der die Arbeitsbedingungen für Journalisten immer prekärer werden – gesellschaft- lich, politisch, aber auch ökonomisch. Kein Zweifel: Gegenwärtig befindet sich der Journalismus in seiner viel- leicht größten Krise in der Geschichte der Bundesrepublik. Dabei spielt die „Vierte Gewalt“ eine eminent wichtige Rolle für das Funktionieren der Demokratie – was nicht zuletzt durch die Garantie der Pressefreiheit im Grundgesetz zum Ausdruck kommt. Journalismus ist in diesem Sinne in der Tat systemrelevant, steht aber – nicht nur, aber auch in Deutschland – zuneh- mend unter Druck. Die multiplen Bedrohungen des Journalismus stellen heute ein ganzes Berufsfeld in Frage und gefährden die öffentliche politische Kommunikation. Politische und ökonomische Eingriffe sorgen dafür, dass die strukturierende Rolle des Journalismus im gesellschaftlichen Diskurs zu erodieren droht – mit verheerenden Folgen für die Demokratie.

Wie in Krisengebieten: Gewalt gegen Journalisten

Besonders brachial tritt die anscheinend abnehmende gesellschaftliche Akzeptanz des Journalismus durch die zunehmenden gewalttätigen Über- griffe auf Journalisten zutage. Vor allem bei Kundgebungen und Demons- trationen der „Pegida-Bewegung“ sowie der „Alternative für Deutschland“ (AfD) wurden bereits Medienvertreter angegriffen. Journalisten werden geschlagen, getreten, bedrängt, mit Pfefferspray verletzt. Böller, Flaschen und Steine werden auf die Berichterstatter geworfen. Seit dem Jahr 2015 hat sich die Zahl der Angriffe durch Rechtsextreme und Rechtspopulisten drastisch erhöht, aber auch bei islamistischen oder links- radikalen Demonstrationen gab es bereits entsprechende Ausschreitungen. Wie viele Übergriffe es genau sind, lässt sich nicht zuverlässig sagen. Nur vereinzelt werden Strafanzeigen gestellt, doch die Täter lassen sich in der Menge meist nicht ermitteln. Polizei und Justiz erscheinen zudem mit der Situation überfordert. Die Sicherheitsbehörden konzentrieren sich darauf,

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201604_Blaetter.indb 75 16.03.16 12:14 76 Frank Überall

das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit mit Hilfe ihres Gewaltmonopols durchzusetzen. Ein effektiver Schutz von Journalisten fehlt dagegen weit- gehend. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) dokumentiert solche Übergriffe inzwischen in einem Internet-Blog.1 Das European Centre for Press an Media Freedom hat zudem in einer Studie umfassende Informationen zu solchen Einschränkungen der Pressefreiheit in Deutschland gesammelt. Journalisten würden als Provokateure wahrgenommen, heißt es in dem Papier: „‚Kamera aus‘ oder ‚Fotografier‘ mich nicht‘ sind Aufforderungen der Demonstranten, denen Journalisten selten entsprechen, wenn sie ihrer Tätigkeit wie gewohnt nachkommen wollen. Ein Interessenkonflikt, den mancher Teilnehmer mit Bedrohung oder direkter Gewalt meint lösen zu können.“2 Über (rechtsextreme) Demonstrationen zu berichten, wird damit für viele Medienvertreter zu einer Erfahrung, die sie sonst nur in weit entfernten Kri- sengebieten irgendwo in der Welt sammeln mussten: Sie haben Angst, ernst- haft verletzt zu werden. Der Mitteldeutsche Rundfunk schickt seine Repor- ter daher nur noch mit Sicherheitskräften zu solchen Demonstrationen. Das ebenso wichtige Grundrecht auf Pressefreiheit droht dabei unter die Räder zu kommen.

»Lügenpresse« oder die Erosion des Vertrauens

Hier zeigt sich das tiefer liegende Problem: Die Gefährdungslage bei Demonstrationen und die Wahrnehmung von Journalisten als Provokateure erscheint als eine direkte Folge einer allgemeinen Vertrauenserosion gegen- über den Medien. Diejenigen, die mehr oder weniger offen das demokrati- sche System und die Regelungen des Grundgesetzes in Frage stellen, haben offenbar ein Problem mit der massenmedial vermittelten Kommunikation, die nicht vollends in ihrem Sinne verläuft. Nichts steht so sehr dafür wie der inzwischen fast omnipräsente Begriff der „Lügenpresse“. Die historisch aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommene Voka- bel ist in Teilen der Bevölkerung längst wieder salonfähig geworden. Ob bei Pegida oder der AfD: Als Kampfbegriff wird sie gegen alles angeführt, was an subjektiver Unzufriedenheit besonders gegen klassische Medien und die durch diese vermittelte Öffentlichkeit vorhanden ist. Dabei wird unterstellt, dass bestimmte Aspekte der Realität von „den Medien“ ganz bewusst aus- geblendet werden. Demgegenüber steht die Konjunktur der neuen „sozialen Medien“: In sozialen Internetgruppen als digital verlängertem Stammtisch tauschen sich zunehmend Gleichgesinnte aus, die nur noch das (positiv) wahrnehmen, was in ihrer entsprechenden Filterblase als satisfaktionsfähig gilt. Handwerkli- che Tugenden des Journalismus spielen dabei keine Rolle. Das solide Zusam-

1 Siehe www.augenzeugen.info. 2 Martin Hoffmann, Das Feindbild – Eine Untersuchung des European Centre for Press an Media Freedom, www.ecpmf.eu, 12.12.2015.

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mentragen und Überprüfen von Fakten, die möglichst objektive Darstellung sowie die kompetente Einordnung werden dem Berufsstand von diesen Gruppierungen gar nicht mehr zugetraut. Sie konzentrieren sich lieber auf jede Art von Mitteilungen, die ihrem eigenen Weltbild entgegenkommen. Alles, was dem zu widersprechen scheint, wird reflexartig als Unwahrheit abgetan. Dieser Zerfall der kommunikativen, medial vermittelten Öffent- lichkeit in kleinere, separate Teilöffentlichkeiten ist ein gravierendes Prob- lem für die Demokratie – und er steht womöglich erst am Beginn. Dabei hatte das Internet ursprünglich durchaus Anlass zu Hoffnungen gegeben: Endlich könnten die Bürger sich von der Rolle des Medienrezipien- ten emanzipieren und am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben, weil sie ohne großen Aufwand selbst ihre Meinung publizieren und damit theoretisch ein massenhaftes Publikum erreichen können. In der Realität aber zieht sich ein Großteil der Menschen auf die Rolle des bloßen Konsumenten zurück. Eine dauerhafte kommunikative Teilhabe scheint viele zu überfordern oder ihnen zumindest im komplexen Alltag zu aufwändig zu sein. Die Folge ist, dass zuweilen besonders zugespitzte, schrille oder laute Töne in Stammtischmanier für die „Stimme des Volkes“ gehalten werden. „Wir sind das Volk“ heißt es auf den Straßen von Dresden, Heidenau und Claus- nitz wie in den Hass-Blogs im Internet. Die schweigende Mehrheit findet in dieser medial aufgeregten Digitalwelt keinen Widerhall.

Journalismus auf der Kippe

Offensichtlich wird gegenwärtig das Verhältnis zwischen Journalisten, Medienunternehmen und Rezipienten neu vermessen. Gewiss, noch ist die gesellschaftliche Bindungskraft der Massenmedien – Print, Hörfunk und Fernsehen – nicht wirklich gebrochen; doch die Lage ist für Bürger wie Medienvertreter unübersichtlich. Heute erleben Medienmacher das, womit auch andere demokratisch legitimierte Eliten konfrontiert sind: Die Autorität von Kommunikatoren und Entscheidungsträgern in Politik, Staat und Wirt- schaft wird gesellschaftlich zunehmend in Frage gestellt – und eben auch die des journalistischen Berufsstandes. War eine Kontaktaufnahme zu Redaktio- nen in der Vergangenheit allenfalls über Leser- oder Zuschauerbriefe möglich, sind inzwischen durch E-Mail, Blogs und soziale Netzwerke zahllose nied- rigschwellige Kommunikationsmittel entstanden. Nahezu kein Medienhaus oder Journalist kann es sich mehr erlauben, diese Medienwege zu ignorieren. Der Meinungsdiskurs wird durch diese Entwicklungen völlig neu justiert. Der Schriftsteller Bertolt Brecht hatte schon in seiner Radiotheorie die Vision einer solchen umfassenden Teilhabemöglichkeit für alle Bürger entworfen und sie als gesellschaftliche Chance beschrieben. Jeder mediale Empfänger sollte gleichzeitig auch zum Sender werden können. Tatsächlich bieten die heute Realität gewordenen, unkomplizierten Kon- taktwege viele konstruktive Möglichkeiten für den Austausch zwischen professionellen Medien, Hobbyjournalisten, ambitionierten publizistischen

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Interessenvertretern und „einfachen“ Bürgern. In der Vielstimmigkeit dieses diskursiven Konzerts reduziert sich jedoch der Vertrauensvorschuss und die Wirkungsmacht der etablierten Medien. Ja mehr noch: Die neuen Teilneh- mer der sich verändernden Kommunikationswelt könnten zu einer „Fünften Gewalt“ im Staate werden, freilich ohne sich den handwerklichen Regeln der professionellen Presse zu unterwerfen.

Unsoziale statt soziale Medien: Polarisierung und Komplexitätsreduktion

Der Kampf um Aufmerksamkeit zwischen Vierter und Fünfter Gewalt wird dabei zuweilen mit höchst unfairen Mitteln ausgetragen. Tatsächlich wird die einstige Hoffnung, dass mit Hilfe von Onlineforen die Debattenkultur inhaltlich beflügelt werden könne, empirisch inzwischen zurückhaltend beurteilt. Die Forscherin Marianne Kneuer von der Universität Hildesheim hat in einer Studie herausgefunden, dass soziale Medien kaum als „virtuel- ler Raum öffentlicher Beratschlagung“ taugen, sondern allenfalls als Platt- form für die Organisation von Protesten.3 Soziale Medien könnten demnach höchstens dazu dienen, „auf Diskurse hinzuweisen oder kombiniert mit affektiven Botschaften Emotionen zu verbreiten“. Doch gerade unangemessene Zuspitzung, üble Gerüchte und effektive Falschdarstellungen gewinnen ihr Publikum, wobei diese publizierten Aus- führungen von vielen unreflektiert als medienvermittelt wahrgenommen werden. Ein Unterschied zwischen seriösen und zweifelhaften Quellen wird seitens der Rezipienten kaum mehr gemacht, der Schritt hin zur einer undif- ferenzierten Abqualifizierung von allem Veröffentlichten als „Lügenpresse“ ist da nicht mehr weit. In diesem Sinne können internetbasierte „soziale Medien“ schnell zu wahrhaft unsozialen Medien werden, indem sie die für eine Demokratie konstitutive Information über valide Fakten mit der entsprechenden Ein- ordnung unterminieren. „Soziale“ Netzwerke, die eben nicht nur der auf- richtigen und kritischen Diskussion, sondern auch dem hasserfüllten Fron- talangriff auf Journalisten dienen, überschatten inzwischen in bestimmten Situationen sogar den redaktionellen Alltag. Die vermeintliche „Lügen- presse“ wird nicht nur bei Veranstaltungen körperlich angegriffen, sie muss sich auch der Schmähkritik aus dem Internet erwehren, bis hin zu Gewalt- androhungen. Der Umgang mit „Shitstorms“ stellt dabei ein Neuland dar, dessen Regeln weitgehend undefiniert bleiben. Die Redaktion der „Berliner Zeitung“ war eine der ersten, die hier in die Offensive gegangen ist. Res- sortleiter Arno Schupp kündigte Anfang 2016 an, gegen Hasskommentare beispielsweise bei Facebook aktiv vorgehen zu wollen. Bei nachweislichen Bedrohungen und Diffamierungen stellen die Blattverantwortlichen inzwi- schen Strafanzeigen bei der Justiz.4

3 Kristina Beer, Überschätzte Debattenkultur: Soziale Medien und Protestbewegungen, in: „heise online“, 26.1.2016. 4 Arno Schupp, In eigener Sache: Uns reicht es!, in: „Berliner Zeitung“, 26.1.2016.

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Dieses Vorgehen markiert einen Meilenstein im Ringen um die Deutungs- hoheit im öffentlich-medialen Diskurs. Tatsächlich erscheint die Rolle eines den Diskurs strukturierenden, aber auch differenzierenden Journalismus als immer wichtiger – und immer bedrohter. Denn faktisch kann dieser mit der digital gelebten Ungeduld kaum noch mithalten. Beim Publikum dominiert die Sehnsucht nach Komplexitäts- reduktion. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier warnt zu Recht davor, dass „vor allem die Onlinemedien sehr zu Verkürzung und Polarisie- rung“ tendierten, „um dem Bedürfnis gerecht zu werden, komplizierte Sach- verhalte in Schwarz und Weiß einzuteilen“.5 Dagegen bedarf die Demokratie einer informationsbasierten Orientierung. Diese wiederum können in aller Regel nur Journalisten leisten. Der frühere Vorsitzende der Direktorenrunde der Medienanstalten, Norbert Schneider, grenzt diesen professionellen Bereich daher bewusst von einem „Wettbewerb der vielen“ ab, der im Internet stattfinde: „Dieser Gedanke passt perfekt in eine OBI-Gesellschaft, in der jeder alles kann und daher auch alles macht. Doch so, wie es am Ende eine Dummheit ist, auf den gelernten Maurer zu verzichten, ist es auch eine Dummheit, auf die zu ver- zichten, die mit einem professionellen Blick hinter die Kulissen des ersten Anscheins schauen. Niemand käme auf die Idee, die Ärzte abzuschaffen, nur weil man über Krankheiten alles, was man wissen kann, im Netz findet, damit aber weder gesünder noch kränker wird, höchstens verwirrter. Und genau das soll beim Journalismus klappen?“6

Mehr Zeit und Personal – die wichtigsten Ressourcen

Hier aber zeigt sich die zweite Krise des Journalismus. Für gediegene jour- nalistische Arbeit werden erhebliche Ressourcen gebraucht, die die Gesell- schaft heute aber kaum noch aufbringen will. Dazu zählt erstens der Faktor Zeit. Eine umfassende und seriöse Recherche lässt sich nicht in Sekunden erledigen. In akuten Nachrichtenlagen tun sich klassische Medien, insbe- sondere die öffentlich-rechtlichen, keinen Gefallen, wenn sie ungeprüfte Gerüchte vorschnell veröffentlichen. Ein solches Verhalten befördert nur die Erosion des Vertrauens beim Publikum. Neben der Zeit ist auch die mensch- liche Arbeitskraft ein relevanter Faktor. Gut ausgebildetes Personal muss unter anständigen Arbeitsbedingungen die redaktionellen Aufgaben erledi- gen können. Verlage und Sender drängen Journalisten aber zunehmend in prekäre Verhältnisse. Die Gehälter und Honorare, die für feste und freie Mit- arbeiter gezahlt werden, reichen an manchen Stellen kaum noch zum Leben. Zuverlässige Beschäftigungen zu angemessenen Bedingungen sind in der Medienbranche dagegen immer seltener anzutreffen.7

5 Vgl. Meu/lwd/goe, Steinmeier warnt vor übertriebener Schnelligkeit der Medien, in: „epd medien“, 4.7.2014, S. 15. 6 Norbert Schneider, Was, wenn nicht das Relevante?, in: „Funkkorrespondenz“, 26.9.2014, S. 3. 7 Doch trotz der enormen Schwierigkeiten des Berufes ist „Irgendwas mit Medien“ bei jungen Men- schen nach wie vor höchst beliebt.

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201604_Blaetter.indb 79 16.03.16 12:14 80 Frank Überall

Das aber liegt auch daran, dass die Bürger nur noch selten bereit sind, für journalistische Inhalte und Produkte zu bezahlen. Die Haltung, dass im Internet ja ohnehin alles gratis zu haben ist und damit das subjektive Infor- mationsrepertoire hinreichend bedient wird, ist weit verbreitet. Die Suche nach neuen Erlösmodellen steckt dagegen noch immer in den Kinderschu- hen. So mancher Verantwortlicher in Medienunternehmen erscheint in die- ser Situation zahlen- und beratergesteuert, der gesellschaftliche Wert unab- hängiger und professionell arbeitender Medien wird dem monetären Wert der jeweiligen Firma gnadenlos untergeordnet. Derart verunsichert, wiegen die Beeinträchtigungen der Pressefreiheit für die betroffenen Journalisten besonders schwer. Immerhin ist nun endlich auch in der Politik angekommen, dass es im Bereich der politisch-gesellschaftlichen Kommunikation eine gefährliche Schieflage gibt. „Angriffe auf die Pressefreiheit sind zugleich ein Angriff auf die Demokratie“, hieß es aus Sicht der Abgeordneten des Deutschen Bundes- tages beispielsweise resümierend in der Wochenzeitung „Das Parlament“ anlässlich einer Expertenanhörung zur Situation der Medien im Kultur- ausschuss Anfang 2016.8 Die Parlamentarier versicherten einmütig, sich für anständige Arbeitsbedingungen für Journalisten einsetzen zu wollen.

Die Verfehlungen der Politik

Dieser dringend erforderliche Diskurs darf jedoch jene bedrohlichen As- pekte nicht vernachlässigen, die die Politik selbst direkt zu verantworten hat. Einschränkungen der Pressefreiheit gibt es schließlich auch auf gesetzgebe- rischer Ebene, wenngleich dieses Thema in der Öffentlichkeit derzeit weni- ger auffällt als die Gewalt gegen Journalisten. Einen durchaus gewaltigen Eingriff, der zumindest im übertragenen Sinne als gewalttätig einzustufen ist, stellen die Beschlüsse zur Vorratsdatenspeicherung vom Oktober 2015 dar. Wenn Verbindungsdaten von Journalisten massenhaft erhoben werden dürfen, ist eine vertrauensvolle Recherche bei Informanten akut gefährdet. Deshalb haben unter anderem Journalistenorganisationen Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Ohnehin entspricht der Schutz von „Whistleblowern“, die Medien über Missstände etwa in Unternehmen oder Behörden informieren, bis heute nicht internationalen Standards. Ganz im Gegenteil: Wer Medienvertretern sol- che „Geheimnisse“ verrät, muss derzeit mit strafrechtlichen Folgen rechnen. Selbst die Verfolgung von Journalisten ist in diesem Zusammenhang nicht mehr tabu, wie die Ermittlungen des Generalbundesanwalts gegen die Blog- ger André Meister und Markus Beckedahl von netzpolitik.org gezeigt haben. Missliebige Veröffentlichungen sollen auf diese Weise be- oder verhindert werden, Journalisten wie Informanten werden eingeschüchtert. Kurzum: Das Vertrauen staatlicher und parlamentarischer Institutionen in die Medien

8 Alexander Weinlein, Kriegsrhetorik. Journalisten werden bei Pegida-Kundgebungen zunehmend häufiger attackiert – verbal und körperlich, in: „Das Parlament“, 3–4/2016, 18.1.2016.

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201604_Blaetter.indb 80 16.03.16 12:14 Fünfte versus Vierte Gewalt: Journalismus unter Beschuss 81

erscheint derzeit – trotz aller Lippenbekenntnisse – zumindest als ange- kratzt.9 Behörden informieren Redaktionen und Öffentlichkeit zuweilen gar nicht, unzureichend oder sogar bewusst falsch, wie die fatale Kommunika- tion der Kölner Polizei nach den Straftaten in der Silvesternacht gezeigt hat. Immerhin wurden in diesem Fall schnell personelle Konsequenzen gezogen. Auf anderer Ebene findet die Beeinflussung oder gar Beeinträchtigung der Medienarbeit dagegen weit häufiger und subtiler statt: wenn beispiels- weise Pressestellen der Sicherheitsbehörden die Inaugenscheinnahme durch Journalisten einschränken und auf eine gelenkte Kommunikation setzen. Der Zugang zu polizeilichen Einsätzen wird so immer häufiger verwehrt, um dann per Pressemitteilung und sogar mit behördlich erstelltem Bildmaterial die Berichterstattung faktisch in die eigene Hand zu nehmen. Jahrelang haben die Innenminister der Bundesländer auch Initiativen blockiert, den seriösen Presseausweis für hauptberuflich tätige Journalisten wieder formal anzuerkennen. Das hat dem Missbrauch Tür und Tor geöff- net. So konnten sich bei Demonstrationen bereits Extremisten mit unseriösen Papieren ausweisen, die ihre angebliche redaktionelle Tätigkeit beweisen sollen.10 Handlungsbedarf gibt es jedoch nicht nur auf der zunächst abstrakt anmu- tenden gesetzlichen Ebene, sondern auch im behördlichen Alltagshandeln. Dass Behörden auf Bundesebene Informationen zurückhalten dürfen (im Gegensatz zu Ministerien in den Ländern), ist ein für die Demokratie gefähr- licher Zustand. Und dennoch wehren sich die Politiker bisher nach Kräften gegen ein gesetzlich verbrieftes Presseauskunftsrecht im Bund.

Ein ideeller Rettungsschirm tut not

Bei alledem zeigt sich: Angesichts derart massiver gesellschaftlicher wie politischer Attacken muss die grundgesetzlich geschützte Pressefreiheit dringend neu mit Leben gefüllt werden. Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der die Rahmenbedingungen für die „Vierte Gewalt“ neu definieren muss – unter Berücksichtigung und Abgrenzung der digital-medial vernetzten Bürger als quasi „Fünfter Gewalt“. Umso größer die Bedrohungen von Pressefreiheit und Journalisten sind, umso notwendiger wird der Diskurs über eine Art ideellen Rettungs- schirm für Medien, die sich professionellen Kriterien verpflichtet fühlen. Benötigt wird ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens über den ide- ellen und demokratischen Wert zuverlässiger Medien, wozu auch deren öko- nomische Absicherung gehört. Wenn es dagegen nicht gelinge, so der ehe-

9 Das belegt auch der nachträgliche „Autorisierungswahn“: Wer Medieninterviews mit deutschen Volksvertretern führt, wird schnell lernen, dass das Gesagte oft nicht veröffentlicht werden darf, dass es plötzlich nicht mehr „gilt“ – ganz im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in anderen Län- dern. 10 Immerhin zeigen sich die Verantwortlichen der bundesweiten Innenministerkonferenz (IMK) inzwischen wieder gesprächsbereit, um eine Anerkennung ordentlich legitimierter Pressevertreter doch wieder zuzulassen.

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201604_Blaetter.indb 81 16.03.16 12:14 82 Frank Überall

malige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, Qualitätsjournalismus auch zu finanzieren – in den alten wie in den neuen Medien –, dann habe die freie Gesellschaft ein Problem.11 Um das diffuse Durcheinander seriöser und unseriöser Quellen im Internet voneinander unterscheidbar zu machen, könnte die Einführung eines Qua- litätssiegels ein Ansatz sein.12 Wer sich einem Regelwerk ähnlich dem des Presserates unterwirft und journalistisches Handwerk verbindlich anwen- det, dürfte dann entsprechend mit einem solchen Siegel werben – das bei Verstößen auch aberkannt werden könnte. Auf diese Weise wäre die Vierte von der Fünften Gewalt besser zu unterscheiden. Fest steht: Wenn die multiple Krise des Journalismus nicht endlich ernst genommen und gesellschaftlich bearbeitet wird, droht eine weitere emo- tionsgetriebene Zuspitzung des gesellschaftlichen Diskurses – und die Ver- armung der sachlich-rationalen Auseinandersetzung. Dass das schlecht für die Demokratie ist, liegt auf der Hand. Wie wenig garantiert die gesellschaftliche Unabhängigkeit der journalis- tischen Branche ist, zeigt der Blick auf die aktuellen Repressionen in Polen, Ungarn und nicht zuletzt der Türkei. Nur ein Journalismus, der derartige Entwicklungen ausschließt und sich einer wahrheitsgetreuen und freien Berichterstattung verschreibt, ist es wert, durch die grundgesetzlich festge- schriebene Pressefreiheit geschützt zu werden. Er hat es aber auch dringend verdient – in unser aller Interesse.

11 Vgl. Ex-Verfassungsrichter Di Fabio warnt vor Verlust der Individualität, in: „www.epd.de“. 12 Vgl. Frank Überall, Wegweiser in der digitalen Medienwelt – Bedeutung und Veränderungen des Journalismus, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, „Medien Digital“, Ausgabe 11, Bonn 2009.

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201604_Blaetter.indb 82 16.03.16 12:14 Der Flüchtling als Humankapital Wider die neoliberale Integrationslogik

Von Martin Koch und Lars Niggemeyer

mmer unübersehbarer wird das Topthema Flüchtlingspolitik von der I AfD dominiert. Zwar verwehren sich Vertreter etablierter Parteien gegen obsessive Forderungen nach Schusswaffengebrauch an der Bundesgrenze. Doch hektische Initiativen um Obergrenzen, Sanktionen, verschärfte Abschiebungsregelungen und unterbundenen Familiennachzug markie- ren ein Zurückweichen gegenüber rechtspopulistischen Positionen. Es fehlt die Vision einer prosperierenden Einwanderungsgesellschaft. Der noch im Herbst letzten Jahres leitgebende humanistische Appell der deutschen Bun- deskanzlerin scheint angesichts aktueller Meinungsumfragen aufgebraucht. Demgegenüber sehen die deutschen Arbeitgeber in der anhaltenden Flüchtlingszuwanderung ein „Riesenpotential“, so Arbeitgeberpräsident Kramer im „Handelsblatt“.1 Damit knüpfen sie – angesichts des von ihnen proklamierten Fachkräftemangels – an ihre seit Jahren erhobene Forderung nach einer Ausweitung der Zuwanderung an. Doch enthält diese Sichtweise auch das Potential zu einem langfristig ver- bindenden Zukunftsentwurf? Lässt sich die gegebene Situation vielleicht sogar mit der Integration von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten in den Gründungsjahrzehnten der alten Bundesrepublik vergleichen? Nach Lage der Dinge muss hinsichtlich beider Fragen das Gegenteil ange- nommen werden. Denn was Arbeitgeber, etablierte Parteien und AfD über alle Divergenzen hinweg verbindet, ist das Festhalten an den neoliberalen Paradigmen von Schuldenbremse, Deregulierung und Angebotsorientie- rung. Unter diesen Vorzeichen erscheint es fast ausgemacht, dass sich die solidarischen Bindekräfte insbesondere der deutschen Arbeitsgesellschaft noch weiter in Richtung einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit zersetzen werden. Dabei könnte die derzeitige Situation durchaus Ausgangspunkt solidari- scher Zukunftsentwürfe sein. Doch damit sich diese Möglichkeit umsetzen lässt, muss die Fluchtdebatte als verteilungspolitische geführt und mit der Vision einer grundsätzlich anderen Wirtschaftspolitik verbunden werden. Dazu ist es zunächst unumgänglich, die Denkfehler einer neoliberalen Inte- grationsvision offenzulegen.

1 „Handelsblatt“, 27.10.2015.

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Zuwanderung ohne Vollbeschäftigung führt zu mehr Wettbewerb

Zunächst gilt es eines festzuhalten: Ohne Vollbeschäftigung führt mehr Zuwanderung zu mehr Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Dass hier speziell seitens der Arbeitgeber von einem Mangel an Arbeitskräften gesprochen wird, muss schon angesichts von allein nominell fast 2,8 Mio. Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2015 verwundern. Zur Erinnerung: Mitte der 1970er Jahre führte bereits das Überschreiten der Ein-Millionen-Marke an Arbeits- losen in Westdeutschland noch zu panischen Reaktionen seitens der Politik. Dabei zeigen die offiziellen Arbeitslosenzahlen nur einen Teilausschnitt des Problems: Rund eine Million Personen tauchen hier nicht auf, weil sie sich als „stille Reserve“ in Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit befinden oder sich aufgrund anhaltender Erfolglosigkeit bei der Arbeitssuche nicht (mehr) arbeitslos melden.2 Zudem ist mehr als jeder dritte abhängig Beschäf- tigte in Teilzeit erwerbstätig, insgesamt 14,7 Mio. Personen. Nach belast- baren Umfragen würde ein erheblicher Anteil davon die eigene Arbeitszeit gerne ausweiten: „Im Schnitt wünschen sich die Teilzeitbeschäftigten eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit um fast 4 Stunden.“3 Bezogen auf eine Arbeits- zeit von 40 Stunden pro Woche ergibt dies einen zusätzlichen rechnerischen Bedarf von knapp 1,5 Mio. Vollzeitarbeitsplätzen. Zählt man registrierte Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und stille Reserve zusammen, so feh- len in Deutschland rund 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze; annähernd das Doppelte der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosigkeit. Wachsende Konkurrenz durch neue zusätzliche Arbeitskräfte bedroht in einer solchen Situation Geringqualifizierte und Ortsfremde immer am stärksten – und zwar grundsätzlich gleich welcher Herkunft. Doch besonders betroffen von der bestehenden Spaltung des Arbeitsmarktes sind schon jetzt Beschäftigte nichtdeutscher Herkunft. 35 Prozent der „Ausländer/innen“4 waren 2012 im Vergleich zu 23 Prozent der Deutschen zu einem Niedriglohn beschäftigt.5 Schon jetzt sind in Deutschland lebende Migranten nahezu doppelt so häufig wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund von Arbeitslosigkeit betroffen: „Zuwanderer aus Drittstaaten“ mit mittlerer Qua- lifikation hatten nach Daten des Mikrozensus 2012 „sogar eine fast drei- fach so hohe Wahrscheinlichkeit von Erwerbslosigkeit wie Männer ohne Migrationshintergrund“.6 Das trifft in ähnlicher Weise auch auf den Ausbil- dungsmarkt zu: 2015 begannen noch mehr als 270 000 junge Menschen eine

2 Johann Fuchs u.a., IAB-Prognose 2015/2016. Arbeitsmarkt weiter robust, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Kurzbericht 15/2015, S. 10. 3 Susanne Wanger, IAB-Prognose 2015/2016. Frauen und Männer am Arbeitsmarkt. Traditionelle Erwerbs- und Arbeitszeitmuster sind nach wie vor verbreitet, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs- forschung, Kurzbericht 4/2015, S.3. 4 Die verwendeten Begrifflichkeiten zu Migranten und Migrationshintergründen gehen auf die jeweilig verwendete Literatur zurück und sind hier in Anführungszeichen gesetzt. 5 Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf, Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro verändern könnte, in: „IAQ-Report“, 2/2014,http://www.iaq.uni-due.de/ iaq-report/2014/report2014-02.pdf S. 5. 6 Jutta Höhne und Karin Schulze Buschoff, Die Arbeitsmarktintegration von Migranten und Mig- rantinnen in Deutschland. Ein Überblick nach Herkunftsländern und Generationen, in: „WSI Mit- teilungen“, 5/2015, S. 345-354, hier: S. 349.

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dem Übergangsbereich zugerechnete Maßnahme, die keinen anerkann- ten Ausbildungsabschluss vermittelt.7 Der Anteil dieser Einmündungen in das Übergangssystem an allen Neuzugängen in berufliche Bildung war noch 2012 unter „Ausländern“ mit 46,5 Prozent beinahe doppelt so hoch wie unter „Deutschen“ (24,4 Prozent).8 Fachkräftepotential wäre also auch ohne Zuwanderung vorhanden, sofern in Ausbildung investiert werden würde.

Die Chimäre des Fachkräftemangels

Dem proklamierten Fachkräftemangel kann aber schon deswegen schwer- lich entgegengewirkt werden, weil er als gesamtgesellschaftliches Problem gar nicht existiert. Die BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektio- nen verdeutlichen, dass derzeit in Deutschland alle Berufshauptfelder einen Arbeitskräfteüberhang aufweisen, der laut Prognose abgesehen von bran- chen- und qualifikationsbezogenen Ungleichgewichten auch noch 2030 bestehen wird.9 Eine aktuelle Studie des DIW zeigt zudem, dass die Arbeits- losigkeit selbst in naturwissenschaftlich-technischen Akademikerberufen (IT-Experten, industrienahe Ingenieure, Humanmediziner und Physiker) zugenommen hat.10 Die aktuelle Debatte geht aber auch darüber hinweg, dass derzeit weitere Konkurrenz durch anhaltende „Zuzüge“ hochqualifizierter Fachkräfte aus dem europäischen Ausland entsteht. Erstmalig seit 1995 war die Zahl „Zuge- zogener“ aus dem Ausland bereits 2012 auf über eine Million angestiegen. Noch 2014 kamen 74 Prozent aller Einwanderer aus Europa und mehr als die Hälfte aus osteuropäischen Transformations- und südeuropäischen Krisen- ländern.11 Das berufliche Bildungsniveau aller „Neuzuwanderer“ lag dabei mit einem Akademikeranteil von 37 Prozent deutlich oberhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft (21 Prozent).12 Von einem solchen Bildungsvorsprung kann bei der neu entstandenen Gruppe der Flüchtlinge allerdings nicht ausgegangen werden. Nach grober Schätzung taxiert das IAB bereits im Juni 2015 einen Anteil von 53 Prozent der gemeldeten erwerbsfähigen Personen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung aus „Asylzugangslän- dern“. Dem steht zwar ein höheres schulisches Bildungsniveau gegenüber,

7 Statistisches Bundesamt, Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung – Anfänger im Ausbildungsgeschehen nach Sektoren/Konten und Ländern, 2015, S. 4. 8 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen, S. 276. 9 Tobias Maier, Gerd Zika, Robert Helmrich et al., Engpässe im mittleren Qualifikationsbereich trotz erhöhter Zuwanderung. Aktuelle Ergebnisse der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojek- tionen bis zum Jahr 2030 unter Berücksichtigung von Lohnentwicklungen und beruflicher Flexibi- lität, „BIBB Report“, 23/2014, S.8. 10 Karl Brenke, Akademikerarbeitslosigkeit: Anstieg in den meisten naturwissenschaftlich-techni- schen Berufen, in: „DIW Wochenbericht“, 47/2015, S. 1130-1135, hier: S. 1130. 11 Eigene Berechnung anhand Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Vorläu- fige Wanderungsergebnisse, 2014, S. 6 und 12. 12 Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Ehsan Vallizadeh, Flüchtlinge und andere Migranten am deutschen Arbeitsmarkt: Der Stand im September 2015, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs- forschung: „Aktuelle Berichte“, 14/2015, S. 4.

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das jedoch immer noch deutlich unter dem der deutschen Mehrheitsbevöl- kerung liegt. Entsprechend wird von einer „Polarisierung der Qualifika- tionsstruktur“ in einen Anteil an Hochqualifizierten und eine umso größere Summe an „Asylbewerbern und Flüchtlingen“ ohne abgeschlossene Berufs- ausbildung ausgegangen.13 Damit dürfte es auf dem gesamten Arbeitsmarkt unter den derzeit gege- benen Bedingungen erheblich enger werden: Das IAB geht davon aus, dass das Erwerbspersonenpotential bei einer Zuwanderung von jeweils einer Mil- lion Menschen in 2015 und 2016 um zusätzliche 640 000 Personen und damit bis 2020 auf rund 46 Millionen ansteigen wird.14 Dies muss zu zusätzlicher Konkurrenz und Arbeitslosigkeit auf sämtlichen Qualifizierungsebenen füh- ren, sofern keine entsprechende Ausweitung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens stattfindet. Hierzu wäre aber ein deutlicher Wachstumsim- puls erforderlich. Die bisher vorgesehenen öffentlichen Mehrausgaben für Flüchtlinge wer- den in dieser Hinsicht sicherlich einen positiven Effekt haben. Allerdings reicht der prognostizierte Wachstumsbeitrag dieser Mehrausgaben nicht aus – die Bundesagentur für Arbeit prognostiziert ein flüchtlingsbedingtes Anwachsen der Arbeitslosigkeit in 2016 um 130 000 Personen.15

Die Gefahr eines rassistisch gespaltenen Prekariats

Die Entlastung arbeitsloser und prekär beschäftigter Gruppen durch leicht sinkende Arbeitslosigkeit, Mindestlohn und tendenziell rückläufige Sank- tionsquoten für Hartz-IV-Empfänger in der letzten Zeit droht sich zu erüb- rigen, indem Zuwanderer gegen einheimische Arbeitssuchende in Stellung gebracht werden: Die Forderung nach Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge verdeutlicht die Gefahr, dass Migranten als Dumpingarbeits- kräfte eingesetzt werden. Und selbst wenn diese Ausnahmetatbestände nicht geschaffen werden, ist angesichts der vorherrschenden Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit gering, dass Einwanderer zum üblichen Lohn Arbeit finden. Seit der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010 hat sich die nicht tarifgebundene sowie prekäre Beschäftigung in Form von Leiharbeit und Werkverträgen überproportional zu Lasten von Ausländern ausgeweitet.16 Erst in den letzten beiden Jahren ist es den Gewerkschaften gelungen, diesen Prozess zumindest anzuhalten. Eine echte Trendwende hat bisher aber nicht stattgefunden. Flüchtlinge, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu untertariflichen Bedingungen anzubieten, könnten unge-

13 Herbert Brücker, Andreas Hauptmann und Parvati Trübswetter, Asyl- und Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: „Aktuelle Berichte“, 8/2015, S. 8. 14 Johann Fuchs und Enzo Weber, Flüchtlingseffekte auf das Erwerbspersonenpotential, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: „Aktuelle Berichte“, 17/2015, S. 4. 15 Brücker/Hauptmann/Vallizadeh, a.a.O., S. 8. 16 Jutta Höhne und Karin Schulze Buschoff, Die Arbeitsmarktintegration von Migranten und Mig- rantinnen in Deutschland. Ein Überblick nach Herkunftsländern und Generationen, in: „WSI Mit- teilungen“, 5/2015, S. 345-354, hier: S. 352 f.

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wollt dazu beitragen, diesen Prozess erneut zu forcieren. Kurzum: Sofern die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nicht verändert werden, droht ein erheblicher Anstieg von Arbeitslosigkeit und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, was die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften und Beschäftigten schwächen wird. Um dies zu verhindern, sind zwei Sofortmaß- nahmen dringend geboten: erstens, die Aufweichung des Mindestlohnes zu verhindern, und zweitens, die bestehende Tarifstruktur zu schützen, durch die Ausweitung von Branchenmindestlöhnen und der Allgemeinverbind- lichkeit von Tarifverträgen.

Was ist aus der Integrationsgeschichte der Bundesrepublik zu lernen?

Gerade vor diesem Hintergrund aber stellt sich die Frage nach dem „Erfolgs- rezept“ der 1960er Jahre. Was war damals anders? Wie konnte es gelingen, 2,6 Mio. ausländische Arbeitsmigranten in den westdeutschen Arbeitsmarkt zu integrieren – und zwar trotz erheblicher Statusunterschiede? Zumeist wird auf den im Zuge des „Wirtschaftswunders“ gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften verwiesen. Dieses Argument erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als nicht haltbar. Denn das faktische Arbeits- volumen ging während der kurzen Periode der Vollbeschäftigung zwischen 1960 und 1973 um knapp 11 Prozent (von 56 auf 50 Mrd. Stunden/Jahr) zurück.17 Damit ging eine Reduktion der regulären Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden und die Verlängerung des jährlichen Erholungsurlaubs einher. Die Integration der Zuwanderer konnte also nur aufgrund einer mas- siven Arbeitszeitverkürzung erreicht werden. Noch entscheidender aber dürfte es gewesen sein, dass dies nicht nur bei vollem Lohnausgleich stattfand, sondern bei überdurchschnittlich steigen- den Reallöhnen. Der Anteil der Löhne bzw. Arbeitseinkommen am Brutto- inlandsprodukt weist in der betreffenden Periode eine durchweg steigende Tendenz auf, die allerdings spätestens ab Anfang der 1980er Jahre merklich zurückgeht und in den 2000er Jahren nahezu abstürzt.18 Arbeitszeitverkürzung und steigende Löhne stellen also offensichtlich nicht nur die Grundlage für eine funktionierende Integration von Zuwan- derern, sondern auch die entscheidende Bedingung für eine gesamtgesell- schaftliche Wohlstandsentwicklung dar. Sie ermöglichen über gemeinsam verrichtete Arbeit die Teilhabe an respektablen Sozialbeziehungen und sie bilden die Grundlage für eine wachsende Binnennachfrage, Investitionen und Steuereinkommen. Jeder zusätzlich ausgegebene Euro muss darum auch in der gegenwärtigen Situation als Investition in ein prosperierendes Gemeinwesen angesehen werden.

17 Hans-Uwe Bach u.a., Arbeitszeit und Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland 1960- 1975, Sonderdruck aus: „Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“, 1/1977, S. 27. 18 Hagen Krämer, Die Entwicklung der funktionalen Einkommensverteilung und ihrer Einflussfak- toren in ausgewählten Industrieländern 1960-2010. Untersuchung im Auftrag des IMK, Düsseldorf 2011, S. 17f; Lothar F. Neumann und Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik, Frank- furt a. M. und New York 2008, S. 71 f.

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201604_Blaetter.indb 87 16.03.16 12:14 88 Martin Koch und Lars Niggemeyer

Doch damit dies tatsächlich gelingt, bedarf es einer Wende hin zu einer neuen Politik für Vollbeschäftigung – in Deutschland wie in der Europäi- schen Union. Diese kann nur mit einer Rückkehr zu einer Wirtschaftspolitik gelingen, die gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge betrachtet: Nicht der einzelne Arbeitslose ist individuell für sein Scheitern verantwortlich, son- dern es ist insgesamt zu wenig Arbeit für alle vorhanden – in Deutschland, aber noch mehr in ganz Europa. Der Privatsektor – Unternehmen und Haushalte –, und zwar speziell der deutsche, gibt seit bald 20 Jahren insgesamt zu wenig Geld aus, um Beschäftigung für alle zu schaffen. Stattdessen steigen die Spareinlagen ins Unermessliche. In dieser Lage ist eine Erhöhung der öffentlichen Aus- gaben überfällig – beispielsweise zur Beschleunigung der Energiewende, für moderne Infrastrukturen, hochwertige soziale Dienstleistungen und bes- sere Schulen. Darum ist es von zentraler Bedeutung, den vom DGB bereits 2012 entwickelten „Marshallplan“19 nun auch endlich umzusetzen. Er sieht ein breit angelegtes Investitionsprogramm in erneuerbare Energien vor. Das würde in der EU bis zu 11 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen und insbe- sondere den Arbeitslosen in Süd- und Osteuropa wieder Perspektiven bieten. Zudem ist ein umfangreiches nationales Investitionsprogramm dringend geboten. Alternative Ökonomen fordern zu Recht Mehrausgaben, die in Stu- fen bis zu einer Höhe von 100 Mrd. Euro in fünf Jahren ansteigen und insbe- sondere in die Verbesserung von Bildung, Pflege, Verkehrsinfrastruktur und Wohnraum investiert werden sollen.20 Zur Finanzierung sollten sowohl die Schuldenbremse ausgesetzt als auch die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen angehoben werden.

Für eine groß angelegte Umverteilung von Arbeit

Höheres Wachstum allein reicht jedoch nicht aus, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Es muss auch darum gehen, Arbeit anders zu verteilen. Seit 1975 sind in Deutschland die pro Erwerbsperson durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden – auch aufgrund der immensen Produktivitätsfortschritte – um rund ein Viertel auf rund 30 Stunden pro Woche gesunken.21 Dennoch arbeiten Vollzeitbeschäftigte heute wie damals unverändert etwa 40 Stun- den. Um Arbeitslose und Unterbeschäftigte aller Herkunftsländer in den Arbeitsmarkt zu integrieren, müssen daher auch die Arbeitszeiten der Voll- zeiterwerbstätigen sinken. Außerdem muss bei Kommunen und Wohlfahrtsverbänden ein umfassen- der sozialer Arbeitsmarkt mit sozialversichungspflichtigen, zusätzlichen und tariflich bezahlten Arbeitsplätzen eingerichtet werden, damit einheimischen und zugewanderten Erwerbslosen mit besonderen Integrationshemmnis-

19 DGB, Ein Marshallplan für Europa, Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes für ein Kon- junktur-, Investitions- und Aufbauprogramm für Europa, Berlin 2012. 20 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2015, Köln 2015, S. 30. 21 Vgl. Heinz-J. Bontrup, Lars Niggemeyer und Jörg Melz, Arbeit fairteilen. Massenarbeitslosigkeit überwinden!, Hamburg 2007.

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sen geholfen wird. Die Kombination der beschriebenen Maßnahmen würde dafür sorgen, dass alle Menschen mit Erwerbswunsch, die in Deutschland leben, in Arbeit integriert werden. Damit würde die aktuelle Vertiefung der sozialen Spaltung in Deutschland abgewendet – und rassistischen Hassparo- len wäre zumindest der ökonomische Nährboden entzogen. Auf diese Weise könnte die Zuwanderung tatsächlich einen erheblichen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Wiederaufbau leisten, der nach mehr als einem Vierteljahrhundert neoliberaler Spar- und Umverteilungspolitik drin- gend geboten ist. Dabei geht es um die Wiedererrichtung eines handlungsfä- higen Sozialstaates, der den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger ent- spricht. Noch viel grundsätzlicher geht es aber um eine Wiedergewinnung des Sozialen, um Humanität, Utopiefähigkeit und eine Abkehr von der neo- liberalen Verelendung – im ideologischen wie im materiellen Sinne. Dafür ist es nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig, dass ein solcher Impuls von Deutschland ausgeht. Denn wenn schon das ökonomisch dominierende Land der EU dazu nicht in der Lage ist, dann wird man es auch von keinem anderen erwarten können. Anzeige BAYER-Aktien in Aktion! Stimmrechte übertragen. Kritische BAYER-AktionärInnen unterstützen.

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201604_Blaetter.indb 90 16.03.16 12:14 Republik ohne Chancengleichheit: Deutschland am Wendepunkt Von Marcel Fratzscher

eutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industriali- D sierten Welt. Warum, ist nicht sofort offensichtlich. Die Fakten sind wie Puzzleteile, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen wollen. Als Erstes zeigt sich das „Vermögens-Puzzle“: Deutschland ist ein reiches Land, mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das zu den höchsten der ganzen Welt gehört. Und Deutschland ist Sparweltmeister – in kaum einem Industrieland sparen sowohl Bürger als auch Unternehmen einen so hohen Anteil ihres Einkommens. Logisch wäre also, dass die Menschen in Deutschland dank hoher Einkommen und hoher Sparquote auch hohe private Vermögen auf- bauen können, um ihren Wohlstand für die Zukunft zu sichern und Vorsorge zu betreiben. Die Realität sieht jedoch anders aus: Das Vermögen vieler Deutscher ist erheblich niedriger als das ihrer Nachbarn. Es zählt zu den niedrigsten in ganz Europa und ist weniger als halb so groß wie das anderer Europäer. Zum Vermögen zählen Geldvermögen, Finanzanlagen, Immobilien, Wertsachen, Versicherungen und Betriebsvermögen. Ihr Wert ist in den Portfolios vieler deutscher Bürger in den vergangenen 15 Jahren gesunken. Wie passen diese Fakten zusammen? Wie kann es sein, dass in einem Land, das wirtschaftlich so erfolgreich und stark ist, die Menschen über so wenig Vermögen und private Absicherung verfügen? Wie kann es sein, dass die Menschen in Deutschland mehr verdienen und mehr sparen als viele Nachbarn, aber dennoch weniger Vermögen aufbauen?

Doppelte Ungleichheit – bei Vermögen und Einkommen

Gleichzeitig sind die Vermögen höchst ungleich verteilt. In keinem anderen Land der Eurozone ist die Vermögensungleichheit höher. Die ärmere Hälfte unserer Bevölkerung verfügt praktisch über gar kein Nettovermögen. Falls die Menschen Vermögenswerte besitzen, sind Schulden und andere Ver- pflichtungen mindestens ebenso groß. Bei den ärmsten 20 Prozent sind die

* Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch von Marcel Fratzscher, Verteilungskampf: Warum Deutsch- land immer ungleicher wird, das soeben im © Carl Hanser Verlag München erschienen ist (siehe Einleitung sowie die Seiten 209 f. und S. 214 f.).

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201604_Blaetter.indb 91 16.03.16 12:14 92 Marcel Fratzscher

Schulden sogar größer als die Vermögenswerte. Diese Bürger sind netto ver- schuldet. Aber auch an der Spitze der Vermögenspyramide ist Deutschland extremer als seine Nachbarn: In kaum einem Land in Europa besitzen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung größere Vermögenswerte. Die Vermö- gensungleichheit ist in Deutschland fast genauso groß wie in den USA. Das zweite Puzzle ist das „Einkommens-Puzzle“. Nicht nur bei den Ver- mögen, auch bei Löhnen und Einkommen ist das „Soziale“ der deutschen Marktwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten in den Hintergrund getre- ten. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen im Land klafft immer weiter auseinander. Rund die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer musste zusehen, wie ihre Löhne in den vergangenen 15 Jahren an Kaufkraft verloren. Den Verlust mussten die Arbeitnehmer mit den niedrigeren Löhnen hinnehmen. Nur die mit den höchsten Löhnen konnten sich über deutliche Zuwächse freuen. Nicht nur die Kaufkraft ist gesunken, auch die Arbeitseinkommen der meisten Arbeitnehmer sind nur schleppend angestiegen, auch da in Deutsch- land ungewöhnlich viele Menschen in prekärer Beschäftigung sind oder – oft unfreiwillig – in Teilzeit arbeiten. Deutschland gehört zu den Indus- trieländern mit der höchsten Ungleichheit der Markteinkommen. Der deut- sche Staat versucht, diese hohe Ungleichheit durch Steuern und finanzielle Umverteilung wieder auszugleichen – allerdings nur mit begrenztem Erfolg. Die Ungleichheit bei Löhnen, Markteinkommen und verfügbaren Einkom- men ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich angestiegen. Nach 2005 wurde dieser Anstieg durch die starke Zunahme der Beschäftigung zwar gebremst. Hohe Erträge erzielten in Deutschland aber vor allem solche Bür- ger, die große Betriebs- oder Finanzvermögen einsetzen konnten. Und so spiegelt sich die steigende Ungleichheit auch in einer starken Zunahme der Armutsquote wider – vor allem ältere und sehr junge Menschen sind zuneh- mend von Armut bedroht –, wie auch in einer abnehmenden Generationen- gerechtigkeit. Denn bereits beim Berufseinstieg ist die Ungleichheit der heu- tigen jüngeren Generationen in Einkommen und Vermögen deutlich höher, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Land ohne gesellschaftliche Mobilität: Wer hat, dem wird gegeben

Das dritte Puzzle ist das „Mobilitäts-Puzzle“. Menschen mit niedrigem Ein- kommen und einem geringen Vermögen schaffen es ungewöhnlich selten, sich finanziell deutlich zu verbessern und „sozial aufzusteigen“. Ein ähn- liches Beharrungsvermögen findet sich bei den hohen Einkommen und großen Vermögen: Wer es einmal geschafft hat, ein gutes Einkommen und hohes Vermögen zu erreichen, hat in Deutschland viel größere Chancen als in anderen Ländern, diese Position auch beizubehalten. Die Gefahr eines Abstiegs ist viel geringer als im Durchschnitt der OECD-Länder. Am stärks- ten ausgeprägt ist dieser Stillstand der sozialen Verhältnisse bei den oberen und den unteren 10 Prozent, also beim reichsten und beim ärmsten Zehntel

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der Bevölkerung. International außergewöhnlich ist auch die starke Wech- selwirkung zwischen Einkommen und Vermögen: Die vermögenden Bürger sind auch die mit den hohen Einkommen. Wer hat, dem wird gegeben. Diese geringe Mobilität wirkt auch über Generationen hinweg: In kaum einem anderen Land beeinflusst die soziale Herkunft das eigene Einkom- men so stark wie in Deutschland. In kaum einem anderen Land bleibt Arm so oft Arm und Reich so oft Reich – über Generationen hinweg. Die Hälfte des Einkommens eines Arbeitnehmers in Deutschland wird durch das Einkom- men und den Bildungsstand der Eltern bestimmt. Kinder reicher Eltern dür- fen also nicht nur auf große Erbschaften oder Schenkungen hoffen, sie haben auch deutlich bessere Chancen, selbst ein überdurchschnittliches Arbeits- einkommen zu erzielen. Kinder aus einkommens- und vermögensschwa- chen Haushalten schaffen es nur selten, sich deutlich besser zu stellen als die Eltern. Diese bereits geringe Mobilität hat in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch abgenommen.

Die Mittelschicht als Verlierer

Einer der größten Verlierer dieser Entwicklung ist die deutsche Mittelschicht. Es sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft, deren Jobs in Gefahr sind, deren Löhne schrumpfen, die nur geringe Möglichkeiten haben, Vor- sorge zu betreiben und Vermögen aufzubauen. Es sind die Menschen, die bislang das Rückgrat einer jeden Wirtschaft und Gesellschaft bilden – auch unserer. Die Ungleichheit in Deutschland hat viele Gesichter. Frauen, Bewohner ländlicher Regionen, Ostdeutsche, Migranten, Menschen aus sozial schwa- chen und bildungsfernen Familien, Alleinerziehende, Alte und Kinder – sie alle sind deutlich schlechter gestellt. Vor allem belastet der deutsche Staat den Faktor Arbeit unverhältnismäßig stärker mit Steuern und Abgaben als den Faktor Kapital – der internationale Vergleich zeigt dies überdeutlich. Deutschland ist schon lange kein Land mehr, das „Wohlstand für alle“ bietet. Aus dem „Wohlstand für alle“ ist ein „Wohlstand für wenige“ geworden. Aus ökonomischer Perspektive ist Ungleichheit in Einkommen oder Ver- mögen erst einmal weder gut noch schlecht. Viele Menschen empfinden Ungleichheit als einen Mangel an Gerechtigkeit. Andere halten Ungleichheit für ein gerechtes Resultat von über- oder unterdurchschnittlicher Leistung oder schlicht für natürlich gegeben. Jeder Mensch hat ein anderes Verständ- nis davon, wie eine gerechte Verteilung aussehen sollte. Viele wissenschaftliche Studien belegen, dass eine gewisse Ungleich- heit in Einkommen und Vermögen ein normales und zum Teil auch wün- schenswertes Resultat einer Marktwirtschaft ist. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive ist dosierte Ungleichheit in dem Maße wünschenswert, in dem sie freie Entscheidungen der Menschen reflektiert. Ein Teil einer jeden Ungleichheit kommt durch Mut und Geschick einiger weniger zustande, die hohe Risiken für sich selbst eingehen, um wirtschaftlich und finanziell Erfolg

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zu haben. Davon profitieren viele, denn solche Menschen schaffen Beschäfti- gung und damit auch Wohlstand für viele. Eine Marktwirtschaft muss Erfolg honorieren, so dass Menschen den Lohn für ihre Mühen ernten können. Dies führt zwar zu einer ungleichen Ver- teilung von Einkommen und Vermögen, setzt jedoch wichtige Anreize für andere, den gleichen oder einen ähnlichen Weg zu gehen, um somit auch den Wohlstand der gesamten Gesellschaft zu vermehren.

Die Ungleichheit in Deutschland schwächt die Talente

Ungleichheit wird dann zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problem, wenn sie nicht mehr die freien Entscheidungen der Bürger wider- spiegelt, sondern eine marktwirtschaftliche Ordnung, in der viele Menschen ihre Talente nicht nutzen können und kein fairer Wettbewerb herrscht. In einem solchen Land werden die Produktivität und das Wachstum der Volks- wirtschaft geschwächt. Genau dies ist in Deutschland der Fall: Wissenschaftliche Studien bele- gen, wie stark die Ungleichheit in Einkommen und Vermögen in Deutsch- land unsere Wirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit schädigt. Beschäftigung, Einkommen und Wachstum könnten weit höher sein. Die OECD schätzt, dass durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um 6 Prozent geringer ist. Diese Ungleichheit erhöht die Armut. Sie lässt die soziale und politische Teilhabe im Land schwinden und auch die Vorsorge der Menschen. Sie ver- schlechtert die Gesundheit und dämpft die Lebenszufriedenheit, verstärkt die Abhängigkeit vieler Bürger vom Staat und liefert Zündstoff für zuneh- mende soziale Konflikte. Keine Demokratie hat das Ziel, allen Menschen gleiche Vermögen, Einkommen und Beschäftigung – also den gleichen Output – zu garantieren. Aber jede Demokratie will Chancengleichheit bie- ten. Ungleichheit wird dann zum sozialen Problem, wenn sie Chancen und soziale Teilhabe einschränkt. Wenn sie dann noch die politische Teilhabe reduziert, wird sie zur Gefahr für die Demokratie selbst. Ein zu hohes Maß an und bestimmte Ausformungen von Ungleichheit sind enorm schädlich – sowohl für die Marktwirtschaft als auch für die Gesell- schaft. Wenn die Hälfte der Deutschen praktisch auf keinerlei Vermögen zurückgreifen kann, können abgehängte Menschen auch kaum Investitio- nen in ihre Zukunft tätigen. Sie können wichtige Bildungs- und Berufschan- cen nicht wahrnehmen, keine effektive Vorsorge für Alter und Krankheit betreiben. Hinzu kommt: Hohe Ungleichheit provoziert einen harten Verteilungs- kampf innerhalb einer Gesellschaft, der den Wohlstand verkleinert. Dieser Verteilungskampf zeigt sich in vielen Aspekten – beispielsweise in einer übermäßigen Lobbyaktivität, der enormen Bedeutung spezifischer Inter- essenvertretungen und einer ineffizienten Wirtschaftspolitik. Der Konflikt bindet produktive Kräfte, die dann nicht der Erhöhung des gemeinsamen

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Wohlstands zur Verfügung stehen. Der Verteilungskampf verunsichert Unternehmen und Bürger, weshalb sie weniger in die Zukunft investieren und die Wachstumsaussichten durch die geringen Investitionen weiter ver- schlechtern. Der Verteilungskampf ist kein Nullsummenspiel. Umverteilung verursacht immer auch Kosten, weil sie selten effizient ist und die Verhaltensanreize für die Bürger verändert. Aber eine smarte Umverteilung kann den Wohlstand der gesamten Gesellschaft verbessern, wenn es ihr gelingt, diejenigen Men- schen ins Wirtschaftsleben zu integrieren, denen diese Gelegenheit bisher nicht gegeben war. Deutschlands Problem ist aber nicht, dass der Staat heute nicht genug umverteilt. Er verteilt tendenziell eher zu viel um. Steuern und Abgaben sind außergewöhnlich hoch im internationalen Vergleich. Mehr Umvertei- lung ist keine Lösung. Im Gegenteil: Der deutsche Staat sollte eher weniger umverteilen, dafür aber die Umverteilung effizienter gestalten, um die wirk- lich Bedürftigen zu erreichen. Die Verteilungspolitik in Deutschland ist sehr ineffizient und schafft es zu selten, der Gesellschaft und Wirtschaft als Gan- zes zu nutzen. Ein großer Teil der Umverteilung heute geschieht im Interesse und zum Nutzen einiger weniger. Viel zu viel wird heute von Bessergestell- ten zu den gleichen Bessergestellten umverteilt.

Das Skandalon der ungleichen Chancen

Die größte Schwäche und das größte Scheitern der deutschen Politik und Gesellschaft aber ist es, dass wir es nicht schaffen, eine bessere Chancen- gleichheit für die Menschen zu gewährleisten. Die hohe Ungleichheit der Chancen hindert viele Menschen in Deutschland daran, ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln und den größtmöglichen Nutzen aus ihnen zu ziehen – zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl unserer Gesellschaft. In kaum einem Land haben Kinder aus einem sozial schwachen, bildungsfernen, auslän- dischen und von einem alleinerziehenden Elternteil geprägten Umfeld so schlechte Chancen, ihre Talente zu entwickeln, wie in Deutschland. Fast nirgendwo anders verfügen Frauen über schlechtere Aufstiegschancen im Beruf und werden in der Bezahlung so benachteiligt. „Wirtschaftliche Freiheit“ ist unter solchen Bedingungen nicht viel mehr als eine leere Worthülse und das Privileg einer immer kleineren wirtschaft- lichen und sozialen „Elite“. Das Schicksal vieler Deutscher ist bereits im Kindesalter besiegelt. Den schwächsten 40 Prozent der Deutschen wird die Chance genommen, ihr wirtschaftliches Schicksal selbst bestimmen zu können. Besonders auffällig und folgenreich sind die vergleichsweise geringen Ausgaben für die Bildung. In sie investiert Deutschland nur etwas mehr als 4 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: Im OECD-Durch- schnitt sind es 5 Prozent. Im Durchschnitt aller OECD-Länder erhöhen die von den einzelnen Staaten getätigten Bildungsausgaben die Einkommen der

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jeweiligen privaten Haushalte durchschnittlich um 12 Prozent. Im Vergleich dazu verbessern die Bildungsausgaben in Deutschland die durchschnittli- chen Einkommen lediglich um 9 Prozent. Am stärksten profitieren die unte- ren 20 Prozent der Einkommensverteilung von den staatlichen Bildungsaus- gaben. Im Durchschnitt aller OECD-Länder erhöht das Bildungssystem die Ein- kommen dieser Gruppe um durchschnittlich 31 Prozent. In Deutschland sind dies jedoch lediglich 21 Prozent. Auch andere Einkommensgruppen profitieren weniger vom Bildungssystem als in anderen Ländern. Die größte Lücke klafft jedoch bei den Einkommensschwächsten. Dies zeigt deutlich, dass Deutschlands zentrale Schwäche das Bildungssystem ist. Es erhöht die Chancenungleichheit. Die im Vergleich schlechte finanzielle Ausstattung und geringere Effizienz verhindern, dass gerade die sozial und Einkom- mensschwächeren – in Form von besseren Einkommen und Chancen – stär- ker vom Bildungssystem profitieren.

Unsere Zukunftsperspektive verschlechtert sich

Die Ungleichheit bei Chancen, Einkommen und Vermögen ist in den vergan- genen Jahrzehnten auch global deutlich gestiegen, in Deutschland jedoch deutlich stärker als im Schnitt. Vieles deutet langfristig auf eine Fortsetzung oder sogar Beschleunigung dieses Trends hin. In einigen Bereichen gibt die Globalisierung der Ungleichheit Auftrieb, in anderen ist es die Ungleichheit selbst, die die Grundlage legt für neue Ungleichheit – wie im Bildungsbe- reich: Die Reichen profitieren von ihren größeren Investitionen. Der Abstand und damit die Ungleichheit in Einkommen, Vermögen und Chancen ver- größern sich. Die weniger Gebildeten verlieren den Zugang zu Jobs, werden ärmer, investieren weniger in Bildung, können schlechter Vorsorge betrei- ben und Chancen nutzen – die Ungleichheitsspirale gewinnt an Fahrt. Die Ungleichheit wird weiter steigen, mit all ihren negativen Konsequen- zen für Wirtschaft und Gesellschaft – wenn die Politik nicht sehr bald eine Kehrtwende vollzieht, das Problem erkennt und wirtschaftspolitische und gesellschaftspolitische Maßnahmen ergreift, um diesem Trend entgegenzu- wirken. Der Prozess der Globalisierung wird voranschreiten. Einige glauben an seine Verlangsamung, da die Wirtschaft bereits in so vielen Bereichen grundlegend global geworden ist. Aber es sprechen viele Gründe für eine weitere Beschleunigung. Mit der Digitalisierung und einer Informations- und Kommunikationstechnologie, die für geringe Kosten immer mehr Men- schen immer schneller verbindet, spricht vieles für ein schnelleres und enge- res Zusammenwachsen der Weltwirtschaft. Diese Globalisierung mag nicht mehr in erster Linie auf den Handel von Gütern fokussiert sein. Aber der globale Handel und Austausch in fast allen Dienstleistungsbereichen wer- den sich beschleunigen und immer mehr auch riesige Länder wie China und Indien in die globalen Märkte integrieren.

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Chancen, aber auch Risiken der Globalisierung

Gerade für Deutschland sind die Chancen, aber auch die Risiken der Glo- balisierung enorm. Deutschland ist eine der offensten Volkswirtschaften weltweit. Kaum ein Land hat so stark von der Öffnung Chinas und anderer Schwellenländer profitiert. Dies bedeutet jedoch auch, dass ein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit vor allem die schwächsten deutschen Arbeitnehmer teuer zu stehen kommen könnte. Deutsche Unternehmen stehen in immer stärkerem Wettbewerb nicht nur mit Unternehmen in Industrieländern, son- dern vor allem in Ländern wie China, dessen Bildungssystem sich deutlich verbessert hat, das über eine hohe Innovationsfähigkeit verfügt und letzt- lich auf viele Marktsegmente drängt, in denen deutsche Unternehmen heute (noch) führend sind. Die zunehmende Globalisierung wird jedoch weiterhin vor allem den Men- schen mit hohen und ausgesuchten Qualifikationen zugutekommen. Der Anstieg der prekären Beschäftigung wird sich wohl weiter fortsetzen. Die Natur der Arbeit ändert sich stark und erfordert immer mehr Flexibilität, was gerade den Menschen mit guten Qualifikationen helfen wird. Politikmaßnah- men, wie die Einführung eines Mindestlohns, zielen auf die Symptome die- ses Phänomens ab, können die Ursachen der steigenden Ungleichheit jedoch nicht aufhalten, schon gar nicht beheben. Vor allem die Jobs der Mittelschicht sind von dieser Entwicklung bedroht und werden immer stärker unter Druck kommen. Eine weitere Schwächung der Mittelschicht wird daher alle drei beschriebenen Dimensionen der Ungleichheit weiter verstärken. Thomas Pikettys wichtigste These, dass die Rendite auf Kapital langfris- tig stärker steigt als die auf den Faktor Arbeit, bedeutet eine Zunahme der Ungleichheit in Einkommen und Vermögen. Dieser Prozess wird zumindest aus zwei Gründen vor allem Deutschland deutlich härter treffen als andere Länder. Zum einen weil die Vermögensverteilung in Deutschland so ungleich ist, fast die Hälfte der Deutschen über praktisch kein Nettovermögen verfügt und somit nicht von einer hohen Rendite auf Vermögen profitieren kann. Der zweite Grund ist die in Deutschland so geringe Chancengleich- heit und damit die hohe Abhängigkeit von Einkommen und Vermögen. In einer Gesellschaft, in der die Menschen mit den höchsten Vermögen auch die größten Einkommen erzielen, haben diejenigen mit wenig Einkommen und Vermögen praktisch keine Chance, mitzuhalten oder gar aufzuholen – besonders wenn sich Vermögen über Generationen in denselben Familien konzentriert und gesellschaftliche Gruppen zementiert. Die Besteuerung von Vermögen ist in Deutschland im internationalen Ver- gleich ungewöhnlich gering: Nur 0,8 Prozent der Wirtschaftsleistung werden durch vermögensbezogene Steuern erhoben. Der Durchschnitt aller OECD- Länder liegt bei 1,8 Prozent, mehr als doppelt so viel. Länder wie Großbritan- nien, Kanada, Frankreich und die USA erheben Vermögenssteuern von über 3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Auch die Aufgliederung nach verschiedenen Kategorien zeigt, dass die Besteuerung aller Vermögensfor-

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men in Deutschland vergleichsweise gering ist – sowohl für unbewegliches Vermögen (also vor allem Immobilien), Erbschaften und Schenkungen (wie im dritten Teil dieses Buches diskutiert), als auch für Finanz- und Kapital- transaktionen. Dies unterstreicht, wie viel stärker der deutsche Staat den Faktor Arbeit im Vergleich zum Faktor Kapital und Vermögen besteuert. In anderen Worten, die Verteilung der Markteinkommen könnte weniger ungleich sein, wenn der Staat geringere Abgaben von Unternehmen für den Faktor Arbeit verlan- gen und gleichzeitig Kapital und Vermögen stärker belasten würde, was das Markteinkommen der Einkommensstärksten etwas verringern würde.

Die Flüchtlingskrise als Verteilungskampf?

Teile der deutschen Gesellschaft fühlen sich heute schon von positiven Wirt- schaft- und Wohlstandsentwicklungen abgehängt. Und die Abstiegsangst vieler Menschen steigt angesichts der riesigen Zahl von Flüchtlingen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen. Allein im Jahr 2015 kamen weit mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Viele Menschen im Land sorgen sich, dass sie selbst kürzer treten müssen, wenn den Flüchtlingen geholfen wird, und dass wir es „nicht schaffen können“, die finanziellen, organisatorischen und gesellschaftlichen Belastungen zu stemmen – zumindest nicht, ohne auf staatliche Leistungen zu verzichten, Steuern zu erhöhen und möglicherweise geringere Löhne und Einkommen hinzunehmen. Sie haben Angst vor einer weiteren Eskalation des Verteilungskampfes. In Wirklichkeit tobt der Verteilungskampf jedoch nicht zwischen Flücht- lingen und Menschen, die bereits in Deutschland leben. Sondern zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, zwischen gut und weniger gut Ausgebildeten und vor allem zwischen Arm und Reich. Dieser Kampf muss sich durch die Flüchtlinge, die zu uns kommen, nicht verschärfen. Große Teile der Wirtschaft etwa werden von der Flüchtlingsmigration langfristig profitie- ren, denn es stehen mehr qualifizierte als gering qualifizierte Arbeitskräfte zu Verfügung. Sie können sowohl die Produktivität als auch die Nachfrage erhöhen und letztlich das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand aller Menschen im Land verbessern, nicht nur ihren eigenen. Das geht aber nur, wenn die Integration erfolgreich gestaltet wird. Wie schnell und gut dies gelingt, hängt in erster Linie von der Frage ab, wie schnell und gut die Flüchtlinge Arbeit finden. Damit dies schnell gelingt und alle profitieren können, benötigen wir paradoxerweise kurzfristig deut- lich höhere Ausgaben. Denn die meisten Flüchtlinge sind jung und benöti- gen eine Schulbildung, eine Ausbildung oder konkrete berufliche Qualifika- tionen. Solche Ausgaben sind jedoch höchst lohnende Investitionen, genauso wie Ausgaben für Schulen Investitionen sowohl in die Zukunft unserer Kin- der sind als auch in unsere eigene. Ein Teil der Politik und der Medien inszeniert nun einen Verteilungskampf zwischen der „Altbevölkerung“ und den „Flüchtlingen“, nach dem Motto:

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Wir haben kein Geld, um unser Bildungssystem oder unsere Infrastruktur zu verbessern, weil wir Flüchtlinge versorgen müssen. Wahr ist jedoch: Die Schwächen in unserem Bildungssystem und unserer Infrastruktur haben mit den Flüchtlingen nichts zu tun. Denn diese Schwächen haben wir schon seit vielen Jahren. Wahr ist auch: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es wohl nie einen günstigeren Zeitpunkt als heute, um die Herausforderungen der Flüchtlingszuwanderung erfolgreich zu meistern. Die Arbeitslosigkeit hat ein Rekordtief erreicht. Niemals lag sie in den vergangenen drei Jahr- zehnten niedriger. Der Wirtschaft fehlen qualifizierte und weniger qua- lifizierte Arbeitskräfte – es gibt heute knapp eine Million offene Stellen in Deutschland – und dieses Problem wird durch den demographischen Wandel in Zukunft noch deutlich verschärft werden. Der Staat hat ausreichend Über- schüsse, um die erforderlichen Ausgaben kurzfristig zu stemmen. Gerade deshalb ist der entbrannte Verteilungskampf durch die Flüchtlingsmigration nicht nur unnötig, sondern kontraproduktiv.

Die Aufgabe der Politik

Aber auch ohne die Flüchtlingskrise wird der Verteilungskampf in Deutsch- land in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zunehmen. Dieser Ver- teilungskampf verstärkt sich schon heute durch eine Wirtschaftspolitik, die immer stärker darauf ausgerichtet ist, Einkommen, Vermögen und Privile- gien den einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen zuzuteilen, ohne das langfristige Interesse der Gesellschaft als Ganzes zu wahren. Je kleiner der Kuchen wird, der zu verteilen ist, desto größer der Kampf, die eigenen Inter- essen und Anteile zu verteidigen. Und je stärker die Stimme und der Einfluss der wirtschaftlich Inaktiven, beispielsweise Menschen im Rentenalter, desto weniger leistungsbereit und leistungsfähig werden die Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Liefe die Entwicklung so weiter, wäre das Resultat am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger Leistungsfähigkeit und weniger Wohl- stand für Deutschland und seine Menschen. Die Ungleichheit – soviel steht fest – hat hierzulande bereits heute ein Maß angenommen, das gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Scha- den anrichtet. Dieser Schaden betrifft nicht „nur“ die mit den geringsten Ein- kommen, Vermögen und Chancen, er verursacht Kosten, die alle tragen müs- sen. Wenn Menschen nicht die Chance haben, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln und einzubringen, entgeht dem ganzen Land ihr hohes Poten- tial für die Wirtschaft und für die Gesellschaft. Steigt dagegen die Chancen- gleichheit, so profitiert nicht nur der Mensch, der seine Fähigkeit nutzen kann. Es profitieren auch die Unternehmen und alle anderen Bürger, denn höhere Chancengleichheit schafft besser qualifizierte und motiviertere Arbeitneh- mer, erhöht die Mobilität der Arbeitnehmer und die Kaufkraft der Konsumen- ten, sie verbessert die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und sichert das Funktionieren der Gesellschaft und Demokratie.

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201604_Blaetter.indb 99 16.03.16 12:14 100 Marcel Fratzscher

Das führt zu zwei zentralen Schlussfolgerungen. Erstens: Ein Bekämpfen der Ungleichheit und ihrer Auswirkungen liegt im Interesse aller, nicht nur einiger weniger. Solange wir alle, aber insbesondere die Politik, die Erkennt- nis nicht so sehr verinnerlicht haben, dass aus ihr Taten resultieren, wird der Verteilungskampf in Deutschland sich weiter intensivieren und immer grö- ßeren Schaden für Gesellschaft und Wirtschaft anrichten. Zweitens: Die fehlende Chancengleichheit ist Deutschlands größtes Pro- blem. Es ist höchst ineffizient und kontraproduktiv, Menschen ihrer Chan- cen und Möglichkeiten zu berauben, damit der Staat dann über Steuern und Sozialleistungen versucht, einen Teil dieses durch den Raub entstandenen Schadens wieder auszugleichen. Und: Freiheit hat keinen finanziellen Preis. Keine Leistung des Staates kann eine fehlende Chancengleichheit kompen- sieren.

Eine Kehrtwende ist nötig

Statt wie so oft in der Ungleichheitsdebatte unser Augenmerk auf eine höhere Umverteilung über Steuern und Sozialleistungen zu legen, benötigen wir in Deutschland ein fundamentales Umdenken: eine Kehrtwende, bei der die Anstrengungen darauf abzielen, die Chancenungleichheit zu minimieren und die Chancen zu maximieren. Dies würde zu weniger Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen führen. Die Markteinkommen würden steigen, einige staatliche Interventionen würden überflüssig. Es würde langfristig den Staat kleiner, effizienter und fokussierter machen. Gleichzeitig würde dieser Staat seine Verantwortung vor allem gegenüber den Schwächsten gerechter werden. Und es würde den Kuchen für alle größer machen: Das Wirtschaftswachstum würde steigen und damit auch der Wohlstand – dann aber wieder für alle und nicht nur für wenige. Deutschland steht an einem Wendepunkt. In einer immer globaleren Welt werden wir unsere führende Position und unseren Wohlstand nur dann behaupten können, wenn wir unser allerwichtigstes Kapital pflegen und hegen, und dies sind die Menschen. Nur wenn die Politik die Herausforde- rung annimmt, eine höhere Chancengleichheit zu schaffen, wird Deutsch- land seinen Wohlstand auch für seine Kinder und Enkelkinder bewahren können. Nur dann kann aus dem „Wohlstand für wenige“ wieder ein „Wohl- stand für alle“ werden und vor allem auch „mehr Wohlstand“. Dass wir als Gesellschaft daran scheitern, ist ein Problem. Für uns alle.

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201604_Blaetter.indb 100 16.03.16 12:14 Wir Sklavenhalter, Teil II Wie viele Sklaven halten Sie – und wie lange noch?

Von Evi Hartmann

assen Sie mich raten: Als Sie zum ersten Mal die Frage „Wie viele Skla- L ven halten Sie?“ lasen, haben Sie sie spontan und unwillkürlich meta- phorisch verstanden. Oder wie mir ein Manager, zumal ein Supply Manager, vorwurfsvoll sagte: „Ich weiß, dass unsere Lieferanten in Asien unter harten Arbeitsbedingungen leiden. Aber ich halte doch keine Sklaven!“ Ich ver- stehe seine Empörung. Ich war auch empört, als man mich zum ersten Mal als Sklavenhalter bezeichnete. Die Wahrheit ist jedoch: Das ist keine Meta- pher, sondern bitterer Ernst! Und diese Erkenntnis ist nur wenige Mausklicks entfernt. Hier einige mit wenig Aufwand erreichbare Daten: Mit allen Formen der Zwangsarbeit werden nach Schätzung der Internatio- nal Labor Organization jährlich 150 Mrd. US-Dollar verdient. Diese Summe enthält noch nicht einmal die Profite, die mit Menschen erzielt werden, die für Löhne unter dem Existenzminimum arbeiten müssen, ohne von ande- ren dazu gezwungen zu sein. Fast zwei Drittel davon werden mit Zwangs- prostitution erzielt. Auf erzwungene Arbeit in Fabriken und Minen entfallen immerhin noch 40 Milliarden US-Dollar Man geht davon aus, dass 21 Millionen Männer, Frauen und Kinder in Zwangsarbeit als „moderne Sklaven” gefangen sind – also grob die Bevöl- kerung von Australien und Neuseeland zusammengenommen. Die große Mehrheit von ihnen – fast 19 Millionen – werden durch privatwirtschaftliche Akteure, in der Hauptsache Unternehmen, ausgebeutet. Dabei wirkt die Globalisierung sozusagen als Brandbeschleuniger: Seit 2005 haben sich die Profite der Sklavenhalter mehr als verdreifacht. Ein Drittel ihrer Profite erzielen sie dabei in der EU und anderen Indus- triestaaten. Moderne Sklaverei ist somit kein ausschließliches Problem der Dritten Welt. Tatsächlich bringen Lohnsklaven in Industriestaaten ihren Sklavenhaltern den meisten Gewinn: 34800 US-Dollar pro Kopf und Jahr im Vergleich zu den Sklaven in Afrika etwa, die jährlich „nur” 3900 US-Dollar einbringen. Jetzt werden Sie sich natürlich fragen, was genau ich mit Sklaverei meine. Denn rein rechtlich gibt es diese ja nicht mehr, seit sie Mauretanien als letzter Staat 1981 abgeschafft hat. Der Besitz eines Menschen ist also nicht mehr

* Der Beitrag basiert auf dem aktuellen Buch der Autorin, „Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globa- lisierung und Moral“, das soeben im Campus Verlag erschienen ist.

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201604_Blaetter.indb 101 16.03.16 12:14 102 Evi Hartmann

möglich. Allerdings leben noch immer viele Menschen in Verhältnissen, die durch völlige Abhängigkeit von anderen und eigene Unfreiheit gekenn- zeichnet ist. Dies kommt de facto der Natur der Sklaverei also sehr nahe. Es gibt viele Nuancen der Abhängigkeit und Unfreiheit, die von Arbeits- verhältnissen ohne jedes Entgelt, die mit Gewalt und unter Zwang herbeige- führt werden, bis hin zu „weicheren” Formen, wie beispielsweise knebelhaf- ten Anstellungsformen bei Hungerlöhnen, reichen. Nicht jeder Mensch, der unter widrigen Bedingungen für einen Hungerlohn arbeitet, ist ein „moder- ner Sklave”. Jene jedoch, die gegen ihren Willen zur Arbeit angehalten wer- den, können so genannt werden, auch wenn der Begriff wissenschaftlich umstritten ist. Wie die „klassische” zeichnet sich also auch die „moderne” Sklaverei durch Zwang und Ausbeutung aus. Die Sklavenhalter wiederum sind die- jenigen, die direkt den Zwang ausüben und direkt oder indirekt von der Aus- beutung profitieren. Das können staatliche Akteure – man denke an Zwangs- arbeit in Gefängnissen – und solche privater Natur sein. Wie die Zahlen oben verraten, sind es meist Unternehmen. Nach Schätzungen der ILO verrichten über sieben Millionen Menschen Zwangsarbeit in der Produktion und im Bergbau und weitere dreieinhalb Millionen in der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei. Zwangsarbeit ist somit ein fester Bestandteil vieler Liefer- ketten. „Führend” unter den Branchen mit Zwangsarbeit sind die Baumwoll- produktion und die Textilindustrie. Da muss ich Sie natürlich fragen: Tragen Sie gelegentlich Kleidung?

Sechzig Sklaven für jeden von uns

Sofern Sie wie ich Kleidung tragen, Nahrung zu sich nehmen, ein Auto fah- ren oder ein Smartphone haben, arbeiten derzeit ungefähr 60 Sklaven für Sie und mich. Ob wir wollen oder nicht. Ohne dass wir das veranlasst hätten. Eine genauere Zahl verrät Ihnen der Sklaven-Kalkulator unter slaveryfoot- print.org. Wie fühlen Sie sich damit? Und das soll keine rhetorische Frage sein. Denn Moral hat viel mit Beziehungs- und Empfindungsfähigkeit zu tun: Sind Sie noch leidensfähig? Oder verdrängen Sie schon? Ich weiß, es ist gemein von mir, solche Fragen zu stellen. In Zeiten der Glo- balisierung stellt man keine Gewissensfragen. Doch zurück zur Anzahl Ihrer Sklaven. Wie kommt die Zahl zustande? Sie kaufen ausschließlich Markenprodukte von zertifizierten Fabriken und Lieferanten? Das ist vorbildlich. Die Weberei Ihres T-Shirts und der Marken- hersteller, sogar seine Spediteure sind (im besten Fall) zertifiziert. Aber woher kommt die Baumwolle fürs T-Shirt? Die Smartphone-Einzelteillieferanten sind zertifiziert – aber woher kommt das im Smartphone verbaute Zinn? Die meisten Sklaven der Neuzeit arbeiten nicht in den Fabriken, sondern in den Minen, auf den Feldern und Plantagen der Globalisierung. Dort wer- den die Rohstoffe produziert oder gefördert, und dort ist die soziale Nachhal- tigkeit mit ihren Zertifikaten noch nicht flächendeckend hingelangt.

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Sind dafür nicht die Regierungen zuständig? Was kann ich als einzelne Per- son schon dagegen tun? Das sind gute Fragen. Sie spiegeln die verbreitete moralische Verunsicherung wider. Schlimmer als die jedoch ist die unbe- wusste Schlussfolgerung, die wir aus ihr ziehen. Wir sind verunsichert, also handeln wir nicht und beenden zum Beispiel nicht unsere Karriere als Skla- venhalter. Das ist bequem, aber höchst unlogisch.

Wer handelt, schafft Sicherheit

Unsicherheit ist keine valide Entschuldigung für Passivität. Es ist eher umge- kehrt, wie uns Handlungsfreudige täglich beweisen: Handeln verringert Unsicherheit. Wer etwas tun möchte, findet immer etwas zu tun – und mit dieser Handlungsfreude auch seine Sicherheit. Wer handelt, schafft Sicher- heit. Und es gibt viel zu tun: Manche Menschen kaufen gezielt Produkte von Herstellern, die es geschafft haben, ihre Wertschöpfungskette bis hinunter zu ihren Minen und Plantagen zu zertifizieren. Andere Menschen schicken regelmäßig E-Mails an Hersteller und fragen nach der Herkunft der verwen- deten Rohstoffe. Überschreiten solche Anfragen eine kritische Schwelle, tut sich meist etwas bei den angesprochenen Unternehmen – sie fürchten den Krawall im Internet. Wiederum andere Konsumenten schließen sich ein- schlägigen Initiativen zur Bekämpfung der Sklaverei an: Im Internet ist Engagement nur einen Mausklick entfernt. Wir können also eine Menge tun, um der Sklaverei ein Ende zu bereiten. Wenn wir wollen. Wollen wir? Und: wo? Vielleicht sollten wir nicht (nur) bei der Globalisierung damit beginnen, sondern vor der eigenen Haustür anfan- gen, bei unmoralischem Handeln nicht wegzusehen. Eine Kollegin, Lehrerin, berichtet zum Beispiel von einem Mädchen der neunten Klasse, das einen Selbstmordversuch beging. Als sie an die Schule zurückkam, wurde sie von ihren Altersgenossen, Jungs wie Mädchen, als „Weichei” und „Opfer” beschimpft. Das ist das Beunruhigende an der Unmo- ral. Sie treibt nicht nur ganz weit weg, in der großen, weiten Globalisierung, ihr Unwesen. Wenn wir solche „nahen” Beispiele in ihrer monumentalen Mechanik der Unmoral erkennen, verstehen und verändern können, dann können wir das vielleicht auch bald mit den ferneren Beispielen wie der Skla- verei der Globalisierung. Was haben Sie empfunden, als Sie erkannten, dass „Sklaven der Globali- sierung” keine Metapher ist? Niemand fühlt sich gerne hilflos, wütend oder frustriert. Also meiden wir diese Gefühle, so gut wir können – meist ganz unbewusst. Das ist das evo- lutorische, also genetisch bestimmte (wir können nichts dafür) Lustprinzip: Lustvolles suchen, Frustvolles vermeiden. Lust ist kurzfristig immer gut und langfristig immer etwas teuer. Denn es ist schwierig, sich ohne gelegent- liche Entrüstung moralisch zu verhalten: Es fehlen dann ein Auslöser und eine Triebkraft für das moralische Handeln. Wem alles völlig egal ist, der findet für jede Unmoral eine vernünftig klingende Erklärung: „Warum

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201604_Blaetter.indb 103 16.03.16 12:14 104 Evi Hartmann

macht die Regierung nichts dagegen? Ich weiß doch auch nicht, was man tun soll.“ Moralempfinden bedeutet Affektempfinden. Das können und wollen wir anscheinend häufig nicht mehr. Nicht, weil wir es nicht aushalten könnten. Sondern weil es in der westlichen Kultur als schwach, unmodern und maso- chistisch gilt, belastende Gefühle zu empfinden. Unsere Kinder machen es uns vor: Mitleid mit der selbstmordgefährdeten Mitschülerin zu zeigen, wäre vom Klassenverbund als Schwäche ausgelegt und stigmatisiert worden. Also zeigt man (Schein-)Härte. Gegen andere. Dass man damit dafür sorgt, dass das eigene Gefühlsleben verödet, realisieren die wenigsten, die Gefühle ver- drängen – das verstünde man nur mit ausreichender Affektkompetenz, also der Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Umgang mit Gefühlen. Wer Gefühle verdrängt, verdrängt auch die dazu passenden Gedanken. Diese Doppelverdrängung hat Folgen: „Wenn Leute Schmerz verneinen, dann müssen sie kompensieren durch Gewalt, durch Erobern, durch Helden- taten“, so Arno Gruen in „Hass in der Seele“. Die spottenden Schülerinnen und Schüler tun das. Im Grunde kompensieren sie die Verdrängung ihrer eigenen Menschlichkeit, indem sie ein Opfer drangsalieren.

Die Fähigkeit zum Mitleid

So gesehen ist empfundener Schmerz der Anfang der Menschlichkeit, der Moral und gleichzeitig der affektiven Autonomie, der Übereinstimmung mit den eigenen Gefühlen – und das Ende der Sklaverei. Wer beim Über- streifen eines Sklaven-T-Shirts Unbehagen verspürt, wird eher der Sklaven gedenken und irgendwann handeln als jemand, der bereits dank Erziehung und Kultur so weit von seinen eigenen Gefühlen entfernt ist, dass er/sie gar kein Mitgefühl mehr spürt – dafür umso stärker Lust und Kompensationswut (Kompensation ist eine Form der Aggression). Dass der moderne Sklavenhalter so mittelbar nicht nur die Sklaven schä- digt, sondern auch sich selbst, wird oft übersehen: Wer nicht moralisch ist, kann auch nicht authentisch sein – und umgekehrt. Nur wer verdrängt, kann Sklaven halten. Darin liegt umgekehrt die große Chance der Moral: Sie macht uns erst schwach und verletzlich, danach authentisch und stark. Per aspera ad astra. Wie aber gelangen wir durch das Tal des (Mit-)Leidens zu den Sternen? Moralentscheidungen werden leichter, wenn wir uns fragen: Was macht die Wahl aus mir? Gefällt mir das? Bin ich das? Will ich das sein? Entspricht das meiner Pose, dem sozialen Erwartungsdruck, meinem Image, einer Sucht, meiner Identifikation mit irgendwelchen Ideologien? Oder ist es mein eigener, authentischer Wunsch, das zu tun, was ich tun will? Bringt es mich mir selber näher oder entfremde ich mich damit von mir selbst? Welchen meiner Persönlichkeitsanteile bringt es mich näher? Sind es jene, denen ich näherkommen möchte? Das sind im Unterschied zur so berüchtigten wie individuell-rational eher nutzlosen Pro-Kontra-Überlegung Fragen, die sich

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zwar nicht mit dem Verstand beantworten lassen, mit denen man aber eine verstandesmäßige Überlegung ethisch kultivieren kann und sollte. Wie alle Menschen, die keine Psycho-, Soziopathen oder Gefühlslegas- theniker sind, haben wir alle kein wirklich gutes Gefühl, wenn wir uns für Erfolg statt für Ethik, für die Jeans und gegen die Sklaven entscheiden. Was fangen wir in der Regel mit diesem unguten Gefühl an? Auch die Teilnehmer an Milgrams Töte-den-Probanden-Experiment hat- ten ein ungutes Gefühl, als der Versuchsleiter ihnen befahl, einen Proban- den (einen Schauspieler!) mit (vorgetäuschten) Stromstößen zu töten: Sie zit- terten, schwitzten, zeigten intendierte Fluchtbewegungen, manche hatten sogar Magenkrämpfe. Aber zwei Drittel drückten dennoch den Knopf. So machen auch „wir Sklavenhalter“ das: Wir empfinden zwar das Moral- dilemma geradezu körperlich. Doch wir stellen uns diesem schmerzhaften Moralempfinden nicht. Lieber geben wir den Schmerz an andere weiter: lupenreine Kompensation. Oder wir verdrängen. Wir rationalisieren, baga- tellisieren oder lenken uns mit ein paar Klicks im Internet, einem Kaffee oder einer Zigarette vom Unbehagen ab. Der Volksmund behauptet zwar, dass ein ruhiges Gewissen ein gutes Ruhekissen sei, aber das ist Wunschdenken: Gerade die meisten Menschen, die ihr Unrechtsbewusstsein verdrängen, schlafen wie die Murmeltiere. Es sind umgekehrt jene, die „sich einen Kopf machen”, die sich morgens um vier drängende Gewissensfragen nach ihrer Rolle als Sklavenhalter stellen, die unter Schlafproblemen leiden.

Eine schwindelerregende Freiheit

Angenommen, wir lebten in einem Universum, in dem Unmoral letztendlich, absehbarerweise und ausnahmslos ökonomisch, sozial oder anderweitig bestraft würde: Jeder, der Sterbende übervorteilen oder Jeans aus Sklaven- arbeit kaufen wollte, würde das in diesem Universum doch lieber bleiben las- sen, weil er mit seinem absehbar sanktionierten Verhalten sein Lebensein- kommen oder sein Ansehen schmälern würde. „Moral oder Unmoral“ wäre keine Frage. Die Wahl würde sich nicht stellen. Ergo: Es bestünde ein ökono- mischer oder sozialer Zwang zur Moral und damit keine freie Wahl. Es gäbe keine Sklavenhalter der Globalisierung, weil sich das nicht lohnen würde. Alternativ angenommen, wir lebten in einem Universum, in dem persön- liche Reife nicht nur qua Sozialkonsens als das höchste Gut menschlicher Entwicklung gälte, sondern auch ökonomisch belohnt werden würde – kein Mensch würde sich für Unmoral oder Sklaverei entscheiden, weil es sich ein- fach nicht lohnen würde. Auch hier gäbe es keine Wahl. Weiter angenommen, in einem dritten Universum würde ethisches Verhal- ten nicht nur mit weniger Erfolg, sondern auch noch mit einem Verlust per- sönlicher Integrität einhergehen – kein Mensch würde sich noch für Moral entscheiden! Ebenfalls: keine Wahl. Ein erstaunlicher Aspekt der menschlichen Existenz ist: Wir leben offen- sichtlich in keinem dieser drei Universen.

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201604_Blaetter.indb 105 16.03.16 12:14 106 Evi Hartmann

Wir leben vielmehr in einem vierten Universum, in dem Moral und Unmoral zwar jeweils Konsequenzen nach sich ziehen und gewisse Voraussetzungen erfordern, aber keine so folgenschweren, dass sie unsere Wahl unter verstän- diger Würdigung der Umstände verhindern könnten: Diese Wahl – zwischen Moral und Unmoral – ist vielleicht nicht voraussetzungslos oder bar jeder Konsequenz, aber sie ist möglich und machbar. Wenn ich mir der Handlungs- alternativen bewusst bin, kann ich mir jede Minute meines Lebens die Frage stellen: Was wähle ich? Kaufe ich die Sklaven-Jeans oder eine andere? Ich kann mir jederzeit die Freiheit nehmen (nehmen allerdings muss ich mir sie), mich für Moral oder Unmoral zu entscheiden. Die eine Option ist so zugäng- lich wie die andere. Also warum sollte ich mich für Moral und gegen die Sklaverei entschei- den?

Das Pascal-Kalkül

Niemand kann uns verbieten, Sklaven zu halten (deshalb gibt es die moderne Sklaverei noch). Manchmal wird uns die Entscheidung für oder gegen die Moral schwerfallen, manchmal leicht. Manchmal wird sie viel Mut erfordern, manchmal weniger. Oft werden wir schwerwiegende, häufig triviale Konse- quenzen zu tragen haben – aber niemand pfuscht uns in diese Entscheidung hinein. Noch kein Käufer von Gütern aus Sklavenarbeit wurde je dafür von der Globalisierung belangt. Jeder Sklavenhalter bekommt bei jeder neuer- lichen Entscheidung zwischen Moral oder Unmoral wieder die ultimative und unbegrenzte Freiheit der absolut autonomen Entscheidung. Niemand zwingt uns, das faire oder das andere Handy zu kaufen, außer vielleicht öko- nomische und soziale Zwänge, die in vielen Fällen jedoch Vorwand sind und nicht Grund. Das Perverse an der Globalisierung ist, dass dagegen derjenige, der im Kongo das Coltan für das andere Handy schürft, zumeist keine Wahl hat. Er wird mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen. Will er nicht als unbemerk- ter Märtyrer sterben, ist seine Handlung – Sie entschuldigen das neudeut- sche Wort – alternativlos. Selbst auf dieser Ebene ist die Globalisierung ein Nullsummenspiel: „Der eine gewinnt, der andere verliert.“ Es müssen viele Faktoren zusammenkom- men, um eine solch perfekt perfide Logik am Laufen zu halten – so viele, dass man fast einen höheren Plan dafür verantwortlich machen möchte. Das aller- dings wäre – genau – die eben diskutierte billige Entschuldigung. Wer eine schicksalhafte Fügung für diese Missstände verantwortlich macht, der sucht nur nach Ausreden. Es ist womöglich nicht unsere Aufgabe oder gar unsere Herausforderung oder Prüfung, ein moralisches Leben zu führen. Es ist allein der Versuch, der zählt. Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben”, wie Václav Havel es formu- lierte. Es könnte sein, dass es lediglich auf diesen Versuch ankommt und dass wir allein an diesem Versuch gemessen werden.

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Damit dies nicht in der Abstraktion verbleibt, hier ein Beispiel: Eine Frau, alleinerziehend, von Hartz IV lebend, sagt: „Ich würde so gerne Eier kau- fen, für die Hühner nicht gequält werden. Aber das Geld reicht einfach nicht. Also kaufe ich so wenige Eier wie möglich und bedenke bei jedem Pfannku- chen, den die Kinder samstags so gerne essen, das Los der armen Kreatur.” Nach dem Havel-Moralkriterium der „Wahrhaftigkeit“ verhält sich diese Frau moralisch zumindest gleichwertig zu jemandem, der seit Jahren aus- schließlich tierschutzrechtlich korrekte Nahrungsmittel kauft, weil er es sich leisten kann. Ich glaube das, weil der Umkehrschluss der Gipfel der Unmoral wäre: Ethisch kann sich nur verhalten, wer genug Geld hat – oder auf Pfann- kuchen verzichtet. Moral entsteht womöglich schon dadurch, die eigene Hilflosigkeit ange- sichts des moralischen Imperativs nicht zu verdrängen, sondern sowohl Wahl als auch Hilflosigkeit standhaft oder in Demut, trotzig, gelassen oder stolz zu ertragen. Ein exzentrischer Gedanke. Warum kommen uns solche Gedan- ken so selten?

Die Vergleichsdiktatur

Nicht viele Menschen bleiben heutzutage am Küchentisch sitzen und bespre- chen Fragen von ethischer Dimension wie zum Beispiel: „Wie lange wollen wir noch Sklaven halten?” Warum aber wird nicht gefragt? Weil wir ande- res zu tun haben. Und zwar dringend: nämlich nach Selbstwert und sozialer Anerkennung zu jagen, auch als Facebook-Psychose bekannt. Die Soziologin Eva Illouz meint dazu im Gespräch mit der Journalistin Nataly Bleuels: „Es ist die Gesellschaft der Moderne, die beim Einzelnen ein permanentes Defizit an Selbstwertgefühl und Anerkennung erzeugt. (...) Aber das liegt weniger am Einzelnen als daran, dass wir uns dauernd vergleichen und vergleichen lassen müssen. Weil wir uns dauernd in Kon- kurrenz befinden und unser Wert bemessen wird.” Wir leben im Zeitalter des Vergleichs: Wer sich mit Statusvorgaben vergleicht, beschäftigt sich mit Status und Vergleich, nicht mit Moral. Ein sogenanntes Crowding-out: Status verdrängt Moral. Was scheren mich Familienfriede, Sklaverei oder Moral, wenn Steffen, dieser Blödmann, drei virtuelle Freunde mehr hat als ich? Da muss ich unbe- dingt gleichziehen! Erst kommt Facebook, dann die Moral. Wobei ich mich für die polemische Benutzung des Markennamens entschuldige: Die meisten Manager spielen das Spiel nicht mit Facebook, sondern mit ihren Firmen- wagen. Und glauben Sie bloß nicht, unter Professoren gäbe es keinen Sta- tuswettkampf. Paradox ist es trotzdem: Wir verdrängen auf der Jagd nach Vergleichsbelohnung ausgerechnet das, was uns von der Vergleichsdiktatur befreien könnte. Der schnellste, aber nicht unbedingt leichteste Weg aus dem Hamsterrad des ewigen Vergleichens ist die Moral. Wer ethisch handelt, macht sich unab- hängig von äußeren Vergleichen und erreicht eine andere Ebene.

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Moral wird gemeinhin als lässliche Pflicht, lästiges Übel, vermeidbarer Auf- wand oder Quantité négligeable, als vernachlässigbare Größe, betrachtet. Was dabei übersehen wird, sind die Früchte der Moral. Und damit meine ich nicht das gute Gewissen, ein erfülltes Leben oder die erlösende Gewissheit, richtig gehandelt zu haben. Nein, eine ethische Grundhaltung verschafft Vorteile, die gerade in unseren modernen Tagen massiv an Bedeutung gewonnen haben. Der Wissenschaftsjournalist Jan Körfer schreibt dazu: „Unser Alltag ist ein einziger Angriff auf unsere Autonomie, es gibt immer weniger Nischen, in denen man sich noch selbstständig und frei fühlen kann. [...] In kaum einem Teil unseres Lebens sind wir noch selbstbestimmt und nur uns selbst Rechenschaft schuldig.” Kein Wunder, dass manche die Moral für sich entdecken: Da handelt man wenigstens noch selbstbestimmt, nur sich selbst Rechenschaft schuldend – und nicht dem verdammten, nimmersatten Peer Pressure, dem Aufwärts- oder Abwärtsvergleich und dem Statusdruck. Oder wie ein Absolvent ange- sichts etlicher Kommilitonen meinte, die sich für die konventionelle Karriere entschieden hatten: „Macht ihr nur Marketing oder Finance – ich mache was Richtiges.” Er heuerte bei einer Non-Governmental Organization an. Der Spott (und Neid) der Kolleginnen und Kollegen war ihm sicher – aber auch eine diesen Spott überragende Gewissheit: Ich tue das Richtige! Wer kann das heutzutage noch von sich behaupten?

Ist das Böse therapierbar?

Es gibt genügend Wissenschaftler und Bestsellerautoren, die von einem „nar- zisstischen Zeitalter” sprechen. In so einem Zeitalter ist die Moralfrage rein rhetorisch: Narzissten, Antisoziale, Psycho- und Soziopathen kennen keine Moral. Denn Moral ist nun einmal an die Wahrnehmung anderer Menschen gebunden – und die hat ein Narzisst nicht. Er hält seine eigenen Bedürfnisse nicht für die wichtigsten, sondern für die einzigen. Unbewusst. Unverbesser- lich. Unbelehrbar? Bisher schon. Viele Psychotherapeuten versichern: „Narzissten sind im Grunde nicht therapierbar. Es sei denn, sie weisen sich selber ein. Was sie nicht tun. Warum auch? Sie sind doch schon die Besten, Tollsten und Größten – wozu also The- rapie?“ Wenn das stimmt und wenn man unser Zeitalter tatsächlich als nar- zisstisch bezeichnen kann, ist an dieser Stelle das Thema der Moral beendet: zwecklos, nutzlos, hoffnungslos. Erica Hepper von der Universität Surrey ist da anderer Meinung. Sie und ihr Team untersuchten 300 narzisstische Freiwillige. Sie zeigte den Proban- den der Kontrollgruppe ein zehnminütiges Video, in dem eine Frau Opfer häuslicher Gewalt wurde: keine Reaktion. Die Kontroll-Narzissten saßen gleichgültig vor dem Bildschirm, kein Anstieg der Herzfrequenz, keine erkennbare Stressreaktion, kein messbares Mitgefühl – das Video hatte ja nichts mit ihnen zu tun. Den Probanden in der Experimentalgruppe wurde nun nicht das Handbuch der Moralerziehung, der Umerziehungs-Gulag oder

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der Ethik-Bachelor verpasst, sondern vor dem Video mit der Misshandlung eine simple Bitte mitgegeben: „Bitte versuchen Sie, sich vorzustellen, wie sich die misshandelte Frau fühlt.“ Was passierte? Prompte Stressreaktion. Erhöhte Herzfrequenz, verstärkte physiologische Aktivierung, vulgo: Mitge- fühl. Die niederländischen Neurowissenschaftler Valeria Gazzola und Chris- tian Keysers zeigten, dass auf diese Art und Weise sogar Psychopathen so etwas wie Mitgefühl entwickeln können. Das lässt hoffen.

Hoffnung für die Moral: Die Empathiefrage

Anscheinend gibt es also Hoffnung für die Moral. Das Böse ist therapierbar, der Sklavenhalter auch. Man braucht für eine erfolgreiche Therapie noch nicht einmal Dr. Freud. Es reicht für einen hoffnungsvollen Beginn, für erste Erfolge, für eine Alltagsroutine der aktiven Moralpflege und für eine Art „Erhaltensdosis der Moral” bereits, Sklavenhaltern – also uns allen – freund- lich die Frage zu stellen: „Was meinst du – wie fühlen sich die Sklaven in den Minen, wenn sie für dein Smartphone Erze schürfen? Wie fühlt sich der Plan- tagen-Sklave, wenn er für dein T-Shirt vergiftet wird?” Man sollte als Antwort auf die Frage sicher keine Spontanheilung erwarten – gemessen in verändertem Konsum- oder, schwieriger noch, Management- verhalten. Doch der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wie die empirische Forschung andeutet, braucht die Empathiefrage nur oft genug wiederholt zu werden, dann verfängt sie selbst bei Psychopathen. Das ist zugleich Hoff- nung und Auftrag: Man muss im Angesicht von Unmoral nicht hilflos schwei- gen. Reden nützt. Noch besser ist es, die Empathiefrage zu stellen. Wieder- holt. Insistent. Bis sich beobachtbare Ergebnisse einstellen. Nicht nur anderen können und sollten wir die Frage stellen und sie uns von anderen stellen lassen. Auch uns selbst können und sollten wir die Frage stellen: „Lieber Sklavenhalter – wie fühlen sich wohl deine Sklaven bei dei- nem nächsten Konsumakt respektive deiner nächsten Managemententschei- dung?” Nicht die Globalisierung an sich ist also das Problem. Wir sind das Prob- lem. Wir nehmen sie als gegeben hin, ohne sie profund auf den Prüfstand zu stellen. Unser Umgang mit ihr spiegelt unseren Umgang mit dem Kapitalis- mus wider, den wir häufig als Triebfeder der Globalisierung sehen. Wir ken- nen die mit beiden verbundenen Probleme, aber einen wirklichen Lösungs- versuch unternehmen wir nicht. Warum aber sollten wir trotzdem einen Lösungsversuch wagen? Warum sollten wir versuchen, zumindest mit den in diesem Buch beschriebenen und anderen Ansätzen auf die Fehlentwicklungen von Kapitalismus und Globali- sierung einzuwirken? Weil es besser ist, Teil der Lösung zu sein als Teil des Problems. Die „ganz normale” Hausfrau und Mutter, eine entfernte Bekannte, sagt dazu: „Es läuft im Moment so viel schief auf der Welt, das Elend ist so groß. Wenn ich da

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wenigstens ein bisschen etwas mache, wo ich kann, fühle ich mich nicht so hilflos, ausgeliefert und unbedeutend.” Den richtigen Honig zu kaufen kann vor Hilf- und Bedeutungslosigkeit retten? Ja, so einfach ist das. Das sind die kleinen Unterschiede, die den großen Unterschied machen. Erstaunlich, nicht? Moral hat einen phänomenalen Leverage-Effekt, eine unglaubliche Hebelwirkung, ist geradezu der Inbe- griff der Effizienz: maximale Wirkung mit minimalem Aufwand. Es wird uns leicht gemacht, anständig zu leben. Natürlich hat es der Anständige nicht leicht im Leben. Noch ist er in der Minderheit. Vielleicht können wir die Welt nicht retten. Aber wenn wir auch nur die Hälfte der kleinen Schritte tun, die wir tun können, und uns nach Zögern und Zaudern und tausend Ausreden endlich dazu durchringen und uns nach jedem kleinen Schritt was schämen und doch stolz sind, dass wir Globalisie- rungsgeschädigten es überhaupt so weit bringen, und uns zaghaft mutig an den nächsten kleinen Mini-Schritt wagen und das Jahr für Jahr durchziehen, retten wir die Welt vielleicht doch. Wenn nicht, retten wir wenigstens unsere geistige Gesundheit und den Respekt unserer Kinder. Anzeige

Weggesperrt – und dann? Gefangene brauchen Hilfe, um nach der Haft ein Leben ohne Straftaten führen zu können. Helfen Sie mit Ihrer Zeitungsspende. Bitte spenden Sie die »Blätter für deutsche und internationale Politik« für Men- schen in Haft zum Preis von: 84,60 jährlich oder überweisen Sie einen Betrag Ihrer Wahl an: Freiabonnements für Gefangene e.V., Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE02 1002 0500 0003 0854 00, BIC: BFSWDE33BER, Kennwort: Blätter Telefon 030-611 21 89, E-Mail: [email protected]

www.freiabos.de Foto: Beate Pundt

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201604_Blaetter.indb 110 16.03.16 12:14 Macht und Missbrauch Wie die Ideologie der Eliten die pädosexuellen Täter deckt

Von Christian Füller

it der Auszeichnung von „Spotlight“ zum besten Film bei der diesjäh- M rigen Oscar-Verleihung ist die Aufklärung von Missbrauchsstruktu- ren in die Aufmerksamkeit einer globalen Öffentlichkeit gerückt.1 Die Ent- hüllungen eines Reporter-Teams des „Boston Globe“ im Jahr 2002 zeigten, wie perfekt organisiert und gut getarnt sexualisierte Gewalt gegen Kinder verübt wird.2 Aber man muss nicht in die USA gehen: Auch in Deutschland und Öster- reich wurden seit 2010 eine ganze Reihe von institutionalisierten Miss- brauchssystemen aufgedeckt – in der katholischen Kirche, an der Odenwald- schule und bei den frühen Grünen in Berlin-Kreuzberg. Doch anders als im Fall der Erzdiözese Boston harren die Fälle hier noch einer dokumentierba- ren wissenschaftlichen Aufklärung, etwa im Falle der Abtei Kremsmünster. Gelegen in Oberösterreich, gegründet im Jahr 777 von Herzog Tassilo, ist die Abtei ein berühmtes und elitäres Stift. Seit 1549 ist die Klosterschule als humanistisches Internatsgymnasium für die Öffentlichkeit zugänglich – und seit den 1990er Jahren ist bekannt, dass es zu massiven Missbrauchsfällen an den Internatszöglingen gekommen ist. Der schlimmste Täter war ein zutiefst gewalttätiger Mann. Er soll mit dem Ochsenziemer auf die Schüler losgegangen sein und sie durch beidhän- dige „Stereowatschen“ verletzt haben. Pater Alfons nannte sich selbst pädo- phil. Er befriedigte sich an den Schülern mit dem aus dem antiken Athen bekannten Schenkelverkehr. Aber er vergewaltigte die Jungen auch.3 Und er schüchterte sie mit Gewalt ein. Schülern, die nicht gehorchten, drohte er, seine Pumpgun zu holen. Oder er erklärte die Buben für „vogelfrei“ – dann durften Mitschüler den Betreffenden drangsalieren. Viele der Überlebenden leiden noch heute schwer an den erlittenen Qualen. Pater Alfons wurde inzwischen von einem ordentlichen Gericht zu 12 Jah- ren Haft verurteilt. 24 ehemalige Schüler hatten ihn wegen sexueller und brutaler körperlicher Übergriffe angezeigt. Aber es gab noch viel mehr Opfer

1 Paul Katzenberger, Oscar-Gewinner „Spotlight“: Entwaffnend ehrlich, in: „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 29.2.2016. 2 Matt Carol u.a., Church allowed abuse by priest for years, in: „The Boston Globe“, 6.1.2002. 3 Das im Juli 2013 ergangene Urteil bzw. die im Oktober zurückgewiesene Revision durch den Bun- desgerichtshof geben Einblick in die schweren Straftaten und Grausamkeiten, die der Täter in Kremsmünster beging (vgl. Oberster Gerichtshof Republik Österreich, 14 Os 134/13g).

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in Kremsmünster. Interessant ist, was die anderen Patres über ihren Mitbru- der bei einer Versammlung sagten. Er sei gar keiner von ihnen gewesen, sondern schon immer nur ein brutaler und grausamer Mann. Die Botschaft lautete: Er war kein übergriffiger Pater, sondern einfach der Sadist August Mandorfer, der sich ins Kloster eingeschlichen hatte. Solche Ausreden der Benediktiner-Pater sollen die eigene Organisation freisprechen. Es ist der Versuch, das System Kremsmünster zu schützen, indem man alles auf einen Einzeltäter schiebt. Dabei bestehen Tatvorwürfe gegen zumindest 20 Patres. Die Exkommunikation des grausamen Paters durch seine Brüder lenkt zugleich von der Verantwortung der benediktini- schen Ideologie ab, deren Idee eigentlich darin besteht, in Gehorsam und Bescheidenheit „zu arbeiten, zu beten und zu lesen“. Die Patres sollen als Hirten ihre Anvertrauten behüten und – so der Wahlspruch – ihnen eine humanistisch-christliche Gesinnung vermitteln. Aber sie sollten die Kinder nicht schlagen und schon gar nicht sexuell missbrauchen. Der Münchner Psychologieprofessor Heiner Keupp hat mit einer Reihe anderer Autoren einen Bericht über die physische, psychische und sexua- lisierte Gewalt in Kremsmünster verfasst.4 Er erzählte die Geschichte der immensen seelischen Grausamkeit wie der taktischen Ausstoßung der Schutzbefohlenen durch den Benediktiner-Pater Mandorfer bei einer Tagung an der Evangelischen Akademie in Tutzing („Kind, Du bist uns anvertraut!“). Dort hatten sich Ende Januar, fünf Jahre nach den Enthüllungen des Miss- brauchs am Berliner Canisius-Kolleg, zahlreiche Experten des Themas sexualisierte Gewalt aus allen möglichen Richtungen versammelt. Die bei- den Kirchen waren vertreten, dazu pädagogische Institutionen, aber auch ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin und der Odenwaldschule in Oberhambach, der lange Zeit wichtigsten reformpädagogischen Schule Deutschlands. Auch der Unabhängige Beauftragte gegen sexuellen Kindes- missbrauch, Johannes Wilhelm Rörig, kam in die Akademie – wie auch der grüne Landtagsabgeordnete Thomas Birk, Antreiber der grünen Aufklärung in Berlin. „Die Grünen waren die einzige Organisation, welche den Miss- brauch der Täter rechtfertigte. Die katholische Kirche hat sie vertuscht, aber die Grünen haben in den 1980er und 90er Jahren Übergriffe sogar positiv definiert“, lautete dessen schonungslose Bestandsaufnahme. Katholiken und Grüne beschimpften sich nicht wechselseitig, wie in der Vergangenheit allzu oft geschehen, sondern sie hörten einander zu, wie es zum Missbrauch beim jeweils anderen gekommen war. Man konnte den Ein- druck gewinnen, als begänne am Starnberger See der Missbrauchs-Dialog zwischen den Ideologien. Die Teilnehmer der Tagung fanden dabei oft nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten zwischen den vermeintlich unver- gleichbaren Institutionen. Ob katholisches Internat oder weltliche Oden- waldschule, Regensburger Domspatzen oder grün-alternative Missbrauchs- tatorte: Es zeigten sich erstaunliche Parallelen. Alle Missbrauchstäter profitierten vom eigenen Anspruch, Elite zu sein. Und je heller der Glorien-

4 Heiner Keupp u.a., Schweigen – Aufdeckung – Aufarbeitung: Sexualisierte, psychische und physi- sche Gewalt in Konvikt und Gymnasium des Benediktinerstifts Kremsmünster, München 2015.

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schein der Ideologie strahlte, desto leichter war es, die Zöglinge zu missbrau- chen, desto größer die Diskrepanz zwischen pädagogischem Anspruch und tatsächlichem Versagen, oder genauer: Verbrechen. So berichtete Heiner Keupp aus den beiden Benediktiner-Klöstern Ettal und Kremsmünster, wie sich dort ein System sexueller Gewalt ausbreiten konnte.5 Vor allem zwei Elemente begünstigten diesen Prozess. Erstens der über alle Maßen elitäre Anspruch der beiden Einrichtungen: „Das beste Gymnasium Europas“, wirbt die eine, „die Welt ist groß, Kremsmünster ist größer“, die andere. Und zweitens war gleichzeitig das pädagogische Pro- gramm der Schulen geradezu kümmerlich – von der didaktischen Qualität her wie von der personellen Qualifikation. Die Präfekten, so erinnerten sich Schüler wie Patres in den Interviews für den Aufklärungsbericht, hätten kei- nerlei Kompetenz für ihre Rolle als Erzieher im Stiftskonvikt besessen. „Die Schule sah sich in der Tradition einer klassisch-humanistischen Bildung und orientiert an christlichen Werten, aber diese wurden im Erziehungsalltag nicht als Handlungskonzept konkretisiert“, so Heiner Keupp. Ganz ähnlich die Lage an der Odenwaldschule: Es ist frappierend, so eine Exschülerin, wie groß die Parallelen zwischen den kirchlichen und welt- lichen Tatort-Internaten sind – nicht zuletzt das ausgesprochene Elitedenken. „Alle anderen, die an der ‚Staatsschule‘ lernen mussten, wurden in den 70er Jahren von der Odenwaldschulgemeinde zutiefst bedauert“, berichtete die Psychologin. Die Odenwaldschule hatte auf Pädagogenkongressen genau wie in der linksliberalen intellektuellen Szene einen Ruf wie Donnerhall. Sie galt als die Schule des besseren Deutschlands, als die Alternative zum Drill wilhelminischer Anstalten und der Verrohung der Nazi-Erziehung. Zugleich waren die Präfekten auf den kirchlichen Internaten genauso überfordert wie die sogenannten Familienoberhäupter an der Odenwaldschule, die dort rund um die Uhr für die Schüler da sein sollten, als Lehrer und als Ersatzeltern.6

Prediger und Pädosexueller: Die Doppelmoral der Lichtgestalten

Die wichtigste Parallele ist aber wohl die in allen Missbrauchsinstitutionen herrschende Doppelmoral. Sie bedeutet für Schüler, Opfer und auch die Täter, einen riesigen Widerspruch auszuhalten: den zwischen dem Verhalten der „geweihten Männer“ bei Prozessionen und Gottesdiensten auf der einen Seite – und ihren pädosexuellen Verbrechen auf der anderen Seite. Tat- sächlich trat der Haupttäter der Odenwaldschule, ihr Leiter Gerold Becker, wie ein Priester auf. Er konfirmierte seine Jungen, gab den sanften Kinder- versteher und hielt, wie viele Augenzeugen berichten, regelrechte Predigten in den demokratischen Schulversammlungen. Aber Becker vergewaltigte Schüler auch und manipulierte psychologische Berichte über sie.

5 Heiner Keupp, Florian Straus, Peter Mosser, Wolfgang Gmür und Gerhard Hackenschmied, Sexu- eller Missbrauch, psychische und körperliche Gewalt im Internat der Benediktinerabtei Ettal: Indi- viduelle Folgen und organisatorisch-strukturelle Hintergründe, Institut für Praxisforschung und Projektberatung, München 2013. 6 Christian Füller, In der Sackgasse, in: „die tageszeitung“ (taz), 10.10.2012.

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Tatsächlich gehört eine derartige Doppelmoral zum wesentlichen psycholo- gischen Zug aller Missbrauchstäter. Egal ob in der Familie oder in einer Ins- titution: Doppeltes Spiel ist ihr Handwerkszeug. Täter sexualisierter Gewalt treten immer als Dr. Jekyll und Mr. Hyde auf. Sie müssen einerseits dem Kind wie dem Umfeld vorspielen, wie vertrauenswürdig und partnerschaftlich sie sind. Und andererseits bleiben sie stets von der eigenen Sexualität bestimmt, verfolgen sie zielgerichtet die eigene Befriedigung. Gerold Becker war sich dieses Zwiespalts durchaus bewusst. Als er in der Paulskirche 1978 die Laudatio auf Astrid Lindgren als Trägerin des Friedens- preises des deutschen Buchhandels hielt, sagte er: Die Psychoanalyse zeige, „wie im strengsten Sinne lebensentscheidend es ist, dass ein Mensch, auf- wachsend, lernt, in einem entspannten, aber nicht spannungslosen Gleich- gewicht zwischen den Ansprüchen seiner Triebe und den Ansprüchen der Realität zu leben.“ Damals schöpfte noch niemand den Verdacht, wie sehr er damit sich selbst beschrieben haben könnte. Das wurde erst 1998 mit dem bekannten Artikel eines seiner zahlreichen Opfer in der „Frankfurter Rund- schau“ ruchbar, der aber von den einflussreichen Freunden Beckers lange unterdrückt wurde.7 Erst 2010 – nachdem sich die Opfer erneut zu Wort gemeldet hatten – konnten die ungeheuren Verbrechen nicht länger von den medialen und gesellschaftlichen Eliten beschwiegen werden. Inzwischen sind die Betroffenen längst zu wichtigen Akteuren des Diskur- ses geworden. Als Opfer wollen viele nicht bezeichnet werden, weil es sie festschreibt auf die passive, ohnmächtige Rolle.8 Dabei haben sie nicht nur bewirkt, dass auch lange zurückliegende Verbrechen zur Sprache kommen, sie treiben die Aufklärung über die Ursachen weiter entscheidend voran, etwa im „Betroffenenbeirat“ des Unabhängigen Beauftragten gegen sexuel- len Kindesmissbrauch.

Gewalt oder Einfühlung: Die ideologische Manipulation des Umfelds

Von entscheidender Bedeutung bei einem Vergleich der Einrichtungen sind jedoch nicht nur die Betroffenen und die Täter, sondern ist auch das Umfeld des missbrauchten Kindes. Diese begleitenden Personen, sei es die Mutter, sei es das nicht übergriffige pädagogische Personal (etwa die tatsächlich gottesfürchtigen Patres), sind für einen Täter stets eine besondere Herausfor- derung. Um Zugang zu seinem Opfer zu bekommen, muss er dieses Umfeld manipulieren, allerdings ohne dass jemand um das Kind herum Verdacht schöpft. Sowohl die Klosterschulen Ettal und Kremsmünster als auch das Landerziehungsheim im Odenwald hatten für die Täter bei ihrer Manipula- tion jedoch einen entscheidenden Vorteil: Sie stellten Ideologien bereit, die den Übergriff begünstigen.

7 Vgl. besonders Christian Füller, Sündenfall: Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln 2011. Und ganz neu: Jürgen Oelkers, Pädagogik, Elite, Missbrauch: Die „Karriere“ des Gerold Becker, Weinheim und Basel, 2016. 8 Als Alternativen wurden die Begriffe „Betroffene“ oder „Überlebende“ vorgeschlagen.

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Bei den Benediktinern in Ettal und Kremsmünster war dies ein ungebro- chenes Verhältnis zur Gewalt. Dort waren erzieherische Strafhandlungen gewissermaßen normal. Gewalt in allen möglichen Formen war selbstver- ständliches Erziehungsmittel. „Sprache und Denkmuster vieler Patres und Lehrer waren noch immer NS-imprägniert“, berichtete Keupp über das ober- österreichische Stift. Aus einer langen – und nicht nur in der NS-Zeit gerecht- fertigten – Tradition „legitimer Gewalt“ in der Erziehung resultierte massive sexualisierte Gewalt. Missbrauch und erzieherische Maßnahme waren nicht mehr unterscheidbar – das machte es den Tätern leicht. An der Odenwaldschule sorgte die reformpädagogische Ideologie für den gleichen Effekt. Auch hier waren Missbrauch und erzieherische Maßnahme im Ergebnis fast nicht mehr unterscheidbar.

Gefangen in der eigenen Ideologie: Die gefährliche »Nähe zum Kind«

Die Ideologie zeichnet sich hier allerdings dadurch aus, dass sie das Kind gerade in den Mittelpunkt stellt und es auf Augenhöhe mit den Lehrern sieht. Überzeugte Reformpädagogen mögen durchaus annehmen, es handle sich um „Nähe zum Kind“, wenn sich ein Lehrer einem Kind in besonders inten- siver Weise – oder besonders hingebungsvoll – nähert. Der Pädosexuelle interpretiert die Nähe freilich ganz anders: Er kann sie nutzen, um seinen Übergriff zu tarnen und zu rechtfertigen. Das bedeutet, die in vielen reform- pädagogischen Zweigen propagierte Idee der Nähe zum Kind leistete dem sexuellen Übergriff durch Lehrer Vorschub, indem sie die realexistierenden Macht- und Missbrauchsverhältnisse kaschiert. Auch wenn die jeweiligen Erscheinungsformen legitimierten Missbrauchs ganz unterschiedlich sind – im Odenwald die angeblich beschämungsfreie Nähe zum Kind, in Ettal und Kremsmünster die strenge, bis ins Handgreif- liche gehende Erziehung: In beiden Fällen ist die sexualisierte Gewalt nicht mehr – oder zumindest sehr schwer – unterscheidbar vom pädagogischen Leitmotiv. Speziell für reformpädagogische Einrichtungen ist die Missbrauchsgefahr wegen dieser Ideologie der legitimierten Nähe zum Kind riesig – und all- gegenwärtig. Auch, weil die Täter eine kaum zu ertragende Chuzpe haben: Noch im Jahr 2011, also mitten in den heftigsten öffentlichen Diskussionen um Missbrauch an der Odenwaldschule, heuerte dort ein Lehrer an, der pädophile Neigungen hatte. Er war unter den Schülern schnell als „Pädo- Bär“ verschrien. Er übernachtete zum Beispiel mit einem 12jährigen auf dem Schulgelände in einem Zelt. Aber die Schule dechiffrierte dieses Verhalten nicht als übergriffig, sondern deckte den übergriffigen Lehrer: Eine Schüle- rin, die sein Verhalten zu monieren versucht hatte, wurde sogar von Lehrern gemobbt und von der Schule verwiesen. Erst nachdem die australische Polizei den Lehrer in Pädophilenforen im Netz identifiziert hatte, flog er auch an der Odenwaldschule auf. Der Mann wurde Anfang 2016 zu einer Haftstrafe verurteilt, weil die Polizei bei ihm

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über 100 000 kinderpornografische Abbildungen fand. Er hatte übrigens bis zum Prozess wieder gearbeitet – als Lehrer.9 Wie aber kann das Umfeld von der eigenen Ideologie so gefangen sein, dass es vollkommen blind für die Grooming-Strategien der Täter wird? Das ist eine komplizierte Frage, auf die man nur dann Antworten findet, wenn man das Umfeld genauer beleuchtet. Dort finden sich Mitläufer und Propagandisten der Ideologie, blinde Gläubige sowie echte Mitwisser und Profiteure. Bei Missbrauchsfällen werden die Täter und das Umfeld gerne trennscharf voneinander unterschieden. Das ist aus juristischen Gründen durchaus nötig. Aber die soziale Wirklichkeit ist eine andere. Die Übergänge zwischen Mitläufern, Mitwissern und Mittätern sind fließend. Der Kreis der Mit- wissenden war in Kremsmünster und Ettal riesig, in der Odenwaldschule zumindest groß. Es kommt daher immer darauf an, zu klären, wer von einem Missbrauch beziehungsweise von seiner Vertuschung profitiert. In einem komplexen System, wie es die Klöster Ettal und Kremsmünster sowie die Odenwaldschule darstellen, gibt es viele Motive, nicht die Wahr- heit auszusprechen und so die eigenen Vorteile zu wahren. Dazu gehören Privilegien und die Tolerierung von Grenzüberschreitungen anderer Art – oder einfach die weiterhin gesicherte Stellung für Lehrer in prekären beruf- lichen Situationen. An der Odenwaldschule unterrichteten mehrere Lehrer, die dem Radikalen-Erlass zum Opfer gefallen waren und daher nicht an Staatsschulen zugelassen waren. Auch das schafft Abhängigkeiten.

Einführung in die Gesellschaft – mit prekärer Gegenleistung

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, so Matthias Katsch von der Canisius-Initiative „Eckiger Tisch“, ob man auch die Eltern mit zum Kreis der Profiteure rechnen muss. Der Grund, warum sie ihr Kind auf Eliteinter- nate geben, sei immer auch der, dass es dort Eingang in die feine Gesellschaft finde. Selbst wenn diese Schulen in ihrer pädagogischen Praxis zumeist geradezu unfähig sind, kommt dort dennoch die zukünftige gesellschaft- liche Elite zusammen, was „soziales Kapital“ im Sinne Bourdieus bedeutet und erleichterte Karrierewege verspricht. Katsch erinnert zu Recht an die Parallele zu jenem Tauschgeschäft, das bei der Knabenerziehung im antiken Athen bestand. Die Eltern der Jungen waren darauf erpicht, dass der Sohn von einem fremden Mann in die Gesell- schaft eingeführt werde – und sie waren bereit, dafür Gegenleistungen zu akzeptieren. Kalokagathie heißt der einschlägige Begriff im antiken Athen. Er beschreibt die Erziehung eines Jungen zu einem Mann und anerkannten Mitglied der griechischen Gesellschaft. Die edle Erziehungsidee darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es neben dem geistigen Band zwischen dem antiken Polis-Teilnehmer und dem schönen Knaben auch ein körperliches gab. Der Schenkelverkehr mit

9 Hans Dieter Erlenbach, Haftstrafe für Ex-Lehrer der Odenwaldschule wegen Kinderporno-Besitzes, vgl. „Echo-Online“, 3.2.2016.

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dem Jungen, also sein sexueller Missbrauch, gehörte als fester Bestandteil zur guten Erziehung. Im antiken Athen war das bis 300 vor Christus eine anerkannte kulturelle Praxis, aus Kleinasien als Initiationsritus übernom- men und von den Philosophen dann kulturell verfeinert und mit Regeln ver- sehen.10 Auch in elitären Erziehungseinrichtungen wie dem Kloster Ettal oder der Odenwaldschule könnte der unausgesprochene Profit der Lehrer genau darin bestanden haben: dass es für die Einführung in die Gesellschaft eine – unausgesprochene – Gegenleistung gab, dass nämlich der Lehrer oder Pater den Jungen benutzen darf. Er handelt dann wie der antike griechische Päd- erast, der über den Körper des Jungen verfügt, sprich: ihn missbraucht. Min- destens manche Eltern wussten dies explizit – und sie profitierten insgeheim von dem Missbrauch, weil sie ihr Kind auf einem guten Wege in die bessere Gesellschaft sahen.11

Vorformen organisierter Kriminalität

Kurzum: In Ettal, Kremsmünster oder an der Odenwaldschule wussten stets mehr Personen über die sexualisierte Gewalt Bescheid als nur die Täter. Mehr noch: Aus den Berichten über die institutionellen Tatorte kann man den Schluss ziehen, dass viele Mitglieder der Organisationen in den Miss- brauch als Mitwissende verstrickt waren. Ein fein gesponnenes Netz an Regeln und Prinzipien sorgte dafür, dass der Nachschub an missbrauchba- ren Jungen stets gesichert war – und gleichzeitig die Omertà des Schweigens nach außen gewahrt blieb. Wenn dem so ist, dann muss man freilich über den Charakter der Organi- sation als Ganzes nachdenken. Die doppelte Moral der Täter erfasst die Ins- titution und infiziert sie selbst mit einer gespaltenen Identität. Sie stellt nicht mehr nur ein benediktinisches Kloster oder ein Reforminternat dar, sondern zugleich ein entwickeltes Missbrauchssystem, das eigene Strukturen und Traditionen hervorbringt. Die Zeiträume des Missbrauchs erstreckten sich über Schülergenerationen hinweg, solange konnten Täter an den Einrichtungen ungestört agieren. Es entstanden dabei ganze Tätergruppen. Wenn freilich der Zugriff von Tätern auf viele Opfer organisatorisch und durch Schweigeregeln möglich gemacht wird, dann handelt es sich nicht mehr um einfachen Missbrauch – sondern um ein geplantes dauerhaftes Verbrechen. In gewisser Weise handelte es sich bei derart unterwanderten Institutionen wie der Odenwaldschule um eine spezifische Form der organisierten Kriminalität. Hier zeigt sich das ganze Ausmaß der noch zu leistenden Aufklärung. So unterschiedlich strukturierte Einrichtungen wie geschlossene Klosterschu- len und weltliche offene Internate weisen im Blick auf sexualisierte Gewalt

10 Christian Füller, Die Revolution missbraucht ihre Kinder, München 2015. 11 Das bewusste Hinnehmen des Missbrauchs durch die eigenen Eltern durchlitt an der Odenwald- schule Alexander Drescher, siehe: Kerstin Kohlenberg, Das bedauere ich, in: „Die Zeit“, 15.4.2010.

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201604_Blaetter.indb 117 16.03.16 12:14 118 Christian Füller

erstaunliche Parallelen bei dieser Form organisierter Gewalt auf. Es gilt also, gemeinsame Lehren zu ziehen. Mit alledem ist seit geraumer Zeit die „Unab- hängige Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch“ beauftragt. Einer- seits bringt sie über ihre aus allen gesellschaftlichen Bereichen stammenden Mitglieder eine Menge Sachverstand für die gebotene „Komparatistik des Schreckens“ mit.12 Andererseits sind die Ressourcen der Kommission perso- nell wie finanziell viel zu begrenzt, um die vielen Bereiche des Missbrauchs – Internate, Kirchen, Parteien, Psychiatrie, Sportvereine, bündische Bewe- gung, Familie – tatsächlich im großen Stil aufklären zu können. Immerhin lassen sich heute bereits fünf exemplarische Felder identifizie- ren, bei denen die dringend gebotene Aufklärung ansetzen sollte.

Fünf exemplarische Missbrauchsfelder

Erstens und immer noch: die Odenwaldschule. Sie zeigt besonders exem- plarisch das große Machtpotential einer weltlichen pädagogischen Ideologie für den Missbrauch, weil sich dort ein Cluster von Tätern auf jugendbewegte, reformpädagogische und zugleich auf Motive der sexuellen Befreiung berief bzw. sie nutzte, um sexualisierte Gewalt auszuüben. Zweitens: die Regensburger Domspatzen. Nach einem ersten unabhängi- gen Bericht weiß man inzwischen, dass die Zahl der Betroffenen viel größer ist als bisher angenommen. Man geht inzwischen von 700 und nicht mehr von „bloß“ 70 Opfern aus.13 Außerdem gibt es Hinweise, dass die Mitwisser- schaft bis weit nach oben in die katholische Kirchenhierarchie reicht.14 Drittens der Fall Berlin – als eines Zentrums ideologischen Missbrauchs in dreifacher Hinsicht. Da ist zum ersten die „Alternative Liste“ (AL) der 1980er und 90er Jahre mit dem Tatort Kreuzberg, wo eine Tätergruppe innerhalb der AL eine Infrastruktur von Freizeiteinrichtungen aufbauen konnte, die zur Beschaffung von Opfern diente, die möglicherweise sogar an Dritte weiter- gereicht wurden.15 Und da ist zum zweiten das noch immer nicht untersuchte Feld der Berliner Jugendpolitik, wo es im Senat ein Programm gab, bei dem Jugendliche offiziell an pädophile Hausmeister als Pflegepersonen vermit- telt wurden.16 Hinzu kommt drittens auch noch der Missbrauch im religiösen Rahmen, nämlich im Canisius-Kolleg.

12 Die Tutzinger Tagung war so auch, ohne dass dies explizit geplant gewesen wäre, ein erster öffentli- cher Austausch der neu installierten Kommission. Mehrere Mitglieder waren unter den Referenten, Heiner Keupp etwa oder Brigitte Tilmann, die zur Odenwaldschule vortrug, oder Jens Brachmann, der gerade einen 700 Seiten umfassenden Band über die Landerziehungsheime publiziert hat, unter besonderer Berücksichtigung der Odenwaldschule (Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bil- dungsexpansion und Missbrauchsskandal: Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerzie- hungsheime 1947-2012, Bad Heilbrunn 2015). Brachmann und Keupp haben den Auftrag, den schon lange erwarteten unabhängigen Aufklärungsbericht über die inzwischen geschlossene Odenwald- schule zu recherchieren und zu verfassen. 13 Vgl. Bis zu 700 Gewaltopfer bei den Domspatzen, Regensburg digital, 8.1.2016. 14 Andreas Glas, Hölle auf Erden, in: SZ, 17.1.2016. 15 Frauke Homann im Interview mit dem Autor, „Die Grünen müssen den Tätern ein Gesicht geben”, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 20.5.2015; Barbara Bollwahn, Nie mehr die Kontrolle verlie- ren, in: „Fluter“, 2.12.2013. 16 Boris Hermel, Kindesmissbrauch mit Genehmigung?, www.rbb-online.de, 1.6.2015.

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201604_Blaetter.indb 118 16.03.16 12:14 Macht und Missbrauch 119

Viertens die Burg Ludwigstein bei Werleshausen in Hessen und der orga- nisierte Missbrauch in der Jugendbewegung und ihren Nachfolgebünden. Immer wieder wurden – und werden? – in der bündischen und Pfadfinder- bewegung Gruppen und Abspaltungen gegründet, die unter dem Verdacht stehen, dem Zweck des Kindesmissbrauchs durch invertierte Jugendführer zu dienen.17 Schließlich fünftens der Bereich der Kommunen und Kinderläden im Gefolge von 1968. Dort ist es unklar, ob die missbräuchlichen Theorien, die beispielsweise in den Programmen der Kinderläden formuliert waren („die Kinder beim Sex nicht ausschließen“), auch eine solche Praxis mit sich brach- ten. Es gibt eine Reihe von Zeitzeugen, deren Äußerungen darauf schließen lassen, dass es das gab.18 Aber das müsste zunächst erforscht werden. Die Omertà des Schweigens, die über dem Komplex 1968/sexuelle Befreiung liegt, ist jedenfalls besonders groß. All das sind gewaltige Aufgaben – und doch ist es vermutlich nur der Anfang der Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes. Die Tutzinger Tagung war insofern nicht das Ende der Aufklärung, sondern eher ein neuer Start- schuss.

Täter oder Pater – oder beides?

Doch zum Abschluss noch einmal zurück nach Kremsmünster und zu Pater Alfons. Vielleicht haben die Patres ja recht und der Haupttäter trat gar nicht als Pater in die Abtei ein, sondern von vornherein als Gewalttäter, der die dort gebotene Macht über die Schüler ausnutzen wollte? Dagegen spricht allerdings, dass Pater Alfons nicht als Seiteneinsteiger nach Kremsmünster kam, sondern dort bereits zur Schule gegangen war und gleich anschließend Novize wurde. Er studierte Philosophie, Theologie und Kirchenmusik und promovierte. Später leitete er das Konvikt, also das Inter- nat des Stifts. Das war seine helle Seite. Seine dunkle bestand darin, dass er die Gewalt in Kremsmünster selbst kennengelernt hatte. Ausdruck sei- ner sadistischen Macht, die er auch seinen Mitbrüdern und der Stiftsleitung gegenüber deutlich machte, war der Besitz jener Pumpgun, die man nach Hinweisen bei einer Razzia tatsächlich bei ihm fand. War Pater Alfons also ein pädosexueller Krimineller, der das Konvikt als idealen Tatort wählte? Oder war er doch ein echter Benediktiner-Mönch, der „nur“ der Gelegenheitsstruktur hinter den Klostermauern verfiel? Auch dieses Beispiel zeigt: Es gibt noch viele offene Fragen, die der Aufklärung harren.

17 Sven Reiss, Sie nannten es Geheimbund, in: taz, 12.6.2013. 18 Am deutlichsten Sophie Dannenberg, Einige von uns wurden sexuell missbraucht, in: „Cicero“, 17.5.2013.

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201604_Blaetter.indb 119 16.03.16 12:14 Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Walter Kreck Helmut Ridder Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose Adam Krzeminski Rossana Rossandra schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Jürgen Kuczynski Irene Runge Charles A. Kupchan Bertrand Russell Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

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201604_Blaetter.indb 120 16.03.16 12:14 BUCH DES MONATS

Von der Repräsentation zur Resonanz Von Neelke Wagner

Immer öfter wird derzeit die Krise der Demo- kratie beschworen. Eine rasch wachsende und kaum zu überblickende Fülle an poli- tikwissenschaftlicher Literatur fragt, ob diese noch zu retten sei, oder ruft gleich die „Postdemokratie“ aus. Eine „düstere Stim- mung in Expertenkreisen“ konstatiert denn auch Simon Tormey, Professor für Politische Theorie an der Universität Sydney. Genau dagegen wendet er sich erfrischend optimis- tisch in seinem Buch „Vom Ende der reprä- sentativen Politik“: Tatsächlich sei die Demo- kratie quicklebendig – zumindest, wenn man sie mit Max Frisch als die Neigung der Men- schen versteht, sich in ihre eigenen Ange- legenheiten einzumischen. Wenn also die Wahlbeteiligung sinkt und den politischen Simon Tormey, Vom Ende der reprä- Parteien die Mitglieder davonlaufen, wenn sentativen Politik. Aus dem Engli- schen von Bernhard Jendricke und das Vertrauen in Politiker schwindet und das Sonja Schuhmacher, Hamburger Edi- Interesse an der „auf Wahlen ausgerichteten tion, Hamburg 2015, 232 S., 28 Euro. Mainstream-Politik“ nachlässt, dann nicht, weil die Menschen politikmüde wären. All dies zeige vielmehr: Das Prinzip der Repräsentation ist überholt. Es genügt vielen Menschen schlicht nicht mehr, alle vier Jahre zu entscheiden, wer ihre Geschicke leitet. Tormeys zentrale These lautet daher, „dass wir nicht den Tod der Demokratie erleben, sondern vielmehr ihr Wiedererstarken, aller- dings nach dem Ende der Repräsentation“. Diese Idee entwickelt Tormey in drei Schritten. Zunächst widmet er sich den wichtigsten Krisensymptomen der Demokratie. Darauf folgt ein ideen- geschichtlicher Exkurs über das Prinzip der Repräsentation. Dieses beruht, schreibt der Autor, auf der „nicht sonderlich geheime Prämisse“, nach der eine Klasse, ein Gemeinwesen oder ein Volk sich nicht selbst regieren kön- nen, sondern jemanden benötigen, der diese Aufgabe für sie übernimmt. Das aber stößt zunehmend auf Ablehnung. Warum das so ist, erläutert Tormey im

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dritten Kapitel. Hier verlässt er häufig den Beobachterstandpunkt des Wis- senschaftlers und argumentiert von der Position des engagierten Bürgers aus. Dadurch gerät seine Analyse zuweilen etwas schwammig. Woher weiß er etwa, wie das von ihm bemühte „Wir“ der aktiven Bürger denkt und auf- grund welcher Werte es Unrecht erkennt? Diese Antworten bleibt Tormey schuldig. An dieser Stelle dürften ihm daher vor allem jene Leser folgen, die sich in dem von ihm beschriebenen politischen Subjekt wiedererkennen. Tormey stützt sich in diesen Passagen jedoch auch auf eine breite wissen- schaftliche Basis, etwa wenn er den Mentalitätswandel in den westlichen Gesellschaften seit den 1960er Jahren beschreibt. So führe die Individua- lisierung und der Verlust von Gruppenidentitäten zu einer schwindenden Identifikation mit großen Ideologien, wie sie die Massenparteien des ver- gangenen Jahrhunderts prägten. Gleichzeitig geraten politische Prozesse komplizierter, weil im Zuge der Globalisierung Entscheidungen verlagert, territoriale Grenzen aufgeweicht und Gesellschaften komplexer werden. Dazu kommt, dass zahlreiche Regierungen in der Finanzkrise darin versagt haben, ihre Bürger vor Job- oder Wohnungsverlust zu schützen. Auch deswe- gen sind weltweit Protestbewegungen entstanden, die sich der Repräsenta- tionslogik verweigern. Sie besetzen Plätze, berufen Versammlungen ein und lehnen es ab, für jemanden zu sprechen oder jemanden für sich sprechen zu lassen. Diesen antirepräsentativen Reflex beobachtet Tormey bei Bewegun- gen wie den Zapatistas, Occupy Wall Street oder den spanischen Indignados. „Wir werden allmählich unrepräsentierbar“, folgert er. Dennoch beschreibt er solche Initiativen als Übergangsphänomene. Mit ihnen hielten inhaltliche Auseinandersetzungen wieder Einzug in die Poli- tik. Das wirke stellenweise „lärmend, zügellos“ und sei doch gleichzeitig „die Wiedererweckung der demokratischen Komponente der Demokratie“. Der Dreh- und Angelpunkt von Tormeys Analyse bleiben aber die Parteien: Diese werden keineswegs in der Versenkung verschwinden, sondern ihre Funktion ändern. Das zeigt der Politikwissenschaftler anhand einer Feldstu- die in Spanien, für die er im Sommer 2014 hunderte Aktivisten und Wissen- schaftler interviewt sowie an Versammlungen teilgenommen hat. Seit 2010 wurden dort nicht weniger als 490 neue Parteien gegründet, die zumeist nicht lange Bestand hatten. Über Facebookgruppen und Mailinglisten lassen sich Parteien derart einfach ins Leben rufen, dass diese den Charakter eines „Gebrauchsgegenstands“ annehmen. Sie werden verwendet, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen, ein bestimmtes Thema auf die Agenda zu setzen – nicht aber für den Griff nach der Macht. „Von der Repräsentation zur Resonanz“ nennt Tormey diesen Trend. Doch wie können all diese postrepräsentativen Akteure, die Anti-Parteien und Platzbesetzer ihre Forderungen durchsetzen? Tormey glaubt, die parla- mentarische Demokratie werde sich so weit wandeln, dass sie das gewach- sene Bedürfnis der Bürger nach Mitsprache integrieren könne. Hier fällt der Autor hinter seine starke These zurück: Wenn die politische Macht weiterhin über Wahlen verteilt wird, bleibt auch der Kern des repräsentativen Systems erhalten. Denn die politischen Entscheidungen werden dann wie gehabt von

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201604_Blaetter.indb 122 16.03.16 12:15 Buch des Monats 123

einer kleinen Gruppe gewählter Politiker getroffen. Dies stellt Tormey letzt- lich nicht infrage: Die Bürger können ihre Meinung lauter und entschiedener sagen als früher, sie können neue Parteien gründen, aber die politischen Ent- scheidungen bleiben den Repräsentanten überlassen. Bedenklich ist allerdings eine andere Leerstelle in Tormeys Argumenta- tion: Wenn es den Bürgern nun gelingt, genügend Resonanz für ein Anliegen zu erzeugen, so dass in ihrem Sinne entschieden wird – ist das dann auch legitim? Ein Land, dessen Regierung sich nicht mehr von Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen leiten lässt, sondern von der Lautstärke protestie- render Gruppen, unterscheidet sich nur unwesentlich von der „Demoskopie- demokratie“, die Richard von Weizsäcker schon 1992 anprangerte. Insofern verwundert es, dass Tormey bekannte Instrumente direkter und partizipa- tiver Demokratie, die bereits heute vielerorts genutzt werden, unbeachtet lässt. Volksbegehren, Bürgerhaushalte und Planungszellen sind zumindest auf subnationaler Ebene erprobte Verfahren. Mit ihrer Hilfe können Bürger eigene Themen auf die Agenda setzen und am Ende auch verbindlich – und demokratisch legitimiert – entscheiden, ohne eine Partei gründen zu müssen. Aber wer sind überhaupt diese Bürger, wer bildet das politische Subjekt der neuen postrepräsentativen Bewegungen? Das bleibt bei Tormey seltsam dif- fus. Er identifiziert sich mit einem bestimmten Typus des Engagierten, an den er seine Hoffnung auf eine Erneuerung der Demokratie knüpft: Ihm schwebt der politisch interessierte, gut informierte Bürger vor, der die neuen Medien zur Selbstorganisation nutzt und andere nicht in seinem Namen sprechen las- sen möchte. Tormey geht es um jene Menschen, die „mehr Kontrolle über das eigene Leben“ erlangen wollen. Sie handeln gemäß ihrer eigenen Wertvor- stellungen und lassen sich nicht mehr in das feste Normenkorsett einer tradi- tionellen Volkspartei zwängen. Doch woher kommen diese Werte, und sind sie immer geeignet, die Demokratie zu verteidigen? Tormeys Konzentration auf Spanien verstellt den Blick darauf, dass die führenden „Anti-Parteien“ im restlichen Europa meist von rechts kommen. Auch Pegida beispielsweise organisiert sich über soziale Medien und öffentliche Versammlungen, gibt sich anti-elitär und geht nach eigenem Verständnis gegen Unrecht auf die Straße. Damit passt Pegida zu Tormeys Vorstellung von post-repräsentativer Politik. Obendrein erzeugt diese Bewegung genau jene Resonanz, die der Politikwissenschaftler beschreibt: In der Flüchtlingspolitik treibt der rechte Rand die Bundesregierung seit Monaten vor sich her. Es ist also keineswegs ausgemacht, ob die neuen politischen Bewegungen die Demokratie erneu- ern – oder sie beschädigen. Um das beantworten zu können, müsste Tormey eine differenziertere Betrachtung unterschiedlicher Länder vornehmen. So überzeugendend Simon Tormey daher die Krise der Demokratie als Infragestellung der Repräsentation deutet, so widersprüchlich sind seine Lösungsangebote: Er lotet die Untiefen der Protestbewegungen nicht aus, und er zeigt sich unwillig, echte Änderungen am politischen System der westlichen Demokratien zu denken. Als Bestandsaufnahme ist sein Buch aber eine Bereicherung – weil es Optimismus ausstrahlt und vielfältige Denkanstöße liefert.

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201604_Blaetter.indb 123 16.03.16 12:15 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »5 Jahre Syrienkonflikt: Unterstützer der Kriegsparteien gießen Öl ins Feuer« Gemeinsamer Bericht von 30 Hilfsorganisationen, 11.3.2016 (engl. Originalfassung)

• »Flüchtlinge willkommen zu heißen, ist moralisch und politisch notwendig« Aufruf europäischer Intellektueller, 10.3.2016 (engl. Originalfassung)

• »Syrien: Eine Viertelmillion Kinder lebt wie im Freiluftgefängnis« Bericht von »Save the Children«, 9.3.2016 (engl. Originalfassung)

• »Mexikanischer Staat kann und will Menschenrechte nicht schützen« Bericht der Inter American Commission on Human Rights, 2.3.2016 (engl. Original- fassung)

• »Sichtbares Zeichen gegen Antiziganismus« Aufruf zum »Romaday« 2016, 29.2.2016

• »Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug« Bertelsmann Transformation Index 2016, 29.2.2016

• »Menschenrechte sind nicht verhandelbar« Aufruf von 60 Nichtregierungsorganisationen an Frankreichs Präsident Hollande, 26.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Versagen bei der Aufrechterhaltung des Völkerrechts« Amnesty Report 2015/16, 24.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Armut sinkt nicht entsprechend dem Wirtschaftswachstum« Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 23.2.2016.

• »Nie ist der Meeresspiegel so massiv gestiegen wie im letzten Jahrhundert« Studie im Wissenschaftsjournal »Proceedings« der US-Akademie der Wissenschaften, 22.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Zeit für eine andere Wirtschaftspolitik« Aufruf von 80 französischen Ökonomen zur Überwindung der Eurokrise, 22.2.2016

• »Waffenhandel nimmt weltweit zu« Bericht des Friedensforschungsinstituts SIPRI, 22.2.2016

• »Das Ende von Schengen würde Deutschland 77 Mrd. Euro kosten« Studie der Prognos AG, 19.2.2016

• »Eine wachstumsfördernde Politik ist nötig« Wirtschaftsausblick der OECD, 18.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Die Atomkatastrophe von Fukushima ist noch lange nicht vorbei« Report der IPPNW, 17.2.2016

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201604_Blaetter.indb 124 16.03.16 12:15 Chronik des Monats Februar 2016

1.2. – UNO. Generalsekretär Ban Ki Moon Klinik, die von der Hilfsorganisation „Ärzte fordert den Iran und Saudi-Arabien auf, ihren ohne Grenzen“ (MSF) unterstützt wird. Die Einfluss geltend zu machen, um die Lage im Organisation spricht von einem anschei- Nahen Osten zu beruhigen. Beide sollten nend „gezielten Angriff“. Für die Attacke „Realismus, Verantwortung und Kompro- seien entweder russische oder syrische Re- misse“ in ihre Beziehungen bringen. – Am gierungstruppen verantwortlich, Moskau 4.2. werden den Vereinten Nationen auf einer weist die Vorwürfe zurück. – Am 17.2. for- Geberkonferenz in London Gelder in Höhe dert der stellvertretende türkische Regie- von insgesamt neun Mrd. US-Dollar zur Hil- rungschef Yalcin Akdogan die Einrichtung fe für syrische Flüchtlinge und Kriegsopfer einer „Schutzzone“ für Flüchtlinge: „Wir zugesagt. – Am 29.2., kurz vor Beginn seiner wollen eine zehn Kilometer lange Sicher- Sitzung in Genf, warnt der UN-Menschen- heitslinie in Syrien ziehen“, die mehreren rechtsrat vor nationalen Alleingängen in der hunderttausend Menschen auf syrischem Flüchtlingsfrage. Migration und Flucht erfor- Boden Schutz vor Verfolgung bieten und so derten eine weltweite Teilung der Verantwor- eine weitere Massenflucht in die Türkei und tung. Immer höhere Mauern zu bauen, sei ein nach Europa verhindern kann. Bundeskanz- Akt der Grausamkeit und Selbsttäuschung. lerin Merkel befürwortet vor dem 1.-3.2. – Syrien-Konflikt. Unter Beteiligung eine Flugverbotszone in Syrien. – Am 23.2. der Assad-Regierung und verschiedener setzt Präsident Assad Parlamentswahlen in Oppositionsgruppen werden in Genf die den von der Regierung kontrollierten Gebie- Vorbereitungen für die geplante Friedens- ten für den 13. April d.J. an. – Am 27.2. tritt konferenz fortgesetzt (vgl. „Blätter“, 3/2016, eine zwischen den USA und Russland aus- S. 126). Koordinator ist der UN-Sonderbe- gehandelte befristete Waffenruhe für einige auftragte Staffan de Mistura. In Syrien set- Teile Syriens in Kraft, um humanitäre Hilfe zen Regierungstruppen ihren Vormarsch in belagerte Städte zu bringen. Der bewaff- gegen die Stadt Aleppo fort. – Am 11.2. tagt nete Kampf gegen den Islamischen Staat die Syrien-Kontaktgruppe am Rande der (IS) und andere Terrororganisationen soll Münchener Sicherheitskonferenz. Neben weitergehen. den Außenministern Kerry (USA) und Law- 2.2. – Griechenland. Proteste gegen die ge- row (Russland) sowie den Außenministern plante Rentenreform und massive Steuer- der Regionalmächte Iran und Saudi-Ara- erhöhungen gehen weiter, Rechtsanwälte bien nehmen Vertreter der Vereinten Natio- und Notare setzen ihren seit 15 Tagen an- nen, der Arabischen Liga und der Organisa- dauernden Streik fort. Zum 4.2. wird zum tion für Islamische Zusammenarbeit an der Generalstreik aufgerufen. – Am 9.2. lehnt Sitzung teil. In einer Abschlusserklärung Ministerpräsident Tsipras in einem Tele- werden erste Maßnahmen zur Eindämmung fonat mit Bundeskanzlerin Merkel die An- der Gewalt in Syrien angekündigt. „Wir ken- forderung von Nato-Truppen zur Grenz- nen die Erfahrungen der Vergangenheit“, sicherung in der Ägäis ab. Patrouillen der erklärt Bundesaußenminister Steinmeier, Allianz in griechischen Gewässern und im „deshalb spreche ich heute nicht von einem griechischen Luftraum verletzten die Sou- Durchbruch“. – Am 13.2. beginnt die türki- veränität seines Landes. Athen wendet sich sche Armee von türkischem Boden aus mit auch gegen gemeinsame Patrouillen mit der Artilleriebeschuss von Stellungen der Kur- türkischen Küstenwache. den im Norden Syriens; die Türkei betrach- 3.2. – Frankreich. Die Regierung verlän- tet die mit der Arbeiterpartei Kurdistans gert den nach den Anschlägen von Paris im PKK verbündeten bewaffneten Gruppen November v.J. eingeführten Ausnahmezu- als Terrororganisationen. – Am 15.2. wer- stand um weitere drei Monate (vgl. „Blätter“, den aus den syrischen Provinzen Idlib und 1/2016, S. 126 und 3/2016, S. 127). Die Behör- Aleppo Luftangriffe auf fünf Krankenhäuser den sollen im Kampf gegen den Terrorismus und zwei Schulen gemeldet, darunter eine dauerhaft erweiterte Befugnisse erhalten.

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201604_Blaetter.indb 125 16.03.16 12:15 126 Chronik

3.-4.2. – Russland/BRD. Bayerns Minister- werde sich aus der bisher gemeinsam betrie- präsident und CSU-Vorsitzender Seehofer benen Wirtschaftszone Kaesong zurückzie- wird in Moskau von Präsident Putin empfan- hen und den Industriepark schließen. gen. An dem Gespräch nimmt auch der frü- 8.2. – Türkei/BRD. Bundeskanzlerin Merkel here bayerische Regierungschef Stoiber teil. bemüht sich im Gespräch mit Regierungs- Seehofer bezeichnet Kritiker als „Dumm- chef Davutoglu in Ankara um die Unterstüt- schwätzer“, die Reise nach Moskau sei mit zung der Türkei bei der Eindämmung des Bundeskanzlerin Merkel und Außenminis- Flüchtlingsstroms in Richtung Westeuropa. ter Steinmeier abgesprochen. Zu den Vorschlägen gehören gemeinsame 4.2. – Schweden. Die Regierung begrenzt Einsätze deutscher und türkischer Polizis- den Zuzug von Flüchtlingen im laufenden ten, eine engere Zusammenarbeit der euro- Jahr. Migrationsminister Morgan Johans- päischen Grenzschutzagentur Frontex mit son: „Wir werden uns nicht in die Notlage der türkischen Küstenwache und die Ein- bringen lassen, in der wir im vergangenen beziehung der Nato bei der Überwachung Herbst waren.“ der See und im Kampf gegen die Schlepper. 5.2. – Österreich. Außenminister Sebas- Die Bundeskanzlerin schließt sich der türki- tian Kurz spricht sich dafür aus, Flüchtlinge schen Kritik an den russischen Bombenan- von der Balkanroute notfalls mit Soldaten griffen auf die syrische Opposition und den abzuhalten. Man wolle, so Kurz vor den damit verbundenen zivilen Opfern an. EU-Außenministern in Amsterdam, bei 10.-11.2. – Nato. Auf Antrag Deutschlands den Partnern militärisch-polizeiliche Mis- und der Türkei stimmen die Verteidigungs- sionen ansprechen, Soldaten könnten sich minister in Brüssel dem Mandat für eine um Grenzsicherung und Registrierung von Marineoperation in der Ägäis zu. Ein ständi- Flüchtlingen kümmern. – Am 19.2. verfügt ger maritimer Einsatzverband soll mit Infor- die Regierung schärfere Grenzkontrollen mationen über Schlepper die zuständigen und legt neue Obergrenzen für Flüchtlinge Küstenwachen unterstützen. Ziel müsse es fest (vgl. „Blätter“, 3/2016, S. 127). Künftig sein, so Bundesverteidigungsministerin von sollen täglich nur noch 80 Asylanträge an- der Leyen, „das perfide Geschäft“ der Men- genommen werden, nur 3200 Flüchtlingen schenschmuggler zu erschweren oder un- werde pro Tag die Durchreise nach Deutsch- möglich zu machen. Es gehe um eine stärke- land erlaubt. – Am 24.2. findet in Wien eine re „Seeraumüberwachung“. Außerdem wird Konferenz mit Regierungsvertretern der beschlossen, die Präsenz in Osteuropa mas- Länder der „Balkanroute“ über die anhal- siv auszubauen, um Russland von einem tenden Flüchtlingsbewegungen statt. Ver- Angriff auf die östlichen Bündnispartner ab- treter Griechenlands, Deutschlands sowie zuschrecken. Eine Grundsatzentscheidung der Europäischen Union sind nicht einge- sieht vor, durch Übungen und vorüberge- laden, was in Athen, Berlin und Brüssel auf hende Stationierungen die Truppenstärken heftige Kritik stößt. zu erhöhen, zusätzliches Rüstungsmaterial 7.2. – Korea. Einen Monat nach den Tests in der Region zu lagern und die Infrastruk- mit einer Wasserstoffbombe (vgl. „Blätter“, tur auszubauen. 3/2016, S. 125) meldet die Volksrepublik 12.2. – Vatikan. Papst Franziskus trifft auf Korea (Nordkorea) den Start einer Lang- dem Flughafen der kubanischen Hauptstadt streckenrakete, die einen Satelliten auf eine Havanna mit dem Metropoliten von Mos- Erdumlaufbahn bringt. Zur Kritik aus dem kau, Kyrill, zusammen. Beobachter nennen Ausland heißt es in Pjöngjang, Nordkorea die erste Begegnung eines Oberhauptes der habe das Recht, das Weltall „friedlich und römisch-katholischen Kirche mit dem Pat- unabhängig“ zu nutzen. Der Raketenstart riarchen der russisch-orthodoxen Kirche mit sei aber auch ein „Durchbruch bei der Stei- Blick auf die Kirchenspaltung vor fast eintau- gerung der nationalen Verteidigungsfähig- send Jahren (Schisma) ein historisches Ereig- keit“. Die amerikanische UN-Botschafterin nis, mit dem Kirchengeschichte geschrieben Power fordert zu den „bisher härtesten Sank- werde. Die Welt, so heißt es in einer gemein- tionen“ gegen Nordkorea auf und kündigt samen Erklärung, erwarte „von uns nicht nur Verhandlungen zu diesem Thema insbeson- Worte, sondern auch konkrete Taten“. dere mit der Volksrepublik China an. Die 12.-14.2. – Münchener Sicherheitskonfe- südkoreanische Regierung kündigt an, man renz. Auf der jährlichen hochrangig be-

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201604_Blaetter.indb 126 16.03.16 12:15 Chronik 127

setzten Konferenz werden die zunehmen- Humanität zeigen, sei ihre Devise. Auf eine den Spannungen mit Russland besonders entsprechende Frage antwortet die Bundes- deutlich. Ministerpräsident Medwedjew kanzlerin: „Nein, ich steuere nicht um, weil und Außenminister Lawrow werfen den ich zutiefst überzeugt bin, dass der Weg, den USA, Europa und der Nato vor, sämtliche ich eingeschlagen habe, der richtige ist.“ Es Kommunikationskanäle gekappt zu haben, gebe keinen „Plan B“. Griechenland brau- um Russland zu missachten und zu isolie- che für die Bewältigung der großen Zahl von ren. Die Rede ist von einem zweiten „Kalten Flüchtlingen Unterstützung. Wir haben das Krieg“ (Medwedjew). Der ukrainische Präsi- Land nicht im Euro gehalten, so Merkel, um dent Poroschenko beschuldigt Moskau der es jetzt im Chaos versinken zu sehen. ungezügelten Aggression, Russland wolle – Türkei. Im Zentrum von Ankara ex- Europa destabilisieren. plodiert eine Autobombe mit verheerenden 15.2. – EU. Bosnien-Herzegowina beantragt Folgen. Der Anschlag richtet sich gegen in Brüssel die Aufnahme in die Europäische einen vorbeifahrenden Militärkonvoi. Nach Union. Erweiterungskommissar Hahn erläu- Angaben der Behörden gibt es fast 30 Tote tert, der Beitritt sei nicht in einigen Monaten und 60 Verletzte. Präsident Erdogan macht oder wenigen Jahren zu erreichen, es gehe die verbotene PKK verantwortlich und kün- um eine konkrete europäische Perspektive. digt Vergeltung an. Die PKK weist die An- Zunächst strebt Bosnien-Herzegowina den schuldigungen zurück. offiziellen Kandidatenstatus an, den bisher 20.2. – Großbritannien. Nach der Einigung Serbien, Montenegro, Mazedonien, Alba- mit den übrigen 27 Partnern über einen Son- nien und die Türkei besitzen. – Am 18./19.2. derstatus für Großbritannien in der Europäi- findet in Brüssel ein Gipfel statt. Die 28 Re- schen Union setzt sich Premierminister Ca- gierungschefs einigen sich nach zähen Ver- meron für die weitere EU-Mitgliedschaft sei- handlungen auf Modalitäten der künftigen nes Landes ein. Die Bevölkerung soll darüber Mitgliedschaft Großbritanniens. Ein „Brexit“ am 23. Juni d.J. abstimmen. „Mit Herz und soll unbedingt vermieden werden. Seele“, betont Cameron, werde er für einen – Visegrád-Gruppe. Auf einer Zu- Verbleib in der EU kämpfen. Nicht etwa, weil sammenkunft der Regierungschefs Polens, er Brüssel liebe, sondern weil er Großbri- Ungarns, Tschechiens und der Slowakei in tannien liebe. Die „Neue Zürcher Zeitung“ Prag aus Anlass des 25. Jahrestages der am schreibt, Cameron könne jetzt argumen- 15. Februar 1991 in der ungarischen Stadt tieren, Großbritannien werde auch künftig Visegrád gegründeten Gruppe wenden sich „nie Teil des Euro, von Schengen oder eines die Teilnehmer (V4) gegen Quoten zur Ver- europäischen Superstaats“ werden. teilung von Flüchtlingen in Osteuropa. Der 25.2. – Bundestag. Das Parlament verab- slowakische Ministerpräsident Fico nennt schiedet mit der Mehrheit der Großen Ko- einen EU-Beschluss ein „Diktat Berlins“. alition gegen die Stimmen der Opposition Man wolle keine Ghettos mit anderen Reli- Verschärfungen des geltenden Asylrechts, gionen und Kulturen. insbesondere beim Familiennachzug für 17.2. – Bundesregierung. In einer Regie- Flüchtlinge und Asylbewerber. Das Asylpa- rungserklärung vor dem Bundestag am ket II wird nach heftiger Debatte in nament- Vorabend eines EU-Gipfels in Brüssel ver- licher Abstimmung mit 429 gegen 147 Stim- teidigt Bundeskanzlerin Merkel ihren Kurs men bei vier Enthaltungen angenommen. in der Flüchtlingspolitik. Sie halte es wei- Aus der SPD-Fraktion kommen 30 Nein- terhin für richtig, Schutzsuchende an den Stimmen. europäischen Grenzen nicht zurückzuwei- 28.2. – Schweiz. In einem Volksentscheid sen, eine Schließung der deutsch-österrei- scheitert eine weitere Verschärfung des chischen Grenze für Flüchtlinge lehne sie Ausländerrechts, die eine sofortige „Aus- ebenso ab wie ähnliche Maßnahmen an der schaffung“ straffälliger Ausländer auch bei griechischen Grenze zu Mazedonien und geringen Vergehen ohne richterliche Über- Bulgarien. Abschottung könne nicht die prüfung und Härtefallklausel ermöglichen Antwort auf die Herausforderungen sein. sollte. Die von der Schweizerischen Volks- Merkel äußert sich ausführlich am 28.2. in partei (SVP) betriebene „Durchsetzungsini- einem Fernsehinterview. Man müsse Ge- tiative“ wird mit der deutlichen Mehrheit duld haben, Europa zusammenhalten und von fast 60 Prozent abgelehnt.

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201604_Blaetter.indb 127 16.03.16 12:15 Zurückgeblättert...

An das Reaktorunglück in Tschernobyl am 26. April vor 30 Jahren erinnern wir mit dem wegweisenden Text von Hermann Scheer: Sonne oder Atom. Der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts, in: »Blätter«, 4/2006, S. 449-455.

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201604_Blaetter.indb 128 16.03.16 12:15 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Susanna Böhme-Kuby, geb. 1947 in Michael R. Krätke, geb. 1950 in Lüne- Hamburg, Dr. phil., Literaturwissen- burg, Dr. rer. pol., Professor für Poli- schaftlerin und Publizistin, lebt und tische Ökonomie an der Universität schreibt meist in Venedig/Italien. Lancaster/Großbritannien.

Michael J. Brenner, geb. 1941 in New Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- York, Politikwissenschaftler, Prof. em. gelheim am Rhein, Jurist und Politik- für Internationale Beziehungen an der wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Universität Pittsburgh/USA. Jan-Werner Müller, geb. 1970, Dr. James W. Carden, Politikwissen- phil., Politikwissenschaftler, Professor schaftler, freier Journalist in Washing- für Politische Theorie und Ideenge- ton D.C., u.a. für „The Nation“. schichte an der Universität Princeton/ USA. Marcel Fratzscher, geb. 1971 in Bonn, Ph.D., Ökonom, Professor für Makro- Lars Niggemeyer, geb. 1975 in Pader- ökonomie an der HU Berlin, Präsi- born, Sozialwissenschaftler, Abtei- dent des Deutschen Instituts für Wirt- lungsleiter Arbeitsmarkt- und Beschäf- schaftsforschung. tigungspolitik des DGB-Bezirks Nie- dersachsen/Bremen/Sachsen-Anhalt. Christian Füller, geb. 1963 in Mün- chen, Politikwissenschaftler, Journa- Anne-Marie Slaughter, geb. 1958 in list und Autor. Charlottesville/USA, J.D. und Ph.D., Juristin und Politikwissenschaftlerin, Edgar Göll, geb. 1957 in Wetzlar, Dr. ehem. Leiterin des Planungsstabs im disc. soc., Soziologe und Verwaltungs- US-Außenministerium, Präsidentin wissenschaftler, als Zukunftsforscher des Think Tanks New America in Wa- in Berlin in Forschung und Lehre tätig. shington D. C.

Stefan Grönebaum, geb. 1962 in Düs- Frank Überall, geb. 1971 in Leverku- seldorf, Historiker, Referatsleiter im sen, Politik- und Medienwissenschaft- Wirtschaftsministerium des Landes ler, Journalist, Bundesvorsitzender Nordrhein-Westfalen. des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Robert Habeck, geb. 1969 in Lübeck, Dr. phil., Philosoph, Energieminister Barbara Unmüßig, geb. 1956 in Frei- in Schleswig-Holstein (für Bündnis burg im Breisgau, Politikwissen- 90/Die Grünen). schaftlerin, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. Evi Hartmann, geb. 1974 in Burghau- sen, Dr.-Ing., Professorin für Supply Neelke Wagner, geb. 1978 in Winsen/ Chain Management an der Universität Luhe, Politikwissenschaftlerin, Re- Erlangen-Nürnberg. dakteurin bei Mehr Demokratie e.V.

Bärbel Höhn, geb. 1952 in Flensburg, Alena Wagnerová, geb. 1936 in Mathematikerin, MdB (Bündnis 90/ Brünn/Tschechoslowakei, Schriftstel- Die Grünen), Umweltministerin a.D. lerin, Übersetzerin und Publizistin, in Nordrhein-Westfalen. lebt in Saarbrücken und Prag.

Martin Koch, geb. 1966 in Kassel, So- Kevin Watkins, Ph.D., Sozialwissen- zialwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter schaftler, Direktor des Overseas Deve- an der Universität Hannover. lopment Institute in London.

Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Wochenzeitung »der Freitag«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

201604_Umschlag_innen.indd 1 16.03.16 11:47 201604_Umschlag_außen.indd 1 der Blätterder internationale und für deutsche Politik 2016 LECTURE DEMOCRACY NACH DEM NACH KAPITALIS MASON U ?! MUS PAUL Friederike Habermann DeGrowth-Expertin Haus der Kulturen der Welt, Berlin Welt, der Kulturen der Haus Chaos Computer Club Computer Chaos Rieger Frank www.blaetter.de Moderation: Moderation: Hans-Jürgen Urban Hans-Jürgen Vortrag und Debatte mit: mit: Debatte und Vortrag 5. April 2016, 19 Uhr 2016, April 5. Eintritt frei Eintritt Mathias Greffrath IG Metall IG

Blätter 4’16 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Anne-Marie Slaughter Anne-Marie Das kleinere Übel? kleinere Das Clinton vs. Trump: der Mutterschaft der Michael Brenner James Carden Carden James Der Preis Der internationale deutsche und Blätter für Politik

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