Plenarprotokoll 19/186

Deutscher

Stenografischer Bericht

186. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Inhalt:

Begrüßung des neuen Abgeordneten Tagesordnungspunkt 8: ...... 23351 A a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl der Abgeordneten zum Mit- Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgre- glied des Beirats der Schlichtungsstelle für miums gemäß § 10a Absatz 2 der Bun- den öffentlichen Personenverkehr ...... 23351 B deshaushaltsordnung Wahl der Abgeordneten Dr. Drucksache 19/22318 ...... 23378 C und zu Mitgliedern des Ver- b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: waltungsrates der Kreditanstalt für Wie- Wahl von Mitgliedern des Gremiums deraufbau ...... 23351 B gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge- Wahl des Abgeordneten als setzes Schriftführer ...... 23351 B Drucksache 19/22319 ...... 23378 C Änderungen der Tagesordnung ...... 23351 B c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl von Mitgliedern des Sondergre- miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabili- Zusatzpunkt 3: sierungsmechanismusgesetzes Drucksache 19/22320 ...... 23378 C Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Bewältigung der Covid- Wahlen ...... 23379 A 19-Pandemie Dr. , Bundeskanzlerin ...... 23351 D Ergebnisse ...... 23442 A, 23442 B Dr. (AfD) ...... 23357 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 23358 C Zusatzpunkt 4: (FDP) ...... 23360 A Antrag der Abgeordneten , (CDU/CSU) ...... 23362 A Christine Aschenberg-Dugnus, Stephan (DIE LINKE) ...... 23364 D Thomae, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Infektionsschutzmaßnahmen Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ auf eine klare gesetzliche Grundlage stel- DIE GRÜNEN) ...... 23366 D len – Demokratie und Parlamentarismus Malu Dreyer, Ministerpräsidentin (Rheinland- stärken Pfalz) ...... 23368 D Drucksache 19/23689 ...... 23379 B Sebastian Münzenmaier (AfD) ...... 23370 C Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 23379 B (CDU/CSU) ...... 23371 D (CDU/CSU) ...... 23380 B Bärbel Bas (SPD) ...... 23373 C Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 23381 A (CDU/CSU) ...... 23374 D (AfD) ...... 23382 A Dr. (fraktionslos) ...... 23376 A (SPD) ...... 23383 A (CDU/CSU) ...... 23377 A (DIE LINKE) ...... 23383 D II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 23395 C DIE GRÜNEN) ...... 23385 D (FDP) ...... 23396 B Dr. (CDU/CSU) ...... 23386 D Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 23397 A Jörg Schneider (AfD) ...... 23387 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. (SPD) ...... 23388 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 23397 D Konstantin Kuhle (FDP) ...... 23389 C (CDU/CSU) ...... 23398 C (fraktionslos) ...... 23390 B Jürgen Dusel, Beauftragter der (CDU/CSU) ...... 23391 A Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ...... 23399 B (SPD) ...... 23391 D Dr. (CDU/CSU) ...... 23400 B (CDU/CSU) ...... 23392 C

Tagesordnungspunkt 11: Tagesordnungspunkt 9: a) – Zweite und dritte Beratung des von der a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bundesregierung eingebrachten Ent- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur zes zur Änderung des Gesetzes gegen steuerlichen Entlastung von Familien Wettbewerbsbeschränkungen für ein sowie zur Anpassung weiterer steuer- fokussiertes, proaktives und digitales licher Regelungen (Zweites Familien- Wettbewerbsrecht 4.0 und anderer entlastungsgesetz – 2. FamEntlastG) wettbewerbsrechtlicher Bestimmungen Drucksachen 19/21988, 19/22815, (GWB-Digitalisierungsgesetz) 19/23054 Nr. 10, 19/23795 ...... 23393 C Drucksache 19/23492 ...... 23401 C – Bericht des Haushaltsausschusses b) Antrag der Abgeordneten , gemäß § 96 der Geschäftsordnung , , weiterer Drucksache 19/23796 ...... 23393 C Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- KE: Wettbewerbsrecht 4.0 – Digitales b) – Zweite und dritte Beratung des von der Monopoly beenden Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksache 19/23698 (neu) ...... 23401 D wurfs eines Gesetzes zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und c) Antrag der Abgeordneten Katharina zur Anpassung weiterer steuerlicher Dröge, Dr. , Anja Regelungen Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Drucksachen 19/21985, 19/22816, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 19/23054 Nr. 11, 19/23793 ...... 23393 C Internetgiganten zähmen – Fairen Wett- bewerb für digitale Plattformen herstel- – Bericht des Haushaltsausschusses len gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/23701 ...... 23401 D Drucksache 19/23797 ...... 23393 D d) Antrag der Abgeordneten Katharina c) Beschlussempfehlung und Bericht des Dröge, Tabea Rößner, , weite- Finanzausschusses zu dem Antrag der Ab- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- geordneten , , NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- Dr. Lukas Köhler, weiterer Abgeordneter schutz und fairen Wettbewerb stärken und der Fraktion der FDP: Steuerliche Drucksache 19/23705 ...... 23402 A Entlastung von Menschen mit Behinde- rung Drucksachen 19/18947, 19/23793 ...... 23393 D in Verbindung mit in Verbindung mit Zusatzpunkt 5: Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 22: Michael Theurer, , weiterer Antrag der Abgeordneten Christian Dürr, Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für , , weiterer Ab- ein selbstbewusstes und wachstumsorien- geordneter und der Fraktion der FDP: Han- tiertes Wettbewerbsrecht auf digitalen deln statt Reden – Kleine und mittlere Ein- Märkten kommen dauerhaft entlasten Drucksache 19/23688 ...... 23402 A Drucksache 19/23693 ...... 23393 D Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parl. (SPD) ...... 23394 A Staatssekretärin BMWi ...... 23402 A (AfD) ...... 23394 D Leif-Erik Holm (AfD) ...... 23402 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 III

Falko Mohrs (SPD) ...... 23403 C Zusatzpunkt 6: Michael Theurer (FDP) ...... 23404 B Antrag der Abgeordneten Dr. , Michael Theurer, Grigorios Pascal Meiser (DIE LINKE) ...... 23405 A Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Cannabis-Modellprojekte Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ ermöglichen DIE GRÜNEN) ...... 23405 D Drucksache 19/23691 ...... 23409 B Dr. (CDU/CSU) ...... 23406 D in Verbindung mit Dr. (SPD) ...... 23407 C Zusatzpunkt 7: Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 23408 B Antrag der Abgeordneten Dr. Wieland Schinnenburg, Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Medizinalcannabis- Anbau zum Export ermöglichen Tagesordnungspunkt 12: Drucksache 19/23690 ...... 23409 C a) Zweite und dritte Beratung des von den (CDU/CSU) ...... 23409 C Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert- (AfD) ...... 23411 A Gonther, Katja Dörner, Maria Klein- Schmeink, weiteren Abgeordneten und (SPD) ...... 23412 B der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Wieland Schinnenburg (FDP) ...... 23413 C eingebrachten Entwurfs eines Cannabis- (DIE LINKE) ...... 23414 D kontrollgesetzes (CannKG) Drucksachen 19/819, 19/23606 ...... 23409 A Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23416 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 23417 D Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. , Dr. (FDP) ...... 23418 D Detlev Spangenberg, Paul Viktor Podolay, Martina Stamm-Fibich (SPD) ...... 23419 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Medizinalcannabis auf eine Alexander Krauß (CDU/CSU) ...... 23420 B wissenschaftliche Grundlage stellen – Niema Movassat (DIE LINKE) ...... 23421 B Verfahren im Arzneimittelmarktneuor- Uli Grötsch (SPD) ...... 23422 B dungsgesetz zur Nutzenbewertung und Preisfindung anwenden, Anwendungssi- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU) ...... 23423 A cherheit verbessern und Krankenkassen entlasten Drucksachen 19/8278, 19/10370 Buchsta- Tagesordnungspunkt 34: be a ...... 23409 A a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Roman Johannes Reusch, Volker Münz, c) Beschlussempfehlung und Bericht des , weiteren Abgeordneten Ausschusses für Gesundheit zu dem An- und der Fraktion der AfD eingebrachten trag der Abgeordneten Jan Korte, Niema Entwurfs eines Gesetzes über die Grund- Movassat, , weiterer sätze zur Ablösung der Staatsleistungen Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- an Religionsgesellschaften (Staatsleis- KE: Gesundheitsschutz statt Strafverfol- tungsablösungsgesetz – StAblG) gung – Für einen progressiven Umgang Drucksache 19/19649 ...... 23425 A mit Cannabiskonsum Drucksachen 19/832, 19/13098 ...... 23409 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Alexander S. Neu, Heike Hänsel, d) Antrag der Abgeordneten Niema Gökay Akbulut, weiteren Abgeordneten Movassat, Dr. André Hahn, Gökay und der Fraktion DIE LINKE eingebrach- Akbulut, weiterer Abgeordneter und der ten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Fraktion DIE LINKE: Gleichstellung derung des Grundgesetzes und des von cannabis- und alkoholkonsumieren- Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – den Führerscheininhaberinnen und Einführung eines Verfahrens zur recht- Führerscheininhabern lichen Überprüfung von Beschlüssen des Drucksache 19/17612 ...... 23409 B Deutschen Bundestages und Eilentschei- dungen der Bundesregierung zur Ent- sendung der Bundeswehr ins Ausland in Verbindung mit Drucksache 19/22726 ...... 23425 B IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 c) Erste Beratung des von der Bundesregie- k) Antrag der Abgeordneten Franziska rung eingebrachten Entwurfs eines Sieb- Gminder, , Jürgen Braun, zehnten Gesetzes zur Änderung des Arz- weiterer Abgeordneter und der Fraktion neimittelgesetzes der AfD: Neuanlage von Hecken als Drucksache 19/23159 ...... 23425 B Bestandteile von modernen Agroforst- systemen fördern d) Erste Beratung des von der Bundesre- Drucksache 19/23713 ...... 23426 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Ergän- l) Antrag der Abgeordneten , zungszuweisungen des Bundes nach , , § 11 Absatz 4 des Finanzausgleichsgeset- weiterer Abgeordneter und der Fraktion zes und zur Beteiligung des Bundes an der AfD: Agroforstsysteme als ein nach- den flüchtlingsbezogenen Kosten der haltiges Anbausystem anerkennen und Länder fördern Drucksache 19/23481 ...... 23425 B Drucksache 19/23726 ...... 23426 A e) Erste Beratung des von der Bundesregie- m) Antrag der Abgeordneten , rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Marc Bernhard, Stephan Brandner, weite- setzes zur Änderung des Justizkosten- rer Abgeordneter und der Fraktion der und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts AfD: Der Arbeitsrealität Rechnung tra- (Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 – gen – Home-Office wieder absetzbar KostRÄG 2021) machen Drucksache 19/23484 ...... 23425 C Drucksache 19/23725 ...... 23426 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- n) Antrag der Abgeordneten Dr. Götz rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Frömming, Marc Bernhard, , zes zu dem Übereinkommen vom 5. Mai weiterer Abgeordneter und der Fraktion 2020 zur Beendigung bilateraler Investi- der AfD: Analphabetismus in Deutsch- tionsschutzverträge zwischen den Mit- land beseitigen – Schluss mit zweifelhaf- gliedstaaten der Europäischen Union ten Lehrmethoden in der Schule Drucksache 19/23485 ...... 23425 C Drucksache 19/23729 ...... 23426 B g) Erste Beratung des von der Bundesregie- o) Erste Beratung des von den Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Daniel Föst, Markus Herbrand, Christian zes zur Durchführung der Verordnung Dürr, weiteren Abgeordneten und der (EU) 2019/1148 des Europäischen Parla- Fraktion der Fraktion der FDP eingebrach- ments und des Rates vom 20. Juni 2019 ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- über die Vermarktung und Verwendung rung des Einkommensteuergesetzes zur von Ausgangsstoffen für Explosivstoffe, Vermeidung steuerlicher Benachteili- zur Änderung der Verordnung (EG) gung bei sozial verträglicher Vermie- Nr. 1907/2006 und zur Aufhebung der tung Verordnung (EU) Nr. 98/2013 Drucksache 19/23677 ...... 23426 B Drucksache 19/23565 ...... 23425 C h) Antrag der Abgeordneten Dr. Achim in Verbindung mit Kessler, , Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lebenslangen Bin- dungszwang an private Krankenversi- Zusatzpunkt 8: cherungen abschaffen a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Drucksache 19/14371 ...... 23425 D Konstantin Kuhle, Roman Müller-Böhm, i) Antrag der Abgeordneten , Dr. Jens (Rhein-Neckar), Dr. Konstantin von Notz, , weiteren Abgeordneten und der Fraktion weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aktive Gesetzes zur Anpassung des aktiven Nutzungspflicht des besonderen elekt- Wahlrechts (Wahlalteranpassungsge- ronischen Anwaltspostfaches weiter setz) zurückstellen Drucksache 19/23687 ...... 23426 C Drucksache 19/23153 ...... 23425 D b) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, j) Antrag der Abgeordneten Martin Erwin , Dr. , Renner, Marc Bernhard, Petr Bystron, wei- weiterer Abgeordneter und der Fraktion terer Abgeordneter und der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vertrag AfD: Einsetzung einer Enquetekommis- über den Offenen Himmel aufrechter- sion – Für eine neue Rundfunkordnung halten Drucksache 19/23728 ...... 23426 A Drucksache 19/20788 ...... 23426 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 V c) Antrag der Abgeordneten Sebastian b)–j) Beratung der Beschlussempfehlungen Münzenmaier, Marc Bernhard, Petr des Petitionsausschusses: Sammelüber- Bystron, weiterer Abgeordneter und der sichten 648, 649, 650, 651, 652, 653, Fraktion der AfD: Tourismusgipfel im 654, 655 und 656 zu Petitionen Kanzleramt jetzt Drucksachen 19/23188, 19/23189, Drucksache 19/23727 ...... 23426 D 19/23190, 19/23191, 19/23192, 19/23193, d) Antrag der Abgeordneten , 19/23194, 19/23195, 19/23196 ...... 23427 D , Renata Alt, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Spiele und Spieleautoren würdigen – Rechtli- Tagesordnungspunkt 13: che und vergütungsrechtliche Rahmen- a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: bedingungen verbessern Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums Drucksache 19/23682 ...... 23426 D der „Stiftung Denkmal für die ermorde- e) Antrag der Abgeordneten , ten Juden Europas“ , Dr. , Drucksache 19/22321 ...... 23428 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: der FDP: Einsatz neuer Züchtungsme- Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums thoden ermöglichen der „Bundesstiftung Magnus Hirsch- Drucksache 19/23694 ...... 23426 D feld“ f) Antrag der Abgeordneten Karlheinz Drucksache 19/22322 ...... 23428 D Busen, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Hocker, weiterer Abgeordneter und der Wahl der Mitglieder des Kuratoriums Fraktion der FDP: Afrikanische Schwei- der Stiftung „Deutsches Historisches nepest effektiv aufhalten Museum“ Drucksache 19/23683 ...... 23427 A Drucksache 19/22323 ...... 23428 D g) Antrag der Abgeordneten Konstantin d) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Kuhle, Manuel Höferlin, , Wahl der Mitglieder des Kuratoriums weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- der FDP: Freiheit und Sicherheit schüt- tung und Zukunft“ zen – Für eine Überwachungsgesamt- Drucksache 19/22324 ...... 23429 A rechnung statt weiterer Einschränkun- gen der Bürgerrechte e) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Drucksache 19/23695 ...... 23427 A Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver- h) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- söhnung“ gemäß § 19 Absatz 2 Satz 1 Rosenheimer, Dr. , Kai Nummer 1 des Gesetzes zur Errichtung Gehring, weiterer Abgeordneter und der einer Stiftung „Deutsches Historisches Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Museum“ Alphabetisierung und Grundbildung – Drucksache 19/22325 ...... 23429 A Jeder Mensch soll lesen können Drucksache 19/23703 ...... 23427 B f) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitgliedes des Kurato- in Verbindung mit riums des Deutschen Instituts für Men- schenrechte gemäß § 6 Absatz 2 Num- Tagesordnungspunkt 34: mer 4 und 5 des Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deut- p) Antrag der Abgeordneten , schen Instituts für Menschenrechte Christine Aschenberg-Dugnus, Christian (DIMRG) Dürr, weiterer Abgeordneter und der Frak- Drucksache 19/22326 ...... 23429 B tion der FDP: Durch Insolvenz des Rezeptabrechners AvP betroffene Apo- g) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: theken schnell finanziell unterstützen Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates Drucksache 19/23681 ...... 23427 B der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ Drucksache 19/22327 ...... 23429 B Tagesordnungspunkt 35: a) Beratung der Beschlussempfehlung des Zusatzpunkt 18: Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz zu dem Streitverfahren vor dem Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Bundesverfassungsgericht 2 BvE 6/20 der CDU/CSU und SPD: Für einen soforti- Drucksache 19/23756 ...... 23427 C gen Waffenstillstand in Bergkarabach und VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 eine nachhaltige Friedenslösung – Die GRÜNEN: Für einen Kulturwandel in außen- und sicherheitspolitische Hand- der Geburtshilfe – Frauen und Kinder lungsfähigkeit der EU stärken in den Mittelpunkt , Bundesminister AA ...... 23429 C Drucksache 19/19165 ...... 23443 A f) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 23430 C Kappert-Gonther, Maria Klein-Schmeink, Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU) . . . . 23431 B Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Bijan Djir-Sarai (FDP) ...... 23432 C GRÜNEN: Gesundheitsregionen – Auf- Dr. (DIE LINKE) ...... 23433 C bruch für mehr Verlässlichkeit, Koope- ration und regionale Verankerung in (BÜNDNIS 90/ unserer Gesundheitsversorgung DIE GRÜNEN) ...... 23434 C Drucksache 19/21881 ...... 23443 A Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 23435 B Dr. , Parl. Staatssekretär Steffen Kotré (AfD) ...... 23436 B BMG ...... 23443 A (AfD) ...... 23444 A (CDU/CSU) ...... 23437 C Bärbel Bas (SPD) ...... 23444 D (SPD) ...... 23438 B (FDP) ...... 23445 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23439 B Dr. (DIE LINKE) ...... 23446 A (SPD) ...... 23440 C Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 23441 B DIE GRÜNEN) ...... 23446 D (CDU/CSU) ...... 23447 C Bettina Müller (SPD) ...... 23448 C Tagesordnungspunkt 16: Erich Irlstorfer (CDU/CSU) ...... 23449 C a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 15: Gesetzes zur Verbesserung der Gesund- heitsversorgung und Pflege (Gesund- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton heitsversorgungs- und Pflegeverbesse- Friesen, Armin-Paulus Hampel, Dr. Roland rungsgesetz – GPVG) Hartwig, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/23483 ...... 23442 C Fraktion der AfD: Zum 75. Gründ- ungsjubiläum der Vereinten Nationen – b) Antrag der Abgeordneten Petr Bystron, Bilanz ziehen, Erfolge anerkennen und Dietmar Friedhoff, Mariana Iris Harder- Reformen vorantreiben Kühnel, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/23716 ...... 23450 B Fraktion der AfD: Elektronische Doku- mentationspflicht nach der Richtlinie b) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, für organisierte Krebsfrüherkennungs- Dr. Alexander S. Neu, , wei- programme aussetzen terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksache 19/23715 ...... 23442 C LINKE: 75 Jahre Vereinte Nationen – Abrüstung, Friedensdiplomatie und c) Antrag der Abgeordneten Detlev Armutsbekämpfung verstärken Spangenberg, Dr. , Uwe Drucksache 19/23697 ...... 23450 B Witt, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der AfD: Testzentren und Kosten- übernahme des Bundes bei Corona-Tes- in Verbindung mit tungen von Reiserückkehrern Drucksache 19/23712 ...... 23442 D Zusatzpunkt 10: d) Antrag der Abgeordneten Dr. Achim Antrag der Abgeordneten , Kessler, Susanne Ferschl, Matthias W. Alexander Graf Lambsdorff, Grigorios Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kapitaleinkünfte Fraktion der FDP: Vereinte Nationen stärken bei der Ermittlung der Krankenversi- und Multilateralismus voranbringen cherungsbeiträge berücksichtigen Drucksache 19/23692 ...... 23450 C Drucksache 19/23699 ...... 23442 D Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 23450 C e) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) ...... 23451 D Kappert-Gonther, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeord- Ulrich Lechte (FDP) ...... 23452 D neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (SPD) ...... 23453 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 VII

Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 23455 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Jörg (BÜNDNIS 90/ Schneider, weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN) ...... 23456 A der Fraktion der AfD: Apotheken – (CDU/CSU) ...... 23456 D Botendienste sichern und ausbauen Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 23457 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Aschenberg-Dugnus, Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Tagesordnungspunkt 17: FDP: Versorgungssicherheit mit Arz- – Beschlussempfehlung und Bericht des neimitteln gewährleisten – Produk- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag tion in Europa stärken der Bundesregierung: Fortsetzung des – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Einsatzes bewaffneter deutscher Streit- Gabelmann, Susanne Ferschl, Matthias kräfte – Stabilisierung sichern, Wieder- W. Birkwald, weiterer Abgeordneter erstarken des IS verhindern, Versöh- und der Fraktion DIE LINKE: Gute nung fördern in Irak und Syrien und wohnortnahe Arzneimittelver- Drucksachen 19/22207, 19/23212 ...... 23458 C sorgung erhalten – Versandhandel – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln § 96 der Geschäftsordnung verbieten Drucksache 19/23213 ...... 23458 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. (SPD) ...... 23458 D Kordula Schulz-Asche, Maria Klein- Schmeink, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, (AfD) ...... 23459 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Jürgen Hardt (CDU/CSU) ...... 23461 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Siche- rung einer patientennahen und Alexander Müller (FDP) ...... 23461 D bedarfsgerechten Arzneimittelversor- Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 23462 C gung durch Apotheken Drucksachen 19/8277, 19/22194, Dr. (BÜNDNIS 90/ 19/18931, 19/9462, 19/9699, 19/23775 DIE GRÜNEN) ...... 23463 B (neu) ...... 23466 C (CDU/CSU) ...... 23464 A Karin Maag (CDU/CSU) ...... 23466 C Siemtje Möller (SPD) ...... 23464 C Paul Viktor Podolay (AfD) ...... 23467 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23465 A Sabine Dittmar (SPD) ...... 23468 B Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 23469 A Namentliche Abstimmung ...... 23465 D (DIE LINKE) ...... 23469 C Ergebnis ...... 23473 D Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23470 C (CDU/CSU) ...... 23471 A Tagesordnungspunkt 19: Dr. (SPD) ...... 23471 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Stephan Pilsinger (CDU/CSU) ...... 23472 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Vor- Ort-Apotheken Tagesordnungspunkt 18: Drucksachen 19/21732, 19/23775 (neu) . . . 23466 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- b) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses für Bildung, Forschung und Technik- Ausschusses für Gesundheit folgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Gehrke, Dr. Robby Schlund, – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeord- Höchst, Marc Bernhard, Matthias Büttner, neter und der Fraktion der AfD: Flä- weiterer Abgeordneter und der Fraktion chendeckende Versorgung mit Arz- der AfD: Qualitätspakt Schule – Huma- neimitteln sichern und ausbauen, ne und humanistische Bildung durch Wettbewerb stärken – Versandhandel Schüler-Lehrer-Kontakt gewährleisten mit verschreibungspflichtigen Arz- – zu dem Antrag der Abgeordneten Joana neimitteln verbieten, Zustellung Cotar, , Dr. Michael durch Boten zukünftig nicht nur im Espendiller, weiterer Abgeordneter und Einzelfall erlauben der Fraktion der AfD: Corona digital VIII Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

bekämpfen – Deutsches Bildungs- und (SPD) ...... 23490 A Forschungssystem digital fit machen (CDU/CSU) ...... 23490 D für Lernen-zu-Hause sowie Fernlehre und -forschung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. Tagesordnungspunkt 20: , Katja Suding, Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- Dr. (Rhein-Neckar), haltsausschusses zu dem Antrag der Abgeord- weiterer Abgeordneter und der Fraktion neten , Marcus Bühl, Martin der FDP: Lehren aus der Corona-Krise – Hohmann, weiterer Abgeordneter und der Impulse für die Schule der Zukunft Fraktion der AfD: Antrag auf abstrakte Nor- – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole menkontrolle beim Bundesverfassungsge- Gohlke, Dr. Birke Bull-Bischoff, Dr. Petra richt gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 Sitte, weiterer Abgeordneter und der Frak- des Grundgesetzes wegen des Gesetzes über tion DIE LINKE: Lehrkräftemangel die Feststellung eines Zweiten Nachtrags beheben – Gute Bildung sichern zum Bundeshaushaltsplan für das Haus- – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit haltsjahr 2020 (Zweites Nachtragshaus- Stumpp, , Katja Dörner, haltsgesetz 2020) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksachen 19/22926, 19/23798 ...... 23491 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bundes- (SPD) ...... 23492 A zentrale für digitale und Medienbil- dung – Medien- und digitalpädagogi- Peter Boehringer (AfD) ...... 23493 A sche Kompetenzen bündeln, vermitteln Carsten Körber (CDU/CSU) ...... 23494 B und fördern Otto Fricke (FDP) ...... 23495 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 23496 C Stumpp, Dr. Anna Christmann, , weiterer Abgeordneter und der Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: DIE GRÜNEN) ...... 23497 B Lernen aus der Krise – Ein Update für Florian Oßner (CDU/CSU) ...... 23498 A die Schulen Drucksachen 19/20568, 19/20683, 19/20554, 19/19483, 19/18729, 19/20385, 19/23792 . . . . 23477 B Tagesordnungspunkt 24: (CDU/CSU) ...... 23477 B Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Nicole Höchst (AfD) ...... 23478 C desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Versiche- Marja-Liisa Völlers (SPD) ...... 23479 C rungsteuerrechts und zur Änderung dienst- Dr. h. c. Thomas Sattelberger (FDP) ...... 23480 B rechtlicher Vorschriften (DIE LINKE) ...... 23480 D Drucksachen 19/21089, 19/23757 ...... 23499 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 23481 D Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 23499 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23482 C Kay Gottschalk (AfD) ...... 23500 A Dr. (SPD) ...... 23483 C Dr. (CDU/CSU) ...... 23501 A Frank Schäffler (FDP) ...... 23502 B Tagesordnungspunkt 21: Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23502 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Heidelberg) (SPD) ...... 23503 C Verbesserung der Transparenz in der Al- (CDU/CSU) ...... 23504 A terssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversiche- rungswahlen (Gesetz Digitale Rentenüber- Tagesordnungspunkt 31: sicht) Antrag der Abgeordneten Johannes Vogel Drucksache 19/23550 ...... 23484 C (Olpe), Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, , Parl. Staatssekretärin BMAS . 23484 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ulrike Schielke-Ziesing (AfD) ...... 23485 D FDP: Arbeitsrecht updaten – Moderner Rechtsrahmen für orts- und zeitflexibles (CDU/CSU) ...... 23486 C Arbeiten Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 23487 C Drucksache 19/23678 ...... 23505 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 23488 B Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 23505 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23489 B Thomas Heilmann (CDU/CSU) ...... 23506 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 IX

Uwe Witt (AfD) ...... 23508 B Anlage 4 Dr. (SPD) ...... 23509 A Ergebnisse der Wahl von Mitgliedern des Son- dergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabili- (DIE LINKE) ...... 23509 D sierungsmechanismusgesetzes Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 8 c) ...... 23534 A DIE GRÜNEN) ...... 23510 D (CDU/CSU) ...... 23511 C (Wetzlar) (SPD) ...... 23512 D Anlage 5 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an den Wahlen zu Tagesordnungspunkt 25: den Tagesordnungspunkten 8 a bis c teilge- nommen haben ...... 23534 B Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung von Vor- schriften zur Terrorismusbekämpfung Anlage 6 Drucksache 19/23706 ...... 23513 C Erklärungen nach § 31 GO zu der namentli- chen Abstimmung über die Beschlussempfeh- in Verbindung mit lung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte – Stabilisierung sichern, Wiedererstarken des IS Zusatzpunkt 20: verhindern, Versöhnung fördern in Irak und Unterrichtung durch die Bundesregierung: Syrien Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Geset- (Tagesordnungspunkt 17) ...... 23537 B zes zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbe- -Emre (SPD) ...... 23537 B kämpfungsgesetzen (SPD) ...... 23537 B Drucksache 19/23350 ...... 23513 D Dr. (SPD) ...... 23538 B (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 23513 D Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 23515 D Anlage 7 (FDP) ...... 23516 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ , , Axel DIE GRÜNEN) ...... 23517 C Knoerig und Sepp Müller (alle CDU/CSU) Thorsten Frei (CDU/CSU) ...... 23518 C zu der Abstimmung über den von der Bundes- (CDU/CSU) ...... 23519 B regierung eingebrachten Entwurf eines Geset- zes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken (Tagesordnungspunkt 19 a) ...... 23538 C Nächste Sitzung ...... 23520 C

Anlage 8 Anlage 1 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entschuldigte Abgeordnete ...... 23533 A von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Versicherungsteuerrechts und zur Änderung Anlage 2 dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 24) ...... 23539 B Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Ver- trauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 23539 B Bundeshaushaltsordnung (Tagesordnungspunkt 8 a) ...... 23533 B Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 3 – des von den Fraktionen der CDU/CSU und Ergebnis der Wahl von Mitgliedern des Gre- SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- miums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen- zes zur Entfristung von Vorschriften zur gesetzes Terrorismusbekämpfung (Tagesordnungspunkt 8 b) ...... 23534 A und X Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

– der Unterrichtung durch die Bundesregie- (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatzpunkt 20) 23539 D rung: Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Gesetzes zur Verlängerung der Befris- Uli Grötsch (SPD) ...... 23539 D tung von Vorschriften nach den Terroris- musbekämpfungsgesetzen (DIE LINKE) ...... 23540 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23351

(A) (C)

186. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: fenstillstand in Bergkarabach und eine nachhaltige Frie- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte denslösung – Die außen- und sicherheitspolitische Hand- nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. lungsfähigkeit der EU stärken“ stattfinden. Für den ausgeschiedenen Kollegen Stephan Kühn ist Die von der Fraktion der FDP verlangte Aktuelle der Kollege Wolfgang Wetzel als Mitglied des Deut- Stunde zum Thema „Digitalisierung als Chance zur Kri- schen Bundestages nachgerückt. Herr Kollege Wetzel, senbewältigung begreifen – Corona-Warn-App 2.0“ ver- ich begrüße Sie im Namen des ganzen Hauses herzlich schiebt sich auf Freitag und wird dort als letzter Tages- und wünsche uns eine gute Zusammenarbeit. ordnungspunkt aufgerufen. Die Unterrichtung der Bundesregierung über den (Beifall) Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Gesetzes zur Ver- Wir müssen nun mehrere Wahlen durchführen. längerung der Befristung von Vorschriften nach den Ter- (B) rorismusbekämpfungsgesetzen soll aufgesetzt und in ver- (D) Auf Vorschlag der Fraktion der SPD soll die Kollegin bundener Beratung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Bela Bach als Nachfolgerin des Kollegen Detlef Müller Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämp- zum Mitglied des Beirats der Schlichtungsstelle für fung unter Tagesordnungspunkt 25 verhandelt werden. den öffentlichen Personenverkehr gewählt werden. Schließlich soll der Antrag mit dem Titel „Strikte Stimmen Sie dem zu? – Das ist offensichtlich der Fall. Zweckbindung für Corona-Gästelisten“ am Freitag in Dann ist die Kollegin Bach zum Mitglied dieses Beirats verbundener Beratung mit den Zusatzpunkten 14 bis 17 gewählt. aufgesetzt werden. Die Fraktion der AfD schlägt vor, den Kollegen Sind Sie mit all dem einverstanden? – Ich höre keinen Dr. Bruno Hollnagel für eine weitere Amtszeit zum Mit- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. glied des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für Wie- deraufbau zu wählen. Auf Vorschlag der Fraktion der Dann rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: FDP soll der Kollege Michael Theurer ebenfalls für Abgabe einer Regierungserklärung durch die eine weitere Amtszeit zum Mitglied des Verwaltungsrats Bundeskanzlerin gewählt werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Dr. Hollnagel und Theurer zu Mitgliedern des Verwal- Für die Aussprache im Anschluss an die Regierungs- tungsrats der KfW gewählt. erklärung wurde eine Dauer von 90 Minuten beschlossen. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat die Kollege Paul Lehrieder als Nachfolger für die Kollegin Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Dr. zum Schriftführer gewählt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Zuruf von der AfD: Sie töten die Wirtschaft, Fall. Dann ist der Kollege Lehrieder zum Schriftführer Frau Bundeskanzlerin!) gewählt. Interfraktionell sind folgende Änderungen der Tages- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: ordnung vereinbart worden: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- ne Damen und Herren! In den letzten Wochen sind die Im Anschluss an den Tagesordnungspunkt 13 soll auf Zahlen der Neuinfektionen mit dem Coronavirus deutlich Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eine in die Höhe geschnellt. Viele Gesundheitsämter sind auf- Aktuelle Stunde zum Thema „Für einen sofortigen Waf- grund der schieren Zahl Infizierter an ihrer Belastungs- 23352 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) grenze und können die Kontakte nicht mehr im Einzelnen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (C) nachverfolgen. Es zeigt sich bereits, dass sich die höhere bei Abgeordneten der LINKEN und des Zahl der aktiven Krankheitsfälle auch in steigenden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf Patientenzahlen in den Krankenhäusern widerspiegelt. von der AfD: Mit welcher Legitimation?) Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Fälle hat Der Bund wird den betroffenen Unternehmen, Einrich- sich in den letzten zehn Tagen verdoppelt. Am 18. 10. tungen und auch Vereinen helfen, ökonomisch über diese waren es 769 betreute Patienten, am 28. 10., zehn Tage schwierige Zeit hinwegzukommen. später, 1 569. Eine solche Dynamik wird unsere Intensiv- medizin in wenigen Wochen überfordern. (Zurufe von der AfD) Dies alles zeigt: Wir befinden uns zum Beginn der Die Bundesminister Scholz und Altmaier werden dazu in kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage. den nächsten Tagen sehr konkrete Vorschläge machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Jürgen Braun [AfD]: So ein Unsinn! Das ist purer Unsinn! – Weiterer Zuruf von der AfD: Ich will es ganz klar sagen: Ich verstehe die Frustra- So ein Quatsch!) tion, ja die Verzweiflung gerade in diesen Bereichen sehr. Sie betrifft uns alle, ausnahmslos. Deshalb haben sich die ( [AfD]: Wir verstehen Sie nicht Regierungschefinnen und Regierungschefs des Bundes mehr! Gehen Sie in politische Quarantäne!) und der Länder gestern zu einer weiteren Konferenz So viele Hygienekonzepte wurden erarbeitet, und die getroffen und weitere Vereinbarungen beschlossen. Betroffenen fragen sich: Soll das alles sinnlos gewesen (Karsten Hilse [AfD]: Sie haben gar nicht das sein? Recht dazu! Wir sind das Parlament! – Weitere (Zurufe von der AfD: Ja!) Zurufe von der AfD: Wir sind das Parlament! – Ich erwidere: Nein, das war es nicht, und diese Hygiene- Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer konzepte werden auch wieder gebraucht werden. Aber im [CDU/CSU]: Lest mal über Gewaltenteilung gegenwärtigen exponentiellen Infektionsgeschehen kön- nach, und dann reden wir weiter! – Gegenruf nen diese Hygienekonzepte ihre Kraft nicht mehr entfal- des Abg. Jürgen Braun [AfD]: Grundgesetz! – ten. Wir können bei 75 Prozent der Infektionen nicht Glocke des Präsidenten) mehr zuordnen, wo sie geschehen sind, Wir haben also gemeinsam mit den Ministerpräsidentin- (Beatrix von Storch [AfD]: Sie wissen also nen und Ministerpräsidenten Folgendes beschlossen: nicht, was Sie tun! Vielen Dank für die Erklä- rung!) (B) (Jürgen Braun [AfD]: Gar nichts habt ihr zu (D) beschließen!) und aus diesem Zustand müssen wir schnellstmöglich Vom 2. November bis zum 30. November werden weit- wieder heraus, meine Damen und Herren. reichende Kontaktreduzierungen eingeführt. Nach zwei (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Wochen werden wir uns wieder treffen und gegebenen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) falls notwendige Anpassungen vornehmen. Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen müssen, sind (Norbert Kleinwächter [AfD]: Und wann betei- geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. ligen Sie das Parlament? – Jürgen Braun [AfD]: (Widerspruch bei der AfD – Zuruf von der Grundgesetz! – Weitere Zurufe von der AfD: AfD: Sie fahren das Leben an die Wand! – Wir sind das Parlament!) Gegenruf von der SPD: Haltet mal die Klappe Die Kontaktbeschränkungen beziehen sich vor allen Din- und hört zu! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ gen auf private Kontakte. In der Öffentlichkeit soll es in CSU]: Die sind mit den Nerven runter!) Zukunft nur noch die Begegnung von zwei Hausständen, maximal zehn Personen, geben. Private Kontakte sind Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: insgesamt auf ein absolut notwendiges Minimum zu Frau Bundeskanzlerin, einen Moment bitte. – Liebe reduzieren. Auf nicht notwendige private Reisen ist zu Kolleginnen und Kollegen, auch wenn man unterschied- verzichten, auch im Falle von Besuch bei Verwandten. licher Meinung ist, welche Maßnahmen die richtigen und (Zurufe von der AfD) welche die falschen sind, sind unser Land wie auch die ganze Welt und insbesondere Europa in einer außerge- Touristische Übernachtungsangebote wird es nicht wöhnlich schwierigen Lage. geben. Einrichtungen der Freizeitgestaltung, der Kultur und der Unterhaltung werden geschlossen, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Jürgen Braun [AfD]: Das ist unglaublich!) GRÜNEN) ebenso Gastronomiebetriebe und bestimmte Dienstleis- Die Bundeskanzlerin erläutert in einer Regierungserklä- tungsangebote. rung die Maßnahmen, die die Bundesregierung mit den Wir haben uns entschlossen, alles daranzusetzen, Landesregierungen – so ist das in unserer Grund- neben dem sonstigen Wirtschaftsleben vor allen Dingen gesetzordnung – besprochen hat. auch den Betrieb von Kitas und Schulen aufrechtzuer- (Widerspruch bei der AfD – Zurufe von der halten. AfD: Nein! Wir sind das Parlament!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23353

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) – Moment! Wenn Sie den Präsidenten unterbrechen, krie- relle und systematische Reduzierung der Kontakte ver- (C) gen Sie gleich Ordnungsrufe. Das ist gefährlich. hindert werden. Ziel aller Maßnahmen ist, die Zahl der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Begegnungen der Menschen in den unterschiedlichsten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Alltagssituationen massiv und am besten um 75 Prozent ordneten der FDP und der LINKEN) zu senken und dadurch Ansteckungsgefahren zu verrin- gern. Im Anschluss an die Regierungserklärung ist eine Aus- sprache vorgesehen, und in der können alle Meinungen (Zuruf von der AfD: Wollen Sie alle einsper- geäußert werden. ren?) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Bei den vereinbarten Maßnahmen berücksichtigen Bund bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und und Länder ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Folgen und ihre Bedeutung für die Grundrechte der Bür- Aber ich glaube, niemand in unserem Lande hätte Ver- gerinnen und Bürger. ständnis dafür, wenn wir uns nicht die Regierungserklä- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Die Sie verlet- rung der Bundeskanzlerin in dieser schwierigen Lage zu zen!) diesen schwierigen Maßnahmen mit der gebotenen Dis- ziplin anhören würden. Darum bitte ich dringend. Im Hinblick auf die überragende Bedeutung der Bil- dung und Betreuung der Kinder sollen insbesondere (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Schulen und Kindergärten, wo immer dies möglich ist, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE geöffnet bleiben. Ich füge allerdings hinzu: mit verstärk- GRÜNEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: ten Hygienemaßnahmen, und bitte die Länder, da es in Das ist unerhört!) ihre Zuständigkeit fällt, hier auch kreativ und fantasievoll zu sein. Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen müssen, sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Es gibt insbe- der SPD – Lachen bei Abgeordneten der AfD – sondere kein anderes, milderes Mittel als konsequente Armin-Paulus Hampel [AfD]: Unglaublich!) Kontaktbeschränkungen, um das Infektionsgeschehen Zudem soll das wirtschaftliche Leben dort weiterhin zu stoppen und umzukehren und damit auf ein beherrsch- stattfinden können, wo nicht erforderliche Kontakte kon- bares Niveau zu bringen. Die Gesundheitsämter sind der- sequent vermieden werden können. Deshalb wiederhole zeit in weiten Teilen unseres Landes trotz personeller ich: Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, sind geeig- (B) Verstärkung und Unterstützung durch Bund und Länder net, erforderlich und verhältnismäßig. (D) nicht mehr ausreichend in der Lage, die Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen und eine Ausbreitung des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Virus auf diese Weise einzudämmen. Daraus genau resul- bei Abgeordneten der LINKEN und des tiert das exponentielle Wachstum. Damit steigt auch die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gefahr, dass sich immer mehr Angehörige von Risiko- Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, stattdessen gruppen anstecken. warten würden, bis die Intensivstationen voll sind, dann Um es ganz klar auszusprechen, auch mit Blick auf wäre es, weil die Situation auf den Intensivstationen der andere Vorschläge: Eine vollständige Abschirmung sol- Ansteckung nach einer beträchtlichen Anzahl von Tagen cher Risikogruppen vor Ansteckungsgefahren kann folgt, zu spät, und zwar nicht nur für die Sicherstellung schon aufgrund der sehr unterschiedlichen Lebens- und unserer Gesundheitsversorgung, sondern in Folge auch Wohnsituationen, aber auch aufgrund der besonders für die Sicherstellung der gesamten Infrastruktur unseres belastenden Folgen für die Betroffenen kein milderes Landes, das heißt also auch ökonomisch und sozial. Mittel sein. Wir befinden uns zu Beginn der kalten Jahreszeit in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einer dramatischen Lage, die ausnahmslos alle betrifft. der SPD – Christian Lindner [FDP]: Glauben Die Lage ist besorgniserregend, und wir dürfen uns nichts Sie!) schönreden. Beschwichtigendes Wunschdenken oder Und ich erinnere daran, dass zu den Risikogruppen nicht populistische Verharmlosung wären nicht nur unrealis- nur die Älteren gehören, sondern auch die Vorerkrankten tisch, sondern wären unverantwortlich. und dass es auch bei ganz gesunden und ohne Vorerkran- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem kung lebenden Menschen sehr, sehr schwere Krankheits- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- verläufe gibt. Deshalb überzeugen mich die anderen Kon- ordneten der LINKEN) zepte nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es selbst (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie in der Hand, wie es weitergeht. Es kommt auf alle, auf bei Abgeordneten der LINKEN und des jede und jeden Einzelnen, an, auf unser aller Engagement, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) unsere Ausdauer, unsere Rücksichtnahme. Die Pandemie In der aktuellen Lage kann der dynamische Anstieg der stellt unsere demokratische Gesellschaft auf eine beson- Infektionszahlen mit seinen dramatischen Folgen für dere Bewährungsprobe, und zwar nicht nur in einer, son- Gesundheit und Leben einer sehr großen Zahl von Bür- dern in mehrfacher Hinsicht, die alle relevant, alle gerinnen und Bürgern entscheidend nur durch eine gene- schmerzhaft und alle ernst zu nehmen sind. 23354 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mit dem uns die notwendigen Abstimmungen in dieser (C) ordneten der SPD) schwierigen Zeit gelingen: in der Bundesregierung, hier im Deutschen Bundestag, Diese Pandemie ist eine medizinische, eine ökonomische, eine soziale, eine politische, eine psychische Bewäh- (Karsten Hilse [AfD]: Wo? Wir sind das Par- rungsprobe. lament!) (Beatrix von Storch [AfD]: Ihr Lockdown ist mit den Bundesländern und innerhalb der Europäischen das!) Union. Wir werden ihr nur mit Zusammenhalt und mit der Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Es ist richtig, es ist Bereitschaft zum transparenten und offenen Austausch wichtig, es ist unverzichtbar, dass die Maßnahmen, die miteinander begegnen können. die Pandemie bekämpfen sollen (Zurufe von der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der LINKEN – Zuruf des und die teilweise erheblich sind Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) (Zuruf von der AfD: Staatsstreich!) Wir schauen jetzt zurück auf acht Monate Erfahrung und erheblich in unsere Freiheitsrechte eingreifen, öffent- im Umgang mit dem Virus. Das war und ist eine Zeit des lich diskutiert, öffentlich kritisiert und öffentlich auf ihre gemeinsamen und immer neuen und fortwährenden Lern- Angemessenheit hin befragt werden. ens. In diesen Monaten haben wir gemeinsam mit der wissenschaftlichen Forschung zu dem Virus politisch, (Dr. [FDP]: Die Entschei- aber auch als Gemeinschaft gelernt. Und das lässt mich dung muss danach geschehen!) dankbar sein. Die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Das begreife ich als Zeichen unserer offenen Gesell- Bekämpfung haben ja bislang allen Bürgerinnen und Bür- schaft. gern schon sehr viel abverlangt. Viele Maßnahmen waren und sind eine ungeheure Belastung. Sie schränken nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nur hart erkämpfte Freiheitsrechte ein, sondern sie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schwächen auch viele Betriebe und Unternehmen; sie GRÜNEN) erschweren die Bildung, die Kultur, alle Begegnungen, Die kritische Debatte schwächt nicht die Demokratie, im und sie treffen uns im Kern unseres menschlichen Mitei- Gegenteil: Sie stärkt sie. nanders. Doch wie all diese Anstrengungen von der groß- en Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hingenommen (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Aber sie sollte (B) (D) werden, mit dem Wissen, dass sie dem Schutz des vor der Entscheidung stattfinden! – Zurufe von Gemeinwesens wie auch jeder und jedes Einzelnen die- der AfD) nen, beeindruckt und berührt mich zutiefst. Und dafür Denn nur durch die öffentliche Debatte über die politi- möchte ich einmal mehr, auch hier an dieser Stelle, aus- schen Entscheidungen kann Akzeptanz entstehen oder drücklich danken. auch Widerspruch, der uns hilft und uns dann auch wei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie terführt. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Aber lassen Sie es mich auch genauso klar sagen: Lüge GRÜNEN – Zurufe von der AfD) und Desinformation, Dieser so überaus außergewöhnliche Rückhalt für die (Jürgen Braun [AfD]: Von der Regierung!) bislang ergriffenen Maßnahmen war und ist auch hier im Parlament spürbar. Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demo- kratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das (Karsten Hilse [AfD]: Beteiligen Sie das Par- Virus. lament!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- Und auch dafür bin ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ungeheuer dankbar, auch und gerade in einer Ausnahme- sowie bei Abgeordneten der FDP) situation wie der einer Pandemie. Natürlich streiten wir Dass Unterschiede zwischen wahr und unwahr, richtig um die besten Lösungen, und zwar im allerbesten parla- und falsch verwischen, dürfen wir nicht zulassen; mentarischen Sinne. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Karsten Hilse [AfD]: Nein! Wir streiten nicht! der SPD) In diesem Parlament wird ja nicht gestritten! Sie machen das alleine!) denn was sich als wissenschaftlich falsch erwiesen hat, muss als solches klar benannt werden. Von unserem Aber bitte erlauben Sie mir trotzdem oder eigentlich gera- Bezug zu Fakten und Informationen hängt nicht nur die de deswegen, auch ausdrücklich zu betonen: Ich bin demokratische Debatte ab. Davon hängen Menschenle- besonders dankbar für den Willen aller Verantwortlichen ben ab, meine Damen und Herren! zur Einigung, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Karsten Hilse [AfD]: Das kann doch nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- wahr sein!) ordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23355

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Diese Pandemie rückt einen Begriff in den Mittel- sind. Angesichts der Vielzahl der Fälle können dort nicht (C) punkt, mehr alle Infektionsketten nachvollzogen werden, und (Zuruf von der AfD: Widerstand!) die fehlende Unterbrechung von Infektionsketten bedingt wiederum stärker steigende Neuinfektionen. der zu unserem Grundwortschatz gehört: die Freiheit. Und dieses Mal ist es sehr konkret; denn die Maßnahmen, Es ist deshalb von großer Bedeutung, dass wir das ver- die Bund und Länder im Frühjahr und die wir gestern gangene halbe Jahr dazu genutzt haben, wichtige Wei- vereinbart haben, schränken die Freiheit ein. chenstellungen für die weitere Pandemiebewältigung vorzunehmen. (Zuruf von der AfD: Ach! Immerhin!) (Zuruf des Abg. [AfD]) Zugleich spüren wir, Freiheit ist nicht: „Jeder tut, was er will“, sondern Freiheit ist – gerade jetzt – Verantwortung: Das gilt zum Beispiel für die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung. Im Frühjahr waren wir noch vermehrt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie auf stark umkämpfte Importe angewiesen, um den heim- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ischen Bedarf zu decken. Inzwischen haben wir durch GRÜNEN) Förderprogramme nationale Produktionslinien für per- Verantwortung für sich selbst, für die eigene Familie, die sönliche Schutzausrüstung aufgebaut, die es uns ermög- Menschen am Arbeitsplatz und darüber hinaus für uns lichen, zumindest zum Teil unseren eigenen Bedarf zu alle. decken. Die Pandemie macht uns so klar wie selten: Wir sind Darüber hinaus haben wir unsere Teststrategie regel- Teil des Ganzen. Verhalten wir uns rücksichtslos, ohne mäßig der aktuellen epidemiologischen Lage angepasst. Mindestabstand, ohne Mund-Nase-Schutz, mit Feiern auf Mit der Verfügbarkeit von Antigen-Schnelltests beginnt engstem Raum, dann heizen wir die Ansteckungen weiter jetzt ein neues Kapitel der Testung. Damit kann zum Bei- an und bringen unsere Mitmenschen in ernste Gefahr. spiel in Alten- und Pflegeheimen schnell erkannt werden, (Zuruf von der AfD) ob ein Besucher aktuell infektiös ist oder nicht. Und gerade im Bereich der präventiven Testung werden wir Halten wir uns an die Regeln, die jetzt gelten, dann helfen damit sehr viel schneller und ressourcenschonender zu wir unserem Land und im Ergebnis jeder und jedem von Ergebnissen kommen. uns, diese gewaltige Prüfung zu bestehen. Natürlich ist die Pandemie auch für Europa eine enor- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie me Herausforderung. Wir sehen auch bei vielen unserer bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE unmittelbaren Nachbarn in Europa, wie dramatisch sich (B) GRÜNEN) die Situation mit rasant steigenden Fallzahlen entwickelt (D) Dann, meine Damen und Herren, üben wir Freiheit in und damit einhergehenden ernsten Krankheitsverläufen Verantwortung aus. und Todesfällen. Auch unsere Nachbarn ergreifen ein- schneidende Maßnahmen. Sie werden gestern die Fern- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sehansprache des französischen Präsidenten verfolgt der SPD – Sebastian Münzenmaier [AfD]: So haben; aber das gilt auch für Belgien, Niederlande, die ein Quatsch!) Tschechische Republik, Polen und viele, viele andere. Das ist nicht einfach; das verlangt uns allen Verzicht ab. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir europäisch auf die Wir alle müssen uns einschränken in dem, was uns beson- gegenwärtige Situation besser vorbereitet und besser ders kostbar ist: der Begegnung mit Menschen. koordiniert sind als zu Beginn der Pandemie. Wir wollen (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) die Einschränkungen und den Druck insbesondere auf den Binnenmarkt und das Schengensystem so gering Doch wir müssen das tun, weil sich nach einem wie möglich halten. Sommer, in dem die Zahlen der Neuinfektionen weitge- hend stabil waren und wir es vor allem mit regionalen Europäischen Zusammenhalt bei der Pandemiebewäl- Ausbrüchen zu tun hatten, die Situation inzwischen deut- tigung gibt es auch bei der Impfstoffversorgung. Durch lich verschärft hat. Vor vier Wochen, als die Zahl der die Europäische Impfstoffinitiative hat die EU-Kommis- täglichen Neuinfektionen in ganz Deutschland noch bei sion gemeinsam mit den Gesundheitsministern – auch etwa 1 000 lag, erschienen den meisten von uns die mitt- hier ein herzlicher Dank an – inzwischen lerweile täglich erreichten Werte von deutlich über mit verschiedenen Impfstoffherstellern Rahmenverträge 10 000 Neuinfektionen kaum vorstellbar. Auch die Zahl über mehrere Millionen Impfdosen unterzeichnet; und der Kreise und Städte mit einer 7-Tage-Inzidenz von über Verhandlungen mit weiteren Unternehmen sind weit fort- 50 infizierten Menschen pro 100 000 Einwohner stieg geschritten. Vorbereitungen für das Impfen auch in unaufhörlich an. Deutschland laufen sowohl strukturell, was Impfzentren anbelangt, als auch hinsichtlich der Ausarbeitung ethi- (Beatrix von Storch [AfD]: Reine Willkürzah- scher Leitsätze für die Frage, wie wir die Prioritäten bei len sind das!) der Impfung setzen, wenn ein Impfstoff zur Verfügung Mittlerweile haben wir auch im Bundesdurchschnitt diese stehen sollte. Marke sehr deutlich überschritten. Darüber hinaus stimmen wir uns intensiv zwischen den Dies unterstreicht eindrücklich, welch einer enormen Mitgliedstaaten über Einreisen aus Drittstaaten ab. Wir Arbeitsbelastung die Gesundheitsämter und ihre Mitar- koordinieren uns zur Corona-Warn-App und haben uns beiterinnen und Mitarbeiter in diesen Tagen ausgesetzt auf ein koordiniertes Vorgehen für die Ausweisung von 23356 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Risikogebieten und damit verbundenen Einreisebestim- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (C) mungen geeinigt. Im nächsten Schritt geht es nun um BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- eine Abstimmung zum Testregime, zu grenzüberschrei- ordneten der FDP und der LINKEN) tender Kontaktnachverfolgung und zu den Quarantäner- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den kommenden egeln. Wochen und Monaten wird entscheidend sein, dass mög- Heute Abend werde ich zusammen mit dem Präsiden- lichst alle verstehen, warum wir in dieser Zeit solche ten des Europäischen Rates, Charles Michel, und den Maßnahmen ergreifen. Jeder von uns muss dazu einen anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Beitrag leisten, und jeder von uns muss verstehen, was Union zu einer Videokonferenz zusammenkommen, wo seine Möglichkeiten sind, diesen Beitrag auch auszufüh- wir die nächsten Schritte besprechen. Denn wir wissen: ren. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim Wie wir auf europäischer Ebene mit der Pandemie umge- hat genau darüber neulich in einem Fernsehinterview hen, entscheidet nicht nur über die Gesundheit unserer etwas gesagt, was ich persönlich nie so anschaulich for- Bürgerinnen und Bürger und unserer Volkswirtschaften, mulieren könnte wie sie und was zugleich auch meine sondern das wird auch maßgeblich beeinflussen, wie die tiefe Überzeugung beschreibt. Deshalb möchte ich es Leistungsfähigkeit Europas und damit die Legitimität hier aufgreifen. Es ging ihr um unsere Haltung zu dem unseres europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmo- Virus, das – man stelle sich mal vor, es könnte denken – dells weltweit beurteilt werden. Hier stehen wir in einem von sich denken würde – ich zitiere –: starken globalen Wettbewerb. Ich habe hier den perfekten Wirt. Diese Menschen, Mit der Corona-Warn-App, meine Damen und Herren, die leben auf dem ganzen Planeten, die sind global haben wir in Deutschland ein Warnsystem auf den Weg stark vernetzt, sind soziale Lebewesen; die können gebracht, mit dem Kontaktpersonen ermittelt und alar- also nicht ohne soziale Kontakte leben. miert werden können. (Karsten Hilse [AfD]: Sagen Sie mal, sind wir (Karsten Hilse [AfD]: Ich denke, die Gesund- hier im Kindergarten? Was soll denn das? Was heitsämter machen das!) ist denn das für ein Niveau? Entschuldigung!) Hier liegen wir derzeit bei fast 21 Millionen Downloads. Die sind hedonistisch veranlagt, die gehen gerne Auch die Zahlen der über die App geteilten Testergebnis- feiern. Also, besser kann es gar nicht sein! se steigen gerade deutlich an; hier müssen wir allerdings Weiter sagte sie – jetzt wieder aus der Perspektive der noch nacharbeiten. Aktuell sind 90 Prozent der niederge- Menschen –: lassenen Testlabore angeschlossen, die Tendenz steigt. (B) Damit wird die Corona-Warn-App natürlich auch zu (Karsten Hilse [AfD]: Manometer!) (D) einem Hilfsmittel für die Gesundheitsämter. Auch wenn Nee, Virus! Hast du denn gar nichts aus der Evolu- sie durch den dezentralen Ansatz den Gesundheitsämtern tion gelernt? Da haben wir Menschen ja schon mehr- nicht direkt hilft, so gibt es doch Kontaktbenachrichti - fach gezeigt, dass wir verdammt gut darin sind, uns gungen, die nicht über die Gesundheitsämter, sondern in schwierigen Situation anzupassen … über die Warn-App laufen. Die App wird inzwischen in weiteren Sprachen zur Verfügung gestellt und kann mit (Zurufe von der AfD) anderen europäischen Apps kommunizieren und Warn- Wir werden dir zeigen, dass du dir hier den falschen ungen austauschen. Und ich sage: Ihre Bedeutung wächst Wirt ausgesucht hast. mit jedem Tag. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch hier weiter dafür werben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ordneten der LINKEN – Lachen bei der AfD – der SPD und der Abg. Anke Domscheit-Berg Zuruf von der AfD: Grundschulniveau! – [DIE LINKE]) Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer Nicht zuletzt wissen wir im Vergleich zum Beginn der [CDU/CSU]: Einfache Sprache für die AfD!) Pandemie inzwischen mehr über das Coronavirus und Und aus all dem schlussfolgerte Frau Nguyen-Kim: seine Übertragungswege. Dasselbe gilt für die von ihm ausgelöste Erkrankung Covid-19 und ihre Behandlung. Wenn wir uns klarmachen, dass es sonst auch viel Die Wissenschaft leistet einen überragend wichtigen Bei- schlechter laufen könnte, kann man da auch die trag zur Bewältigung der Pandemie. Das reicht von der Motivation für manchen Verzicht draus ziehen. Erforschung und Entwicklung neuer Impfstoffe, Thera- (Zuruf von der AfD: Infantil ist das! Infantil!) peutika und Testverfahren über die Entschlüsselung von Infektionsmechanismen und infektionsepidemiologische In anderen Worten: So wie wir Menschen schon so Fragestellungen bis hin zur Erforschung der gesellschaft- viele große Probleme in unserer Geschichte bewältigt lichen, sozialen und politisch-rechtlichen Auswirkungen. haben, so kann auch in der Pandemie jede und jeder Nicht zuletzt ist hier die herausragende Expertise des von uns aktiv dazu beitragen, dass wir diese Pandemie Robert-Koch-Instituts zu nennen, aber auch die so vieler mit vereinten Kräften bewältigen. Aktiv dazu beitragen, anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der das heißt in diesem Fall verzichten: auf jeden nicht zwin- unterschiedlichen Disziplinen. Ein herzliches Danke- gend erforderlichen Kontakt. Das genau ist der Kern der schön! Da werden viele Überstunden in diesen Tagen Pandemiebekämpfung, an dem unsere Maßnahmen alle geleistet. ansetzen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23357

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) In diesem Sinne wünsche ich mir für die kommende dessen Infektion offenbar einen erfreulich milden Verlauf (C) Zeit vor allem eines: dass wir alle weiter füreinander ein- nimmt. Aber für einige Menschen – ja, das ist richtig – ist stehen. das Virus hochgefährlich oder gar tödlich. (Zuruf von der AfD: Niveaulos!) Das führt uns zum Gleichnis der Verkehrsunfälle zu- rück. Man hat ihre Zahl durch Alkoholverbote, Ge- Miteinander und füreinander – nur so kommen wir durch schwindigkeitsbegrenzungen in Ortschaften und andere diese historische Krise. Maßnahmen reduziert, ohne den Verkehr zu verbieten. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Wir dürfen doch Das müssen wir nun auf die Coronakrise übertragen. nicht miteinander sein!) (Beifall bei der AfD) Der Winter wird schwer – vier lange schwere Monate –, Augenscheinlich stecken sich vor allem aktive und jünge- aber er wird enden. Wir haben in den vergangenen acht re Menschen an, also solche, die eine Infektion gut ver- Monaten schon gesehen, wie wir gemeinsam lernen und kraften können oder mitunter gar nicht bemerken. Diese uns beistehen können. Das zeichnet diese Gesellschaft Zeitgenossen brauchen keinen Schutz, und es muss ihnen aus. Diese Hilfsbereitschaft, dieser Gemeinsinn sind es, nichts verboten werden. Wir müssen stattdessen die Risi- die mich zuversichtlich sein lassen. kogruppen definieren und schützen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der AfD) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der Ich habe hier schon einmal gesonderte Einkaufszeiten für SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Senioren und chronisch Kranke vorgeschlagen. NEN – Zurufe von der AfD) Meine Damen und Herren, es gibt übrigens auch Opfer, über die niemand spricht, nämlich die Kollateralopfer der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Anticoronamaßnahmen: Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alexander (Beifall bei der AfD – Zuruf von der AfD: Sehr Gauland. richtig!) (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt isolierte Alte, Depressive, sozial Schwache und nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht ent- zuletzt unsere Kinder. Die Qualität des Schulunterrichts schuldigt er sich für Pöbeleien!) sinkt durch Ausfallstunden, Hausunterricht und ständiges Maskentragen, (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Dramatisch!) (B) Dr. Alexander Gauland (AfD): (D) Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und das in einem Land, das keinen anderen Rohstoff und Herren! Es gibt eine einfache Lösung, die Zahl der besitzt als die Bildung. Verkehrsunfalltoten auf null zu senken: Man schafft den Straßenverkehr ab. (Beifall bei der AfD) ( [SPD]: Ätzender Vergleich!) Meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin, Angst ist ein schlechter Ratgeber. Bekanntlich tun wir das nicht, sondern wir wägen ab: Welchen Preis – sogar an Menschenleben – zahlen wir (Zuruf von der AfD: Richtig!) für welchen Nutzen? Deshalb gibt es den Straßenverkehr, Das tägliche Infektionszahlenbombardement soll aber (Zuruf von der SPD: Aber Regeln gibt es den Menschen offenbar Angst machen, weil die meisten trotzdem!) im Alltag nichts von Covid-19 sehen. Entschuldigung, aber es handelt sich um eine Art Kriegspropaganda, obwohl dort Menschen sterben. Menschen sterben auch an Krankheiten – jeden Tag. (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Jan Korte [DIE LINKE]: Es gibt die Straßen- René Röspel [SPD]: Da kennen Sie sich ja verkehrsordnung!) aus!) Das ist leider so. wozu ja auch passt, dass wir neuerdings von einer Art Wenn wir auf die aktuelle Coronalage blicken, lassen Kriegskabinett, dem Coronakabinett, regiert werden. sich zwei Feststellungen treffen. Erstens. Ja, das Infek- (Beifall bei der AfD) tionsgeschehen ist nicht mehr kontrollierbar. Zweitens. Es gibt dennoch vergleichsweise wenige Tote. Es hat die größten Freiheitsbeschränkungen in der Ge- schichte dieser Republik beschlossen – (Ulli Nissen [SPD]: Jeder Einzelne ist einer zu viel!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Unverschämt- heit!) Derzeit stirbt täglich eine niedrige bis mittlere zweistel- im Namen der Gesundheit der Bürger. Herr Lauterbach lige Zahl von Menschen an oder mit Covid-19. Daraus stellt in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ nun folgern manche, dass das Virus nicht besonders gefähr- lich ist. Tatsächlich verhält es sich so, dass es für die sogar die Unverletzlichkeit der Wohnung zur Disposition. meisten Menschen nicht besonders gefährlich ist. Ich ( [Erfurt] [SPD]: Falsch! – grüße an dieser Stelle den Bundesgesundheitsminister, Zuruf von der AfD: Pfui! Schämen Sie sich!) 23358 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Alexander Gauland (A) Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Schnappen wir Unsere Welt verändert sich auf erschreckende Weise in (C) allmählich über? Richtung Unfreiheit. Eine neue Wertehierarchie entsteht: weg von der individuellen Entscheidung und hin zu kol- (Beifall bei der AfD – Zuruf von der CDU/ lektiver Organisation. Meine Damen und Herren, wir CSU: Wer schnappt hier über?) haben in diesem Land die Freiheit zu mühselig errungen, Wo im Grundgesetz aber steht geschrieben, dass die als dass wir sie an der Garderobe eines Notstandskabi- Regierungschefin zusammen mit den Ministerpräsiden- netts abgeben. ten am Parlament vorbei solche Entscheidungen treffen (Beifall bei der AfD) darf? Eine Coronadiktatur auf Widerruf ist keine Lösung. Wir (Beifall bei der AfD – Carsten Schneider müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen [Erfurt] [SPD]: Das machen wir gerade nicht! sterben. Wir diskutieren doch, oder nicht?) „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, sagt Schiller „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entschei- in „Die Braut von Messina“. Er hat recht. Der Güter det“, heißt es bei Carl Schmitt. Darf ich Sie daran erin- höchstes ist die Freiheit. Freiheit in Würde, würde der nern, dass der Souverän dieses Landes das deutsche Volk Herr Bundestagspräsident hinzufügen. ist, repräsentiert durch den Bundestag? (Dr. Götz Frömming [AfD]: Die Würde des (Beifall bei der AfD) Menschen!) Und allein dieses Haus hat über Grundrechtseinschrän- Ich bedanke mich, meine Damen und Herren. kungen zu befinden und sonst niemand. Sonst sind wir (Beifall bei der AfD – Abgeordnete der AfD exakt wieder bei Carl Schmitt. erheben sich – Zuruf des Abg. Dr. Anton (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Karin Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Maag [CDU/CSU]) Wir betrachten die von Frau Merkel verkündete Lahm- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: legung des Kulturbetriebs, der Gastronomie, ja praktisch Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden des gesamten Freizeitlebens der Bürger als maßlos und der SPD, Dr. Rolf Mützenich. unangemessen. Für die Konzertszene, um nur ein Bei- (Beifall bei der SPD) spiel zu nennen, werden heute schon ausschließlich Onlinetickets verkauft. Jeder Besucher wird registriert. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Nach Auskunft des Präsidenten des Deutschen Bühnen- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (D) vereins gibt es keinen einzigen nachgewiesenen Fall Kollegen! Alle Erfahrungen und Zahlen der letzten einer Coronainfektion nach Veranstaltungsbesuchen auf Wochen bestätigen: Die Pandemie bleibt eine folgen- deutschen Bühnen. schwere, umfassende, existenzielle Herausforderung für (Beifall bei der AfD) unser Land und die Welt. Die Krankheit wird nicht von alleine verschwinden. In der Not rücken die Menschen Und auch ein normaler Restaurantbesuch unter Einhal- zusammen, auch wenn wir Abstand halten müssen. tung der AHA-Regeln gebiert keinen neuen Hotspot. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie wird gar (Beifall bei der AfD – Zuruf von der AfD: So nicht verschwinden! – Weiterer Zuruf von der ist es!) AfD: Sollen sie ja nicht!) Ich möchte Sie, Frau Bundeskanzlerin, ausdrücklich Das ist die paradoxe, aber beste Antwort auf die Pande- vor einem zweiten Lockdown der Wirtschaft warnen. mie, meine Damen und Herren. Das verkraften wir nicht. Wir müssen abwägen, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen. Dieser Preis ist zu hoch, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und vor allem zahlen ihn diejenigen, die alles richtig der CDU/CSU) gemacht haben: die Betreiber kleiner Restaurants und Und ja, gleichwohl muss der Staat die erforderlichen Hotels, eben der klassische deutsche Mittelstand, den Maßnahmen immer wieder überprüfen und gegebenen- Sie gerade dabei sind zu ruinieren. falls neu justieren. Meine Fraktion unterstützt die Be- schlüsse, (Beifall bei der AfD) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Armutszeug- Wir verlangen daher, dass das Parlament wieder voll- nis!) ständig in seine Rechte eingesetzt wird. Hier in diesem Hause soll über Maßnahmen gegen die Pandemie ent- die gestern die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsi- schieden werden und nirgendwo sonst. denten und die Bundesregierung zusammen getroffen haben. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eine Coronadiktatur auf Widerruf verträgt sich nicht mit der CDU/CSU) unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die befristeten Maßnahmen sind dringend erforderlich (Beifall bei der AfD – Armin-Paulus Hampel und verhältnismäßig. Wie im Frühjahr müssen wir die [AfD]: Sehr richtig!) Gesundheitsversorgung sichern und die Infektionsketten Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23359

Dr. Rolf Mützenich (A) unterbrechen. Zugleich schaffen wir große finanzielle Ich glaube, dass das der richtige Rahmen für diese Situa- (C) Auffanghilfen. Die Balance, meine Damen und Herren, tion ist. Im Kern wollen wir eine breitere Legitimität und zwischen notwendigen Eingriffen und Hilfen wurde Flexibilität schaffen. gewahrt. Ich bestreite nicht, dass auch nach den gestrigen Maß- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nahmen Ungewissheiten bleiben. Wir wissen mittlerwei- der CDU/CSU) le vieles, aber eben nicht alles über den Krankheitserre- ger. Ich war deshalb überrascht, mit welcher Absolutheit Von Anfang an war die weitreichende Ermächtigung und welch flotten Ideen einige in den vergangenen der Exekutive im Infektionsschutzgesetz eine Möglich- Wochen formuliert haben und anderntags davon nichts keit auf Zeit. Liegen neue, unbekannte Bedrohungslagen mehr wissen wollten. vor, ist diese breite Ermächtigung für eine Übergangszeit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zulässig, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte Gefahren von der Bevölkerung abwehren zu können. [DIE LINKE]: Das stimmt allerdings!) Die Zeit, in der wir eine maximale Flexibilität der Gleichzeitig empfand ich es als beunruhigend, mit wel- Exekutive benötigen, ist noch nicht vorbei. Das gegen- cher Attitüde schwierige Entscheidungen und Aushand- wärtige Infektionsgeschehen ist durch ein rapides Anstei- lungsprozesse unseres parlamentarischen und föderalen gen der Zahlen gekennzeichnet. Die Infektionswege las- Staatsaufbaus immer wieder infrage gestellt werden. Ich sen sich nicht mehr richtig nachverfolgen. Insbesondere finde, das kann man so nicht machen. kann die Erkrankung unbemerkt erfolgen, und es kann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier nicht mit effektiven Schutzmaßnahmen entgegenge- der CDU/CSU und der LINKEN) arbeitet werden. Eines der Wesensmerkmale unseres Grundgesetzes, (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) meine Damen und Herren, ist die Mitbestimmung und Vor diesem Hintergrund, finde ich, sind nicht nur die Mitverantwortung vieler, hervorgegangen aus freien Maßnahmen, sondern ist das, was der Deutsche Bundes- und demokratischen Wahlen. Dazu gehört auch die frei- tag beschlossen hat, richtig. Deswegen ist eine starre heitssichernde Wirkung einer föderalen Machtbegren- Festlegung auf wenige Befugnisse zum jetzigen Zeit- zung. Selbst in unsicheren Zeiten ist der Reflex zum punkt nicht angezeigt. Durchregieren keine Alternative zum mühsamen Kon- sensprozess. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Gleichwohl: Es ist richtig, dass wir die Erfahrungen Deswegen, meine Damen und Herren, möchte ich zum (B) aus der Pandemie auch als Gesetzgeber weiter aufarbei- (D) Schluss daran erinnern, dass die ARD vor einigen ten und in Gesetze umsetzen müssen. Deshalb streben wir Wochen eine beeindruckende Dokumentation des Journa- nach einer siebenmonatigen Pandemielage eine weitere listen Arnd Henze mit dem Titel „Ich weiß nicht mal, wie Konkretisierung im gesetzgeberischen Bereich an. Wir er starb“ ausgestrahlt hat. In einem Heim in Wolfsburg können da zusammen in den nächsten Wochen einen An- starben im Frühjahr 47 Bewohner an oder infolge von trag stellen, ob und wie wir zusätzliche Bestimmungen Covid-19. In der Dokumentation werden die Erfahrungen brauchen. Ich biete das den demokratischen Fraktionen der Angehörigen, Pflegekräfte und Ärzte ungeschönt und ausdrücklich an. zuweilen schmerzlich beschrieben. Darin berichtet ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Pfleger – und ich möchte mit Erlaubnis des Präsidenten der CDU/CSU) zitieren –: Meine Damen und Herren, in meiner Fraktion gibt es Aber natürlich haben wir noch die Angst …, dass erste Überlegungen, wie diese konkreteren rechtlichen das Virus wiederkommt. … Wenn es noch einmal Leitplanken für die Exekutive aussehen könnten. passieren würde, ich würde auch in ein anderes Heim gehen … um zu unterstützen, weil ich weiß, (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Das fällt was ich durchgemacht habe. Ihnen aber früh ein!) Meine Damen und Herren, allein um seinetwillen und Dazu gehören die Präzisierung der Generalklausel im der vielen, die Ähnliches erleben mussten, müssen wir Infektionsschutzgesetz sowie, Voraussetzungen und uns weiter der Pandemie entgegenstemmen. Grenzen von Standardmaßnahmen auszubuchstabieren. Und wenn es bundesländerüberschreitende Verhaltensre- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) geln gibt, wollen wir diese bundeseinheitlich zusammen- Wir, der Gesetzgeber, sind zwar nur ein Teil der Antwort, fassen. aber unabdingbar. (Beifall bei der SPD) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Zusätzlich brauchen wir Zustimmungsvorbehalte für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Parlament, regelmäßige Berichtspflichten des Bun- der CDU/CSU) desgesundheitsministers und eine Begründungs- und Befristungspflicht für Rechtsverordnungen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Christian Lindner. 23360 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) der AfD – Zuruf von der AfD: Und mit Fak- ten!) Christian Lindner (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Denn schließlich werden nun beispielsweise auch Gast- Deutsche Bundestag tritt heute zusammen, nachdem ges- ronomiebetriebe, Hotels, Freizeit- und Kultureinrichtun- tern empfindliche Einschränkungen der Freiheit be- gen sowie Kosmetikstudios geschlossen. Übernachtungs- schlossen worden sind. Diese Entscheidungen betreffen angebote werden massiv eingeschränkt. Sport wird Millionen Menschen; sie haben Auswirkungen auf das eingeschränkt. Es werden damit Bereiche geschlossen, soziale Miteinander und die wirtschaftliche Zukunft des die eben nicht regelmäßig als Infektionstreiber aufgefal- Landes. Sie wurden ohne Öffentlichkeit und nur von len sind, sondern die nötigenfalls sogar eine Nachverfol- Regierungsspitzen getroffen, aber sie binden 16 bzw. gung ihrer Gäste sicherstellen könnten. 17 Koalitionsregierungen und Legislativen. (Beifall bei der FDP) Der Deutsche Bundestag kann diesen Beschluss nur Wenn durch ihre Schließung Menschen in unkontrollierte noch nachträglich zur Kenntnis nehmen. Solche Ent- Graubereiche gedrängt werden, dann ist für die Bekämp- scheidungsprozesse gefährden nicht nur die Akzeptanz fung der Pandemie nichts gewonnen, ganz im Gegenteil. der Coronamaßnahmen, sie enthalten auch erhebliche (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Franziska rechtliche Risiken und drohen unsere parlamentarische Gminder [AfD]) Demokratie zu deformieren. Es schließen wieder pauschal und flächendeckend (Beifall bei der FDP und der AfD) Betriebe, nachdem die pauschalen Beherbergungsverbote Man kann zu dem Schluss kommen, dass weitreichen- gerade erst von Gerichten verworfen worden sind. Die de Grundrechtseinschränkungen – die Einschränkung der Regierungen gehen damit erneut rechtliche Risiken ein. Bewegungsfreiheit und der Ausübung des Berufs – not- Die Berechenbarkeit staatlichen Handelns darf aber nicht wendig sind, um die Pandemie zu kontrollieren. Diese fortwährend infrage gestellt werden. Entscheidungen sollten hier aber nicht nur kommentiert, (Beifall bei der FDP) sondern nach harter argumentativer Auseinandersetzung Der Staat hat es bisher zu oft nicht vermocht, die Infek- in öffentlicher Sitzung und gesetzlich getroffen werden. tionsrisiken von unkontrollierten Massenveranstaltungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zu unterbinden. In Berlin wurde die Unterstützung durch der AfD) die Bundeswehr abgelehnt, obwohl Gesundheitsämter personell am Limit arbeiten. (B) Frau Merkel, Sie haben gesagt, Debatte stärke die (D) Demokratie. Das ist richtig. Dafür muss die Debatte (Zuruf von der LINKEN: In einem Bezirk!) aber vor der Entscheidung stattfinden, und der Ort der Widersinnige Regeln haben den Familienurlaub von Entscheidung muss das Parlament sein. Rügen nach Rhodos umgelenkt. (Beifall bei der FDP und der AfD) (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) Der gestrige Tag hat zudem gezeigt, dass die Politik es Die Pandemie ist leider zum Alltag und die Notlage zur nicht erreicht hat, sich auf die absehbar im Herbst stei- Normalität geworden, und deshalb gehört die Pandemie- genden Fallzahlen vorzubereiten. Viele Betriebe hinge- bekämpfung zurück in die Parlamente. Alle Fraktionen gen haben in Hygienekonzepte investiert. Viele Men- dieses Hauses sehen inzwischen diese Notwendigkeit, schen haben sich sorgsam auf den Herbst vorbereitet. außer der Unionsfraktion alle auch mit hoher Dringlich- Diese Menschen zahlen jetzt den Preis dafür, dass der keit. Staat es nicht genauso getan hat. Viele Schließungen (Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt!) sind deshalb für den Gesundheitsschutz nicht nur unnö- tig, sie sind gegenüber den Menschen unfair. Die dazu notwendige gemeinsame interfraktionelle Initi- ative sollten wir nicht erst irgendwann, sondern umge- (Beifall bei der FDP und der AfD) hend und aus der Mitte dieses Hauses ergreifen. Für die von der Schließung Betroffenen gewährt die Regierung eine außerordentliche Wirtschaftshilfe. Sie (Beifall bei der FDP) wird nolens volens genutzt werden. Sie ist aber nur ein Das Pandemiegeschehen in Deutschland ist dyna- schwacher Trost; denn die Menschen wollen nicht dauer- misch. Wir sind alle in Sorge um die Gesundheit unserer haft Finanzhilfe vom Staat. Sie wollen arbeiten und öff- Angehörigen und Freunde oder um die eigene. Es ist nen, und das sollten sie überall dort dürfen, wo der Ge- richtig, die Zahl unserer Kontakte zu verringern und sundheitsschutz möglich ist. Abstände einzuhalten. Das Infektionsgeschehen muss (Beifall bei der FDP) durch wirksame, regional ausgerichtete und verhältnis- mäßige Maßnahmen eingedämmt werden. Wenn Schäden der Krisenpolitik immer weiter mit Schulden kompensiert werden müssen, wird selbst dieser Frau Merkel hat mehrfach betont, die Beschlüsse des Staat an die Grenze seiner finanziellen Handlungsfähig- gestrigen Tages seien erforderlich, geeignet und verhält- keit und in den Schuldensumpf geführt. Die Folgen für nismäßig. Diese Feststellung alleine reicht nicht. Das soziale Sicherheit, sozialen Frieden und den Wohlstand muss mit Argumenten untermauert werden. würden wir Jahrzehnte spüren, und deshalb ist eine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23361

Christian Lindner (A) Umkehr notwendig. Dieses Land sollte seine Ressourcen (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Bruno (C) nicht einsetzen, den Stillstand zu finanzieren. Wir müssen Hollnagel [AfD]) sie einsetzen, um öffentliches, kulturelles und wirtschaft- liches Leben zu ermöglichen. Gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat ein beachtlicher Teil der organisierten Ärztinnen und Ärzte (Beifall bei der FDP) zusammen mit namhaften Experten Bedenken gegenüber Die jetzt beschlossenen Maßnahmen wirken sich im Ihren Beschlüssen geäußert. Es wurden andere Vorschlä- Übrigen nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen aus. ge für die Bewältigung dieser Krise vorgelegt. Frau Bun- Die mittelbaren Nebenwirkungen werden wir im Handel deskanzlerin, dieser Gruppe kann und darf man nicht und bei der Investitionsbereitschaft in der ganzen Volks- Populismus oder Unkenntnis unterstellen, nur weil sie wirtschaft sehen. Die aktuelle Entwicklung der Kapital- zu anderen Abwägungen kommt als Sie. märkte ist dafür nur ein Indiz. Dieser zweite Lockdown (Beifall bei der FDP und der AfD sowie des sollte daher der Anlass sein, die Standortattraktivität Abg. [CDU/CSU] – Carsten Deutschlands insgesamt anzugehen. Vorschläge zum Ver- Schneider [Erfurt] [SPD]: Das hat sie auch zicht auf Bürokratie, zur Beschleunigung von Investi- nicht gemacht! Das sollte man ihr nicht unter- tionsvorhaben oder zur steuerlichen Entlastung haben stellen!) wir eingereicht. Diese Gruppe setzt auf Gebote statt Verbote, um an die Aber eine Maßnahme hebe ich hervor: Es ist dringlich, Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu die volle Verrechnung der Verluste dieses Jahres bei der appellieren und der Gewöhnung an Panikvokabular vor- Steuer mit den Gewinnen mindestens der beiden Vorjahre zubeugen. Sie regt die Konzentration der Ressourcen auf umgehend zu ermöglichen. Das Land wartet auf diese die Bevölkerungsgruppen an, die ein hohes Risiko für zielgerichtete, unbürokratische Sicherung der Zahlungs- schwere Krankheitsverläufe haben. Im gestrigen fähigkeit von Soloselbstständigen bis hin zur Industrie. Beschluss ist das nur einer von 16 Punkten, der im Übri- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen heute von der Frau Bundeskanzlerin noch einmal der CDU/CSU und der AfD) relativiert worden ist. Systematische Tests und Masken Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig davon, mit höchstem Schutzniveau können aber Menschenleben wie wir die aktuellen Maßnahmen im Einzelnen bewer- retten und zugleich der Vereinsamung unserer Eltern und ten, hoffen wir mit Ihnen, dass sie im Ergebnis zumindest Großeltern entgegenwirken. die aktuelle Welle brechen können. Aber was kommt (Beifall bei der FDP) danach? Was passiert im Dezember? Darauf haben wir (B) bislang keine Antwort gehört. Der Impfstoff, er wird Die Gruppe schlägt ein bundesweit einheitliches (D) dann noch nicht verfügbar sein, und selbst wäre er es, Ampelsystem vor, das regional differenzierte Maßnah- werden wir noch länger mit Corona leben müssen. men nachvollziehbar macht. Diese Anregungen könnten Basis eines Umgangs mit der Pandemie sein, der Hand- Was passiert also, wenn nach den Weihnachtsferien die lungssicherheit bietet, der dauerhaft durchhaltbar ist und Fallzahlen erneut steigen? Droht dann im Januar mit der der uns vom Aktionismus befreit. Aber selbst dann, wenn dritten Welle auch der dritte Lockdown und dann später man diese Vorschläge nicht oder zumindest nicht sofort die vierte Welle mit dem vierten Lockdown? teilt, belegen sie eines: Die Krisenpolitik der Regierung (Ulli Nissen [SPD]: Was will die FDP?) ist nicht alternativlos. Eine vertiefte Debatte über Alter- Sollen irgendwann – um das kolportierte Zitat aus nativen zu den beispiellosen Freiheitseinschränkungen Unionskreisen zu verwenden – die Zügel so stark ange- dieser Tage zogen werden, dass auch die Wohnungsdurchsuchungen (Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) aus der Vorstellungswelt bestimmter Mitglieder dieses Hauses durchgeführt werden? findet hier im Zentrum unserer Demokratie indessen nicht hinreichend statt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eines Mitglieds!) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Bei Ihnen Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein Grundrecht, vielleicht nicht!) und wem unsere Verfassungsordnung heilig ist, der stellt Aber jeder Vorschlag, der Gesundheitsschutz und Freiheit das nicht infrage. in eine bessere Balance bringt als Ihre Politik, hätte eine (Beifall bei der FDP und der AfD) ernsthafte und ergebnisoffene Prüfung verdient. Es ist nun Zeit, dass dieses Land vom aktionistischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Krisenmanagement zu einer nachhaltigen und dauerhaft der AfD – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sie durchhaltbaren Risikostrategie wechselt. Im März musste sitzen da schon nebeneinander! Machen Sie kurzfristig gehandelt werden. Im Sommer schien der doch gleich eine gemeinsame Fraktion! – Staat überrascht von Urlaubsheimkehrern und jetzt von Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann saisonal steigenden Fallzahlen. Jedes Mal Showdown- [FDP]: Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! – Sitzungen, jedes Mal aktionistische und teils in sich Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ja, da haben Sie widersprüchliche Maßnahmen. Mag dieser zweite Lock- völlig recht, Herr Buschmann! – Manuel down auch milder sein als der erste: Es muss nun der Höferlin [FDP]: Das war ein peinlicher letzte gewesen sein. Spruch!) 23362 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: entscheiden, ob und wie wir Weihnachten feiern können. (C) Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob unser CDU/CSU, Ralph Brinkhaus. Gesundheitssystem die Pandemie tragen kann. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob unser wirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftlicher Wohlstand erhalten werden kann.

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): (Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Und in den nächsten Wochen wird sich auch entschei- Lindner, es ist das Recht und die Pflicht der Opposition, den, wo Deutschland und Europa in dieser Welt stehen. die Regierung zu kritisieren und auch zu sagen, welche Denn wir sehen nämlich eins, meine Damen und Herren: Entscheidungen falsch getroffen wurden. Das ist total in Totalitäre, autoritäre Systeme kommen mit Mitteln, die Ordnung, und darüber kann man sich sachlich unterhal- wir nicht einsetzen wollen, besser mit dieser Pandemie ten. Aber ernsthafte Bemühungen, dieses Land irgendwie zurecht als wir. vor einer schweren Pandemie zu retten, als Aktionismus zu bezeichnen, ist eines Liberalen unwürdig. Ihre Vor- (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Quatsch! Wie gänger hätten sich dafür geschämt, Herr Lindner. Sie kann man so einen Quatsch erzählen!) hätten sich dafür geschämt. Es geht darum, dass wir als offene, demokratische, plu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie rale Gesellschaft beweisen, dass wir diese Pandemie auch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE in den Griff bekommen, meine Damen und Herren. GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Was sagt denn Ihr Vorgänger, der hinter Ihnen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sitzt? Lesen Sie doch mal seine Briefe!) GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat Wie kann man Werbung für Autoritarismus gesagt: Wir müssen kämpfen. – Ja, dieses Land kämpft, im Zentrum der deutschen Demokratie und dieses Land kämpft in einer beeindruckenden Art machen!) und Weise: Wenn ich sehe, mit wie viel Kreativität und Deswegen werden wir hier in diesem Bundestag, wird Improvisationstalent in den Schulen der Unterricht wei- diese Bundesregierung, werden die Landesregierungen terläuft, wo die Kinder in Jacken sitzen, wo die Lehrerin- kämpfen, kämpfen gegen diese Pandemie. nen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler Masken aufhaben. Wenn ich sehe, was im Gesundheitswesen Ich kann Ihnen eins sagen: Wenn ich mir die Beschlüs- läuft, wo die Leute – Rolf Mützenich hat es gerade ange- se von gestern angucke, dann muss man die ganze Sache (B) (D) sprochen – immer wieder in die Pflegeheime hineingehen einfach mal bewerten. Beschlüsse müssen ehrlich sein, und versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Wenn ich sie müssen klar sein, sie müssen einig sein, und sie müs- sehe, was in den Betrieben passiert, wo intelligent ver- sen furchtlos sein, weil man den Menschen auch was sucht wird, mit klasse Konzepten den Betrieb aufrecht- zumuten muss. Und die Beschlüsse von gestern sind zuerhalten, damit die Wertschöpfungsketten auch erhal- klar, einig, furchtlos, und sie muten den Menschen was ten bleiben. zu, und das haben wir uns nicht ausgesucht. (Zurufe von der AfD) (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Wenn ich sehe, was die Gastronomie, die jetzt besonders Da ich jetzt auch die Vertreterinnen und Vertreter der hart betroffen ist, in den vergangenen Monaten geleistet Landesregierungen hier sehe: Ich bin sehr froh, dass es hat. diesmal gelungen ist, Einigkeit herzustellen, dass wir kei- Meine Damen und Herren, wenn ich insbesondere nen Flickenteppich haben, dass alle mitmachen. Das ist sehe, was momentan von den Familien geleistet wird, eine großartige Leistung, die gestern erreicht worden ist, um durch diese Pandemie durchzukommen. Und wenn liebe Kolleginnen und Kollegen. mir eine alte Frau sagt: „Ich habe nur noch zwei oder (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) drei Jahre zu leben, und ich kann meine Enkelkinder nicht mehr sehen“, dann berührt das; dann berührt das, meine Diese Maßnahmen müssen auch eins machen: Sie Damen und Herren. müssen priorisieren, und die Priorität ist ganz klar Gesundheit. Danach kommt die Priorität – und zwar (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gleichrangig; das ist wichtig –, dass die Wirtschaftskreis- bei Abgeordneten der LINKEN und des läufe erhalten bleiben und dass Schulen und Kindergärten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) offen bleiben. Das war der Fehler im Lockdown am Ich finde, dafür gebührt den Menschen in diesem Land Anfang des Jahres. Das ist uns wichtig, und dafür stehen erst mal ein ganz dickes Dankeschön in dieser Debatte. viele, viele andere Sachen dann auch zurück. Ich bin stolz auf dieses Land und bin stolz darauf, was (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hier geleistet wird, meine Damen und Herren. neten der SPD und des Abg. Christian Kühn (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Und die ganze Sache ist leider noch nicht zu Ende. Die Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beschlüsse Bundeskanzlerin hat es gesagt: Wir werden weiter- müssen auch eins mitbringen: Sie müssen denjenigen kämpfen müssen. – In den nächsten Wochen wird sich helfen, die jetzt besonders betroffen sind. Deswegen, lie- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23363

Ralph Brinkhaus (A) ber , lieber Olaf Scholz, bin ich sehr froh, Gut, dass wir nicht auf Sie gehört haben. (C) dass Sie gestern ein großes Programm aufgelegt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie was insbesondere der Gastronomie hilft. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN – Stephan Thomae [FDP]: Punktge- Jetzt kann ich eins sagen – Herr Lindner hat gesagt: ja, nau reagiert!) das ist ja auch alles teuer; ja, das muss ja auch alles Ich könnte Ihnen einen Vortrag darüber halten, wie bezahlt werden –: Diese Menschen in der Gastronomie, dieser Staat funktioniert. Ja, wir haben Gewaltenteilung. im Beherbergungsgewerbe, in der Veranstaltungswirt- Es ist daher nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, schaft tragen für uns alle eine große Last und verdienen darüber zu entscheiden, wie hoch die Quadratmeterzah- unsere Solidarität und verdienen auch das Geld, das wir len von Möbelhäusern sein müssen, damit sie offenge- dafür ausgeben. halten werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ja, weil wir sie zumachen!) Es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages, darüber zu entscheiden, ob sich 10 oder 15 Menschen Insofern kann ich nur eines sagen: Die Beschlüsse von treffen. Das ist die Aufgabe der Exekutive. gestern sind leider notwendig. Sie sind hart, aber sie sind angemessen, und deswegen werden sie von meiner Frak- (Beifall der Abg. Dr. tion auch unterstützt. [SPD] – Stephan Thomae [FDP]: Aber die kann es ja nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir haben einen Bund-Länder-Föderalismus. Es ist ein- Das hätte ich nicht erwartet!) fach so – kleine Nachhilfe in Verfassungskunde –: Die Rechtsdurchsetzung obliegt den Ländern und nicht dem Es ist hier auch über die Rolle des Parlamentes geredet Bund. Das kann man ändern wollen, aber es geht nicht, zu worden. behaupten, dass das Parlament nicht beteiligt ist. Das ist ( [AfD]: Schämen Sie sich!) falsch. Das ist unredlich, liebe Kolleginnen und Kolle- gen. Es ist unsere Aufgabe hier in diesem Plenum, immer auch abzuwägen: Sitzt das Parlament noch auf dem Fahrersitz? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Zurufe von der AfD: Nein!) Zurufe der Abg. Beatrix von Storch [AfD] und Stephan Thomae [FDP]) (B) – Die Rolle der Opposition ist, das Ganze zu kritisieren. – (D) Ich kann diese Frage beantworten. Ich könnte es mir jetzt Aber das entbindet uns natürlich nicht davon – Rolf sehr einfach machen und fragen: Welches Parlament auf Mützenich hat es gesagt –, immer wieder zu überprüfen: dieser Welt hat in dieser Pandemie so viel Mitsprache wie Ist das denn alles richtig? der Deutsche Bundestag? (Zurufe von der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Eine Pandemie in dieser Dimension ist für uns eine der SPD – Lachen bei der AfD – Jan Korte neue Erfahrung. Deswegen werden wir den Überprü- [DIE LINKE]: Was ist das für eine Argumen- fungsprozess immer wieder durchlaufen. Im Übrigen tation?) haben wir die Regierung immer wieder korrigiert. Das ist aber nicht unser Maßstab. Wir debattieren nächste Woche über das Bevölke- (Zurufe von der AfD) rungsschutzgesetz. Die ursprüngliche Fassung aus dem Kabinett sah anders aus. Das war unsere Arbeit als Koa- Ich könnte Ihnen erklären – da Sie wahrscheinlich litionsfraktionen. Das heißt, der Parlamentarismus in nicht da waren –, dass dieser Bundestag in 70 Debatten, unserer Demokratie funktioniert. in vielen, vielen Gesetzgebungsvorhaben, in Haushalts- debatten und durch Nachtragshaushalte den Rahmen (Stephan Thomae [FDP]: Hätten Sie das mal dafür gesetzt hat, was diese Regierung machen kann. gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan Ich kann Ihnen eines sagen: Natürlich müssen wir uns Korte [DIE LINKE]: Sie sind aber nicht der darüber unterhalten, ob die Bund-Länder-Beziehungen Sprecher der Bundesregierung!) so, wie sie momentan aufgestellt sind, leistungsfähig sind. Aber, Entschuldigung, ich kann doch jetzt nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie verwechseln hier sagen: Liebes Covid-19, mach mal eine Pause, wir müs- etwas: Nur weil Sie sich mit Ihren Anträgen nicht durch- sen erst unsere Bund-Länder-Beziehungen definieren. gesetzt haben, versuchen Sie, die Arbeit des Parlaments dadurch zu diskreditieren, indem Sie sagen, dass dieses (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Parlament nicht mitredet. Heiterkeit der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Ulli Nissen [SPD]: Schade!) Lieber Herr Lindner, Ihre Fraktion war es, die im Sommer beantragt hat, dass dieser Deutsche Bundestag So geht es nicht. Wir müssen doch im Grunde genommen erklärt, dass diese Pandemie keine nationale Tragweite eines machen: Wir müssen diese Pandemie bekämpfen. mehr hat. Jetzt komme ich zu einem großen Thema, das mir (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: So war es!) persönlich sehr wichtig ist, 23364 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Ralph Brinkhaus (A) (Christian Lindner [FDP]: Parteivorsitz!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) neten der SPD und des Abg. Dr. Anton nämlich das Thema „Grundrechte und Freiheit“. Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Lachen bei der AfD) Wenn wir das nicht immer wieder zum Maßstab unseres Natürlich ist es so, dass Grundrechte und Freiheit einge- Handelns machen, dann haben wir unsere Berufung und schränkt werden; das ist überhaupt keine Frage. Es ist unsere Aufgabe hier verfehlt. unsere Aufgabe – Herr Lindner hat es gesagt, und ich (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) denke, die Linken und die Grünen werden es gleich auch sagen –, immer wieder zu hinterfragen: War das Ich bin der Meinung, dass dieses Parlament der Auf- richtig, und ist das angemessen? Denn Freiheit und gabe nachgekommen ist, immer wieder auszubalancie- Grundrechte sind das höchste Gut. Herr Gauland, ich ren: Was ist an Grundrechtseinschränkungen notwendig, fand das jetzt ein bisschen komisch, dass Sie gesagt was ist möglich? Es gab darüber viele Diskussionen. Wir haben: Leben ist nicht so wichtig. – Erzählen Sie das sind darüber in einem verstärkten Dialog. Ich bin auch mal jemandem, der gerade seinen nahen Angehörigen der Meinung, dass die Bundes- und Landesregierungen verloren hat. sehr verantwortungsvoll damit umgegangen sind (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Armin-Paulus Hampel [AfD]: Pfui! Unerhört! – GRÜNEN]: Na ja!) Weitere Zurufe von der AfD) und immer wieder sehr ernsthaft abgewogen haben, was Aber Freiheit ist nicht nur die Freiheit der Starken und geht und was nicht geht. der Jungen. Freiheit ist auch die Freiheit der COPD- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das kann man jetzt Patienten, die nicht mehr aus dem Haus kommen. nicht behaupten in der Allgemeinheit!) (Beatrix von Storch [AfD]: Sie Heuchler!) Deswegen unterstützen wir die Bundesregierung und die Freiheit ist auch die Freiheit der Kinder, die nicht mehr Landesregierungen auf diesem Weg. Aber das ist kein beschult werden und bei denen keine Elternhäuser dahin- Blankoscheck; das ist ganz klar. Sie werden natürlich terstehen, die helfen können. immer wieder auch hier Bericht erstatten müssen. Im Übrigen haben wir als Parlament jederzeit die Möglich- (Martin Reichardt [AfD]: Die sitzen bei keit, das Infektionsschutzgesetz oder andere Gesetze zu 10 Grad im Klassenraum!) ändern, Verordnungsermächtigungen zu begrenzen und Freiheit ist auch die Freiheit der alten Menschen, die in vieles mehr, und dieses Recht, das werden wir uns auch (B) den Pflegeheimen nicht mehr besucht werden können. nehmen. (D) Freiheit ist auch immer die Freiheit der Schwachen und der anderen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ist mir noch gar nicht aufgefallen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Auffassung von Parlamentarismus ist es, die neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Regierung zu kritisieren, die Regierung zu kontrollieren. GRÜNEN) Meine Auffassung von Parlamentarismus ist es aber Meine Damen und Herren, in dieser Covid-Pandemie auch, in der größten Krise dieses Landes, in der größten treffe ich nie nur eine Entscheidung für mich selbst. Ich Krise seit 1945, dort, wo es möglich ist, diese Regierung treffe immer auch Entscheidungen für andere mit. Ich zu unterstützen. Denn eines ist klar: Wenn wir aus dieser treffe immer auch Entscheidungen für die Schwachen Krise herauskommen wollen, dann kriegen wir das nur mit. gemeinsam hin, und das sollte uns in diesen Diskussionen leiten. (Zuruf des Abg. Tino Chrupalla [AfD]) Wer den Freiheitsbegriff darauf reduziert, dass die Star- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- ken ihre Freiheit ausüben können, der degeneriert den fall bei der SPD – Sebastian Münzenmaier Freiheitsbegriff zum Recht des Stärkeren, und das ist [AfD]: Plattitüden!) nicht die Politik der Christlich Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der Lin- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ken, Amira Mohamed Ali. Sebastian Münzenmaier [AfD]: So ein (Beifall bei der LINKEN) Quatsch!) Ich kann Ihnen eines sagen – das habe ich schon im Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): März gesagt –: Man kann viel korrigieren: Man kann Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! wirtschaftliche Fehler korrigieren, man kann Schlie- Kolleginnen und Kollegen! Ja, richtig: Die Infektions- ßungen korrigieren, vielleicht kann man sogar das korri- zahlen steigen dramatisch. Es ist jetzt dringend notwen- gieren, was im Bildungssystem falsch läuft. Aber ich dig, etwas zu tun. Ja, es ist auch richtig: Persönliche möchte eines an dieser Stelle noch mal ganz klar sagen: Kontakte müssen deutlich reduziert werden. Dazu wur- Der Tod eines Menschen, der Tod eines nahen Angehö- den jetzt viele Maßnahmen vorgelegt, die sehr einschnei- rigen ist irreversibel. dend sind. Aber ob diese Maßnahmen wirklich alle erfor- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23365

Amira Mohamed Ali (A) derlich sind, um die Infektionszahlen zu reduzieren, ist, Genauso falsch war es, dass Sie den von uns beantragten (C) so möchte ich sagen, zumindest noch nicht nachvollzieh- Pandemiezuschlag für Menschen in Hartz IV und für bar erklärt worden. Menschen in Grundsicherung in Höhe von 200 Euro pro Monat nicht realisiert haben. (Beifall bei der LINKEN) Ich merke, auch jetzt ist von diesen Dingen in Ihren Ich persönlich habe zum Beispiel nicht verstanden, Plänen überhaupt nicht die Rede. Dabei wären diese warum Sportplätze im Freien jetzt geschlossen werden Maßnahmen so wichtig, sie würden wirklich helfen. müssen, wo doch gerade Aktivitäten im Freien mit weni- ger Risiken verbunden sind. Profifußball findet hingegen (Beifall bei der LINKEN) weiterhin statt, wenn auch ohne Zuschauer. Es ist wich- Das würde die Kaufkraft stärken, es wäre also konjunk- tig, dass die Maßnahmen nachvollziehbar und transparent turpolitisch sinnvoll, und es würde den Menschen vor begründet werden, damit entsprechende Akzeptanz in der allem Sicherheit geben, und genau das ist es doch, was Bevölkerung vorhanden sein kann. wir besonders in dieser Krise brauchen. Ich möchte auch etwas zur Parlamentsbeteiligung (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sagen. Man kann ja juristisch unterschiedlicher Auffas- sung sein, ob das Parlament vorher hätte entscheiden Stattdessen wächst die Unsicherheit. Auch die Liste müssen oder nicht – ich bin der Meinung, das Parlament der Unternehmen, die Tausende Arbeitsplätze streichen hätte darüber entscheiden müssen –, wollen, wird immer länger. Allein in der Automobil- und Zulieferindustrie ist ein Abbau von weit über 50 000 Stel- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. len angekündigt. Ich muss sagen: Jetzt rächt es sich Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE doppelt, dass Sie den Strukturwandel in der deutschen GRÜNEN]) Autoindustrie verschlafen haben. Wo ist Ihre Zukunfts- aber Sie müssen doch bitte zur Kenntnis nehmen, dass es strategie für die deutsche Industrie? Ein weiteres Zuwar- für die Akzeptanz der Maßnahmen wesentlich besser ist, ten können wir uns hier wirklich nicht erlauben, Kolle- wenn die Debatte vor der Entscheidung hier in diesem ginnen und Kollegen. Parlament stattfindet; das ist wichtig, um die Akzeptanz (Beifall bei der LINKEN) zu gewährleisten und zu erhöhen. So ist es auch bei den Hilfen für kleine und mittlere (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Unternehmen, für Soloselbstständige, für Künstlerinnen neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE und Künstler, für das Gaststättengewerbe. Die Bundesre- GRÜNEN und der Abg. Franziska Gminder gierung konnte diesen Menschen ihre Existenzsorgen [AfD]) (B) bisher nicht nehmen. In den letzten Hilfspaketen wurden (D) Wichtig für die Akzeptanz der Maßnahmen – ich ganze 25 Milliarden Euro Überbrückungshilfen verspro- möchte jetzt auf die Folgen zu sprechen kommen; das chen. Stand heute ist davon gerade einmal 1 Milliarde ist heute noch viel zu kurz gekommen – ist eben auch, Euro bewilligt worden; das sind nur 4 Prozent. Das heißt, dass sie sozial abgefedert sind, dass dadurch niemand in die Bundesregierung hat es nicht geschafft, den überwie- eine Notlage gerät. genden Anteil dieser Hilfen da ankommen zu lassen, wo sie benötigt werden. Das geht nicht! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Aber hier muss man leider feststellen: Mit Ihrer Politik, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie genau das im ersten Und jetzt stellen Sie in Aussicht, dass besonders Lockdown leider nicht sichergestellt. betroffene Unternehmen, Restaurants, Konzertveranstal- ter, den ausgebliebenen Umsatz zum großen Teil erstattet (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) bekommen sollen. Das klingt ja erst mal wie ein Schritt in Stattdessen ist die Schere zwischen Arm und Reich und die richtige Richtung; aber dann müssen Sie diesmal auch noch einmal kräftig auseinandergegangen. Und genau das wirklich sicherstellen, dass die Hilfen passgenau sind, droht sich jetzt zu verschärfen. Noch nie, auch nicht in und vor allem, dass sie die Betroffenen erreichen, und der Finanzkrise, ist die Wirtschaftsleistung so stark ein- zwar zeitnah. gebrochen wie im zweiten Quartal dieses Jahres. Wir (Beifall bei der LINKEN) haben aktuell immer noch rund 3,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Das sind mehr als doppelt so viele wie auf Ich möchte jetzt noch auf einen weiteren Punkt hin- dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009. Die Einkommens- weisen, über den heute noch nicht gesprochen worden einbußen durch Kurzarbeit sind besonders für die Men- ist; da trifft Sie wirklich ein großes Versäumnis, Kolle- schen, die ein niedriges Einkommen haben, existenzbe- ginnen und Kollegen von Union und SPD: Sie haben es drohend. Und auch diejenigen, die mit dem geringeren versäumt, die letzten Monate, die Sommermonate, dafür Einkommen über die Runden kommen, haben Sorge um zu nutzen, unser Land auf die zweite Welle vorzuberei- ihren Arbeitsplatz, um ihre Zukunft. ten. Denn die kommt nun wirklich nicht überraschend. Wir haben schon im Frühjahr beantragt, dass das Kurz- Schauen wir mal in die Schulen: Es ist wirklich gut – arbeitergeld auf 90 Prozent erhöht wird, im Niedriglohn- darüber bin ich sehr erleichtert –, dass sie offenbleiben bereich auf 100 Prozent. Ich muss sagen: Es war ein sollen; ich glaube, darüber sind wir alle erleichtert. Aber großer Fehler der Regierungskoalition, das abzulehnen. sind die Schulen auf die zweite Welle vorbereitet? (Beifall bei der LINKEN) (Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Nein!) 23366 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Amira Mohamed Ali (A) Warum hat die Bundesregierung die Zeit nicht genutzt, Denken Sie da mal bitte an Ihr christlich-soziales Gewis- (C) um gemeinsam mit den Ländern ein Konzept zu erarbei- sen. ten, das vorsieht, dass bundesweit die Klassenstärken Und übrigens: Zu einem reinen Gewissen gehört auch, deutlich reduziert werden? Das ist doch der zentrale dass man die Wahrheit darüber sagt, wer am Ende die Punkt. Kosten dieser Krise tragen wird. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- (Dr. [DIE LINKE]: Sehr Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtig!) NEN]) Und diese Kosten sind immens. Auf Anfrage meiner Wie lange, meinen Sie, sollen die Kinder in den Schulen Fraktion bezifferte das Bundesfinanzministerium sie für im herannahenden Winter bei offenen Fenstern in voll- dieses und nächstes Jahr auf gigantische 1,5 Billionen besetzten Klassenräumen unterrichtet werden? So ist ver- Euro; das sind 1 500 Milliarden Euro. Und darin sind nünftiger Infektionsschutz doch überhaupt nicht zu die Kosten für diesen zweiten Lockdown noch nicht gewährleisten. berücksichtigt. Schauen wir mal in den Pflegebereich. Um eine Über- Wenn alles so bleibt, wenn Sie nichts verändern, dann lastung unseres Gesundheitswesens zu vermeiden, wird dieses Geld über die Kürzung von Sozialleistungen, braucht es vor allem eins: Wir brauchen mehr Pflegerin- Rentennullrunden, Steuererhöhungen für kleine und mitt- nen und Pfleger, und das wissen Sie. lere Einkommen wieder reingeholt werden. Das müsste nicht so sein. Es ist dringend notwendig, diejenigen, die (Beifall bei der LINKEN) extrem hohe Einkommen haben, gerecht an der Finanzie- Trotzdem hat die Bundesregierung nicht dafür gesorgt, rung dieser Krise zu beteiligen. Wir brauchen eine Ver- dass hier endlich die Löhne deutlich steigen, zum Bei- mögensabgabe für Multimillionäre und Milliardäre. Das spiel durch die Einführung flächendeckender, allgemein- ist dringend notwendig, um Sozialabbau zu vermeiden. verbindlicher Tarifverträge für alle Pflegerinnen und (Beifall bei der LINKEN) Pfleger. Ich fasse zusammen. Die Coronamaßnahmen müssen (Beifall bei der LINKEN) nachvollziehbar und gut begründet sein, damit sie akzep- Hier heißt es dann immer – Frau Bundeskanzlerin, auch tiert werden können. Wir brauchen soziale Sicherheit. Es Sie sagen das, und auch Bundesminister Spahn habe ich muss alles sozial gut abgefedert werden. Niemand darf das sagen hören –: Na ja, durch höhere Löhne bekommen durch diese Krise in Not geraten. Wenn wir das schaffen, wir nicht mehr Pflegekräfte, zumindest nicht kurzfristig. – dann kommen wir auch gemeinsam gut und sicher hier (B) Aber das ist einfach falsch. Sie müssen doch einmal zur durch. (D) Kenntnis nehmen, wie viele Menschen diese Branche in Vielen Dank. den letzten Jahren verlassen haben, weil die Löhne mies (Beifall bei der LINKEN) sind, weil die Arbeitsbedingungen unzumutbar sind. Selbstverständlich wäre es durch deutlich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen möglich, kurzfristig Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Menschen für die Pflege zurückzugewinnen. Jetzt erteile ich das Wort der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber dann muss man bereit sein, dafür Geld in die Hand zu nehmen. Es ist einfach fatal, dass Sie das nicht sind. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fatal ist auch, dass Menschen, die in finanziellen NEN): Schwierigkeiten sind, jetzt, genau genommen seit Juli, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im wieder befürchten müssen, dass ihnen die Wohnung Sommer schien alles schön; es fühlte sich an, als gäbe es gekündigt und dass ihnen der Strom in der Wohnung gar kein Corona. Gut für die Bürgerinnen und Bürger, die abgeschaltet wird. Auch auf unser Wirken hin gab es Urlaub hatten und machen konnten. Allerdings scheint es einen Ausschluss von Mietkündigungen und Stromsper- mir so, als ob dieses Gefühl von Pause auch bei der ren bis zum 30. Juni. Wir haben beantragt, dass diese Bundesregierung um sich gegriffen hat und sie im Regelung verlängert wird. Aber das haben Sie von Union Sommer irgendwie vergessen hat, dass es Corona gibt. und SPD allen Ernstes abgelehnt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist die Und dann kamen plötzlich die Urlaubsrückkehrerinnen, Wahrheit! Genau!) und dann kam plötzlich der Schulanfang, und dann Sie lassen ernsthaft zu, dass Menschen mitten in dieser kamen plötzlich die Herbstferien. Und das ist ein Pro- Situation, mitten in einer Pandemie der Strom in ihren blem. Wohnungen abgeschaltet werden kann – bei einem droh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) enden, herannahenden Winter. Ich finde das unglaublich! Ich will das gar nicht wohlfeil sagen. Vielleicht ist das (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven- ja auch verständlich, nach einem auch für alle politischen Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger NEN]) wahnsinnig aufreibenden Frühjahr. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23367

Katrin Göring-Eckardt (A) (Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) halten, haben ihre Rentenvorsorge aufgebraucht oder (C) Aber es hat verdammt viel gekostet: Es hat Vertrauen auf Pump von der Familie gelebt. Geben Sie denen jetzt gekostet. Es hat Existenzängste, Verunsicherung und Stil- die Sicherheit, und zwar auch rückwirkend. Es ist not- le ausgelöst. Es hat Theateraufführungen und Konzerte wendig für deren Existenz, aber auch dafür, dass wir im gekostet. Es kostet Begegnungen. nächsten Jahr noch Kunst, Kultur und Veranstaltungen in diesem Land haben. Das geht, das ist möglich, das ist Gewusst haben wir alle, dass der Herbst kommen wird, finanzierbar. dass es kälter wird, dass die Infektionszahlen steigen werden. Aber Sie waren nicht vorbereitet. Stattdessen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erst mal hektisches Agieren, Wirrwarr, Hin und Her, Ja, wir sind nicht mehr in der gleichen Situation wie im Bund und Länder, dies und jenes, Flickenteppich in Frühjahr. Wir wissen jetzt mehr. Wir wissen noch nicht Deutschland. So ist aus der Infektionskrise auch eine Ver- alles, aber wir wissen mehr. Deswegen braucht es jetzt trauenskrise geworden. Diese gilt es jetzt zu beheben mit wirklich eine Strategie für die nächsten Monate. Dazu großer Kraft, mit Entschlossenheit und mit Gemeinsam- gehört als Erstes der Schutz von Risikogruppen. Wir keit, meine Damen und Herren. müssen sie natürlich vor einer Ansteckung mit dem Virus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schützen, aber eben auch gleichzeitig vor Einsamkeit und vor Verzweiflung. Die dunkle Jahreszeit kommt ja erst Wir stehen an einem wirklich kritischen Punkt. Um noch. Menschen brauchen Kontakt, sie brauchen Begeg- den Anstieg der Infektionszahlen zu bremsen, Menschen nung. Deswegen sind Dinge wie beispielsweise Schnell- zu schützen und eine Überforderung des Gesundheitssys- tests – sie sind zur Verfügung zu stellen – wichtig und tems zu verhindern, müssen wir tun, was Sie vorgeschla- zentral. Ich erwarte, dass das jetzt auch wirklich mit gen haben – nicht im Einzelnen, aber im Grundsatz –, großer Kraft angegangen wird und dass es nicht wieder nämlich die Welle brechen. Daran führt kein Weg vorbei. an irgendetwas fehlt, weil die Pandemiewirtschaft doch Ich bedauere, das sagen zu müssen, aber ich sage auch: nicht funktioniert. Im Kern stimmen wir dem zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall des Abg. Sven-Christian Kindler Karin Maag [CDU/CSU]: Wir sind in der Aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lieferung, Frau Kollegin!) Ich finde es aber im Hinblick auf das Vertrauen in die Dazu gehört, dass wir bundesweit klare, einheitliche Bundesregierung unfassbar wichtig, dass wir jetzt nicht und rechtssichere Vereinbarungen haben, welche Dinge wieder sagen: Nächste Woche, am 2. November, wird erst bei welcher Stufe des Infektionsgeschehens notwendig mal alles dichtgemacht, aber wie genau die Hilfe für die sind. Da geht es nicht darum, dass man eine Ausnahme (B) Leute aussieht, die dichtmachen müssen, das liefern wir macht, wenn es nur – nur! – einen Schlachthof betrifft. (D) dann mal nach. – Das wäre die nächste Vertrauenskrise. Ich hätte es übrigens gut gefunden, wenn wir die Arbeits- Das sollten Sie so bitte nicht machen. bedingungen in den Schlachthöfen sofort geändert hätten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn jetzt, wie angekündigt, noch einmal vieles, was Aber das nur am Rande; es gehört eigentlich nicht in uns lieb ist, was Spaß macht, was uns wichtig ist, was die diese Debatte. Seele, was die Gemeinschaft, was die Gesellschaft braucht, unterlassen werden muss, dann muss auch klar Es muss gemeinsam geschehen. Es muss nachvollzieh- sein, dass diese Zeit genutzt werden muss, folgende Fra- bar sein. Wir müssen wissen, was wann passiert. Es sollte gen zu beantworten: Wie kommen wir denn dann wieder nicht auf den Schultern der Landrätinnen, der Bürger- da raus? Wie werden wir in den nächsten Monaten nach meisterinnen ausgetragen werden, die dann immer vor dem Lockdown mit diesem Virus leben? Wie sorgen wir Ort für alles verantwortlich gemacht werden, was woan- dafür, dass gesellschaftliches Leben stattfindet, dass Kul- ders entschieden worden ist. Das geht nicht mehr, meine tur stattfindet, dass wir draußen sein können? Ja, natür- Damen und Herren. lich mit Vorsicht, mit Hygienekonzept, mit all dem, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den letzten Monaten von vielen Einzelnen so gut und sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LIN- so klar erarbeitet worden ist. Das ist jetzt die Aufgabe von KE] – Zuruf des Abg. [SPD]) Politik, damit wir aus diesem Lockdown, aus dieser Krise herauskommen als Gesellschaft, die zusammenhält, und Dazu gehören bessere Informationen auf allen Kanälen als Gesellschaft, die mit diesem Virus umgehen kann; und in allen Sprachen. Wenn wir nicht wissen, wie 75 Pro- denn eigentlich können wir das in unserem Land. zent der Infektionen zustande gekommen sind, wenn wir das wirklich nicht wissen, dann ist doch spätestens jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Moment, das zu erforschen. Dazu gehört, Menschen nicht mehr hinzuhalten. Ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- denke hier zum Beispiel an den Unternehmerinnenlohn SES 90/DIE GRÜNEN) für die Selbstständigen, für die Soloselbstständigen. Ich sage das besonders an die SPD gewandt. Nein, die sind Meine Kollegin Katharina Dröge hat schon im Sommer nicht arbeitslos, und nein, die sind nicht richtig beim danach gefragt. Sie haben sich nicht genug damit be- Grundsicherungsamt. Deswegen meine herzliche Bitte: schäftigt. Deswegen: Schauen Sie es sich jetzt an, und Diese Leute haben wirklich durchgehalten. Viele haben finden Sie heraus, woher die Infektionen kommen. Wir mit großer Angst und mit großen Schmerzen durchge- können nicht mehr damit arbeiten, dass man sagt: Wir 23368 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Katrin Göring-Eckardt (A) wissen es eben nicht. – Nein, wir müssen es jetzt wissen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) Wir müssen es herausfinden, damit wir nach diesem Natürlich braucht es für Beschlüsse eine wissenschaft- November gezielt und vernünftig arbeiten können. liche Grundlage. Ich sage noch mal: Ein Pandemierat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wäre dafür ein gutes Gremium, weil er alles einbeziehen Schließlich. Das öffentliche Leben wieder öffnen, und würde, nämlich sowohl die virologischen, die gesund- zwar verantwortungsbewusst mit Hygienekonzepten, das heitlichen Fragen wie auch die sozialen und die ökonomi- geht, das ist möglich, und das muss dann auch möglich schen. sein. Es gibt Vorschläge. Es gibt das Know-how. Wenn (Zuruf des Abg. Dr. Jens Zimmermann [SPD] – nicht irgendjemand das so gut zeigen kann wie die Ver- Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- anstaltungsbranche, wer denn sonst? Wer gestern auf der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der wird eingesetzt Demonstration vor dem Brandenburger Tor war, der hat vom Deutschen Bundestag! Lesen Sie doch gesehen: So gut, wie dort die Hygienekonzepte eingehal- die Anträge!) ten wurden, klappt das kaum irgendwo, übrigens auch Damit könnten wir eine gute Grundlage für das schaffen, nicht hier im Bundestag; das hat vor allen Dingen mit was in den nächsten Monaten vor uns liegt. den Herrschaften auf dieser Seite zu tun. Da kann man jedenfalls sehen, was geht, wenn man es gut organisiert, Meine Damen und Herren, im März haben wir gese- meine Damen und Herren. hen, wie es bei klarem, nachvollziehbarem, gemeinsa- mem Vorgehen eine große Akzeptanz in der Bevölkerung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gibt. Diese Akzeptanz gilt es jetzt zurückzuholen. Es gilt Zuruf von der AfD) sie zurückzuholen mit klaren Angaben darüber, wie unse- Die tief in unseren Alltag eingreifenden Beschränkun- re Zukunft mit dem Virus aussehen kann. gen gehören jetzt aber auch endlich auf solide gesetzge- Ich will es ganz klar sagen: Das Virus wird uns nicht berische Füße gestellt. besiegen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Lachen bei Abgeordneten der AfD) SES 90/DIE GRÜNEN) Aber wir sagen auch: Wir lassen uns nicht vom Virus Ich sage das – Herr Mützenich, vielen Dank für das Ange- besiegen. Das ist das, was wir gelernt haben, was wir bot – mit allem Nachdruck: Es macht keinen Sinn, dass im Frühjahr gelernt haben. Viele Menschen waren solida- dieses Parlament nach den Entscheidungen gestern hier risch miteinander. Ich erwarte jetzt, dass wir diese Solida- debattiert. rität zurückgeben an all diejenigen, die große Probleme (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben. Ich erwarte jetzt, dass wir nicht noch mal mit einer (B) (D) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Art von: „Wir wissen es jetzt noch nicht genau“ auf eine nächste große Schwierigkeit zusteuern. Es braucht jetzt Es ist gut, dass wir Argumente austauschen. Aber die Klarheit, es braucht Planbarkeit. Wir wissen so viel über Beschlüsse gehören hierher. Es ist gut, dass wir mit den das Virus, dass wir das können. Ländern diskutieren, und es ist gut, dass wir Bund und Länder haben, ja, natürlich. Deswegen, meine Damen und Herren: Zusammenhalt der Gesellschaft, das heißt Debatte, das heißt klare Ent- (Zuruf von der SPD: Gewaltenteilung!) scheidung, das heißt Perspektive für die Zukunft. Halten – Wir haben auch Gewaltenteilung; auch das ist vollkom- wir uns in diesem Land gemeinsam an die Regeln. Halten men richtig. Aber Gewaltenteilung heißt eben auch: Der wir Abstand, und halten wir zusammen. Dann kann das Bundestag beschließt, und der Bundesrat beschließt, bei- gelingen. de zusammen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sowie bei Abgeordneten der FDP und der Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Super Rede! Wir haben uns alle lieb!) Das ist der Weg, und den müssen wir jetzt gehen, meine Damen und Herren. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es gehört zum Selbstbewusstsein für uns als Parlamen- Jetzt erteile ich das Wort der Ministerpräsidentin des tarierinnen und Parlamentarier. Es gehört zur Rechtssi- Landes Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer. cherheit. Es gehört zur Nachvollziehbarkeit der Be- schlüsse, die dann gefasst werden. Ich hoffe sehr und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich wünsche, dass wir nicht warten, dass die Pandemie der CDU/CSU) eine Pause macht, Herr Brinkhaus, sondern dass wir hier – wir können es; es gibt dazu Vorschläge – zeigen, dass wir Malu Dreyer, Ministerpräsidentin (Rheinland-Pfalz): gerade in dieser schwierigen Situation als Parlament in Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine der Lage sind, die notwendigen Beschlüsse zu fassen. sehr verehrten Herren und Damen Abgeordnete! Dass mir die SPD-Bundestagsfraktion ein bisschen von ihrer (Zuruf von der SPD) Redezeit abgibt, das werte ich auch als Zeichen dafür, Ich bin sicher, dass wir alle hier, die demokratischen dass wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen Fraktionen in diesem Parlament, das sehr gut können davon überzeugt sind, dass die Bewältigung dieser Pan- mit hohem Verantwortungsbewusstsein. demie nur gemeinsam von Bund und Ländern zu schaffen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23369

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) (A) ist, dass es in einer Situation wie jetzt nicht sein kann, scheidung gestern für alle Beteiligten schwer gewesen. (C) dass wir uns auseinanderdividieren, sondern dass wir in Natürlich kann man auch kritisieren, dass wir teilweise dieser Pandemie mit ganzer Macht und ganzer gemein- gar keine ausreichende Zeit hatten, alles umfassend auch samer Kraft wirklich auch der Verantwortung gerecht in den Kabinetten zu diskutieren, umfassend miteinander werden, die wir innehaben. Deshalb freue ich mich darü- zu erörtern. Dennoch sage ich: Das ist ein klares Signal an ber, dass ich hier aus Sicht der Länder etwas zur Debatte die Bevölkerung, aber auch an den Deutschen Bundestag. beitragen kann. Alle Bundesländer und auch der Bund haben deutlich gemacht, dass wir Verantwortung übernehmen und dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir bereit sind, diejenigen, die jetzt wieder unter diesen der CDU/CSU) Maßnahmen leiden, zu unterstützen, und dass der Bund Der Föderalismus wird hier im Deutschen Bundestag, dazu bereit ist, deren Ausfälle vollständig zu kompen- glaube ich, ab und zu auch mal kritisch debattiert. Aber sieren. Ich finde, das ist ein sehr gutes Angebot! ich will mit Blick auf die Pandemie sagen, dass er die Es wird natürlich nur ein schwacher Trost sein, – da Handlungssicherheit in der Fläche und vor Ort garantiert. gebe ich Ihnen ja recht –, weil die Menschen arbeiten Wir stehen täglich mit den Gesundheitsämtern, mit unse- wollen, weil sie Auftrittsmöglichkeiten haben wollen, ren Kommunen, mit unseren Krankenhäusern im Kon- weil die Menschen Kultur erleben wollen. Aber wir müs- takt. Wir machen die Pläne gemeinsam. Wir helfen uns sen die Kontakte reduzieren, das ist nun einfach einmal untereinander. Wir verstärken unsere Gesundheitsämter – so. Deshalb sagen wir den Menschen, die betroffen sind, und wir wissen auch ganz genau, was in den Kranken- dass wir mit der Kraft des Bundes dafür sorgen, dass sie häusern und in der jeweiligen Situation los ist. in ihrer Existenz nicht gefährdet sind; denn natürlich Deshalb, meine sehr verehrten Herren und Damen, will gehen wir davon aus, dass wir die Pandemie gut über- ich Ihnen sagen: Niemand von uns ist blind in diesen stehen werden und wir dann auch wieder Kultur genießen Herbst gegangen. Auch wir wissen aus Lebenserfahrung, wollen, wieder Leben in unseren Innenstädten haben wol- dass es im Herbst dunkler und kühler wird. Das ist für uns len. keine größere Überraschung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der AfD) der CDU/CSU) Wir haben sehr klar beispielsweise mit Warn- und Meine sehr verehrten Herren und Damen, meiner Lan- Aktionsplänen dafür gesorgt, dass Ampelsysteme – ich desregierung war es ganz wichtig, dass es ganz konkrete glaube, sogar fast in jedem Bundesland – installiert sind. Hilfen gibt für unsere Wirtschaft, aber auch für die Solo- Selbstverständlich hat die Pandemie einen bestimmten selbstständigen, für die, die betroffen sind, mittelbar und (B) Verlauf, nämlich den, dass am Anfang vielleicht nur ein unmittelbar, dass wir schnell und unbürokratische Hilfe (D) Landkreis bei uns rot war und inzwischen fast alle Land- geben. Das hat die Bundesregierung zugesagt. Dafür will kreise rot sind. Das geschieht nicht, weil die Menschen ich mich ausdrücklich bedanken bei der Bundeskanzle- vor Ort es nicht richtig handhaben. Nein, sie sind jedem rin, dem Vizekanzler und natürlich dem Wirtschaftsmi- Fall nachgegangen. Aber wir haben im Moment schlicht nister. und ergreifend zu viele Fälle überall in Deutschland. Sie sind nicht über jedes Bundesland gleichmäßig verteilt; (Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD]) aber in Gänze sind es schlicht und ergreifend viel zu viele Ich gehe auch davon aus, dass alle Wort halten und dass Fälle, sodass wir im exponentiellen Wachstum sind, die wir diese Hilfen auch unmittelbar zur Verfügung haben. Gesundheitsämter nicht mehr nachkommen und sich Die Menschen werden sehen: Ja, wir verlangen einem auch unsere Krankenhäuser Stück für Stück wieder bestimmten Teil der Bevölkerung große Opfer ab, aber weiter füllen. die Betroffenen werden dann auch entsprechend entschä- Sehr verehrte Herren und Damen Abgeordnete, als digt, damit sie eben nicht alleine dastehen in dieser Ministerpräsidentin bin ich nicht bereit, hinzunehmen, schwierigen Situation, in der wir jetzt sind. dass in unseren Krankenhäusern wieder mehr ältere Men- (Beifall bei der SPD) schen sind, wieder mehr Menschen sterben. Ich finde es geradezu zynisch, den Vergleich mit den Verkehrstoten Ich will an dieser Stelle auch noch sagen: Natürlich heranzuziehen. Das geht nicht, meine sehr verehrten Her- achten wir auch auf die sozialen Folgen. Ich möchte ren und Damen! nicht, dass nur die Partei der Linken das hier anspricht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist für uns vollkommen klar, dass wir darauf achten. sowie bei Abgeordneten der FDP) Wenn man sich die Pakete der Vergangenheit anschaut, Wir müssen gemeinsam handeln. Wir brauchen eine die Nachtragshaushalte, dann stellt man fest, dass wir große Kraftanstrengung, um zu verhindern, dass es zu viele Instrumente geschaffen haben, um Kinder, um einer nationalen Gesundheitsnotlage kommt. Familien, um Menschen mit niedrigeren Einkommen zu stützen und zu unterstützen. Und wir werden auch wei- Natürlich wissen wir alle, dass diese Maßnahmen hart terhin im Verlauf dieser Pandemie darauf achten, dass der sind. Ich sage es sehr, sehr deutlich: Ich hätte mir ge- soziale Aspekt nicht vergessen wird, ganz im Gegenteil. wünscht, dass die Strategie, die wir gefahren haben, am Ende aufgegangen und es nicht mehr zu einem exponen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiellen Wachstum gekommen wäre. Deshalb ist die Ent- der CDU/CSU) 23370 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) (A) Natürlich handeln wir – das möchte ich noch anspre- Vielen herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben. (C) chen – auf einer rechtsstaatlichen Grundlage. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei (Zuruf von der AfD: Ha, ha!) der CDU/CSU) Das möchte ich hier ausdrücklich betonen. Der Bund hat im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung abschlie- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ßend von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht. Wir als Sebastian Münzenmaier, AfD, ist der nächste Redner. Länder erfüllen die Aufgabe, die uns das Infektions- schutzgesetz des Bundes überträgt. (Beifall bei der AfD) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist das!) Sebastian Münzenmaier (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Wir tun das auch mit guten Begründungen unserer ren! Rechtsverordnungen. Wir tun das mit Abwägungen. Wir tun das mit dem Wissen, dass wir eine große Ver- Die größte Gefahr von Covid-19 liegt im wirtschaft- pflichtung haben, weil diese Eingriffe Grundrechtsein- lichen und politischen Bereich ... griffe darstellen. Es ist für uns selbstverständlich, dass (Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) wir in den Parlamenten debattieren. Es gibt Sondersitzun- gen. Regelmäßig reden wir in den Länderparlamenten Es könnte sein, dass man sich in 50 Jahren weniger über dieses Thema. an das Virus erinnert, als an den Moment, als die Überwachung aller durch die Regierung begann. Klar ist aber natürlich auch, dass wir die gesetzlichen Grundlagen für die Eingriffe in Grundrechte immer wie- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sie werden der kritisch überprüfen müssen. Ich begrüße es ganz aus- schon beobachtet! Das reicht uns!) drücklich, dass die SPD-Fraktion das Infektionsschutzge- Meine Damen und Herren, diese Worte stammen vom setz des Bundes anpassen will, um der Dauer und der israelischen Professor Harari, einem der bekanntesten Eingriffstiefe der Maßnahmen Rechnung zu tragen. Menschheitshistoriker unserer Zeit, und sollten Sie Darum geht es nämlich. eigentlich alle zum Nachdenken animieren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD) Es ist nicht so, dass wir keine ausreichende Rechtsgrund- lage hätten, sondern man muss berücksichtigen, dass die Denn jede Maßnahme, die in unsere Grundrechte ein- greift, muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ent- (B) Pandemie einfach länger dauert, als jeder von uns erwar- (D) tet hätte, und damit die Eingriffe eben auch intensiver sprechen. Das bedeutet – wir haben das heute Morgen sind, als das ursprünglich für uns vorstellbar war. gehört –, dass jede dieser Maßnahmen geeignet, erforder- lich und angemessen sein muss. Rein emotionale und (Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) möchtegern-moralische Komponenten wie „alternativ- Ich habe gehört, und das freut mich, wenn ich das so los“ oder „Haltung“ kommen aus gutem Grund in unse- sagen darf, dass die Redner vieler Fraktionen genau in rem Rechtsstaatsprinzip eben nicht vor, meine Damen diese Richtung gesprochen haben. Wir würden uns darü- und Herren. ber freuen, wenn Sie zu diesem Ergebnis kommen. (Beifall bei der AfD) Ein letzter Satz. Nicht die Gesetze allein schützen die Beginnen wir die Bewertung Ihrer Maßnahmen mit Menschen. Der entscheidende Schlüssel für den Erfolg „geeignet“. Laut den Zahlen Ihres Robert-Koch-Institutes bleibt das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen. lässt sich kein erhöhter Anteil am Infektionsgeschehen in Deutschland hat schon so oft gezeigt, dass wir, wenn den Bereichen Freizeit, Speisestätten oder Übernachtun- wir zusammenhalten und zusammenstehen – Bund, Län- gen feststellen. Trotzdem geraten genau diese Bereiche in der, Regierungen und Parlamente, aber auch Bürger und das Fadenkreuz Ihres Wellenbrecherwahns, Frau Merkel. Bürgerinnen –, viel erreichen und schwere Krisen mit- Sie, Frau Bundeskanzlerin – ich freue mich, dass Sie uns einander durchstehen können. Deshalb bedanke auch als größter Oppositionsfraktion zuhören –, sprechen ja ich mich ausdrücklich bei den Bürgern und Bürgerinnen, immer davon, dass Einschränkungen gut erklärt werden die zum allergrößten Teil Verantwortung übernehmen müssen. Dann erklären Sie doch dem Gastronomen, der und bei diesen Maßnahmen mitgehen. Auch wenn es nach dem letzten sinnlosen Lockdown im März seine schwer ist: Wir brauchen diese Solidarität auch in der letzten Reserven im Vertrauen auf diese Regierung in Zukunft. Wir brauchen diese Solidarität aber auch von Heizpilze, Umbaumaßnahmen oder sogar neue Lüftun- denjenigen, die sich bis jetzt verweigern. Diese Gesell- gen investiert hat, dass am Ende alles umsonst war. schaft wird nur dann erfolgreich sein, wenn alle an einem Strang ziehen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Und wenn Sie schon dabei sind, dann können Sie diesem Mann auch noch erklären, wie man als Betroffener, des- Es geht nicht, dass man sagt: Ist mir doch egal, wenn ich sen Existenz gerade mit dem Holzhammer vernichtet infiziert werde. – Dieses Virus – das ist das Teuflische wird, jemals wieder Vertrauen in diese Politik haben daran – breitet sich aus, egal ob mir persönlich das egal ist soll, meine Damen und Herren. oder nicht. Deshalb brauchen wir die Solidarität von allen. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23371

Sebastian Münzenmaier (A) Zur Erforderlichkeit. Eine Maßnahme ist dann erfor- (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- (C) derlich, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht. ten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer Hat diese Regierung nicht uns allen erklärt, dass dank [CDU/CSU]: Er hat Ihnen wehgetan! Das Masken und Abstand weitere Einschränkungen vermie- kann ich mir vorstellen!) den werden können? Hat das RKI nicht mitgeteilt, dass Alle, die sich dem Kontrollwahn dieser Bunderegierung die Corona-Hotspots eben nicht in Bars, Restaurants oder entgegenstellen, werden als Coronaleugner verunglimpft, Kinos entstanden sind? mit dem Ziel, eine legitime Debatte über die Einschrän- Und was machen Sie jetzt? Sie zertrümmern Existen- kung von Freiheitsrechten zu verhindern. zen. Sie schließen sämtliche Gastronomiebetriebe, die in (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die wir den letzten Monaten unglaublich gekämpft haben, die gerade führen! So ein Unsinn!) Vorbilder waren im Bereich Hygiene. Sie verbieten sämt- liche touristischen Übernachtungen im Inland. Der Diese Arroganz der Macht, Frau Bundeskanzlerin, die Deutschlandurlaub hat im Sommer unseren Bürgern in Sie an den Tag legen, hätte selbst Marie-Antoinette die einer schweren Zeit ein kleines Lächeln ins Gesicht ge- Schamesröte ins Gesicht getrieben. zaubert, und er hat vor allem den 3 Millionen Beschäftig- (Beifall bei der AfD) ten in dieser Branche, den vielen fleißigen Menschen etwas Hoffnung gemacht, dass sie überhaupt wirtschaft- Die Einschränkungen von fundamentalen Freiheitsrech- lich überleben können. Diese Hoffnung haben Sie gestern ten in diesem Land haben ein sehr bedenkliches Ausmaß Abend zerstört, Sie und alle Ministerpräsidenten. angenommen. Unsere parlamentarische Demokratie zeigt erste Anwandlungen von totalitären Systemen, wenn (Beifall bei der AfD) SPD-Lauterbach die Unverletzlichkeit der Wohnung auf- Aber sind Ihre Maßnahmen denn angemessen, verhält- heben möchte und CSU-Seehofer seine Coronaschleier- nismäßig im engeren Sinne? Das ist nur dann der Fall, fahnder losschicken will. wenn der beabsichtigte Zweck nicht außer Verhältnis zu (Beifall bei der AfD) der Schwere des Eingriffs steht. Und ehrlich gesagt, mei- ne Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle müss- Ich hoffe, der eingangs zitierte Historiker Harari liegt ten Sie auf der Regierungsbank die eigenen Beschlüsse in der Befürchtung falsch, dass das größte Vermächtnis zerreißen, um Verzeihung bitten und sofort zurücktreten. von Covid-19 der Beginn der totalen Überwachung der Bürger sein wird. Wir als AfD-Fraktion werden uns (Beifall bei der AfD) jedenfalls mit aller Entschiedenheit für unsere Freiheit, Ihre Maßnahmen basieren fast ausnahmslos auf Annah- für unseren Rechtsstaat und für unsere Demokratie ein- (B) men und Ängsten. Man sagt immer, Panik sei kein guter setzen. (D) Ratgeber. Es ist aber anscheinend der einzige Ratgeber, den dieser Bundesregierung noch hat. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) An dieser Stelle möchte ich mich zum Schluss noch an Sie, meine Damen und Herren draußen an den Bildschir- Statistische Evidenz: vollkommene Fehlanzeige. Füh- men, wenden: Wählen Sie diese Regierung ab, solange rende Virologen und Medizinerfachverbände äußern sich Sie noch können! gemeinsam und halten einen Lockdown für unnötig. Frau Bundeskanzlerin, hören Sie bitte endlich auf diese Fach- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. leute, und stoppen Sie diese Panikpolitik! (Beifall bei der AfD – Jan Korte [DIE LINKE]: Ich fasse zusammen. Ihre Maßnahmen sind bestenfalls Das ist nicht mehr der gesunde Bereich! Nicht zum Teil geeignet, nicht erforderlich und sicher nicht mehr gesund!) angemessen. Daraus folgt: Ihr Handeln ist rechtswidrig, Frau Bundeskanzlerin. Und das Schlimme an dieser Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Situation ist: Das ist Ihnen offenkundig völlig egal. Sie Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander schleifen einen Rechtsstaat in einer Geschwindigkeit, die Dobrindt, CDU/CSU. ich mir nicht hätte vorstellen können. Sie agieren offen- sichtlich rechtswidrig, wie das Beispiel der Beherberg- (Beifall bei der CDU/CSU) ungsverbote uns allen gezeigt hat. Sie etablieren ein Coronaregime, das aus den Ministerpräsidenten und Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ihnen besteht, das sich im Kanzleramt verschanzt und Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Sehr dann via Verordnung und Pressekonferenz die Bürger geehrte Damen und Herren! Wenn man sich in Europa dieses Landes knechtet. umschaut, wenn man unsere Nachbarländer anschaut, dann stellt man fest, dass Deutschland umgeben ist von (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer Coronahochrisikoländern. Frankreich, Österreich, Polen, [CDU/CSU]: Die Erde ist eine Scheibe!) Tschechien, die Niederlande – alle sind auf der europä- Das Parlament dient doch bestenfalls noch als Bühne ischen Coronakarte tiefrot – tiefrot! zur Verkündung der getroffenen Maßnahmen. Und man muss es ganz klar sagen: Der ganz unterirdische Auftritt (Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie sind auch von Herrn Brinkhaus heute Morgen hat gezeigt, dass die tiefrot!) Union sich mit dieser Rolle anscheinend zufriedengibt, Ein Teil dieser Länder bittet uns inzwischen, Patienten meine Damen und Herren. in unsere Krankenhäuser aufzunehmen, 23372 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Alexander Dobrindt (A) (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Jetzt gibt es aber Stimmen, die sagen: Die Betten in den (C) Nicht „inzwischen“! – Zuruf: Weil Platz ist!) Krankenhäusern sind noch leer, die Intensivbetten sind noch nicht alle belegt. – Auch gestern gab es wieder weil sie sich selber nicht mehr in der Lage fühlen, diese welche, die gesagt haben: Lasst uns doch erst mal abwar- zu behandeln. Da muss ich mich schon fragen: Welche ten, bis die Intensivbetten auch wirklich alle belegt sind. Theorie lässt einen eigentlich glauben, dass wir bei Nichthandeln der deutschen Politik eine andere Entwick- (Dr. Jürgen Martens [FDP]: Wer macht denn so lung nehmen würden, was? – Karsten Hilse [AfD]: So ein Blödsinn!) Sehr geehrte Damen und Herren, man kann den Bruchtest (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist des Gesundheitssystems in Deutschland natürlich erpro- das!) ben wollen. Aber politisch verantwortliches Handeln ist als unsere Nachbarländer in Europa sie zurzeit nehmen? das nicht. Das jetzige Handeln ist nicht ohne Risiko, aber Nichthandeln führt zur sicheren Realisierung des maxi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) malen Risikos, und das bedeutet Tod, meine Damen und Herren. Da sei Ihnen gesagt, Herr Kollege Münzenmaier: Es gibt kein spezifisches deutsches Coronavirus, das sich hier (Beifall bei der CDU/CSU – Karsten Hilse anders auswirkt als im Rest von Europa. [AfD]: Können Sie nur noch Angst machen? Mann! – Tino Chrupalla [AfD]: Panik – das (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Wer behauptet ist alles!) das denn? Das habe ich gar nicht behauptet!) – Ja, davon verstehen Sie ja was. Es gibt nicht das deutsche Coronavirus, an das Sie viel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und leicht glauben. Ich kann Ihnen eines sagen: Wenn Sie der SPD – Petr Bystron [AfD]: Rhetorisch über Freiheit, über Rechtsstaat und Demokratie reden geschickt, aber es ändert nichts an der Tatsache, wollen, beginnt das als Allererstes beim Schutz der eige- dass Sie jetzt Angst machen!) nen Bevölkerung und nicht beim Leugnen einer Gefahr. Es wird die Frage gestellt: Ist die Politik in Schweden (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – nicht besser als die in Deutschland? Sie ist auf jeden Fall Sebastian Münzenmaier [AfD]: Genau das anders; das stimmt. Was passiert in Schweden? Für die habe ich angesprochen!) Politik, die in Schweden gemacht wird, zahlt vor allem eine Generation den Preis, nämlich die ältere Generation; Welche Theorie lässt Sie eigentlich glauben, dass wir (Petr Bystron [AfD]: Ja, und bei uns alle!) (B) nicht in die gleiche Situation kommen wie unsere Nach- (D) barländer? Wer, glauben Sie, wenn alle um uns herum die Vergleiche sagen das eindeutig. Wenn man München betroffen sind, wäre denn dann noch in der Lage, die und Stockholm miteinander vergleicht, zeigt sich: Es gibt Patienten aus Deutschland aufzunehmen, wenn wir unser pro 100 000 Einwohner 16-mal so viele Todesfälle in Gesundheitssystem an den Rand der Möglichkeiten Stockholm wie in München. Wir wollen diesen Preis gebracht haben? Wir stehen selber und alleine in der Ver- nicht zahlen, meine Damen und Herren. antwortung. Natürlich darf man die Frage stellen, ob das, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was politisch beschlossen wird, verhältnismäßig ist. Ja, selbstverständlich. Es gibt Enttäuschungen – Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es angesprochen –, es gibt Frustration, es gibt auch Es wurde hier zitiert, dass es auch gestern Stimmen Aggression – wir spüren das alle –; denn die Eingriffe gegeben hat, die die Verhältnismäßigkeit infrage gestellt sind – das muss man auch so benennen – natürlich hart. haben; auch Wissenschaftler tun das. Gestern habe ich an Sie belasten Menschen emotional. Die Briefe, die vielen Stellen den Virologen Jonas Schmidt-Chanasit E-Mails, die Anrufe zeigen, dass es natürlich eine emo- gesehen, der ja zu den Kritikern gehört. Er hat aber ges- tionale Belastung in unserer Bevölkerung durch diese tern in den „Tagesthemen“ formuliert, dass sich alle Wis- Maßnahmen gibt. Sie belasten das normale und gewohnte senschaftler einig wären, dass es jetzt darum geht, die Leben. Aber das Schutzgut, das diesen Belastungen Kontakte zu reduzieren. Ja, genau darum geht es: die gegenübersteht, ist die Gesundheit und das Leben vieler Kontakte zu reduzieren. Menschen in Deutschland. Dieses Schutzgut rechtfertigt diese Maßnahmen. Sie sind verhältnismäßig, meine Wenn wir die Wirtschaft weiterlaufen lassen wollen – Damen und Herren. was wir tun –, wenn wir auch die Schule weiterlaufen lassen wollen – was wir tun –, wenn wir den Betrieb in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den Kitas aufrechterhalten wollen, frage ich Sie: Wo soll Die FDP hat viele Betroffene aufgefordert, Klage zu man denn Kontakte sonst reduzieren, wenn nicht im Be- erheben. reich der Freizeit, meine Damen und Herren? Da muss es dann sein. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja! Irre!) Jetzt ist so eine Klage gegen Entscheidungen der Politik (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Stephan Thomae [FDP]: Ein Justizgrund- recht! – Gegenruf des Abg. Carsten Schneider Deswegen unterstützen wir die Maßnahmen der Bundes- [Erfurt] [SPD]: Er kennt die Verordnung noch regierung. Wir halten diese Maßnahmen für angemessen. nicht einmal! Das sind die Juristen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23373

Alexander Dobrindt (A) durchaus etwas, was vollkommen in Ordnung ist. Ich rate Christian Lindner [FDP]: War besser als (C) Ihnen nur dazu: Vielleicht klagen Sie als Erstes mal in Brinkhaus! Haben wir gelobt! Nicht so Schleswig-Holstein. Da sind Sie mit in der Verantwor- plump! – Gegenruf des Abg. Ralph Brinkhaus tung. Vielleicht klagen Sie als Erstes mal in Nordrhein- [CDU/CSU]: Da ist aber jemand dünnhäutig Westfalen. Da stehen Sie mit in der Verantwortung. Viel- geworden!) leicht klagen Sie jetzt erst mal gegen sich selber. (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Toll! Das ist rhetorisch ein Traum!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD. Auf jeden Fall hat einer aus Ihren eigenen Reihen die (Beifall bei der SPD) Klage gegen Ihre Politik gestern, auch aus meiner Sicht nachvollziehbar, erhoben. Der Oberbürgermeister der Bärbel Bas (SPD): Stadt Landshut, FDP, Alexander Putz, ist gestern aus Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der FDP ausgetreten. Grund: die Kritik der FDP an der es ist wichtig, hier noch einmal festzustellen, warum wir Coronapolitik der Bundesregierung. jetzt insbesondere den November für diese Maßnahmen (Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) brauchen. Wir können uns rückblickend in die Vergan- genheit bei all den Menschen bedanken, die sich an die Er hat gesagt, diese stehe seinem notwendigen Handeln Maßgaben, die wir bisher hatten, und auch an die Ein- als Oberbürgermeister diametral entgegen und spalte die schränkungen, die es bis heute gibt, gehalten haben. Das Gesellschaft in Deutschland. ist der überwiegende Teil. Wenn wir die Landkarte in (Stephan Thomae [FDP]: Eine Fehleinschät- Europa ansehen, die schon tief dunkelrot ist, können zung!) wir dankbar sein, dass wir so gut an den Zahlen gearbeitet haben. Das liegt wirklich an denen, die Hygienekonzepte Nehmen Sie sich den mal als Vorbild! erarbeitet haben, an den Menschen, die sich daran gehal- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ten haben. Denen sollten wir hier heute dankbar sein, dass Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: sie das nach wie vor tun, ob das jetzt wegen eines Gebots Soll ich Ihnen mal sagen, wer alles aus der CSU oder eines Verbots ist. Sie verhalten sich so, dass wir gut ausgetreten ist? – Christian Lindner [FDP]: Der durch die Krise gekommen sind – bis jetzt. FDP-Oberbürgermeister in Jena hat jedenfalls (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Erster Maskenpflicht angeordnet!) der CDU/CSU und des Abg. Michael Theurer Meine Damen und Herren, es gibt drei große Themen, [FDP]) (B) die wir jetzt bewältigen müssen: Die Kontaktbeschrän- Wichtig ist, dass wir uns auch bei denen bedanken, die (D) kungen, so schmerzhaft sie sind, wollen wir gemeinsam das Ganze vor Ort organisieren. Das sind die Gesund- als Regierungskoalition vertreten. heitsämter, das sind die niedergelassenen Ärztinnen und Die Entwicklung des Impfstoffes: Ich bin Bundesmi- Ärzte, das sind diejenigen, die in der Langzeitpflege nister Jens Spahn sehr dankbar, dass er die Impfallianz in arbeiten, die Pflegekräfte, aber auch die Ärzte. Europa ins Leben gerufen hat, die die Entwicklung des Wenn Herr Gauland mit seiner Fraktion zu der Auf- Impfstoffes vorantreibt, mit Milliardenbeträgen unter- fassung kommt, dass er bei seiner Abwägung der Maß- stützt und auch die Verteilung eines möglichen Impfstoffs nahmen den Tod in Kauf nimmt – so hat er es ausge- sichert. drückt –, Aber es geht auch um eine dritte Säule, um die Säule (Ulli Nissen [SPD]: Pfui!) der Therapeutika. Es geht darum, dass wir auch Medika- mente gegen das Coronavirus entwickeln, wenn wir es will ich sagen: Das ist nicht meine Option, auch nicht die nicht mit einem Impfstoff stoppen können. Da wäre die meiner Fraktion. dringende Bitte, dass wir an dieser dritten Säule insge- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Karin samt intensiver, schneller und dynamischer forschen, Maag [CDU/CSU]) mehr Geld jetzt in die Hand nehmen, um auch, falls es Wir müssen die Menschen schützen, die auf den Inten- keinen Impfstoff zur rechten Zeit und vielleicht auch sivstationen arbeiten, und ihnen auch gut zuhören. Die keinen in der richtigen Dosierung gibt, die notwendigen Infektionszahlen steigen trotz Hygienekonzepten auch Mittel zu haben, um das Leiden derer, die vom Corona- in der Gastronomie. Ja, die Gastronomen haben sich an virus betroffen sind, etwas zu lindern, alles gehalten. Aber zu behaupten, dass da keine Infek- (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: tion stattfindet, ist eine gewagte These. Wenn wir wissen, Sie kriegen schon Ihre Dosis, keine Sorge!) dass Aerosole eine große Rolle spielen, und wenn wir wissen, dass die Übertragbarkeit in geschlossenen Räu- die Überlebenschancen deutlich zu erhöhen. Auch das ist men eine andere ist als die an der frischen Luft, dann eine Aufgabe. Dafür wollen wir die notwendigen finanz- spielt folglich auch die Gastronomie eine Rolle, und das iellen Mittel zur Verfügung stellen. wissen die Gastronomen auch. Sie haben Konzepte ent- Herzlichen Dank. wickelt; ja, das stimmt. Aber die Zahlen sind trotzdem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gestiegen. neten der SPD – Dr. Marie-Agnes Strack- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Aber nicht in Zimmermann [FDP]: Ab ins Körbchen! – der Gastronomie! Das ist doch nicht wahr! – 23374 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Bärbel Bas (A) Tino Chrupalla [AfD]: Das können Sie nicht Wir haben den öffentlichen Dienst gestärkt, und wir müs- (C) belegen!) sen das weiter tun. Da müssen wir schneller werden, auch digital schneller werden. – Ja, aber Sie können auch nicht belegen, dass es keine Infektionen gibt. Zur Corona-App will ich abschließend sagen: Ja, sie ist als Tiger gestartet. Wir müssen aber fein aufpassen, dass (Beifall bei der SPD – Dr. Alexander Gauland sie nicht zum Bettvorleger wird. Sie muss weiterentwi- [AfD]: Aber Sie bestrafen die Leute, die sich ckelt werden, sie muss einen Mehrwert haben. Wenn ich damals daran gehalten haben!) „weiterentwickelt“ sage, meine ich, dass wir als SPD- Wenn wir von 75 Prozent der Infektionen nicht wissen, Fraktion nicht die Fantasie haben, dass wir unseren wie sie entstehen, dann können wir hier nicht behaupten, Datenschutz dabei außer Acht lassen. Nein, ich meine dass es in bestimmten Einrichtungen keine gibt, sondern die Entwicklung solcher Tools und Features, mit denen wir müssen davon ausgehen, dass es sie gibt. wir digital die Ergebnisse schneller drin haben, mit denen wir es schaffen, ein Kontakttagebuch anzulegen. Wir (Beifall bei der SPD) brauchen Tools, die das Ganze noch ein bisschen sinn- Es ist wichtig, dass wir diesen Monat jetzt nutzen. Die hafter machen für diejenigen, die die App benutzen. Dann Intensivstationen laufen voll, wird sie zum endgültigen Erfolg, und daran sollten wir alle arbeiten. (Widerspruch bei der AfD) Ich bedanke mich bei den Menschen, die nach der machen wir uns nichts vor. Wir müssen auf die Leute Kommentierung von gestern Abend dazu gekommen hören, die da arbeiten. Die Betroffenen der Infektionen, sind, zu sagen: Ja, das sind Einschnitte, aber wir machen die vor 14 Tagen passiert sind, landen jetzt in Kranken- sie mit, weil es in der Verantwortung für alle Menschen häusern. Wenn wir den Monat November nicht nutzen, eine gemeinschaftliche Aufgabe ist, die wir durchhalten alle miteinander – es ist wichtig, dass wir ihn jetzt nut- müssen. Ich bedanke mich bei denen, die diese Maßga- zen –, bekommen wir die Zahlen nicht in den Griff. Das ben, auch wenn sie schmerzhaft sind, im November mit ist aber die Voraussetzung. Übrigens sagen auch die uns allen gemeinsam durchhalten. Mediziner, auch Herr Gassen, dass wir die Zahlen wieder in den Griff kriegen müssen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich gebe aber auch denen recht, die sagen: Wir müssen der CDU/CSU) jetzt aber auch die Zeit nutzen, um in der Prävention besser zu werden. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jetzt ist das Mikrofon gerichtet für den nächsten Red- Das heißt, wir müssen auch besser werden, was Schulen ner. Das ist Thorsten Frei, CDU/CSU. angeht. Herr Laschet, mein Ministerpräsident aus Nord- (Beifall bei der CDU/CSU) rhein-Westfalen, ist jetzt schon weg. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Er war Thorsten Frei (CDU/CSU): immerhin da!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen vitalen Parlamentarismus erkennt man Das war schon ein bisschen ein Chaosmanöver, was da in nicht daran, dass ein Parlament über alle Fragen entschei- den Schulen in NRW passiert ist; das muss man ja mal det. Einen vitalen Parlamentarismus erkennt man daran, sagen. Da müssen wir besser werden. Wir haben uns ent- dass das Parlament über die großen Fragen entscheidet, schieden, die Schulen offen zu halten; ja, das ist wichtig. die den Weg eines Landes bestimmen. Aber wir müssen auch den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit an die Hand (Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) geben, sich weiter mit Präventionskonzepten zu schützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, genau das Das ist für die Familien wichtig, tun wir in diesem Parlament. Alles, was die Bundesregie- (Beifall bei der SPD) rung im Wege von Verordnungen regelt, tut sie aufgrund einer Entscheidung dieses Parlaments. Wir entscheiden das ist für die Schülerinnen und Schüler wichtig und auch über das Ob, über das Wie, über das Wie-lange und darü- für die dort arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer und ber, wie umfangreich die Bundesregierung das tut. Des- Erzieher. halb ist es völlig daneben, hier so zu tun, als spielte das Das sind die Punkte, die mir wichtig waren, um klarzu- Parlament in dieser Debatte und bei der Bekämpfung machen, warum dieser November so entscheidend ist. dieser offensichtlichen Krise und Herausforderung keine Die Maßnahmen im März, die für uns alle schmerzhaft Rolle. waren, haben gezeigt: Es hat geholfen, die Kontakte zu (Beifall bei der CDU/CSU) reduzieren und niedrig zu halten. Wir müssen aber auch – die Kritik habe ich auch – diese Möglichkeiten jetzt nut- Der Deutsche Bundestag hat am 25. März entschieden, zen. Wir haben hier viele Gesetze beschlossen; deshalb dass wir in Deutschland eine epidemische Lage von weise ich auch die Kritik zurück, dass dieses Parlament nationaler Tragweite haben. Diese Entscheidung war nicht beteiligt war. richtig am 25. März. Diese Entscheidung war im Übrigen auch im weiteren Verlauf des Jahres richtig: Sie war auch (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) im Sommer richtig, als die Infektionszahlen zurückge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23375

Thorsten Frei (A) gangen sind, und sie ist erst recht heute richtig, wo wir zwar aus allen dort vertretenen Fraktionen und Parteien. (C) damit konfrontiert sind, dass wir innerhalb von 24 Stun- Deshalb gibt es kein offensichtliches Defizit. Ich möchte den über 15 000 neue Infektionen zu gewärtigen haben, auch insgesamt sagen: Zeigen Sie mir den Staat in dieser nachdem wir letzte Woche noch von 3 000, von 4 000, Welt, in dem ein Parlament mehr Rechte hätte, wenn es von 5 000 Neuinfektionen gesprochen haben. Sie ist ins- darum geht, Regierungen zu bilden und zu kontrollieren, besondere dann richtig, wenn sich in nicht einmal zwei auf die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen und am Ende Wochen die Zahl der intensiv zu Pflegenden in den Kran- auch die politische Debatte in einem Land zu bestimmen! kenhäusern mehr als verdoppelt hat. Meine sehr verehr- All das machen wir hier in Deutschland, und wir machen ten Damen und Herren, diese Entscheidung ist richtig, sie es in extenso. Diese Debatte ist der beste Beweis dafür, war richtig. Das haben auch die beiden Vorsitzenden der dass Ihre Argumente ins Leere laufen, liebe Kolleginnen Koalitionsfraktionen noch mal eindeutig bestätigt. Wir und Kollegen. stehen hinter dieser Entscheidung, und wir wollen sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch nicht revidieren. ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Unser Fraktionsvorsitzender ist darauf eingegangen: der SPD) Wir hatten seit März 70 Debatten im Zusammenhang Sie könnten sie revidieren, wenn Sie die Mehrheit dazu mit der Bekämpfung der Coronapandemie. Wir haben hätten, wenn es Ihnen gelänge, hier im Parlament und in in dieser Zeit rund 30 Gesetze in unmittelbarer Verbin- der Bevölkerung die Menschen davon zu überzeugen, dung zur Covid-19-Pandemie hier behandelt, geändert dass das, was Sie hier sagen, richtig ist. Sie können es und verabschiedet. Das ist legislatives Handeln. Das ist aber nicht. Sie schaffen es nicht im Parlament, und Sie Handeln des Bundestages mit Gesetzen. Nehmen Sie schaffen es auch nicht in der Bevölkerung. Deshalb ist allein das, was wir geschafft haben: Nicht nur im gesund- unser Ansatz: Wir stehen hinter dieser Politik, und wir heitspolitischen und sozialpolitischen Bereich, sondern stehen hinter den Entscheidungen, die die Bundesregie- auch rechtspolitisch, im Mietrecht, im Darlehensrecht, rung getroffen hat. im Bereich des Aktienrechts, des GmbH-Rechts und der Strafprozessordnung – überall haben wir Entscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU) getroffen, die Auswirkungen der Bekämpfung dieser Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle- Pandemie sind. Wir können jederzeit weitere solcher ginnen und Kollegen, alles, was im Rahmen des § 5 des Debatten im Deutschen Bundestag führen. Infektionsschutzgesetzes passiert, basiert auf der Ent- scheidung des Deutschen Bundestages. Im Übrigen kön- Jeder, auch die Opposition, hat das Recht, selbst die nen wir perspektivisch natürlich rechtspolitische Diskus- merkwürdigsten Anträge in diesem Parlament zu stellen. (B) sionen darüber führen, wie wir Dinge noch verbessern (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das haben (D) können. Ich will nur daran erinnern – weil es vorhin wir letzte Woche gesehen!) eine Rolle gespielt hat –, dass in den §§ 29, 30 und 31 Wir haben das am 16. Juni erlebt, als die FDP hier den sehr wohl Standardmaßnahmen im Infektionsschutzge- Antrag eingebracht hat, die Pandemie für beendet zu setz normiert sind. erklären. Wir haben ein Interesse daran, dass die wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden. Wir (Stephan Thomae [FDP]: Falsch zitiert! – Wei- haben aber auch ein Interesse daran, dass die Bundesre- terer Zuruf von der FDP: Das hat keiner gierung in einer schwierigen Krise, in der rasch Entschei- gemacht!) dungen von großer Tragweite getroffen werden müssen, Selbst das ist in unserem Parlament möglich. Selbst das ohne dass man alle Rahmenbedingungen vollständig kann man machen. Daran kann man doch sehen, dass der kennt, diese Entscheidungen wirklich rasch treffen Parlamentarismus hier leibt und lebt und dass die Dinge kann, um Menschenleben zu retten. Diese Flexibilität so funktionieren, wie sie funktionieren müssen. sollten wir weder uns noch der Bundesregierung nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dafür stehen wir auch nicht zur Verfügung. Ich will zum Schluss eines sagen, liebe Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und Kollegen: Der frühere Präsident ordneten der SPD) hat das Parlament mal als Herz der Demokratie bezeich- Wir können darüber sprechen, wie wir in einer solchen net. Hier im Deutschen Bundestag werden die Grund- Situation auch die Informationsbedürfnisse des Parla- satzentscheidungen getroffen. Wer dem Deutschen Bun- ments noch besser befriedigen können. Wir haben eine destag aufbürden will, dass er sich auch mit kleinen ganz gute Regelung in § 3 des EUZBBG, wenn es um Entscheidungen beschäftigt, europarechtliche Entscheidungen geht. Man kann darü- (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Kleine Ent- ber nachdenken, inwieweit man das auch auf epidemi- scheidungen?) sche Krisen übertragen kann. Ich will aber zur Wahrheit dazusagen, dass es kein Defizit gibt, wenn es darum geht, der macht aus dem Bundestag keinen Riesen, sondern das Parlament zu informieren. Die Bundeskanzlerin einen Pygmäen. Wir wollen keine Ersatzexekutive sein, informiert die Fraktionsvorsitzenden, und zwar alle Frak- und wir wollen kein Bundeslandratsamt sein. Jede Ebene tionsvorsitzenden, wie gerade in dieser Woche wieder. und jede Institution auch auf Bundesebene hat ihre Auf- Der Bundesgesundheitsminister informiert regelmäßig gaben und ihre Verantwortung. Wir haben das gut aus- den Gesundheitsausschuss und die Obleute dort, und tariert. 23376 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Thorsten Frei (A) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal appellieren: (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja!) (C) Dieser Bundestag hat in den letzten zehn Jahren gemein- Was ist mit Herrn Seehofer und seiner Idee, Bundes- sam mit unserer Bevölkerung vieles durchgestanden. Ob polizisten zur Überwachung der Bevölkerung einzuset- es der drohende Kollaps der internationalen Finanzmärk- zen? Halten Sie persönlich das für eine gute Idee? Ist te, die Auswirkungen der Subprime-Krise, die Gefahr des die DDR schon so weit weg, dass wir uns an staatliche Zusammenbruchs unserer gemeinsamen europäischen Überwachung nicht mehr erinnern können? In Währung oder die epochalen Herausforderungen in der sind bereits sechsstellige Coronabußgelder von Privat- Migrationspolitik waren – wir haben es geschafft, und wir personen eingetrieben worden. Sollen diese Zahlungen haben gezeigt, dass wir in den entscheidenden Stunden jetzt Steuerzahlungen kompensieren? Und welche Indi- das Wohl unseres Landes über die Partikularinteressen katoren für die weitere Lagebeurteilung halten Sie für stellen können. Das sollten wir auch hier tun. entscheidend: positive PCR-Tests, die auch hier im Herzlichen Dank. Haus ständig mit Neuinfektionen gleichgesetzt werden, was für jeden Mediziner blanker Unsinn ist, die Kranken- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hauseinweisungen, beatmete Intensivpatienten? Warum ordneten der SPD) sind viele Ärzte und Virologen so viel entspannter als die Regierung? Sagen Sie es uns, und sagen Sie es vor Vizepräsidentin : allem den Bürgern dieses Landes! Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Frauke Petry. Was können wir tun – oder bleibt uns nichts als die (Beifall des Abg. Uwe Kamann [fraktionslos] – tägliche Begutachtung der offiziellen Zahlen des Ulli Nissen [SPD]: Maske aufsetzen, nicht tra- Robert-Koch-Institutes –: Masken tragen und Abstand gen!) halten, wo es notwendig und sinnvoll ist? Prävention, gibt es die und, wenn ja, wie? Ich bitte, beim nächsten Mal daran zu denken, beim Weg nach vorne ans Rednerpult die Maske aufzusetzen Allen ist klar, dass der Frühling besser zur Bekämp- und sie nicht nur in der Hand zu tragen. fung geeignet war als der Herbst, wenn man mal ehrlich ist. Trotzdem haben wir es im Frühling nicht in ausreich- Dr. Frauke Petry (fraktionslos): ender Weise getan, sondern auch da die Isolation einer Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen natürlichen Durchseuchung der Bevölkerung vorgezo- und Herren! gen. Das war wahrscheinlich falsch. Lernen wir aus die- sen Fehlern, und machen wir es im nächsten Frühjahr so Nur eine intensive öffentliche Debatte – ob in den wie die Schweden? Auch darauf hätte ich gerne eine Ant- (B) Ausschüssen oder im Plenum – schafft auf Dauer die wort. (D) notwendige Legitimation, von der jede parlamenta- rische Demokratie lebt. Was ist mit Frischluft? Was ist mit Sonne? Was ist mit einem billigen Präventionsmittel wie Vitamin D, von dem Herr Mützenich und Herr Brinkhaus, Sie erinnern sich, ich in der Öffentlichkeit nichts höre? Und wenn Sie es dass diese Worte von Ihnen stammen. Sie sind nicht alt; nicht wissen: Warum lassen Sie nicht die Mediziner zu sie standen am 28. Mai dieses Jahres im „Spiegel“. Wort kommen, die es vielleicht tun? Erleben wir diese Debatte über Corona und die not- Zum Schluss habe ich eine Frage: Frau Merkel, Sie wendigen Maßnahmen tatsächlich? Heute Morgen jeden- haben in Ihrer Rede gesagt, dass die Leistungsfähigkeit falls gönnen wir uns zu einer so schwerwiegenden Ent- Europas über die Legitimität unseres Gesellschaftsmo- scheidung wie einem weiteren Lockdown gerade einmal dells entscheidet; denn wir stünden im globalen Wett- eine 90-Minuten-Debatte, und das bei einem Thema, das bewerb. Stehen wir wirklich als Demokratie im Wettbe- die Gesellschaft auf eine Weise transformiert, wie es sich werb mit China und Nordkorea? Das wäre mir neu. Aber kaum ein Bürger bislang vorstellen konnte. vielleicht habe ich Sie auch nur falsch verstanden. Ich habe Fragen an Sie, Frau Bundeskanzlerin: Was ist Nur so viel: Wenn ein Virus neben vielen anderen das Ziel aller Ihrer Maßnahmen? Ist es die Ausrottung des Viren, mit denen wir immer gelebt haben, zur Bedrohung Virus? Ist es eine Pflichtimpfung und, wenn ja, mit wel- der Demokratie stilisiert wird, dann lauern die wahren chen Impfstoffen? Gibt es wie damals bei der Schweine- Bedrohungen vielleicht an ganz anderer Stelle, vielleicht grippe die Impfstoffe erster und zweiter Klasse für nor- sogar in unseren eigenen Reihen. male Bürger und strategische Bevölkerungsgruppen? Über welche Herdenimmunität reden wir, die erreicht (Beifall des Abg. Uwe Kamann [fraktionslos] – werden muss – denn das kann gar nicht anders sein, Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Maske!) weil wir wohl dauerhaft mit dem Virus leben müssen –: 20, 40 oder 60 bis 80 Prozent, wie noch im Frühjahr Vizepräsidentin Petra Pau: befürchtet? Und, wenn ja, über welchen Zeitraum reden Setzen Sie bitte die Maske auf! wir? ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nun zu den Kosten Ihrer Maßnahmen. 10 Milliarden Das ist doch Absicht! Was soll das? So was Euro Umsatzausfall in vier Wochen will Herr Scholz Rücksichtsloses!) kompensieren. Welche Firmen, welche Selbstständigen sollen dieses Geld erwirtschaften? Oder drucken Herr Da Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, rufe ich Scholz und die EZB es einfach selbst? Sie zur Ordnung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23377

Vizepräsidentin Petra Pau (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der stützung nicht mehr nachverfolgen. Das ist das Problem. (C) SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Wenn dann zum Beispiel in Berlin eine solche Unterstüt- GRÜNEN) zung, die wir als Bund durch die Bundeswehr oder die Setzen Sie bitte die Maske auf! Ansonsten zieht das wei- Bundespolizei ermöglichen, aus ideologischen Gründen tere Ordnungsmaßnahmen nach sich. gar nicht abgefragt wird, dann ist das, jedenfalls für mich, wirklich unfassbar. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle halbe Jahre mal auftauchen und dann so (Beifall bei der CDU/CSU) was! – Gegenruf der Abg. Beatrix von Storch Was zu tun ist, ist relativ einfach erklärt, auch wenn es [AfD]: Ein Theater! Hört doch auf!) noch nicht jeder begriffen hat: Das Virus braucht mensch- Das Wort hat die Abgeordnete Karin Maag für die liche Kontakte, um sich zu verbreiten. Aus virologisch- CDU/CSU-Fraktion. wissenschaftlicher Sicht ist das probate Mittel, um die Pandemie einzudämmen, eine drastische Kontaktreduzie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung. Wir in der Politik müssen zwischen dem wissen- schaftlich-virologischen Ansatz und dem gesellschaftlich Karin Maag (CDU/CSU): noch Tolerierbaren eine vernünftige Balance finden. Und Frau Präsidentin! Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolle- ich meine, das gelingt uns nach wie vor gut. ginnen und Kollegen! Wir haben im Verlauf der Debatte Ja, Herr Lindner, Frau Mohamed Ali, Herr mehrere Handlungsstränge begutachten können. Wir Münzenmaier, Sie haben recht: Weder in der Oper noch reden über die Pandemie und über sehr, sehr harte Maß- im Kino noch auf dem Fußballplatz oder im Restaurant nahmen – für einige sogar existenzbedrohend –, um unse- findet für sich genommen ein hohes Infektionsgeschehen re Infektionszahlen in Deutschland wieder einzudämmen. statt, gibt es hohe Ansteckungswerte. Aber diese Orte Wir reden darüber – so habe ich gelernt –, ob wir als ermöglichen Kontakte, und das ist unser Problem. Parlament die wesentlichen Entscheidungen selber tref- fen, Stichwort: Flickenteppich. Und wir diskutieren (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Aber Sie offensichtlich auch darüber – ich diskutiere da gerne können doch nicht alle Kontakte verbieten!) mit –, wie Verordnungsermächtigungen für Landesregie- Wir müssen alle nicht notwendigen Kontakte, solche, die rungen womöglich noch zielgenauer gemacht werden sich nicht auf Schule, auf Wirtschaft, auf Kitas beziehen, können. vorübergehend im November aussetzen und das Ganze Bei Letzterem will ich kurz ansetzen: Offensichtlich eng kontrollieren. haben einige Kolleginnen und Kollegen – ich schaue jetzt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf die rechte Seite – noch immer nicht begriffen, dass es (B) Ich zitiere den Leiter des RKI, Herrn Professor Wieler, (D) bei den Gesprächen der Kanzlerin mit den Ministerpräsi- der gestern in der Gesundheitsausschusssitzung gesagt denten darum geht, die Maßnahmen der zuständigen Lan- hat: Je mehr wir den Menschen die Chance geben, sich desregierungen zu koordinieren. Ich jedenfalls habe die zu treffen, desto mehr wird sich das Virus leider verbrei- Kanzlerin immer bewundert für ihre unendliche Geduld ten. bei dieser Koordinierung und habe mir den Satz gemerkt – hoffentlich schaffe ich es, selber dahin zu kommen –: (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Das ist doch Wenn es etwas ändern würde, würde ich mich sogar auf- mit jeder Krankheit so!) regen. Ich bin Wahlkreisabgeordnete und weiß um die Not der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gelungene gest- Gastwirte, der Künstler, der Schauspieler. Wir in der rige Vereinbarung enthält nichts wirklich Überraschen- Union reden mit den Menschen darüber. des. Das Ausbruchsgeschehen – wir haben hier schon (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Sie wollen darüber debattiert – hat eine besorgniserregende Dyna- doch Treffen insgesamt unterbinden!) mik erreicht. Seit Tagen liegt die Zahl der täglichen Neu- infektionen bei 14 000, 15 000 Fällen, und gerade die Insbesondere die Schausteller haben seit letztem Herbst Ansteckungsrate bei den über 60-Jährigen ist steil nach keinerlei Zahlungseingänge mehr. oben gegangen. (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Das ist ein Mir ist es ganz wichtig, dass wir bei dem von uns von Ausblick in die Zukunft, da wird es einem Anfang an verfolgten politischen Ziel bleiben, nämlich schlecht!) den Regelbetrieb in Deutschland – ich rede jetzt von Auch sie sind Teil der Wirtschaft und vor allem unver- der Wirtschaft, von Schulen und von Kitas – unter Coro- zichtbarer Teil unserer Gesellschaft. Ich unterstütze des- nabedingungen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten halb von ganzem Herzen den Ansatz, nicht nur mit wei- und, wenn uns das wieder möglich wird, zielgerichtet teren Krediten zu helfen, sondern auch mit Zuschüssen. regionales Ausbruchsgeschehen einzudämmen. Dafür Kein Lockdown ohne Ausgleich! brauchen wir keine Ampel. Wir müssen die besorgniser- regende Zahl der täglichen Neuinfektionen so stabilisie- (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian ren, dass die Ansteckungswege für unsere Gesundheits- Münzenmaier [AfD]: Das sind die Schulden ämter, wo das nicht mehr möglich war, wieder von morgen! Wer zahlt das denn alles zurück?) nachverfolgbar werden. Die Gesundheitsämter können Als Gesundheitspolitikerin ist mir auch der Schutz der bei mehr als 50 Neuansteckungen pro 100 000 Einwoh- Krankenhäuser, der Pflegeheime sowie der Senioren- und nern pro Tag die Ansteckungswege ohne weitere Unter- Behinderteneinrichtungen besonders wichtig. Vor allem 23378 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Karin Maag (A) dürfen die Regelungen nicht zu einer sozialen Isolation Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: (C) der Betroffenen führen. Wir haben auf Bundesebene be- a) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD reits in der neuen Coronavirus-Testverordnung sicherge- stellt, dass die Kosten der Schnelltests – das Ergebnis Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgre- kommt nach 15 bis 20 Minuten – übernommen werden, miums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundes- um Bewohner und Patienten sowie Besucher und Perso- haushaltsordnung nal regelmäßig testen zu können. Auf diese Weise werden wir den Besucherverkehr aufrechterhalten können. Die Drucksache 19/22318 Schnelltests sind zum großen Teil schon in den Heimen b) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD angekommen. Wahl von Mitgliedern des Gremiums Übrigens, Frau Mohamed Ali: Die Ausbildungszahlen gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge- im Bereich Pflege steigen wieder. In der Altenpflege setzes haben wir die Mindestlöhne erhöht, und in der Kranken- Drucksache 19/22319 pflege sind jetzt Tariferhöhungen bis zu 10 Prozent vor- gesehen. c) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Wahl von Mitgliedern des Sondergre- (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Aber miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisie- nicht für alle! Entschuldigung! 10 Prozent rei- rungsmechanismusgesetzes chen nicht!) Drucksache 19/22320 Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis. Die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten entneh- Und, Frau Göring-Eckardt, wir waren den Sommer men Sie bitte den Stimmkarten. über nicht untätig. 4 Milliarden Euro zur Stabilisierung Bei allen Wahlen sind die Stimmen der Mehrheit der des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, der übrigens von Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens den Ländern zu betreuen ist, 3 Milliarden Euro für die 355 Jastimmen, erforderlich. bessere technische Ausstattung der Krankenhäuser, die Digitalisierung des gesamten Gesundheitssystems und Die Wahlen erfolgen in der Abgeordnetenlobby. Um Botendienste in den Apotheken – das alles erleichtert größere Ansammlungen von Personen vor den Wahlkabi- das Leben und macht es für uns in der Pandemie weiter- nen zu vermeiden und den notwendigen Abstand von- hin sicher. einander wahren zu können, haben Sie nach Eröffnung (B) der Wahlen vier Stunden Zeit, um Ihre Stimmen abzu- (D) Noch ein letzter Gedanke zum dritten Infektions- geben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn in den ersten zwei schutzgesetz; der Kabinettsentwurf dazu war ja das Stunden möglichst nur die Kolleginnen und Kollegen zur Ärgernis der letzten Tage. Es wird nichts, aber auch gar Wahl gingen, deren Nachnamen mit den Buchstaben A nichts verstetigt an den Ermächtigungen zum Erlass der bis K beginnen, und anschließend die mit den Anfangs- Rechtsverordnung. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich buchstaben L bis Z folgten. den Gesundheitsminister loben. Jens Spahn hat uns in Für die Wahlen benötigen Sie Ihren Wahlausweis in nahezu jeder Sitzungswoche und in den Nichtsitzungs- der Farbe Orange aus Ihrem Stimmkartenfach. wochen über Videokonferenzen und Telefonschalten Rede und Antwort gestanden über den Inhalt der Ermäch- In der Abgeordnetenlobby erhalten Sie an den Aus- tigungen. Wir haben darüber diskutiert und sie zum Teil gabetischen nach Vorzeigen des Wahlausweises drei auch im Ausschuss korrigiert. – Übrigens, Herr Lindner: Stimmkarten in den Farben Grau, Grün und Blau. Da Die FDP war dabei immer zugegen, und die Kollegin die Wahl der Mitglieder des Sondergremiums geheim Aschenberg-Dugnus hat sich – das dürfen Sie mir glau- durchzuführen ist, erhalten Sie zu der für diese Wahl vor- ben – ausführlich, wie sie es immer macht, in die Diskus- gesehenen Stimmkarte in der Farbe Blau zusätzlich einen sion eingebracht. Ich jedenfalls fühle mich als Gesund- Wahlumschlag in der Farbe Blau, in den die ausgefüllte heitspolitikerin auf dem Fahrersitz, nicht nur auf dem Stimmkarte einzulegen ist. Am Ausgabetisch erhalten Sie Beifahrersitz. also drei Stimmkarten und einen Wahlumschlag in einem Paket. Abschließend ist mir eines besonders wichtig: Die Politik alleine wird die Pandemie nicht eindämmen kön- In der Wahlkabine sind die drei Stimmkarten anzu- nen. Wir brauchen Sie alle, die gesamte Gesellschaft. kreuzen. Es darf zu jeder Kandidatin bzw. zu jedem Kan- Danke an alle, die bisher schon mitgewirkt haben. Blei- didaten nur ein Kreuz, entweder bei „ja“, „nein“ oder ben Sie gesund! „enthalte mich“, gemacht werden. Alles andere führt zur Ungültigkeit der Stimme. Die Stimmkarte für die Herzlichen Dank fürs Zuhören. geheime Wahl ist in der Wahlkabine in den Wahlum- schlag zu legen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise explizit ordneten der SPD) darauf hin, dass das Fotografieren oder Filmen der aus- gefüllten Stimmkarte bei der geheimen Wahl einen Ver- Vizepräsidentin Petra Pau: stoß gegen das Wahlgeheimnis darstellt und die Ordnung Ich schließe die Aussprache. und Würde des Hauses verletzt. Für den Fall, dass ich von Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23379

Vizepräsidentin Petra Pau (A) solchen Verstößen gegen das Wahlgeheimnis in dieser (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) Sitzung oder später Kenntnis erlange, behalte ich mir schon jetzt vor, Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Bereitschaft der Bevölkerung zur Mitarbeit ist hier- bei ganz essenziell. Ohne die Kooperation mit unseren Bevor ich weitere Hinweise gebe: Ich bitte auch die- Bürgern laufen alle Maßnahmen ins Leere. jenigen, die jetzt ihre Plätze einnehmen, dies mit aufge- setztem Mund-Nase-Schutz zu tun. Es laufen immer noch (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Kolleginnen und Kollegen ohne diesen durch den Raum. Wenn sich aber Verordnungen als widersprüchlich, als Nun weiter zum Prozedere. Nach Verlassen der Wahl- unlogisch, als nicht nachvollziehbar darstellen, dann ent- kabine übergeben Sie bitte der Schriftführerin oder dem steht ein Akzeptanzproblem, und an diesem Punkt sind Schriftführer an der Wahlurne Ihren Wahlausweis. Die wir gerade, meine Damen und Herren. Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an den Wahlen. Kontrollieren Sie daher bitte, (Beifall bei der FDP) ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Mittlerweile hat die Rechtsprechung in mehr als 80 Fällen In die entsprechend gekennzeichneten Wahlurnen sind festgestellt, dass die entsprechenden Maßnahmen verfas- farblich getrennt die drei Wahlunterlagen, also der Wahl- sungswidrig sind. Bestes Beispiel ist das sogenannte umschlag sowie die zwei Stimmkarten für die offenen Beherbergungsverbot. Mit einem solchen Unfug verlie- Wahlen, einzuwerfen. ren wir die Akzeptanz der Bevölkerung, meine Damen Bitte gehen Sie nicht alle gleichzeitig zur Abstim- und Herren. mung. Denken Sie an die Pflicht zum Tragen der Mund-Nase-Bedeckung, und halten Sie bitte den Sicher- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heitsabstand ein. der AfD) Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, Alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung müssen die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist offen- zielgerichtet und auch für die Bevölkerung nachvollzieh- sichtlich der Fall. Ich eröffne die Wahlen. Die Schließung bar sein. Die gestern beschlossene komplette Schließung der Wahlen erfolgt um 15.24 Uhr.1) der Gastronomie und das undifferenzierte Verbot von Kulturveranstaltungen sind weder zielgerichtet noch Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: nachvollziehbar. Beratung des Antrags der Abgeordneten Konstantin Kuhle, Christine Aschenberg- (Beifall bei der FDP) Dugnus, Stephan Thomae, weiterer Abgeordne- Gerade in diesen Bereichen hat die Vergangenheit doch (B) ter und der Fraktion der FDP (D) gezeigt, dass mit Hygienekonzepten, mit Filteranlagen, Infektionsschutzmaßnahmen auf eine klare mit Trennwänden ein Offenhalten möglich ist. Hauptur- gesetzliche Grundlage stellen – Demokratie sache der Ausbrüche sind doch nicht die Gastronomen und Parlamentarismus stärken und die Kulturveranstaltungen, sondern – das wurde Drucksache 19/23689 doch festgestellt – der private Bereich. Da müssen wir ansetzen; das bestätigt auch die Wissenschaft. Es ist Überweisungsvorschlag: doch weniger gefährlich, wenn Sie in einem Restaurant Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Inneres und Heimat mit strikten Kontaktverfolgungsmaßnahmen sitzen, als Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz wenn Sie sich zu Hause treffen, wo es kein Kontaktverbot Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten gibt, wo Superspreader sich entfalten können, meine beschlossen. Damen und Herren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin (Karin Maag [CDU/CSU]: Vor fünf Minuten Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. haben wir es erklärt!) Auch von der Ärzteschaft und der Wissenschaft ist ja (Beifall bei der FDP) gestern ein Strategiewechsel ins Spiel gebracht worden mit einem besseren Schutz von Risikogruppen und Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Gesundheitspersonal – ich würde das ausweiten auf sys- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen temrelevante Berufe wie die Polizei – und vor allen Din- und Kollegen! Unser Land erlebt derzeit einen Anstieg gen mit keinem undifferenzierten Lockdown. des Infektionsgeschehens, und dadurch, dass wieder Über all diese Vorschläge würden wir gerne im Deut- mehr Ältere infiziert sind, steigt leider auch die Zahl schen Bundestag um die besten Lösungen ringen. Aber der Intensivpatienten und der Beatmungspatienten. Die statt eines öffentlichen parlamentarischen Abwägens von Pandemie ist noch lange nicht vorbei. Es handelt sich Handlungsalternativen erleben wir hier lediglich ein nach wie vor um ein gefährliches Virus, das gerade für nachträgliches Zur-Kenntnis-Geben, ein Präsentieren Risikopatienten bedrohlich ist. Gerade in der jetzigen der Ergebnisse, meine Damen und Herren. Das wollen Phase müssen wir gemeinsam die Bürger darin bestärken, wir ändern, und das ist Inhalt unseres Antrages. die notwendigen Maßnahmen einzuhalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 1) Ergebnis Seite 23442 A der AfD und der LINKEN) 23380 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Christine Aschenberg-Dugnus (A) Wir fordern parlamentarische Erlassvorbehalte. Wir Das Virus kennt nur eine einzige Kategorie: den direkten (C) fordern Unterrichtungspflichten. Wir fordern unter ande- Kontakt von Menschen. Wir sind die Wirte des Virus, und rem eine Konkretisierung der Generalklausel, um Infek- durch unsere Beweglichkeit, durch unsere Begegnungs- tionsschutzmaßnahmen der Länder auf eine klare gesetz- freude hat das Virus die Chance, anzustecken. Deswegen liche Grundlage zu stellen, meine Damen und Herren. ist Kontaktreduktion nicht in erster Linie eine Frage der Politik, sondern zuvörderst menschlich und mitmensch- (Beifall bei der FDP) lich. Das fordern auch nicht nur wir. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Covid- (Jan Korte [DIE LINKE]: Wir auch!) 19-Fälle hat sich in den vergangenen zehn Tagen von 769 Patientinnen und Patienten am 18. Oktober auf Auch der Bundestagspräsident teilt diese Auffassung und 1 569 Patientinnen und Patienten gestern mehr als ver- stützt sich dabei auf ein Gutachten des Wissenschaftli- doppelt. Wenn sich diese Dynamik in diesem Rhythmus chen Dienstes. fortsetzt, wenn diese Dynamik nicht gebrochen wird und Wir nehmen auch das Thema Befristung auf und bean- zudem die zunehmende Betroffenheit älterer Menschen tragen, dass die Feststellung der epidemischen Lage nach und Risikogruppen mitgedacht wird, dann landen wir bei zwei Monaten automatisch endet. Dann muss man argu- 50 208 Intensivbetten – am 7. November würden es mehr mentieren, um sie zu verlängern. Das ist ein Legitima- als 3 000, am 17. November mehr als 6 000, am tionsgewinn. Das wird dazu führen, dass getroffene Maß- 27. November mehr als 12 500 und am 7. Dezember nahmen immer auf den Prüfstand der Parlamente gestellt mehr als 25 000 sein –, die wir am 17. Dezember brau- werden. chen. Damit ist das Gesundheitswesen total überfordert. In Tschechien und Belgien arbeiten jetzt schon coronain- (Beifall bei der FDP) fizierte Ärztinnen und Ärzte und Krankenpflegekräfte Das erhöht die Akzeptanz der Maßnahmen, aber nicht nur weiter, um die stationäre Versorgung sicherzustellen. das, es erhöht auch die Qualität der Maßnahmen, meine Das muss bei uns verhindert werden. Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die gestrigen Entscheidungen sind nach meiner Wahr- Rechtsstaat und Gewaltenteilung sind kein Hindernis nehmung eine Konsequenz aus dem exponentiellen bei der Pandemiebekämpfung, sondern eine Stärke unse- Wachstum der Infektionszahlen. In der Tat sind die Infek- rer Demokratie und genau der richtige Schritt aus der tionszahlen der jüngeren Generation, wenn sie denn Krise heraus. gesund ist und keine Begleiterkrankungen hat, nicht das, was uns antreiben muss; aber wir sehen ja, dass (B) (Beifall bei der FDP) (D) nach einigem Vorlauf dann der Eintrag in die ältere Gene- Ich fordere Sie als Parlamentarier eindringlich dazu auf, ration stattfindet. Vor allem ist Prävention der Zweck der Demokratie und Parlamentarismus zu stärken und unse- Übung: flächendeckende Überforderung in den Gesund- rem Antrag zuzustimmen. heitsämtern vermeiden, wieder mehr Kontrolle über Kon- taktketten gewinnen. Wir haben gar keine wirksame Aus- Herzlichen Dank. sage darüber, wo die Ansteckungen stattfinden; in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 75 Prozent der Fälle wird das in den Meldedaten der der LINKEN – Tino Sorge [CDU/CSU]: Stär- Gesundheitsämter nicht identifiziert. Wir wissen auch kung der Demokratie heißt aber nicht, dass man nicht, ob die Ansteckungen in der Gastronomie und in jedem Antrag zustimmt, Frau Kollegin! Das Kulturbetrieben passieren. war eben die Quintessenz Ihrer Rede!) Ich weiß nur, dass ich, der ich mich glaube vorsichtig zu verhalten, bis zu zwölf Kontakte – grüne Kontakte – in Vizepräsidentin Petra Pau: meiner Corona-Warn-App sehe. Das bedeutet doch, dass Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Begegnungen stattfinden müssen, von denen ich gar Rudolf Henke das Wort. nichts weiß, mit Menschen, die sich später als infiziert erwiesen haben. Deswegen ist die Vorhaltung von aus- (Beifall bei der CDU/CSU) reichend Intensivmedizin auch für Menschen, die aus anderen Gründen unvorhersehbar einen solchen Behand- Rudolf Henke (CDU/CSU): lungsbedarf entwickeln – es geht ja nicht nur um Covid- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- 19; es geht auch um Schlaganfallpatienten, um Herzin- legen! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich auf den farktpatienten, um Patienten mit anderen Infektions- rechtspolitischen Teil der FDP-Initiative beziehe, will ich krankheiten –, zentral. zunächst wie Sie, Frau Aschenberg-Dugnus, eine gesund- Jetzt argumentieren Sie auf zwei Ebenen: Das eine heitspolitische Einordnung vornehmen. Das Virus unter- betrifft erneut die epidemische Lage von nationaler Trag- scheidet nicht zwischen Bund und Ländern, es unter- weite und die damit verbundenen Handlungsmöglichkei- scheidet nicht zwischen Parlament und Regierung, auch ten. In diesem Zusammenhang gibt es aber keinen Man- nicht zwischen Fraktionen und Parteien. gel an parlamentarischem Einfluss; vielmehr haben wir – (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Aber von Ihnen beantragt – die Aufhebung dieser Lage zuletzt auch nicht zwischen Touristen und Geschäfts- am 17. September hier debattiert, und wir haben sie mehr- leuten!) heitlich abgelehnt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23381

Rudolf Henke (A) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Scha- Also, es gibt eine Befristung. (C) de!) Wir haben in diesem Haus zweimal über Anträge aus – „Schade“, sagen Sie. – Aber es ist doch nicht so, dass dem Haus diskutiert, diese Regelung vorzeitig auslaufen wir, weil wir mit der Mehrheit des Hauses Ihren Antrag zu lassen. Wir haben jetzt Ihr Plädoyer, sie gewisserma- abgelehnt haben, jetzt das Prädikat verdienen: Da seid ihr ßen alle zwei Monate erneuern zu müssen. Ich finde, man keine Demokraten mehr! kann darüber reden, ob man das so macht. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Nie behauptet!) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Dann – Nein? Dann ist es ja gut. Aber dann erwecken Sie auch tun Sie es doch!) nicht den Eindruck, als wäre es ein Demokratieverlust, – Wir reden ja darüber. – Aber man kann nicht sagen: wenn sich Ihr Antrag nicht durchsetzt. Wenn die Infektionsschutzmaßnahmen auf diese Grund- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lage gestellt werden, dann ist es eine klare Grundlage; Das ist kein Demokratieverlust. Die Möglichkeit, diese wenn sie aber bis zum 31. März 2021 befristet werden, epidemische Lage aufzuheben, hätten wir zu jeder Zeit dann ist das keine klare Grundlage. – Die Grundlage ist in gehabt und hätten sie beliebig nutzen können. Wir haben beiden Fällen klar. Sie können auch nicht sagen, wenn wir es aber aus guten Gründen nicht getan. Und das ist genau- Ihrem Antrag folgen, dann sind Demokratie und Parla- so demokratisch und genauso Einlösung des demokrati- mentarismus gestärkt, aber wenn demokratisch im Parla- schen Anspruchs wie das, was Sie vortragen. ment entschieden wird, es anders zu machen, als die FDP es will, sind Demokratie und Parlamentarismus ge- schwächt. Das, finde ich, ist unter Demokraten keine Vizepräsidentin Petra Pau: ordentliche Argumentation. Deswegen wehre ich mich Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin dagegen. Aschenberg-Dugnus? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Rudolf Henke (CDU/CSU): Ja. Zum Zweiten geht es um § 28 des Infektionsschutzge- setzes und den bislang bewährten Vorrang der Länder, wenn es um die Anordnung von Schutzmaßnahmen Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): geht. Diese Konstellation in Kombination mit § 32 des Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Infektionsschutzgesetzes ist im Wesentlichen seit dem (B) Kollege Henke, für die Zulassung der Frage. Ich wollte Jahr 2000 unverändert. (D) klarstellen, dass es nicht um unseren Antrag geht, den wir vor der Sommerpause gestellt haben; vielmehr wollen wir mit dem Antrag, den wir jetzt vorgelegt haben, die (Konstantin Kuhle [FDP]: Nein! Das stimmt Regelung schaffen – die übrigens auch im Land Nord- nicht!) rhein-Westfalen besteht –, dass die epidemische Lage Wir haben im März im Licht der Pandemie § 28 des befristet ist und dass dann entsprechend vom Parlament Infektionsschutzgesetzes etwas spezifischer gefasst. Wir argumentiert werden muss, warum und aus welchen haben bei der möglichen Einschränkung der Bewegungs- Gründen sie verlängert wird. Nichts anderes steht hier freiheit die Begründung präzisiert. Wir haben auch klar drin. angegeben, welche grundrechtlichen Einschränkungen Es geht jetzt nicht um Einzelanträge, die wir mal damit verbunden sind; sie sind alle im ersten Bevölke- gestellt haben. Wir sind der Auffassung, dass es für die rungsschutzgesetz aufgezählt. Legitimation, sowohl für das Parlament als auch für die Bevölkerung draußen, wichtig ist, dass man Maßnahmen Ich bin auch dafür, dass wir darüber diskutieren, ob das immer wieder überprüft. Das können Sie nur machen, Infektionsschutzgesetz im Licht dieser Pandemie neu wenn Sie eine Befristung einlegen und dann als Landes- aufzusetzen ist. Ich bin auch dankbar für diese zweiseiti- regierung, als Bundesregierung wieder aktiv argumentie- ge – „Gutachten“ kann man das, glaube ich, nicht nen- ren müssen, warum Sie der Meinung sind, dass sie ver- nen – Empfehlung des Wissenschaftlichen Dienstes auf längert werden muss. Veranlassung des Bundestagspräsidenten. Aber wir dür- fen nicht darüber hinwegsehen, dass die Entscheidungen, (Beifall bei der FDP und der LINKEN) die gestern getroffen worden sind, einer Aufforderung – weil Sie von der Aufforderung der Kassenärztlichen Bun- Rudolf Henke (CDU/CSU): desvereinigung gesprochen haben – der Deutschen For- Vielen Dank, Frau Aschenberg-Dugnus, für diese Fra- schungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, der ge. – Ich will das noch einmal klarstellen: Ja, es gibt eine Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, Befristung, die haben wir hier mit dem ersten Bevölke- der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akade- rungsschutzgesetz beschlossen, und diese Befristung mie – sieht vor, dass alle diese Befugnisse, die zusätzlich ein- geführt worden sind, mit dem 31. März 2021 auslaufen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ein Herr Henke, Sie können gern weitersprechen, tun es Jahr!) aber dann auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen. 23382 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): Nun denn, die Abgeordneten des Deutschen Bundes- (C) – der Wissenschaften, Leopoldina, entsprechen. Des- tages werden vor vollendete Tatsachen gestellt; das wur- wegen: Ja, man kann immer darüber diskutieren, wessen de heute schon mehrfach kritisiert. Wir erfahren das alles, Empfehlungen man folgt; aber, ich finde, man kann nicht den ganzen Merkel-Lockdown, aus den Nachrichten. Das sagen: Es gibt keine klare Vorstellung, die die Mehrheit ist nicht die Missachtung des Parlaments, das ist die Ver- hier vertritt und die sie hier verfolgt. achtung des Parlaments. Ich glaube, es ist gut, diesen Antrag in den Ausschüs- (Beifall bei der AfD) sen intensiv zu beraten; aber ich sehe keinen Unterschied Man kann das Schicksal von Millionen Beschäftigten, in der demokratischen Qualität unserer und Ihrer Beiträ- Hunderttausenden von Unternehmen und die Stabilität ge. der deutschen Volkswirtschaft nicht dem zufälligen Dis- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. kussionsverlauf einer Videokonferenz überlassen oder den Eitelkeiten der Herren Söder, Laschet und Ramelow. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Ergebnis der Videodemokratie ist dann auch reine Willkür: Die neuen Maßnahmen sind selbst und gerade Vizepräsidentin Petra Pau: dann absurd, wenn es die epidemische Gefahr tatsächlich Das Wort hat die Abgeordnete Beatrix von Storch für gibt; auch das wurde heute schon mehrfach gesagt. die AfD-Fraktion. Wenn irgendjemand die Abstandsregeln usw. eingehal- (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Jetzt ten hat, dann waren das die Gastronomen. Und was tun wird es wieder grausig!) Sie? Sie schließen die Einrichtungen in der Gastronomie – 1,8 Millionen Beschäftigte, 65 Milliarden Euro Umsatz –, und das, obwohl das RKI – das heilige RKI –, so lesen Beatrix von Storch (AfD): wir, ausdrücklich sagt: Die sind keine Infektionsherde. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Kantinen bleiben offen, aber die Restaurants sollen Demokratie und Parlamentarismus sind in Deutschland in schließen. Echt jetzt? einer tiefen Krise – nicht erst seit Corona –, und die Krise hat einen Namen: Angela Merkel. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der AfD) Um meine Nachbarn zu treffen, muss ich jetzt U-Bahn fahren; denn bei mir zu Hause darf ich sie nicht sehen. In der Euro-Krise hat sie den Bürgern Billionenlasten Kitas und Schulen werden nicht geschlossen; das ist gut. aufgeladen – unter Bruch der europäischen Verträge. In Aber warum dann das Beherbergungsverbot? Wo geht (B) der Asyl- und Migrationskrise hat sie Millionen Illegale denn ein Virus eher herum, in einem Klassenzimmer (D) ins Land gelassen – unter Bruch des Grundgesetzes und oder in einem Hotelzimmer oder einer Ferienwohnung? ohne das Parlament. Und seit Corona regiert sie Deutsch- Tourismus: 3 Millionen Beschäftigte, 290 Milliarden land praktisch mit einem Notstandsregiment Euro Umsatz. (Zuruf von der SPD: Bullshit-Bingo!) Wissen Sie auf der Regierungsbank eigentlich, was Sie zusammen mit den Ministerpräsidenten, dem Seuchen- da tun, oder ist es Ihnen egal? regiment. Sie tötet das öffentliche Leben – ohne Debatte, (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nee, das wis- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was sen die nicht!) machen Sie denn hier gerade?) Sie haben keine wissenschaftliche Grundlage für das, was ohne wissenschaftliche Grundlage und wieder ohne das Sie tun. Deswegen ist das, was Sie tun, Willkür, und Parlament. Willkür ist Unrecht, und Unrecht erzeugt Wut. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Karin Maag [CDU/ CSU]: Hören Sie eigentlich den Experten gele- Die Kritik der FDP daran ist richtig, aber sie kommt gentlich zu?) natürlich ganz schön spät. Am 23. März, Frau Aschenberg-Dugnus, hatten wir bereits das beantragt, Ich sage den Millionen Beschäftigten alleine in Tou- von dem Sie gerade sprachen, rismus und Gastronomie, deren Arbeitsplätze jetzt bedroht sind, und den Unternehmern, die jetzt vor dem (Konstantin Kuhle [FDP]: Unsinn!) Ruin und dem Ende stehen: Erinnern Sie sich im nächsten September daran, welche Parteien Ihnen das angetan nämlich die außergewöhnliche Notsituation für einen haben. Wenn Sie diesen Spuk beenden wollen, dann un- Monat zu befristen und nach einem Monat neu zu bewer- terstützen Sie die AfD. Das ist die einzige Sprache, die ten – Drucksache 19/18159, Herr Kuhle, zum Nachlesen. diese Regierung versteht. Die FDP hat das abgelehnt. Am 21. April hatten wir beantragt, die getroffenen Maßnahmen wöchentlich zu Vielen Dank. überprüfen und den Bundestag dabei in angemessener (Beifall bei der AfD) Weise zu beteiligen – Drucksache 19/18738. Die FDP hat das abgelehnt. Und am 30. Juni hatten wir einen Antrag gestellt mit dem Titel „Tiefe Grundrechtseingriffe Vizepräsidentin Petra Pau: bedürfen der parlamentarischen Kontrolle“ – Drucksache Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD- 19/20676. Auch das hat die FDP abgelehnt. Fraktion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23383

Vizepräsidentin Petra Pau (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Reformbedarf sehen. Notwendig sind unter anderem (C) der CDU/CSU) ein differenzierter Kriterienkatalog für grundrechts- einschränkende Schutzmaßnahmen, eine Begründungs- Sabine Dittmar (SPD): pflicht, eine Befristung und eine Parlamentsbeteiligung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und bei Rechtsverordnungen. Kolleginnen und Kollegen, Kollegen! Auch heute haben die Coronainfektionszahlen wir sind bereit, gemeinsam mit Ihnen daran zu arbeiten. mit fast 17 000 Neuinfektionen wieder einen Höchstwert (Beifall bei der SPD – Christine Aschenberg- erreicht. Die Pandemie stellt uns vor enorme Herausfor- Dugnus [FDP]: Wunderbar!) derungen im privaten, im beruflichen und im öffentlichen Bereich. Die Vereinbarungen, auf die sich Bundeskanz- Wichtig ist mir aber, dass die Diskussion mit großer lerin Merkel und die Ministerpräsidentinnen und -präsi- Sorgfalt und ohne Polemik geführt wird. Es wäre nicht denten gestern verständigt haben, machen deutlich, wie nur falsch, sondern auch fatal, den Eindruck zu erwecken, ernst die Situation ist: Das Infektionsgeschehen ist so dass die Bundesregierung und die Landesregierungen diffus, dass derzeit bei 75 Prozent der Infizierten der Aus- wesentliche Dinge versäumt oder leichtfertig gehandelt gangspunkt nicht mehr zugeordnet werden kann, und das hätten. ist verheerend. (Beifall der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/ Glauben Sie mir: Uns allen wäre wohler, wenn die CSU]) gestern vereinbarten harten Einschnitte nicht vollzogen Das Gegenteil ist der Fall: Um jede Entscheidung wird werden müssten. Sie sind aber notwendig, und sie sind hart gerungen. Anzuerkennen ist, dass wir mit den Maß- jetzt notwendig; denn sie sind unsere Chance, die Dyna- nahmenpaketen auf Bundes- und Länderebene ver- mik aus dem Infektionsgeschehen herauszunehmen und gleichsweise gut durch die Krise gekommen sind. Und unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. das, Kolleginnen und Kollegen, soll auch so bleiben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich bin Ihren Ministerkollegen der FDP in den Ländern, Deshalb, meine Damen und Herren, ist das Gebot der in denen sie Verantwortung tragen, auch dankbar, dass sie Stunde, die Infektionsdynamik zu unterbrechen, das Aus- das verstanden haben. bruchsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. Das ist ein Leider werden in der aktuellen Diskussion und auch in Kraftakt und verlangt den Bürgerinnen und Bürgern, aber dem vorliegenden Antrag der FDP die verschiedenen auch vielen Branchen – von der Gastronomie bis zur Verantwortungsebenen, die wir im Infektionsschutz Kulturszene – viel ab. Dennoch ist jede und jeder Einzel- ne von uns darauf angewiesen, private Kontakte zu redu- (B) haben, fortlaufend miteinander vermischt. Sie versuchen, (D) schon mit Ihrem Antragstitel den Anschein zu erwecken, zieren, Freizeitaktivitäten einzuschränken. Ja, das ist für als gäbe es keine hinreichende gesetzliche Grundlage für uns alle schwer. Viele fragen sich, wann sie ihre Ver- die Infektionsschutzmaßnahmen der Länder. wandten wieder unbeschwert besuchen können, wann sie wieder in gemütlicher Runde mit ihren Freunden (Konstantin Kuhle [FDP]: Dann haben Sie den zusammensitzen können, wann wir alle unseren Alltag Titel aber wohl nicht gelesen!) zurückbekommen. Dennoch appelliere ich an Sie: Halten Fakt ist aber, dass die Kompetenzverteilung zwischen Sie sich konsequent an die Regeln. Lassen Sie uns ge- Bund und Ländern im Infektionsschutz vorsieht, dass die meinsam und solidarisch zusammenhalten und Corona notwendigen Schutzmaßnahmen von den Landesregie- gemeinsam die Stirn bieten. – Dafür sage ich Ihnen allen rungen durch Rechtsverordnung angeordnet werden. Die- jetzt schon ein herzliches Dankeschön! se Ermächtigungsgrundlage umfasst zwangsläufig auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Eingriffe in Grundrechte. Diese Ermächtigungsgrundlage mag jetzt im Lichte der Pandemie defizitär erscheinen Vizepräsidentin Petra Pau: und überarbeitungsbedürftig sein; es gibt sie aber, und sie ist derzeitige Gesetzeslage. Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. Richtig ist auch, dass die Coronapandemie die erste große Herausforderung für das Infektionsschutzgesetz (Beifall bei der LINKEN) ist. Natürlich ergeben sich hier fortlaufend neue Erkennt- nisse, die letztendlich den Reformbedarf des Gesetzes Jan Korte (DIE LINKE): aufzeigen. Deshalb ist es richtig und notwendig, die Dis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kussion über eine Reform des Infektionsschutzgesetzes Weil es hier mehrfach erwähnt worden ist, möchte ich zu führen. Das ist aber nicht gleichzeitig mit einer angeb- auch noch auf den 25. März zurückblicken, zur Debatte lich fehlenden demokratischen Legitimation der bislang zum Bevölkerungsschutzgesetz. Damals hat meine Frak- getroffenen Entscheidungen verbunden. tion Die Linke einen außerordentlich schlauen Antrag (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gestellt, Auf eine Reform haben wir uns im Übrigen alle bereits (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das im Zuge des ersten Bevölkerungsschutzgesetzes im März erste Mal! – Tino Sorge [CDU/CSU]: Das verständigt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat hierfür wäre das erste Mal!) zwischenzeitlich konkrete Vorschläge erarbeitet. Rolf der leider abgelehnt wurde, nämlich das Ganze bis zum Mützenich hat heute Morgen dargestellt, wo wir konkre- 30. September 2020 zu befristen; 23384 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Jan Korte (A) (Beifall bei der LINKEN) Das geht nicht in einem demokratischen Rechtsstaat. (C) denn, so der Begründungstext: Es geht auch nicht, dass Sie als Parlamentarier, vor allem der CDU/CSU, akzeptieren, dass das ganze Land vor dem So wäre sichergestellt, dass nach der laufenden Epi- Fernseher wartet, dass die Pressekonferenz losgeht und demie zusammen mit den Ländern auf Basis des bis dann die Entscheidungen verkündet werden. Die ganze 30. September 2020 von der Bundesregierung vor- Attitüde passt auch nicht zu dem, was wir brauchen, näm- zulegenden Berichts ein stimmiges Gesamtpaket mit lich Transparenz und Akzeptanz, liebe Kolleginnen und klareren Zuständigkeiten und breiter Akzeptanz und Kollegen. auf dem Stand des dann aktuellen Wissens auf den Weg gebracht wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der FDP) Hätten Sie das befolgt, hätten wir diese Chose heute nicht. Ganz grundsätzlich ist es doch gerade in diesen Grund- und Freiheitsfragen so, dass sich der Staat rechtfertigen (Beifall bei der LINKEN) muss, wenn er in die Grund- und Freiheitsrechte der Nun möchte ich etwas zum vorliegenden Antrag der Menschen eingreift. FDP sagen, der überraschend gut ist; das ist ja nicht selbstverständlich bei Ihnen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr richtig!) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir können das Kompliment zurückgeben!) Das mache ich, indem ich Transparenz herstelle, indem ich Öffentlichkeit suche und herstelle und indem ich Meine Fraktion wird ihn deswegen unterstützen. logisch begründe. Das Fazit von all diesen Debatten (Beifall bei der LINKEN) kann gerade in dieser Frage doch nur Folgendes sein: Je Denn dass wir eine gewisse Verselbstständigung der Exe- länger und tiefer die Eingriffe in die Grund- und Frei- kutive und der Bundesregierung haben, ist ja allen – bis heitsrechte jedes Einzelnen in diesem Land vorgenom- auf die CDU/CSU –, auch der SPD-Fraktion, aufgefallen. men werden, umso mehr Kontrolle, umso mehr Debatte Deswegen müssen wir handeln. und umso mehr Sondersitzungen des Bundestages brau- chen wir, wenn es denn nötig ist, liebe Kolleginnen und Sinnbildlich dafür steht gestern die Runde der Bundes- Kollegen. kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Minister- präsidenten. Denn eines ist heute schon ein bisschen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- bizarr: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin neten der FDP) (B) und die Debatte nach den Entscheidungen abzuhalten, Ich finde, das ist recht übersichtlich. (D) ist geradezu absurd. Ich will noch etwas an die Bundeskanzlerin richten. Ich (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Richtig!) weiß, Sie machen auch noch vieles andere, und ich bin, Das muss vorher geschehen, damit wir uns ein Bild um etwas Positives zu sagen, froh, dass gerade nicht machen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. oder Armin Laschet Kanzler ist, Absurd! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN, der AfD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ sondern Sie; das muss man der Fairness halber auch DIE GRÜNEN) sagen. Aber trotzdem geht eines nicht: Man kann mit der Bevölkerung nicht so umgehen, dass man in diesen Ich will noch ganz grundsätzlich etwas dazu sagen. Fragen nur in der Ministerpräsidentenrunde regiert oder Zum Ersten. Das ist eine Runde, deren Beschlüsse wirk- abwechselnd mal wieder einen Podcast macht. lich sehr schwer in die Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Diese Grund- und (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Freiheitsrechte sind übrigens nicht vom Himmel gefallen NEN]: Wo er recht hat, hat er recht!) oder wurden so zur Verfügung gestellt, sondern sie wur- Das geht wirklich nicht. Das geht überhaupt nicht. den aus der Geschichte heraus bitter erkämpft. Deswegen ist das eine besonders sensible Frage. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Zum Zweiten. Diese Runde tagt nichtöffentlich. Die neten der SPD) Parlamente, die, wie wir hier sehen, öffentlich tagen, Deswegen finde ich das, was die Kolleginnen und Kol- werden nicht einbezogen. Auch deswegen geht das über- legen der FDP hier vorlegen, eine saubere juristische Ein- haupt nicht. ordnung, wie wir dieses Problem angehen können. Zum Dritten. Dieses Gremium, das de facto eine Ich finde, wir können sogar noch ein Stück weiter- Ersatzregierung ist – auch in der ganzen Attitüde; das gehen. Der geschätzte Bundestagspräsident Dr. Schäuble ist teilweise schon etwas schräg –, ist nirgendwo in der hat an uns alle appelliert – er hat uns einen Brief geschrie- Verfassung vorgesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ben; der ist auch veröffentlicht worden –, dass das mit der (Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie Missachtung des Parlamentes – das ist eine – so natürlich bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Britta nicht weitergehen kann. Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Davon Ich finde, so muss man damit auch umgehen. hat er nicht gesprochen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23385

Jan Korte (A) Das ist auch ein Appell des Präsidenten vor allem an die (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem (C) Koalitionsabgeordneten. Der Kollege Dr. Schäuble ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- hört ja, Kollege Michael Grosse-Brömer, Ihrer Fraktion ordneten der SPD) an, wenn ich das richtig sehe. Mit allen anderen will ich gerne darüber streiten, wie wir (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der das Thema angehen; denn ich habe manchmal den Ein- muss gut sein!) druck, dass hier nur Virologen oder so sitzen. Ich bin das nicht. Das hat doch auch was mit dem Selbstverständnis zu tun. Sie sind doch hier keine Steffen-Seibert-Doubles, Vizepräsidentin Petra Pau: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein! Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit Aber auch keine Ersatzkanzler! Das sind doch alles keine Ersatzkanzler!) Jan Korte (DIE LINKE): die hier alles richtig- und tollreden wollen, was die Regie- Wir sind auf diesen Streit, auf die Auseinandersetzung rung macht. Das ist nicht die Aufgabe von Parlamenta- angewiesen, damit wir das Beste für die Menschen, für riern. Das, finde ich, ich muss einfach mal gesagt werden. die Gesundheit, die Grund- und Freiheitsrechte und vor allem für diejenigen, denen es nicht gut geht, die nicht auf (Beifall bei der LINKEN) der Sonnenseite in diesem Land leben, tun können. Ich fasse zusammen. Was sollten wir tun? In Zukunft sollte die Bundeskanzlerin vor jeder weiteren Runde – die Vizepräsidentin Petra Pau: nächste ist schon angekündigt worden – hier eine Regie- Kollege Korte, ich bin gezwungen, beim nächsten Hin- rungserklärung darüber abgeben, was ihre Verhandlungs- weis das Mikrofon auszuschalten. linie bei den Ministerpräsidenten sein soll. Dies muss die erste Maßnahme sein. Das entspricht auch der Logik, liebe Kolleginnen und Kollegen. Jan Korte (DIE LINKE): Ja, das ist schade. (Beifall bei der LINKEN) Danke für die Aufmerksamkeit. Ich finde, wir müssen in diesen Zeiten eigentlich in (Beifall bei der LINKEN) jeder Woche hierzu eine Generaldebatte führen. Wie ist eigentlich die Entwicklung bei den Infektionszahlen? Vizepräsidentin Petra Pau: (B) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Täglich!) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die (D) Eine zentrale Frage finde ich auch ganz wichtig: Wir alle Kollegin Britta Haßelmann das Wort. müssen doch darüber nachdenken: Was gibt es eigentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für unerwünschte Nebenwirkungen auf die gesamte Gesellschaft, die hier vielleicht gar nicht bedacht und Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): beachtet wurden? Das muss man hier doch mal diskutie- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und ren. Herren! Um an das Letzte anzuknüpfen, was Jan Korte Ich will mit einem konkreten Beispiel schließen. Wenn angesprochen hat: Das sehe ich auch so. Bei aller Kontro- ich Dinge höre wie die Digitalisierung des Homeschoo- verse in der Sache – es ist auch absolut notwendig, dass ling, dann stelle ich fest, dass das in weiten Teilen wir sie hier führen, öffentlich führen – brauchen wir hier Geschwätz ist. Das müssen Sie mal jemandem erzählen, im deutschen Parlament keine Einlassungen der AfD der mit fünf Personen in einer Zweizimmerwohnung über Parlamentarismus. leben muss. Wir müssen darüber nachdenken, was Leuten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eigentlich zugemutet wird und ob sie überhaupt in der bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Lage sind, diese Aufgaben richtig anzugehen. Das ist, finde ich, die Aufgabe des Bundestages. Keine andere Partei tritt mit so viel Verachtung gegen- über demokratischen Institutionen, (Beatrix von Storch [AfD]: Sie haben den Bezug zur Realität verloren!) (Zuruf von der AfD: Wie die Grünen!) gewählten Vertreterinnen und Vertretern auf, Kollegin von Storch, weil Sie eben peinlicherweise zweimal geklatscht haben, will ich Ihnen noch sagen: (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wir sind der Aus- Sie stellen sich in die Tradition – das haben Sie letzte druck von Demokratie! Sonst wären wir nicht Sitzungswoche bei jeder Rede gemacht – von Donald hier!) Trump. und niemand versucht, die Demokratie und das Parlament (Beatrix von Storch [AfD]: Hoffentlich so oft so verächtlich zu machen, meine Damen und Her- gewinnt er die Wahl!) ren, wie die AfD. Ich finde, wer sich in diese Tradition stellt und sich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Todeszahlen von Covid-19 in den USA ansieht – fast sowie bei Abgeordneten der SPD) 227 000! –, der sollte sich zu diesem Thema hier über- Deshalb warne ich davor, solche Einlassungen ernst zu haupt nicht äußern. Sie sind sowas von raus! nehmen. 23386 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Britta Haßelmann (A) (Jörg Schneider [AfD]: Hören wir auch noch mit, wenn sie zusammenkommen. Ich vertraue vielen, ich (C) was zum Thema?) wertschätze sie auch. Aber es ersetzt keine Debatte an Jetzt reden wir über das Infektionsgeschehen und die den Orten, wo sie hingehört, und auch keine Entschei- Frage der notwendigen Parlamentsbeteiligung. Ich finde dung dort, wo sie hingehört. es sehr wichtig und richtig, dass CDU/CSU und SPD hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Bereitschaft zeigen, zu sagen: Nein, es ist nicht alles sowie bei Abgeordneten der FDP) gut, wie es ist. – Wir haben hier Klärungsbedarf, wir haben hier Verbesserungsbedarf, wir haben hier ange- Wir müssen über die Fragen hinsichtlich des Infek- sichts dieser Krise die Notwendigkeit, unser Parlament, tionsschutzgesetzes reden. Dieses Infektionsschutzgesetz den Deutschen Bundestag, stärker und besser zu beteili- ist ganz offenkundig gar nicht für diese Krisenpandemie- gen und die Rechtsgrundlagen zu vertiefen. Das, was wir zeit ausgelegt, ihr so gar nicht gewachsen. Wir brauchen haben, reicht im Moment nicht. da Veränderungen. Wir müssen in Bezug auf § 5, auf § 28 und auch in Bezug auf § 32 über die Verknüpfung zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Bund und Ländern diskutieren. Wir brauchen hier Meine Damen und Herren, die Lage spitzt sich von Tag eine Neufassung. Wir brauchen eine stärkere Akzentuie- zu Tag zu. Die Entwicklung des Infektionsgeschehens ist rung des Parlamentarischen, und sie müssen wir durch besorgniserregend, und es braucht wirksame und auch die Rechtsgrundlagen auch anders verankern, meine nachvollziehbare Maßnahmen zur Eindämmung dieser Damen und Herren. Pandemie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In dieser Diskussion hier, in der Aussprache widmen sowie bei Abgeordneten der FDP) wir uns aber vor allen Dingen der Frage der Beteiligung. Wenn es um so tiefgehende Grundrechtseingriffe geht, Gerade in Coronapandemiezeiten brauchen wir die über die wir diskutieren und die vielen notwendig öffentliche Debatte, brauchen wir Rede und Gegenrede, erscheinen und die notwendig sind, dann brauchen wir das Abwägen von Argumenten. Wenn heute jemand sagt, die Veränderung der Rechtsgrundlagen. Wir brauchen er oder sie wisse ganz genau, was 100 Prozent richtig ist, den Zustimmungsvorbehalt des Parlamentes. Wir brau- dann kann das nur verunsichern, meine Damen und Her- chen eine stärkere Verankerung der Unterrichtungs- ren. Das weiß bei dieser Viruslage niemand ganz genau. pflicht. Wir brauchen klarere Festlegungen über Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidungen und Kontrolle des Parlamentes. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir müssen auch sagen: Alles das, was eine Minister- LINKEN) präsidentenkonferenz leisten kann, ist kein Ersatz für das, (B) Deshalb ist es so wichtig und notwendig, dass wir was wir eben in einem Rechtsstaat in einem neu gefassten (D) Argumente schärfen, dass wir Argumente austauschen Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage zusammen- und dass die Entscheidungen bei den Parlamenten liegen. fassen. Damit tragen wir auch eine wahnsinnig hohe Verantwor- tung, meine Damen und Herren, weil man oder frau sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keinen Beschluss, der gefasst wird, leicht machen kann; Auch hier bin ich dankbar für die Initiative, dafür, dass jeder ist verdammt schwer. Das ist immer eine Abwä- wir das Thema bringen. Ich bin auch dankbar für die gung, gerade in solchen Krisenzeiten. Deshalb ist hier Ankündigung der SPD, dass da Bewegung entsteht; sie der Ort der Entscheidung, nicht beim Erlassen der fordern wir schon seit März. Selbstverständlich werden Rechtsverordnung. wir als Fraktion hierzu auf parlamentarischem Wege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) etwas einbringen und es in der nächsten Woche vorlegen. Bei aller Wertschätzung – das sage ich in aller Deut- Vielen Dank. lichkeit, und da brauche ich auch keine Belehrungen im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hinblick auf die Frage Föderalismus –, meine Fraktion und ich sind völlig klar: Ein kooperativer Föderalismus ist nicht nur das, was im Grundgesetz steht, sondern das Vizepräsidentin Petra Pau: ist unsere Grundhaltung. Sie ist wichtig und richtig. Aber Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Georg Kippels ich bitte die SPD und die CDU/CSU, jetzt mal darüber das Wort. nachzudenken, was zwei Legislaturperioden Große Koa- (Beifall bei der CDU/CSU) lition bedeuten. Sie haben faktisch so getan, als hätten wir mit der Ministerpräsidentenkonferenz Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und – hören Sie mir zu! – ein drittes Institut geschaffen. Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger zu Hause an den Bildschirmen, die Sie mit Sicherheit mit großem (Karin Maag [CDU/CSU]: Nein!) Interesse die Debatte heute hier im Hause verfolgen! Meine Damen und Herren, wie bequem war das denn, Seit nahezu acht Monaten beschäftigt und verfolgt uns immer mal wieder zu sagen: „Beschlüsse, die wir hier die Coronapandemie, ein Virus, ein unsichtbarer Feind, oder im Bundesrat gefasst haben, sichern wir noch durch der Leben und Existenzen, der Gesundheit bedroht und einen Beschluss der MPK ab“? Wie oft haben wir das mit dem wir uns tagtäglich auseinandersetzen müssen. jetzt in Krisenzeiten gehört? Ich habe kein Problem da- Ich denke, jeder, der hier als Abgeordneter oder aber Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23387

Dr. Georg Kippels (A) auch in den Länderparlamenten politische Arbeit leistet, zierten Menschen führen. Alle diese Hoffnungen sind (C) ist sich der Verantwortung bewusst, mit der wir uns mit bedauerlicherweise enttäuscht worden. Das ist aber keine diesem Thema auseinandersetzen müssen. Folge davon, dass es Versäumnisse gegeben hat, sondern dass eben diese immense Herausforderung des Corona- Der Antrag der FDP zeigt nun, dass es zumindest eine virus die bisherigen Befassungen nicht zum Erfolg führen Partei gibt, die mit dem Verlauf bis jetzt unzufrieden ist, ließ. und auch wenn wir schon heute Morgen mehrfach von unserem Fraktionsvorsitzenden und eben auch sehr aus- Liebe Kolleginnen der FDP, wenn Sie hier etwas zu führlich vom Kollegen Henke gehört haben, dass wir kritisieren haben, dann könnte es allenfalls die Tatsache diese Position nicht teilen, will auch ich es mir nicht sein, dass es noch keinen besonders intelligenten Wissen- nehmen lassen, mich inhaltlich damit auseinanderzuset- schaftler gegeben hat, der die wissenschaftliche Frage- zen. stellung der Bekämpfung des Coronavirus lösen konnte. Die politische Entscheidungsführung dazu war konse- Blicken wir zuerst auf die quantitative Komponente quent, sie war angepasst, sie war unter Berücksichtigung der Befassung des Deutschen Bundestages, so kommen dessen, wer an dieser Stelle zu handeln hat, immer aus- wir doch eigentlich schon zu einer beachtlichen Liste von gewogen, und sie ist auch nachvollziehbar begründet. Befassungen: 70 Debatten, mehrere grundlegende Geset- „Nachvollziehbar begründet“ hat allerdings die Schwä- ze, die verändert worden sind. Sie selbst zitieren in Ihrem che, dass nicht alle dieses Ergebnis teilen, liebe Kollegin- Antrag die grundlegende Entscheidung am 25. März die- nen und Kollegen. Das ist aber kein Defizit der Demo- ses Jahres und auch Entscheidungen in der Folgezeit. kratie, sondern das ist vielleicht ein Defizit der Ich kann mich an schon nahezu unzählige Runden im persönlichen Selbsteinschätzung im Umgang mit dem Gesundheitsausschuss mit dem Gesundheitsminister Thema. bzw. auch mit dem RKI-Präsidenten Professor Wieler Zum Schluss noch zwei kurze Bemerkungen. Einheit- erinnern, in denen wir inhaltlich äußerst intensiv disku- lichkeit und Umfang der Beratungen sind ein wichtiges tiert haben. Quantitativ sehe ich also kaum ein Defizit. und hohes Gut. Aber ich kenne im Moment keinen re- Aber das scheint ja offensichtlich aus Ihrer Sicht nicht das nommierten Wissenschaftler in der Bundesrepublik, der entscheidende Kriterium zu sein. Also: Widmen wir uns zu diesem Thema und den Vorgehensweisen keinen der Qualität der Prozesse! Und auch da empfinde ich im Kommentar abgesetzt hätte. Man wird nicht über quanti- Ergebnis kein Defizit, weil wir unter den besonderen tative Fragestellungen dazu kommen, wer denn jetzt recht Bedingungen, die uns die Coronapandemie beschert hat, hat und wer den richtigen Weg beschreitet, sondern es ist dem verfassungsrechtlichen Grundsatz durchaus Rech- immer ein sehr schwieriger Gewichtungsprozess. Inso- nung getragen haben. fern wird uns – entsprechend dem letzten Satz Ihres (B) (D) Ich stehe hier als Jurist und Gesundheitspolitiker und Antrags – ein Expertenrat die Entscheidung, egal auf insofern einerseits motiviert aus meiner Verpflichtung welcher Ebene, nicht abnehmen. zum Grundgesetz und zu den demokratischen Rechten, Wir sind jetzt in der Notwendigkeit befangen, neue aber auch aus meiner Verpflichtung für das Wohlergehen Wege zu beschreiten, auch in Fragen des Beratungsfor- und die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Diese mates. Das ist an dieser Stelle schon mehrfach benannt beiden Komponenten stehen im Moment in einer drama- worden, und das werden wir in den nächsten Wochen tischen Konkurrenz. Wir sind gehalten, diesem von mir intensiv tun müssen. Ich befürchte leider nur, – eben schon genannten unsichtbaren Feind die Stirn zu bieten, den Gesundheitsschutz zu gewährleisten, und Vizepräsidentin Petra Pau: dies unter gleichzeitiger Beachtung der demokratischen Rechte. Kollege Kippels.

Natürlich hat das Grundgesetz das Parlament zum Sou- Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): verän der Gesetze gemacht, aber – so zeigt uns der Blick – dass die Anzahl der Beratungen das Finden des rich- in Artikel 80 – man hat schon bei den Vätern und Müttern tigen Weges nicht ersetzt. des Grundgesetzes erkannt, dass es besondere Situatio- nen geben kann, in denen sich das Zuständigkeitsverhält- Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. nis verschieben muss, um schnell, effektiv, zielgenau und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uwe auch mit der gebotenen Flexibilität in der Reaktion zu Schulz [AfD]) entscheiden. Das haben wir bis jetzt konsequent angewendet, und Vizepräsidentin Petra Pau: ich will sicherlich nicht verhehlen, dass ich glaube, es Der Abgeordnete Jörg Schneider hat nun für die AfD- richtig einzuschätzen, wenn ich davon ausgehe, dass Fraktion das Wort. wir alle am Ende des ersten Halbjahres der Sitzungspe- riode so eine leise Hoffnung hatten, dass wir mit der Per- (Beifall bei der AfD) spektive in die sitzungsfreie Zeit hineingehen, dass die Kontrolle umfassend wird, dass die Maßnahmen bei Jörg Schneider (AfD): Corona greifen, dass die medizinischen Systeme Fort- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schritte machen, dass vielleicht irgendwann ein Impfstoff Herren! Liebe Zuschauer! Die FDP fordert eine klare zur Verfügung steht und vielleicht auch die therapeuti- gesetzliche Grundlage des Infektionsschutzes. Der Parla- schen Maßnahmen zur einer schnellen Heilung der infi- mentarismus, die Demokratie soll gestärkt werden. Das 23388 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Jörg Schneider (A) ist der richtige Weg. Meine Damen und Herren, die Dis- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) kussion über Coronamaßnahmen gehört in dieses Parla- Das Wort hat Dr. Johannes Fechner für die SPD-Frak- ment, gehört in den Deutschen Bundestag. tion.

(Beifall bei der AfD – Tino Sorge [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Das haben wir schon über 70-mal gemacht!)

Denn da läuft im Moment einiges verkehrt. Dr. Johannes Fechner (SPD): Das Risiko für einen gesunden Menschen unterhalb Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Renteneintrittsalters, schwer an Corona zu erkranken, Die Lage ist ernst. Die Infektionszahlen steigen drama- ist relativ gering. Die Wahrscheinlichkeit eines schwer- tisch. Es gibt immer mehr Menschen, die sich infizieren, wiegenden Verlaufs bei diesem Personenkreis ist im Pro- und vor allem immer mehr Menschen, die Intensivpflege millebereich, meine Damen und Herren. Trotzdem ist in unseren Krankenhäusern benötigen. Deswegen müssen genau diese Gruppe durch die Maßnahmen, die Sie tref- wir uns alle klar sein: Es ist jetzt höchste Zeit, dass wir fen, besonders hart getroffen: Stundenlanges Tragen der handeln. Masken auf dem Arbeitsweg, am Arbeitsplatz, die Ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die bannung ins Homeoffice in der ohnehin schon zu kleinen Debatte auch zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, Wohnung, und abends wollen Sie diesen Menschen jetzt dass die Belastungen für viele Bürgerinnen und Bürger in auch noch den Sportverein dichtmachen. unserem Land jetzt größer werden: für die Pflegerinnen Nun könnte man sagen: Der Zweck heiligt die Mittel. und Pfleger, für alle, die für uns ihren Dienst tun im Aber dieser Zweck wird nicht erreicht. Die Intensivstatio- Gesundheitswesen, in den Arztpraxen oder auch in den nen laufen voll, und sie füllen sich mit älteren Menschen, Landratsämtern. Deswegen an dieser Stelle ein ganz mit Menschen, die Vorerkrankungen haben. Und was sagt herzliches Dankeschön für den Dienst, den diese Bürger- unsere Regierung dazu? Frau Merkel sagt ganz klar: Eine innen und Bürger für uns alle leisten. Isolation der gefährdeten Gruppen findet nicht statt. – (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Meine Damen und Herren, Sie müssen anerkennen: Ihre der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Strategie läuft in die falsche Richtung. Wir müssen end- GRÜNEN) lich über Alternativen diskutieren, und das müssen wir hier tun, im Deutschen Bundestag. Ganz wichtig ist, glaube ich, dass wir das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung für die Corona- (Beifall bei der AfD) schutzmaßnahmen erhalten, und dazu gehört es, dass (B) (D) Warum sprechen wir nicht über gesonderte Einkaufs- wir rechtssichere Maßnahmen beschließen, die für die zeiten für gefährdete Personen, mit besonderen Hygiener- Bürger transparent und nachvollziehbar sind. Denn die egeln? Stattdessen schließen Sie Fitnessstudios. Ich gehe ganz große Mehrheit der Bevölkerung ist – das zeigen öfters ins Fitnessstudio; die Gruppe „Ü 75“ trifft man dort die Umfragen – bereit, diese Maßnahmen zu ertragen eher seltener, und wenn man sie dort trifft, dann sind es und mitzumachen. besonders fitte und gesunde Exemplare. Das interessiert Aber wir merken jetzt immer mehr, dass aus der Sie aber nicht; Sie schließen die Fitnessstudios – ohne Rechtswissenschaft, aber auch durch immer mehr Diskussion im Parlament. Gerichtsentscheidungen doch deutliche Hinweise kom- Wie wäre es mit Taxigutscheinen für ältere, für gefähr- men: Wenn wir jetzt diese Maßnahmen auf Dauer oder dete Personen, damit sich die 80-jährige Dame auf dem für einen längeren Zeitraum haben, nicht nur kurzfristig, Weg zum Facharzttermin nicht auch noch in die U-Bahn dann müssen wir uns überlegen, ob tatsächlich die quetschen muss? Sie machen stattdessen die Kinos dicht. Rechtsgrundlagen ausreichen oder ob wir nicht das Infek- Ich frage Sie: Wer von Ihnen weiß eigentlich, wie viele tionsschutzgesetz weiterentwickeln müssen. Der FDP- Menschen sich in einem Kino infiziert haben? Mir sind da Antrag geht da in eine richtige Richtung. Er nimmt eini- keine bekannt. Sie schließen die Kinos. ges auf, was die SPD schon seit mehreren Wochen for- dert. Das spricht für Ihren Antrag. Meine Damen und Herren, wir müssen endlich über diese anderen Maßnahmen diskutieren, und das müssen Ich glaube, es sind vor allem drei Dinge, die hier ganz wir hier tun, im Deutschen Bundestag. Denn nur dann ist entscheidend sind. Wir müssen für die Rechtssicherheit sichergestellt: Diese Maßnahmen werden begründet, die- das Infektionsschutzgesetz weiterentwickeln. Wir brau- se Maßnahmen haben eine parlamentarische Mehrheit, chen eine präzise Rechtsgrundlage, präzise Generalklau- und das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass wir seln in § 28 und Standardmaßnahmen; die üblichen Maß- die Menschen in diesem Land mitnehmen können. Meine nahmen müssen dort geregelt sein, mit klaren Kriterien, Damen und Herren, sorgen wir endlich dafür, dass wir wann sie von den Ländern in den Rechtsverordnungen über diese Maßnahmen diskutieren. Diese Diskussionen anwendbar sind. Das hat dann auch den positiven Effekt, gehören hierhin, sie gehören in den Deutschen Bundes- dass es mehr Bundeseinheitlichkeit geben wird. Es wird tag. ja oft der angebliche Flickenteppich kritisiert; nicht immer zu Recht. Aber wir sorgen für Bundeseinheitlich- Ich danke Ihnen. keit, wenn wir diese Maßnahmen regeln.

(Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23389

Dr. Johannes Fechner (A) Ich finde, es war am Anfang richtig – dazu stehe ich Vizepräsidentin Petra Pau: (C) auch –, dass wir im März, April der Exekutive so weit- Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die reichende Maßnahmen zugebilligt haben; da war die FDP-Fraktion. Lage einfach zu unklar. Aber jetzt hat sich gezeigt, dass (Beifall bei der FDP) der Bundestag handlungsfähig ist. Wir können auch kurz- fristig zusammenkommen. Wir können immer die Ent- scheidungen treffen. Deswegen bin ich und ist auch Konstantin Kuhle (FDP): meine Fraktion der Meinung, dass es dieser sehr weitrei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber chenden Befugnisse der Exekutive nicht mehr bedarf und Kollege Dr. Fechner, ich bin Ihnen außerordentlich dank- wir jetzt wirklich darangehen sollten, etwa eine Pflicht bar, dass Sie hier am Rednerpult gerade sehr ausführlich zur Begründung oder Befristungen für die Rechtsverord- beschrieben haben, dass der Deutsche Bundestag sehr nungen einzuführen. wohl in der Lage ist, die rechtlichen Grundlagen des Infektionsschutzgesetzes zu verändern, und dass wir (Beifall bei der FDP – Konstantin Kuhle hier gemeinsam die Aufgabe haben, für mehr parlamen- [FDP], an die SPD gewandt: Klatscht doch tarische Beteiligung bei der Bekämpfung der Coronapan- mal! Mensch!) demie zu sorgen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass es dann auch Applaus aus Ihrer eigenen Fraktion gegeben Ich habe mich sehr gefreut, dass der Bundesgesund- hätte, heitsminister, dem ich von dieser Stelle aus alles Gute wünsche, auf der Zielgeraden nach intensiver Betreuung (Beifall bei der FDP) durch die SPD vieles im Entwurf für das Dritte Bevölke- die, glaube ich, eher so ein bisschen auf dem Kurs von rungsschutzgesetz gestrichen hat, Herrn Lauterbach ist als auf Ihrem Kurs. Das ist doch eine Sache, über die wir uns hier einmal unterhalten müssen. (Beifall der Abg. [SPD]) Es gibt offensichtlich in der Großen Koalition – das ist dass die Entfristungen draußen sind, dass der Anwen- insbesondere die Union und die Lauterbach-Fraktion dungsbereich deutlich reduziert wurde. Ich war über- innerhalb der SPD – eine Weigerung, das Parlament rascht und auch verärgert, dass von ihm das bisschen an ordentlich in die Debatten über die Bekämpfung der Bundestagsbeteiligung, was er vorgesehen hat, auf der Coronapandemie einzubeziehen. Zielgeraden dann noch rausgestrichen wurde. Das wird (Beifall bei der FDP) in den parlamentarischen Beratungen für uns auf jeden Fall noch Thema werden, liebe Kolleginnen und Kolle- Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Es ist keine Zumu- gen. tung, das Parlament einzubinden. Es ist die Pflicht der (B) Bundesregierung, den Deutschen Bundestag einzubin- (D) (Beifall bei der SPD und der FDP) den, weil die Debatten hier im Parlament geführt werden müssen. Dann noch ein weiterer Satz. Der Bundestag und auch die Länderparlamente – ganz wichtig: auch die Länder- (Beifall bei der FDP und der LINKEN) parlamente – müssen über alle wesentlichen Entschei- Es ist doch klar, dass das Ganze nicht in einem Gremium dungen beraten und diese dann auch treffen. Deswegen vonstattengehen kann, das im Grundgesetz überhaupt empfehle ich den Ländern dringend, bei der Umsetzung nicht vorgesehen ist; ich meine die Ministerpräsidenten- der Maßnahmen, die von der MPK beschlossen wurden, konferenz. Es ist auch klar, dass das Ganze nicht durch nicht auf den Weg der Rechtsverordnung, sondern auf Talkshowauftritte von Herrn Lauterbach stattfinden kann. Landesgesetze, die ordentlich in den Landtagen mit Anhörungen usw. beraten werden, zu setzen; das ist der (Beifall bei der FDP) dringende Appell von hier. Auch wir sollten entsprechend Wo ist eigentlich Herr Lauterbach? Warum nimmt er an selbstbewusst sein. der heutigen Debatte nicht teil? Wahrscheinlich ist er schon wieder auf dem Weg zur nächsten Kamera, aber Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass die das ist kein Ersatz für die Diskussion über Geeignetheit Zeit drängt. Wir haben mit dem Dritten Bevölkerungs- und Angemessenheit von Coronamaßnahmen. Die gehö- schutzgesetz eine gute Möglichkeit, schon in der nächs- ren hier in dieses Haus und nicht bloß in die Talkshowsäle ten Woche den grundlegenden Änderungsbedarf beim dieser Nation. Infektionsschutzgesetz zu beraten. Ich finde, wir sollten den Ehrgeiz haben, diese grundlegenden Änderungen (Beifall bei der FDP – auch noch im November 2020 – dieses ehrgeizige Ziel [CDU/CSU]: Sprechen Sie über Herrn sollten wir uns setzen – zu verabschieden. Lindner? Wo ist Herr Lindner? – Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: Die Fachpo- Abschließend. Gerade weil es mir und weil es der litiker sind doch alle da!) SPD-Fraktion so wichtig ist, zu betonen, dass wir diese Meine Damen und Herren, weil ich hier großen Wider- zugegeben harten und in Grundrechte eingreifenden spruch aus der Union ernte: Es ist kein Wunder, dass es Maßnahmen brauchen, wollen wir Rechtssicherheit, viele offene Fragen in der Bevölkerung gibt, wenn man Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Bürger. sich die offenkundigen Wertungswidersprüche Ihrer Vielen Dank. Coronamaßnahmen anschaut. Wir Freie Demokraten sind sehr dafür, dass die Bildungseinrichtungen offen (Beifall bei der SPD) bleiben. Wie aber kann es sein, dass die Schulen, die 23390 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Konstantin Kuhle (A) Kirchen und die Frisöre offen bleiben, aber gleichzeitig deckende Ausstattung unserer Bürger mit FFP2-Masken, (C) die Gastronomie, die Kultureinrichtungen und die Sport- besonders für Risikogruppen und wirtschaftlich Schwa- einrichtungen dichtmachen müssen? Diese Wertungswi- che. Bis heute wird das Tragen von unbestrittenermaßen dersprüche müssen hier im Bundestag debattiert werden. wirksamen FFP2-Masken weder aktiv beworben noch Das können Sie nicht einfach für gegeben erklären und unterstützt. Ich nenne das verantwortungslos. den Menschen so vorsetzen. Es ist planloser Aktionismus, den die Bundesregierung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und die Länderchefs betreiben. Wirksame Maßnahmen der LINKEN) werden nur unzureichend ergriffen, Maßnahmen, die Wir haben den Angriff gegenüber der FDP gehört, wir tief in unsere Grundrechte eingreifen, dagegen im würden das in den Ländern ganz anders machen. Ich will Akkord verabschiedet, ohne den geringsten wissenschaft- Ihnen mal was sagen: Wir haben in Nordrhein-Westfalen lichen Beleg für die Wirksamkeit unserer Grundrechts- gemeinsam mit der Union in der Strategie zur landeswei- einschränkungen vorzulegen. Eben haben wir von der ten Pandemiebekämpfung festgeschrieben, dass die epi- Bundeskanzlerin gehört: Die Maßnahmen seien geeignet, demische Lage von landesweiter Tragweite nach zwei erforderlich und verhältnismäßig. Meine Damen und Monaten automatisch ausläuft. Herren, das Gegenteil ist der Fall: Der neue Lockdown mit den darin aufgeführten Maßnahmen ist nicht geeig- (Zuruf von der FDP: Aha!) net, nicht erforderlich und schon gar nicht verhältnismä- Das haben CDU und FDP in NRW gemeinsam verab- ßig. Und wenn Sie jetzt wieder sagen: „75 Prozent der redet. Also tun Sie doch nicht so, als würden Sie dort Getesteten können nicht nachverfolgt werden“, dann etwas ganz anderes machen. Lassen Sie uns das, was muss ich Ihnen sagen: Sie von der Regierung haben Ihren wir dort vereinbart haben, gemeinsam auch auf Bundes- Job nicht gemacht. Sie haben sechs Monate Zeit gehabt, ebene machen. entsprechende Maßnahmen vorzubereiten, damit man das kann. (Beifall bei der FDP) Zu Beginn der Pandemie war der Lockdown zum Der Deutsche Bundestag sollte alle zwei Monate über- Schutz unserer Bevölkerung richtig. Wir wussten damals prüfen, ob die entsprechenden Rechtsgrundlagen noch viel zu wenig über das Virus. Heute, acht Monate später, auf die Bundesregierung übertragen werden müssen wissen wir deutlich mehr. Trotzdem bürdet die Bundes- oder nicht; Ähnliches gilt auch für die Vorschläge, die regierung unseren Bürgern wieder dieselben nicht ziel- Herr Fechner hier gemacht hat. Herr Mützenich hat das führenden und wenig nachvollziehbaren Maßnahmen heute Morgen hier, wie ich finde, in sehr ruhiger und auf, von denen wir mittlerweile wissen, dass sie zur angemessener Weise dargestellt. Das Infektionsschutzge- Bekämpfung der Pandemie nicht wirksam beigetragen (B) setz sollte schon nächste Woche hier im Bundestag kon- haben. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden (D) kretisiert werden. Standardmaßnahmen, bessere Voraus- ist überhaupt noch nicht absehbar. setzungen – das ist der richtige Weg. Den sollten wir gehen. Was mich aber besonders entsetzt: Um diese Grund- rechtseinschränkungen durchzusetzen, agiert die Bundes- Wir Freie Demokraten werden nicht müde werden, auf regierung ohne parlamentarische Kontrolle im Rahmen die Angemessenheit, auf die Geeignetheit und auf die gesetzlicher Ermächtigungen. Dieser Zustand ist unhalt- parlamentarische Beteiligung bei den Maßnahmen hinzu- bar. Es darf nicht sein, dass durch ihre Feststellung einer weisen. epidemischen Lage von nationaler Tragweite der Regie- Vielen Dank. rung ein Blankoscheck gewährt wird. Als liberal-konser- vative Reformer halten wir es für unerlässlich, dass jede, (Beifall bei der FDP) wirklich jede Grundrechtsbeschränkung im Vorfeld, aber zumindest im Nachgang, vom Parlament bestätigt wird, Vizepräsidentin Petra Pau: hier, von Ihnen, vom Bundestag. Damit wird einerseits Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kamann. die Handlungsfähigkeit der Regierung zur unmittelbaren Gefahrenabwehr gesichert, andererseits die fehlende par- (Beifall der Abg. Dr. Frauke Petry [fraktions- lamentarische Kontrolle über Art, Umfang und zeitliche los]) Begrenzung der Eingriffe hergestellt. Ohne diese Ände- rungen ist dieser Deutsche Bundestag letztlich nur ein Uwe Kamann (fraktionslos): zahnloser Tiger. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren das für unsere Demokratie wirklich für richtig halten. Abgeordnete! Gestern haben sich die Bundeskanzlerin Herzlichen Dank. und die Ministerpräsidenten erneut auf massive Grund- rechtseinschränkungen geeinigt. In Kauf genommen wer- (Beifall der Abg. Dr. Frauke Petry [fraktions- den dabei enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche los] – Zurufe von der FDP: Maske!) Kollateralschäden. Allein dass Restaurants ab nächster Woche wieder dichtmachen müssen, obwohl ihnen schon Vizepräsidentin Petra Pau: jetzt das Wasser bis zum Hals steht, ist besonders bitter, Setzen Sie bitte den Mund-Nase-Schutz wieder auf. – wenn man weiß, dass sogar das RKI festgestellt hat, dass Das Wort hat der Abgeordnete Tino Sorge für die CDU/ Restaurantbesuche mit einem sehr geringen Risiko ver- CSU-Fraktion. bunden sind. Nicht beschlossen wurde gestern dagegen das Einfachste und Wirksamste, nämlich eine flächen- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23391

(A) Tino Sorge (CDU/CSU): scheinlich wieder in einer Talkshow. Ich zitiere mal den (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegen Lindner. Er sagte, es habe Schwächen bei den Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass das Thema, Durchgriffsmöglichkeiten des Bundes gegeben; er for- über das wir heute debattieren, über das akute Krisen- derte bereits im Frühjahr einen Krisenstab im BMWi. management hinausgeht. Wir sind uns einig, dass das Und auch Konstantin Kuhle hat hier gesagt, Krisenzeiten Thema erhebliche Symbolkraft hat. Wir sind uns auch seien auch immer Zeiten der Exekutive und er halte es für einig, dass das Thema fundamentale Fragen betrifft, bei völlig legitim, dass die Bürger in dieser Situation schnelle denen das Parlament eine zentrale Rolle spielt. Es geht und klare Antworten des Staates und der Exekutive um Grundrechte, es geht um die Freiheit des Einzelnen, erwarten. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von es geht um Gesundheit und Wohlstand, um Wirtschaft – der FDP: Tun Sie hier nicht so, als würden wir als Parla- mithin um unser gesamtes gesellschaftliches Miteinan- ment keine Rolle spielen, als würde die Exekutive alles der. Wir sind uns auch einig, dass das Themen sind, die für uns erledigen. Das ist mitnichten so. uns und unser Land noch über Monate und Jahre beschäf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tigen werden. Es ist auch richtig, dass wir Parlamentarier dabei nicht an der Seitenlinie stehen sollten. Insofern ist Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, ein hand- es gut, dass wir diese Debatte erneut führen. Deshalb lungsfähiges Parlament. Und dazu gehört in solchen Kri- ganz herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen senzeiten, dass man der Exekutive ein bisschen Spiel- von der FDP-Fraktion. raum verschafft. (Beifall bei der FDP – Christine Aschenberg- Ich schaue auf die Uhr. Dugnus [FDP]: Immer gerne!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist richtig – das hat der Kollege Kuhle dargestellt –, Weil mein Kollege Henke seine sehr guten Ausführungen dass wir uns hier im Parlament immer fragen: Sind die ein bisschen verlängert hat, habe ich ein bisschen weniger Maßnahmen, ist das, was wir hier tun, richtig? Ist es Zeit. In den letzten Sekunden meiner Redezeit will ich angemessen? Ist es verhältnismäßig? Ist es vor allen Din- nur noch einmal darauf hinweisen: Parlamentarismus lebt gen zielführend? Insofern darf ich – weil Sie sich gerne von Debatten, ja. Wir haben über 70 Debatten hier im als die Serviceopposition bezeichnen – darauf hinweisen, Bundestag dazu geführt. Wir haben über 30 Gesetze ver- dass es nicht zielführend ist, dass wir hier den Eindruck abschiedet. Insofern, glaube ich, werden wir das auch in erwecken, als würden wir Parlamentarier an der Seiten- Zukunft gut hinbekommen. Wir sollten uns nur nicht ver- linie stehen und überhaupt keine Rolle spielen, oder dass zwergen, weder wir als Parlament noch Sie von der FDP, behauptet wird, das Parlament sei de facto ausgeschaltet liebe Kolleginnen und Kollegen. worden. Da sind wir uns nicht einig; denn so ist es nicht, (B) liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir werden diesen Antrag in den Ausschüssen ord- (D) nungsgemäß debattieren, danach wieder hier im Plenum Wenn wir darüber debattieren, sollten wir uns immer darüber sprechen und diskutieren. Insofern werden wir wieder vergewissern: Wir reden heute, genauso wie im da, glaube ich, relativ gut durchkommen. März, von einer extremen Ausnahmesituation. Deshalb ist es auch richtig – das müssen wir immer wieder sagen –, Vizepräsidentin Petra Pau: dass wir hier nicht im normalen Modus arbeiten, dass wir nicht die üblichen Abläufe einhalten können. Es ist eben Genau so sollten wir es jetzt tun. nicht so, dass wir sagen können: Wir haben eine globale Pandemie, wir schreiben ein Pandemiebeendigungsge- Tino Sorge (CDU/CSU): setz, wir verabschieden das, debattieren das vorher noch In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im mal, haben noch ein paar Anhörungen dazu, und dann ist Ausschuss und danke ganz herzlich für die Aufmerksam- das Problem hoffentlich endlich gelöst. Nein, es geht hier keit. viel, viel mehr um den Faktor Zeit, und Zeit ist ein Luxus, (Beifall bei der CDU/CSU) den wir uns momentan nicht leisten können. Meine Kollegen Henke und Kippels haben im Vorfeld Vizepräsidentin Petra Pau: schon darauf hingewiesen: Wir reden hier über ein sehr Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Hilde tückisches Virus. Die Zahlen, die wir jetzt sehen, sind nur Mattheis das Wort. eine Momentaufnahme von vor zehn Tagen. Wer von uns, wer von Ihnen geht denn davon aus, dass sich das Aus- (Beifall bei der SPD) breitungsgeschehen in den letzten Tagen eher minimiert hat? Wir müssen mit hoher Wahrscheinlichkeit damit Hilde Mattheis (SPD): rechnen, dass die Zahlen weiter explodieren. Daher geht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! es darum, dass wir gegensteuern. Wir hier sind, glaube ich, in der Mehrzahl überzeugte Es ist ja vollkommen richtig, dass wir als Parlament Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Das haben wir das konstruktiv begleiten, es ist vollkommen richtig, dass seit März dieses Jahres bewiesen; denn im Zusammen- wir immer wieder die Regierung hinterfragen; aber sol- hang mit dem ersten Schutzgesetz haben wir ganz ein- che Momente sind – das muss man sagen – zusätzliche deutig gesagt: Nein, nicht die Bundesregierung hebt die Momente der Exekutive. Ich finde ja spannend, was von Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Trag- der FDP kommt. Der Kollege Kuhle ist ja hier, der Kolle- weite auf, sondern das macht das Parlament. ge Lindner ist nicht da; ich weiß nicht, wo er ist; wahr- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 23392 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Hilde Mattheis (A) Und nicht zuletzt haben wir gesagt: Nein, wir wollen Reichstag stürmen wollen, sagen: Diese Demokratie ist (C) nicht, dass mit dem dritten Schutzgesetz Dinge verstetigt wehrhaft, diese Demokratie steht auf festem Boden, sie werden, sondern wir wollen über das, was Anfang der lässt sich nicht erschüttern. 2000er-Jahre mit dem Infektionsschutzgesetz auf den Vielen Dank. Weg gebracht worden ist, ausgiebig diskutieren. – Ja, wir sind ein lernendes System – so eine Pandemie gab (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es noch nicht –, und wir als Parlamentarierinnen und der CDU/CSU) Parlamentarier stellen uns diesem Lernen. Wir wollen, dass es besser wird in diesem Land. Wir wollen, dass Vizepräsidentin Petra Pau: die Menschen Vertrauen haben in dieses Parlament, Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Erich dass sie darauf vertrauen, dass wir jederzeit bereit sind, Irlstorfer das Wort. uns selber zu hinterfragen: Machen wir es richtig? – Darum geht es uns hier. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb haben wir auch gestern mit vielen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer Anhörung Erich Irlstorfer (CDU/CSU): über die Teststrategien diskutiert. Noch nie haben wir Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! als Parlamentarier uns so engmaschig in Anhörungen, Ich glaube, diese Debatte beweist, dass nichts so gut ist, in Debatten, in Fachgesprächen mit dieser Thematik aus- dass man es nicht noch verbessern könnte. So verstehe einandergesetzt wie seit März dieses Jahres. Ich finde das ich auch Ihren Antrag. Wir sind ein lernendes System. All richtig so. Das ist unsere Verantwortung. die Maßnahmen, die wir in den letzten Wochen und Monaten beschlossen haben, waren mit Sicherheit über- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wiegend richtig, gut und auch zielführend. der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde den in die- Ich glaube, es war sehr klug, die Ministerpräsidenten- sem Antrag formulierten Anspruch völlig berechtigt: sich konferenzen so eng zu stricken. Es ist gut, dass die Ent- zu hinterfragen. Wir als SPD-Fraktion machen das. Seit scheider in den Ländern, die die Legitimation durch die geraumer Zeit fragen wir immer wieder: Wie können wir Bürgerinnen und Bürger haben – genau wie wir als Par- mehr Transparenz schaffen? Denn eines dürfen wir nicht lament –, immer wieder zusammenkommen und die verlieren – das haben viele von Ihnen hier heute schon Maßnahmenpakete zusammenzurren. Was Sie in Ihrem gesagt –: das Vertrauen der Menschen, dass wir uns nicht Antrag bemängeln – Sie sprechen da von einem Flicken- nur bemühen, sondern dass wir alle Facetten berücksich- teppich –, ist gestern dadurch widerlegt worden, dass wir jetzt einheitliche Richtlinien haben, die ab Montag gel- (B) tigen und überlegen, wie wir es richtig machen können. (D) Das ist der Anspruch, den die Bevölkerung an uns hat, ten. Ich glaube, das ist ein gutes und richtiges Signal. und ich sage: zu Recht. (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nein, das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein falsches!) der CDU/CSU) Ich glaube aber auch, dass es richtig ist – Frau Deshalb glaube ich – auch dazu gibt es hier breite Haßelmann hat es gesagt –, darüber zu diskutieren. Wir Zustimmung –, es ist jetzt eine Situation eingetreten, müssen natürlich hinterfragen, wie und was wir hier ent- die verlangt, dass wir uns mit der nächsten Frage beschäf- scheiden. Ich glaube, das ist legitim. Ich möchte aber die tigen. Dabei geht es nicht nur um die Fragen „Welche ist SPD an eines erinnern – Herr Dr. Fechner, Sie sind hier die beste Teststrategie?“, „Wo können wir vor allen Din- gerade so aufgetreten, als würde das alles gegen Ihren gen die Kontakte reduzieren?“, sondern auch um die Fra- Willen geschehen; dem ist nicht so –: Die SPD hat diesem ge: Wie können wir in diesem Parlament das Thema Vorgehen zugestimmt, Infektionsschutz so breit aufstellen, dass es mit hoher (Zuruf des Abg. Dr. Johannes Fechner [SPD]) Akzeptanz und zusammen mit den Ländern in unserem föderalen System händelbar ist? und deshalb machen wir das jetzt auch so. (Beifall bei der SPD) Ich möchte an dieser Stelle auch die FDP ansprechen, weil mich der Antrag Ihrer Fraktion schon etwas über- Das ist jetzt unser Thema, und dazu werden wir nächste rascht hat. Sie sind zu Beginn der Pandemie hier in keiner Woche, auch im Zusammenhang mit dem dritten Schutz- Weise als Oppositionspartei aufgetreten, gesetz, diskutieren. (Lachen des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]) Ein paar Punkte sind ja schon gesagt worden. Eine Leitplanke, die der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Sie haben keinerlei Maßnahmen gefordert. Sie waren mit formuliert hat, finde ich wunderbar – die greife ich gerne den Maßnahmen, die entwickelt und beschlossen wurden, auf –: Es geht nicht um die Freiheit der Starken; es geht einverstanden und haben ihnen auch zugestimmt. Es war um die Freiheit der Schwachen. ja alles in Ordnung. Aber wenn sich Ihr Parteivorsitzen- der dann heute hierherstellt und uns die Welt neu erklärt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann finde ich das schon etwas bedenklich. Das möchte der CDU/CSU und der LINKEN) ich in aller Deutlichkeit auch mal sagen. Wenn wir alle uns das zur Leitplanke machen, ist das (Beifall bei der CDU/CSU) wunderbar. Dann können wir auch draußen in den Debat- ten bestehen. Dann können wir denen, die von außen den Ich habe natürlich mitbekommen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23393

Erich Irlstorfer (A) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Da Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C) haben Sie einiges nicht mitbekommen!) Drucksache 19/23689 an die in der Tagesordnung aufge- dass die FDP hier immer von Freiheit, Eigenverantwor- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- tung und all diesen Dingen spricht. Was mich daran stört, ist, dass Sie diese Forderungen immer dann vorbringen, fahren wir wie vorgeschlagen. wenn sich die Zahlen in der Pandemie erhöhen. Ich glau- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c sowie be, es wäre seriöser, wenn man dann natürlich auch ver- 22 auf: sucht, diese Dinge konstruktiv anzugehen. Ich glaube schon, dass den Menschen in diesem Land klar ist, dass 11 a) – Zweite und dritte Beratung des von der diese Maßnahmen und Einschränkungen, die wir hier Bundesregierung eingebrachten Entwurfs beschlossenen haben, notwendig und zielführend sind. eines Zweiten Gesetzes zur steuerlichen Wir kennen die Situation, wie sie gerade ist. Da können Entlastung von Familien sowie zur wir doch nicht zuschauen und Sitzungswochen abwarten, Anpassung weiterer steuerlicher Regel- ohne dass wir entscheiden. Ich glaube schon, dass der ungen (Zweites Familienentlastungsge- Erfolg darin liegt, dass man schnell reagiert, dass man setz – 2. FamEntlastG) dann sachlich und fachlich richtig reagiert und dass Drucksachen 19/21988, 19/22815, man so schnell wie möglich gegensteuert. Das, glaube 19/23054 Nr. 10 ich, ist der richtige Weg, und so haben wir es bisher geh- andhabt. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksache 19/23795 All denjenigen, die heute so reden und so tun, als ob die Gremien und die Bundesregierung in einer eigenen Blase – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- leben und handeln würden, als ob sie nicht wüssten, was schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung los ist, sage ich: Ich bin mir aus zahlreichen Gesprächen Drucksache 19/23796 sicher, dass all diejenigen, die mitentscheiden und Dinge auf den Weg bringen – und natürlich auch wir als Parla- b) – Zweite und dritte Beratung des von der mentarier –, sehr wohl wissen, was sie tun, und auch Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wissen, was vor Ort Sache ist. Ich glaube, man geht nicht eines Gesetzes zur Erhöhung der Behin- willkürlich her und schließt die Theater und fährt alles im derten-Pauschbeträge und zur Anpas- künstlerischen Bereich zurück. Ich erlebe das auch in sung weiterer steuerlicher Regelungen (B) meinem Wahlkreis. Dort hat zum Beispiel eine Theater- (D) gruppe aus der Holledau teilweise über Jahre für eine Drucksachen 19/21985, 19/22816, Aufführung bei uns in Nandlstadt geprobt. Gestern gab 19/23054 Nr. 11 es die Absage. Es ist bisher nicht geklärt, wer das finan- Beschlussempfehlung und Bericht des ziell übernehmen soll. Trotzdem müssen wir hier han- Finanzausschusses (7. Ausschuss) deln, weil wir die Menschen schützen wollen, weil es uns wichtig ist, dass wir hier eintreten und dass wir Drucksache 19/23793 Leib und Leben schützen. – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Aber schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung nicht mit diesen Maßnahmen!) Drucksache 19/23797 Das ist das, was notwendig ist und was richtig ist. Des- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des halb, glaube ich, ist der Weg richtig. Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- Der Weg ist notwendig, auch wenn er hart ist. Deshalb schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten werden diejenigen, die betroffen sind, unsere Unterstüt- Jens Beeck, Otto Fricke, Dr. Lukas Köhler, zung erfahren. Alles andere, glaube ich, wäre falsch. Es weiterer Abgeordneter und der Fraktion der wäre falsch, wenn wir den Menschen etwas vorgaukeln, FDP eine Sicherheit, die es nicht gibt. Wir sind in der Krise, Steuerliche Entlastung von Menschen mit wir sind in einer Pandemie. Es ist für dieses Land not- Behinderung wendig, zu handeln, richtig zu handeln, die Menschen zu schützen und dabei nicht die Wirtschaft und diejenigen, Drucksachen 19/18947, 19/23793 die dieses Land tragen, zum Beispiel den Mittelstand, zu vernachlässigen. Dazu sind wir bereit, und das machen 22 Beratung des Antrags der Abgeordneten wir. Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, Renata Alt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Herzlichen Dank. Handeln statt Reden – Kleine und mittlere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Einkommen dauerhaft entlasten ordneten der SPD) Drucksache 19/23693 Vizepräsidentin Petra Pau: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ich schließe die Aussprache. Haushaltsausschuss 23394 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Zu dem Familienentlastungsgesetz der Bundesregie- 40 000 Euro: Sie hat im nächsten Jahr insgesamt (C) rung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd- 520 Euro mehr zur Verfügung. Das ist gut und richtig in nis 90/Die Grünen vor. dieser Zeit und auch ein Beitrag zur Kaufkraftstärkung, Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten meine sehr geehrten Damen und Herren. beschlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der CDU/CSU) Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. Eines muss man aber zuletzt noch festhalten: Spitzen- (Beifall bei der SPD) verdiener werden über den Kinderfreibetrag um bis zu 100 Euro monatlich mehr entlastet als Familien mit klei- nem und mittlerem Einkommen. Mit einer Kindergrund- Michael Schrodi (SPD): sicherung könnte man diese Verteilungswirkung umkeh- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ren, damit mehr Geld dort ankommt, wo es auch mehr Damen und Herren! Diese Bundesregierung, hier in die- gebraucht wird: bei unteren und mittleren Einkommen. sem Fall der Bundesfinanzminister Olaf Scholz, die Die SPD will das; das ist Beschlusslage. Die nächste Regierungsfraktionen und das Parlament insgesamt zei- Bundesregierung, wie ich denke, sollte das umsetzen. gen sich mit den beiden vorliegenden Gesetzen deutlich handlungsfähig, auch in dieser Krise. Im Rahmen des bestehenden Familienleistungsausg- leichs liegt uns aber ein sehr gutes Gesetz mit insgesamt Mit dem Gesetz zum Behindertenpauschbetrag ver- 12 Milliarden Euro Entlastung vor. Für dieses und auch doppeln wir nicht nur den Behindertenpauschbetrag. für das Gesetz zum Behindertenpauschbetrag bitte ich um Vielmehr erweitern wir auch den Kreis der Berechtigten, Zustimmung. indem wir erstmals einen neuen Pauschbetrag für die Pflegegrade 2 und 3 einführen. Nur ein Beispiel, was Vielen Dank. das bedeutet: Für Personen mit einem Grad der Behinde- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung von 100 Prozent erhöht sich der Pauschbetrag von der CDU/CSU) 1 420 auf 2 840 Euro. Ich denke, das ist ein wichtiges Zeichen für die rund 10 Millionen Menschen mit Behin- derung und circa 1,7 Millionen Pflegebedürftigen in die- Vizepräsidentin Petra Pau: sem Land. Das Wort hat die Abgeordnete Franziska Gminder für die AfD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Oje!) (B) Mit dem Zweiten Familienentlastungsgesetz unterstüt- (D) zen wir wiederum diejenigen, die in dieser Krise stark Franziska Gminder (AfD): belastet sind: Familien und ihre Kinder. Ich bin selbst Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Vater zweier Kinder, sechs und acht Jahre alt. Ich habe „Oje!“ stecke ich weg. – In Deutschland gibt es circa in vielen Familien gesehen, wie schwierig der Spagat 13 Millionen Menschen mit Behinderung, von denen cir- zwischen Homeschooling und dem Beruf der Eltern ist ca 4 Millionen ein bescheidenes Einkommen haben, zum und auch wie schwierig es für die Kinder in dieser Krise Beispiel in meinem Wahlkreis, in Heilbronn, durch ist. Deswegen ist es so wichtig, Kitas und Schulen in Arbeit in einer beschützenden Werkstatt. dieser Zeit offen zu halten, meine sehr geehrten Damen Die AfD begrüßt die Verdoppelung der Pauschbeträge und Herren. für Behinderte und Pflegende. Dass es hier seit 45 Jahren Mit diesem Gesetz wollen wir Familien auch finanziell keine Erhöhung gegeben hat, ist eine einzige Schande. unterstützen. Insgesamt werden die Steuerzahlerinnen Zum Vergleich: 1975 betrugen die Abgeordnetendiäten und Steuerzahler um knapp 12 Milliarden Euro entlastet. 3 850 D-Mark, etwa 2 000 Euro in heutiger Währung; Alleine bei Kindergeld und Kinderfreibetrag stehen heute liegen sie bei 10 000 Euro. Das ist eine Verfünffa- Familien jährlich 3,4 Milliarden Euro mehr zur Verfü- chung. Da ist die Verdoppelung des Pauschbetrags als gung. Die Anhörung hat gezeigt: In Relation zum Ein- bescheiden zu betrachten. kommen werden mit der Kindergelderhöhung von jähr- Die AfD begrüßt den Wegfall von Einzelnachweisen lich 180 Euro gerade untere und mittlere Einkommen und die damit verbundene Verringerung der Bürokratie, bessergestellt, und das ist gut so. die Einführung einer Fahrtkostenpauschale und den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Pauschbetrag für Pflegegrade 2 und 3. In der Zukunft der CDU/CSU) sollte es aber auch einen Tarif auf Rädern geben, damit es durch jährliche Anpassungen zu keinem neuerlichen Zusätzlich erhöhen wir den Grundfreibetrag für jahrelangen Stillstand kommt. Erwachsene bis zum Jahr 2022 auf insgesamt 9 984 Euro und geben die Auswirkung der sogenannten (Beifall bei der AfD) kalten Progression an die Steuerzahlerinnen und Steuer- Ich wende mich jetzt dem Familienentlastunggesetz zahler zurück. zu. Der Erhöhung des monatlichen Kindergeldes um Bei beiden Maßnahmen zusammen machen wir sogar 15 Euro und der Erhöhung der Kinderfreibeträge sowie ein Stück mehr – über 1 Milliarde Euro mehr –, als wir des Existenzminimums stimmt die AfD natürlich zu. eigentlich tun müssten. Das heißt insgesamt für eine Allerdings sehe ich darin keine große Verbesserung; Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von denn die Familie hat ganz andere Probleme. Ich erinnere Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23395

Franziska Gminder (A) an Artikel 6 unseres Grundgesetzes: „Ehe und Familie Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (C) stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Die Familie ist die Keimzelle des Staates (Beifall bei der AfD) und sorgt durch das Heranwachsen einer neuen Genera- tion für die Versorgung der vorhergehenden – der Gene- Vizepräsidentin Petra Pau: rationenvertrag. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Leider häufen sich die Attacken gegen das traditionelle Johannes Steiniger das Wort. Familienbild; (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Mechthild Rawert [SPD]: Gott sei Dank!) [SPD]) auch in diesem Hause ist es ja nicht mehr sehr akzeptiert. Die Justizministerin Frau Lambrecht will lesbische Paare Johannes Steiniger (CDU/CSU): von Anfang an als Eltern anerkennen. Mit der neuesten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Forderung melden sich die Jungen Liberalen: Änderung Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Vater/Mutter-Begriffs in: Eltern 1 und Eltern 2. Auch Wir haben heute den gesamten Vormittag über hier im diese Idee ist völlig abzulehnen. Deutschen Bundestag über das Thema Corona diskutiert. (Beifall bei der AfD) Wenn man sich dieses Familienentlastungsgesetz anschaut, dann stellt man fest, dass dies auch etwas mit Die Mehrzahl unserer jungen Menschen wünscht sich der aktuellen Krise zu tun hat. Ich möchte gerne drei eine erfüllte und traditionelle Partnerschaft mit Kindern. Gedanken dazu mit Ihnen teilen: Das muss gefördert werden. Und wie machen wir das? Statt vieler finanzieller Einzelaktionen muss die Fami- Der erste Gedanke. Wenn wir uns die gesamte Politik lienförderung ganzheitlich gedacht werden und ohne dieser Großen Koalition der letzten zweieinhalb Jahre bürokratische Hürden erfolgen: anschauen, dann sehen wir, dass Familien ein großer Die AfD setzt sich schon seit Langem dafür ein, dass Schwerpunkt unserer Politik sind. In unserem Koalitions- der Spitzensteuersatz von 42 Prozent nicht schon bei vertrag, den wir im Übrigen geschrieben haben, als die einem Jahreseinkommen von 56 000 Euro greift, sondern Zeiten finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch noch bes- erst viel später. Die FDP fordert jetzt eine Freistellung für ser waren – Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosig- die KMU. Das finde ich auch sehr gut. Da sind sicher keit, die schwarze Null –, stehen viele Projekte aus dem viele Familien mit betroffen. Bereich der Familienpolitik. Jetzt, zweieinhalb Jahre spä- ter, können wir feststellen, dass wir bei der finanzpoliti- Die Einführung eines Familiensplittings anstelle eines (B) schen Entlastung im Bereich der Familienpolitik 100 Pro- (D) Ehegattensplittings haben wir schon lange in unserem zent erreicht haben. Parteiprogramm – wie auch die Einführung eines ermä- ßigten Mehrwertsteuersatzes auf Produkte und Dienst- (Beifall bei der CDU/CSU) leistungen des Kinderbedarfs. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sich aus meiner Auch ein Alleinverdiener sollte eine Mehrkindfamilie Sicht der Charakter von Politik dann zeigt, wenn am mit seinem Einkommen versorgen können. Die überwie- Himmel die Wolken etwas grauer werden, wenn es etwas gende Mehrheit der Mütter möchte ihre Kinder bis zum schwieriger wird, wenn wir in einer Krise sind, wenn Alter von drei Jahren zu Hause selbst betreuen. Die Kos- Unvorhergesehenes auf uns zukommt. Aber eines ist ten eines Krippen- bzw. Kindergartenplatzes liegen für klar: Bei den Familien in Deutschland wird nicht gespart. die Allgemeinheit bei 1 100 Euro pro Monat. Das wäre Wir erhöhen jetzt, wie das gerade eben schon erwähnt gut investiertes Geld bei einer Mutter, die ihr Kind selbst worden ist, das Kindergeld das zweite Mal in dieser zu Hause betreuen will. Legislatur, insgesamt um 25 Euro pro Monat. Meine (Beifall bei der AfD) sehr geehrten Damen und Herren, das sind 300 Euro mehr pro Kind pro Familie im Jahr. Das ist doch eine Wir wollen eine direkte Entlastung bei der Beitragsbe- tolle Leistung! messung für Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung für Familien mit Kindern; denn diese tragen überpropor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tional zur Versicherung von Kinderlosen bei. ordneten der SPD) Wir brauchen eine gesellschaftliche und sozialpoliti- Die Familien können sich in dieser Krise auf uns ver- sche Anerkennung und Absicherung der Familienarbeit lassen. sowohl für die Kinder als auch für die Pflege der eigenen alten Eltern. Der zweite Punkt. Dieses Familienentlastungsgesetz zeigt auch den Geist, in dem wir jetzt, da wir in der Krise Ich komme zum Schluss. sind, in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren (Ulli Nissen [SPD]: Das ist gut!) agieren wollen, um aus dieser finanzpolitischen und wirt- schaftspolitischen Krise wieder herauszukommen. Wir Wohneigentum ist für die Alterssicherung wichtig. Wir haben einen Einschlag beim Wachstum, beim Bruttoin- wollen eine lineare Absenkung der Grunderwerbsteuer landsprodukt. Es gibt weniger Wachstum. Wir kommen für Familien mit Kindern beim Immobilienkauf zur hier nur heraus, wenn wir herauswachsen, wenn wir Selbstnutzung. Investitionen zulassen, wenn wir bessere Anreize für Es bleibt noch viel zu tun! Investitionen geben. 23396 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Johannes Steiniger (A) Das schaffen wir nur, indem wir die Bürgerinnen und Das zweite Gesetz, das wir debattieren, ist das soge- (C) Bürger in Deutschland entlasten. Das tun wir auch in nannte Familienentlastungsgesetz. Ich sage „sogenannt“, diesem Gesetz. Wir verhindern die schleichende Steuer- weil ich schon finde, dass es ein Stück weit ein Etiketten- erhöhung durch die kalte Progression und schaffen es schwindel ist. Was steht darin? Es geht um Anpassungen dadurch, dass größere Spielräume bei den Bürgerinnen im Tarif; das ist schon häufiger erläutert worden. Zum und Bürgern sind, zu solchen Investitionen zu kommen. einen geht es um den Existenzminimumbericht. Das Es wurde gerade eben schon erwähnt – das war in der Existenzminimum muss steuerfrei gestellt werden. Das Öffentlichkeit noch gar nicht groß Thema –: Diese Große ist Verfassungsrecht in Deutschland. Das wird umgesetzt. Koalition macht mehr, als einfach nur die kalte Progres- Das ist also ein Muss. sion auszugleichen; sie legt noch eins drauf und entlastet Es geht zum Zweiten um den Steuerprogressionsbe- die Bürgerinnen und Bürger um weitere 1,2 Milliarden richt, nach dem die kalte Progression ausgeglichen wer- Euro. den soll. (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- (Michael Schrodi [SPD]: Wir machen mehr als Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das!) Jeder Steuerzahler, jede Steuerzahlerin in Deutschland profitiert von dem Ausgleich der kalten Progression und Der Progressionsbericht ist eine Selbstverpflichtung die- der Rechtsverschiebung der Tarifeckwerte. ses Parlaments aus der 17. Wahlperiode. Auch das ist eigentlich ein Muss, dass es umgesetzt wird. Sie tun (Beifall bei der CDU/CSU) noch etwas drauf. Dafür loben wir Sie auch gerne. Etwas Wenn man sich das insgesamt anschaut, so kommt man mehr ist es tatsächlich geworden. In der Vergangenheit auf 11,8 Milliarden Euro in diesem Bereich. Ab dem haben Sie diese kalte Progression allerdings nicht immer 1. Januar nächsten Jahres werden wir auch den Solidari- vollständig ausgeglichen. tätszuschlag für die allermeisten abschaffen. Das ist dann (Johannes Steiniger [CDU/CSU]: In den letz- eine riesengroße Entlastung. So wollen wir aus der Krise ten sieben Jahren schon!) herauskommen: durch Entlastung, durch Wachstum. Das gehört zur Wahrheit dazu. Der dritte Punkt. Darauf möchte ich schon hinweisen. Wir haben in den letzten Tagen viel darüber diskutiert: Das Dritte ist die Erhöhung des Kindergeldes bzw. des Wie ist der Bundestag in die Coronapolitik eigentlich mit Kinderfreibetrages oder des Betreuungsfreibetrages. Das einbezogen? In der Rede, die ich vor sieben Wochen zur alles steht in diesem sogenannten Familienentlastungsge- ersten Lesung hier gehalten habe, habe ich gesagt: Egal setz. (B) was in den nächsten Wochen und Monaten passiert, die Konkrete Regelungen im Steuerrecht für Familien (D) Kitas und Schulen haben höchste Priorität; sie dürfen werden von Ihnen eigentlich gar nicht angepackt. Da nicht mehr zugemacht werden. – Das haben viele andere hätten Sie gestern im Ausschuss die Gelegenheit gehabt, hier im Deutschen Bundestag auch gesagt. Ich finde es einem sehr guten Antrag der FDP zuzustimmen. Das gut, dass die Bundesregierung und dass die Landesregie- haben Sie leider versäumt. Diesen Antrag haben wir be- rungen diesen politischen Willen, den wir hier im Deut- reits seit letztem Jahr im parlamentarischen Verfahren. schen Bundestag formuliert haben, gestern in den Be- Darin geht es beispielsweise darum, dass Arbeitgeber schlüssen auch umgesetzt haben. die Betreuungskosten steuerfrei ersetzen können. Das Herzlichen Dank. Das ist ein gutes Gesetz. Ich bitte ist doch eine konkrete Hilfe für Familien zur Vereinbar- Sie, hier zuzustimmen. keit von Familie und Beruf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der FDP) ordneten der SPD) Wir wollten den Alleinerziehendenentlastungsbetrag und den dazugehörigen Erhöhungsbetrag für die Kinder Vizepräsidentin Petra Pau: anpassen. Wir wollten den Ausbildungsfreibetrag erhö- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Markus hen, der im Übrigen seit 2001 unverändert ist. Ihm droht Herbrand das Wort. dasselbe Schicksal wie den Freibeträgen für Menschen mit Behinderung, wenn wir ihn nicht langsam mal erhö- (Beifall bei der FDP) hen. Wir wollten ihn nutzbar machen für Eltern von nicht volljährigen Kindern. Wir wollten auch die vollständige Markus Herbrand (FDP): Absetzbarkeit von Betreuungskosten erreichen. Das alles Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wären konkrete Hilfen gewesen. Dem haben Sie sich Kollegen! Wir debattieren heute zunächst das Gesetz zur leider nicht anschließen können. Anhebung der Freibeträge für Menschen mit Behinde- Letzten Endes wollten wir die Freibeträge einer regel- rungen. Das ist hier die erste Anhebung seit 45 Jahren. mäßigen Prüfung unterziehen, was die Inflationswirkung Sie wird von der FDP selbstverständlich mitgetragen. angeht. Das ist eine Forderung, die wir schon lange erheben. Wir werden diesem Gesetz leider nicht zustimmen; wir (Beifall bei der FDP) werden uns enthalten. Wir freuen uns auch darüber, dass es in diesem Zuge Herzlichen Dank. tatsächlich auch zu Vereinfachungen im Verfahren kom- men wird. Das ist eine schöne Nebenwirkung. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23397

(A) Vizepräsident : Es ist gut und richtig, dass taubblinde Menschen bei (C) Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. Tja, der Präsi- der behinderungsbedingten Fahrkostenpauschale sowie dentenwechsel hat dazu geführt, dass Sie über die Ihnen beim erhöhten Pauschbetrag jetzt auch berücksichtigt eigentlich zur Verfügung stehende Zeit hinaus geredet werden. Unverständlich bleibt für uns, warum dies nicht haben. auch für gehörlose Menschen gelten soll. Das hätte man besser machen können. Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörg Cezanne. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Alle Menschen mit Behinderungen und mit chroni- schen Erkrankungen sollen gemäß der UN-Behinderten- Jörg Cezanne (DIE LINKE): rechtskonvention die gleichen Wahlmöglichkeiten wie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak- andere Menschen haben. Dafür muss flächendeckend tion Die Linke begrüßt die Anhebung insbesondere des eine soziale und inklusive Infrastruktur geschaffen wer- Kindergeldes. Das vorliegende Familienentlastungsge- den. Wir brauchen Barrierefreiheit in allen Bereichen. setz heißt zwar so, entlastet aber nicht alle Eltern mit Die Betroffenen brauchen einen Rechtsanspruch auf Kindern, und schon gar nicht in gleicher Weise. Das hal- bedarfsgerechte Teilhabeleistungen. Und die zentrale ten wir für falsch. Herausforderung dabei ist es, den Anspruch auf eine bedarfsgerechte persönliche Assistenz festzuschreiben. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt also noch was zu tun. Bei Familien mit höherem Einkommen greift statt des (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kindergeldes eher der steuerliche Kinderfreibetrag. Der Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führt zu einer Entlastung von bis zu 273 Euro pro Kind NEN]) und Jahr. Wer diesen Freibetrag nicht nutzen kann, vor allem, weil das Einkommen nicht hoch genug ist, erhält Vizepräsident Wolfgang Kubicki: durch die Kindergelderhöhung nur 180 Euro. Besonders Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der kritikwürdig ist aber, dass da, wo die Not am größten ist, Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fraktion wo Kinder heute schon in Armut aufwachsen, also bei Bündnis 90/Die Grünen. Familien und Alleinerziehenden, die auf Hartz-IV-Leis- tungen angewiesen sind, keinerlei Entlastung eintritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Und auch das Kindergeld wird mit den Sozialleistungen (B) verrechnet. Die Erhöhung kommt bei den Betroffenen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ (D) nicht an. DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ( [DIE LINKE]: Das ist will meine Rede damit anfangen, noch mal die Grund- schlecht!) logik des Familienleistungsausgleichs – auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer – zu erklären. Eigentlich Das ist bei diesem Gesetz deshalb besonders ärgerlich alle kennen das Kindergeld, das ja alle Eltern in gleicher und skandalös, weil CDU und CSU und die SPD die Höhe bekommen. Was viele aber nicht wissen, ist, dass Kinderfreibeträge stärker anheben, als es verfassungs- Menschen mit höherem Einkommen da noch etwas rechtlich geboten ist. Sozialverbände, Gewerkschaften, draufkriegen, nämlich über den Kinderfreibetrag. Da- Grüne, Die Linke haben konkrete Vorschläge für die Ein- durch gibt es eine Schieflage. führung einer Kindergrundsicherung vorgelegt. Diese würde das ungerechte Nebeneinander von Kindergeld, Die Große Koalition möchte mit dem Gesetzentwurf Kinderfreibetrag und Hartz-IV-Leistungen beenden. Die das Kindergeld anheben. Das finden wir eine sinnvolle Bundesregierung muss nun endlich handeln und dies Geschichte. Aber Sie heben auch den Kinderfreibetrag an auch umsetzen. und legen da noch eine Schippe drauf. Das kritisieren wir; denn das ist eine Entlastung von Menschen, die es eigent- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lich gar nicht nötig haben. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuruf des Abg. Johannes Steiniger [CDU/ sowie des Abg. Jörg Cezanne [DIE LINKE]) CSU]) Außerdem: Die Kindergelderhöhung kommt bei denen – Machen, machen. ganz unten gar nicht an, weil es ja auf Hartz IV ange- Die Anhebung und Ausweitung der steuerlichen rechnet wird. Das ist eine weitere Schieflage. Pauschbeträge für Menschen mit Behinderung war seit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Langem überfällig – mehr als 40 Jahre. Das ist schon eine Leistung. Gut, dass dies endlich kommt. Pauschbe- Wir möchten eine Kindergrundsicherung, bei der die- träge sind eine Steuervereinfachung. Sie machen die jenigen mit mittleren Einkommen das Gleiche bekom- Steuererklärung leichter; aber Betroffene erhalten da- men wie diejenigen mit hohen Einkommen. Das wäre durch nicht mehr Unterstützung, keinen besseren Zugang endlich gerecht. Dann wäre jedes Kind dem Staat gleich zu persönlicher Assistenz oder eine landesweite Barriere- viel wert; da müssen wir hinkommen. freiheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23398 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Das ist ein Teil unserer Kindergrundsicherung. Unten Olav Gutting (CDU/CSU): (C) gibt es dann noch etwas obendrauf – nicht wie jetzt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es oben, sondern unten. ist ein guter Tag für die Einkommensteuerzahler in die- sem Land. Mit zwei Gesetzen entlasten wir die Einkom- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mensteuerzahler und die Lohnsteuerzahler und insbeson- SES 90/DIE GRÜNEN) dere auch die Menschen mit Behinderungen. Das ist ein zentraler Unterschied. Wir nennen das „Grüne Kindergrundsicherung“ und haben das in unserem Ent- Erstens. Wir wollen starke Familien. Deswegen erhö- schließungsantrag noch mal genauer aufgeschrieben. hen wir mit dem Zweiten Familienentlastungsgesetz das Kindergeld, den Kinderfreibetrag und den steuerlichen Er enthält weitere Alternativen zu den Regelungen im Grundfreibetrag. Gleichzeitig schieben wir die Eckwerte Gesetzentwurf, etwa zur kalten Progression. Die Rechts- des Einkommensteuertarifs nach rechts, entlasten damit verschiebung – auch dazu haben Sie gesagt, Sie würden Steuerzahler und schaffen einen Ausgleich zur sogenann- mehr als notwendig machen – führt dazu, dass vor allen ten kalten Progression. Dingen die Reichen entlastet werden. Sie begründen das mit dieser sogenannten kalten Progression, die es in Zei- Diese Beseitigung der kalten Progression, die ist uns in ten von Inflation sowieso kaum gibt. Besser wäre es, den der Union seit vielen, vielen Jahren ein Herzensanliegen. Grundfreibetrag anzuheben. Davon hätten alle etwas. Seit wir 2013 in der letzten christlich-liberalen Koalition hierfür den Grundstein gelegt haben mit dem Progres- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sionsbericht, klappt es in den letzten Jahren hervorra- Außerdem machen wir noch einen Vorschlag für gend. Die regelmäßige Korrektur der kalten Progression Alleinerziehende – auch sie sind ja wichtig beim Thema ist einwandfrei, sie funktioniert, und die kalte Progres- Familien –; sie gehen bei den im Gesetzentwurf vorge- sion ist damit eigentlich Schnee von gestern. sehenen Maßnahmen relativ leer aus. Da muss man (Beifall bei der CDU/CSU) gucken, dass man das besser hinkriegt, etwa durch eine Steuergutschrift für Alleinerziehende. Dass wir dieses gemeinsam Erreichte, Markus, immer Darüber hinaus beraten wir noch einen zweiten Ge- wieder stärker hervorheben, würde ich mir wirklich wün- setzentwurf, und zwar zum Behindertenpauschbetrag, schen. Es ist ja eine tolle Sache, die wir damals geschafft der jetzt nach über 40 Jahren tatsächlich erhöht wird. haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Die Das ist überfällig, und deswegen werden wir auch zu- sollte man wirklich nicht schlechtreden. stimmen. Ich sprach vorhin von einer doppelten Entlastung, die (B) Aber auch hier gibt es eine Schieflage; denn der wir heute haben; deswegen zweitens. Mit dem Entwurf (D) Pauschbetrag wird von der Bemessungsgrundlage abge- eines „Gesetzes zur Erhöhung der Behinderten-Pausch- zogen. Das heißt, auch hier gilt: Wer ein höheres Ein- beträge“ verdoppeln wir die Behindertenpauschbeträge, kommen hat, hat mehr davon; bei denen mit niedrigen erhöhen wir den Pflegepauschbetrag und führen wir ver- Einkommen kommt nichts an. schiedene Steuervereinfachungen ein. Wir machen den Vorschlag eines Teilhabegeldes, das Wir wollten steuerpflichtige Menschen mit einer alle unterstützen würde. Man könnte auch innerhalb des Behinderung finanziell stärken. Gleichzeitig wollten wir Steuersystems mehr machen, indem man den Pauschbe- Menschen von Nachweispflichten und die Verwaltung trag nicht von der Bemessungsbasis abzieht, sondern von von Prüftätigkeiten entlasten. Ich muss sagen, das ist der Steuerschuld. Das haben wir in der Anhörung aus- uns gut gelungen. Ab 2021 soll bereits ab einem Grad führlich diskutiert. Damit würde man tatsächlich auch der Behinderung von 20 unter Verzicht auf zusätzliche untere Einkommen entlasten. Das ist aber eine Grund- Anspruchsvoraussetzungen unbürokratisch ein Pausch- satzdebatte, die wir auch im Zusammenhang mit dem betrag gewährt werden. Ich freue mich, dass es uns gelun- FDP-Antrag, wenn es um Entlastung von unteren Ein- gen ist, wie auch die Opposition schon anerkennt, dass kommen insgesamt geht, noch mal führen können. wir nach langer Zeit und vielen Gesprächen mit Sozial- und Behindertenverbänden den seit 1975 unveränderten Heute können wir mit den Kindern anfangen, indem Behindertenpauschbetrag deutlich anheben, nämlich ver- Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen. Die Kin- doppeln können. Man muss festhalten: Mit diesem Ge- dergrundsicherung wäre gerade jetzt, in diesen unsiche- setz entlasten wir Menschen, die auch zu den Leistungst- ren Zeiten, eine wichtige Maßnahme, um Familien deut- rägern unserer Gesellschaft gehören, die aber eben lich, viel deutlicher als in dem Gesetzentwurf aufgrund ihrer Behinderung Hilfen in Anspruch nehmen vorgesehen, und sozial gerecht zu entlasten. und zusätzliche Belastungen haben. Aber wir entlasten Vielen Dank. auch diejenigen und ihre Angehörigen, die pflegebedingt Zusatzkosten zu tragen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unserem Anspruch, alle Berechtigten von Bürokratie Vizepräsident Wolfgang Kubicki: zu entlasten, sind wir aus meiner Sicht mit diesem Gesetz gerecht geworden. Ich freue mich auch, dass es uns ein- Vielen Dank, Herr Kollege Strengmann-Kuhn. – Näch- vernehmlich mit dem Koalitionspartner gelungen ist, die ster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Bundesregierung dazu aufzufordern, zukünftig immer Olav Gutting. zeitnah eine Prüfung des Gesetzes vorzunehmen, damit (Beifall bei der CDU/CSU) die Pauschbeträge auch langfristig den behinderungsbe- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23399

Olav Gutting (A) dingten Mehraufwendungen gerecht werden. Es darf gleichgestellt. Es geht um die Etablierung eines Fahrt- (C) nicht noch einmal so lange dauern, bis es zu einer ent- kostenpauschbetrages für Menschen mit Behinderungen. sprechenden Erhöhung kommt. Meine Damen und Herren – das ist mir besonders wich- Ich möchte mich auch im Namen des Beauftragten der tig, und das freut mich besonders –, es geht um die Ver- CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Menschen mit Behin- doppelung des Behindertenpauschbetrages für Menschen derungen, des Kollegen , bei all denjeni- mit Behinderungen. gen bedanken, die uns Anregungen, die uns Impulse zu (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- diesem Gesetzentwurf gegeben haben. Insbesondere sind KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier die Behinderten- und Sozialverbände zu erwähnen. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass wir, was die Ver- Auch für die Betroffenen war dieser Prozess nicht doppelung des Behindertenpauschbetrages betrifft, doch immer ganz einfach. Denken wir nur an die öffentliche festgestellt haben, dass dieser seit seiner Einführung Anhörung, die wir hatten, bei der es leider kurzfristig 1975, seit 45 Jahren, weder angepasst noch verändert keine Gebärdensprachdolmetschung für den Deutschen wurde. Ich glaube, wir können doch alle darin einig Gehörlosen-Bund gegeben hat, weswegen ein Input von sein, dass die Verdoppelung des Behindertenpauschbetra- dieser Seite ausfiel. Ich glaube, wir müssen festhalten, ges nun wirklich an der Zeit ist. dass die heutige Bundestagsdebatte auch dank dir, lieber (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Wilfried, als Livestream mit Gebärdensprachdolmet- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schung und Untertiteln übertragen wird. Wir meinen, bei Abgeordneten der CDU/CSU) Barrierefreiheit muss zum Standard werden, nicht nur, wenn es um behindertenpolitische Themen geht. Meine Damen und Herren, von diesem Gesetz werden Millionen von Menschen mit Behinderungen profitieren, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP die arbeiten gehen, die Einkommensteuer zahlen, die aber und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufgrund ihrer Behinderung höhere Belastungen in ihrem Leben haben. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wird dazu führen, dass mehr Steuergerechtigkeit in unse- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. rer Gesellschaft stattfindet. Dieses Gesetz wird auch dazu führen, dass mehr soziale Gerechtigkeit in der Bundesre- Olav Gutting (CDU/CSU): publik Deutschland herrscht. Dafür bin ich Ihnen sehr, Zusammenfassend müssen wir festhalten: Dieses sehr dankbar. Gesetzespaket ist gut für alle, die besonderen Belastun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen ausgesetzt sind. Heute ist ein guter Tag für alle Ein- (B) der CDU/CSU und der LINKEN) (D) kommensteuerzahler. Es lohnt sich deshalb, diesem Dop- pelpakt hier zuzustimmen. Mein großer Dank geht an den Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Olaf Scholz hat den Prüfauftrag im Koali- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tionsvertrag sehr ernst genommen und hat das Gesetzge- ordneten der SPD) bungsverfahren innerhalb der Bundesregierung mit sehr großem Engagement vorangetrieben. Vielen Dank, Olaf Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Scholz! Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Beauf- (Beifall bei der SPD) tragten der Bundesregierung Jürgen Dusel. Meine Damen und Herren, mein großer Dank gilt auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihnen, sehr verehrte Abgeordnete; denn auch Sie haben der CDU/CSU) im Finanzausschuss, in den großen Debatten, auch in der Anhörung noch wichtige Ergänzungen und wichtige Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für Änderungen an diesem Gesetz herbeigeführt. Auch da die Belange von Menschen mit Behinderungen: gilt mein Dank Ihnen allen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Damen und Herren Abgeordneten! Zunächst möchte ich CDU/CSU) mich ganz herzlich dafür bedanken, dass ich heute zum zweiten Mal in meiner Amtszeit als Beauftragter der Mir ist in dem Zusammenhang neben den Verbesse- Bundesregierung für die Belange von Menschen mit rungen im Steuerrecht ein Aspekt besonders wichtig: Behinderungen hier zu Ihnen reden kann. Meine Damen Die Bundesregierung und das Parlament haben gezeigt, und Herren, mir bedeutet das sehr viel, weil mit der Vor- dass Politik für Menschen mit Behinderungen als Quer- lage dieser Gesetzentwürfe, insbesondere desjenigen zur schnittsaufgabe aller Ressorts und in allen Politikfeldern Verdoppelung der Behindertenpauschbeträge, aus meiner wahrgenommen wird. Politik für Menschen mit Behinde- Sicht ein ganz bedeutender behindertenpolitischer Mei- rungen, meine Damen und Herren, ist zuallererst einmal lenstein nun zur Abstimmung gestellt ist. Politik für Menschen. Das bedeutet, dass sie nicht nur Arbeits- und Sozialpolitik ist, sondern es geht auch um (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- Gesundheitspolitik, es geht um Wohnungsbaupolitik, es KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht um Bildungspolitik, es geht natürlich auch um Meine Damen und Herren, das Gesetz beinhaltet zum Arbeitspolitik, um Wirtschaftspolitik und in dem Falle einen die Anpassung der Pflegepauschbeträge; zum ande- um Finanzpolitik. Mir ist wichtig, dass das in diesem ren werden taubblinde Menschen und blinde Menschen Gesetzgebungsverfahren deutlich geworden ist. 23400 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Meine Damen und Herren, Olaf Scholz hat im Juli Wir haben uns im Zusammenhang mit dem Kindergeld (C) dieses Jahres die Gesetzesinitiative damit begründet, darauf verständigt, in zwei Abschnitten zuerst – das war dass dieses Gesetz ein Signal an die Menschen mit Behin- schon vor zwei Jahren – eine Kindergelderhöhung um derungen ist, ein Signal des Respekts und der Anerken- 10 Euro pro Kind vorzunehmen und jetzt – ab 1. Januar nung für deren Lebensleistung. Das ist mir sehr wichtig. nächsten Jahres – eine nochmalige Erhöhung um weitere Aber für mich geht diese Signalwirkung weiter. Die Sig- 15 Euro pro Kind. Das sind in einer Legislaturperiode nalwirkung dieses Gesetzes bedeutet, dass Politik für 25 Euro pro Kind, und das sind pro Jahr 300 Euro pro Menschen mit Behinderungen und Inklusion insgesamt Kind. kein Schönwetterkonzept sind, das man macht, wenn Wir haben uns trotz der Herausforderungen natürlich man sonst keine Sorgen hat. Dass wir gerade in der jetzi- daran gehalten, weil es uns auch wichtig ist, verlässlich gen Zeit – in der Zeit der Pandemie, die unsere Gesell- zu sein. Mir fällt es immer schwer, zu reagieren, wenn schaft, jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns vor Leute viel fordern, etwa 600 Euro Kindergrundsicherung. besondere Herausforderungen stellt – den Steuerfreibe- Wer von denen, die Kinder haben, sagt da nicht gerne Ja? trag verdoppeln, das ist für mich ein ganz wichtiges Sig- Nur, alles muss – auch das gehört zu einer seriösen Poli- nal in die Gesellschaft hinein. Herzlichen Dank! tik – durchgerechnet sein, und es muss verlässlich sein. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Wir müssen sehen, dass wir mit den geplanten Erhö- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE hungen die Familien um 12 Milliarden Euro entlasten. GRÜNEN) Ich denke, die Menschen sind klüger, als man glaubt. Sie wissen genau, was machbar ist und was nicht. Es trifft Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auch nicht zu, dass die Kinder in der Krise nicht im Mittelpunkt standen. Sie waren jeden Tag im Mittel- Vielen Dank, Herr Dusel. punkt. Ich habe an vielen Sitzungen der Ministerin teil- genommen und kann nur sagen, dass jeder, der da betei- Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für ligt war, in der Regel selbst kleine Kinder hat, selbst den die Belange von Menschen mit Behinderungen: Spagat zu meistern hatte und ganz genau wusste, wie all Zum Schluss darf ich vielleicht noch kurz sagen: Ich die anderen Familien auch, wie groß in dieser Heraus- finde es großartig, dass diese Plenarsitzung per Simultan- forderung die Belastungen waren. Deshalb haben wir in übersetzung gebärdet wird. Ich freue mich darüber und der aktuellen Entwicklung auch darauf bestanden, dass wünsche mir, dass alle Plenarsitzungen, auch alle Anhö- Schulen und Kindergärten offen bleiben, solange es rungen in den Ausschüssen grundsätzlich gebärdet wer- irgendwie geht. Auch da sind die Kinder im Mittelpunkt. (B) den. Ich glaube, meine Damen und Herren, das würde Auch dass bei der Kindergelderhöhung nichts bei (D) unserer Demokratie gut zu Gesicht stehen. Sie wissen, Alleinerziehenden ankommt, stimmt so nicht; das wissen mein Motto ist: Demokratie braucht Inklusion. – Und Sie. Selbst bei der Verrechnung mit dem Unterhalt gilt, ich bin der Überzeugung: Inklusion ist Demokratie. dass das Kindergeld nur hälftig verrechnet wird. Auch da möchte ich sagen: Beim Konjunkturpaket im Sommer Herzlichen Dank. haben wir von der CSU – auch wenn es uns keiner (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, zutraut; wir sehen nämlich, was die Frauen leisten, die der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE alleine erziehen und eben nicht nur zu Hause sind, son- GRÜNEN) dern arbeiten – eine Verdoppelung des Pauschbetrages für die Alleinerziehenden durchgesetzt. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der CDU/CSU) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Das hat nicht jedem gefallen. Aber auch das zeigt, dass Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion. wir passgenau die Menschen unterstützen, insbesondere wenn sie an ihre Grenzen kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Respekt, Wertschätzung und Anerkennung zeigt man nicht nur, aber auch durch finanzielle Leistungen. Ich Dr. Silke Launert (CDU/CSU): kann Ihnen versprechen: Die Kinder und Familien be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und kommen von uns all dies. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Familien Vielen Dank. und Kinder im Mittelpunkt“, so lautet der Titel des Kapi- tels zur Familienpolitik in dem vor drei Jahren geschlos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- senen Koalitionsvertrag. Familien in den Mittelpunkt ordneten der SPD) stellen, den Fokus auf sie und ihre Bedürfnisse lenken, genau hinschauen, passgenaue Maßnahmen ergreifen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das ist der Orientierungsmaßstab, den wir uns 2017 gege- Vielen Dank, Frau Kollegin Launert. – Damit schließe ben haben. Er galt damals, 2017, und er gilt auch jetzt in ich die Aussprache. Zeiten der Krise. Tagesordnungspunkt 11 a. Wir kommen zur Abstim- „Familien halten unsere Gesellschaft zusammen. Sie mung über den von der Bundesregierung eingebrachten zu stärken und zu entlasten ist unser Ziel.“ Dies steht Gesetzentwurf zur steuerlichen Entlastung von Familien im Koalitionsvertrag, und dies verfolgen wir konsequent. sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23401

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- gegen die Stimmen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen (C) fehlung auf Drucksache 19/23795, den Gesetzentwurf bei Enthaltungen der Fraktionen AfD und Die Linke mit der Bundesregierung auf den Drucksachen 19/21988 und den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. 19/22815 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Tagesordnungspunkt 22. Interfraktionell wird Über- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer weisung der Vorlage auf Drucksache 19/23693 an die in stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Gesetzentwurf in der Ausschussfassung in zweiter gen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. AfD bei Enthaltungen der Fraktionen FDP, Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich darf jetzt dem Sitzungsdienst ganz herzlich danken. Ich komme zurück zu den Wahlen. Die ersten zwei Stun- Dritte Beratung den sind vorbei. Ich bitte nun die Abgeordneten, deren und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Nachnamen mit den Anfangsbuchstaben L bis Z begin- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nen, zur Wahl zu gehen. Alle übrigen Kolleginnen und Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Ge- Kollegen, die bisher noch nicht gewählt haben, können setzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen von CDU/ selbstverständlich auch jetzt noch ihre Stimmkarten in CSU, SPD und AfD bei Enthaltungen der Fraktionen die Urnen werfen. FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom- men. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d sowie Zusatzpunkt 5 auf: Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf 9 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Drucksache 19/23799. Wer stimmt für diesen Entschlie- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – zur Änderung des Gesetzes gegen Keine. Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Wettbewerbsbeschränkungen für ein Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die fokussiertes, proaktives und digitales Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Wettbewerbsrecht 4.0 und anderer wett- Hauses abgelehnt. bewerbsrechtlicher Bestimmungen Tagesordnungspunkt 11 b. Abstimmung über den von (GWB-Digitalisierungsgesetz) der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Drucksache 19/23492 Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur (B) Überweisungsvorschlag: (D) Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen. Der Fi- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) nanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz schlussempfehlung auf Drucksache 19/23793, den Ge- Ausschuss Digitale Agenda setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten 19/21985 und 19/22816 in der Ausschussfassung anzu- Pascal Meiser, Fabio De Masi, Doris nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Fraktion DIE LINKE zeichen. – Gegenstimmen? – Dann stelle ich fest: Ein- stimmig ist das vom Haus so angenommen worden. Wettbewerbsrecht 4.0 – Digitales Mono- poly beenden Dritte Beratung Drucksache 19/23698 (neu)

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlag: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- Ausschuss Digitale Agenda entwurf in der dritten Beratung vom Haus einstimmig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten angenommen. Katharina Dröge, Dr. Konstantin von Notz, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der AfD, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Internetgiganten zähmen – Fairen Wett- bewerb für digitale Plattformen herstellen – Bei so einem Punkt darf man auch gerne applaudieren. Drucksache 19/23701 Tagesordnungspunkt 11 c. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Drucksache 19/23793 fort. Der Ausschuss empfiehlt Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- Ausschuss Digitale Agenda sache 19/18947 mit dem Titel „Steuerliche Entlastung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten von Menschen mit Behinderung“. Wer stimmt für diese Katharina Dröge, Tabea Rößner, Anja Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Frak- enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23402 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Verbraucherschutz und fairen Wettbe- ins Auge fällt und damit eben auch bessere Chancen (C) werb stärken hat. Das tun sie auch nicht immer nur uneigennützig. Drucksache 19/23705 Sie nutzen ihre Position, um eigene Geschäftstätigkeit in immer wieder neue Märkte und Bereiche auszudehnen, Überweisungsvorschlag: und nutzen dafür dann auch für sich teilweise die Daten, Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz die sie bei Wettbewerbern beobachten. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Hier besteht immer mehr die Gefahr einer Marktkon- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald zentration, die eben dem Wettbewerb entgegensteht. Mit Ullrich, Michael Theurer, Reinhard Houben, wei- der vorliegenden Novelle stellen wir sicher, dass solche terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Machtpositionen angreifbar bleiben und dass sie Wett- Für ein selbstbewusstes und wachstumsorien- bewerber eben nicht ausbremsen. Unter anderem geben tiertes Wettbewerbsrecht auf digitalen Märk- wir Wettbewerbern unter bestimmten Voraussetzungen ten Zugang zu Daten des marktmächtigen Unternehmens, Drucksache 19/23688 damit sie mit ihren Innovationen auch in den Wettbewerb hineinkommen können. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie Auch die EU-Kommission arbeitet an Anpassungen Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten des europäischen Wettbewerbsrechts an die Digital- und beschlossen. – Ich bitte, den Platzwechsel zügig vorzu- Plattformökonomie und hat dazu Initiativen ergriffen. nehmen. Auch sie will sich um neue Regeln für große Gatekee- per-Plattformen kümmern; dabei geht es um ein soge- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nanntes New Competition Tool und um ein Weißbuch nerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Elisabeth zu einem Level Playing Field. Das sind Initiativen, die Winkelmeier-Becker für die Bundesregierung das Wort. wir seitens des Bundeswirtschaftsministeriums sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) begrüßen. Wir entdecken hier sehr viele Parallelen, sehr viele Schnittmengen und gleichgerichtete Gedanken. Das Elisabeth Winkelmeier-Becker, Parl. Staatssekretä- zeigt uns, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind und rin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie: gut voranschreiten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der wirtschaftliche Wettbewerb ist die Kraft, die für Innova- Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass wir die Miss- brauchsaufsicht an die Digitalökonomie anpassen und die tionen in der Wirtschaft und damit letztendlich auch für Verfahren beschleunigen. Diesen Auftrag erfüllen wir mit (B) Wohlstand für alle sorgt. Das Wettbewerbsrecht muss (D) deshalb immer auf der Höhe der Zeit sein. Wir erleben dem GWB-Digitalisierungsgesetz, das wir heute vorle- gerade in dieser Zeit eine sehr dynamische Entwicklung gen und mit dem wir in Zukunft gut beraten sind. auf digitalen Märkten. Auch hier haben wir besondere Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. wettbewerbspolitische Herausforderungen, die darin lie- gen, die Märkte offen zu halten und von Missbrauch, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch Marktmachtmissbrauch, freizuhalten. ordneten der SPD) Das GWB-Digitalisierungsgesetz, zu dem wir heute die parlamentarischen Beratungen starten, greift genau Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das auf. Es passt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrän- Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Nächster Redner kungen den wirtschaftlichen Realitäten an, die wir auf ist für die AfD-Fraktion der Kollege Leif-Erik Holm. diesem Markt haben, mit viel kreativer innovativer Ent- wicklung, aber eben auch mit einigen marktbeherrschen- (Beifall bei der AfD) den Unternehmen. Es bringt außerdem eine Anhebung der Umsatzschwellenwerte in der Fusionskontrolle bei mittelständischen Unternehmen, Erleichterungen und Leif-Erik Holm (AfD): mehr Rechtssicherheit, und es ermöglicht dem Bundes- Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Meine Damen kartellamt, früher einzugreifen. Insbesondere erhält das und Herren! Ja, unsere kleinen digitalen Unternehmen Bundeskartellamt ein neues Eingriffsinstrument, das für brauchten Unterstützung im Wettbewerb. Sie werden Missbrauchsaufsichtsverfahren keine marktbeherrschen- zunehmend erdrückt von der Marktmacht der großen de Stellung mehr voraussetzt, sondern in Zukunft reicht Big-Data-Konzerne. Das kann sich Deutschland nicht bereits eine besondere marktübergreifende Bedeutung für leisten. Unsere jungen Unternehmen brauchen mehr den Wettbewerb. Luft zum Atmen. Es gibt nur wenige große Digitalkonzerne, die eine Viele kleine Händler werden von Amazon und Co sogenannte Gatekeeper-Funktion und eine solche markt- plattgemacht. Das ist mittlerweile leider sehr häufig im übergreifende Bedeutung erlangen. Das sind Plattform- Netz zu beobachten. Da hat ein Händler ein tolles neues betreiber, die über Ressourcen und strategische Positio- Produkt, das sich auf der großen Onlineplattform sehr gut nen verfügen und damit in der Lage sind, die Spielregeln verkauft. Das bekommt der Plattformbetreiber natürlich auf ihren Plattformen festzulegen und erheblichen Ein- mit. Er wendet sich dann selbst an den Produzenten und fluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter auszuüben. Sie kauft ihm die Ware ab, stellt sie zu günstigeren Preisen entscheiden zum Beispiel, welches Angebot als Erstes ins Netz – und damit ist der Händler weg vom Fenster. Er Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23403

Leif-Erik Holm (A) kann nicht mithalten und ist raus. So geht es Tausenden unseren jungen Start-ups zu helfen und damit für mehr (C) kleinen Unternehmen, die ihre guten Chancen nicht mehr Wettbewerb und eben auch günstigere Preise für die Kun- ausspielen können. Und genau das müssen wir ändern. den zu sorgen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Innovations- Meine Damen und Herren, alle diese Wünsche gehen kraft gerade junger digitaler Firmen entfalten kann und aber nur in Erfüllung, wenn es irgendwann mal das wir im internationalen Wettbewerb nicht noch weiter den schnelle Netz für alle gibt und Deutschland damit dann Anschluss verlieren. endlich den Status als digitales Entwicklungsland ver- liert. (Beifall bei der AfD) Danke schön. Die Frage ist: Wird das mit dem Gesetzentwurf erreicht? (Beifall bei der AfD) In der Tat ist es richtig, dass bei Plattformen der reine Maßstab der Marktmacht zur Beurteilung des Macht- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: missbrauchs nicht ausreicht. Deshalb müssen die Ein- Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Falko griffsmöglichkeiten des Kartellamts geschärft werden. Mohrs, SPD-Fraktion. Aber hier liegt der Teufel im Detail: Experten kritisieren zu Recht die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zum Beispiel die Figur der „überragenden marktüber- der CDU/CSU) greifenden Bedeutung“. Mit dieser schwammigen For- mulierung könnten leider auch die falschen Unternehmen (SPD): getroffen werden. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Ja, Wettbewerb ist anstrengend, Wettbewerb bedeu- Auch die Beweislastumkehr scheint mir bedenklich. tet: Man muss Energie und Aufwand betreiben, um sich Es ist zwar nachzuvollziehen, dass das Kartellamt bisher durchzusetzen. – Aber Wettbewerb hat seinen Sinn und ein Nachweisproblem hat; allerdings hat ein betroffenes eine ganz wichtige Funktion. Wettbewerb sorgt nämlich Unternehmen dann auf bloßen Verdacht hin einen Haufen dafür, dass sich die guten, die besten Produkte durchset- Bürokratie an der Backe. Und es hat das Problem, dass es zen. Wettbewerb sorgt für mehr Angebotsvielfalt. Wett- auch noch die vielen Daten von dritten Beteiligten heran- bewerb sorgt für Innovation. Wettbewerb ist eine Grund- ziehen und bereitstellen muss. Hier stoßen wir auch an lage unserer sozialen Marktwirtschaft und hat damit eine rechtliche Grenzen. Es gibt also in dieser Frage noch viel ganz elementare Bedeutung in unserer deutschen Wirt- im Ausschuss zu diskutieren. schaft. (B) Im Übrigen müsste man noch viel grundsätzlicher an Aber wir sehen eben auch, dass heutzutage in der digi- (D) den Gesetzentwurf heran. Die Familienunternehmer talen Welt, in der digitalen Wirtschaft oft anders gespielt haben darauf hingewiesen, dass die Ministererlaubnis wird, dass Regeln uminterpretiert werden, dass das Spiel ein absolut willkürliches Instrument ist. Wir sehen das mal eben auf den anderen Teil des Spielfelds verlagert ebenso kritisch. Es kann nicht sein, dass der Wirtschafts- wird, wo die Regeln vielleicht nicht greifen, dass sich minister mit einem Federstrich die fundierte Entschei- Marktmacht bei einzelnen Plattformen konzentriert – dung der Kartellbehörde aushebeln kann. Wir brauchen wir haben das eben schon von der Staatssekretärin ge- klare und eindeutige Regeln im GWB! hört –, bei Gatekeepern, also Anbietern, die den Zugang für digitale Dienstleistungen wie zum Beispiel Apps kon- (Beifall bei der AfD) trollieren. Wir könnten ja mal schauen, wie viele unter- Man müsste auch mal darüber reden, dass diese Bun- schiedliche App Stores wir auf unseren Handys hier im desregierung selbst ein Faktor der Monopolisierung ist. Rund so zusammenbekommen – vermutlich zwei. Herrn Altmaiers Nationale Industriestrategie 2030 trägt Das bedeutet also, dass die Macht immer stärker auf genau dazu bei und wird deshalb völlig zu Recht massiv wenige Unternehmen, auf wenige Plattformen in der digi- kritisiert. talen Welt konzentriert wird. Das, meine Damen und Herren, ist ein Problem. Wir müssen also die Spielregeln Und was ist mit den großen Konzernen mit Staatsbetei- anpassen; wir müssen die Spielregeln einem Update ligung? Der Post wurde eine saftige Portoerhöhung unterziehen. genehmigt, mit der der Quasimonopolist im Briefmarkt per Quersubventionierung auch noch den Paketmarkt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten monopolisieren will. Zum Glück ist da das Gericht rein- der CDU/CSU) gegrätscht. Das wollen und das werden wir mit dem vorgelegten Der Staatskonzern Bahn versucht, Konkurrenten aus Gesetzentwurf sicherstellen. dem eigenen Netz fernzuhalten. Auch das trägt nicht Natürlich kommt auch auf uns Konsumenten eine Auf- gerade zur Belebung des Wettbewerbs bei. Wir müssen gabe und eine Rolle zu, indem wir uns beim Verwenden endlich wieder über die Trennung von Schiene und der Suchfunktion vielleicht nicht nur die obersten drei Betrieb diskutieren. Das müssen wir bei digitalen Platt- Ergebnisse ansehen, die inzwischen nur noch sehr formen ebenso tun. Die Inder haben die Infrastruktur, also schlecht als Werbung gekennzeichnet sind und im Grund- die Plattformen selbst, von den Eigenmarken, also den e aussehen wie ein normales Suchergebnis. Ja, auch wir Produkten oder Dienstleistungen, die da vertrieben wer- tragen da eine eigene Verantwortung. Es kann aber nicht den, getrennt. Das könnte ein interessanter Weg sein, um sein, dass es Unternehmen erlaubt ist, solche Suchergeb- 23404 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Falko Mohrs (A) nisse weiter oben in der Liste zu ranken und anzuzeigen, gerade schon wesentliche Bestandteile des Gesetzent- (C) die Daten zur Verfügung stellen, mit denen die Suchma- wurfs der Bundesregierung vorgestellt. Es ist mit Sicher- schine vielleicht noch ganz andere Dinge anfangen kann heit notwendig, das wettbewerbsrechtliche Instrumenta- als nur mit den Daten, die für das gewünschte Ergebnis rium, das wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, notwendig sind. Solch einen Missbrauch von Konditio- zur Anwendung zu bringen, nachzuschärfen, zu erwei- nen darf es in Zukunft nicht mehr geben, meine Damen tern, damit eben die Besonderheiten der Digitalökonomie und Herren. hierdurch erfasst werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Netzwerkeffekte, Plattformökonomie und auch die der CDU/CSU) Superstarökonomie tendieren zu Monopolen. Es ist drin- Wir müssen auch zusehen – ich erwähne ein sehr kon- gend erforderlich, dass es hier einen Schiedsrichter gibt, kretes Beispiel, damit man sieht: Wettbewerbsrecht ist nämlich funktionierende Kartellbehörden. Das Bundes- etwas ganz Alltägliches –, dass so etwas wie die 30 Pro- kartellamt hat ja schon bei der jetzigen Rechtslage, etwa zent Apple Tax – wir sehen das bei den Auseinander- mit den Untersuchungen im Fall Amazon, gezeigt, dass setzungen mit Spotify – in Zukunft nicht mehr der Rea- missbräuchliches Verhalten gestoppt werden kann, etwa lität angehört. Es kann nicht sein, dass bei einem die Bestpreisgarantie, die abgefordert worden ist. Unternehmen im Bereich des Musikstreamings, wo unge- Meine Damen und Herren, an der Stelle muss man sich fähr 70 Prozent der Einnahmen für die Rechteinhaber der mal vor Augen führen: Bei einer Börse würde niemand Musik draufgehen, plötzlich die anderen 30 Prozent von akzeptieren, dass derjenige, der den Marktplatz zur Ver- Apple in Anspruch genommen werden und damit ein fügung stellt, also der Börsenanbieter, die Daten der ganzes Geschäftsmodell just in dem Moment kaputtge- Händler, die auf dieser Börse generiert werden, nutzt, macht wird, in dem man ein eigenes Produkt im Bereich um selber eigene Geschäfte zu machen. des Musikstreamings auf den Markt bringen möchte. (Beifall bei der FDP) Das, meine Damen und Herren, können wir nicht akzep- tieren. Hier müssen wir mit der Novelle des GWB noch In der Digitalökonomie aber ist das gang und gäbe. Hier deutlicher, noch klarer Schranken setzen. Diesen Markt- sagen wir als Freie Demokraten: Wir brauchen einen missbrauch darf es in Zukunft so nicht mehr geben. funktionierenden Ordnungsrahmen, der in Zukunft eben auch einen fairen Wettbewerb ermöglicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Wir werden also präventiver, wir werden proaktiver. Die Dominanz der Tech-Giganten aus dem Silicon Mit dem inzwischen ja schon berühmt gewordenen Valley ist auch Gegenstand der Beratungen der Kollegin- (B) § 19a, in dem es eben um die überragende Marktmacht nen und Kollegen im US-Kongress. Da wird sogar von (D) geht, werden wir Unternehmen von vornherein Verhal- Entflechtung gesprochen. Das sehen das deutsche und tensregeln aufzwingen – so muss man ja fast sagen – europäische Wettbewerbsrecht nicht vor. Ich sage nicht, bzw. vorgeben, damit sie ihre Wettbewerbsstellung nicht dass wir das auf alle Zeit ausschließen sollten. Wir mei- ausnutzen können. Wir werden die Selbstbegünstigung nen zwar, dass die 10. GWB-Novelle in die richtige Rich- beschränken und vermeiden. Wir werden den Konditio- tung geht. Gleichzeitig aber sehen wir aber auch, wie von nenmissbrauch entsprechend aus dem Markt heraushal- Kollegen hier angesprochen, die Vielzahl unbestimmter ten, und wir werden die Bedeutung von Daten in der Rechtsbegriffe, die nachgeschärft werden müssen. Hier Frage des Wettbewerbs stärker herausstellen. muss darauf geachtet werden, dass eben nicht Richter- recht die Arbeit des Gesetzgebers ersetzt, meine Damen Meine Damen und Herren, wir führen also einen Para- und Herren. digmenwechsel mit diesem Update des Wettbewerbs- rechts durch, auf den Europa, auf den die Welt sehr inte- (Beifall bei der FDP) ressiert schaut. Er ist wichtig, er ist richtig. Wir werden Und wir sehen die Notwendigkeit, auch wenn wir in aus einer guten Gesetzesvorlage ein noch besseres Gesetz Deutschland vorangehen, das Ganze im europäischen im parlamentarischen Verfahren machen. Ich freue mich Kontext zu diskutieren. In einem Binnenmarkt mit offe- darauf. nen Grenzen darf die Digitalökonomie nicht zerfleddern Herzlichen Dank. oder zersplittern, wie es unser Berichterstatter Gerald Ullrich zu Recht angemahnt hat. Wir sagen: Die Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten regierung muss die Ratspräsidentschaft nutzen, damit der CDU/CSU) möglichst schnell eine einheitliche europäische Rahmen- setzung kommt für ein funktionierendes Wettbewerbs- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: recht in der Digitalökonomie. Vielen Dank, Herr Kollege Mohrs. – Nächster Redner (Beifall bei der FDP) ist der Kollege Michael Theurer, FDP-Fraktion. Ich fasse zusammen. Wir glauben, dass die digitale (Beifall bei der FDP) Erweiterung der Welt einen Ordnungsrahmen braucht. Es ist ja heute die große Frage, ob der wirtschaftliche Michael Theurer (FDP): Erfolg in der Digitalökonomie der digitalen Innovation Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und geschuldet ist, was häufig der Fall ist, weil die Nutzer Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Staats- sich da besser aufgehoben fühlen, oder ob es aber daran sekretärin Winkelmeier-Becker und Herr Mohrs haben liegt, dass die digitalen Modelle mehr Freiheiten, unregu- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23405

Michael Theurer (A) lierte Freiheiten haben, die der analogen Welt nicht zur Die Gesetzesänderung, die die Bundesregierung heute (C) Verfügung stehen. Deshalb – ich komme zum Schluss, vorgelegt hat, macht dazu erste, aber leider viel zu zag- Herr Präsident – sagen wir: Unbürokratische Regelungen hafte Trippelschritte. Es ist völlig unverständlich, warum für die analoge Wirtschaft schaffen auch Wettbewerbs- die Bundesregierung in dieser Frage so zaghaft agiert und gleichheit. Wir müssen die analoge Wirtschaft von unnö- selbst deutlich hinter den Vorschlägen der von ihr selbst tiger Bürokratie entlasten und für die Digitalökonomie eingesetzten Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 zurück- einen Ordnungsrahmen schaffen, der fairen Wettbewerb bleibt. garantiert. So sieht das Herzstück ihres Gesetzentwurfs, der schon Vielen Dank. erwähnte neue § 19a, lediglich vor, dass das Kartellamt künftig den Missbrauch der dominanten Stellung einzel- (Beifall bei der FDP) ner Unternehmen untersagen kann. Aber das bedeutet in der Regel langwierige und aufwendige Verfahren, bis zu Vizepräsident Wolfgang Kubicki: deren Abschluss selbst offenkundig missbräuchliches Vielen Dank, Herr Kollege Theurer. – Nächster Redner Verhalten de facto ohne Konsequenzen bliebe. Wir als ist der Kollege Pascal Meiser, Fraktion Die Linke. Linke fordern deshalb hier ein klares und eindeutiges Verbot per Gesetz, wie es übrigens auch der Deutsche (Beifall bei der LINKEN) Gewerkschaftsbund fordert. (Beifall bei der LINKEN) Pascal Meiser (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die digitale Auch das Problem der sogenannten Killerakquisitio- Revolution hat schon jetzt zu einer extremen Konzentra- nen, nämlich dass große Konzerne gezielt Start-ups auf- tion an technologischer, wirtschaftlicher und, ja, auch kaufen, bevor sie zu ernstzunehmenden Konkurrenten politischer Macht in den Händen einiger weniger Digital- werden können, fasst die Bundesregierung nicht an, und konzerne geführt. Ich halte diese Entwicklung für brand- das, obwohl die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 einen gefährlich, und es ist höchste Zeit, dass hier konsequent entsprechenden Vorschlag gemacht hat. gegengesteuert wird. Wir brauchen aber auch über das Wettbewerbsrecht (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. hinaus endlich ein Plattformstrukturgesetz, in dem für Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die verschiedenen digitalen Plattformen der gesetzliche NEN]) Rahmen gesetzt wird, wie auch eine spezielle Regulie- rungsbehörde, die die Durchsetzung dieser Regeln von So hat, um nur zwei plastische Beispiele herauszugreifen, Amts wegen überwacht. (B) Google inzwischen einen Anteil von über 90 Prozent an (D) allen Suchvorgängen im Internet, und mehr als zwei Drit- Schließlich darf dort, wo die Marktstellung von Kon- tel des Onlinehandels liefen bereits vor der Coronakrise zernen mit überragender marktübergreifender Bedeutung über Amazon. anders nicht mehr zu kontrollieren ist, auch in Deutsch- land und Europa nicht länger vor der Ultima Ratio einer Es sind diese und weitere Digitalkonzerne wie Micro- Zerschlagung solcher Konzerne zurückgeschreckt wer- soft oder Facebook, die inzwischen über eine Schlüssel- den. Auch dafür müssen jetzt schnell die gesetzlichen stellung in Wirtschaft und Gesellschaft verfügen, die weit Grundlagen geschaffen werden. über ihr ursprüngliches Kerngeschäft hinausgeht. Sie sind es, bei denen sich eine unvorstellbare Menge an (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zum Teil hochsensiblen privaten Daten konzentriert, die neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für immer mehr technologische und wirtschaftliche Pro- Für einige hier mag eine solche Zerschlagung radikal zesse die Grundlage bilden. Sie sind die mitunter äußerst klingen; doch genau das ist seit über 100 Jahren in den rabiaten Türsteher, die darüber entscheiden, welche USA geltendes Recht und dort in der Vergangenheit Waren oder Dienstleistungen im Internet überhaupt in schon mehr als einmal auch exekutiert worden. Nehmen welchem Umfang beworben und zu welchen Regeln ver- wir uns ein Beispiel daran! kauft werden können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Eine aktuelle Befragung der Bundesnetzagentur zeigt, dass kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- massiv unter dieser Dominanz der digitalen Plattformen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leiden. Unverhältnismäßige Provisionen und Gebühren, völlig intransparente Kriterien, wie einzelne Waren und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Dienstleistungen auf den Plattformen behandelt werden, Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die sind die Folge und ein ernsthaftes Problem für diese klei- Grünen die Kollegin Katharina Dröge. nen und mittleren Unternehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) All dies zeigt: Es ist höchste Zeit, die digitalen Märkte und die sie beherrschenden Digitalkonzerne wirksam zu Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): regulieren. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kollegen! Die Coronapandemie hat das Machtgefälle in Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Wirtschaft noch einmal verschärft. Sie hat diejenigen, NEN]) die sowieso übermächtig sind, die großen Giganten der 23406 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Katharina Dröge (A) Digitalwirtschaft, noch einmal mächtiger werden lassen, es nicht nur für die großen Vier. Das müssen Sie grund- (C) und sie hat das Machtgefälle zulasten der kleineren Kon- sätzlich für marktbeherrschende Unternehmen vorschrei- kurrenten und zulasten des lokalen Handels verschärft. ben. Deswegen hätte diese Regierung zwei Möglichkeiten Das Zweite ist das Thema „strategischer Aufkauf von gehabt, schnell zu handeln: auf der einen Seite natürlich Wettbewerbern“, sogenannte Killer Acquisitions; auch den lokalen Handel, die kleineren Plattformen entschlos- dafür hätten Sie Regeln machen müssen. sen zu unterstützen und zu stärken und auf der anderen Auch für das Einbeziehen von Datenschutzbehörden Seite Regeln zu erlassen, die die Macht der Großen besser hätten Sie Regeln machen müssen. begrenzen. Mit beidem haben Sie sich extrem viel Zeit gelassen. Beides kommt spät, ich würde sagen: zu spät. Und das Letzte ist: Ja, Plattformen können so groß und mächtig werden, dass als Ultima Ratio auch eine miss- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) brauchsunabhängige Entflechtung im Raum stehen muss. Und das ist ein Problem, sehr geehrte Damen und Her- Auch dazu hätten Sie Instrumente schaffen müssen. ren – nicht, weil das Angebot der großen digitalen Platt- All das haben Sie nicht getan. formen schlecht ist: Viele Verbraucherinnen und Verbrau- cher haben in der Coronakrise sehr gerne im Internet Und zu guter Letzt haben Sie auch die andere Seite, die eingekauft, haben entsprechende Angebote genutzt, um Verbraucherinnen und Verbraucher, bei dieser Reform soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. des Wettbewerbsrechts völlig vergessen. Dabei haben Sie als Regierung selbst eine Studie in Auftrag gegeben, Das Problem ist, wie die Großen ihre Marktmacht ein- wie die verbraucherschutzbezogene Kompetenz des Bun- setzen. Schaut man sich allein die Verfahren an, die die deskartellamtes gestärkt werden könnte. Europäische Kommission und das Bundeskartellamt in den vergangenen Jahren gegen die ganz Großen der Digi- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: talwirtschaft eingeleitet haben, wo sie Vorgaben gemacht Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss. haben, Hinweise gegeben haben, dann sieht man: Das waren Verfahren, wo es um die Selbstbevorzugung eige- ner Angebote ging. Es ging um die Benachteiligung von Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kleineren Händlern. Es ging um Bestpreisgarantien. Es Nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu der sehr ging um Fragen des Datenschutzes. Es ging darum, dass guten Arbeit der Verbraucherzentralen wären hier Regel- geschlossene Angebote Kunden binden und damit den ungen notwendig gewesen. Da ist gar nichts, hier haben Wettbewerb nicht mehr ermöglichen. Und am Ende Sie eine Leerstelle. Ich fordere Sie dringend auf, hier (B) ging es auch um das Thema Steuerzahlungen. Das alles noch einmal nachzubessern. (D) sind real existierende Probleme, die wir aufgrund der Ich danke Ihnen. Marktmacht der ganz großen digitalen Konzerne haben. Und deswegen ist es wichtig, heute eine Verschärfung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wettbewerbsrechtes zu diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielen Dank, Frau Kollegin Dröge. – Jetzt spricht zu uns der Kollege Dr. Matthias Heider, CDU/CSU-Frak- Angesichts dessen ist es aber unverständlich, dass sich tion. Herr Altmaier so viel Zeit gelassen hat, einen Gesetzent- wurf in den Deutschen Bundestag einzubringen – so viel (Beifall bei der CDU/CSU) Zeit! Wir kennen den Referentenentwurf seit Monaten. Wir haben uns als grüne Bundestagsfraktion schon Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): gefragt, ob wir ihn selber einbringen müssen, damit er Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und endlich mal ins parlamentarische Verfahren kommt. Kollegen! Das ist eine schwierige Materie, über die wir heute sprechen. Frau Dröge, die Grünen und auch Sie (Zuruf von der FDP) sollten sich das nicht so einfach machen, wie Sie es Die kleinen Händler, die in der Krise auf Amazon und Co gerade dargestellt haben. Das ist ein außerordentlich angewiesen waren, die brauchen dringend diesen Gesetz- komplexer Vorgang. Das „Handelsblatt“ berichtete im entwurf. Ich verstehe nicht, warum Sie sich so viel Zeit August dieses Jahres über eine Kartellbeschwerde deut- damit gelassen haben. scher Digital-Start-ups gegen die mächtigste Suchma- schine der Welt und schloss mit der treffenden Erkennt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nis: und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Denn Märkte, die nur einen Gewinner zulassen, ken- nen vor allem eines: Verlierer. Das, was Sie im Kern geregelt haben, das Hinzufügen Und wenn man das rechtssicher feststellen will, dann des § 19a, ist richtig; das wird von uns unterstützt. Aber muss man sich auf einen längeren Weg machen, und auch wir hätten uns gewünscht, dass Sie das ganze Ver- genau den haben wir eingeschlagen. fahren einfacher und schneller gemacht hätten. Und bei manchen Regeln hätten Sie auch weitergehen können: (Zuruf der Abg. Katharina Dröge [BÜND- Interoperabilität, das heißt offene Schnittstellen, braucht NIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23407

Dr. Matthias Heider (A) Meine Damen und Herren, was ist gemeint? Innovative Deshalb haben wir beispielsweise auch eine (C) Start-ups leisten Pionierarbeit, tragen mit hohem Innova- Beweislastumkehr für schwierige Fälle eingeführt, damit tionsaufwand Informationen zusammen und digitalisie- überhaupt kein Zweifel daran besteht, wer die Darle- ren durch innovative Geschäftskonzepte ganze Branchen. gungslast dafür trägt. Dabei sind sie meist auf Google angewiesen: Mit 90 Pro- zent Marktanteil in der Welt führt an dieser Suchmaschi- Ich freue mich auf eine weitere gute Diskussion im ne kein Weg vorbei. Für ein gutes Ranking müssen Unter- Ausschuss und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nehmen zahlen. Die „FAZ“ berichtet dazu heute anhand (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. des Falls Trivago, wie es aussehen kann, wenn man mit Falko Mohrs [SPD]) seinen eigenen Angeboten unter Druck gerät. Google nutzt diese Daten, die dort anfallen, konzerneigene Ver- mittlungsdienste werden aufgebaut, und in kurzer Zeit Vizepräsident Wolfgang Kubicki: geraten Start-ups mit ihren tollen und innovativen Ideen Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Heider. – Nächster Red- unter Druck, ganz einfach, weil jemand anders die Markt- ner ist der Kollege Dr. Joe Weingarten, SPD-Fraktion. macht hat. Diese Problematik am Beispiel der Hotels (Beifall bei der SPD) lässt sich auf andere Branchen übertragen: Facebook, Apple, Amazon – sie wissen schneller als jeder andere, welche Daten von denen, die da sind, relevant sind und Dr. Joe Weingarten (SPD): wie man daraus eine Schlüsselposition im Wettbewerb Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gewinnen kann. Kollegen! Meine Damen und Herren! Faire Konkurrenz, ein geregelter Wettbewerb und Innovationen sind die Meine Damen und Herren, wir sind nicht die Einzigen, Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes. Wettbewerb die das analysieren. Die USA haben selbst den Ernst der zu erhalten, ist für eine soziale und zugleich innovative Lage erkannt, und unsere Kolleginnen und Kollegen im Marktwirtschaft unverzichtbar; denn Monopole und Repräsentantenhaus des US-Kongresses haben dazu in Marktdominanzen verhindern Innovationen, drängen der letzten Woche einen Bericht herausgegeben. Ich zitie- Konkurrenz aus dem Markt und schaden am Ende den re aus diesem Bericht: Beschäftigten genauso wie den Verbraucherinnen und Unternehmen, die einst rauflustige Underdog-Start- Verbrauchern. Es ist das Ziel der sozialdemokratischen ups waren, haben sich in die Art von Monopolen Bundestagsfraktion, genau dies nicht zuzulassen. verwandelt, die wir zuletzt in der Ära der Ölbarone und der Eisenbahntycoone gesehen haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Und etwas weiter heißt es: Dazu muss das Wettbewerbsrecht auf der Höhe seiner (D) Zeit sein. Weltweite Kapitalzusammenballungen haben Natürlich haben diese Unternehmen auch klare Vor- enorme Machtpositionen geschaffen. Das gilt vor allen teile für die Gesellschaft gebracht, doch die Domi- Dingen für die digitale Wirtschaft, wo wenige Digital- nanz von Amazon, Apple, Facebook und Google hat riesen wie Google und Amazon den gesamten Markt ihren Preis. Diese Unternehmen betreiben einen dominieren – und dies vor allen Dingen durch eine Daten- Marktplatz und agieren gleichzeitig als Wettbewer- nutzung, mit der sich ihre Plattformen stets neue Wett- ber … bewerbsvorteile verschaffen, um sie dauerhaft zu etablie- Und noch etwas weiter: Das Resultat sei „weniger Inno- ren. Denn die Digitalriesen verkaufen zumeist auch ihre vation, weniger Auswahl für die Verbraucher und eine eigenen Produkte auf ihren Plattformen, optimiert durch geschwächte Demokratie“. Es gebe eine „drückende Not- ihren Datenvorrat und durch eine Selbstbevorzugung bei wendigkeit für gesetzgeberisches Handeln und eine Suchanfragen. Das hat nichts mit Wettbewerb zu tun, Reform“. – Ende des Zitates aus dem Bericht des Reprä- sondern mit dem Ausnutzen von Machtpositionen. Des- sentantenhauses. halb müssen wir die digitalen Märkte regulieren. Wir wollen Transparenz, Fairness und Marktzugänge für Meine Damen und Herren, wir haben uns mit der neue Wettbewerber. Regierungskommission Wettbewerbsrecht 4.0 auf den steinigen, aber eigenen, harten Weg begeben, um die Ein Beispiel von vielen – um es mal konkret zu dazu erforderlichen Feststellungen zu treffen. Und ich machen –: Es gibt viele mittelständische Unternehmen glaube, dass wir gut daran tun, einen solchen Eingriff in in meiner Heimat, dem Naheland in Rheinland-Pfalz. Wettbewerb und Märkte gut vorzubereiten. Das Bundes- Eines der bekanntesten Produkte, eine Pfanne von Fissler kartellamt hat nun die Möglichkeit, Unternehmen mit aus Idar-Oberstein, sollte auf Amazon genauso gleich- marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb, ins- wertig angezeigt werden wie plattformeigene Produkte. besondere also die großen Digitalplattformen, unter eine Solche Fairness sollte unser Ziel sein. strenge Kontrolle zu stellen. Das ist ein erster, aber ein Um das bestehende Ungleichgewicht im digitalen wichtiger Schritt, um mit einer Liste von unerlaubten Wettbewerb zu bekämpfen, setzen wir auf zwei zentrale Praktiken diesem Marktgeschehen auf die Spur zu kom- Maßnahmen: erstens den Zugriff auf bestimmte Daten men. Wie gesagt, Frau Dröge, liebe Kolleginnen von den der Internetriesen und zweitens den gleichberechtigten Grünen: Man muss das rechtssicher beweisen, dahersa- Zugang von Produkten und Dienstleistungen auf markt- gen reicht nicht. Man muss es beweisen. dominierenden Plattformen. Wir müssen die Regulierung (Beifall des Abg. Dr. [CDU/ auch immer wieder an die dynamischen Entwicklungen CSU]) auf dem Markt anpassen. Deswegen ermöglichen wir bei- 23408 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Joe Weingarten (A) spielsweise mit dieser Novelle dem Kartellamt, künftig lich auch in Deutschland finden: die mit den unkonven- (C) schneller einzuschreiten. Das nützt insbesondere unseren tionellen, cleveren und auch innovativen Ideen, die mittelständischen Unternehmen. Unerschrockenen, die Gründer und Start-ups, die Mittel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ständler und die Hidden Champions – von den Alpen bis der CDU/CSU) ans Meer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Wettbewerbs- Doch warum wurde die Steinschleuder noch nicht recht 4.0 muss zugleich effizient und verhältnismäßig erfunden, mit der sie einem Goliath Paroli bieten können? sein. Denn es geht nicht darum, digitale Unternehmen Das liegt nicht etwa an mangelndem Erfindungsreichtum; und Plattformen zu gängeln oder überzuregulieren. Int- denn es werden jede Menge Hightech-Steinschleudern ernetplattformen sind grundsätzlich gut für Verbraucher- erfunden. Doch sie verfehlen ihr Ziel, einen Riesen wie innen und Verbraucher, weil sie Preistransparenz, eine Goliath ernsthaft zu attackieren. Das liegt daran, dass Qualitätsdiskussion, Austausch und Wissensmehrung er- dieser Kampf noch viel ungleicher ist als das biblische möglichen. Die SPD-Bundestagsfraktion will diese Vor- Vorbild; denn der Gegner ist nicht nur bis an die Zähne teile erhalten, aber eben auch erkennbare Nachteile und bewaffnet mit einem nahezu unerschöpflichen Daten- Risiken eindämmen. schatz, er bestimmt auch noch die Spielregeln dieses Wettkampfes, der damit nicht nur ungleich, sondern Das GWB-Digitalisierungsgesetz ist dezidiert kein Ge- auch unfair ist. setz zur Verhinderung von Wettbewerb oder zur Wirt- schaftslenkung, im Gegenteil. Deswegen sind die Vor- Auf vielen Märkten sind die Plattformanbieter Gegen- schläge der Oppositionsfraktionen zum zwangsweisen spieler und Schiedsrichter in einem. Sie entwickeln und Datentransfer oder zur noch stärkeren Sanktionsbefugnis bieten neue Produkte an, bestimmen aber gleichzeitig der Kartellbehörden bis hin zur Zerschlagung von Unter- über den Zugang zu den Kunden der Wettbewerber. In nehmen unangemessen. der biblischen Geschichte treten David und Goliath in einem Tal auf einer Ebene gegeneinander an. Doch ein (Beifall des Abg. Dr. Matthias Heider [CDU/ solches Level Playing Field existiert derzeit in der Digi- CSU]) talwirtschaft nicht. Deshalb müssen wir als Politik ein- Wir regulieren hier stattdessen mit Augenmaß. schreiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Falko Mohrs [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir wollen, dass die Davids wieder eine Chance gegen die Goliaths haben. Wir wollen fairen Wettbewerb auf (B) (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: allen Märkten. Wir wollen, dass die Regeln der sozialen Marktwirtschaft auch in der Digitalwirtschaft gelten. Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu die- sem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hansjörg Durz, Im parlamentarischen Verfahren müssen wir nun die CDU/CSU-Fraktion. Frage beantworten: Schafft der vorliegende Entwurf, ins- besondere mit § 19a – er ist mehrfach erwähnt worden –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genügend Möglichkeiten für David, seine Steinschleuder zur Wirkung zu bringen? Der Entwurf ist sicherlich eine Hansjörg Durz (CDU/CSU): sehr, sehr gute Grundlage dafür, doch vielleicht können Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen wir ihn noch besser machen – für fairen Wettbewerb. und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vielen Dank. Die Philister standen an dem Berg auf der einen Seite, die Israeliten an dem Berg auf der anderen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Seite; zwischen ihnen lag das Tal. Da trat aus dem der SPD) Lager der Philister ein Vorkämpfer namens Goliath aus Gat hervor. Er war sechs Ellen und eine Spanne Vizepräsident Wolfgang Kubicki: groß. … Als alle Israeliten den Mann sahen, flohen Vielen Dank, Herr Kollege Durz, für diesen Ausflug in sie vor ihm und fürchteten sich sehr. die Bibel. – Damit schließe ich die Aussprache. Die bibelfesten Parlamentarier wissen sofort: Das ist der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Beginn der Geschichte „David gegen Goliath“. den Drucksachen 19/23492, 19/23698 (neu), 19/23701, (Michael Theurer [FDP]: Ja!) 19/23705 und 19/23688 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Ein übermächtiger Widersacher, der unbezwingbar Überweisungsvorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann scheint, und Gegner, die vor Angst erblassen, ja sogar verfahren wir wie vorgeschlagen. die Flucht ergreifen: Das ist in etwa auch die Ausgangs- lage, die wir heute oft in der Digitalwirtschaft vorfinden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 d sowie Die Goliaths unserer Tage sind die Tech-Giganten des Zusatzpunkte 6 und 7 auf: Internets. 12 a) Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Wer sind aber die Davids unserer Zeit, die den Mut geordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, haben, mit einer Steinschleuder gegen die schwerbewaff- Katja Dörner, Maria Klein-Schmeink, weite- neten Goliaths anzutreten? Man kann sie selbstverständ- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23409

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Medizinalcannabis-Anbau zum Export er- (C) wurfs eines Cannabiskontrollgesetzes möglichen (CannKG) Drucksache 19/23690 Drucksache 19/819 Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- beschlossen. schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolle- Drucksache 19/23606 ginnen und Kollegen, ihren Sitzplatzwechsel ohne Wie- dersehensfeierlichkeiten zügig vorzunehmen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Berichts des Ausschusses für Gesundheit ner dem Kollegen Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Frak- (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- tion, das Wort. neten Dr. Axel Gehrke, Detlev Spangenberg, Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und der Fraktion der AfD Stephan Pilsinger (CDU/CSU): Medizinalcannabis auf eine wissenschaft- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- liche Grundlage stellen – Verfahren im chen heute über einen Gesetzentwurf, der einen ganz Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz wichtigen Aspekt außer Acht lässt: die Gesundheit der zur Nutzenbewertung und Preisfindung Menschen in unserem Land. anwenden, Anwendungssicherheit verbes- sern und Krankenkassen entlasten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen die gesundheitlichen Risiken und Langzeit- Drucksachen 19/8278, 19/10370 Buchsta- folgen des Konsums von Cannabis im Blick haben. Das be a muss unser Maßstab sein. Dazu gehört ein Fokus auf abhängige Konsumenten und Jugendliche und die für c) Beratung der Beschlussempfehlung und des sie bestehenden Risiken. Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Es gibt schon genug Menschen in unserem Land, die neten Jan Korte, Niema Movassat, Sylvia mit legalen Suchtmitteln Probleme haben. Diese Proble- Gabelmann, weiterer Abgeordneter und der me spitzen sich angesichts der aktuellen Coronapandemie Fraktion DIE LINKE weiter zu. Die Coronapandemie und die damit einhergeh- (B) enden Beschränkungen bergen neben dem Risiko, an (D) Gesundheitsschutz statt Strafverfolgung – Covid-19 zu erkranken, auch das Risiko der Entstehung Für einen progressiven Umgang mit Can- von Ängsten sowie der Verstärkung von Einsamkeit und nabiskonsum Langeweile. Mangelnde Ablenkung, mangelnde soziale Drucksachen 19/832, 19/13098 Unterstützung, mangelnde berufliche Verpflichtungen sowie psychische Belastungen können den Suchtmittel- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten konsum fördern und Abhängigkeitserkrankungen verur- Niema Movassat, Dr. André Hahn, Gökay sachen. Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für die legalen Suchtmittel Alkohol und Tabak liegen die Quoten des riskanten bzw. klinisch relevanten Kon- Gleichstellung von cannabis- und alkohol- sums in der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland konsumierenden Führerscheininhaberin- gemäß Epidemiologischem Suchtsurvey um das 7- bis nen und Führerscheininhabern 20-Fache höher als bei Cannabis. Durch eine Legalisie- Drucksache 19/17612 rung von Cannabis wäre eine ähnliche Entwicklung des riskanten bzw. klinisch relevanten Konsums von Canna- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) bis zu erwarten. Studien aus den USA belegen, dass die Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Legalisierung von Cannabis mit einem deutlichen Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Gesundheit Zuwachs des Konsums verbunden ist. Zum Beispiel ist Federführung strittig im US-Bundesstaat Colorado der riskante und klinisch relevante Konsum von Cannabis seit dessen Legalisie- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten rung gestiegen. Verantwortungsvolle Gesundheits- und Dr. Wieland Schinnenburg, Michael Theurer, Drogenpolitik muss einer Ausweitung riskanter und Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und gesundheitsgefährdender Konsummuster entgegenwir- der Fraktion der FDP ken. Daher dürfen wir keine zusätzliche Einladung für Cannabis-Modellprojekte ermöglichen eine illegale Droge wie Cannabis aussprechen. Drucksache 19/23691 (Beifall bei der CDU/CSU) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Aber genauso würde eine Legalisierung wirken: Wer Dr. Wieland Schinnenburg, Michael Theurer, Cannabis aus nichtmedizinischen Gründen konsumiert, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und wer Cannabis missbraucht, der begibt sich in eine der Fraktion der FDP gesundheitliche Gefahr. Insbesondere bei jungen Men- 23410 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Stephan Pilsinger (A) schen gibt es gravierende Risiken in der Entwicklung. Zu Allerdings halte ich generelle Verbote auch nicht für (C) nennen sind hier psychische und psychosoziale Störun- sinnvoll; denn der Einsatz von medizinischem Cannabis gen wie zum Beispiel schizophrene Psychosen, aber auch kann bei entsprechender Indikation durchaus sinnvoll organmedizinische Auswirkungen wie Herz-Kreislauf- sein. Dem tragen wir Rechnung. Am 10. März 2017 ist Folgeerkrankungen sowie neurokognitive Beeinträchti- das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher gungen wie die Beeinträchtigung der Lern-, Aufmerk- und anderer Vorschriften in Kraft getreten, das die Mög- samkeits- und Gedächtnisfunktion. lichkeit zur Behandlung von Patienten mit Cannabisarz- Deshalb kommen immer mehr Kinderpsychiater und neimitteln erweitert. Mehr noch: Das Gesetz sieht vor, Kinderpsychologen und Suchtexperten im angloamerika- dass wir die Behandlungsdaten anonymisiert sammeln nischen Sprachraum zu der Überzeugung, dass Cannabis- und auswerten. Im März 2022 haben wir voraussichtlich missbrauch gerade im Kindes- und Jugendalter vermie- Ergebnisse und werden mit neuen Erkenntnissen da noch den werden sollte und dem Jugendschutz eine zentrale nachjustieren. Bedeutung beigemessen werden muss. Schon jetzt aber ist klar, dass Ärzte, Patienten und (Beifall bei der CDU/CSU) Industrie trotz der Gesetzesänderung im März 2017 immer wieder auf große Hürden in der Verschreibung, Auch die kinder- und jugendpsychiatrische Fachgesell- Erstattung und Herstellung von Cannabinoidarznei- schaft und die Fachverbände in Deutschland sprechen mitteln stoßen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen und eine sich aus diesem Grund gegen eine Legalisierung von vereinfachte Verordnungsfähigkeit von Cannabinoiden Cannabis aus. Und auch meine Erfahrungen als Hausarzt können hier Abhilfe schaffen. Auch über innovative Dar- decken sich mit diesen Erkenntnissen. Als Arzt und eben- reichungsformen von Cannabinoidarzneimitteln könnte so als Gesundheitspolitiker kann ich es also nicht verant- man nachdenken. Gleichzeitig braucht es weitere For- worten, eine Substanz zu legalisieren, die nachweislich schung, um die Potenziale von Cannabinoiden noch bes- auch schädlich ist. ser zu verstehen und ausschöpfen zu können. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Da müssen Neben dieser möglichen Nachjustierung sehe ich Sie aber viele Stoffe verbieten!) außerdem Handlungsbedarf bezüglich CBD. Der Markt Ziel unserer Drogen- und Suchtpolitik muss es viel- von der Herstellung bis zum Vertrieb von CBD-Produk- mehr sein, den Konsum legaler und illegaler Drogen zu ten ist nicht reguliert und bewegt sich nicht in einem reduzieren. rechtlich gesicherten Bereich, sondern in einem Graube- reich. Hier wäre es sinnvoll, einen rechtlichen Rahmen zu (Beifall bei der CDU/CSU – schaffen, um den Umgang mit CBD besser und vor allem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Volks- sicherer zu machen. (B) feste mehr, Herr Pilsinger!) (D) Als verantwortungsvolle Gesundheitspolitiker müssen (Beifall des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) wir uns vielmehr auf die wesentlichen Handlungsfelder Der Gesundheit der Menschen dienen wir am besten, erfolgreicher Drogen- und Suchtpolitik konzentrieren: wenn wir den medizinischen Nutzen von Cannabis erstens Prävention, zweitens Beratung und Hilfe, drittens gezielt ermöglichen und die Abhängigkeit entschieden Schadensminimierung und Schadensreduzierung und bekämpfen. viertens Strafverfolgung. Vielen Dank. Durch vermehrte Aufklärung über die Gefahren des Suchtmittel- und Drogenkonsums können wir erreichen, (Beifall bei der CDU/CSU) dass es gar nicht zu einem gesundheitsschädlichen Kon- sum oder sogar zur Abhängigkeit kommt. Jeder Sucht- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kranke sollte das Angebot zur Beratung und Behandlung Ich möchte nur noch mal darauf hinweisen: Heute ist in Anspruch nehmen können, das er benötigt. Daher müs- Donnerstag. Wenn alle Rednerinnen und Redner zwi- sen wir diese vielfältigen Angebote zum Ausstieg aus schen 30 und 40 Sekunden überziehen, werden wir Mit- dem Suchtverhalten erhalten und stärken. ternacht überschreiten. Ich mache darauf aufmerksam, Darüber hinaus ist es wichtig, die gesundheitliche und dass ich jetzt konsequenter auf die Einhaltung der Rede- soziale Situation der Suchtkranken zu stabilisieren. Das zeit achten werde, auch um die Bediensteten des Deut- schafft die Voraussetzung für einen späteren Ausstieg. schen Bundestages zu entlasten. Hierzu können Überlebenshilfen oder Maßnahmen zur Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, begrüße ich Schadensreduzierung beitragen. Zudem dürfen wir die zunächst die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, gesetzlichen Regulierungen zur Beschränkung des Ange- die ehemalige Kollegin , ganz herzlich bots von Suchtmitteln und Drogen nicht außer Acht las- im Haus. sen. Denn auch die Bekämpfung der Drogenkriminalität dient der Angebotsreduzierung. Hier müssen wir ein (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Sie ist noch besonderes Augenmerk auf die Vertriebsstrukturen im Kollegin!) sogenannten Darknet legen. Mittlerweile ist es möglich, – Sie ist noch Kollegin? – Also, ich begrüße die Kollegin dass mit nur wenigen Klicks jede Art von Betäubungs- Daniela Ludwig besonders herzlich. mitteln nach Hause geliefert werden kann. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sehen: Auch ich kann irren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23411

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das passiert aber in ja einige offenbar ausrichten, hat festgestellt, dass nichts (C) letzter Zeit häufiger!) passiert ist. Der Konsumbedarf ist geblieben. Es war nur Als nächster Redner hat der Kollege Detlev ein verbotener Markt, der bedrängt, aber nicht verdrängt Spangenberg, AfD-Fraktion, das Wort. wurde. (Beifall bei der AfD) Sie von den Grünen bestätigen ja auch die Gefährlich- keit dieser Droge, indem Sie den Gesundheitsschutz anmahnen, aber völlig falsche Instrumente einsetzen wol- Detlev Spangenberg (AfD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die len, nämlich die sogenannte Legalisierung. Wirkungsvol- AfD lehnt es ab. Eine humane Gesellschaft benötigt keine ler Gesundheitsschutz ist nur über die gänzliche Ableh- Drogen. Das ist erst einmal unser Grundsatz. nung von jeglichem Drogengebrauch möglich und wichtig. Daher Aufklärung und Warnungen an Schulen, Cannabis – oder die verschiedenen Unterarten von in Medien usw. betreffend alle Rauschmittel, somit auch Cannabis sativa, auch bekannt als Hanf – ist eine wert- Cannabis. Nicht über die Legalisierung darf nachgedacht volle Nutzpflanze. Seit Jahrtausenden findet sie Verwen- werden. Vielmehr sind ernsthafte Unternehmungen erfor- dung in der Industrie und auch in der Lebensmittelbran- derlich, um konsequent und hart gegen illegale Einfuhr che. Als Droge allerdings werden Blätter, Blüten oder und Handel vorzugehen. Dazu sind bundesweit einheit- gewonnene Harze der weiblichen Pflanze meist mit liche Regeln notwendig. Tabak gemischt oder pur geraucht, können aber auch oral, also in Speisen zubereitet, dem Körper zugeführt Nahezu abenteuerlich, muss ich sagen, ist die Erklä- werden. Eine mehr oder weniger berauschende Wirkung, rung in der Begründung zum grünen Gesetzentwurf, in Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsveränderung kann dem illegal gehandelten Cannabis seien häufig schädliche daraufhin eintreten. Bei häufiger und gewohnheitsmäßi- Beimengungen von Stoffen enthalten. ger Anwendung lässt die Wirkung nach. Und das ist das Problem: So werden Dosis und Häufigkeit der Einnahme (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ zumeist stark gesteigert. DIE GRÜNEN]: Ja!) Gesundheitsgefährdend sind diese Wirkungen vor Darum müsse man einen legalen Markt schaffen, um die allem für Kinder, Jugendliche und auch für Schwangere Drogen auf ihre Güte und Wirkstoffkonzentration über- oder Stillende bzw. deren Kinder. Bei jungen Erwachse- prüfen zu können. Das würde ja heißen, dass man sich für nen mit dauerhaftem Cannabiskonsum findet sich ein die Legalisierung aller verbotenen Drogen ausspricht, da Rückgang der allgemeinen Intelligenz bzw. der dieses Problem der Verunreinigung ja auch bei allen Dro- Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. gen vorkommt. Also können Sie auch alle erlauben, da- (B) mit Sie sie anschließend schön kontrollieren können. (D) (Zuruf des Abg. [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist natürlich eine Frage, ob Sie der Gesellschaft und Während der Entwicklung des jugendlichen Gehirns, besonders dem Gesundheitsschutz einen Dienst erweisen die häufig nach dem 20. Lebensjahr noch nicht abge- würden, wenn zu den legalen Drogen, die wir ja schon schlossen ist, sind Auswirkungen von Cannabiskonsum haben – also Alkohol und Tabak –, noch weitere legale besonders tiefgreifend. Herabgesetzte kognitive Leistun- Drogen hinzukommen. Außerdem steht Cannabis noch gen sind die Folge. Bei starkem Cannabiskonsum im im Verdacht, häufig als Einstiegsdroge für andere, härtere Jugendalter kommt es zu einer Auswirkung auf die natür- Drogen zu dienen. Auch das ist, glaube ich, schon gän- lichen Rezeptoren im Gehirn. Aufmerksamkeit, Lang- gige Meinung. und Kurzeitgedächtnis sowie allgemeine Intelligenz las- Besonders gefährlich ist der Mischkonsum mit Alko- sen nach. Negative Wirkungen auf die Psyche und den hol oder Tabak. Dabei ist die Verwendung von Cannabis Charakter können nach langanhaltendem Konsum eben- zusammen mit Alkohol eher die Regel als die Ausnahme; falls auftreten. Somit ist eine Altersgrenze, die an die das wurde auch schon festgestellt. Die ohnehin indivi- Volljährigkeit von 18 Jahren gekoppelt würde, medizi- duell unterschiedliche Wirkung von Cannabis wird durch nisch nicht ausreichend, um Schäden zu verhindern. die Mischung mit Alkoholgenuss noch unberechenbarer. Die Auswertung einer neuseeländischen Studie kam zu dem Schluss, dass Cannabiskonsum den IQ, also Intelli- Bei einer Legalisierung der Droge, die schon von vie- genzquotienten, dauerhaft, auch nach Beendigung des len genutzt wird, stehen Erziehungsberechtigte vor der Konsums, beeinträchtigt. Schwierigkeit, den Jugendlichen zu erklären, wie gefähr- lich diese Stoffe sind. Wenn Sie etwas legal machen, wie (Niema Movassat [DIE LINKE]: Dann muss ja soll ich als Vater oder Mutter dann sagen: „Nimm das die ganze AfD kiffen!) Zeug nicht!“? Denn der Staat hat ja gesagt: Es ist gar Je jünger das Einstiegsalter und je länger der Konsum nicht so schlimm. andauert, desto tiefgreifender ist die Wirkung. So weit Außerdem ist es für mich erstaunlich, dass ausgerech- erst einmal zu diesem Problem dabei. net die Fraktion der Grünen hier mit einer Erlaubnis Der Irrtum, der sowohl dem Gesetzentwurf der Grünen kommt. Die Grünen zeichnen sich doch aus als Verbots-, wie auch der Vorlage der FDP zugrunde liegt, ist, dass Schikane- und Gängelpartei. Wieso wollen ausgerechnet angenommen wird, der Schwarzmarkt, also illegale Ein- Sie hier mal etwas gestatten? Ich habe darüber lange fuhr, Handel, Gebrauch, verschwände mit der Einführung nachgedacht. Ich kann es mir nur so erklären, dass Sie eines legalen Marktes. Kanada zum Beispiel, an das sich Ihrer Klientel noch mehr das Gehirn vernebeln wollen, 23412 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Detlev Spangenberg (A) damit sie Ihre komische Politik unterstützen. Was anderes (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) kann ich mir nicht erklären. Das ist so ein unsinniger Da bräuchten wir schon noch ein bisschen mehr. Also, der Vorschlag, meine Damen und Herren. Antrag kommt vielleicht ein bisschen früh. Als Medikament findet es Zustimmung bei uns. Wir haben unseren eigenen Antrag dazu gestellt. Da es in Aber das ist das einzige Gesetz, das sich sehr ausführ- Deutschland noch keine Anbau- und Herstellungserlaub- lich und sehr gut strukturiert – damit will ich nicht sagen, nis für hierzulande produziertes Cannabis gibt, wird dass ich jedes Detail des Gesetzes für gut halte; darauf Medizinalcannabis importiert. Die Verschreibungspraxis wird aber gleich die Kollegin Stamm-Fibich eingehen – wie auch die Auslieferung durch Apotheken ist unter- (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ schiedlich und wird bundesweit uneinheitlich gehand- DIE GRÜNEN]: Es ist gut!) habt. mit der Frage der kontrollierten Abgabe beschäftigt, mit Als Medikament ist Cannabis trotzdem weiterhin der wir uns ganz sicher beschäftigen müssen. Das ist umstritten, genießt allerdings bei vielen Bürgern und überhaupt keine Frage. Patienten einen guten Ruf. Nicht jeder Arzt verschreibt es. Für die Apotheken ist die Bereitstellung ziemlich auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wendig, und die Krankenkassen begegnen dem Cannabis auch mit Skepsis. Trotzdem ist es so, dass ich durchaus respektiere, wenn es andere Meinungen dazu gibt. Ich finde es auch richtig, Daher fordern wir in unserem Antrag vom März 2019, dass wir uns darüber sehr deutlich austauschen müssen. dass Cannabis allein für medizinische Zwecke eingesetzt Ich habe ja selbst viele Erfahrungen, was die Arbeit mit und nach dem Bewertungsverfahren des Arzneimittel- Menschen angeht, die von suchterzeugenden Substanzen marktneuordnungsgesetzes, AMNOG, bewertet wird. abhängig sind. Natürlich haben wir es auch an dieser Recht vielen Dank. Stelle mit Sucht zu tun. Deswegen spricht überhaupt nichts – auch grundsätzlich – dagegen, den Suchthilfebe- (Beifall bei der AfD) reich auszubauen, zu stärken und massiv zu unterstützen. Da kann ich dem Kollegen Pilsinger nur unumwunden Vizepräsident Wolfgang Kubicki: recht geben. Vielen Dank, Herr Kollege Spangenberg. – Das Wort erhält nunmehr der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Frak- (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) tion. Das ist aber kein Gegensatz zur Frage der kontrollierten (Beifall bei der SPD) Abgabe, sondern das ist etwas, was wir so oder so brau- (B) chen. (D) Dirk Heidenblut (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem mei- ne beiden Vorredner – wenn ich das richtig verstanden Und im Übrigen: Auch im Hinblick auf die Cannabinoi- habe – ein vehementes Plädoyer für das Verbot von Alko- den können wir gerne in Kürze mal darüber reden. Auch hol gehalten haben, da würde ich Ihnen durchaus an vielen Stellen folgen. Da müssen wir eine Menge Dinge machen. Aber die kontrol- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) lierte Freigabe ist dennoch ein Weg, den wir gehen müs- will ich versuchen, zu der eigentlich deutlich harmloseren sen. Pflanze Cannabis – zu dieser Erkenntnis kommt man, (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] und wenn man nicht in Geschichtsbüchern und alten Mythen Dagmar Ziegler [SPD]) über Cannabis wühlt – zurückzukommen und ein biss- chen was dazu zu sagen. Ich bin sehr froh, dass es in der SPD unter der guten Ich will zunächst einmal vorwegschicken: Ich persön- Vorbereitung des Kollegen , meines lich bin ein absoluter Befürworter einer kontrollierten Vorgängers in diesem Bereich, der leider aus dem Bun- Abgabe. destag ausgeschieden ist, und unter tätiger Mithilfe unse- rer Patientenbeauftragten Martina Stamm-Fibich gelun- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gen ist – ich will das hier ausdrücklich sagen, um mich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- nicht mit völlig fremden Federn zu schmücken –, endlich ordneten der FDP) ein Positionspapier hinzukriegen, mit dem wir uns als Vor diesem Hintergrund ist es noch schwieriger, den SPD auf eine klare Linie festgelegt haben und vor allen Bogen zu kriegen und zu sagen, warum wir den Gesetz- Dingen auch gesagt haben: Wir wollen raus aus der Ver- entwurf trotzdem ablehnen werden. Das Gesetz der Grü- botspolitik, die nämlich am Ende schadet und nicht nützt. nen ist übrigens das einzige Gesetz, über das wir heute Und das ist genau das, was die Vorredner nicht ver- reden; der Rest sind dann Anträge, die lustigerweise bis standen haben. Natürlich ist die Verbotspolitik eben nicht hin zu einem Wunsch nach Export des selbst angebauten ein Nutzen für die Gesundheit, und natürlich muss man Medizinalcannabis’ führen. Da wäre ich, ehrlich gesagt, zur Kenntnis nehmen, dass Zusatzstoffe zugesetzt werden schon froh, wenn wir irgendwann mit dem selbst ange- und dadurch noch mehr Schäden entstehen. bauten Medizinalcannabis den Eigenbedarf decken könn- ten. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23413

Dirk Heidenblut (A) Als Gesundheitspolitiker müssen wir das vermeiden. Das Dirk Heidenblut (SPD): (C) erreichen wir mit der kontrollierten Abgabe. Da haben Aber ganz im Ernst: Indem Sie mal eben einen Antrag wir nämlich in der Hand, was die Menschen bekommen, nachschieben, lenken Sie davon ab, dass Sie beim grünen Antrag nicht mitgehen und die Haue jetzt bereits im Inter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der net kriegen. Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: und haben damit wesentlich weniger Gesundheitsproble- Herr Kollege, bitte! me. Damit haben wir übrigens auch in der Hand, was Kinder und Jugendliche bekommen. Der Dealer achtet Dirk Heidenblut (SPD): nämlich gar nicht darauf. Das machen wir nicht mit. Die Kollegen von der AfD bemängeln, dass die Eltern Danke schön. ihren Kindern nicht erklären können, dass sie nicht so viel saufen sollen, wenn der Alkohol frei ist. Ganz im Ernst: (Beifall bei der SPD) Der Dealer erklärt den Kindern schon gar nicht, dass Cannabis verboten ist und sie deshalb nicht so viel davon Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nehmen sollen. Wir brauchen also die Eltern. Und die Vielen Dank. – Das ist aber schön, wenn Sie darauf machen das, glaube ich, bei den Kindern und Jugend- hinweisen, dass Sie jetzt zum Schluss kommen müssen, lichen schon gut; denn da sinken ja auch Zahlen. Sie weil ich sonst böse werde, aber dann den Schluss nicht können das dann am Ende auch bezüglich Cannabis beachten. machen. (Michael Theurer [FDP] an die SPD gewandt: Ganz klar: Kinder- und Jugendschutz und Gesund- Stimmen Sie denn dem Antrag der Grünen heitsschutz sind mit kontrollierter Abgabe verbunden; zu? – Gegenruf von der SPD: Nein! – Gegenruf das ist kein Gegensatz zur kontrollierten Abgabe. Aber von der FDP: Dann kriegt ihr auch Haue!) wir wollen halt zunächst über Modellprojekte klären, in welche Richtung das gehen soll, weil wir noch nicht Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wieland glauben, dass sozusagen – ja, das seht ihr anders – der Schinnenburg, FDP-Fraktion. Weg, den ihr gefunden habt, der goldene Weg ist. Ich (Beifall bei der FDP) gebe zu – ich will das mal an einem Beispiel deutlich machen –, dass ich persönlich bei dem Vertriebsweg (B) näher bin bei dem, was die Kollegen von den Linken Dr. Wieland Schinnenburg (FDP): (D) als Idee haben. Ihr wollt also einen neuen Vertriebsweg Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- aufbauen. – Aber Entschuldigung, ich wollte meiner Kol- legen von der Union und von der SPD, kommen Sie aus legin nicht vorgreifen. dem Beton. Sehen Sie endlich mal ein, dass die Cannabis- politik in Deutschland gescheitert ist. Jetzt muss ich auf die Zeit achten. Der Präsident sagt, er würgt mich ab. – Ich will noch ganz kurz zwei Dinge (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der LIN- ansprechen. Wir können schon aus unserem eigenen Peti- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- tum heraus nicht zustimmen; denn wir wollen erst NEN) Modellprojekte. Und wir können auch deshalb nicht zu- Seit Jahrzehnten ist der Besitz von Cannabis strafbar, und stimmen, weil wir uns durchaus an die Koalitionsdiszip- trotzdem haben wir Millionen von Konsumenten. Diese lin gebunden fühlen und natürlich bei solchen Sachen mit Konsumenten schicken Sie auf den Schwarzmarkt. dem Partner gemeinsam gehen. Da müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten; das habe ich heute wieder Und was passiert dann? Da passieren drei schlimme festgestellt. Dinge: Erstens. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte werden damit beschäftigt, über 100 000 Verfah- Zwei Worte noch ganz kurz: Ein Antrag, der hier nur ren pro Jahr. Diese Ressourcen würde ich lieber ganz gestellt und überwiesen wird, ist der Antrag der Linken anders verwenden, zum Beispiel zur Verfolgung von Ein- zur Frage Führerschein und dazu, wie wir damit umge- brechern. Da wären sie viel besser aufgehoben. hen. Ich bitte dringend darum, sich damit sehr intensiv zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beschäftigen; es ist ein wichtiger und sehr guter Antrag. der LINKEN) Das sollte man mit behandeln. Ich habe mehr Angst vor Einbrechern als davor, dass (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mein Nachbar kifft. Lassen Sie uns das ändern. Und zur FDP ganz kurz: Es ist ja sehr schön, dass Sie (Heiterkeit bei der FDP – Tino Sorge [CDU/ den Antrag „Modellprojekte“ jetzt hier zur Sofortabstim- CSU]: Wo wohnen Sie denn?) mung stellen, ohne dass er im Ausschuss noch mal behan- Der zweite Punkt. Der Staat verzichtet auf mindestens delt wurde. 1 Milliarde Euro. Der Schwarzmarkt macht viel, nur eins macht er nicht: Steuern zahlen. Meine Damen und Her- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ren, wenn wir den Schwarzmarkt zumindest reduzieren, Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. haben wir auch als Staat mehr Einnahmen. 23414 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Wieland Schinnenburg (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wollen keine kontrollierte Abgabe, sondern schlicht (C) der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Kön- eine Verringerung der Strafbarkeit. Wer freut sich darü- nen Sie mal auf das Thema eingehen?) ber? Der Schwarzmarkt. Das wollen wir nicht. Der dritte Punkt ist der wichtigste. Die Menschen, die Bei den Grünen ist es ein bisschen anders. Ihre Ziel- Sie auf den Schwarzmarkt schicken, schicken Sie dort- richtung ist richtig; aber der Titel ist sehr ehrlich und hin, wo es unkontrollierte Qualität gibt, bei der wir nicht verräterisch: Cannabiskontrollgesetz. wissen, wie viel THC da drin ist, nicht wissen, welche (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Beimengungen dabei sind. Ich verstehe es überhaupt DIE GRÜNEN]: Das ist doch Rumgeeiere!) nicht. Überall reden wir von Qualität. Nur hier schicken Sie die Menschen auf den Schwarzmarkt. Das passt näm- Und prompt ist dieses Gesetz voller Regulierungen, die lich überhaupt nicht zusammen, meine Damen und Her- die ganze Sache behindern. Wir wollen nicht die aus- ren. ufernden Berichtspflichten, die Sie einführen wollen. Sie schrecken die Menschen ab, mit Cannabis zu handeln (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten oder Cannabis zu produzieren. Wir wollen es den Men- der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- schen einfach machen, Cannabis zu produzieren. Wir SES 90/DIE GRÜNEN) halten auch das Verbot gentechnischer Herstellung für falsch. Wieso kann man Cannabis nicht auch gentech- Wir brauchen keinen Nutri-Score für Cannabis; aber nisch herstellen? eine gesicherte Qualität wäre doch schon erforderlich. Das, was Sie machen, ist weder christlich noch sozial. Kurz gesagt: Wir wollen kein Cannabiskontrollgesetz. Das muss geändert werden, meine Damen und Herren. Wir wollen ein Cannabisfreiheitsgesetz; dafür werden wir uns einsetzen, meine Damen und Herren. Wir brau- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) chen Drogenpolitik mit Herz und mit Verstand. Die FDP Deshalb haben wir als FDP Ihnen mit dem Antrag auf wird sich dafür einsetzen. Modellprojekte eine goldene Brücke gebaut. Sie wissen Vielen Dank, meine Damen und Herren. vielleicht: Wir sind dafür, sofort kontrollierte Abgabe an Erwachsene durchzuführen. Aber um hier eine Chance zu (Beifall bei der FDP – Dr. Kirsten Kappert- eröffnen, haben wir gesagt: Lassen Sie uns Modellpro- Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das jekte machen. – Wir sind bereit, unsere Auffassungen der glauben Sie doch selbst nicht! – Dr. Franziska wissenschaftlichen Überprüfung zu unterwerfen. Machen Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie das auch. Die SPD hat ja nun schon ein bisschen vom Also, weil Sie Cannabis auch gentechnisch her- stellen wollen, stimmen Sie nicht zu! Das ist (B) Baum der Erkenntnis gelutscht und im Februar beschlos- (D) sen, sie wollen auch Modellprojekte. – Gute Vorlage, echt spannend! Die FDP ist jetzt für gentech- Herr Heidenblut. Stimmen Sie unserem Antrag zu; dann nisch hergestelltes Cannabis!) können Sie Ihren Fraktionsbeschluss direkt umsetzen. – Vorschlag von mir. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Niema (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Movassat, Fraktion Die Linke. Es ist die letzte Chance für Sie und auch für die Union, (Beifall bei der LINKEN) noch halbwegs gesichtswahrend aus dieser Sackgasse herauszukommen, in der Sie stecken. Niema Movassat (DIE LINKE): Nun zu der Frage der Ausweitung der Produktion. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Cannabis Ungefähr 3 Tonnen dürfen pro Jahr in Deutschland her- ist kein Brokkoli.“ „Cannabis ist verboten, weil es illegal gestellt werden – noch nicht, aber demnächst wird es ist.“ – Auf diesem Niveau argumentieren Drogenbeauf- kommen. Wir haben allein beim Medizinalcannabis ein tragte der Bundesregierung, wenn sie gefragt werden, Vielfaches davon. Deshalb fordern wir als FDP eine dras- warum Cannabis verboten ist. Sie haben keine Argumen- tische Ausweitung der deutschen Produktion bis auf te mehr für ihre Verbotspolitik. Deshalb ist es Zeit für 100 Tonnen. Damit würden wir unseren Eigenbedarf eine neue Cannabispolitik in diesem Land. decken und noch Überschüsse haben. Die würden wir (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gerne exportieren. „Cannabis made in “ könnte NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk ein neues Markenzeichen deutscher Wirtschaft sein. Wir Heidenblut [SPD]) würden den Menschen auf der Welt helfen, und wir wür- den bei uns Arbeitsplätze schaffen. Das ist in der Corona- Für ein Ende der Verbotspolitik gibt es viele gute Argu- krise wichtiger denn je. Stimmen Sie unserem Antrag zu. mente. Ich möchte Ihnen heute drei Stück nennen: „Exportnation Deutschland für Cannabis“ ist eine gute Erstens. Wenn ich hier in meiner Tasche ein paar Zukunftsperspektive. Gramm Cannabis hätte, (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Hätte!) Meine Damen und Herren, Cannabispolitik verlangt dann wüsste ich nicht, ob das so heftig wirkt wie eine Herz, verlangt aber auch Verstand. Und deshalb können Flasche Schnaps oder so harmlos ist wie ein Radler. wir den Anträgen der Linken und der Grünen nicht zu- Denn bei einem Kauf auf dem Schwarzmarkt wissen stimmen. Die Linken machen es sich sehr einfach. Sie wir nicht, welchen THC-Gehalt wir bekommen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23415

Niema Movassat (A) (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Kaufen Sie Frau Ludwig, als Sie Ihr Amt als Drogenbeauftragte (C) den Schwachsinn überhaupt nicht! Das ist für angetreten haben, wollten Sie unvoreingenommen sein. Ihre Gesundheit das Beste!) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Ist sie doch!) Wir wissen nicht, ob da Blei oder Haarspray drin ist. Das Verbot gefährdet die Gesundheit der Konsumenten, weil Davon merkt man heute nichts mehr. Sie lehnen ja sogar sie nicht wissen, was sie auf dem Schwarzmarkt bekom- den Vorschlag ab, eine unabhängige Expertenkommis- men. sion einzusetzen. Ja, vor was haben Sie denn Angst? Dass die zu dem Schluss kommt, dass Ihre Verbotspolitik (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Einfach gar grober Unfug ist? nichts davon nehmen! Das ist am gesündesten!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Eine Legalisierung ist ein echter Beitrag zum Gesund- NIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Krauß heitsschutz. [CDU/CSU]: Die Erkenntnisse sind doch (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schon längst da! Fragen Sie einfach mal die NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Mediziner!) ten der SPD – Alexander Krauß [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie, Frau Ludwig, eine Präventionskam- Ich habe ein Hustenbonbon! Das ist gesund!) pagne gestartet. Ich finde es richtig, Jugendliche über Zweitens. Wir haben einen Artikel 2 Absatz 1 Grund- die Gefahren von Drogen aufzuklären. Aber Aufklärung gesetz, die Selbstbestimmung. Wir dürfen selbst über funktioniert nicht, wenn man den Menschen Angst unser Leben entscheiden. Deshalb darf man Zigaretten macht. Jährlich werden 12 000 Jugendliche im Zusam- rauchen – obwohl jedes Jahr 120 000 Menschen an den menhang mit illegalen Drogen verurteilt. Was soll das Folgen des Tabakkonsums sterben. An den Folgen von für eine Prävention sein? Cannabis ist bisher niemand gestorben – null Tote durch Cannabis. (Beifall bei der LINKEN) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ein Neustart in der Drogen- politik ist dringend erforderlich. Es braucht mehr Präven- Das Selbstbestimmungsgebot gebietet, Cannabis zu lega- tion und Hilfe bei Suchtproblemen statt Strafverfolgung. lisieren. Heute fließen 80 Prozent der Mittel im Bereich Drogen in Drittens. Das Cannabisverbot ist krachend gescheitert. die Kriminalitätsbekämpfung und nur 20 Prozent in Prä- Es verhindert nicht, dass Menschen Cannabis konsumie- vention und Hilfe, und das ist ein absurdes Missverhält- ren. In jedem Posemuckeldorf in Deutschland kriegen Sie nis. (B) Cannabis. Bis zu 4 Millionen Menschen konsumieren (D) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Cannabis. Wenn ein Verbot die Gesundheit gefährdet, Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ die Selbstbestimmung verletzt und dann noch nicht mal DIE GRÜNEN]) in der Praxis funktioniert, ja dann muss es logischerweise weg. Vor allem aber bedeutet Neustart in der Drogenpolitik, Cannabis endlich zu legalisieren, und zwar staatlich regu- (Beifall bei der LINKEN – Rudolf Henke liert mit klaren Anbau- und Verkaufsregeln. Deshalb wer- [CDU/CSU]: Und wie viele konsumieren den wir als Linke heute dem Gesetzentwurf der Grünen Alkohol?) zustimmen, auch wenn wir Kritik daran üben. Denn wir Meine Damen und Herren, Sie wenden ja ein, dass es als Linke wollen ein eher nicht profitorientiertes Modell Menschen gibt, die durch Cannabis Psychosen bekom- in Form von Cannabis Social Clubs. men. Weil es hier im Hause jedoch bisher keine Mehrheit für Erstens. Auch Alkohol kann Psychosen auslösen. eine Legalisierung von Cannabis gibt, haben wir als Lin- Doch wird Alkohol auch in der Politik gnadenlos ver- ke einen Antrag auf Entkriminalisierung gestellt. Wir harmlost, vor allem durch die CSU, die die Drogenbeauf- wollen damit eine Brücke bauen für alle, die zwar eine tragte stellt. andere Drogenpolitik wollen, aber noch nicht so weit (Stephan Pilsinger [CDU/CSU]: Das habe ich sind, für die Legalisierung zu sein. überhaupt nicht gesagt! Ich habe das Gegenteil Liebe SPD-Fraktion, Sie haben im Februar ein ganz gesagt!) gutes Positionspapier verabschiedet, in welchem Sie die Zweitens. Über 90 Prozent der Cannabiskonsumenten – Entkriminalisierung gefordert haben. In der Antwort auf über 90 Prozent! – haben keine Suchtprobleme. Die einen eine Kleine Anfrage von mir hat jetzt die Bundesregie- trinken ein Feierabendbier, die anderen rauchen einen rung gesagt, Sie würden die Forderungen in Ihrem Papier Feierabendjoint. Was ist das Problem? gar nicht mehr verfolgen. Sie können heute zeigen, dass Sie Ihr Positionspapier ernst nehmen, indem Sie unserem (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute Antrag zustimmen. Vogt [SPD] – Stephan Pilsinger [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört, was ich gesagt habe!) (Beifall bei der LINKEN) Drittens sage ich Ihnen: Wenn Menschen Suchtproble- Und Richtung FDP sage ich: Sie inszenieren sich ja als me haben, dann brauchen sie keine Bestrafung, sondern Legalisierungsbefürworter. Aber im Gesundheitsaus- dann brauchen sie Hilfe. schuss – das haben Sie heute auch wieder angekündigt – 23416 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Niema Movassat (A) haben Sie gegen unseren Antrag gestimmt. Sie können Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE (C) doch nicht ernsthaft wollen, dass Cannabiskonsumenten GRÜNEN): in diesem Land weiter bestraft werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrhunderten wird Hanf in Deutschland angebaut: als (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Baumaterial, für Seile, für Kleidung. Bereits Hildegard Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ von Bingen hat mit Cannabis behandelt. Cannabis ist ein DIE GRÜNEN]) Kulturgut mit Tradition. Cannabis wird, wie Sie alle wis- Meine Damen und Herren, Die Linke bringt heute sen, inzwischen auch wieder in der modernen Medizin einen weiteren Antrag zum Thema Cannabis und Führer- eingesetzt. Und in Kanada sowie in immer mehr US- schein ein. Ich hoffe, dass hierzu mehr Einigkeit im Hau- Bundesstaaten, darunter Kalifornien und Washington, se herrscht; denn hier hat sich wirklich eine völlig absur- wird Cannabis für den sogenannten Recreational Use, de Praxis entwickelt. also den Freizeitgebrauch, kontrolliert abgegeben. Es gibt die Evidenz; wir müssen nur mal über den eigenen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Tellerrand hinausschauen. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niemand von uns hier möchte bekiffte oder besoffene sowie des Abg. Dirk Heidenblut [SPD]) Autofahrer. Aber Cannabiskonsumenten können ihren Führerschein schon verlieren, obwohl sie überhaupt nicht Deutschland aber verpasst den Anschluss an diese fort- berauscht gefahren sind. schrittliche Entwicklung. Dabei haben wir heute und hier gute Voraussetzungen für eine kontrollierte Abgabe. Die- Hier gibt es im Wesentlichen zwei Probleme: se Chance sollten wir nutzen: für den Gesundheits- und Erstens ist der aktuelle THC-Grenzwert für die Teil- Jugendschutz, für die Wirtschaft und für die Entlastung nahme am Straßenverkehr so niedrig, dass er Tage nach von Polizei und Justiz. dem letzten Konsum noch überschritten werden kann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Christoph Ploß [CDU/CSU]: Zu Recht!) sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) obwohl wissenschaftlich bewiesen gar keine Rauschwir- In der Ukraine wurde vor einer Woche über Cannabis kung mehr vorliegt. Selbst der Deutsche Verkehrsge- als Medizin abgestimmt, in Neuseeland vor zwei Wochen richtstag und die Grenzwertkommission des Bundesver- über die Freigabe von Cannabis. Aus dem Trampelpfad, kehrsministeriums – beides nun wirklich keine Cannabis- den einst nur Pioniere beschritten haben, ist inzwischen Lobbyorganisationen – sagen: So geht es nicht weiter. eine Cannabisschnellstraße geworden. Deutschland aber (B) hat längst den Anschluss verpasst; es begnügt sich mit (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- einem Platz auf der Zuschauertribüne, gerne mal mit neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einer Flasche Bier in der Hand. Dabei wissen wir doch längst, dass diese krasse Ungleichbehandlung von Can- Zweitens kann die Fahrerlaubnis auch entzogen wer- nabis und Alkohol jeder wissenschaftlichen Grundlage den, wenn man mit Cannabis in der Tasche erwischt wird, entbehrt. ohne dass man überhaupt Auto fuhr. Ja, das ist in etwa so, als ob man mit ein paar Flaschen Bier spazieren geht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angehalten wird, einem der Führerschein weggenommen sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD] und wird und man dadurch möglicherweise auch noch seinen Dr. Andrew Ullmann [FDP]) Job verliert. Es ist Zeit, diese Ungerechtigkeiten endlich Die Union – wir haben es ja gerade in dem Vortrag zu beenden. gehört – braucht aber offensichtlich noch Nachhilfe. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Aber Sie wissen doch auch: Cannabis ist in Deutschland NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ganz einfach auf dem illegalen Markt erhältlich. Wer ten der SPD) Cannabis konsumieren möchte, kann das tun, ganz leicht, trotz Verbot. Aber auf dem Schwarzmarkt gibt es weder Wir als Linke sagen heute: Schluss mit der Kriminali- Jugend- noch Gesundheitsschutz. Auf dem Schwarz- sierung – für die Legalisierung von Cannabis. markt gibt es keine Möglichkeit, die Qualität von Gras Danke schön. oder Haschisch zu überprüfen. Die Dosierung von THC und CBD bleibt den Konsumierenden verborgen. Verun- (Beifall bei der LINKEN) reinigungen durch gefährliche Streckmittel wie Blei oder Glas erhöhen die gesundheitlichen Risiken. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Herr Kollege. – Es gibt auch noch andere und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Möglichkeiten außer Bier und Cannabis nachts oder der SPD – Alexander Krauß [CDU/CSU]: Ein- abends. fach die Hände davon lassen! Das ist das (Heiterkeit) Gesündeste!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert- Doch es gibt eine Lösung. Unser grünes Cannabiskon- Gonther, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. trollgesetz sorgt für echte Qualitätskontrollen, wirksamen Jugendschutz und greifbare Hilfsangebote für Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit problematischem Konsum. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23417

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (A) Niemand stirbt an pflanzlichem Cannabis. Anders der Union aus ideologischen Gründen weigern, einem (C) sieht das bei synthetischen Cannabinoiden aus, Gesetz zuzustimmen, das den Jugend- und Gesundheits- schutz in den Mittelpunkt stellt. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Genau!) die immer wieder als Ausweichmittel konsumiert wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Auch auf dem Schwarzmarkt wird Cannabis mit sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) synthetischen Cannabinoiden versetzt, und zwar ohne Es ist Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere das Wissen der Konsumierenden. Das ist gefährlich. Gesetze der Realität anzupassen. Seit Jahren ist klar: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Prohibition ist gescheitert. Die Prohibition schadet. sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Das Verbot von Cannabis ist nicht nur unverhältnismäßig, es ist gefährlich. Schauen Sie in den Evaluationsbericht zum Neue-psy- choaktive-Stoffe-Gesetz, da steht es schwarz auf weiß: (Niema Movassat [DIE LINKE]: Genau!) Prohibition schadet. Die Zauberwörter hier heißen doch: Und wenn Sie heute nicht zustimmen, dann – da bin ich „Schadensminimierung“ und „Harm Reduction“. Die ganz sicher – werden es unsere jüngeren Nachfolgerinnen Kriminalisierung aber verhindert den Jugendschutz. Sie und Nachfolger tun. Ich versichere Ihnen für Bündnis 90/ steht der Prävention im Weg. Das ist doch falsch. Das Die Grünen: Wir bleiben dran, bis sich hier die Vernunft kann man doch nicht wollen. durchsetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Einnahmen aus einer Cannabissteuer könnten wir für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bessere Prävention einsetzen. Steuereinnahmen und Ent- Alexander Krauß [CDU/CSU]: Schön wär’s, lastung von Polizei und Justiz bringen zusammen wenn es die Vernunft wäre! – Ulli Nissen geschätzt 2 Milliarden Euro jährlich. Das würde doch [SPD]: Wir kämpfen mit!) Sinn machen, oder? (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Was sind die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: jährlichen Mehrkosten für Krankenhausaufen- Vielen Dank, Frau Kollegin Kappert-Gonther. – Nach- thalte? Wie viel Geld ist das?) dem einige Rednerinnen und Redner hier die Situation genutzt haben, um für die Braukunst zu werben, möchte Aufklärung führt zu Eigenverantwortung. Der Bundes- ich darauf hinweisen: Es gibt nicht nur Bier, sondern auch tag darf kein Elfenbeinturm sein, in dem ignoriert wird, Wein. (B) wie groß die Bereitschaft unter den Menschen ist, sich zu (D) informieren und eigenverantwortlich weniger schädliche, (Beifall der Abg. Dr. Andrew Ullmann [FDP] weil kontrollierte, Angebote anzunehmen. Die Zeit ist und Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ reif für die kontrollierte Freigabe von Cannabis. DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nächster Redner ist mein schleswig-holsteinischer sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Kollege Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion. Vor fast genau zwei Jahren wurde in Kanada Cannabis (Beifall bei der CDU/CSU) legalisiert. Die Regelungen dort sind so nah an unserem grünen Cannabiskontrollgesetz, dass nicht auszuschlie- ßen ist, dass Justin Trudeau und seine Beraterinnen und Gero Storjohann (CDU/CSU): Berater ursprünglich mal einen Blick auf unseren Vor- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schlag geworfen haben. Kollegen! Die Grünen haben den Entwurf eines Canna- biskontrollgesetzes vorgelegt. Das haben Sie 2015 schon (Lachen des Abg. Karsten Hilse [AfD]) mal gemacht; der vorliegende Gesetzentwurf ist praktisch Dazu gehört auch die Begrenzung der Besitzmenge auf deckungsgleich. Damals ist Ihr Gesetzentwurf abgelehnt 30 Gramm. Es ist schon sehr erstaunlich, dass gerade die worden. Ich glaube nicht, dass Sie diesmal die Hoffnung FDP diese Menge halbieren möchte. Denn in Kanada haben, Zustimmung zu erfahren. zeigt sich: Die kontrollierte Abgabe ist ein Erfolg. Die (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ offiziellen Zahlen nach der Freigabe in Kanada zeigen, DIE GRÜNEN]: Das wird sich auch bei Ihnen dass sich die Altersgruppe 45 plus nun immer mal statt noch durchsetzen!) eines Feierabendbieres einen Feierabendjoint oder – weil tabakfrei – einen Cookie genehmigt. Es geht hauptsächlich um die Legalisierung von Can- nabis, aber auch um eine Änderung des § 24a Straßen- (Karsten Hilse [AfD]: Was?) verkehrsgesetzes mit Blick auf das Vorliegen einer Ord- Unter Minderjährigen aber – und das ist hochrelevant – nungswidrigkeit. In diesem Paragrafen wird die sinkt die Anzahl der Konsumentinnen und Konsumenten Promillegrenze für Alkohol geregelt – das wissen viel- durch den erschwerten Zugang zu Cannabis. Wir können leicht einige hier –, und damit möchte ich mich näher die Zahlen gerne gemeinsam auswerten; denn es werden beschäftigen. Der derzeitige analytische Grenzwert für immer falsche Dinge behauptet. Gerade bei den ärztli- Cannabis liegt bei 1,0 Nanogramm THC pro Milliliter chen Kolleginnen und Kollegen, unter anderem dem Kol- im Blutserum. Die Grünen schlagen in ihrem Gesetzent- legen Pilsinger, kann ich nicht verstehen, dass Sie sich in wurf vor, diesen Grenzwert nun auf 5,0 Nanogramm THC 23418 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Gero Storjohann (A) pro Milliliter im Blutserum zu erhöhen, also auf den fünf- (Niema Movassat [DIE LINKE]: Ja, MPU! Das (C) fachen Wert, ab dem dann eine Ordnungswidrigkeit vor- kostet 3 000 Euro!) liegen soll. Wenn Sie beim Autofahren alkoholisiert sind, dann haben Bei einer Legalisierung von Cannabis ist mit einer Sie sehr wohl die Chance, den Führerschein sofort zu erhöhten Fallzahl von Konsumenten zu rechnen; ich verlieren, und Sie möchten das angleichen. Bei anderen glaube nicht, dass die Zahl sinken wird. Daraus lässt Drogen reicht vielleicht auch einmaliger Konsum für eine sich für den Straßenverkehr mit hoher Wahrscheinlich- Entziehung der Fahrerlaubnis aus. keit folgern, dass sich somit auch die Fallzahlen der Auf- fälligkeiten durch Cannabis im Straßenverkehr erhöhen Ich möchte noch auf die Empfehlung des Deutschen werden. Die vorgeschlagene Änderung des § 24a StVG Verkehrsgerichtstages, wo ich auch schon einige Male und somit die Einführung eines Gefahrengrenzwerts von dabei war, von 2018 eingehen. Ein wesentlicher Punkt, 5 Nanogramm THC pro Milliliter im Blutserum ist daher der 2018 in einer Arbeitsgruppe festgestellt wurde, ist, abzulehnen, da er wissenschaftlich nicht begründet ist. dass die Fahrtauglichkeit erst ab einem THC-Wert von 3 Nanogramm pro Milliliter eingeschränkt ist; 1 Nano- Das Bundesverwaltungsgericht hat sich schon im Jahr gramm, 3 Nanogramm. Wir haben jetzt also vier Werte: 1, 2019 mit der Thematik beschäftigt und festgestellt, dass 3, 5 und 10. Deswegen ist es gut, dass die Grenzwertkom- bei gelegentlichem Cannabiskonsum die Möglichkeit mission beim Bundesministerium für Verkehr zu diesem einer Beeinträchtigung der Fahreignung bereits ab einer Thema im Dezember tagen wird. Die Grenzwertkommis- Konzentration von 1 Nanogramm pro Milliliter THC sion beschäftigt sich mit der Einführung von Gefahren- oder mehr im Blutserum des Betroffenen anzunehmen ist. grenzwerten im Straßenverkehr. Deren Empfehlung ist (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ für die Union Handlungsmaßstab. Daran werden wir DIE GRÜNEN]: Das ist sehr fraglich!) uns orientieren. 1 Nanogramm, 5 Nanogramm: Wir werden auch noch Den Gesetzentwurf der Grünen werden wir ablehnen. andere Werte hören. Den Antrag der Fraktion Die Linke, der hier erstmalig diskutiert wird, würden wir im Verkehrsausschuss gern Die Linken haben auch einen Antrag eingereicht, den detailliert beraten. wir erstmalig diskutieren. Sie möchten Cannabis und Alkohol gleichstellen, jedenfalls was den Führerschein- Herzlichen Dank. inhaber und die Führerscheininhaberin betrifft. Ein Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) zug der Fahrerlaubnis soll hier nicht allein aufgrund des festgestellten Konsums oder des widerrechtlichen Besit- (B) zes illegaler Drogen, und zwar nicht nur von Cannabis, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) sondern aller illegalen Drogen, erfolgen, sondern nur, Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. – Aus gege- wenn eine Abhängigkeitserkrankung diagnostiziert wur- benem Anlass, liebe Kolleginnen und Kollegen, weise de, wenn durch den Drogenkonsum eine konkrete ich auf Folgendes hin: Sollten Sie im Plenarsaal ange- Gefährdung des Straßenverkehrs verursacht wurde oder rufen werden und sich mit Ihrem Handy am Ohr aus wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr dem Plenarsaal entfernen, gilt auch dabei die Pflicht nach dem Straßenverkehrsgesetz begangen wurden. In zum Tragen des Mund- und Nasenschutzes. Mir ist jetzt der Fahrerlaubnis-Verordnung soll ergänzt werden, dass bei drei Fraktionen aufgefallen, dass dies versäumt wur- durch einen ein- oder mehrmaligen betäubungsmittel- de. Bitte beachten Sie, dass wir die Regeln, die wir uns rechtlichen Verstoß durch den Konsum von Cannabis selbst gegeben haben, auch dann einhalten, wenn wir es kein Eignungszweifel begründet wird. Bei jemandem, eilig haben. der im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt, soll hin- Als Nächster hat der Kollege Dr. Andrew Ullmann, sichtlich des Konsums von Cannabis erst eine Wirkung FDP-Fraktion, das Wort. angenommen werden, wenn ein Toleranzgrenzwert von 10 Nanogramm THC pro Milliliter im Blutserum vor- (Beifall bei der FDP) liegt. Auch für diese Vorschläge gibt es keine wissen- schaftliche Grundlage. Dr. Andrew Ullmann (FDP): (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist doch Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Unsinn! Natürlich!) Herr Pilsinger hat in seiner Eröffnungsrede gerade vieles aufgezählt, was er verbieten möchte. Damit bezog er sich Einen solchen Schritt werden wir massiv bei der Ver- auf den elementaren hippokratischen Grundsatz, den Pri- kehrssicherheit spüren; denn es wird zu mehr Unfällen mat, dem wir als Ärzte folgen. Dieser besagt: zuerst ein- kommen. mal nicht schaden. Es ist klar – das lernt jeder Mediziner (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist alles im Studium –: Drogen sind schädlich, sie sind schlecht. ins Blaue hinein!) Die Klassiker sind Tabak und Alkohol. Schon nach derzeitiger Rechtslage führt der wider- Ich habe andere Erfahrungen als Herr Pilsinger rechtliche Besitz von Betäubungsmitteln im Sinne des gemacht. Ich habe viel mehr Menschen gesehen, die an Betäubungsmittelgesetzes nicht unmittelbar zur Entzie- den Folgen von Alkohol- und Tabakkonsum erkrankt hung der Fahrerlaubnis, wie hier behauptet wird, sondern sind, als Menschen, die durch Cannabiskonsum geschä- nur zur Anordnung eines ärztlichen Gutachtens zur digt wurden. Cannabis ist deutlich harmloser; das muss Abklärung des Konsumverhaltens. man sich klarmachen. Die Zahlen sprechen hier eine ein- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23419

Dr. Andrew Ullmann (A) deutige Sprache. Ich kann den innerlichen Wunsch teil- Martina Stamm-Fibich (SPD): (C) weise verstehen, als Arzt – das ist nämlich einfach – alles Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- zu verbieten, was für den Patienten schädlich ist. gen! Wir haben jetzt schon sehr viel gehört. Fest steht: Die Verbotspolitik in Deutschland ist gescheitert. Des- Aber, meine Damen und Herren, bleiben wir doch mal halb nehmen wir von der SPD das Grundanliegen des realistisch. Wir wollen doch auch Spaß haben. Auch ich Gesetzentwurfes der Grünen und vor allem auch die möchte Spaß haben, und – um zu sagen: auch Wein ist Anträge der Linken und der FDP zum Anlass, hier etwas etwas ganz Nettes – ich genieße auch mal den Silvaner kontrovers zu diskutieren. aus meiner Heimatstadt Würzburg. Es geht um das Genießen: Durch Maß und Mitte wollen wir dieses Die negativen Auswirkungen des deutschen Betäu- Lebensgefühl gemeinsam finden. So funktioniert Selbst- bungsmittelrechts sind hier bereits sehr deutlich ange- bestimmtheit. sprochen geworden. Es ist ganz egal, ob man Staats- rechtsprofessoren, Kriminalbeamte oder Sozialarbeiter (Beifall bei der FDP sowie des Abg. zu diesem Thema befragt, das Urteil ist bis auf wenige Dr. Alexander Gauland [AfD]) Abweichungen immer das Gleiche: Verbote führen weder Moderne, liberale Drogenpolitik wird häufig verwech- zum Absinken des Cannabiskonsums der Jugendlichen selt mit: Wir geben alles frei, wir erlauben hier alles. – noch zu mehr Jugendschutz, nein, das Gegenteil ist der Wir müssen uns aber auch ehrlich machen; denn durch Fall. Die repressive Verbotspolitik führt zu Kriminalisie- Vorsicht und Abwägung können wir realpolitische Ent- rung und zu sozialer Ausgrenzung der Konsumenten. Das scheidungen treffen. Wichtig ist: Jede Droge kann abhän- kann doch keiner hier wollen. gig machen. Das ist keine Frage. Drogen sind unter- schiedlich gefährlich. Kinder und Jugendliche müssen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) geschützt sein, Drogenmissbrauchsprogramme sind Sie führt dazu, dass präventive Ansätze und Angebote wichtig. Doch, meine Damen und Herren, die Dosis zum Gesundheitsschutz im Sand verlaufen, weil sie von macht das Gift. dieser Zielgruppe aufgrund der drohenden Stigmatisie- Herr Pilsinger sprach von seinen Erfahrungen mit Can- rung gar nicht erst angenommen werden. Darüber hinaus nabiskonsumenten. Meine Erfahrungen sind eher positiv, zwingt dieser Ansatz die Konsumenten zum Kauf auf nicht nur im Hinblick auf die Verwendung von Medizi- dem Schwarzmarkt und damit zum Konsum von teils nalcannabis. Ich habe viele Freunde, die Cannabis konsu- gestreckten und wirklich gefährlichen Stoffen. mieren. Die haben keine Probleme damit. Sie können (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) ganz normal leben und arbeiten. Das Prinzip des Safer Use zur Minimierung der gesund- (B) Ich denke, jeder sollte selbstbestimmt entscheiden dür- (D) fen, ob er Cannabis, Tabak oder Alkohol konsumieren heitlichen Schäden wird so zur Unmöglichkeit. Abgese- will. Das müssen wir endlich mal erreichen; denn das hen davon fragt der Dealer natürlich nicht nach dem zeichnet unsere freie Gesellschaft aus. Alter. Nach meiner Vermutung kann er auch keine Schu- lung im Bereich der Prävention vorweisen und höchst- Wir müssen uns mal die Best Practices in anderen wahrscheinlich auch kein funktionierendes Sozialkon- Ländern anschauen und sollten durchaus so mutig sein, zept vorlegen. Deshalb ist alles, was wir diesbezüglich diese zu übernehmen. Ich wurde in Kalifornien geboren. hier hören, einfach nicht zielführend. Kalifornien ist für Cannabiskonsum geradezu der optima- le Staat. Cannabiskonsum ist dort wenig kompliziert, Man kann es kurz zusammenfassen: Wer heute noch weil er legalisiert und freigegeben wurde. glaubt, dass eine Drogenpolitik, die breite Gesellschafts- schichten kriminalisiert, zum Erfolg führt, der befindet Meine Damen und Herren, Freiheit und Verantwortung sich auf dem Holzweg. sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Seien wir offen! Evaluieren wir Cannabiskonsum; denn so geht Verant- (Beifall bei der SPD) wortung. Wir müssen raus aus der Verbotspolitik. Holen Wir sind gezwungen, zu handeln und für einen breiten wir die Cannabiskonsumenten aus der Illegalität heraus. Bevölkerungsschutz zu sorgen, vor allem mit Blick auf Ich freue mich, dass Herr Heidenblut die Modellprojekte die vielen jungen Menschen; denn so, wie die Situation auch positiv bewertet hat. Seien Sie mutig, und stimmen jetzt ist, kann und darf sie nicht bleiben. Sie unseren Anträgen zu.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der FDP) Frau Kollegin, kann ich Sie ganz kurz unterbrechen?

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Martina Stamm-Fibich (SPD): Vielen Dank, Herr Kollege Ullmann. – Ich empfehle Ja. übrigens auch meine schöne Scheurebe aus Alzey. (Heiterkeit) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege Gauland, ich würde Ihnen empfehlen, Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Stamm- wenn Sie den Plenarsaal betreten, die Maske aufzusetzen. Fibich, SPD-Fraktion. Ich nehme an, Sie waren geistig in dem Moment woan- (Beifall bei der SPD) ders, deshalb haben Sie das vergessen. 23420 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist er Das ist eigentlich banal. Aber man muss das in dieser (C) immer!) Debatte leider aussprechen, weil das offensichtlich noch nicht bei allen angekommen ist. Insofern ermahne ich Sie jetzt nur, es gibt keinen Ord- nungsruf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Quatsch! Das Frau Kollegin, Sie haben weiter das Wort. habe ich in meiner Rede klar gesagt!) – Nein, das haben Sie nicht. Martina Stamm-Fibich (SPD): Danke. – Wir als SPD-Bundestagsfraktion fordern des- (Niema Movassat [DIE LINKE]: Doch!) halb Modellversuche, durch die wir eine bessere Evidenz Je früher, häufiger und intensiver Cannabis konsumiert zu den unterschiedlichen Ansätzen bezüglich Vertrieb, wird, desto größer ist die Gefahr einer Depression, Psy- Abgabe, Prävention sowie Jugend- und Gesundheits- chose und Schädigung der Gedächtnisleistung. schutz bekommen können. Zu diesen Modellprojekten gibt es auch in bayerischen Städten Stadtratsbeschlüsse. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das habe ich Mit CSU-Stimmen wurde beschlossen, sich diesen doch gesagt!) Modellprojekten zu öffnen. Die Kommunen denken Mitunter ist Cannabis auch ein Einstieg in eine Drogen- also schon darüber nach, wie man so etwas umsetzen karriere. kann. Vielleicht ist das für einige von Ihnen ein Denkan- stoß. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Dr. Kirsten Kappert- Die Umsetzung des Jugendschutzes ist der Grund, aus Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – dem wir mit dem Gesetzentwurf der Grünen ein wenig Niema Movassat [DIE LINKE]: Unsinn!) hadern. Ich muss ganz offen sagen: Wie sollen wir Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir hatten zu gewährleisten, wenn wir den Eigenanbau zulassen, dass diesem Thema vor zwei Jahren eine Anhörung, in der die Jugendliche nicht an die Pflanzen kommen? Offen ist Bundesärztekammer vertreten war. Sie warnt uns aus- auch, wie die in Ihrem Gesetzentwurf vorgeschlagene drücklich, der medizinische Sachverstand in Deutschland Höchstbesitzmenge von 30 Gramm mit den geplanten warnt uns ausdrücklich, diese Anträge von Linken, Grü- Vorschriften zum Eigenanbau zusammengebracht wer- nen und FDP anzunehmen, weil der Drogenkonsum ver- den soll; denn eine normale Pflanze bringt, wenn sie harmlost wird. Die Bundesärztekammer sagt uns, die einigermaßen gut wächst, 30 Gramm. Bei drei Pflanzen Zahl der Konsumenten würde steigen. Wenn wir diese sind wir dann schon weit über dem, was Sie als Höchst- Anträge annähmen, gäbe es mehr medizinischen Behand- menge für den erlaubten privaten Besitz in Ihrem Gesetz- (B) lungsbedarf. (D) entwurf vorsehen. Somit ist diese Mengenangabe aus unserer Sicht ein Feigenblatt. (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, weniger! Guckt doch (Zuruf von der AfD) nach Kanada! Weniger!) Diesen Widerspruch nicht aufzulösen und stattdessen zu – Weil die Grünen sagen, man möge über den Tellerrand schreiben, das BMG solle sich damit im Detail im Rah- schauen: Die Bundesärztekammer hat das gemacht. Sie men einer Rechtsverordnung auseinandersetzen, ist für hat nach Colorado geschaut. Dort hat sich nach der Lega- uns ungenügend. lisierung innerhalb von zwei Jahren die Zahl der behand- Wir als SPD sind grundsätzlich der Meinung: Die lungsbedürftigen Fälle fast verdoppelt. Die Zahl der Stoßrichtung dieser Debatte ist vollkommen richtig; Behandlungsfälle im Krankenhaus hat sich fast verdop- aber Entscheidungen über die Abgabe von Cannabis pelt. Die Drogenpolitik, die Sie vorhaben, würde dazu und den Eigenanbau sollen mit Erfahrungen untermauert führen, dass wesentlich mehr Menschen erkranken. werden. Vor allem soll Cannabis kontrolliert an die Grup- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – pen abgegeben werden, die ihn haben möchten. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Vielen Dank. DIE GRÜNEN]: Beides falsch!) Deswegen meine Bitte: Hören Sie auf den medizinischen (Beifall bei der SPD) Sachverstand, und hören Sie nicht auf die Drogendealer! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der unglaublich! Unverschämtheit! Das ist so eine Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion. Frechheit! Ist Kanada ein Drogendealer, oder (Beifall bei der CDU/CSU) was?) Jetzt haben wir die Argumente gehört: Alle kiffen Alexander Krauß (CDU/CSU): doch; überall wird gekifft; an jeder Ecke gibt es was. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Das mag für die Parteijugend der Linken und der Grünen ren! Wissenschaftlich steht außer Frage: Cannabis ist der Regelfall sein. Aber ich kann einmal sagen: Für die schädlich für die Gesundheit. Mehrzahl der jungen Leute in diesem Land ist es das nicht. Neun von zehn Kindern und Jugendlichen im Alter (Niema Movassat [DIE LINKE]: Kaffee auch!) von 12 bis 17 Jahren haben mit Cannabis nichts am Hut, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23421

Alexander Krauß (A) wissen, dass man von Drogen die Hände lässt. Die große droge, um sozusagen auf härtere Drogen wie Heroin (C) Zahl der jungen Menschen ist also vernünftig; ich bin umzusteigen, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dankbar dafür, dass sie klüger sind als manche hier im nicht haltbar ist. Haus. Sind Sie bereit, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen, oder wollen Sie weiterhin irgendwelchen Unsinn hier erzählen? Zum zweiten Argument. Sie sagen: Obwohl Cannabis seit Jahren verboten ist, gibt es weiterhin Drogenkonsu- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- menten; also müsse man es legalisieren. – Ja, obwohl neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Cannabis seit Jahren verboten ist, gibt es weiterhin Kon- GRÜNEN) sumenten. Aber, Entschuldigung: Seit Menschengeden- ken ist Mord verboten – seit Kain und Abel gibt es ihn Alexander Krauß (CDU/CSU): trotzdem. Ich unterhalte mich sehr gern mit Wissenschaftlern, (Zurufe: Oh!) auch weil sie ein Studium haben, mit den Leuten, die in den Drogenkliniken arbeiten. Das kann ich jedem von Und in den Städten ist es verboten, schneller als fünfzig Ihnen nur empfehlen. zu fahren – trotzdem passiert das jeden Tag in zig Fällen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ulli Nissen [SPD]: Was ist das für ein Ver- gleich?) Fragen Sie die einmal, wo die Drogenkarrieren begonnen haben! Es kam noch nie jemand von Ihnen auf die Idee – obwohl es im Verkehrsbereich um wesentlich mehr Fälle geht –, (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ zu sagen: Lasst die Leute doch einfach fahren, wir ent- DIE GRÜNEN]: Die Mehrheit der Drogenme- fernen die ganzen Verkehrsschilder, dadurch werden es diziner ist für die kontrollierte Abgabe!) weniger Raser. Niemand käme auf die Idee! Im Fall von Sprechen Sie einmal mit den Leuten, die dann diese Men- Cannabis tun Sie so, als ob das besser wäre. schen vor sich haben, etwa einen 28-Jährigen oder einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 30-Jährigen, und verfolgen Sie den Konsum zehn Jahre zurück! Wir hatten im Sächsischen Landtag eine Kollegin Wenn man ein Verbotsschild wegnimmt, verhalten sich der Linkspartei, die mit 18 in den Landtag gewählt wor- natürlich mehr Leute so. Wenn man leichter an Drogen den war, Immunität genoss durch ihr Mandat. Sie war der herankommt, dann wird logischerweise mehr konsu- erste Fall, dass eine junge Frau das Gefühl hatte, sie miert; das liegt in der Natur der Sache. Natürlich – das (B) müsste sich neben Eisenbahnschienen bewegen. Es war (D) sagt uns auch die Bundesärztekammer – würde eine unklar, ob man sie für zurechnungsfähig erklären kann Legalisierung dazu führen, dass der Konsum von Jugend- oder nicht. Um diese Leute, wenn die 30 Jahre alt sind, lichen steigt; denn ein Verbot ist auch ein Stoppzeichen kümmern Sie sich dann nicht mehr, die fallen dann bei für junge Leute, dass sie wissen: Das macht man nicht, Ihnen durchs Netz, sind Ihnen dann egal. Ich finde, dass das schädigt die Gesundheit. auch diese Menschen, die mit Einstiegsdrogen in diesem Bereich angefangen haben und dann zu härteren Drogen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gekommen sind, es verdient haben, dass man ihnen wei- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? terhilft. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Natürlich soll Alexander Krauß (CDU/CSU): man denen helfen! Ich habe nichts anderes ge- Ja, bitte schön. sagt!) Also schauen Sie sich die Realität an, schauen Sie sich die Niema Movassat (DIE LINKE): Lebensläufe von diesen Drogenkranken an! Gehen Sie Herr Kollege Krauß, danke, dass Sie die Zwischen- bitte einmal in die Drogenkliniken; dort werden Sie hau- frage zulassen. fenweise Fälle finden, wo Cannabis die Einstiegsdroge Sie haben jetzt viele Punkte genannt, zu denen ich war. etwas sagen könnte. Einen Punkt kann ich hier wirklich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nicht stehen lassen, weil er einfach wissenschaftlich Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ falsch ist. Sie haben behauptet, Cannabis sei eine Ein- DIE GRÜNEN]: Es wird auch nicht richtig, stiegsdroge. Das ist wissenschaftlich vielfältig widerlegt. wenn man es wiederholt!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- – Lassen Sie mich fortfahren! – Wir brauchen also wei- SES 90/DIE GRÜNEN) terhin klare Stoppzeichen, damit junge Menschen nicht in Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei- diesen Drogensumpf absinken, und dafür sind Verbote dung von 1994 zu Cannabis gesagt, dass die These der ganz gut geeignet. Einstiegsdroge in der wissenschaftlichen Fachwelt über- Das dritte Argument, das wir heute gehört haben: Wird wiegend abgelehnt wird. Die Studie von Dr. Dieter es legal, gibt es keinen Schwarzmarkt mehr. – Auch hier Kleiber, die der damalige Bundesgesundheitsminister kann ich nur sagen: Ihr könnt an dem, was in Kanada Seehofer, CSU, in Auftrag gegeben hatte, kam 1998 zu passiert ist, nachverfolgen, ob das stimmt oder nicht; dem Schluss, dass die These, Cannabis sei eine Einstiegs- die kanadische Regierung hat ja an der Gesundheit ihrer 23422 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Alexander Krauß (A) Bürger herumexperimentiert und Cannabis legalisiert. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Ich bin noch (C) Nicht einmal jeder dritte Konsument bezog Cannabis jung!) ausschließlich aus legalen Quellen. Die große Mehrzahl – Sie sind fein raus, Herr Movassat, keine Angst! kauft also weiterhin auf dem Schwarzmarkt. Acht von neun Tütchen, kann man sagen, werden weiterhin auf Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Innenpolitiker dem Schwarzmarkt gekauft. Die Vorstellung, es wird und als ehemaliger Polizeibeamter interessiert mich in dann alles legal, ist in Kanada mit Sicherheit nicht einge- dieser Frage natürlich auch, was die gegenwärtige Situa- troffen, weil die Drogendealer den Preis einfach ein biss- tion für unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten chen gesenkt haben. bedeutet; die sind nämlich zum allergrößten Teil keine Fans davon, wegen Kleinstdelikten von ihrer echten und Auch die Illusion, es gibt dann ein sauberes Cannabis, eigentlichen Arbeit abgehalten zu werden. ist natürlich unsinnig. Also, Entschuldigung, es gibt doch nicht nur die Wahl zwischen schädlich und schädlicher, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- sondern die Entscheidung sollte doch sein: Muss ich KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- überhaupt etwas nehmen, was schädlich ist? Da kann NEN) ich nur sagen: Man muss überhaupt nichts Schädliches Sie müssen für jeden Fund, egal ob es 2 Kilogramm nehmen. Kokain sind oder 0,5 Gramm Marihuana, eine Anzeige ( [DIE LINKE]: Alkoholverbot schreiben, auf die dann überwiegend, im Fall von Mari- sofort!) huana, die Einstellung des Verfahrens folgt. Auf Deutsch heißt das, sie haben für den Papierkorb gearbeitet. Ich Cannabis ist weder in Reinform noch mit irgendwelchen denke, jeder halbwegs wache Mensch kann sich die Moti- Zumischungen gesund. Deswegen Hände weg davon, vation eines Polizeibeamten oder einer Polizeibeamtin überhaupt nichts davon nehmen! vorstellen, diese Anzeige zu schreiben. Ich musste selber Dutzende davon schreiben und erinnere mich mit (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Schrecken daran. DIE GRÜNEN]: Ein Cannabiskontrollgesetz ist doch keine Verpflichtung, Cannabis zu neh- Alle im Haus hier wissen, mit welchen Herausforde- men!) rungen unsere Polizeien zu kämpfen haben. Wir haben in den letzten Jahren massiv investiert in die, die uns Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen beschützen. Mehr Personal, bessere Ausrüstung, höhere kein Konjunkturprogramm für Drogendealer. Cannabis Besoldung usw., das haben wir nicht gemacht, damit sie gehört weiterhin verboten, weil es der Gesundheit scha- erwachsene Menschen, die Cannabis konsumieren, mit det. (B) Papierkram überschütten. Bei Alkohol machen wir das (D) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ja auch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU – Kersten Steinke (Beifall bei Abgeordneten der SPD) [DIE LINKE]: Schwer zu ertragen!) Wenn die Strafverfolgung wenigstens zu weniger Dro- genkonsum geführt hätte – das wurde hier schon mehr- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: fach deutlich gemacht –, würde es diese Debatte heute gar Vielen Dank, Alexander Krauß. – Der nächste Redner nicht brauchen. für die SPD-Fraktion ist der Kollege Uli Grötsch. Die Kriminalisierung von Konsumenten hält die Hälfte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aller Strafrechtsprofessoren in Deutschland für unver- hältnismäßig und falsch. In der Bevölkerung sieht das nicht anders aus: Sechs von zehn Menschen sind laut Uli Grötsch (SPD): Infratest dimap für eine Entkriminalisierung des Besitzes Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und von Eigenbedarfsmengen. Ich möchte – das sage ich Kollegen! Debatten um die Cannabispolitik verlaufen Ihnen – nicht wissen, wie viele junge Menschen keine sehr oft emotional. Ein jeder darf natürlich seine eigene guten Polizisten, keine guten Lehrer, keine gerechten Meinung haben, aber, Herr Krauß, dass Sie hier den Can- Staatsanwälte werden konnten, wie vielen jungen Men- nabiskonsum mit Mord vergleichen, das halte ich schon schen der Zugang zu Berufsfeldern verwehrt blieb, in für sehr, sehr abwegig und abstrus. Die Beispiele, die Sie denen sie Großes auch für dieses Land hätten leisten hier aufgeführt haben, gehen meiner Meinung nach an können, nur weil sie irgendwann in ihrer Jugend mal dem, worüber wir heute zu debattieren haben, ganz stark mit ein bisschen Gras erwischt wurden. vorbei. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe in Vorbereitung auf die heutige Debatte gele- der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das sen, dass es vor allem – mit 48 Prozent übrigens auch ist doch Unsinn!) nur – Herren ab 65 sind, die die Legalisierung von Can- Deshalb plädieren wir als SPD-Bundestagsfraktion für nabis ablehnen. Ich nehme hier heute zur Kenntnis, dass das, was die Vorrednerinnen und Vorredner aus meiner das auf den Deutschen Bundestag nicht zutrifft; weil es Fraktion schon gesagt haben. heute, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ten- denziell die etwas älteren Herren waren, die pro Legali- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Drittel aller sierung waren, und es die jüngeren Herren waren, die das Rauschgiftdelikte betreffen Cannabis. Wenn diese zum pauschal abgelehnt haben. größten Teil wegfallen würden, würden wir Geld in Mil- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23423

Uli Grötsch (A) liardenhöhe sparen, das gerne direkt in die Prävention Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) fließen könnte. Das könnte auch ein erster Schritt sein, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des um die Polizeien um in diesem Bereich gebundene Res- Kollegen Lenkert? sourcen zu entlasten, damit sie sich auf die großen Fische, auf die Händlerstrukturen in der organisierten Kriminali- tät konzentrieren könnten. Da bin ich mir etwa mit dem Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Bund Deutscher Kriminalbeamten, der das genauso sieht, Nein, die lasse ich jetzt nicht zu. völlig einig. Am Ende könnten wir so größere Erfolge bei Viele meiner Vorredner haben völlig zu Recht darauf der Drogenbekämpfung feiern als mit dem jetzigen Status hingewiesen, welche Folgen Cannabiskonsum haben quo. Dafür ist es notwendig, die ideologischen Scheu- kann: Es kommt zu Psychosen. Die Leistungsfähigkeit klappen abzulegen und unserem Vorschlag zu folgen. des Gehirns nimmt ab. Es kommt dort häufig zu irrepa- rablen Schäden. Vielen Dank. (Zuruf von der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Wenn jemand Cannabis konsumiert, dann wird er mögli- cherweise dauerhaft abhängig. Cannabiskonsum ist der Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Einstieg in das harte Drogengeschäft. Wir kommen zum letzten Redner zu diesem Tagesord- nungspunkt. Das ist der Kollege Dr. Christoph Ploß für (Widerspruch des Abg. Niema Movassat [DIE die CDU/CSU-Fraktion. LINKE] – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Lassen Sie doch gut sein da drü- (Beifall bei der CDU/CSU) ben!) Bei über 10 Prozent der Cannabiskonsumenten besteht eine Abhängigkeit, es folgen Suchttherapie und bei vielen Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): schwerwiegende therapeutische Behandlungen. Das Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! heißt, in einer Schulklasse mit 30 Schülern hätten wir, Oktober 2020 in Deutschland: Die Coronapandemie wenn alle Cannabis konsumierten, bei drei Schülern diese erreicht ihren Höhepunkt. Wir haben so viele Neuinfek- schwerwiegenden Folgen zu beobachten. Das ist etwas, tionen wie noch nie. Viele Unternehmer fragen sich: Wie was wir als CDU/CSU-Fraktion unbedingt verhindern geht es mit unseren Firmen weiter? Viele Arbeitnehmer wollen. Deswegen werden wir den Weg, den Sie hier fragen sich: Ist mein Arbeitsplatz noch sicher? Viele aufzeigen, auch nicht gehen. (B) Soloselbstständige fragen sich: Wie sieht meine Zukunft (D) aus? Und was macht die Partei Die Linke? Sie sagt, das (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. wichtigste Thema sei in diesen Tagen die Gleichstellung Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ von cannabis- und alkoholkonsumierenden Autofahrerin- DIE GRÜNEN]) nen und Autofahrern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt sagen einige – Sie rufen das gerade auch wieder hinein –, wenn man (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das kommt Cannabiskonsum legalisieren würde, würde er sogar von den Grünen! – Uli Grötsch [SPD]: Hä?) abnehmen, weil er legal ist. Das Beispiel Kanada zeigt Sie haben natürlich das Recht, genauso wie die Kollegin- doch das genaue Gegenteil. Dort ist die Zahl der Konsu- nen und Kollegen von den Grünen, dieses Thema in die- menten um über 50 Prozent gestiegen. sen Tagen auf die Tagesordnung zu setzen. Ich glaube (Dirk Heidenblut [SPD]: Nicht bei den Jun- aber, die meisten Menschen in unserem Land bewegt gen!) im Moment etwas anderes, nämlich die Frage: Wie kann unser Leben in den nächsten Monaten einigermaßen Das zeigen alle Statistiken und Zahlen. normalisiert werden? Wie können wir die nächsten (Niema Movassat [DIE LINKE]: Auch das Wochen und Monate im harten Coronawinter überste- stimmt so nicht!) hen? Deswegen kann es für uns nicht der richtige Weg sein, Als CDU/CSU-Fraktion wollen wir auf Ihre Punkte Cannabis zu legalisieren. aber natürlich gerne eingehen. Das ist Ihr gutes Recht von den Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- nen. Sie sagen, Cannabis solle legalisiert werden, das sei Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: alles nicht so schlimm. Wir hören gerade bei Ihnen von Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer den Linken sogar heraus, im Straßenverkehr solle nicht Zwischenfrage von der Kollegin Dr. Kirsten Kappert- zu hart kontrolliert werden, das sei alles nicht so schlimm Gonther. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir sind schon (Niema Movassat [DIE LINKE]: Nein! Faire bei Mitternacht bei unserer Tagesordnung!) Werte wie in anderen Ländern!)

– lieber Kollege, jetzt bin ich dran –, man könne in Zu- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): kunft vielleicht noch einen Joint rauchen, bevor man sich Nein, danke. Wir hatten, glaube ich, schon genügend ins Auto setzt. Austausch. 23424 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Christoph Ploß (A) Jetzt diskutieren wir hier in dieser Debatte auch darü- senschaftliche Grundlage stellen – Verfahren im Arznei- (C) ber, ob es vielleicht in Ordnung sei, Cannabis zu konsu- mittelmarktneuordnungsgesetz zur Nutzenbewertung mieren und sich danach ins Auto zu setzen. Seit Jahren und Preisfindung anwenden, Anwendungssicherheit ver- sinkt auch dank der Initiativen gerade aus der Unions- bessern und Krankenkassen entlasten“. Der Ausschuss fraktion die Zahl der Verkehrstoten. 3 000 Verkehrstote empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung gab es im Jahr 2019. Das sind immer noch 3 000 Ver- auf Drucksache 19/10370, den Antrag der Fraktion der kehrstote zu viel. Wir wollen diese Zahl weiter reduzieren AfD auf Drucksache 19/8278 abzulehnen. Wer ist für und unser Ziel, die Vision Zero, erreichen. Aber das wer- diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Das den wir doch nicht mit Ihren Anträgen schaffen, in denen sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Gegenpro- Sie sagen, wenn man Bier trinken und danach Auto fah- be! – Die AfD stimmt gegen die Beschlussempfehlung. ren dürfe, dann solle man auch einen Joint rauchen kön- Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung des nen. Diese Logik erschließt sich mir nicht. Wir müssen Ausschusses ist damit angenommen. doch stattdessen eher darüber diskutieren, ob wir nicht auch im Straßenverkehr zu einer Nulltoleranzstrategie Tagesordnungspunkt 12 c. Beschlussempfehlung des übergehen, damit wir die Zahl der Verkehrstoten weiter Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion reduzieren. Die Linke mit dem Titel „Gesundheitsschutz statt Straf- Meine Damen und Herren, dann möchte ich für einen verfolgung – Für einen progressiven Umgang mit Canna- Weg werben, den Daniela Ludwig als Drogenbeauftragte biskonsum“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- in den vergangenen Monaten aufgezeigt hat, nämlich schlussempfehlung auf Drucksache 19/13098, den dass es viel besser ist, über Prävention den Menschen Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/832 zu zeigen, welche Folgen der Cannabiskonsum hat, und abzulehnen. Wer ist für diese Empfehlung des Ausschus- dafür gerade die Bereiche Social Media und Internet zu ses? – Das sind AfD, FDP, CDU/CSU und SPD. Gegen- verwenden; denn dort sind gerade die Jüngeren viel häu- probe! – Linke und Grüne. Enthaltungen? – Keine. Die figer unterwegs. Deswegen kann ich die Kampagnen, die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. in den vergangenen Wochen von Daniela Ludwig gest- artet wurden, mit Nachdruck unterstützen. Tagesordnungspunkt 12 d. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 19/17612 an die in Ich fasse zusammen. Wir werden Ihre Anträge ableh- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- nen. Wir werden nicht den Weg der Legalisierung gehen; gen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktio- denn er bedeutet unsägliches Leid, er bedeutet, dass es zu nen CDU/CSU und SPD möchten Federführung beim Abhängigkeiten kommt, dass es Therapien geben muss, Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Die dass viele Menschen darunter leiden. Wir werden statt- (B) Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus- (D) dessen den Weg der Prävention einschlagen. Das ist der schuss für Recht und Verbraucherschutz. deutlich bessere. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir stimmen zuerst über den Wunsch der Linken ab. (Beifall bei der CDU/CSU) Wer ist dafür, dass die Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz liegt, wie Die Linke das vorschlägt? – Das sind die Fraktion Die Linke und die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Grünen. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen. Vielen Dank, Herr Kollege Ploß. – Damit schließe ich Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag der die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Linken ist damit abgelehnt. Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir demnächst die Wahlen schlie- Wir stimmen ab über den Überweisungsvorschlag der ßen werden. Wer noch nicht seine Stimme abgegeben hat, Fraktionen CDU/CSU und SPD: Federführung beim möge sich bitte zur Stimmabgabe in die Westlobby bege- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Wer ben. stimmt dafür? – Das sind CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Kei- Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim- ne. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. mung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes. Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der Frak- Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be- tion der FDP auf Drucksache 19/23691 mit dem Titel schlussempfehlung auf Drucksache 19/23606, den Ge- „Cannabis-Modellprojekte ermöglichen“. Wer stimmt setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf für diesen Antrag der FDP? – Die FDP, die Grünen, die Drucksache 19/819 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die Linken. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- AfD. Enthaltungen? – Keine. Der Antrag der FDP ist chen. – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. damit ebenfalls abgelehnt. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und AfD. Ent- haltungen? – FDP. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag der Frak- Beratung abgelehnt. Es entfällt nach unserer Geschäfts- tion der FDP auf Drucksache 19/23690 mit dem Titel ordnung eine weitere Beratung. „Medizinalcannabis-Anbau zum Export ermöglichen“. Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des Wer stimmt für diesen Antrag? – FDP und Grüne. Wer Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und AfD. Enthaltun- der AfD mit dem Titel „Medizinalcannabis auf eine wis- gen? – Die Linke. Der Antrag ist damit abgelehnt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23425

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 p und die Rechtsanwaltsvergütungsrechts (Kosten- (C) Zusatzpunkte 8 a bis 8 h auf. Es geht dabei um Über- rechtsänderungsgesetz 2021 – KostRÄG weisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. 2021) Wir kommen zuerst zu den unstrittigen Überweisun- Drucksache 19/23484 gen. Das sind die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 o und Überweisungsvorschlag: die Zusatzpunkte 8 a bis 8h: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO 34 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Roman Johannes Reusch, Volker Münz, f) Erste Beratung des von der Bundesregierung Stephan Brandner, weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu und der Fraktion der AfD eingebrachten Ent- dem Übereinkommen vom 5. Mai 2020 wurfs eines Gesetzes über die Grundsätze zur Beendigung bilateraler Investitions- zur Ablösung der Staatsleistungen an schutzverträge zwischen den Mitglied- Religionsgesellschaften (Staatsleistungs- staaten der Europäischen Union ablösungsgesetz – StAblG) Drucksache 19/23485

Drucksache 19/19649 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von den Abgeordneten g) Erste Beratung des von der Bundesregierung Dr. Alexander S. Neu, Heike Hänsel, Gökay eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Akbulut, weiteren Abgeordneten und der Durchführung der Verordnung (EU) Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- 2019/1148 des Europäischen Parlaments wurfs eines Gesetzes zur Änderung des und des Rates vom 20. Juni 2019 über Grundgesetzes und des Bundesverfas- die Vermarktung und Verwendung von sungsgerichtsgesetzes – Einführung eines Ausgangsstoffen für Explosivstoffe, zur Verfahrens zur rechtlichen Überprüfung Änderung der Verordnung (EG) Nr. von Beschlüssen des Deutschen Bundesta- 1907/2006 und zur Aufhebung der Verord- ges und Eilentscheidungen der Bundesre- nung (EU) Nr. 98/2013 gierung zur Entsendung der Bundeswehr Drucksache 19/23565 ins Ausland (B) Überweisungsvorschlag: (D) Drucksache 19/22726 Ausschuss für Inneres und Heimat Überweisungsvorschlag: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Auswärtiger Ausschuss Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Ausschuss für Inneres und Heimat Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne- Verteidigungsausschuss ter und der Fraktion DIE LINKE Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Lebenslangen Bindungszwang an private c) Erste Beratung des von der Bundesregierung Krankenversicherungen abschaffen eingebrachten Entwurfs eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel- Drucksache 19/14371 gesetzes Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Drucksache 19/23159 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Gesundheit i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise d) Erste Beratung des von der Bundesregierung Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anpassung der Ergänzungszuweisungen des Bundes nach § 11 Absatz 4 des Finanz- Aktive Nutzungspflicht des besonderen ausgleichsgesetzes und zur Beteiligung des elektronischen Anwaltspostfaches weiter Bundes an den flüchtlingsbezogenen Kos- zurückstellen ten der Länder Drucksache 19/23153

Drucksache 19/23481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen j) Beratung des Antrags der Abgeordneten e) Erste Beratung des von der Bundesregierung Martin Erwin Renner, Marc Bernhard, Petr eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bystron, weiterer Abgeordneter und der Änderung des Justizkosten- und des Fraktion der AfD 23426 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Einsetzung einer Enquetekommission – Überweisungsvorschlag: (C) Für eine neue Rundfunkordnung Finanzausschuss (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Drucksache 19/23728 ZP 8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Konstantin Kuhle, Roman Müller-Böhm, Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Recht und Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar), wei- Verbraucherschutz teren Abgeordneten und der Fraktion der k) Beratung des Antrags der Abgeordneten FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Franziska Gminder, Marc Bernhard, Jürgen zur Anpassung des aktiven Wahlrechts Braun, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Wahlalteranpassungsgesetz) tion der AfD Drucksache 19/23687

Neuanlage von Hecken als Bestandteile Überweisungsvorschlag: von modernen Agroforstsystemen fördern Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Drucksache 19/23713 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Katja Keul, Margarete Bause, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Peter Felser, Dietmar Friedhoff, Stephan Protschka, weiterer Abgeordneter und der Vertrag über den Offenen Himmel auf- Fraktion der AfD rechterhalten Agroforstsysteme als ein nachhaltiges Drucksache 19/20788 Anbausystem anerkennen und fördern Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/23726 Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Sebastian Münzenmaier, Marc Bernhard, Haushaltsausschuss Petr Bystron, weiterer Abgeordneter und m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kay der Fraktion der AfD Gottschalk, Marc Bernhard, Stephan (B) Brandner, weiterer Abgeordneter und der Tourismusgipfel im Kanzleramt jetzt (D) Fraktion der AfD Drucksache 19/23727

Der Arbeitsrealität Rechnung tragen – Überweisungsvorschlag: Home-Office wieder absetzbar machen Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/23725 d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Thomas Hacker, Katja Suding, Renata Alt, Finanzausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Haushaltsausschuss FDP n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Spiele und Spieleautoren würdigen – Dr. Götz Frömming, Marc Bernhard, Petr Rechtliche und vergütungsrechtliche Rah- Bystron, weiterer Abgeordneter und der menbedingungen verbessern Fraktion der AfD Analphabetismus in Deutschland beseiti- Drucksache 19/23682 gen – Schluss mit zweifelhaften Lehrme- Überweisungsvorschlag: thoden in der Schule Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/23729 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss Digitale Agenda Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten zung (f) Carina Konrad, Frank Sitta, Dr. Gero Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Clemens Hocker, weiterer Abgeordneter o) Erste Beratung des von den Abgeordneten und der Fraktion der FDP Daniel Föst, Markus Herbrand, Christian Dürr, weiteren Abgeordneten und der Frak- Einsatz neuer Züchtungsmethoden er- tion der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- möglichen wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Drucksache 19/23694 Einkommensteuergesetzes zur Vermei- Überweisungsvorschlag: dung steuerlicher Benachteiligung bei so- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) zial verträglicher Vermietung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Drucksache 19/23677 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23427

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten dings Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion (C) , Frank Sitta, Dr. Gero der FDP wünscht Federführung beim Gesundheitsaus- Clemens Hocker, weiterer Abgeordneter schuss. und der Fraktion der FDP Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag Afrikanische Schweinepest effektiv auf- der FDP ab. Wer stimmt dafür? – Das sind FDP, Grüne halten und Linke. Wer stimmt dagegen? – CDU/CSU, SPD und Drucksache 19/23683 AfD. Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvor- schlag ist abgelehnt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Wir stimmen ab über den Überweisungsvorschlag der Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Fraktionen CDU/CSU und SPD: Federführung beim Fi- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- nanzausschuss. Wer stimmt hierfür? – CDU/CSU, SPD zung und AfD. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktio- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nen, also FDP, Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Der Überweisungsvorschlag der Koalition ist angenom- Konstantin Kuhle, Manuel Höferlin, Stephan men. Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 35 a bis Freiheit und Sicherheit schützen – Für 35 j. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vor- eine Überwachungsgesamtrechnung statt lagen, zu denen es keine Aussprache gibt. weiterer Einschränkungen der Bürger- Tagesordnungspunkt 35 a: rechte Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Drucksache 19/23695 schusses für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: (6. Ausschuss) Ausschuss für Inneres und Heimat zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten fassungsgericht 2 BvE 6/20 Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Anna Christmann, Kai Gehring, weiterer Abgeord- Drucksache 19/23756 neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Der Ausschuss empfiehlt, in dem Streitverfahren eine GRÜNEN Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, (B) (D) Alphabetisierung und Grundbildung – eine Prozessbevollmächtigte oder einen Prozessbevoll- Jeder Mensch soll lesen können mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für die Beschluss- empfehlung des Ausschusses? – Das sind alle Fraktionen Drucksache 19/23703 mit Ausnahme der AfD. Gegenprobe! – Keiner. Enthal- Überweisungsvorschlag: tungen? – Es enthält sich die AfD. Die Beschlussempfeh- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- lung des Ausschusses ist angenommen. zung Hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlagen Tagesordnungspunkte 35 b bis 35 j. Das sind Be- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu schlussempfehlungen des Petitionsausschusses. überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? – Das ist nicht Tagesordnungspunkt 35 b: der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wir kommen jetzt zur Überweisung, bei der die Feder- tionsausschusses (2. Ausschuss) führung strittig ist. Tagesordnungspunkt 34 p: Sammelübersicht 648 zu Petitionen Beratung des Antrags der Abgeordneten Karsten Klein, Christine Aschenberg-Dugnus, Christian Drucksache 19/23188 Dürr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Es geht hier um 33 Petitionen. Wer stimmt dafür? – der FDP Das sind alle Fraktionen des Hauses. Keine Gegenstim- Durch Insolvenz des Rezeptabrechners AvP men. – Keine Enthaltungen. – Sammelübersicht 648 ist betroffene Apotheken schnell finanziell unter- angenommen. stützen Tagesordnungspunkt 35 c: Drucksache 19/23681 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Überweisungsvorschlag: tionsausschusses (2. Ausschuss) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit (f) Sammelübersicht 649 zu Petitionen Haushaltsausschuss Federführung strittig Drucksache 19/23189 Interfraktionell wird Überweisung des Antrages der Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen mit Aus- Fraktion der FDP auf Drucksache 19/23681 an die in nahme der Linken. Gegenstimmen? – Die Linke. Ent- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- haltungen? – Keine. Sammelübersicht 649 ist angenom- gen. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen aller- men. 23428 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Tagesordnungspunkt 35 d: Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD und Linke. (C) Dagegen? – Grüne, die FDP und die AfD. Enthaltungen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- gibt es keine. Damit ist die Sammelübersicht 655 ange- tionsausschusses (2. Ausschuss) nommen. Sammelübersicht 650 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 35 j: Drucksache 19/23190 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Es geht hier um 29 Petitionen. Wer stimmt dafür? – tionsausschusses (2. Ausschuss) CDU/CSU und SPD und AfD und FDP. Wer stimmt Sammelübersicht 656 zu Petitionen dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Drucksache 19/23196 Sammelübersicht 650 ist angenommen. Wer stimmt dafür? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt Tagesordnungspunkt 35 e: dagegen? – Die Opposition geschlossen, AfD, FDP, Grü- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- ne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelüber- tionsausschusses (2. Ausschuss) sicht 656 ist mit den Stimmen der Koalition angenom- men. Sammelübersicht 651 zu Petitionen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 g auf. Drucksache 19/23191 Das sind weitere Wahlen zu Gremien. Diese Wahlen wer- den mittels Handzeichen durchgeführt. Es geht hier um drei Petitionen. Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD und AfD. Gegenstimmen? – Die FDP, Tagesordnungspunkt 13 a: Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Sammelüber- Wahlvorschlag der Fraktion der AfD sicht 651 ist angenommen. Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums der Tagesordnungspunkt 35 f: „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Europas“ tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/22321 Sammelübersicht 652 zu Petitionen Es gibt hierzu einen Wahlvorschlag der Fraktion der AfD, den Sie auf Drucksache 19/22321 finden. Wer Drucksache 19/23192 stimmt für diesen Vorschlag? – Das ist die AfD-Frak- Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Linke und Grü- tion. – Wer stimmt dagegen? – Das sind Die Linke, (B) ne. Wer stimmt dagegen? – AfD und FDP. Enthaltun- SPD, Grüne, FDP und einige Abgeordnete aus der (D) gen? – Keine. Sammelübersicht 652 ist angenommen. CDU/CSU-Fraktion. Enthaltungen? – CDU/CSU-Frak- tion im Übrigen. Der Wahlvorschlag ist damit abgelehnt. Tagesordnungspunkt 35 g: Tagesordnungspunkt 13 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wahlvorschlag der Fraktion der AfD tionsausschusses (2. Ausschuss) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der Sammelübersicht 653 zu Petitionen „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“ Drucksache 19/23193 Drucksache 19/22322 Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne und Lin- Hier gibt es einen Wahlvorschlag der Fraktion der AfD ke. Wer stimmt dagegen? – AfD. Enthaltungen? – FDP. auf Drucksache 19/22322. Wer stimmt für diesen Vor- Sammelübersicht 653 ist angenommen. schlag? – Das ist die AfD. Wer stimmt dagegen? – Die FDP, Grüne, SPD, Linke und einige Abgeordnete aus der Tagesordnungspunkt 35 h: CDU/CSU-Fraktion. Enthaltungen? – CDU/CSU-Frak- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tion im Übrigen. Der Wahlvorschlag ist damit abgelehnt. tionsausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 13 c. Sammelübersicht 654 zu Petitionen Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Drucksache 19/23194 Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Es geht hier um sechs Petitionen. Wer stimmt dafür? – Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ CDU/CSU, SPD und FDP. Wer stimmt dagegen? – Linke, Drucksache 19/22323 Grüne, AfD. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht Wer stimmt für den Vorschlag? – Die AfD. Wer stimmt 654 ist angenommen. dagegen? – Das sind wieder die FDP, Grüne, Die Linke, Tagesordnungspunkt 35 i: SPD und einzelne Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (Kersten Steinke [DIE LINKE]: Einzelne?) tionsausschusses (2. Ausschuss) Enthaltungen? – Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion. Der Wahlvorschlag ist damit abgelehnt. – Die CDU/CSU- Sammelübersicht 655 zu Petitionen Fraktion hat sich enthalten, und einige Mitglieder der Drucksache 19/23195 Fraktion haben dagegengestimmt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23429

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Tagesordnungspunkt 13 d. Ich rufe den Zusatzpunkt 18 auf: (C) Wahlvorschlag der Fraktion der AfD ZP 18 Aktuelle Stunde Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und SPD Zukunft“ Für einen sofortigen Waffenstillstand in Berg- Drucksache 19/22324 karabach und eine nachhaltige Friedenslö- sung – Die außen- und sicherheitspolitische Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Das ist die Handlungsfähigkeit der EU stärken AfD. Wer stimmt dagegen? – FDP, SPD, Linke, Grüne und einzelne Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion. Bevor ich die Aussprache eröffne, kommen wir zurück zu den Wahlen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwe- ( [SPD]: Das war mindes- send, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist tens die Hälfte!) nicht der Fall. Ich schließe die Wahlen und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung Enthaltungen? – Entschuldigung, da vorne sitzen zwei zu beginnen. Das Ergebnis der Wahlen wird Ihnen später Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, die das Abstim- bekannt gegeben.1) mungsverhalten der CDU/CSU-Fraktion zum Ausdruck bringen. Der Wahlvorschlag ist damit abgelehnt. Wir kommen zurück zur Aktuellen Stunde. Es beginnt als erster Redner der Bundesaußenminister Heiko Maas. – Tagesordnungspunkt 13 e. Bitte schön, Herr Minister. Wahlvorschlag der Fraktion der AfD (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: gemäß § 19 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 des Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deut- Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen sches Historisches Museum“ und Herren! Der in den letzten Jahren, man muss fast Drucksache 19/22325 sagen: in den letzten Jahrzehnten, immer wieder auffla- ckernde Konflikt um Bergkarabach ist in den letzten Wer stimmt dafür? – Die AfD-Fraktion. Wer stimmt Wochen zu einem heißen Krieg entbrannt. Wir konnten dagegen? – FDP, Grüne, Linke, SPD, einzelne Stimmen das alle mit Entsetzen gerade in den letzten Tagen mit- aus der CDU/CSU. Wer enthält sich? – Die CDU/CSU- (B) verfolgen. Wir sehen den Einsatz von Raketen und auch (D) Fraktion. Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. schwerem Kampfgerät. Wir hören von Gefallenenzahlen, Tagesordnungspunkt 13 f. die jeden Tag steigen. Wie immer im Krieg leidet auch die Zivilbevölkerung ganz besonders. Die Kämpfe zer- Wahlvorschlag der Fraktion der AfD stören Brücken, Dörfer, Straßen. Zehntausende Men- Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu be- schen sind bereits auf der Flucht, und dieser Strom wird nennenden Mitgliedes des Kuratoriums des ständig größer. Weit über 100 Zivilisten hat die Gewalt Deutschen Instituts für Menschenrechte bereits getötet, im Übrigen auch in Gebieten weit außer- gemäß § 6 Absatz 2 Nummer 4 und 5 des halb der Konfliktzonen. Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufga- Meine sehr verehrten Damen und Herren, um dieses ben des Deutschen Instituts für Menschen- Leid zu stoppen, treten wir insbesondere für zwei Ziele rechte (DIMRG) ein. Erstens gilt es, die ganz akute Not der Menschen vor Ort zu lindern. Das Rote Kreuz, die aktuell einzige Hilfs- Drucksache 19/22326 organisation mit Zugang zu den umkämpften Gebieten, Wer stimmt für den Wahlvorschlag? – Das ist die AfD- hat die internationale Gemeinschaft Mitte Oktober um Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Wieder FDP, Linke, 9 Millionen Euro Soforthilfe gebeten. Deutschland wird SPD, Grüne und einige aus der CDU/CSU-Fraktion. Ent- in einem ersten Schritt 2 Millionen Euro bereitstellen, haltungen? – Die CDU/CSU-Fraktion. Der Wahlvor- damit wir denjenigen helfen, die ihre Häuser, ihr Hab schlag ist abgelehnt. und Gut und ihre Existenzgrundlage komplett verloren haben. Ich sage aber: Wir sind weiterhin dazu bereit, Tagesordnungspunkt 13 g. mehr zu tun, wenn dies noch erforderlich sein wird. Ich Wahlvorschlag der Fraktion der AfD sage dies vor allen Dingen mit Blick auf den bevorstehen- den Winter im Kaukasus, der die Versorgungslage der Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der Menschen schon jetzt weiter zu verschlechtern droht. „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta- tur“ Zweitens ist umso wichtiger ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand. Aserbaidschan und Armenien müssen Drucksache 19/22327 die Kämpfe – das ist nicht nur unsere Forderung, sondern Die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – FDP, Grü- die Forderung der internationalen Staatengemeinschaft – ne, SPD, Linke, einzelne Mitglieder der CDU/CSU-Frak- ohne Vorbedingungen stoppen. tion. Enthaltungen? – Enthaltung der CDU/CSU-Frak- tion. Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. 1) Ergebnis Seite 23442 B 23430 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Bundesminister Heiko Maas (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fachen, der bereits jetzt Leid und Zerstörung über die (C) der CDU/CSU) Menschen in Bergkarabach gebracht hat und aus dem nur allzu leicht ein regionaler Flächenbrand werden Das haben sowohl die Bundeskanzlerin als auch ich bei- kann, oder – das ist die Alternative, und das ist unsere den Ländern, aber auch anderen Beteiligten in diesem Alternative – endlich auf die Stimme der internationalen Zusammenhang, etwa der Türkei, immer wieder sehr Gemeinschaft zu hören und einzulenken. deutlich gesagt. Das ist auch die einhellige Botschaft der Vereinten Nationen, der OSZE und der Europäischen Dabei sollten Sie bedenken: Dauerhafter Frieden wird Union an die Kriegsparteien. Im Sicherheitsrat der Ver- nur erreicht werden, indem die Deeskalation jetzt einten Nationen haben wir Armenien und Aserbaidschan beginnt. Das ist unsere Botschaft, und das ist die klare in den vergangenen Wochen einstimmig aufgefordert – Botschaft der gesamten internationalen Staatengemein- das ist zurzeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schaft, und zwar geschlossen. Das ist zurzeit bedauerli- beileibe nicht mehr alltäglich –, endlich die Waffen cherweise in viel zu wenigen Konflikten der Fall. schweigen zu lassen und an den Verhandlungstisch Herzlichen Dank. zurückzukehren. Wir danken der OSZE und unterstützen sie, der über die Minsk-Gruppe nach unserer Auffassung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nach wie vor die zentrale Vermittlerrolle zukommt. des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) Doch trotz aller internationaler Geschlossenheit müs- sen wir feststellen: Die Konfliktparteien lenken zurzeit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nicht ein. Die von den Co-Vorsitzenden der Minsk-Grup- Vielen Dank, Herr Minister. – Für die AfD-Fraktion pe Frankreich, Russland und den USA vermittelten hat das Wort der Kollege Armin-Paulus Hampel. humanitären Waffenruhen wurden alle innerhalb kürzes- (Beifall bei der AfD) ter Zeit gebrochen, zuletzt Anfang dieser Woche. Uns bleibt daher gar nichts anderes übrig, als den internationa- len Druck auf beide Konfliktparteien zu erhöhen. Aser- Armin-Paulus Hampel (AfD): baidschan und Armenien müssen endlich verstehen: Eine Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten militärische Lösung des schon lange andauernden Kon- Damen und Herren! Liebe Zuschauer an den Bildschir- fliktes wird von der internationalen Staatengemeinschaft men zu Hause! Gerüchte besagen, dass der Konflikt zwi- nicht akzeptiert werden. Eine bessere Verhandlungsposi- schen Armenien und Aserbaidschan von der Türkei tion lässt sich nicht auf dem Schlachtfeld erringen. Es bewusst initiiert worden ist, um die Russen im Kaukasus gibt keine Alternative zu einem Waffenstillstand und beschäftigt zu halten und in Syrien und Libyen freie Hand zu haben. Ob das stimmt und verifiziert werden kann, ist (B) zum Beginn neuer Gespräche. Das müssen alle begreifen, (D) diejenigen auf den beiden Seiten dieses Konfliktes, aber noch ungewiss. Vorstellen kann man es sich allerdings. auch diejenigen, die in diesem Zusammenhang beteiligt Nur, was ist der Hintergrund dieses Konfliktes? Er sind. Es muss von allen, die dort eine Rolle übernommen währt seit über 30 Jahren – ich weiß nicht, wann wir haben, ein Zeichen ausgehen, dass auch sie sich ganz das letzte Mal in diesem Haus über diesen Konflikt disku- maßgeblich am Ende des Blutvergießens beteiligen. tiert haben –; geschehen ist auf der internationalen Bühne (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den vergangenen 30 Jahren jedenfalls nichts, und das nicht nur vor dem Hintergrund, dass es zwischen Arme- Meine Damen und Herren, natürlich wäre ein humani- nien und Aserbaidschan immer wieder militärische Aus- tärer Waffenstillstand nur ein erster Schritt. Doch er ist einandersetzungen gegeben hat, wenn auch in geringem letztlich die Grundvoraussetzung dafür, dass eine dauer- Maße, sondern auch vor dem Hintergrund – das beachten hafte, nämlich eine politische, Lösung für den Bergkara- die wenigsten –, dass weiter südlich, nämlich im Iran, bach-Konflikt endlich erzielt werden kann. Als Mitglied mindestens 15 Millionen Aserbaidschaner leben. Das der Minsk-Gruppe steht Deutschland bereit, die substan- heißt, dass ein ungeheurer Sprengstoff in dieser Situation ziellen Verhandlungen, die es dafür bedarf und die in der entstehen könnte, wenn die Emotionen auch auf der irani- Vergangenheit anscheinend nicht möglich gewesen sind, schen Grenzseite hochkochen. jetzt endlich voranzubringen. Auch das sage ich: Auch die Türkei muss ihrer Verantwortung als Mitglied der Es gab immerhin vier UN-Resolutionen zu dem Kon- Minsk-Gruppe gerecht werden und ihren Teil dazu bei- flikt, und die Vereinten Nationen haben festgestellt – da tragen, dass es endlich zu einer friedlichen Lösung beißt die Maus keinen Faden ab –, dass Nagornij Kara- kommt. bach bzw. Bergkarabach völkerrechtlich zu Aserbaid- schan gehört. Das ist die Knackfrage hier, die wir alle Auch die Europäische Union kann und wird dabei eine nicht lösen können, weil Menschen armenischer Nationa- wichtige Rolle spielen. Schließlich verfügt sie mit ihrem lität in dieser Region leben und der Konflikt zwischen Sonderbeauftragten für den Südkaukasus und der Östli- beiden bis jetzt nicht befriedet werden konnte. chen Partnerschaft über Instrumente, um politische Ver- Was die deutsche Position anbelangt, Herr Minister: handlungen und später auch den wirtschaftlichen Wieder- Zwar können wir uns bemühen, uns dort als Vermittler aufbau sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan zu anzubieten, aber auch nur maximal das. Wir können unse- flankieren. re Rolle als Vermittler anbieten. Instrumente, gar Werk- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Verant- zeuge, um in dem Konflikt zu intervenieren, haben wir ja wortlichen in Eriwan und in Baku und ihre Unterstützer überhaupt nicht. Sie sind ja aus Baku gescholten worden, stehen letztlich vor der Wahl, einen Krieg weiter anzu- dass in dem Abkommen zu den Prioritäten der EU und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23431

Armin-Paulus Hampel (A) Aserbaidschan die Unterstützung der EU für die territo- haben; denn das ist ein weiterer Krieg in Europa – nach (C) riale Integrität und Souveränität Aserbaidschans bekun- dem in der Ostukraine, der fortgeführt wird, und nach det wird. Deutschland, das führende Land der EU, kriti- schweren zwischenstaatlichen Konflikten, die wir sieren die Aserbaidschaner, scheint das Dokument nicht anderswo, etwa im östlichen Mittelmeer, haben. Deswe- zu kennen. Darin muss man ihnen leider recht geben. Es gen ist es im deutschen und im europäischen Interesse, ist also eine verzwickte Situation. Aber die Deutschen für eine Lösung zu werben und sich dafür einzusetzen. selber, wir, sind nicht in der Lage, in diesem Konflikt zu intervenieren. Da frage ich mich: Warum können wir Die Bundeskanzlerin hat mit beiden Staatsführern das nicht? gesprochen; nur dass Sie das wissen. Auch Herr Bundes- außenminister hat mit seinen Kollegen in beiden Regie- Sie haben die Minsker Gruppe erwähnt. Darin sind sie rungen dort gesprochen. Darin können wir die Bundesre- alle vertreten: Russland, USA, Frankreich, die Türkei und gierung nur unterstützen. Wir fordern beide Seiten auf, zu auch Deutschland. Jetzt frage ich mich: Wen wollen Sie einem bedingungslosen Waffenstillstand zurückzukeh- eigentlich anrufen, Herr Minister, um vermitteln und ren, ihn endlich einzuhalten und das Töten auf beiden intervenieren zu können? Der amerikanische Außenmi- Seiten – insbesondere junge Menschen sterben – sofort nister Pompeo wird kaum auf Sie hören, nachdem von zu beenden. uns im Wahlkampf so freundliche Worte über die US- Regierung und die Trump-Administration geäußert wor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- den sind. Ihr Auftreten in Moskau hat die Russen der- ordneten der SPD) maßen verstimmt, dass ich annehme, dass Herr Lawrow Grundlage können aus unserer Sicht nur die sechs auch nicht mehr ans Telefon geht. Auch die Türkei wird Madrider Basisprinzipien von 2007 sein, und die sind eine Unterstützung der deutschen Politik nicht gerade für uns – das möchte ich sagen, weil wir kritisch danach anbieten. Frankreich ist isoliert, weil es sich einseitig gefragt worden sind – gleichwertig. Ich möchte sie hier auf die armenische Seite geschlagen hat. noch einmal nennen: erstens die Rückkehr der Bergkara- Wir haben also gar nicht die Möglichkeit, meine bach umgebenden Gebiete unter aserbaidschanische Damen und Herren, in diesem Falle zu intervenieren Kontrolle, zweitens ein Interimstatus für Bergkarabach oder uns einzubringen, und zwar nicht vor dem Hinter- einschließlich Garantien für Sicherheit und Selbstbestim- grund, dass wir es nicht können oder nicht gefragt wer- mung, drittens ein Verbindungskorridor zwischen Arme- den, sondern weil wir nicht mehr die Freunde haben, die nien und Bergkarabach, viertens die zukünftige Bestim- wir vor 30 Jahren hatten. Ein Außenminister Genscher mung des endgültigen Rechtsstatus von Bergkarabach und selbst ein Außenminister Westerwelle hätten noch durch eine rechtlich bindende Willensäußerung – Stich- in allen Hauptstädten der Weltmächte anrufen und eine wort: Selbstbestimmungsrecht –, fünftens ein Rückkehr- (B) (D) Reaktion und Einflussnahme durchsetzen können. Wir recht für alle Binnenvertriebenen und Flüchtlinge zu können das heute nicht mehr, meine Damen und Herren. ihren früheren Wohnorten und, sechstens, internationale Sicherheitsgarantien einschließlich einer Peacekeeping- (Beifall bei der AfD – Christian Petry [SPD]: Mission. Unsinn!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fordern Arme- Deutschland hat also nicht die notwendigen Instrumen- nien und Aserbaidschan auf, darüber substanzielle Ver- te, und wir müssen anerkennen, dass wir selber in diesem handlungen ohne jede Vorbedingung aufzunehmen. Ohne Konflikt nicht intervenieren können. Die Lösung – das ist jede Vorbedingung heißt auch, sich nicht vorab auf eine jedem hier bekannt – liegt nicht in Berlin; die Lösung Priorisierung bzw. eine zeitliche Abfolge der Umsetzung liegt in Ankara und in Moskau. Diese beiden Regierun- festzulegen. Sonst landen wir gleich wieder in der Sack- gen müssen sich zusammenraufen und eine rasche gasse, in der wir die ganze Zeit gewesen sind, in die wir Lösung im Kaukasus anstreben. Wir selber haben dort immer wieder hineingeraten sind. Das heißt, beide Staa- relativ geringe Interessen einzubringen. Aber wir haben ten müssen jetzt zu substanziellen Verhandlungen bereit vor allem – das ist das Entscheidende – nicht die Instru- sein. mente, um mitzuspielen. Das ist an sich die Bankrotter- klärung der deutschen Außenpolitik auch in diesem Kon- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und flikt im Kaukasus. der SPD) Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Wir begrüßen, dass Armenien zu einem Waffenstill- (Beifall bei der AfD) stand bereit ist. Wir müssen auch feststellen, dass Arme- nien bedauerlicherweise viel Zeit verstreichen lassen hat, ohne in der Substanz zu echten Verhandlungen bereit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gewesen zu sein. Präsident Paschinjan hat zunächst Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege mehr Hoffnung auf eine Verhandlungslösung geweckt, Dr. . auch bei uns, ist aber vielleicht auch in alte politische (Beifall bei der CDU/CSU) Abhängigkeiten geraten. Es ist zu hoffen, dass die poli- tische Führung Armeniens angesichts der schwierigen Lage jetzt zu diesen Verhandlungen bereit ist. Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Wir müssen an dieser Stelle auch Aserbaidschan, das ren! Lieber Kollege Hampel, im Gegensatz zu Ihnen bin die Aggression ganz unzweifelhaft begonnen hat – Präsi- ich der Auffassung, dass wir dort durchaus Interessen dent Alijew hat jetzt deutlich gemacht, dass er nicht bereit 23432 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Johann David Wadephul (A) ist, das zu beenden –, eine ganz klare Botschaft senden – Bijan Djir-Sarai (FDP): (C) das hat der Bundesaußenminister gemacht; ich möchte Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und das noch mal unterstreichen –: Herren! Der Konflikt in Bergkarabach existiert seit Jahr- zehnten. Seit Jahrzehnten gibt es keine ernsthafte Annä- (Beifall der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LIN- herung zwischen Armenien und Aserbaidschan, und seit KE]) Jahrzehnten beschäftigt sich die internationale Gemein- schaft erfolglos mit diesem Konflikt. Wir fordern von Aserbaidschan die sofortige Bereitschaft zu einem Waffenstillstand und die Rückkehr an den Ver- Seit einem Monat hat dieser Konflikt eine neue Phase handlungstisch. erreicht. Seit einem Monat kommt es zu blutigen Kämp- fen im Südkaukasus. Seit einem Monat sterben wieder (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) unschuldige Menschen in dieser Region. Es herrscht Krieg. Bei diesem Krieg handelt es sich nicht um einen Nur weil Aserbaidschan derzeit militärisch in einer bes- Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei. Es seren Lage ist, darf es das nicht ausnutzen. Es muss wis- geht auch nicht um einen Konflikt zwischen Moslems sen: Es verliert jede Unterstützung der Europäischen und Christen. Dieser Krieg ist viel komplexer. Union, wenn Aserbaidschan jetzt nicht zu Verhandlungen bereit ist. Wer denkt, man könne hier mit militärischer Gewalt nachhaltig Fakten schaffen, der liegt falsch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der Abg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten [AfD] und Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) der SPD) Ich will deutlich sagen: Wir erwarten auch von der EU- Die zunehmende militärische Eskalation führt lediglich Kommission mehr. EU-Kommissionspräsidentin von der zu einer Veränderung der Fronten. Sie fördert den Hass, Leyen hat angekündigt, sie wolle eine geostrategische und sie treibt das Leid der Menschen ins Unermessliche. Kommission führen. Wer eine geostrategische Kommis- (Beifall bei der FDP) sion führen will und diesen Anspruch erhebt, der muss auch mindestens in Europa geostrategisch handeln. Des- Fest steht, dass es nur eine politische Lösung geben kann. wegen erwarten wir von der EU-Kommission – der Herr Es führt kein Weg an einer Rückkehr an den Verhand- Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen –, dass es lungstisch vorbei. Das ist die einzige Option, und es wird einen Beauftragten dafür gibt. Wir erwarten von der Zeit, dass sowohl die beiden direkten Konfliktparteien als Kommissionspräsidentin und dem Außenbeauftragten, auch die anderen Akteure dies begreifen, meine Damen (B) dass sie ihre Arbeit erledigen. Das ist Europa. Deswegen und Herren. (D) ist es an der EU-Außenpolitik, sich hier zu engagieren und nicht auf die Zuschauerbank verdrängt zu werden. (Beifall bei der FDP) Wenn ich von den anderen Akteuren spreche, dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. meine ich an dieser Stelle insbesondere die Türkei. Natür- Dr. Barbara Hendricks [SPD]) lich hat Ankara legitime Sicherheitsinteressen – das ist Letzten Endes muss man auch an die Türkei – der Herr eine andere Debatte –; doch das gegenwärtige Gebaren Bundesaußenminister hat es angekündigt – eine ganz des türkischen Präsidenten Erdogan hat wahrlich wenig deutliche Botschaft richten. Wir sehen von dort eine mas- mit den Interessen der Türkei zu tun. Sein aggressives sive militärische Unterstützung Aserbaidschans mit außenpolitisches Auftreten dient einzig und allein einem Kriegsmitteln. Es gibt auch Berichte über islamistische Zweck: abzulenken von den innenpolitischen Problemen Kämpfer aus Syrien, die von der Türkei dorthin gesandt und Schwierigkeiten in der Türkei. worden sind, die ich aber nicht verifizieren kann. Ich (Beifall bei der FDP) kann verstehen, wenn die Türkei freundschaftliche Beziehungen zu Aserbaidschan unterhält. Wir erwarten Der Scherbenhaufen, den er dabei hinterlässt, wird immer aber von unserem NATO-Partner Türkei, dass er diesen größer. Eine Rückkehr zu normalen partnerschaftlichen Konflikt löst, dass er zu einer friedlichen Beilegung bei- Beziehungen rückt mit jeder weiteren Provokation in trägt und nicht jeden Tag erneut Öl ins Feuer gießt. Auch weite Ferne. die Türkei muss wissen: Unsere Geduld an dieser Stelle Meine Damen und Herren, im Jahr 2016 verabschie- ist zu Ende. dete der Deutsche Bundestag eine Resolution, mit der die Herzlichen Dank. Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/1916 offiziell als Völkermord eingestuft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wurden. Es war und es ist gut, dass der Deutsche Bundes- ordneten der SPD) tag damals diese Entscheidung getroffen hat. Aus diesem Völkermord erwächst eine historische Verantwortung. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Viele Armenierinnen und Armenier leben bis heute Für die FDP hat als Nächstes das Wort der Kollege weltweit im Exil. Die Angst vor einem zweiten Genozid Bijan Djir-Sarai. in diesem Konflikt ist erdrückend. Sie ist allgegenwärtig. Auch die Türkei muss dieser Realität gerecht werden. (Beifall bei der FDP) Auch die Türkei muss aus dieser historischen Verantwor- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23433

Bijan Djir-Sarai (A) tung heraus ihre Rolle im Konflikt um Bergkarabach und Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (C) grundsätzlich gegen Armenien überdenken, meine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Damen und Herren. Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist einer der ältesten der Menschheitsgeschichte. Dabei ging es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vornehmlich um ökonomische Fragen, die dann ethnisiert der LINKEN und des Abg. Manfred Grund wurden; die Ethnisierung solcher Konflikte funktioniert [CDU/CSU]) leider bis heute bei vielen Völkern immer wieder. Wenn wir in diesem Zusammenhang über die Türkei In der Sowjetzeit wurde über ein Kaukasus-Komitee reden, so müssen wir auch einen Blick auf Russland wer- mithilfe von Stalin festgelegt, dass die Region um Berg- fen. Moskau ist einmal mehr ein wichtiger Akteur. Natür- karabach ein autonomes Gebiet innerhalb Aserbaid- lich ist klar, dass Präsident Putin nicht an einem Flächen- schans wird. Dabei blieb es bis zum Ende der Sowjet- brand im Südkaukasus interessiert ist. Wirtschaftliche union. 1991 erklärten dann Menschen aus Bergkarabach Beziehungen pflegt Moskau außerdem mit beiden Kon- dieses Gebiet, zusammen mit anderen Orten, für unab- fliktparteien; doch nur mit Armenien besteht ein Verteidi- hängig. Armenien besetzte daraufhin andere Gebiete, da- gungsabkommen. Inwieweit Moskau, die eigentliche mit es eine Verbindung zwischen Armenien und Berg- Schutzmacht Armeniens, bereit ist, zu intervenieren, ist karabach gibt. – So wie ich dem Westen hinsichtlich fraglich. Der prowestliche Kurs des armenischen Regie- des Kosovo eine Völkerrechtsverletzung vorwerfe und rungschefs in den vergangenen Jahren dürfte Putin jeden- Russland hinsichtlich der Krim, muss ich auch hier Völ- falls nicht gefallen haben. kerrechtsverletzungen in Bergkarabach durch Armenien feststellen. Alle diese Völkerrechtsverletzungen müssen In diesem Krieg gibt es kein Schwarz und Weiß. Er hat mit einer politischen Lösung korrigiert werden; anders auf beiden Seiten bislang unzählige Opfer gefordert, geht es nicht. Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, ihre Existenzen zerstört. Worauf es jetzt neben einem sofortigen Waffen- (Beifall bei der LINKEN) stillstand ankommt, ist die humanitäre Nothilfe. Den Es gab eine Verständigung auf einen Waffenstillstand Hilfskräften muss uneingeschränkter Zugang zu Bergka- zwischen Armenien und Aserbaidschan, um eine politi- rabach ermöglicht werden. Das Leid der Menschen muss sche Lösung zu suchen. Dazu wurde die Minsker Gruppe gelindert werden. gebildet, der auch die Türkei angehört, und Sie kennen die Madrider Prinzipien. Verletzungen des Waffenstill- Meine Damen und Herren, ich sage es ganz klar: Soll- standes gab es gelegentlich von beiden Seiten. Aber nun ten sich die Berichte über den Einsatz verbotener Streu- hat Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei, den Waf- munition durch Aserbaidschan bestätigen, so muss auch (B) fenstillstand vollständig gebrochen. Selbst wenn über (D) die internationale Gemeinschaft ganz klar Stellung bezie- Russland oder die USA eine neue Waffenruhe vereinbart hen, Herr Minister. wird, hält sie von beiden Seiten keine Minute. Der Staats- chef von Aserbaidschan erklärte, dass dieser Krieg bis (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zum Ende geführt werde. Er will sich also gewaltsam der CDU/CSU, der AfD und der LINKEN) das ganze Territorium zurückholen, entgegen den Madri- Dieser Krieg führt einmal mehr eindringlich vor der Prinzipien. Augen, dass sich die Konflikte unseres Zeitalters nicht Die aserbaidschanische Führung geht aufgrund der aussitzen lassen, nicht in Syrien, nicht in Libyen und Hilfe der Türkei davon aus, Armenien militärisch über- auch nicht in Bergkarabach. Wieder einmal hat die EU legen zu sein. Politik ist zumeist männlich. Nicht selten geschlafen, wieder einmal hat sie anderen das Spielfeld lassen sich Männer von militärischer Stärke derart beein- überlassen. Das Vakuum füllen einmal mehr Russland, drucken, dass sie sich davon leiten lassen. Die Türkei der Iran und die Türkei. entsendet nicht nur Waffen, sondern auch Söldner, auch Die Bundesregierung und die europäischen Partner aus Syrien. Das ist katastrophal und muss endlich scharf sollten dringend die entsprechenden Lehren aus der Eska- verurteilt werden, durch die Bundesregierung und die lation in Bergkarabach ziehen. Sie sollten ihre Arbeit und NATO. ihre Rolle innerhalb der OSZE dringend evaluieren, und (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. sie sollten endlich Verantwortung im Rahmen einer ge- Manfred Grund [CDU/CSU] und Stefan Keuter meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik [AfD]) übernehmen. Aserbaidschan steht kurz vor der Eroberung der Straße Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zwischen Bergkarabach und Armenien. Kommt es zu dieser Eroberung, entsteht für die Zivilbevölkerung in (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Manfred Bergkarabach eine humanitäre Katastrophe; die Versor- Grund [CDU/CSU]) gung fiele aus. Der Bundestag hat in einem Beschluss eindeutig bestä- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tigt – das wurde hier schon gesagt –, dass 1915/1916 Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Kollege Dr. Gregor durch das Osmanische Reich ein Völkermord an dem Gysi tritt ans Mikrofon. Bitte schön. armenischen Volk in der heutigen Türkei verübt wurde. Deutschland trug dabei auch eine gewisse Mitschuld. Ein (Beifall bei der LINKEN) Land wie die Türkei, das einen solchen Völkermord 23434 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Gregor Gysi (A) begeht, muss sich schon aus ethischen Gründen bei Kon- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) flikten mit Armenien zumindest heraushalten und dürfte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nie wieder Armenierinnen und Armenier widerrechtlich Leidtragende der aktuellen Situation, dieses Krieges töten. ist – das ist eigentlich eine Floskel; aber ich möchte es trotzdem sagen – die Zivilbevölkerung, die Zivilbevölke- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. rung in Bergkarabach, aber eben auch die Zivilbevölke- Manfred Grund [CDU/CSU] und Stefan Keuter rung in dem von Baku kontrollierten Gebiet in Aserbaid- [AfD]) schan. Bundesaußenminister Maas hat erklärt, dass die Bun- Wir müssen uns hier ganz offen vor Augen halten, dass desregierung sich eher neutral verhalte, um zu vermitteln. auch wir als internationale Gemeinschaft eine Mitverant- Hier kann man aber nicht neutral sein. Die Übereinkunft, wortung für diese Situation tragen, wie verschiedene Kol- eine politische Lösung zu suchen, ist durch Aserbaid- legen es hier schon gesagt haben. Jahrzehntelang haben schan und die Türkei gebrochen worden. wir eine Nichtlösung akzeptiert, und die Uhr tickte hinun- ter, bis die aserische Seite zu einer militärischen Maß- (Beifall bei der LINKEN) nahme greifen würde. Trotzdem haben wir nicht genü- Bundesaußenminister Maas bestätigte ferner, dass die gend Druck ausgeübt, im Rahmen der diskutierten Türkei als Mitglied der NATO weder die Gremien der Möglichkeiten tatsächlich zu einer Veränderung der NATO noch die anderen Mitgliedsländer vor dem Mili- Lage zu kommen. tärakt informiert oder konsultiert hat. Wenn die NATO (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dagegen nicht entschieden vorgeht, macht sie sich spä- testens zu diesem Zeitpunkt überflüssig. Der französische Aus dieser Situation müssen wir lernen. Deswegen – Präsident Macron nannte sie schon „gehirntot“. ich bedanke mich für die Aktuelle Stunde – gehört dieser Krieg auf die Landkarte der europäischen Außenpolitik. Auf beiden Seiten sind Zivilistinnen und Zivilisten umgekommen, die dringend geschützt werden müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN egal ob sie armenisch oder aserbaidschanisch sind oder sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und einer anderen Nationalität angehören. der SPD) Ich bedanke mich auch – das möchte ich ganz aus- (Beifall bei der LINKEN) drücklich sagen – beim Kollegen Wadephul dafür, wie Ich habe ein Video gesehen, in dem zwei armenische klar das, was zunächst gesagt werden muss, von Ihnen Kriegsgefangene gefesselt erschossen wurden. Das ist formuliert wurde. Der Vormarsch von Baku muss sofort (B) ein schweres Kriegsverbrechen. Unabhängige Organisa- gestoppt werden, sonst droht eine humanitäre Katastro- (D) tionen bestätigten die Echtheit des Videos. Kriegsverbre- phe. chen beider Seiten müssen aufgeklärt und unterbunden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) Es besteht die Gefahr, dass in Bergkarabach über den Herr Bundesminister, weder im Konflikt der Türkei Winter eine richtig, richtig schlimme und gefährliche mit Griechenland und Zypern noch im jetzigen Konflikt Situation entsteht. Wir können über alle verschiedenen Aserbaidschans und der Türkei mit Armenien können Sie Fragen der letzten 26 Jahre reden und müssen es sogar. neutral bleiben. Da gibt es auch sehr viel Kritisches an der Haltung der (Beifall bei der LINKEN) armenischen Regierung, der alten wie der neuen. Aber das gibt nicht Baku die Legitimation für diese Art und Sie müssen Farbe bekennen. Sie müssen die Provokation Weise des Vorgehens. Um an den Tisch zurückzukehren, der Türkei eindeutig verurteilen, die Waffenlieferungen muss dieser Vormarsch gestoppt werden. Dann erwarten an die Türkei aus Deutschland unverzüglich stoppen und wir eben auch von der armenischen Seite, den Waffen- dürfen keine neuen Waffenlieferungen mehr genehmigen. stillstand genauso einzuhalten. Vielen Dank für diese kla- ren Worte. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außerdem – ich sage das hier offen – muss die Türkei und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten meines Erachtens aus der Minsker Gruppe ausscheiden. der LINKEN) Da hat sie nichts mehr zu suchen. Das Szenario ist beklemmend und klar. Das Signal in (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- unserer Östlichen Partnerschaft ist: Der Krieg ist ein Mit- neten der AfD und des Abg. Manfred Grund tel zur Fortsetzung von Politik. – Dieses Signal haben [CDU/CSU]) verschiedene Akteure in unserer Nachbarschaft in den letzten Jahren immer häufiger benutzt. Für mich persön- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lich ist das eine der Zeitenwenden, die mit dem Krieg Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin, Bünd- Russlands in der Ukraine 2014 begonnen hat; andere nis 90/Die Grünen. nehmen andere Daten. Wir sollten aber nicht, indem wir uns zurückhalten, den Akteuren, die genau dieses neue (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Prinzip verfolgen, die Lösung dieses Konflikts überlas- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23435

Manuel Sarrazin (A) sen, Herr Hampel. Wir müssen dieses Prinzip durchbre- so mit den Botschaftern beider Konfliktparteien, politi- (C) chen. Wenn sich jemand an den Verhandlungstisch schen Vertretern aus Bergkarabach und natürlich auch mit bombt, wird das nicht zu Prinzipien führen, die auf we- dem Auswärtigen Amt und den Kolleginnen und Kolle- niger Gewalt setzen. gen im Auswärtigen Ausschuss. Deswegen halte ich es für wichtig, dass wir überlegen, Wir stehen in der gesamten Region vor einer humanitä- inwieweit mehr Einsatz auch aus Deutschland und aus ren Katastrophe. Sie ist gekennzeichnet von entfesselter der Europäischen Union angemessen ist. Wir sehen Gewalt, unerträglichem menschlichen Leid, Flucht und doch gerade, dass die alte Schutzmacht Moskau, wenn Vertreibung. Zugleich werden Waffenruhen gebrochen es darum geht, diesen Krieg einzudämmen, nur begrenzte und ganze Dörfer und historische Kulturgüter zerstört. Kapazitäten hat. Und wir sehen, dass die angeblich neue Nicht zuletzt sterben durch den Konflikt jeden Tag Men- Schutzmacht Ankara offenkundig einen begrenzten Wil- schen. Die Appelle, die mich vor allem aus der Zivil- len hat, diesen Krieg einzudämmen. bevölkerung erreichen, ganz gleich welcher Konfliktpar- Wenn wir sehen, dass ein solches Vakuum entsteht, tei sie näherstehen, sind geeint in ihrer tiefen Abneigung müssen wir uns doch fragen, ob wir nicht zu einer diplo- gegenüber der Gewalt und, ja, aber auch in ihrer Hilf- matischen Initiative angehalten sind, mehr zu versuchen, losigkeit. Das Töten muss jetzt endlich enden. Jeder als nur bei Herrn Paschinjan und Herrn Alijew anzurufen, Tag, der ohne substanzielle Verhandlungen verstreicht, und auch eigenes Kapital als Europäische Union und kostet Leben. Deutschland in den Ring zu werfen und zu sagen: Ihr (Beifall bei der SPD) setzt euch an einen Tisch. Wir zählen auf euch. Wir wol- len das von euch, und wenn ihr beide es euch nicht mit Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Konflikt und uns verderben wollt, dann erwarten wir von euch eine die immer wiederkehrende Destabilisierung der Region Veränderung der Situation. zu verstehen, muss man zunächst den Blick zurück rich- ten schon auf die Folgen des Ersten Weltkrieges und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entstehung der Sowjetunion und ihrer Republiken. Nach und bei der CDU/CSU) der Oktoberrevolution 1917 erhoben sowohl Armenier Ich denke, einen solchen Versuch ist es wert. Ich weiß, als auch Aserbaidschaner Anspruch auf Bergkarabach. dass beide Partner vielleicht nicht wegen uns ihre jahr- Um das Gebiet kam es zu kriegerischen Handlungen zwi- zehntelangen Feindseligkeiten sofort vergessen werden. schen beiden Ländern. Nach der Eroberung durch die Aber ich weiß, dass sowohl Herr Alijew als auch Herr Rote Armee entschied die kommunistische Partei Russ- Paschinjan auf Deutschland so viel Wert legen, dass sie lands im Juli 1921, dass das mehrheitlich von Armeniern ans Telefon gehen werden. So viel Einfluss hat unser besiedelte Bergkarabach bei der Aserbaidschanischen (B) Land schon noch. Sozialistischen Sowjetrepublik verbleiben solle. Hieraus (D) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das war es leitet sich der völkerrechtliche Anspruch Aserbaidschans dann aber auch!) auf die Region ab. Dies bekräftigten auch entsprechende UN-Resolutionen von 1993. Meine Damen und Herren, es ist inakzeptabel, dass de facto Russland und die Türkei über das Schicksal in die- Nach immer wieder aufflammenden Unruhen während ser Konfliktregion entscheiden sollen. Der Kreml hat die der nachfolgenden Jahrzehnte eskaliert der Konflikt Region über Jahrzehnte mit Waffenlieferungen an beide schließlich seit Ende der 1980er-Jahre und verschlimmer- Parteien gezielt destabilisiert. Herr Erdogan scheint von te sich mit dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion. diesem Prinzip der Machtausübung auch profitieren zu Bergkarabach hat sich 1988 von Aserbaidschan wollen. An einer nachhaltigen Konfliktlösung und an getrennt und 1991 zur unabhängigen Republik erklärt, einem Erstarken von Demokratie und Verständigung im die allerdings keine internationale Anerkennung erfährt, Südkaukasus hat Herr Putin kein Interesse und Herr nicht einmal von Armenien anerkannt wird. Zu dieser Erdogan auch nicht. Deshalb bin ich sehr dafür, dass Zeit betrug der Anteil der armenischen Bevölkerung in sich die Bundesregierung und die Europäische Union Bergkarabach nahezu 75 Prozent; heute sind es fast hier stärker einbringen. 100 Prozent, da die aserische Bevölkerung vertrieben Vielen Dank. wurde. Die militärische Auseinandersetzung um dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gebiet hatte allein im Karabach-Krieg von 1991 bis und bei der CDU/CSU) 1994, dem bereits dritten Waffengang zwischen Armen- iern und Aserbaidschanern, Zehntausende Todesopfer zur Folge und löste massive Fluchtbewegungen aus. Ange- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: trieben durch die Pogrome in Baku, flohen etwa Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin 400 000 Armenier aus Aserbaidschan. Auf der anderen, Dr. Barbara Hendricks. der aserbaidschanischen Seite verzeichnete der UNHCR (Beifall bei der SPD) mehr als 700 000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Berg- karabach und den umliegenden, von Armenien besetzen Gebieten. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Diese sieben aserbaidschanischen Provinzen, die Berg- dem 28. September stehe ich in täglichem Austausch mit karabach komplett umschließen, sind aktuell in erster Bürgerinnen und Bürgern sowie Parlamentarierinnen und Linie umkämpft. Tote und Verletzte, nicht zuletzt unter Parlamentariern aus Aserbaidschan und Armenien, eben- der Zivilbevölkerung, sind zu beklagen, übrigens auf bei- 23436 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Barbara Hendricks (A) den Seiten. Den Versuch von Teilen der AfD, diese huma- So ist es gut; vorbildlich. Vielleicht gewöhnen Sie sich (C) nitäre Katastrophe für ihre politische Agenda zu miss- daran. Jetzt können Sie die Maske ablegen und dann brauchen, ist – mehr muss ich dazu nicht sagen – bestür- sprechen. zend, aber leider auch nicht überraschend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Steffen Kotré (AfD): der LINKEN) Vielen Dank. Zukünftig werde ich daran denken. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei völkerrechtli- Herren! Der Abwehrkampf der Armenier in Bergkara- che Prinzipien stehen hier in einem Konflikt: das Prinzip bach ist ein gerechter Krieg. Aserbaidschan führt einen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und das Prinzip völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und wird dabei, wie der territorialen Integrität; beide sind begründet in der wir heute auch schon herausgestellt haben, von der Tür- Charta der Vereinten Nationen. Eine Verständigung der kei unterstützt. beiden kriegführenden Länder war vor diesem Hinter- grund bisher unmöglich; dennoch sind Verhandlungen (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach einer funktionierenden Waffenruhe die einzige NEN]: Das hat Herr Hampel gerade anders Möglichkeit, den Konflikt dauerhaft zu befrieden. Seit beschrieben!) 1992 bemüht sich die Minsker Gruppe der OSZE unter Sie begehen Kriegsverbrechen. Sie setzen international der Leitung der drei Co-Vorsitzenden aus USA, Russland geächtete Streubomben ein, sie bombardieren zivile Zie- und Frankreich erfolglos um eine Lösung des Langzeit- le – zivile Opfer sind die Folge –, Kultureinrichtungen konflikts. Als Mitglied der Minsk-Gruppe bekräftigt die und Kirchen. Die Erlöserkirche in Shushi wurde zweimal Bundesregierung ihre Unterstützung für die Co-Vorsit- angegriffen, vermutlich mit NATO-Waffen. Mein Kolle- zenden in ihren weiteren Bemühungen um eine Verhand- ge Stefan Keuter hat vor Ort ein Metallstück übergeben lungslösung. Das halte ich auch für den notwendigen und bekommen, das das nahelegt – NATO-Waffen, wie ge- richtigen Rahmen. In diesem Zusammenhang will ich sagt. auch noch einmal auf die seit 2007 vorliegenden Madri- der Prinzipien der Co-Vorsitzenden hinweisen, die vom (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollegen Wadephul vorgetragen worden sind. Die Co- NEN]: Haben Sie das Herrn Hampel einmal Vorsitzenden tragen diese vollkommen zu Recht als sechs erklärt?) gleichrangige Prinzipien vor, die nach meinem Dafürhal- Kriegsgefangene werden getötet und vermutlich sogar ten tatsächlich die einzig denkbare Lösung sein können. enthauptet. Die Türkei schickt islamistische Söldner aus Syrien und Irak und unterstützt damit den internationalen Bis heute sind aber die meisten dieser möglichen Maß- Terrorismus. (B) nahmen so stark umstritten, dass eine zeitnahe Umset- (D) zung praktisch unmöglich erscheint. Auf beiden Seiten Vertreter von Aserbaidschan haben wiederholt von besteht ein hohes Maß an Misstrauen und ein äußerst Vertreibung der Armenier gesprochen und sogar deren geringes Maß an Kompromissbereitschaft. Es gibt hier Vernichtung angedroht. Ich bin davon überzeugt, dass auch nicht nur eine gute und eine böse Seite. Auf beiden der Nationalislamist Erdogan von einem gesamtosmani- Seiten gibt es Schuld und Verstrickung. Wir haben keine schen Reich größeren Ausmaßes träumt, wo die Arme- andere Chance, als auf eine Verhandlungslösung hinzu- nier eben keinen Platz hätten. Die Türken als Tätervolk weisen. des Völkermords an den Armeniern 1915/1916 haben sich dazu auch noch nicht verhalten und haben das auch Herzlichen Dank. noch nicht aufgearbeitet, und die Armenier haben das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nicht vergessen. bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Die Armenier haben ihr gutes Recht, ihre Heimat zu ver- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: teidigen. Ihnen ist nicht zuzumuten, unter osmanischer Der Kollege Steffen Kotré hat das Wort für die AfD- Herrschaft oder unter anderer Fremdherrschaft zu sein. Fraktion. Das US-Außenministerium listet erhebliche Menschen- rechtsverletzungen in Aserbaidschan auf: willkürliches (Beifall bei der AfD) Vorgehen gegen Journalisten, willkürliche Verhaftungen, Folter, Morde in Polizeigewahrsam, systematische Steffen Kotré (AfD): Regierungskorruption und vieles andere mehr. Entschuldigung, ich habe meine Maske vergessen. Dagegen gibt es in Bergkarabach freie Wahlen. Dort herrscht eine zugegebenermaßen junge, aber: Demokra- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tie. Wir konnten uns auf früheren Reisen selber davon Können Sie Ihrem Kollegen bitte die Maske reichen, überzeugen. Wir haben in Bergkarabach größtenteils Herr Hampel? armenische Kultur entdeckt, und die Armenier haben das Gebiet ja auch mehrheitlich durch die Jahrhunderte (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Bitte schön! besiedelt. Die wenigen Moscheen, von den Armeniern Vorbildlich! – [CDU/CSU]: gepflegt, sind persischer Herkunft. Josef Stalin hat 1921 Mann, das machen wir doch nicht erst seit ges- gegen schon damals geltendes Recht willkürlich und zu tern!) Unrecht Bergkarabach an Aserbaidschan angegliedert. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23437

Steffen Kotré (A) Soll das heutzutage nun als rechtsstaatlich anerkannt wer- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) den? Bergkarabach hat ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk Der nächste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist und eine Staatsgewalt. Es ist eine entsprechende Volks- der Kollege Manfred Grund. abstimmung durchgeführt worden. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Armenier in Bergkarabach sind in akuter Gefahr. Wir haben uns vor Ort davon überzeugen können. Mit Manfred Grund (CDU/CSU): meinem Kollegen Stefan Keuter war ich vor Ort, im Ge- Herr Präsident! Zunächst von dieser Stelle, von unse- gensatz zu Ihnen. Wir haben uns vor Ort wirklich ein Bild rem Parlament aus gute Wünsche, Friedenswünsche für gemacht. die Menschen in Bergkarabach, in Armenien, aber auch (Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Das in Aserbaidschan, und dass sie eine bessere Nachbar- ist ja gerade der Skandal!) schaft bekommen, als sie sie in den letzten 100 Jahren gehabt haben. Wir tun etwas; aber die Bundesregierung und viele, die hier heute standen, sagen, sie wollen wieder nur reden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wieder nichts tun. der SPD) (Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Er Meine Damen und Herren, es gibt Geschichte, die sich weiß nicht, was er da sagt!) wiederholt, und es gibt Völker, es gibt Nationen, für die sich Geschichte in besonders tragischer Weise wieder- Aber das ist viel zu wenig. holt. Auch für die Menschen in Armenien, für die Arme- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nier in Bergkarabach und für die armenische Diaspora NEN]: Herr Kollege Hampel hat doch gesagt, wiederholt sich eine fürchterliche Geschichte. Armenier dass wir da nichts tun können!) werden aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, und wer nicht rechtzeitig davonkommt, wird ermordet, wird Es ist Eile geboten, und Neutralität bedeutet Zustim- bombardiert – auch mit Streubomben –, von Drohnen mung. Und wer meint, sich neutral verhalten zu können, beschossen oder sogar enthauptet. Verwundete können der irrt. nicht behandelt werden; Frauen und Kinder sind die größ- (Beifall bei der AfD) te Opfergruppe. Und wie immer in ihrer Geschichte sind Erdogan stiftet Unheil im Nordirak, in Syrien, in die Armenier auf sich allein gestellt. Die Welt, auch die Libyen, und er tritt aggressiv gegenüber dem Westen sich „zivilisiert“ nennende Welt, schaut weg, wie schon 1915 beim Massaker an den Armeniern im Osmanischen auf, zuletzt gegenüber dem französischen Präsidenten Reich oder wie bei unzähligen Pogromen davor und auch (B) Macron. Appeasement-Politik hat noch nie weiter- (D) geführt, meine Damen und Herren. danach. Wir reden heute von Krieg in Bergkarabach und von Deutschland hat die Türkei mit modernen Rüstungs- der Vertreibung der Armenier aus einer Region, in der gütern ausgestattet; das war schon immer unverzeihlich, nachweislich seit mehr als 2 000 Jahren armenische Zivi- aber damit muss jetzt Schluss sein. Wann stellt die Bun- lisation und Kultur zu finden sind. Dieses Bergkarabach desregierung endlich die Unterstützung für die Türkei auf ist eine grüne Oase im Südkaukasus, landschaftlich erin- allen Ebenen ein? Das ist die Frage. nert es an Mittelitalien. (Beifall bei der AfD) Wir sind nicht Partei und auch nicht Schiedsrichter in Wann also greift die Bundesregierung ein und setzt sich diesem langen Konflikt. Wir sind weit weg, leider auch aktiv für Menschenrechte, für Frieden und für das Selbst- emotional. Meine Damen und Herren, es gibt wohl fernes bestimmungsrecht der Völker ein? Wir fordern genau Leid, aber es gibt kein fremdes Leid. Wir haben Mitleid das, nämlich die Sicherung des Selbstbestimmungsrechts mit den Menschen in Karabach, mit den zivilen und mili- der Völker, auch für Bergkarabach. tärischen Opfern. Ich füge hinzu: Auch das Leid der vor 30 Jahren aus ihrer Heimat geflüchteten oder vertriebe- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen Aserbaidschaner berührt uns und macht uns traurig, NEN]: Herr Hampel fordert etwas ganz ande- und wir verurteilen die Gewalt, die von beiden Seiten res!) gegen Zivilisten ausgeht. Wir fordern sofortige Maßnahmen, die das Blutvergie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ßen wirksam – ich sage: wirksam – beenden, also nicht der SPD) nur mit Worten, sondern eben auch mit Taten. Bergkara- bach braucht keine Zuschauer. Deswegen fordern wir an Nun wird sehr oft das Völkerrecht strapaziert mit dem dieser Stelle wirksame Maßnahmen: Waffenembargo, Hinweis, dass Karabach sich innerhalb der völkerrecht- Sanktionen, Konten einfrieren und Einreiseverbote für lich anerkannten Grenzen Aserbaidschans befindet. Das die verantwortlichen Kriegstreiber, natürlich die soforti- soll auch nicht infrage gestellt werden. Wer sich aller- ge Beendigung der Beitrittsverhandlungen der EU mit dings zur staatsrechtlichen Verortung in die Geschichte der Türkei und die Beendigung der Zollunion. Die ver- begibt – einige haben das ausgeführt –, wird auf viele einbarte Waffenruhe muss gesichert werden, notfalls mit Ungereimtheiten stoßen, so auf Stalins handstreichartige Blauhelmen der UN mit einem robusten Mandat. Zuordnung von 1921. Für eine weiter gehende Abwä- gung zwischen Völkerrecht und dem Selbstbestim- Vielen Dank. mungsrecht der Völker fehlt hier die Zeit. Doch so viel (Beifall bei der AfD) Zeit bleibt: Krieg und Terror sind der schlimmste Verstoß 23438 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Manfred Grund (A) gegen das Völkerrecht, und es gibt ein Menschenrecht auf lassen, dass wir uns das genau anschauen, dass wir das (C) ein selbstbestimmtes und friedliches Leben in seiner dokumentieren und die Mittel, die uns zur Verfügung angestammten Heimat. stehen, entsprechend nutzen.

Wie aber geht es weiter? Möglich, dass in wenigen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Wochen alle Armenier aus Karabach vertrieben sind. Dr. Andreas Nick [CDU/CSU] und Manuel Wahrscheinlich aber werden sie sich verteidigen, in Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Höhenzügen eingraben und sich nicht vertreiben lassen. Aserbaidschan will Fakten schaffen. Aber Frieden kann Wir haben hier gestern Fragen des internationalen nicht herbeigebombt werden, und eine nachbarschaftli- Strafrechts diskutiert. Da, wo es geht, müssen wir den che Perspektive entsteht so auch nicht. Jede Granate auf Internationalen Strafgerichtshof nutzen. Aber man muss Karabach legt die Saat für den nächsten Krieg. auch darüber nachdenken, ob es in Fragen von Aserbaid- schan und Armenien Sondertribunale braucht, wie wir sie Herr Außenminister, wir unterstützen Sie in Ihren an anderen Stellen auch haben. Ansonsten gibt es noch Bemühungen, dass alles getan werden muss, dass beide das Weltrechtsprinzip. Das heißt, Menschen, die völker- Konfliktparteien der Überwachung eines Waffenstillstan- rechtswidrige Verbrechen begehen – ob aus Armenien des durch eine massive Präsenz der OSZE vor Ort zustim- oder aus Aserbaidschan –, können am Ende zur Rechen- men. Es gilt, eine Lösung zu finden, die sowohl Aserbaid- schaft gezogen werden. Ich finde, unsere Botschaft muss schans berechtigtem völkerrechtlichem Interesse an sein: Wir schauen uns das genau an, und wir ziehen euch territorialer Integrität als auch dem Selbstbestimmungs- zur Rechenschaft, wenn ihr das weiterhin betreibt. recht der Menschen, der Bevölkerung in Bergkarabach Rechnung trägt. Land gegen Frieden? Land gegen Selbst- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bestimmung? Dieser Austausch und ein Abkommen darüber müssen von der Weltgemeinschaft und von Frie- Es ist beschrieben worden: Die OSZE ist in den letzten denstruppen garantiert werden. Jahren Hauptakteur in dem Konflikt gewesen. Wir brau- chen die Wiederaufnahme und Intensivierung des Mins- Und wir? Wir sollten zumindest unseren Fehler von ker Prozesses. Aber es zeigt sich, wie ich finde, deutlich: 1915 nicht wiederholen, das Unrecht zu beschweigen. Auch das wird nicht reichen. Ich glaube, wir werden so Wir sollten Unrecht auch als solches bezeichnen und etwas wie eine Monitoringmission brauchen, um zu sanktionieren. Und wir sollten schon heute eine Geber- verhindern, dass der Konflikt, nachdem wir ihn hoffent- konferenz zum Wiederaufbau Bergkarabachs initiieren. lich eingehegt bekommen haben, immer wieder entspre- Wir sind aufgerufen, alles zu tun, damit sich Geschichte chend aufbrechen kann. Da gibt es Beispiele der OSZE in nicht wiederholen muss; denn auch wir haben von 1915 der Ostukraine. Wir haben aber auch Beispiele in Geor- (B) her etwas wiedergutzumachen. (D) gien, wo die EU in einer entsprechenden Monitoringmis- Vielen Dank. sion unterwegs ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Die OSZE ist der Hauptadressat in der Frage, wie mit ordneten der AfD) diesem Konflikt umzugehen ist. Ich will aber auch an den Europarat erinnern. Sowohl Armenien als auch Aserbaid- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schan als auch die Türkei sind Mitglied des Europarats und haben sich mit ihrer Mitgliedschaft dazu verpflichtet, Vielen Dank, Kollege Grund. – Für die SPD-Fraktion Konflikte gewaltfrei zu lösen. Auch das wird man deut- hat als Nächstes das Wort der Kollege Frank Schwabe. lich machen müssen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Die Konfliktlage ist, historisch gesehen, kompliziert Brand [Fulda] [CDU/CSU]) genug; das ist hier vielfach beschrieben worden. Das Problem ist, dass beide Seiten in diesem Konflikt glau- Frank Schwabe (SPD): ben, zu hundert Prozent recht zu haben. Dabei will ich Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und noch einmal unterstreichen: Völkerrechtlich ist die Frage Herren! Es ist schon umfassend geschildert worden: In klar: Bergkarabach gehört zu Aserbaidschan. Man muss Armenien und in Aserbaidschan werden wahrscheinlich wirklich sagen, dass Armenien in den letzten Jahren zu zurzeit Menschen massakriert. Deswegen ist es die über- wenig bereit war, offen zu verhandeln. Es hätte, glaube einstimmende Auffassung, glaube ich, des ganzen Hohen ich, Kompromisslösungen gegeben, was die Gebiete Hauses, dass wir alle dazu aufrufen, zu einem echten angeht. Nicht alle Gebiete in der Region sind zu 100 Pro- Waffenstillstand zu kommen und diesen entsprechend zent von Armeniern bewohnt. Da gibt es sozusagen auch zu respektieren. Zwischentöne und Zwischenlösungen, und Armenien war zu wenig bereit, darauf einzugehen. Auf der anderen Ich finde, der Aufruf ist das eine. Das andere ist – weil Seite muss man auch klipp und klar sagen – einfach weil immer gefragt wird, wo wir eigentlich handeln können –, es so ist –: Der Angriff, der jetzt gestartet wird, geht aus dass wir deutlich machen müssen, was wir eigentlich tun, von Aserbaidschan, wenn Menschenrechtsverbrechen begangen werden. Wenn willkürlich auf bewohnte Gebiete geschossen (Stefan Keuter [AfD]: Und der Türkei!) wird, dann sind das am Ende Kriegsverbrechen. Ich fin- de, wir müssen deutlich machen, dass wir diejenigen, die und er wird assistiert, orchestriert und eventuell sogar diese Verbrechen gerade begehen, nicht davonkommen angetrieben von der Türkei. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23439

Frank Schwabe (A) Der Konflikt ist kompliziert genug; aber es gibt eben tion diesmal ausgegangen ist. Es gibt zivile Opfer, es gibt (C) auch Länder außerhalb Armeniens und Aserbaidschans, Menschenrechtsverletzungen, und das alles muss rasch die eine unrühmliche Rolle spielen. Dazu gehört im Übri- ein Ende nehmen. gen auch Russland, das beide Länder aufrüstet, so wie im Wir rufen Armenien und Aserbaidschan dringend auf, Übrigen auch andere Länder Waffen in die beiden Länder die am 10. Oktober 2020 in Moskau erreichte Vereinba- liefern und damit den Konflikt antreiben. Russland hat rung eines humanitären Waffenstillstandes zwischen bei- diesen Konflikt in den letzten Wochen auch ein Stück den Ländern zu respektieren, jegliche Kampfhandlungen weit laufen lassen, möglicherweise weil es mit dem sofort einzustellen und weitere Opfer unbedingt zu ver- armenischen Ministerpräsidenten Auseinandersetzungen meiden. Armenien und Aserbaidschan haben sich ver- gab, und jetzt ist Russland nicht in der Lage, das ent- pflichtet, humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Jetzt müssen sprechend so einzudämmen, wie das in den letzten Jahren sie auch dringend die Bedingungen dafür schaffen. immer wieder gelungen ist. Was auf den ersten Blick wie eine regional begrenzte Aber der Konflikt wird auch durch innenpolitische kriegerische Auseinandersetzung wirken mag, hat durch- Motivation angetrieben – zweifellos in der Türkei, aber aus das Potenzial, sich zu einem Flächenbrand zu ent- auch in Aserbaidschan. Die autoritäre Regierung in Aser- wickeln. Nirgendwo sonst prallen die Interessen der baidschan ist nämlich weiß Gott nicht so fest im Sattel, Regionalmächte Russland, Türkei und Iran so dicht auf- wie das gelegentlich von außen aussieht. Ich glaube, dass einander wie hier. dort auch unter innenpolitischem Druck entsprechend gehandelt wird. Und wir stellen fest, dass der Konflikt auch durch die äußere Einmischung einzelner Regionalmächte nicht nur Insofern muss man deutlich machen: Es geht nicht, rhetorisch angeheizt, sondern auch materiell und logis- dass versucht wird, Fakten zu schaffen durch kriegerische tisch massiv unterstützt wird. Wie auch an anderer Stelle Auseinandersetzungen. Wir müssen alles tun, um den erleben wir im Kaukasus eine zunehmend aggressive und Menschen zu helfen, auch humanitäre Hilfe leisten. Da militarisierte Außenpolitik der Türkei. Dabei geht es hat Deutschland schon was auf den Tisch gelegt, sich nicht nur um das Ob, sondern auch um das Wie. Die daran beteiligt; aber wahrscheinlich wird es noch mehr Berichte über den Einsatz von Söldnern geben besonde- sein müssen. ren Anlass zur Besorgnis. Am Ende wird dieser Konflikt nicht durch Krieg zu Der Konflikt um Bergkarabach ist vordergründig eine lösen sein. Man kann territoriale Gewinne erzielen, ja, der Erblasten der früheren Sowjetunion. Seine Ursachen zweifellos; aber eine Lösung wird das Ganze nicht sein, reichen aber deutlich weiter zurück. Insbesondere drei auch nicht befriedigend für Aserbaidschan. Am Ende Aspekte machen ihn so komplex und eine friedliche (B) (D) wird es nur am Verhandlungstisch, über die OSZE, Lösung so schwierig: gehen. Erstens. Angestammte Siedlungsgebiete ethnischer Vielleicht ganz zum Schluss – ich habe noch ein paar Gruppen einerseits und staatliche Grenzziehungen ande- Sekunden –: Die AfD ist, wie bei vielen außenpolitischen rerseits waren und sind in der Kaukasusregion nicht Fragen, gespalten. Das haben wir schon bei China erlebt. deckungsgleich. Dies gilt insbesondere für die überwie- Die einen dienen sich an bei der autoritären Regierung in gend von Armeniern besiedelte Region Bergkarabach, Baku oder wollen nichts tun, und andere reisen nach die völkerrechtlich Teil von Aserbaidschan, aber seit Bergkarabach unter Missachtung des Völkerrechts. Im einer militärischen Intervention 1992 von Armenien Übrigen muss man sagen: Hilfreich ist weder das eine besetzt ist. Solange sich alle Beteiligten am vermeintli- noch das andere. chen Ideal eines ethnisch homogenen Nationalstaats orientieren, prallen die beiden Prinzipien der territorialen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker in einem schwer aufzulösenden Gegensatz auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einander. Das legt eben auch den Grundstein für wechsel- der CDU/CSU) seitige Vertreibungen und – um dieses schreckliche Wort zu gebrauchen – ethnische Säuberungen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Zweitens. Es handelt sich auch nicht um einen der Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der sogenannten Frozen Conflicts, von denen im postsowjeti- Kollege Dr. Andreas Nick. schen Raum häufig die Rede ist. Wenn man etwa in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats miter- (Beifall bei der CDU/CSU) lebt, wie Vertreter Aserbaidschans und Armeniens diesen Konflikt seit Jahren und Jahrzehnten auch rhetorisch beständig miteinander austragen, so sieht man: Es kann Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): von einem Frozen Conflict wahrlich keine Rede sein. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, der Konflikt ist für beide Länder mittlerweile gera- Nachdem sich in den letzten Jahren, insbesondere seit dezu identitätsstiftend. der Samtenen Revolution in Armenien 2018, kurzzeitig Hoffnung auf eine Entspannung im Konflikt um die Drittens. Dass sich in diesem Konflikt orthodoxe Region Bergkarabach abgezeichnet hatte, toben seit Christen, eine der ältesten christlichen Denominationen dem 27. September die blutigsten Kämpfe seit 1994. Es überhaupt, und überwiegend schiitische Muslime gegen- ist angesprochen worden, von wem diese Gewalteskala- überstehen, verleiht der Situation eine gefährliche 23440 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Andreas Nick (A) Sprengkraft im Hinblick auf ein fehlgeleitetes Narrativ Christian Petry (SPD): (C) eines Kampfes der Kulturen oder Religionen und einer Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- entsprechend motivierten Einmischung von außen. ren! Bergkarabach – eine lange Geschichte von Leid, Vertreibung und Tod – hat seit September wieder einen Es ist daher dringend geboten, dass Armenien und neuen Höhepunkt, einen traurigen Höhepunkt. Dabei Aserbaidschan auf den Pfad zu einer friedlichen und befindet sich, wie wir wissen, Bergkarabach in einer dauerhaften Konfliktlösung zurückkehren. Als Mitglied wahrlich schwierigen Region. Der gesamte Kaukasus – der OSZE-Minsk-Gruppe hat Deutschland seine Unter- Abchasien, Südossetien, Tschetschenien, Bergkarabach – stützung für die Co-Vorsitzenden Frankreich, USA und ist eine wirklich sehr komplizierte, schwierige Region, in Russland in ihren Bemühungen für eine Verhandlungs- der das Leid der Zivilbevölkerung oftmals aus politischen lösung stets bekräftigt. Dieses Signal soll auch von der Gründen in Kauf genommen wird. heutigen Debatte hier ausgehen. Ich finde es sehr gut, dass viele hier sofort reagiert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- haben: der Sicherheitsrat einstimmig, die OSZE-Minsk- ordneten der SPD) Gruppe – es ist genannt worden – mit der Sondersitzung, die EU, der Europarat, die NATO. Alle haben einen Forderungen, ausgerechnet die Türkei zu einem weite- sofortigen Waffenstillstand gefordert, alle haben die ren Co-Chair der Minsk-Gruppe zu machen, finden aus- Rückkehr an den Verhandlungstisch gefordert. Dieses drücklich nicht unsere Unterstützung. Signal ist deutlich und gut, muss allerdings auch durch- setzbar sein. Und da liegt, wie wir wissen, die Schwie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rigkeit. Aber für eine nachhaltige Lösung des Konflikts muss Die Minsk-Gruppe soll wieder die Verhandlung über- man durchaus darüber nachdenken, ein Treffen der nehmen – der Kollege Schwabe hat es gesagt –; das ist gesamten Minsk-Gruppe anzustreben. In diesem Format auch gut so, das unterstützen wir. Deutschland hat die könnte gerade auch die EU mit ihren zahlreichen dort Unterstützung zusagt. Aber wir haben durchaus – und vertretenen Mitgliedstaaten eine noch aktivere Rolle ein- es sind berechtigte – Zweifel, dass wir da tatsächlich nehmen. Und dann wäre dort auch die Türkei gefordert, durchsetzungsfähig zum Ziel kommen. einen konstruktiven Beitrag zur Konfliktlösung zu leis- Mit dem Beitritt zur Parlamentarischen Versammlung ten. des Europarats haben sich die Länder Aserbaidschan und Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns Armenien, aber auch die Türkei und Russland dazu ver- keine Illusionen: Nach nahezu 30 Jahren des Konflikts pflichtet, Konflikte friedlich zu lösen. Daraus resultiert (B) werden für eine friedliche Zukunft auf allen Seiten die Forderung nach dem sofortigen Stopp des Konflikts. (D) schmerzhafte Kompromisse notwendig sein. Umso Auch der Ausschuss für Recht und Menschenrechte, an unverzichtbarer ist aber der kontinuierliche Dialog mit dem ich letzte Woche teilnehmen durfte, hat – selbstver- und unter den Konfliktparteien. In Formaten wie der Par- ständlich unter Beteiligung der Vertreter beider Länder – lamentarischen Versammlung des Europarats können eine Resolution verfasst, welche die Umsetzung dieser auch wir Abgeordnete diesen Dialog konstruktiv führen, Verpflichtung beinhaltet. ermutigen und befördern. Letztlich bedeutet dies, dass die Maßnahmen, die vor Ort getätigt wurden, auch vor dem Europäischen Wir in Deutschland sollten dabei einerseits der Ver- Gerichtshof für Menschenrechte überprüft werden kön- suchung widerstehen, uns von einer der Konfliktparteien nen. Das ist ebenfalls ein Punkt, dessen Umsetzung wir vereinnahmen zu lassen – bei allem Verständnis für die mit Energie in den Gremien, in denen wir vertreten sind, jeweilige Position und Betroffenheit. Und andererseits durchaus fordern können. Alle kriegerischen Handlungen dürfen wir natürlich keineswegs in eine Gleichgültigkeit sind zu unterlassen, und dies sofort. Das ist die politische verfallen, als berühre es uns nicht wirklich. Um den Forderung auch des heutigen Tages. Osterspaziergang aus Goethes Faust zu zitieren: „Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schla- (Beifall bei der SPD) gen.“ Wir haben es hier mit Verbrechen gegen die Zivilbe- Dass dies heute in dieser Aktuellen Stunde deutlich völkerung zu tun. Wir wissen, dass hier Zivilisten getötet geworden ist, dafür danke ich allen Kolleginnen und Kol- wurden, zivile Einrichtungen beschossen wurden, und legen für ihre Beiträge. dies nicht nur aus Zufall oder militärischem Versehen. Auch diese Verbrechen – Kollege Schwabe hat es bereits Vielen Dank. genannt – müssen überprüft werden können. Sie müssen auch strafrechtlich verfolgt werden können, es muss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- möglich sein, ein Tribunal einzurichten, Anklage zu erhe- ordneten der SPD) ben. Das muss jedem klar sein, der dort handelt. Ich glaube, es ist fast eine Selbstverständlichkeit, dass auch Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der Deutsche Bundestag dies so sieht. Der nächste Redner ist der Kollege Christian Petry, Auch die Europäische Union hat über die Östliche SPD-Fraktion. Partnerschaft Handlungsoptionen. Es wird über Abkom- men verhandelt, die bereits mit anderen Ländern wie der (Beifall bei der SPD) Ukraine geschlossen wurden: Handelsabkommen, Frei- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23441

Christian Petry (A) zügigkeiten. Dort muss das deutliche Signal sein, dass Aber klar ist: Beide Parteien müssen sofort zu einem (C) dies zurzeit eingefroren ist. Solange hier Krieg, Tod und Waffenstillstand zurückkehren. Völlig inakzeptabel sind Leid herrschen, kann in dieser Hinsicht nicht verhandelt der Beschuss der Zivilbevölkerung, der Angriff auf Kran- werden. kenhäuser und der Einsatz von Streumunition. Diese Kriegsverbrechen müssen wir aufs Schärfste verurteilen, Aber was wir auch tun können, ist, über die Östliche und die Kriegsverbrecher müssen zur Rechenschaft gezo- Partnerschaft ein weiteres Ziel zu erreichen, nämlich die gen werden. Stärkung der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft dür- fen wir hier nicht aus den Augen verlieren. Hiermit haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir noch ein Instrument, hier können wir noch einsteigen. des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) Das muss selbstverständlich verstärkt genutzt werden. Ebenso wenig brauchen wir aufhetzende Sprache des (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der türkischen Präsidenten. Als NATO-Mitglied muss die CDU/CSU) Türkei Verantwortung übernehmen. Denn es wäre dramatisch, wenn jetzt der Winter einbricht Klar ist aber auch: Man muss die eingebrannten Narra- und der Schnee im Kaukasus das Leid und die Toten tive überwinden. Die Menschen, die in Frieden und in bedeckt und alles wieder in Vergessenheit gerät, bis es Sicherheit leben möchten, müssen in den Mittelpunkt im Frühjahr wieder taut und das Ganze von vorne beginnt gerückt werden. Es braucht Vermittlung, Dialog, Media- und wir wieder hier in einer Aktuellen Stunde bedauern, tion. Ich finde es wahnsinnig bedrückend, dass nach dass wir nicht weitergekommen sind. Hier sind die Hand- Armeniens Regierungswechsel zu Paschinjan im Jahr lungen deutlich zu nennen. Herr Wadephul hat es eben 2018 sich die kurzzeitig sichtbare Entspannung ins gesagt: Aserbaidschan hat begonnen. Auch das ist für Gegenteil verkehrt hat und letztendlich eine Spirale in mich in dieser aktuellen Situation sehr klar. Gang gekommen ist, an deren Ende nun furchtbare Gewalt steht. Völlig unklar und wohl auch nicht von diesem Pult aus abschließend zu bewerten ist die Schuldfrage. Das ist Da beide Länder in den vergangenen Jahren militärisch wirklich schwierig. Die territoriale Integrität oder das massiv aufgerüstet haben, ist weiterhin Schlimmstes zu Selbstbestimmungsrecht, die Besetzungen, die Befreiun- befürchten. Daher muss es oberstes Ziel sein, eine weitere gen, die Kriege – dort ist Schuld auf beiden Seiten zu Eskalation und eine humanitäre Katastrophe zu verhin- suchen und zu finden. Und dies muss uns dazu führen, dern, und dazu braucht es eben diesen Waffenstillstand. dass wir uns hier in Bezug auf das Pulverfass Kaukasus Wenn die dritte vereinbarte Waffenruhe innerhalb von für einen sofortigen Stopp einsetzen, für eine Rückkehr zwei Wochen nicht hält, dann ist dies ein beunruhigendes der Kampfhandlungen, für eine Rückkehr an den Ver- Signal. Wir brauchen einen Stopp von Waffenlieferungen (B) handlungstisch, dafür, alle Instrumentarien des Europa- an beide Länder, und davon müssen wir nicht nur Russ- (D) rates und der Europäischen Union zu nutzen, die Verbre- land, das beide Staaten beliefert, überzeugen, sondern vor chen an der Zivilbevölkerung zu beenden und dafür ein allem die Türkei; denn durch die einseitige militärische großes und starkes Signal aus diesem Bundestag zu sen- Unterstützung Aserbaidschans schürt die Türkei exis- den. tenzielle Ängste bei der armenischen Bevölkerung, und vor dem Hintergrund des grausamen Völkermords – das Herzlichen Dank und Glück auf! ist bereits angesprochen worden – an den Armeniern vor (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie über 100 Jahren müssen wir das sehr ernst nehmen. des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) Es ist inakzeptabel, dass Aserbaidschan scheinbar ermutigt ist, eine kompromisslose Haltung einzunehmen, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und den Krieg bis zu einem vermeintlichen Sieg fortset- Vielen Dank. – Der letzte Redner in der Aktuellen zen möchte. Das können wir nicht zulassen. Stunde ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Frak- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tion. der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine mögliche Rolle unseres Landes und der Europä- ischen Union sowie das, was kurzfristig möglich ist, wur- Thomas Erndl (CDU/CSU): den in dieser Debatte besprochen. Wir brauchen aber Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und einen Weg in die Zukunft und eine Überzeugung in den Kollegen! Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und beiden Gesellschaften, dass friedliches Zusammenleben Armenien um die Enklave Bergkarabach ist hochkom- nur geht, wenn man die Vergangenheit in den Köpfen plex – das wurde hier schon ausführlich angesprochen –, überwindet. Denn klar ist, dass Dialog und Mediation eine Mischung aus ethnischem Konflikt, dessen Wurzeln immer die besseren Instrumente sind, und das können bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, und territorialem wir langfristig – mein Vorredner hat es auch angespro- Konflikt, bei dem zwei unterschiedliche Narrative auf- chen – nur durch Wirken in die Zivilgesellschaften hinein einanderprallen: Zum einen beruft sich Aserbaidschan erreichen. auf das Prinzip der territorialen Integrität, und zum ande- Dabei müssen wir auch die jeweilige Diaspora beider ren begründet Armenien seine Ansprüche mit dem Recht Seiten in Europa und in den USA erreichen, die hier auch auf nationale Selbstbestimmung. Aufgrund der Komple- ihre Rolle spielen und ihren Beitrag zur Situation, wie sie xität gibt es kein Schwarz-Weiß, keine einfachen Lösun- jetzt ist, geleistet haben. So schwierig und mühselig das gen. ist, aber wir sollten da auch mit unseren Stiftungen in der 23442 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Thomas Erndl (A) Region unseren Beitrag leisten, auch wenn das in Aser- nicht zum stellvertretenden Mitglied des Sondergre- (C) baidschan momentan nicht funktioniert. Aber trotzdem miums nach § 3 Absatz 3 StabMech-Gesetz gewählt wor- sind wir in der Region mit den politischen Stiftungen den.5) präsent sowie mit den beiden Goethe-Zentren, die 2017 gegründet wurden. In Armenien und Aserbaidschan kön- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 f auf: nen wir vielleicht einen kleinen Beitrag leisten, sodass a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Dialogbereitschaft in der Frage des friedlichen Zusam- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur menlebens in den Köpfen Platz findet. Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Herzlichen Dank. Pflegeverbesserungsgesetz – GPVG) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Drucksache 19/23483 ordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vielen Dank, Tom Erndl. – Die Aktuelle Stunde ist Ausschuss Digitale Agenda beendet. Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petr Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, Bystron, Dietmar Friedhoff, Mariana Iris gebe ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Harder-Kühnel, weiterer Abgeordneter und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen der Fraktion der AfD bekannt.1) Elektronische Dokumentationspflicht Zunächst das Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des nach der Richtlinie für organisierte Vertrauensgremiums gemäß § 10a der Bundeshaushalts- Krebsfrüherkennungsprogramme ausset- ordnung: abgegebene Stimmzettel 657. Mit Ja haben zen gestimmt 124, mit Nein 509, Enthaltungen 24. Der Abge- ordnete Marcus Bühl hat damit die erforderliche Mehr- Drucksache 19/23715 heit von 355 Stimmen nicht erreicht und ist damit nicht in Überweisungsvorschlag: das Vertrauensgremium nach § 10a der Haushaltsordnung Ausschuss für Gesundheit (f) gewählt.2) Ausschuss für Digitale Agenda c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Das Ergebnis der Wahl von zwei Mitgliedern des Gre- (B) Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, (D) miums gemäß § 3 Bundesschuldenwesengesetzes: Abge- Uwe Witt, weiterer Abgeordneter und der geben wurden auch hier 657 Stimmzettel. Auf Albrecht Fraktion der AfD Glaser entfielen 102 Jastimmen, 522 Neinstimmen und 30 Enthaltungen. Es gab 3 ungültige Stimmzettel. – Testzentren und Kostenübernahme des Volker Münz: 125 Jastimmen, 499 Neinstimmen, 28 Ent- Bundes bei Corona-Testungen von Reiser- haltungen, 5 ungültige Stimmzettel. Die Abgeordneten ückkehrern und Volker Münz haben damit die erfor- derliche Mehrheit nicht erreicht.3) Drucksache 19/23712 Überweisungsvorschlag: Dann gebe ich Ihnen das Ergebnis der Wahl eines Ausschuss für Gesundheit (f) ordentlichen Mitglieds des Sondergremiums gemäß § 3 Ausschuss für Tourismus Absatz 3 StabMech-Gesetz bekannt. Hierzu wurden auch d) Beratung des Antrags der Abgeordneten wieder 657 Stimmzettel abgegeben, davon 6 ungültig. Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Mit Ja haben gestimmt 130 Abgeordnete, mit Nein haben Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne- gestimmt 497, Enthaltungen 24. Damit ist der Abgeord- ter und der Fraktion DIE LINKE nete Peter Boehringer nicht als Mitglied des Sondergre- miums gemäß § 3 Absatz 3 des StabMech-Gesetzes ge- Kapitaleinkünfte bei der Ermittlung der wählt worden, da er die erforderliche Mehrheit nicht Krankenversicherungsbeiträge berück- erreicht hat.4) sichtigen Und schließlich das Ergebnis der Wahl eines stellver- Drucksache 19/23699 tretenden Mitglieds des Sondergremiums nach § 3 Überweisungsvorschlag: Absatz 3 StabMech-Gesetz: abgegebene Stimmen 657, Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ungültige Stimmen 1. Mit Ja haben gestimmt 119, mit Haushaltsausschuss Nein haben gestimmt 517, Enthaltungen 20. Damit ist auch die Abgeordnete Dr. Birgit Malsack-Winkemann e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein- Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer 1) Namensverzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 5 Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 2) Ergebnis Anlage 2 NIS 90/DIE GRÜNEN 3) Ergebnis Anlage 3 4) Ergebnis Anlage 4 5) Ergebnis Anlage 4 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23443

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Für einen Kulturwandel in der Geburts- heit. Wir erwarten auch für 2021, dass die Einnahmen (C) hilfe – Frauen und Kinder in den Mittel- zurückgehen. Gleichzeitig haben wir Mehrausgaben auf- punkt grund von Corona. Drucksache 19/19165 Jetzt geht es darum, um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) den Zusatzbeitrag weitestgehend stabil zu halten, ver- Ausschuss für Arbeit und Soziales schiedene Maßnahmen zu ergreifen: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir werden daher – erstens – 2021 einen ergänzenden f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bundeszuschuss von 5 Milliarden Euro vorsehen. Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein- Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Zweitens. Aus den Finanzreserven der Kassen, die Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 0,4 Monatsausgaben überschreiten, werden wir einmalig NIS 90/DIE GRÜNEN 8 Milliarden Euro in den Gesundheitsfonds überführen. Drittens. Die Verpflichtung der Kassen zum stufenwei- Gesundheitsregionen – Aufbruch für sen Abbau überschüssiger Finanzreserven wird auf Kas- mehr Verlässlichkeit, Kooperation und sen mit Finanzreserven von mehr als 0,8 Monatsausgaben regionale Verankerung in unserer ausgedehnt werden. Gesundheitsversorgung Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz werden Drucksache 19/21881 wir die Versorgung in einem Bereich verbessern, der Überweisungsvorschlag: elementar ist, nämlich in der Geburtshilfe und der Ausschuss für Gesundheit (f) Hebammenversorgung. Warum ist das für uns ein Kern- Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Arbeit und Soziales anliegen? Das ist für uns ein Kernanliegen, weil werden- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen de Mütter unsere Unterstützung brauchen. Das ist für uns Beschlossen wurde eine Aussprachedauer von ein Kernanliegen, weil wir eine bessere Betreuung der 30 Minuten. Schwangeren während der Geburt haben wollen. Und das ist für uns ein Kernanliegen, weil wir die Arbeits- Es beginnt mit der Aussprache der Staatssekretär bedingungen der Hebammen in der Geburtshilfe nach- Dr. Thomas Gebhart. Bitte schön, Herr Staatssekretär. haltig verbessern wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Was sehen wir konkret vor? Ein Förderprogramm für drei Jahre. (B) (D) Dr. Thomas Gebhart, Parl. Staatssekretär beim Bun- Erstens. Pro 500 Geburten im Jahr in einer Klinik desminister für Gesundheit: erhalten diese Kliniken jeweils eine halbe zusätzliche Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Hebammenstelle extra finanziert. Das führt zu 600 ren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir die zusätzlichen Vollzeitstellen für Hebammen; das ist eine Versorgung der Versicherten in einer ganzen Reihe von ganze Menge. Bereichen weiter verbessern. Ein Bereich, der nicht erst Zweitens. Wir sehen vor, zusätzliches Assistenzperso- seit heute ganz oben auf der Tagesordnung steht, ist der nal zu finanzieren. Weshalb? Weil uns die Hebammen aus Bereich der Pflege. Denn es ist völlig klar – wir wissen es der Praxis heraus immer wieder berichten, dass sie hohe alle –: Wir haben im Bereich der Pflege enorme Heraus- Arbeitsbelastungen haben, teilweise und stellenweise forderungen, und wir gehen diese Herausforderungen an. auch Überlastungssituationen. Dies hängt mit fachfrem- Auch die Maßnahmen, die wir bereits ergriffen haben, den Tätigkeiten zusammen. Deswegen finanzieren wir haben immer das Ziel: mehr Personal, bessere Arbeits- Assistenzpersonal. Das führt zu 700 zusätzlichen Stellen, bedingungen in der Pflege. die extra finanziert werden. Das entlastet die Hebammen. Das führt dazu, dass sich Hebammen stärker als bisher Heute gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt hin auf ihre eigentlichen Kernaufgaben konzentrieren kön- zu diesem Ziel, nämlich: 20 000 zusätzliche Stellen für nen. Es unterstützt die Hebammen. Es unterstützt die Pflegehilfskräfte in der Altenpflege werden vollständig werdenden Mütter. Das Programm kostet rund 200 Mil- über einen Vergütungszuschlag finanziert. Das heißt, lionen Euro. Aber ich sage: Jeder Euro in diesen Bereich wir schaffen 20 000 zusätzliche Stellen, die extra finan- investiert ist sinnvoll investiert. ziert werden, ohne die Pflegebedürftigen finanziell zu belasten. Meine Damen und Herren, das ist ein weiterer Ich freue mich auf die Beratungen. wichtiger Schritt und ein erster Schritt hin in Richtung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eines verbindlichen Personalbemessungsverfahrens für ordneten der SPD) die stationären Pflegeeinrichtungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Meine Damen und Herren, die Coronapandemie for- Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Es macht sich dert uns alle in ganz verschiedener Hinsicht, und es ist bereit für die Fraktion der AfD der Kollege Uwe Witt. auch klar: Die Coronasituation bedeutet für die gesetz- Herr Kollege, wenn Sie noch einen Moment warten. liche Krankenversicherung eine enorme finanzielle (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Zu Proto- Belastung, kaum vergleichbar mit Krisen der Vergangen- koll!) 23444 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) So. Jetzt haben Sie das Wort. sprach er von kostenlosen Tests. Kostenlos? Zwar müs- (C) sen die Betroffenen diese staatlich angeordneten Tests (Beifall bei der AfD) nicht aus eigener Tasche zahlen, aber dafür alle gesetzlich Krankenversicherten. Denn die Kosten werden von den Uwe Witt (AfD): gesetzlichen Krankenkassen übernommen und damit von Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und den Beitragszahlern. Mit unserem Antrag fordern wir die Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten und hier Regierung auf, Klarheit zu schaffen, dass die gesetzlich im Saal! Krankenversicherten nicht die Kosten für die Entschei- (Marianne Schieder [SPD]: Zuschauerinnen dung der Regierung tragen müssen. gibt es auch!) (Beifall bei der AfD) Konzentrieren wir uns mal auf die negativen Punkte Ihres Des Weiteren fordern wir in unserem Antrag, dass die Gesetzes. Das vorgelegte Gesundheitsversorgungs- und Testungen nur in den dafür einzurichtenden Testzentren Pflegeverbesserungsgesetz ist wieder einmal ein Versuch, erfolgen dürfen. Damit soll verhindert werden, dass unter dem Deckmantel von Verbesserungen Kosten, die Gesundheitsämter und Grundversorgungspraxen zu durch das unstrukturierte Krisenmanagement der Regie- Infektionsherden werden, wenn diese von Reiserückkeh- rung entstanden sind, auf andere abzuwälzen, in diesem rern völlig ungesteuert aufgesucht werden. konkreten Fall auf die Beitragszahler der gesetzlichen Kommen wir zu unserem zweiten Antrag. Lobenswer- Krankenkassen. terweise möchte die Regierung eine elektronische Doku- Den gesetzlichen Krankenkassen ist durch die Folgen mentationspflicht für organisierte Krebsfrüherkennungs- des Shutdowns und der durch die Regierungsmaßnahmen programme vorschreiben. Leider ist es einem Großteil hervorgerufenen Wirtschaftskrise allein für 2020 ein der deutschen Arztpraxen wegen fehlender IT-Infrastruk- Schaden in Höhe von 17 Milliarden Euro entstanden. tur nicht möglich, diese elektronische Dokumentation Diese Summe setzt sich laut einer Prognose des GKV- zum 1. Oktober 2020 einzuführen. Daher fordern wir, Spitzenverbandes aus coronabedingten Zusatzkosten und die verbindliche elektronische Dokumentation bis auf vor allen Dingen aus Beitragsausfällen aufgrund der Weiteres auszusetzen, bis die Regierung ihre Hausaufga- Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zusammen. ben im Bereich der Digitalisierung erledigt hat. Über diesen Gesetzentwurf möchte Herr Spahn nun Vielen Dank. dieses Defizit ausgleichen – eine ehrenwerte Sache, die- (Beifall bei der AfD) sen Verlust auszugleichen, allerdings bereitet das Wie mir doch erhebliche Kopfschmerzen. Sie wollen einen (B) Zuschuss aus Steuermitteln in Höhe von 5 Milliarden Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (D) Euro an die Krankenversicherungen zahlen – sehr gut, Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die kann ich da nur sagen – und leider einen tiefen Griff in Kollegin Bärbel Bas. die Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen in Höhe (Beifall bei der SPD) von 8 Milliarden Euro machen. Es verbleibt eine Finan- zierungslücke von 4 Milliarden Euro. Bärbel Bas (SPD): Und jetzt wird es für die gesetzlichen Krankenkassen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem sehr interessant: Das im Gesetz enthaltene Anhebungs- vorliegenden Gesetzentwurf werden wir erhebliche Ver- verbot für Zusatzbeiträge und die Verpflichtung zum stu- besserungen in verschiedensten Bereichen durchführen. fenweisen Abbau überschüssiger Finanzreserven führen Sie sind gerade angesprochen worden, aber ich will sie nun dazu, dass wieder einmal die Rücklagen der gesetz- gerne noch einmal nennen; denn es ist uns wichtig, dass lichen Krankenkassen weiter für Fehlentscheidungen der wir insbesondere an zwei Stellen auch Gutachten umset- Regierung herhalten müssen. zen, die uns vorliegen. Das eine ist das Hebammenstel- (Beifall bei der AfD) len-Förderprogramm; das wird Bettina Müller gleich sicherlich noch etwas näher erläutern. Hier geht es um Ich erinnere daran, dass bereits jetzt der Zuschuss zur die Förderung zusätzlicher Hebammenstellen, die drin- Deckung der versicherungsfremden Leistungen an die gend erforderlich sind. In dem Gutachten stehen aber Krankenversicherung deutlich zu niedrig ist. Das heißt, noch weitere Maßnahmen. Wir werden im weiteren gesetzlich versicherte Arbeitnehmer sowie deren Arbeit- Verfahren darüber diskutieren, ob es allein bei der Ein- geber subventionieren die versicherungsfremden Leis- richtung dieser Stellen bleibt oder ob es im Laufe des tungen, die der Staat großzügig verteilt, und nun Gesetzgebungsverfahrens Änderungen auch bei den subventionieren genau diese Beitragszahler die Folgen Arbeitsbedingungen für Hebammen geben wird. des strategisch verbesserungswürdigen Coronamissma- nagements. Insgesamt wird sich der Griff in die Kranken- Wichtig im Gesetzentwurf ist auch das Pflegestellen- kassenreserven mindestens auf 12 Milliarden Euro belau- Förderprogramm, das wir für den Bereich Altenpflege fen und damit wenigstens zwei Drittel der Rücklagen vorgesehen haben, das vollständig über den Vergütungs- aufbrauchen. zuschlag finanziert werden soll. Lassen Sie mich nun kurz zu unserem Antrag bezüg- (Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD]) lich der Testpflicht der sogenannten Reiserückkehrer Auch das war uns ein wichtiger Punkt, damit nicht die kommen. Als Gesundheitsminister Jens Spahn Ende Juli Pflegebedürftigen in den Einrichtungen die Kosten refi- die Coronatestpflicht für Reiserückkehrer einführte, nanzieren müssen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23445

Bärbel Bas (A) (Beifall bei der SPD) Insofern freue ich mich auf die weiteren Beratungen (C) und darauf, dass wir uns das anschauen werden. Ein weiterer Punkt ist, dass wir insbesondere bei den bedarfsnotwendigen Krankenhäusern oft das Problem Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. haben, dass die Abteilungen der Kinder- und Jugendme- dizin oft nicht berücksichtigt wurden – selbst bei Förder- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) geldern, die in die Häuser geflossen sind. Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Gesetzentwurf vorgesehen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: haben, dass speziell der Bereich der Kinder- und Jugend- Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Nächste Rednerin medizin, der Kinderkrankenhäuser, die bedarfsnotwendig ist die Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion. sind, und auch die entsprechenden Abteilungen von die- sem Programm profitieren werden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Nicole Westig (FDP): Nichtsdestotrotz soll das alles finanziert werden. Inso- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fern ist es richtig und auch zwingend, dass wir einen ist gut, die Gesundheitsversorgung und die Pflege in ergänzenden Bundeszuschuss für die Finanzierung der unserem Land zu verbessern. Es ist besonders gut, dass gesetzlichen Krankenversicherung bekommen. Es ist diese Debatte über Gesundheitsschutz hier stattfindet, wo auch richtig – das haben wir als Sozialdemokraten immer sie hingehört, in unserem Parlament. gesagt –, dass die durch die Pandemie entstandenen Kos- (Beifall bei der FDP) ten nicht alleine zulasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, der Arbeitgeber und Rentnerinnen und Aber hält das Gesetz auch, was sein klangvoller Name Rentner gehen können. Hier kann man den Krankenkas- verspricht? sen nur danken, dass sie durch ihre Organisationskraft und auch durch ihre Tatkraft dafür gesorgt haben, dass (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ wir in der Pandemie viele Maßnahmen schnell umsetzen DIE GRÜNEN]: Nein!) konnten. Daran haben wir Freie Demokraten unsere Zweifel; denn Trotzdem ist es richtig, dass wir trennscharf gucken viele, durchaus richtige Einzelmaßnahmen ergeben noch müssen: Welche Kosten werden auch in Zukunft noch lange nicht ein gutes Ganzes. Wir brauchen aber ein entstehen? Dass wir jetzt einen ergänzenden Bundeszu- umfassendes Gesamtkonzept, eine Strategie, um unser schuss in Höhe von 5 Milliarden Euro bekommen, ist das Gesundheits- und Pflegesystem nachhaltig zu verbessern und zu stärken; denn dieses System ist aktuell so gefor- (B) eine. Ich sage aber auch voraus: Wir werden uns noch mal (D) damit befassen müssen, ob der so weit ausreichend ist. dert wie nie zuvor. Die Pandemie zeigt uns wie durch ein Diese Diskussion werden wir führen, auch wir mit unse- Brennglas Probleme, die schon lange bestehen. rem Bundesfinanzminister. Jetzt hören wir, dass wir zwar eine große Anzahl an Intensivbetten haben, die Pflegenden für die Versorgung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der jedoch fehlen. Meine Kolleginnen und Kollegen, der Per- CDU/CSU) sonalmangel in der Pflege ist wahrlich keine neue Aber dass wir Mittel in dieser Höhe für das Jahr 2021 Erkenntnis. zugesagt bekommen haben, ist ein wichtiger Schritt. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das stimmt!) Was mir noch ein bisschen Bauchgrimmen bereitet, Dennoch führt dieser Entwurf stur fort, was schon beim betrifft die Beitragsautonomie, ein Kernelement der Pflegepersonal-Stärkungsgesetz der falsche Weg war. Selbstverwaltung. Auch wenn uns das Ziel eint, dass 20 000 neue Stellen für Pflegeassistenzkräfte werden wir insgesamt die Sozialversicherungsbeiträge trotz Pan- finanziert; doch niemand weiß, wo die Pflegenden dafür demie nicht über besagte 40 Prozent steigen lassen wol- herkommen sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass bei len, werden wir uns angucken müssen, ob das, was jetzt der Ausbildung der Pflegehilfskräfte aktuell ein ziemli- im Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, funktioniert, näm- ches Chaos herrscht. Je nach Bundesland ist sie zeitlich, lich durch eine gewisse Pauschalregelung Rücklagen inhaltlich und wirtschaftlich anders geregelt. Die GroKo abzuschöpfen, aber gleichzeitig einen Beitragsstopp ein- will nun eine Nachqualifizierung der Pflegenden quasi im zuführen. Das wird einige Kassen, weil die Finanzlagen laufenden Prozess zulassen. Welches Qualifizierungsni- einfach unterschiedlich sind, in Schwierigkeiten bringen. veau wie erreicht werden soll, das steht in den Sternen. Es kann dazu führen, dass Haushalte eigentlich nicht genehmigungsfähig sind, wenn wir dieses Konstrukt, so (Beifall bei der FDP) wie es pauschal vorgeschlagen wird, nicht verändern. Deshalb ist das ein Punkt, den wir in den laufenden Bera- Liebe Kolleginnen und Kollegen, beste Bildung: Das tungen noch mal ansprechen müssen. muss auch für die Pflegeausbildung gelten. Deshalb brauchen wir zunächst bundesweit einheitliche Qualitäts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten standards für die Pflegeassistenzausbildung. Gute Aus- der CDU/CSU) bildung braucht klare Vorgaben, leistungsbasierte Durch- lässigkeit, vernünftige Ausbildungsbedingungen und Denn es ist so, dass wir nicht ein Konstrukt gesetzlich Wertschätzung. festlegen wollen, bei dem am Ende nicht genehmigungs- fähige Haushalte herauskommen. (Beifall bei der FDP) 23446 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Nicole Westig (A) Wer diese Voraussetzungen schafft, dem gelingt es auch, Meine Damen und Herren, wir wissen, dass in der (C) mehr Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern, und gesetzlichen Krankenversicherung im nächsten Jahr min- der braucht auch nicht zweifelhafte Werbefilmchen wie destens 16,6 Milliarden Euro fehlen werden. Davon sol- „Ehrenpflegas“. len nur 5 Milliarden Euro aus Steuermitteln ausgeglichen werden. Was ist aus Ihrem Verspechen geworden, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kosten der Pandemiebekämpfung nicht auf die Beitrags- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – zahlerinnen und Beitragszahler abzuwälzen? Sie wollen Martin Reichardt [AfD]: Das stimmt aller- die Beitragszahler mit insgesamt 11,6 Milliarden Euro dings!) belasten, 3,6 Milliarden Euro sofort durch Beitragserhö- Auch bei den Rehaeinrichtungen springt der Gesetz- hungen und 8 Milliarden Euro durch Entnahmen aus den entwurf zu kurz, wenn er den Schutzschirm für deren Rücklagen der gesetzlichen Krankenversicherung. Meine Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen nicht groß Damen und Herren, das ist nichts anderes als zukünftige genug spannt. Beitragserhöhungen. Damit haben Sie wirklich jede Glaubwürdigkeit verloren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzent- wurf ist lediglich ein kleiner Schritt, um die Gesundheits- (Beifall bei der LINKEN) versorgung und Pflege zu verbessern. Arbeiten wir ge- Meine Damen und Herren, die Bekämpfung der Pande- meinsam daran, dass daraus mehr wird! mie ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und nicht Vielen Dank. nur der gesetzlich Krankenversicherten. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Kirsten (Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!) Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deshalb fordert Die Linke, dass die Kosten der Bekämp- NEN]) fung der Pandemie vollständig aus Steuermitteln bezahlt werden. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. Achim Außerdem schlagen wir in unserem Antrag vor, die Bei- Kessler. tragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abzuschaffen. Wir finden, Spitzen- (Beifall bei der LINKEN) verdiener müssen prozentual genauso an den Kosten beteiligt werden wie Durchschnittsverdiener. Außerdem (B) Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): wollen wir Kapitaleinkommen, zum Beispiel aus Speku- (D) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr lationen mit Aktien, in die Berechnung der Beiträge ein- Spahn hat uns vollmundig versprochen, dass die Bundes- beziehen. regierung in dieser Wahlperiode den Pflegenotstand (Beifall bei der LINKEN) angehen will. Aber die vollständige Besetzung der 13 000 zusätzlichen Pflegestellen steht noch aus. Auch Dadurch können nicht nur steigende Zusatzbeiträge ver- mit dem aktuellen Gesetzentwurf werden die Probleme mieden werden, sondern die Beiträge könnten sogar sin- nicht gelöst, im Gegenteil: Sie verschlechtern sogar noch ken. die Pflegequalität; Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will, (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Hä?) dass die kleinen und mittleren Einkommen die Kosten der Pandemie tragen. Die Linke will die Reichen an den denn Sie wollen jetzt allen Ernstes bis zu 20 000 Pflege- Kosten der Bewältigung dieser Krise beteiligen. hilfskräfte in Pflegeeinrichtungen einsetzen, deren Aus- bildung noch nicht abgeschlossen ist. Das ist gegenüber Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. allen Beteiligten wirklich verantwortungslos. Gute Pflege (Beifall bei der LINKEN – Erich Irlstorfer geht nur mit ausgebildeten Fachkräften. [CDU/CSU]: Klassenkampf!) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Wolfgang Kubicki: GRÜNEN]) Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Nächste Sie sagen, dass Sie die Eigenanteile der Heimbewoh- Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, nerinnen und Heimbewohner begrenzen wollen. Sie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. haben recht: Das ist dringend notwendig, um die Armuts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) falle für Menschen mit Pflegebedarf zu beseitigen. Aber abgesehen davon, dass Ihr Vorhaben nur eine Mogelpa- ckung ist: Selbst dafür fehlen die erforderlichen Mittel Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE von mindestens 6 Milliarden Euro im Haushaltsentwurf, GRÜNEN): den Sie vorgelegt haben. Machen Sie nicht nur schöne Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worte, sondern schreiten Sie zur Tat, und stellen Sie die „Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege“ – Mittel in den Haushalt ein. schön wäre es. Dieses Gesetz aber ist leider wieder nur eine Fata Morgana, ein weiteres Omnibusgesetz in einer (Beifall bei der LINKEN) Reihe halbherziger, nicht zielführender Maßnahmen mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23447

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (A) hohen Kosten an falscher Stelle. Die Patientinnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) Patienten und die Beschäftigten im Gesundheitssystem Aus dem BMG kommen fleißig Gesetze. Aber Fleiß haben mehr verdient. allein rechtfertigt keine gute Note. Hier ist eine Runde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nachsitzen – wir können auch sagen: Beratung – ange- Ich freue mich ja, dass das Thema Geburtshilfe endlich sagt, damit am Ende unser Gesundheitswesen, die Kran- in der Regierung angekommen ist. Dieses groß angekün- kenhäuser, die Ärztinnen und Ärzte, die Hebammen, die digte Förderprogramm für Hebammen ist aber in Wahr- Pflegefachkräfte und die Patientinnen und Patienten heit nur ein Tropfen auf den heißen Stein. wirklich von einer besseren Versorgungsqualität profitie- ren. (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Ja was möchten Sie denn?) Vielen Dank. Um überall, landauf, landab, eine gute Geburtshilfe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sicherzustellen, braucht es mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Sagen Sie doch Herzlichen Dank. – Als nächstem Redner erteile ich mal, was Sie wollen!) das Wort dem Kollegen Lothar Riebsamen, CDU/CSU- Fraktion. Was es braucht, steht in unserem Antrag für eine gute Geburtshilfe. Wir brauchen einen Geburtshilfegipfel. (Beifall bei der CDU/CSU) (Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Ach, hören Sie auf!) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Wir brauchen nicht weniger als einen Kulturwandel in der und Kollegen! Die Krise veranschaulicht uns jeden Tag, Geburtshilfe, damit endlich Mutter und Kind in den Mit- wie wichtig ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem für telpunkt der Geburtshilfe gestellt werden. ein Land ist – sowohl, was die Finanzierung anbelangt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als auch, was die Versorgung anbelangt. Wir können uns sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Erich glücklich schätzen, dass wir in so einem Land mit so Irlstorfer [CDU/CSU]: Reden Sie doch nicht so einem Gesundheitssystem leben. einen Unsinn!) (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die Pflege braucht mehr als Trippelschritte. Das Gesetz zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung (B) Gehen Sie endlich die Ursachen für die jetzt schon nicht und Pflege trägt genau diesen beiden Punkten Rechnung: (D) besetzten Stellen an! Ihre Flickschusterei kostet, wirkt der Stabilität des Gesundheitssystems im finanziellen Be- aber nicht. Mit Einmalzuschüssen oder Rücklagenabbau reich angesichts der horrenden Ausgaben, die angesichts können keine strukturellen Mehrausgaben ausgeglichen der Pandemie getätigt werden müssen, sowie der Weiter- werden. Statt gesetzlichen Stückwerks müssen Mittel entwicklung der Versorgung. zielgerichtet eingesetzt werden. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen Trotz Ihrer eifrigen Gesetzes- und Verordnungsma- Punkt in den Blick nehmen, der noch nicht so sehr im schine ist dieses Gesetz der erste Versuch, die Sektoren- Vordergrund der Debatte stand bzw. ein Stück weit relati- grenzen im Gesundheitswesen abzubauen. Doch auch viert wurde, was ich so nicht gelten lassen möchte: die dieser Versuch bleibt halbherzig. Statt Integration lang- Selektivverträge. Ich bin der Überzeugung, dass durch fristig zu fördern, verstetigen Sie mit dem neu gefassten die deutliche Öffnung, durch weitere Gestaltungsspiel- § 140a SGB V lediglich den Modellcharakter der integ- räume für die Selektivverträge neue Versorgungsformen rierten Versorgung. Das droht nach hinten loszugehen entstehen, die gerade in dieser Zeit – völlig unabhängig und kann im schlimmsten Fall das Aus für bereits exis- von der Pandemie –, in der sich Strukturen durch die tierende Ansätze bedeuten. Lassen Sie uns Gesundheits- Digitalisierung und die Ambulantisierung dynamisch regionen doch endlich zu einer vollwertigen Alternative verändern – weg von der Behandlung im Krankenhaus, zur Regelversorgung machen! hinein in den ambulanten Bereich –, dringend nötig sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht um regionale Versorgungsinnovationen, es geht um Versorgungsverbünde, es geht um integrierte Versor- Auch hierzu liegt Ihnen in dieser Debatte ein Antrag von gungszentren, auch unter Einbeziehung der nichtärztli- uns vor. Starre Sektorengrenzen schaden den Patientin- chen Berufe. Für eine rechtssichere Umsetzung fehlte nen und Patienten. Das ist ja der Witz; darum müssen wir bisher die Rechtsgrundlage. sie endlich abbauen. Dieses Gesetz schafft diese Rechtsgrundlage. Es ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzt die Krankenkassen und die Leistungserbringer in In unserem Antrag zu Gesundheitsregionen zeigen wir, die Lage, Verträge zu schließen, um genau diese neuen wie wir Sektorengrenzen überwinden können. Die Versorgungsformen vor Ort umzusetzen und damit bei Akteure in den Regionen vor Ort können und wollen den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort Akzeptanz zu enger zusammenarbeiten und integrierten Versorgungs- schaffen, wenn möglicherweise vom stationären in den konzepten Leben einhauchen. Verschiedene Gesund- ambulanten Bereich verlagert wird und möglicherweise heitsberufe Hand in Hand und auf Augenhöhe – das ver- auch Krankenhäuser geschlossen werden. Dafür brau- bessert die Versorgung der Patientinnen und Patienten. chen wir diese Versorgungsverträge dringend. 23448 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Lothar Riebsamen (A) Es gibt es noch einen zweiten Punkt, bei dem die den drüber –: Ich werde jetzt strikt von der Redezeitbe- (C) Selektivverträge eine besondere Rolle spielen. Es geht grenzung Gebrauch machen; denn wir sind schon im Ver- um die Ergebnisse des Innovationsfonds. Auch hier wer- zug, und die Kolleginnen und Kollegen, die nach Ihnen den neue, permanent gute Versorgungsformen entwi- kommen, werden das nicht verzeihen, wenn ich jetzt ckelt. Wenn diese aber nicht in den Schubladen ver- nicht darauf achte, dass die Redezeit sorgsam eingehalten schwinden sollen, sondern im Versorgungsalltag auch wird. tatsächlich angewendet werden sollen, dann brauchen Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Müller, wir hierfür die Selektivverträge. Auch dies wird mit die- SPD-Fraktion. sem Gesetz ermöglicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Weitere Verbesserungen wurden angesprochen. Ich sage Ihnen, dass wir, insbesondere was die Kinderklini- Bettina Müller (SPD): ken und Kinderabteilungen anbelangt, einen deutlichen Sehr geehrter Herr Präsident, ich werde mich nach Schritt nach vorne machen. Es war immer eine berechtig- Ihnen richten. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die te Sorge der Kinderabteilungen, dass sie allein aus Wirt- Koalition hat in dieser Wahlperiode bereits zahlreiche schaftlichkeitsgründen geschlossen werden müssten. Die Initiativen zur Verbesserung in den Bereichen Gesundheit Kinderkliniken und Kinderabteilungen sind dünn gesät in und Pflege beschlossen; wir haben viele, viele Beschlüsse unserem Land. Wenn sie nicht unter Sicherstellungszu- gefasst, um die pflegerische Versorgung zu stärken und schläge fallen – und das war bisher nur dann der Fall, weiterzuentwickeln. Auch deshalb hat sich unser wenn das ganze Haus betrachtet wurde –, dann standen Gesundheitssystem in der Pandemie bewährt. Wir haben eben diese Kinderkliniken/Kinderabteilungen infrage. wirklich viele, viele gute Beschlüsse gefasst in den letz- Dadurch, dass wir jetzt Sicherstellungszuschläge auch ten Monaten. abteilungsweise schaffen, sichern wir diesen Bereich; Aber natürlich ist nichts so gut, als dass es nicht weiter das ist auch ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Geset- verbessert werden könnte. Mit dem vorliegenden Gesetz- zes. entwurf drehen wir daher an weiteren Stellschrauben und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sorgen für mehr Innovation und mehr Personal. Ich will des Abg. Dr. Edgar Franke [SPD]) wegen der knappen Zeit nur drei Bereiche herausgreifen: Abschließend, meine Damen und Herren: Ich habe die Erstens. Wir verbessern die ambulante Versorgung. finanzielle Stabilisierung angesprochen. Frau Bas, ich Neben der Förderung innovativer Projekte schaffen wir höre sehr gerne, – neue Möglichkeiten für Selektivverträge. Die Beteiligung (B) von Einrichtungen außerhalb der GKV und weiterer (D) Gesundheitsberufe ermöglicht hier passgenaue Lösun- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gen. Frau Kappert-Gonther, ich finde schon, dass das Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. wirklich auch Fortschritte sind: passgenaue Lösungen vor Ort und für verschiedene Patientengruppen. Das ist Lothar Riebsamen (CDU/CSU): aus unserer Sicht ein Schritt zur Überwindung der – dass wir mit dem Finanzminister noch einmal reden; Sektoren. da haben Sie uns an Ihrer Seite. Wenn über die 5 Milliar- Zweitens stärken wir die stationäre Geburtshilfe durch den Euro hinaus noch Steuermittel kommen, soll es uns Maßnahmen gegen den chronischen Personalmangel in recht sein, um die Beitragszahler zu schonen. Aber zur den Kreißsälen. Studien belegen, dass dies vor allem in Wahrheit gehört natürlich auch, – städtischen Ballungsgebieten ein großes Problem ist; die sind oft derart ausgelastet, dass auch Schwangere abge- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wiesen werden müssen. Dieser Mangel an Klinikhebam- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. men hat vielfältige Ursachen. Zwei davon geht dieser Gesetzentwurf an: Den Krankenhäusern werden zusätz- Lothar Riebsamen (CDU/CSU): liche Hebammenstellen finanziert, in nicht unerheblich- – dass jeder Euro, den wir zusätzlich aus Steuermitteln em Umfang. 65 Millionen Euro pro Jahr geben wir bekommen, kreditfinanziert ist; deswegen wird es natur- zwischen 2021 und 2023 für 600 zusätzliche Hebammen- gemäß an dieser Stelle auch Grenzen geben. stellen. Und – ganz wichtig und auch von den Hebammen gewünscht – wir geben auch Geld für Unterstützungs- Ich freue mich auf die weitere Beratung zu diesem kräfte, die die Hebammen entlasten sollen. Beides ver- Gesetz und hoffentlich noch etwas mehr Mittel aus dem bessert natürlich die Arbeitssituation im Kreißsaal erheb- Steuertopf. lich und macht den Kreißsaal als Arbeitsplatz attraktiver. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Drittens stärken wir die Pflege durch 20 000 dringend benötigte Pflegehilfskräfte. Es ist uns gutachterlich bestä- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tigt worden, dass das eine große Rolle spielt. Ich kann Vielen Dank, Herr Kollege. – Meine sehr verehrten Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass die psychosozia- Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, le Betreuung für demenzkranke Menschen beispielsweise ich weise Sie noch einmal darauf hin – das war 50 Sekun- in Alteneinrichtungen, die diese Pflegehilfskräfte ganz Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23449

Bettina Müller (A) hervorragend mitleisten können, eine große Rolle spielt. Man hat Sie auch mit Maske verstanden; allerdings (C) Und die Finanzierung – auch ein ganz wichtiger Aspekt – erkennt man Sie ohne Maske deutlich besser. Trotzdem geht nicht zulasten der Pflegebedürftigen. muss ich jetzt einschreiten. Damit haben wir einen ersten Schritt hin zu einer (Bettina Müller [SPD]: Nichtsdestotrotz: Vie- eigenanteilsneutralen Weiterentwicklung der Pflege und len Dank für die Aufmerksamkeit! – Beifall bei zugleich auch einen ersten Schritt hin zu einem verbind- Abgeordneten der SPD – Tino Sorge [CDU/ lichen Personalbemessungsinstrument gemacht; das ist CSU]: Nun seien Sie doch nicht so kleinlich, uns ja seit vielen Jahren auch ein wichtiges Anliegen Herr Präsident!) gewesen. – Das hat mit Kleinlichkeit nichts zu tun. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube: Hier kann nach mei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ner Auffassung jeder so lange reden, wie er möchte. Aber, wie eingangs gesagt: Nichts ist so gut, als dass Allerdings begrenzen die Fraktionen die Redezeit, und wir es nicht verbessern könnten. Das gilt natürlich auch daran sollten wir uns dann halten; wenden Sie sich an für die Gesetzentwürfe in der parlamentarischen Bera- Ihren Geschäftsführer! tung. Wir werden uns in der Ausschussanhörung sicher- Letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der lich noch mit weiteren Regelungsinhalten beschäftigen Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion. und noch daran feilen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will auch betonen, dass wir in der SPD – Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss Bundeszuschuss zur GKV – Steuermittel in Höhe von kommen. 5 Milliarden Euro – ist erwähnt worden. Ich möchte aber noch ergänzen, dass wir auch die landwirtschaftliche Krankenversicherung hier nicht vergessen und 30 Millio- Bettina Müller (SPD): nen Euro hier auch in diese Richtung geben. – im Sommer einen Präsidiumsbeschluss gefasst haben für eine Eins-zu-eins-Betreuung. Das sage ich auch in Ich möchte auch klarstellen, dass das, was in diesem Richtung der Grünen; die sind noch nicht ganz so weit Gesetz gebündelt und abgestimmt ist, eine große Leis- wie wir. tung ist. Ich möchte an dieser Stelle dem System der gesetzlichen Krankenversicherung danken, dass diese (B) (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ 8 Milliarden Euro an Finanzreserven wieder an den (D) DIE GRÜNEN]: Was? Das ist doch eine genuin Gesundheitsfonds zurückgehen. Das ist auch eine große grüne Forderung, seit Jahren! Lesen Sie doch Leistung. Von daher herzlichen Dank! unseren Antrag! Aber schön, wenn die SPD (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und jetzt aufwacht!) der Abg. Marianne Schieder [SPD]) Wir wollen eine Eins-zu-eins-Betreuung, durchgehend, Der zweite Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist im Kreißsaal. Wir wollen natürlich auch die Hebammen- natürlich das Thema Hebammenstellen-Förderpro- vergütung verbessern; das haben wir als einen ganz wich- gramm. Es ist – das möchte ich schon unterstreichen – tigen Punkt auch noch ins Auge gefasst. Darüber müssen eine klare Verbesserung für die Gebärenden, aber auch wir im Ausschuss noch reden, liebe Kolleginnen und für die Hebammen. Da kann man nicht, Frau Kappert- Kollegen; – Gonther, despektierlich ein Szenario „Alles schlecht, alles schwach“ aufbauen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Zuruf der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther Frau Kollegin, jetzt sind Sie eine Minute drüber. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nein, das Hebammenstellen-Förderprogramm ist richtig, Bettina Müller (SPD): es ist gut. Wir kommen diesen Forderungen nach. Es ist – wir haben noch Zeit dafür. aber natürlich auch klar, dass wir die Hebammen an der Gebärenden haben wollen und nicht nur in der Vorsorge Auch bei der Personalbemessung der Pflege achten und Nachsorge. Hier haben wir uns getroffen. Deshalb wir, Herr Kessler, natürlich – – bessern wir hier nach und nehmen 200 Millionen Euro in die Hand. Hier liegen Sie falsch, wenn Sie so argumen- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tieren. Frau Kollegin, ich musste Ihnen jetzt bedauerlicher- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – weise das Wort entziehen, weil eine Minute und zehn Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Sekunden drüber – mit der Ankündigung, Sie wollten DIE GRÜNEN]: Das löst nicht die strukturel- sich an die Redezeit halten –, das ist schon eine beach- len Probleme!) tliche Leistung. Ich möchte aber auch für den Bereich der Pflege klar- (Beifall der Abg. Martina Stamm-Fibich stellen: Diese 20 000 Stellen, die wir hier finanzieren [SPD]) werden – und für die wir hier natürlich auch werben 23450 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Erich Irlstorfer (A) werden –, die Pflegehilfskräfte, die wir in das System Überweisungsvorschlag: (C) bringen wollen, das ist der erste Schritt, um Leute mit Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe dem Bereich Pflege in Verbindung zu bringen, und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- schließt nicht aus, dass wir dann in Ausbildung und Wei- lung terbildung investieren. Wir investieren doch nicht nur in ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Straßen, in Teer oder sonst was; wir investieren in Men- Lechte, Alexander Graf Lambsdorff, Grigorios schen – weil wir an die Menschen glauben und weil das Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- ein wunderschöner und guter Beruf ist. tion der FDP (Beifall des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) Vereinte Nationen stärken und Multilateralis- Das ist ein wesentlicher Punkt, den wir hier zu entschei- mus voranbringen den haben. Drucksache 19/23692

Ich glaube, dass es uns gelungen ist, die Altenpflege Überweisungsvorschlag: mit der Pflege in den Krankenhäusern auf Augenhöhe zu Auswärtiger Ausschuss bringen. Ich erwähne auch die Kinder- und Jugendmedi- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten zin, all diese Bereiche. Die Krankenpflege ist wichtig, beschlossen. – Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte aber die Altenpflege ist uns genauso wichtig; deshalb ich die Kolleginnen und Kollegen, den Platzwechsel dokumentieren wir das. Wir brauchen hier den Aufbau zügig vorzunehmen. von Personal. Wir trauen das den Menschen zu. Deshalb nehmen wir viel Geld in die Hand: weil Pflege ein Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Zukunftsthema ist. Ich bitte hier um Zustimmung. ner das Wort dem Kollegen Armin-Paulus Hampel, AfD- Fraktion. Herzlichen Dank. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Armin-Paulus Hampel (AfD): Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer. – Damit ist die ren! Ich glaube, jeder von uns in diesem Hause ist scho- Aussprache beendet. ckiert über die Nachrichten, die wir heute aus Frankreich Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf erhalten haben. Meine Kollegen und ich waren gerade in den Drucksachen 19/23483, 19/23715, 19/23712, der französischen Botschaft und haben der Opfer (B) (D) 19/23699, 19/19165 und 19/21881 an die in der Tages- gedacht, die wir heute in Frankreich beklagen mussten. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Ein Gedenken an diese Opfer ist wohl für jeden von uns weitere Überweisungsvorschläge? – Ich sehe: Das ist angebracht. nicht der Fall. Dann verfahren wir so. 75 Jahre Vereinte Nationen: Viele sagen, das wäre an Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sich ein Grund zum Feiern. Denn in der Tat: Nach dem sowie Zusatzpunkt 10 auf: schrecklichsten Krieg in Europa, nach dem Zweiten Weltkrieg, ist Hoffnung aufgekeimt, als man versuchte, 15 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten die Nationen in einem großen Weltparlament zusammen- Dr. , Armin-Paulus Hampel, zubringen, um die Konflikte dieser Erde zumindest ein- Dr. , weiterer Abgeordneter zudämmen, ihnen mit einer gewissen Ordnung zu begeg- und der Fraktion der AfD nen und Konflikte möglichst schnell über Verhandlungen Zum 75. Gründungsjubiläum der Verein- zu beseitigen. ten Nationen – Bilanz ziehen, Erfolge Die Vereinten Nationen – das wissen wir alle – sind anerkennen und Reformen vorantreiben nicht perfekt; aber sie sind das Beste, was wir haben. Drucksache 19/23716 Wenn man sich allerdings an die Zeiten zurückerinnert, als ein Boutros Boutros-Ghali oder ein Kofi Annan Gene- Überweisungsvorschlag: ralsekretäre waren, dann war es in den täglichen Nach- Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend richten über internationale Konflikte an sich so, dass sie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit immer an der Seite der großen Weltführer waren, ob es Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- der amerikanische Präsident war oder der Russe oder lung auch die europäischen Staatschefs. Wenn Sie heute Nach- richten gucken, werden Sie feststellen, dass Herr Guter- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten res nur noch relativ selten vorkommt, wenn es um Kon- Heike Hänsel, Dr. Alexander S. Neu, Michel flikte geht. Wenn Sie einen Bürger auf der Straße fragen: Brandt, weiterer Abgeordneter und der Frak- „Wer ist der derzeitige UN-Generalsekretär?“, werden tion DIE LINKE Sie überrascht sein, dass viele seinen Namen überhaupt 75 Jahre Vereinte Nationen – Abrüstung, nicht kennen. Friedensdiplomatie und Armutsbekämp- Meine Damen und Herren, die UN sind in einer Krise; fung verstärken das haben wir schon vor 20 Jahren erkannt. Es gab die Drucksache 19/23697 Reformkommission, die Richard von Weizsäcker geführt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23451

Armin-Paulus Hampel (A) hat und deren Reformvorschläge im Grunde genommen unsere Stimme erheben – so nicht geschehen beim Global (C) im Sande verlaufen sind. Keiner hat sie jemals wieder Compact for Migration, bei dem wir feststellen müssen, richtig aufgegriffen. dass dieser über eine völkerrechtlich nicht verbindliche Ich zitiere aus einem Artikel der „Welt“ von 2015: Resolution jetzt nach Europa und nach Deutschland getragen wird. Man träumt davon, dass die Menschheit einst vereint wird unter einer gemeinsamen UN-Weltregierung. Solches Wunschdenken verdeckt jedoch den Blick Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auf die traurigen Realitäten. Der Westen war einst Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. angetreten mit dem Ziel, Freiheit, demokratische Werte, gute Regierungsführung und die Achtung Armin-Paulus Hampel (AfD): der Menschenwürde in der ganzen Welt zu verbrei- Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Ich bin der ten. Doch in globalen Organisationen ist es oft festen Überzeugung, dass wir alles dafür tun müssen, die genug eine Mehrheit aus autokratischen Staaten Vereinten Nationen, und zwar möglichst schnell, zu und korrupten Demokratien, die die hehren Ziele einem umfassenden Reformpaket zu drängen. Multilate- hintertreiben. Sei es aus antifreiheitlicher Überzeu- ralismus mag ein schönes Ziel sein. Er hindert aber oft gung, sei es aus purem Eigennutz. Man lässt sich daran, zu Entscheidungen zu kommen. Das darf nicht bezahlen für seine Stimme oder schmiedet Zweck- mehr geschehen. bündnisse. Das ist in vielen Entscheidungen der Vereinten Natio- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nen heute der Fall. Herr Kollege. Hinzu kommt eine Ausuferung der Korruption. Ich selber habe das als Korrespondent in Südasien erlebt, Armin-Paulus Hampel (AfD): als zum Beispiel in Afghanistan Mittel der UN – dabei Die Bunderepublik Deutschland sollte alle Kraft ging es um Millionenbeträge – in dunkle Kanäle geflos- daransetzen, diese Reform voranzutreiben; sonst nimmt sen sind. Wir erinnern uns an den Fall im Irak, wo Korea man die UN bald nicht mehr ernst. Saddam Hussein mit Lieferungen geholfen hat und dabei Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. einige Millionen in die eigene Tasche gewirtschaftet hat. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. (Beifall bei der AfD – [AfD]: Den Maulkorb nicht vergessen, Herr Kollege!) Hinzu kommt auch, dass heute bei den internationalen (B) Einsätzen häufig Truppen aus Dritte-Welt-Staaten einge- (D) setzt werden. Ich erinnere mich daran, dass im Bosnien- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Konflikt malaysische Polizei eingesetzt wurde, um in Herr Kollege Seitz, es mag ja in Ihrer Fraktion Maul- Sarajevo die Ordnung aufrechtzuerhalten. Unternehmen körbe geben. Aber das ist eine Mund-Nase-Bedeckung. wie dieses sind in vielen Brennpunkten dieser Welt kläg- Man nennt das auch „Maske“. lich gescheitert. Ganz besonders in Afrika erkennen Sie (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Der eine sieht das derzeit immer wieder. Die UN sind also dringend das so, der andere so!) reformbedürftig. Nur, der Wunsch und der Wille und die Äußerung auch aus den westlichen Nationen verhal- – Gut. Bei Ihnen scheint „Maulkorb“ eine feste Rede- len respektive kommen gar nicht erst auf. wendung zu sein. Deutschland ist neben den Vereinigten Staaten und Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Japan einer der größten Nettozahler der Vereinten Natio- Kollege Dr. Andreas Nick. nen. Ich möchte dieses Haus ermutigen, bei jeder mögli- (Beifall bei der CDU/CSU) chen Gelegenheit darauf zu drängen, dass der, der das Geld einbringt, zwar nicht unbedingt immer gleich auch Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): „die Musike“ bestimmt; aber wir können die Richtung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das bestimmen. Und dann wäre es angebracht, an das Aus- Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen am wärtige Amt die Adresse zu leiten, mit den amerikani- 24. Oktober 1945, also vor fast genau 75 Jahren, ist bis schen und japanischen Freunden eine gemeinsame Strate- heute Anlass zu großer Freude und Dankbarkeit. Als gie zu entwickeln. Als größte Nettozahler können wir Parlamentarier haben wir uns hier in dieser Wahlperiode einen gewissen Druck auf die Vereinten Nationen aus- im Deutschen Bundestag regelmäßig mit dem deutschen üben und vor allen Dingen auf ihre grundsätzliche Aus- Engagement in den Vereinten Nationen auseinanderge- richtung Einfluss nehmen. setzt, zuletzt unter anderem im Koalitionsantrag „Für (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Ulrich eine dauerhaft friedliche, stabile und gerechte Ordnung Lechte [FDP]) in der Welt“ aus dem Jahr 2018 zu Beginn der deutschen Die Interessen, die wir wahrzunehmen haben, auch im Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat. nationalen Interesse, Herr Kollege Lechte, dürfen dabei Auch diese haben wir durch begleitende Debatten hier aber nicht untergehen. Deswegen müssen wir immer im Haus, aber auch durch Beratungen in unserem Unter- darauf achten, dass das, was in New York am East River ausschuss „Vereinte Nationen“ begleitet, und wir haben beschlossen wird, sich auch mit unseren Zielvorstellun- uns jüngst anlässlich des 75. Jahrestages in einer gelun- gen deckt. Ansonsten sollten wir dagegen vehement genen öffentlichen Anhörung im Unterausschuss „Ver- 23452 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Andreas Nick (A) einte Nationen“ mit diesem Thema auseinandergesetzt. de einige Mitglieder des VN-Sicherheitsrats sind, die die (C) Unserem Vorsitzenden, Uli Lechte, noch mal herzlichen VN immer stärker umgehen und unterlaufen, ist wenig Dank für die Anregung zu dieser Anhörung! Viele von hilfreich. den dort gewonnenen Erkenntnissen finden sich ja auch im FDP-Antrag wieder. Insofern hat sich das ja schon mal Wenn die P 5 sich nicht mehr als Hüter einer gemein- gelohnt. samen Ordnung verstehen, stehen – drittens – auch Effek- tivität und Legitimität des VN-Systems insgesamt infra- Die AfD hingegen hat es nicht einmal vermocht, für ge. Mit Blick auf die US-Wahlen in der kommenden diese Anhörung auch nur einen eigenen Sachverständi- Woche hoffen wir, dass die USA sich künftig wieder gen zu benennen. konstruktiv in die Arbeit der VN einbringen. Wir brau- chen einen starken Westen in handlungsfähigen Vereinten (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Es war mir klar, Nationen. dass das kommt!) Wenn ich auf Ihren heutigen Antrag blicke, Kollege Für uns ist klar: Die Bewahrung und Weiterentwick- Hampel: Ihnen hätte etwas Expertise aus Wissenschaft lung einer regelbasierten Ordnung ist das überragende und Zivilgesellschaft zu diesem Thema durchaus gutge- strategische Interesse unseres Landes. Ein möglicher tan. Weg zur Stärkung dieser Ordnung könnte durchaus auch in der stärkeren Einbindung und Forderung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE oder der OSZE liegen, um Friedenssicherung und den GRÜNEN) Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen zu bewerkstelli- gen – nicht als Ersatz für die VN, sondern als Ergänzung Einer noch halbwegs gefällig formulierten Einleitung von Fähigkeiten und zur Stärkung regionaler Verantwort- in Ihrem Antrag folgt geradezu eine Geisterbahn von lichkeiten. abstrusen Forderungen – Sie sind ja auch auf keine dieser Forderungen hier in Ihrem Beitrag eingegangen –: Ab- Auch wir Europäer tragen große Verantwortung, und schaffung der Agenda 2030, Ende der multinationalen wir müssen weltweit künftig in deutlich höherem Maße Entwicklungszusammenarbeit und des 0,7-Prozent-Ziels, willens und in der Lage sein, Verantwortung zu überneh- men und unsererseits insbesondere in unserer Nachbar- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das habe ich schaft zu Frieden und Stabilität beizutragen. Dabei kön- gerade gesagt!) nen sich die Vereinten Nationen und die Bundesregierung Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen, Ausstieg aus auch weiterhin auf die Unterstützung der CDU/CSU- dem Global Compact for Migration, Fraktion verlassen. (B) (D) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Auch erwähnt!) Vielen Dank. Beendigung der Finanzierung des Flüchtlingshilfswerks (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- UNRWA usw. usw. ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: In aller Klarheit: Das lehnen wir entschieden ab! Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Nick. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und der FDP) Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, ertei- le ich dem Kollegen Dr. Roy Kühne aus der CDU/CSU- Wie keine andere multilaterale Organisation tragen die Fraktion einen Ordnungsruf. Er hat den Plenarsaal ohne Vereinten Nationen zur Wahrung des Friedens und des Maske verlassen und den Plenarsaal ohne Maske wieder Völkerrechts, zur Normensetzung, aber eben auch zur betreten. Wir haben vielfältig darauf hingewiesen, dass gemeinsamen Lösung globaler Probleme und Herausfor- wir am Anfang mit Mahnungen auskommen; aber es derungen bei. muss dann offensichtlich auch härtere Maßnahmen Lassen Sie mich heute auf drei Herausforderungen im geben. Ich weise hier auch ausdrücklich darauf hin, Kernbereich der Sicherheitspolitik und Friedenssiche- dass im Wiederholungsfall weitere Ordnungsmaßnahmen rung gesondert eingehen. folgen können. Erstens: die veränderte Natur von Konflikten, die (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Entschuldi- zunehmend geprägt sind von innerstaatlichen Auseinan- gung!) dersetzungen und nichtstaatlichen Akteuren. Dadurch Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lechte, FDP- sind die Anforderungen an die VN-Friedensmissionen Fraktion. erheblich gestiegen: von militärischen hin zu immer mehr polizeilichen und zivilen Aufgaben. (Beifall bei der FDP) Zweitens sind in einer vernetzten Welt fast alle Staaten auf funktionierende internationale Institutionen und Ulrich Lechte (FDP): einen internationalen Ordnungsrahmen angewiesen. Es Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ist problematisch, wenn einige wenige Großmächte die Kollegen! 75 Jahre Vereinte Nationen, das ist ein Grund Illusion hegen, souverän sei, wer sich nicht an Regeln zu feiern; denn die Vereinten Nationen sind eine der halten müsse oder zum Regelwerk beitrage. Dass es gera- größten Errungenschaften der Menschheit. Wir müssen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23453

Ulrich Lechte (A) uns die Frage stellen: Wie können wir die Vereinten internationaler Verpflichtungen. Deutschland gilt wie (C) Nationen stärken, damit sie ihre vielfältigen Aufgaben kaum ein anderer Staat als verlässlich und vertragstreu. noch besser erfüllen können? Halten wir bitte an diesem Grundsatz fest! Bei einer öffentlichen Anhörung im Unterausschuss Letzter Satz. Heiko Maas hat letztes Jahr die Allianz „Vereinte Nationen“, die der Kollege Nick schon erwähnt für den Multilateralismus ins Leben gerufen, um die Ver- hat, waren am 7. Oktober hochkarätige Sachverständige einten Nationen zu verteidigen. Es liegt nun auch an geladen, die diese Frage zu beantworten versuchten. Es Deutschland, die Vereinten Nationen endlich auch prak- wiederholte sich immer wieder eine Kernaussage, die ich tisch zu stärken, denn: Multilateralism matters. als Quintessenz der Anhörung mitnahm. Sie lautet: Die Vielen Dank. Vereinten Nationen agieren dort besonders erfolgreich, wo man der Organisation viel Handlungsspielraum gibt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dort, wo die Staaten ein Ziel vorgeben und sich nicht in der CDU/CSU) das Mikromanagement einmischen, können die Vereinten Nationen nach fachlichen Kriterien sehr gute Arbeit leis- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ten. – Das zeigt sich exemplarisch am Welternährungs- So ist das bei den Freien Demokraten: Aus einem Satz programm, das hochverdient mit dem Friedensnobelpreis werden dann drei. – Das ist Kleist. geehrt wird, und beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das (Ulrich Lechte [FDP]: Letzter Absatz, Herr für seine überlebenswichtige globale Arbeit diesen Preis Präsident!) bereits 1954 und 1981 erhielt. Nächster Redner ist der Kollege Christoph Matschie, Machtlos wirken die Vereinten Nationen hingegen, SPD-Fraktion. wenn sie zum Spielball einzelstaatlicher Interessen wer- den, wenn sie herausgefordert sind, widersprüchliche, (Beifall bei der SPD) unvereinbare und damit unerfüllbare Erwartungen zu erfüllen. Das sehen wir regelmäßig bei Blockaden im Christoph Matschie (SPD): Sicherheitsrat oder bei der dauerhaften, chronischen Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich Unterfinanzierung. will in dieser Debatte mit den wichtigsten Zielen der Ver- einten Nationen beginnen – ab und zu muss man sich die Aber auch die Weltgesundheitsorganisation – derzeit ja noch mal ins Gedächtnis rufen; sie stehen am Beginn der im Fokus – wurde in diesem Jahr bei der Bekämpfung der Charta der Vereinten Nationen –: die Wahrung des Welt- Covid-19-Pandemie geschwächt, weil einzelne Mitglied- friedens und der internationalen Sicherheit, die Entwick- staaten ihre politischen Interessen über die fachlichen lung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staa- (B) Prinzipien der WHO stellten. Nach fachlichen Aspekten (D) ten, die internationale Zusammenarbeit zur Lösung hätte Taiwan in die Arbeit der WHO einbezogen werden globaler Probleme und die Wahrung der Menschenrechte. müssen, weil Taiwan die Pandemie mustergültig in den Das sind die Kernziele der Vereinten Nationen. Griff bekam und immer noch im Griff hat: Wir haben natürlich auch in dieser Debatte gehört, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Vereinten Nationen zum Teil kritisiert werden: Sie der CDU/CSU) seien zu schwach, sie machten nicht genug, der General- sieben Tote und kaum Infizierte auf Gesamt-Taiwan, und sekretär sei nicht bekannt genug. Auf der anderen Seite das seit Monaten. Leider musste die WHO auf Druck ist auch klar: 75 Jahre Vereinte Nationen sind ein Grund Chinas Taiwan von der offiziellen Mitarbeit weiterhin zu feiern. Die Vereinten Nationen sind kein perfektes ausschließen. Gebilde; das können sie auch nicht sein. Und sie werden oft mit Erwartungen überfrachtet, die sie nicht erfüllen Die FDP legt Ihnen heute einen Antrag vor, der eine können. Vielzahl von Maßnahmen beinhaltet, mit denen wir die Ich will an dieser Stelle Dag Hammarskjöld zitieren, Vereinten Nationen stärken wollen. Wir möchten die einen ehemaligen UN-Generalsekretär, der angesichts Zweckbindungen bei Zahlungen an VN-Organisationen – der Überfrachtung der Vereinten Nationen mit Erwartun- wie das Welternährungsprogramm und das Flüchtlings- gen mal den Satz geprägt hat: hilfswerk – reduzieren. Dadurch statten wir sie mit erhöh- tem Handlungsspielraum und viel mehr Flexibilität aus Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, und reduzieren aufwendige Bürokratie. Denn Deutsch- um die Menschheit in den Himmel zu führen, son- land hat beim Humanitären Weltgipfel 2016 in Istanbul dern um sie vor der Hölle zu retten. und mit dem Funding Compact von 2019 vertraglich Nun glaube ich, dass die Vereinten Nationen trotzdem zugesichert, zumindest 30 Prozent der Mittel für UN- mehr sind als das. Aber es wichtig, noch mal klarzuma- Organisationen zu flexibilisieren. Dass Deutschland bei chen, dass sie nicht für jede Aufgabe herhalten können, der Erfüllung seiner eigenen Zusagen auch dieses Jahr dass sie nicht jede Erwartung erfüllen können, sondern hinterherhinkt, ist mehr als unerfreulich. Meine Hoffnung dass sie spezifische Aufgaben haben und dass sie am liegt bei unseren Haushältern, die derzeit am Haushalt Ende davon abhängig sind, wie die Mitgliedstaaten inner- 2021 arbeiten. Sie können uns da noch Gutes bringen. halb der Vereinten Nationen agieren. Deutschland muss dringend als leuchtendes Beispiel Man muss sich nur mal einen Moment lang vorstellen, für andere Staaten vorangehen und seine eigenen Haus- wie die Welt ohne diese Organisation aussähe. Ich will es aufgaben erledigen. Dazu gehört auch die Einhaltung nur ganz kurz an drei Beispielen deutlich machen: 23454 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Christoph Matschie (A) Was wäre, wenn es keinen Sicherheitsrat gäbe, in dem kann und auch finanziell gemeinsam unterstützt werden (C) wichtige internationale Probleme verhandelt werden? kann, das ist ein wichtiger Fortschritt, und dazu braucht Und ja – ich weiß –: Oft gibt es eine Blockade im Sicher- es die Vereinten Nationen. heitsrat, oft gibt es kein gemeinsames Ergebnis. Aber immerhin ist er auch dann ein wichtiges Forum des Inte- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ressenaustausches. Und es ist zehnmal besser, dort zu sitzen und zu reden, als dass es zu aggressiven Hand- Werte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den lungen kommt. letzten Jahren verstärkt neue geopolitische Auseinander- setzungen gesehen, die auch die Vereinten Nationen mas- Oder man stelle sich eine Welt ohne das Welternäh- siv unter Druck setzen. Deshalb war es vielleicht die rungsprogramm vor, das gerade – wie ich finde, zu wichtigste strategische Entscheidung der Bundesregie- Recht – den Friedensnobelpreis bekommen hat und rung, des Außenministers, etwas dagegenzusetzen, näm- aktuell 100 Millionen Menschen in Krisengebieten mit lich die „Allianz der Multilateralisten“, ein etwas sperr- Nahrungsmitteln versorgt. Oder man stelle sich vor, wie iger Titel. Aber was anderes soll man denn tun, wenn die die Situation von über 60 Millionen Flüchtlingen welt- großen und globalen Mächte wie die USA und China sich weit ohne die Arbeit des UNHCR wäre. von der Unterstützung der Vereinten Nationen abwenden Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben dieser oder sie nur noch selektiv akzeptieren? Dann muss man unmittelbaren Nothilfe, neben der Aufgabe, in Krisen die anderen Staaten, die ein Gewicht aufbringen können, koordinierend zu wirken, hat die UN aber auch eine darü- zusammenschließen, und man muss gemeinsam handeln. ber hinausreichende, eine gestaltende Aufgabe – und die Genau das tut die Allianz der Multilateralisten. Ich finde, nimmt sie auch an –, nämlich gemeinsam globale Proble- das war ein wichtiger strategischer Schritt der Bundesre- me zu lösen. Ich denke an die Vereinbarung zum Klima- gierung. abkommen. So mühsam das auch ist, so langsam wir auch vorankommen – ohne eine gemeinsame Plattform für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Anstrengungen ginge es überhaupt nicht weiter. Ich den- CDU/CSU) ke auch an die 2030-Agenda für Nachhaltige Entwick- lung – auch ein wichtiges Instrument der gegenseitigen Werte Kolleginnen und Kollegen, nun zur Frage der Verständigung über die Frage: Wo wollen wir denn hin, Reformen. Ja, die Vereinten Nationen brauchen weitere wo sind die Prioritäten der gemeinsamen Anstrengun- Reformen. Einige Reformschritte hat der Generalsekretär gen? auf den Weg gebracht. Aber auch die lange diskutierte Reform des Sicherheitsrates muss auf der Agenda blei- Ich finde es geradezu widersinnig, Herr Hampel, dass ben. Der Sicherheitsrat bildet die globalen Kräfteverhält- (B) Sie auf der einen Seite die Notwendigkeit der Vereinten nisse heute nicht mehr ab, und er muss reformiert werden. (D) Nationen betonen und auf der anderen Seite aus Aktivitä- Die Debatte läuft seit Langem. Aber wir müssen sie wei- ten wie der gemeinsamen Bekämpfung des Klimawan- terverfolgen, damit der Sicherheitsrat an Legitimität und dels oder der Agenda 2030 mit den gemeinsamen Ent- Anerkennung bei seinen Entscheidungen gewinnt. Ja, wicklungszielen aussteigen wollen. dafür braucht es eine komplizierte Änderung der UN- Charta. Aber wir sollten in dem Bestreben nicht locker- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Auf die Kern- lassen, auch wenn die Aussichten unter den gegenwärti- kompetenz konzentrieren, Herr Kollege!) gen Bedingungen eines geostrategischen Wettbewerbs Das erschließt sich mir überhaupt nicht. von Großmächten schwieriger geworden sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zum Schluss noch einmal der Hinweis: Entscheidend der CDU/CSU) für das Funktionieren der Vereinten Nationen ist der Wil- le der Mitgliedstaaten, sich einzubringen und gemeinsam Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die die Ziele zu verfolgen, die man vereinbart hat. Deutsch- Anstrengungen wirken. Ich habe mir zwei Bereiche land ist inzwischen, wenn man die regulären und die herausgegriffen, nämlich die Bekämpfung von Armut zusätzlichen Mittel zusammennimmt, der zweitgrößte und Hunger sowie die Bildungssituation. 1990, vor Geber. Es gibt eine hohe öffentliche Unterstützung in 30 Jahren, gab es 1 Milliarde unterernährte Menschen Deutschland. Deshalb glaube ich, dass Deutschland auf der Welt. Heute sind es bei einer um 2,5 Milliarden auch in Zukunft ein kraftvoller Akteur bei der Gestaltung Menschen gewachsenen Weltbevölkerung noch 670 Mil- der Vereinten Nationen sein kann. lionen – immer noch viel zu viele, aber doch ein deutli- cher Fortschritt bei der Bekämpfung von Armut und Hun- Herzlichen Dank. ger. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Oder wenn wir uns die Bildungssituation anschauen: des Abg. Ulrich Lechte [FDP]) Vor 30 Jahren waren noch etwa 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen nicht in der Lage, eine Schule zu besu- chen. Heute sind es noch 17 Prozent – immer noch viel zu Vizepräsident Wolfgang Kubicki: viele, aber auch hier ein deutlicher Fortschritt in der Ent- Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Nächste Red- wicklung. Natürlich ist dazu das Handeln der einzelnen nerin ist die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. Staaten notwendig. Aber dass dieses Handeln koordiniert werden kann, mit gemeinsamen Zielen versehen werden (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23455

(A) Heike Hänsel (DIE LINKE): ergreifen. Statt neue Atombomber für modernisierte (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Atomwaffen, die hier in Deutschland immer noch lagern, gen! Vor 75 Jahren wurden die Vereinten Nationen unter anzuschaffen, sollte Deutschland endlich den Atomwaf- dem Eindruck zweier verheerender Weltkriege und der fenverbotsvertrag unterzeichnen. Barbarei des deutschen Faschismus gegründet. Die Leh- ren daraus bilden sich in der UN-Charta ab und in dem (Beifall bei der LINKEN) großen zivilisatorischen Anspruch – ich zitiere –, „künf- Denn dieser wird nun im Januar in Kraft treten, nachdem tige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewah- ihn mit Honduras der 50. Staat ratifiziert hat. Das ist eine ren“, und in der Universalität der Menschenrechte. Die hoffnungsvolle, beeindruckende Initiative der Vereinten Idee, ein weltweites Gremium zu schaffen, in dem die Nationen. Wir gratulieren ICAN dazu, dass diese Initia- Staaten gemeinsam versuchen, Konflikte friedlich beizu- tive nächstes Jahr in Kraft tritt. legen, ist heute wichtiger denn je. Deshalb müssen die Vereinten Nationen und das Gewaltverbot in den inter- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nationalen Beziehungen ohne Wenn und Aber gestärkt Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die NATO, die sich einfach selbst mandatiert für Kriegseinsätze und die mit ihrer Regime-Change-Politik Heike Hänsel (DIE LINKE): ganze Regionen destabilisiert und verwüstet hat, bricht Die Bundesregierung muss endlich ihren Beitrag dazu die UN-Charta, schwächt die Vereinten Nationen und leisten. das internationale Recht und muss endlich aufgelöst wer- (Beifall bei der LINKEN) den. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Auch die UN-geführten Militärmissionen bedürfen Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Bevor ich dem einer kritischen Aufarbeitung. Eine umfassende Evaluie- nächsten Redner das Wort erteile, erlauben Sie mir einen rung, wie seit Langem gefordert, steht immer noch aus. geschäftsleitenden Hinweis, weil ich den Kollegen Der mit Abstand größte Beitrag der Vereinten Nationen, Podolay den Sitzungssaal betreten sehe mit einer Mund- 6 Milliarden Dollar, fließt in diese Militärmissionen jedes Nase-Bedeckung, allerdings unter dem Kinn getragen. Jahr. Dieses Geld würde für die Hungerbekämpfung, für Ich lasse es bei einer Ermahnung. wirtschaftliche Entwicklung und den Klimaschutz viel, (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das ist ein (B) viel dringender benötigt. Plastikschild!) (D) (Beifall bei der LINKEN) – Das ist interessanterweise unzulässig. Armut und Ressourcenknappheit sind ja auch gleichzeitig (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ein Plastik- Kriegs- und Fluchtursachen und würden dadurch nach- schild?) haltig bekämpft. Auch das Welternährungsprogramm, das den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist chronisch – Plastikschilde gehen bedauerlicherweise oder Gott sei unterfinanziert und würde dieses Geld dringend benöti- Dank nicht mehr. Es liegt nicht in meiner Hand, das zu gen. beurteilen, sondern es ist die Allgemeinverfügung des Bundestagspräsidenten, unabhängig von Ihnen. Friedensdiplomatie, Abrüstung und zivile Konfliktbe- arbeitung sind die Säulen, die in der UNO ausgebaut (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) werden müssen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Ini- – Ja, es gibt, Herr Kollege Hampel, Personen, die mit tiative für ein Menschenrecht auf Frieden. einem Attest versehen – – (Beifall bei der LINKEN) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], Dafür sollte sich die Bundesregierung einsetzen, die ja an den Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD] auch derzeit Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist. Und gewandt: Sie müssen hier gar nichts tragen, sie sollte endlich auch den Appell von UN-Generalsekre- wenn Sie hier sitzen!) tär Guterres beherzigen, der dazu aufgerufen hat, eine globale Waffenruhe durchzusetzen. – Darf ich bitte in aller Ruhe ausführen? Ich bitte Sie darum, mir zuzuhören, Kollege Hampel. (Beifall bei der LINKEN) Noch einmal: Normale Schilde gehen nicht, sondern es Deutsche Rüstungsexporte an Länder, die Krieg führen – ist eine Mund-Nase-Bedeckung erforderlich. Unabhän- wie aktuell die Türkei –, sind kein Beitrag zu einer globa- gig vom Kollegen Podolay, will ich darauf hinweisen, len Waffenruhe und müssen endlich sofort gestoppt wer- weil ich das häufiger gesehen habe: Es macht tatsächlich den. nur einen Sinn, wenn man sie trägt, nicht in der Hand, (Beifall bei der LINKEN) nicht unter dem Kinn, sondern einfach korrekt trägt. Das gilt für verschiedene Personen aus anderen Fraktionen. Statt nun selbst hier in Deutschland bewaffnete Kampfdrohnen anzuschaffen, wäre es deutlich wichtiger, (Abg. Paul Viktor Podolay [AfD] übergibt für ein Verbot von Kampfdrohnen und autonomen Vizepräsident Wolfgang Kubicki ein Schrift- Kampfrobotern auf UN-Ebene endlich eine Initiative zu stück) 23456 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) – Momentan ist mir kein ärztliches Attest von Ihnen Angriffe von Nationalisten müssen Deutschland und die (C) bekannt. Herr Kollege Podolay, es ist ja auch alles in Europäische Union die Vereinten Nationen jetzt erst recht Ordnung. Wir werden diese Frage noch einmal klären. stärker unterstützen – politisch wie finanziell. Und da Ich bitte nur – und das betrifft nicht nur den Kollegen muss auch die Bundesregierung noch mehr tun. Podolay, sondern auch alle Personen, die Mund-Nase- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bedeckungen haben –, sie im Zweifel auch entsprechend Für uns Grüne steht fest: Die einzige Alternative zu zu tragen und nicht darauf zu verzichten und sie nicht nur den Vereinten Nationen sind noch bessere Vereinte Natio- unter dem Kinn, unterhalb der Nase oder nur in der Hand nen. – Die Vereinten Nationen sind ein absoluter Glücks- zu tragen. Das ist nicht das Erfordernis, dem wir zu ent- fall und die teuer erkaufte Lehre aus dem Horror von zwei sprechen haben. Weltkriegen. Sie leisten unverzichtbare Arbeit, etwa mit Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin den Blauhelmen bei der Friedenssicherung oder bei der Agnieszka Brugger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Armutsbekämpfung. Das Welternährungsprogramm, das völlig zu Recht mit dem Friedensnobelpreis ausgezeich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) net wurde, hat allein im letzten Jahr fast 100 Millionen Menschen in über 80 Staaten geholfen. All das ist unfass- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bar wertvoll, und man muss sagen: Trotz aller Kritik und Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nicht nur im Angesicht einer furchtbaren Pandemie und Kollegen! In den letzten Monaten sind weltweit über einer globalen Klimakatastrophe wird dieser Wert beson- 40 Millionen Menschen am Coronavirus erkrankt, mehr ders deutlich. als 1 Million sind gestorben. In dieser Situation greifen Nationalisten die Vereinten Nationen an – ausgerechnet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der AfD) das einzige Gremium, in dem alle Staaten der Welt ge- meinsam Probleme angehen können. Wann, wenn nicht jetzt, braucht es mehr denn je einen Ort mit gemeinsamen Werten und gemeinsamen Regeln, Die Vereinten Nationen haben auch eine Reihe von an dem wir weltweit zusammen Lösungen erarbeiten? Unterorganisationen und Sonderorganisationen, wie Wenn es die Vereinten Nationen nicht schon gäbe, dann zum Beispiel die Weltgesundheitsorganisation. Hier nur hätte die Welt sie spätestens jetzt erfinden müssen. ein Erfolgsbeispiel aus der Vergangenheit: Im 20. Jahr- hundert sind 300 Millionen Menschen an den Pocken Vielen Dank. gestorben. Auch dank der Weltgesundheitsorganisation (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurden die Pocken innerhalb von zehn Jahren weltweit sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) ausgelöscht. Das ist eine großartige Leistung, die zeigt, der SPD) (D) was wir erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vielen Dank, Frau Kollegin Brugger. – Nächster Red- der SPD) ner ist der Kollege Markus Koob, CDU/CSU-Fraktion. Trotzdem bestreitet niemand, dass die Vereinten Natio- (Beifall bei der CDU/CSU) nen 75 Jahre nach ihrer Gründung reformiert werden müssen. Reiche Länder haben extrem viel Einfluss, die Markus Koob (CDU/CSU): Länder des globalen Südens viel zu wenig. Blockaden im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicherheitsrat, etwa durch Wladimir Putin, lähmen die 75 Jahre Vereinte Nationen – ein Grund zum Feiern! Vereinten Nationen. Das Versagen der Weltgemeinschaft Aber wir erleben heute doch, dass zwei der drei Gratulan- in Srebrenica, in Ruanda oder beim Einsatz von Chemie- ten mit giftigen Geburtstagswünschen und verwelkten waffen in Syrien beschädigt sie ebenso. Donald Trump Blumen zu dieser Geburtstagsfeier gekommen sind. kündigt zentrale gemeinsame Verträge wie das Pariser Dazu später etwas mehr. Klimaabkommen oder das Atomabkommen mit dem Iran auf. Es sind vergiftete Glückwünsche an eine Organisation, die für die Menschen in allen Teilen dieser Welt etwas In diese Liste reiht sich im Übrigen auch der verlogene Positives bedeutet. Die Vereinten Nationen bedeuten für Antrag der AfD ein, der zwar vorgibt, die Vereinten die Kinder in Mali ein Stück Sicherheit, für die Kinder in Nationen zu unterstützen, aber all ihre größten Errungen- Europa ein Stück Kultur, für die Kinder im Kosovo ein schaften in die Tonne kloppen will – von den Nachhaltig- Stück Frieden, für die Kinder im Jemen ein Stück Essen keitszielen der Vereinten Nationen bis zum Pariser Kli- und Trinken. Die Vereinten Nationen sind ein Tausend- mavertrag. Dass Sie die VN stärken wollen, das glaubt sassa zum Wohle der Menschheit. Ihnen wirklich niemand! Ja, die Vereinten Nationen müssen reformiert werden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber die Zahlen auf der Erde sind entgegen der Aufstel- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und lung in einigen der Anträge dank der Arbeit der Vereinten der SPD und der Abg. Dr. Marie-Agnes Nationen heute vielversprechend und keinesfalls rück- Strack-Zimmermann [FDP]) schrittlich: Die Alphabetisierung hat auf knapp 90 Prozent Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationen zugenommen. Die Kindersterblichkeit ist auf knapp können immer nur so erfolgreich sein, wie die Mitglied- 4 Prozent gesunken. Auf den Hunger ist bereits einge- staaten das auch ermöglichen. Gerade angesichts der gangen worden. Der Anteil der Menschen, die in extre- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23457

Markus Koob (A) mer Armut leben, hat sich in den letzten 20 Jahren hal- schlecht zu behandeln, den Klimaschutz zu beerdigen (C) biert. Die Kinderarbeit ist seit 1950 um zwei Drittel oder ihren Verschwörungstheorien bei der WHO zu frö- zurückgegangen. Der Anteil der Menschen, die mit Was- nen. ser aus geschützten Quellen leben können, konnte von Die UN sind das, was AfD-Anträge in diesem Haus 1980 bis 2015 von 58 Prozent auf 88 Prozent gesteigert noch nie waren oder sein werden: Brückenbauer zwi- werden. Die Zahl der HIV-Infektionen hat sich halbiert. schen Nationen und Kulturen, Wächter der Menschen- Der Artenschutz wurde massiv ausgeweitet. Die Zahl der rechte, Kämpfer für die Grundbedürfnisse der Schwächs- Impfungen hat sich seit 1980 vervierfacht. – So könnte ten, Botschafter des Friedens, von uns allen geschätzt, ich fortfahren mit beliebigen anderen Beispielen aus den gebraucht und wichtig – vor 75 Jahren genauso wie heute unterschiedlichsten Themengebieten. All dafür arbeiten oder in 75 Jahren. die Vereinten Nationen. Man muss dafür danken, dass sie in diesen Bereichen für diese Erfolge verantwortlich Herzlichen Glückwunsch, Vereinte Nationen! sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist viel gesagt worden: Die Vereinten Nationen kön- neten der SPD und des Abg. Ulrich Lechte nen nur so erfolgreich sein, wie es die Mitgliedstaaten [FDP]) möchten. Die Menschheit befindet sich insgesamt aber auf einem positiven Weg, der maßgeblich auch von den Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vereinten Nationen bestimmt und geleitet wird. Dafür verdienen die Vereinten Nationen, vor allem aber auch Vielen Dank, Herr Kollege Koob. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Dank von uns Bevor ich dem letzten Redner zu diesem Tagesord- allen. nungspunkt das Wort erteile, möchte ich noch aufklärend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wirken. Herr Kollege Podolay, vielen Dank, dass Sie uns ordneten der SPD) darauf hingewiesen haben, dass die Allgemeinverfügung des Bundestagspräsidenten einer Erneuerung bedarf. Die Die Gründung der Vereinten Nationen vor 75 Jahren Verwaltung ist offensichtlich nicht so schnell wie der war das Resultat von Krieg und Massenmord. Auch all Rest der Republik. das ist schon gesagt worden. Die Idee dahinter ist 75 Jahre alt, aber sie ist heute wichtiger und moderner denn je. In allen Coronaverordnungen der Länder wird die Neun der Friedensnobelpreise gingen in den 75 Jahren Mund-Nase-Bedeckung wie folgt definiert – und ich an Organisationen der Vereinten Nationen, neun an Ein- zitiere aus der Verordnung des Landes Berlin, § 4 zelpersonen aus dem Umfeld der Vereinten Nationen. Absatz 3 –: (B) Das zeigt: Die Vereinten Nationen sind erfolgreich. – Eine Mund-Nasen-Bedeckung ist eine aus handels- (D) Und sie werden weiterhin gebraucht. üblichen Stoffen hergestellte, an den Seiten eng Was aber machen nun AfD und Linke in ihren Anträ- anliegende, Mund und Nase bedeckende, textile gen daraus? Barriere, die aufgrund ihrer Beschaffenheit geeignet ist, eine Ausbreitung von übertragungsfähigen Für die Linken bedeuten die Vereinten Nationen vor Tröpfchenpartikeln und Aerosolen durch Atmen, allem einen Ort, um ihre Gesinnungsethik gegen ver- Husten, Niesen und Aussprache zu verringern, meintlichen amerikanischen Imperialismus durchzudrü- unabhängig von einer Kennzeichnung oder zertifi- cken: pauschales Atomwaffenverbot, eine allumfassende zierten Schutzkategorie. Die Mund-Nasen-Bede- Entmilitarisierung der UN, pauschales Drohnenverbot. ckung ist so zu tragen, dass Mund und Nase so (Zurufe von der LINKEN) bedeckt werden, dass eine Ausbreitung von Tröpf- chen und Aerosolen durch Atmen, Husten, Niesen Es ist langsam etwas müßig, mit Ihnen immer wieder oder Sprechen vermindert wird. darüber zu diskutieren. Wir machen das ja bei den Ein- sätzen in Mali immer wieder. Ohne gerade die UN-Ein- Ich bewerte das jetzt nicht, aber da sich der Deutsche sätze vor Ort gibt es keine Entwicklungshilfe und eben Bundestag entschlossen hat, den Verordnungen der Län- auch keine Perspektive für die betroffenen Menschen. der – sinnvoll oder nicht sinnvoll – zu folgen, wird die entsprechende Allgemeinverfügung angepasst werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Sie LINKE]) befinden sich im Recht; aber das Recht, das wir jetzt haben, wird geändert werden. Da Sie hier von einem Menschenrecht auf Frieden reden, könnten Sie Ihre Kontakte nach Moskau ja auch mal Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt wird nutzen, um einen Beitrag dafür zu leisten. der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU) Harald Weinberg [DIE LINKE]: Haben Sie noch ein bisschen Niveau? Das ist unter der Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Grasnarbe!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Für die AfD hingegen sind die Vereinten Nationen ein ren! Die Gründung der Vereinten Nationen und das Ende Mittel zum Zweck, um mehr Posten mit Deutschen zu des Zweiten Weltkrieges liegen nicht zufällig im gleichen besetzen, um Flüchtlinge und Migranten weltweit Jahr. Die Gründung der Vereinten Nationen ist die Ant- 23458 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Volker Ullrich (A) wort auf den furchtbaren Zweiten Weltkrieg und auch auf Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) das Versagen des Völkerbundes, durch seine Institutionen Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schlie- den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert zu haben. ße ich die Aussprache. In diesen vergangenen 75 Jahren ist nicht alles gelun- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf gen. Ich erinnere an Völkermorde in Ruanda, in Srebre- den Drucksachen 19/23716, 19/23697 und 19/23692 an nica, Kriege, die auch in den letzten 75 Jahren den Globus die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- heimgesucht haben. Dennoch hat gerade während der schlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Ich Zeit des Kalten Krieges die UN dafür gesorgt, dass die sehe, das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Großmächte der Welt zumindest an einem Tisch saßen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: dass miteinander gesprochen wurde – Beratung der Beschlussempfehlung und des (Zurufe von der AfD) Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre- und dass durch die Institutionen der Vereinten Nationen gierung auch die Sorge um die globale Friedensordnung immer Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter eine Stimme hatte. Das kommt aus einer ganz einfachen deutscher Streitkräfte – Stabilisierung Erkenntnis, nämlich dass die Welt, so wie sie ist, nicht sichern, Wiedererstarken des IS verhin- dadurch bestimmt ist, dass die anderen gewinnen, wenn dern, Versöhnung fördern in Irak und ich verliere, dass die internationale Ordnung kein Null- Syrien summenspiel ist, sondern dass das, was zählt, Koopera- tion und Zusammenarbeit sind. Das war in den letzten Drucksachen 19/22207, 19/23212 75 Jahren wichtig, und das wird auch in den nächsten – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Jahrzehnten immens wichtig für die gemeinsame Welt- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung ordnung sein. Drucksache 19/23213 Es geht um die Fragen der Sicherheitsordnung, der Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Pandemiebekämpfung, des Klimaschutzes. Es geht aber der AfD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion auch um das, was uns innerlich bewegt: die Geltung des der FDP vor. Völkerrechts, vor allen Dingen aber auch die Geltung der Menschenrechte, also das, was menschliches Dasein Über die Beschlussempfehlung werden wir später überall ausmacht. Menschenwürde, Meinungsfreiheit, namentlich abstimmen. Die Stimmabgabe wird nach (B) Religionsfreiheit, körperliche Unversehrtheit sind uni- Eröffnung der namentlichen Abstimmung für die Dauer (D) versale Menschenrechte, und diese müssen überall auf von 30 Minuten in der Westlobby möglich sein. der Welt gelten. Auch wenn das nicht überall der Fall Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten vor- ist, muss es unser Ziel sein, dass die Vereinten Nationen gesehen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erst- ihren Beitrag dazu leisten, dass diese Werte verwirklicht em Redner dem Kollegen Dr. Nils Schmid, SPD-Frak- werden, überall und kompromisslos. tion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Nils Schmid (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Deswegen muss in den nächsten Jahren der Fokus ren! Es ist kein Zufall, dass heute in dieser Debatte die darauf gerichtet werden, dass die bestehenden Institutio- Kollegin Siemtje Möller und ich das Wort für die SPD- nen verbessert werden. Es geht um die Aufgabe der Blo- Fraktion ergreifen; denn wir waren vor etwas mehr als ckade im UN-Sicherheitsrat, welche oft dazu führt, dass einem Jahr, im August 2019, im Irak und haben uns dort die Vereinten Nationen dort nicht handlungsfähig sind, über den Einsatz der Bundeswehr informiert. Wir können wo sie eigentlich handlungsfähig sein müssten, in Syrien deshalb nicht nur aus eigener Anschauung, sondern auch beispielsweise. Es geht um die nachhaltige Finanzierung mit voller Überzeugung sagen: Die SPD unterstützt die- von Einrichtungen der Vereinten Nationen, vom UN- sen Einsatz und wird deshalb der Verlängerung des Man- Flüchtlingshilfswerk bis zum World Food Programme. dats zustimmen. Insgesamt geht es also darum, dass wir die Interessen (Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack- auf der Welt bündeln und dass nicht das Recht des Zimmermann [FDP]) Stärkeren gilt, sondern der Anspruch auf Zusammenar- beit und auf eine friedliche Welt. Das haben wir über Zwar ist der IS als militärische Formation besiegt; den- 75 Jahre erreicht, und wir wollen mit einem guten Antrag noch sind terroristische Anschläge und ein Wiederan- daran arbeiten, dass das so weitergeht. wachsen von Terrorzellen sowohl in Syrien wie auch vor allem im Irak festzustellen. Deshalb ist es notwendig, Vielen Dank. dass Deutschland im Rahmen der Anti-IS-Koalition wei- terhin politische und militärische Beiträge zur Stabilisie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung des Iraks leistet. Militärisch geschieht dies durch die neten der SPD und des Abg. Ulrich Lechte Bereitstellung von Luftbetankung, vor allem aber durch [FDP]) das Engagement in der Ausbildung irakischer Streitkräf- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23459

Dr. Nils Schmid (A) te, sowohl der Zentralregierung wie auch der Regional- ischer Natur, aber auch politischer Natur. Gerade deshalb (C) regierung im Nordirak. Da kommt es darauf an, dass die ist es wichtig, dass Deutschland und Europa sich weiter- einmal ausgebildeten Streitkräfte diese Fähigkeiten auch hin für diesen Schlüsselstaat im Nahen Osten engagieren, behalten und dass sie entsprechend ihrer Ausbildung ein- der oft zerrieben wird zwischen regionalen Interessen des gesetzt werden. Irans und der eigenen Gesellschaft, in der das Verhalten (Abg. [CDU/CSU] begibt sich der USA manchmal kritisch gesehen wird. ohne Mund-Nase-Bedeckung zum Ausgang Insofern ist es umso wichtiger, dass das Engagement des Plenarsaales) für Fähigkeitsaufbau und für stabile Demokratie im Irak breit von der Völkergemeinschaft, auch von Deutschland, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: unterstützt wird. Deshalb bitten wir um Zustimmung zu diesem Mandat. Herr Kollege Dr. Schmid, erlauben Sie mir eine kurze Zwischenbemerkung. Herzlichen Dank. Herr Kollege Kauder, auch Ihnen erteile ich einen Ord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nungsruf. Das Zeigen der Maske alleine führt nicht der CDU/CSU) weiter. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Mein Gott!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: – Ja, Sie können sagen: Mein Gott! – Entweder wir haben Vielen Dank, Herr Dr. Schmid. – Nächster Redner ist eine Verfügung und halten uns daran, oder wir haben der Kollege Gerald Otten, AfD-Fraktion. keine. Das gilt auch für die CDU/CSU-Fraktion, wenn (Beifall bei der AfD) ich das mal sagen darf. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Gerold Otten (AfD): SES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Herr Kollege Schmid, Sie haben das Wort. gen! Außenminister Maas hat bei der ersten Debatte des Antrags die Strategie der Bundesregierung angedeutet: Militärischer Druck werde nicht ausreichen, dem IS den Dr. Nils Schmid (SPD): Nährboden zu entziehen. Man müsse dafür sorgen, dass Um diese Ausbildung und den Fähigkeitsaufbau der es den Menschen vor Ort besser geht. Für den zivilen irakischen Streitkräfte zum Erfolg zu führen, braucht es Aufbau bedürfe es aber Sicherheit und Stabilität. aber auch politische Fortschritte innerhalb des Iraks. So (B) sind immer noch Gebiete zwischen Regionalregierung (Zuruf von der SPD: Richtig so!) (D) und Zentralregierung umstritten, was den Kampf gegen Das klingt zunächst einmal plausibel, zumal der neue Terroristen hemmt. Wir haben im letzten Beschluss ange- Premierminister des Irak erste Ankündigungen gemacht mahnt, dass es hier eine politische Lösung braucht. Jetzt hat, die auf Reformen oder innerstaatlichen Ausgleich können wir feststellen: Es gibt erste Fortschritte, zum hindeuten. Der Minister hat also eine hoffnungsvolle Zu- Beispiel in Form von gemeinsamen Sicherheitsoperatio- kunft für die Region dargestellt; doch Hoffnung war noch nen der regionalen Streitkräfte und der zentralirakischen nie ein guter Berater. Streitkräfte in diesen Gebieten. – Das muss unbedingt weitergehen. Realpolitik dagegen erfordert zunächst einmal, anzu- erkennen, dass sich die politischen Gegebenheiten in Auch die politische Lage im Irak muss uns mit Sorge Syrien von denen im Irak grundsätzlich unterscheiden. erfüllen. Ich hatte gehofft, dass wir dieses Jahr besser Dies müsste sich natürlich auch im Mandatstext wider- dastehen würden als vor einem Jahr. Aber wir haben im spiegeln: am unterschiedlichen Personal- und Material- Winter letzten Jahres massive Proteste im Irak erlebt. Die einsatz, an einer differenzierten Bewertung des politi- junge Generation ist mangels Zukunftsperspektiven auf schen Umfelds und, ganz entscheidend, an einer die Straße gegangen. Und wir haben auch erlebt, dass umfassenden Darlegung der unterschiedlichen Aufträge, irakische Sicherheitskräfte unter Verstoß gegen die Men- Ziele und Methoden. Aber nichts davon! schenrechte gegen diese Protestbewegung vorgegangen sind. Deshalb ist es besonders wichtig – die neue iraki- Auf acht Seiten wird die Mission im Irak beschrieben, sche Regierung hat das auch zugesagt und zeigt da mehr zum Einsatz in Syrien: zehn Zeilen. Man beruft sich auf Sensibilität als Vorgängerregierungen –, dass die iraki- eine UN-Resolution von 2015 – eine Resolution, die von sche Zentralregierung und ihre Streitkräfte bei friedlichen den wirklichen Machtverhältnissen mittlerweile meilen- Protesten in der Zukunft die Menschenrechte wahren. weit entfernt ist. Eine Analyse der realen Machtverhält- nisse ist jedoch die Voraussetzung, das Machbare zu wol- Wir sind froh, dass mit der Regierung Al-Kadhimi ein len. Und damit meine ich nicht das realitätsferne neues politisches Klima im Irak geschaffen worden ist, Schutzzonenprojekt der Ministerin in Nordsyrien. Wie dass jetzt mehr Bereitschaft für Gespräche mit verschie- steht es damit eigentlich, Herr Staatssekretär? denen Bevölkerungsgruppen vorhanden ist und dass ins- besondere der Weg zu einer neuen politischen Legitima- Ein erster realpolitischer Schritt wäre also eine Teilung tion durch Neuwahlen im nächsten Jahr aufgezeigt des vorliegenden Mandats, wie von uns gefordert. Nur so worden ist. Besonders wichtig wird sein, dass wir in hätte der Bundestag die Möglichkeit, über zwei völker- Zukunft eine inklusive Zentralregierung in Bagdad als und verfassungsrechtlich fragwürdige Einsätze getrennt Partner haben; denn die Konflikte im Irak sind militär- zu entscheiden. 23460 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Gerold Otten (A) Realpolitik verlangt zum Zweiten aber auch nach einer Wir lehnen dieses Mandat daher aus verfahrenstechni- (C) ständigen Überprüfung der Leitlinien außenpolitischen schen, völkerrechtlichen und grundsätzlichen Erwägun- Handels; denn der Traum von einer globalen Weltord- gen ab. Wir bitten stattdessen um Zustimmung zu unse- nung, wie er hier eben ja auch schon beschrieben wurde, rem Antrag. vom funktionierenden globalen Sicherheitssystem Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erweist sich in der Realität doch eher regelmäßig als ein Wunschtraum – von der Strategie des vernetzten Ansat- (Beifall bei der AfD) zes ganz zu schweigen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Konkret heißt das: Wir bezweifeln nicht nur den Sinn dieses Einsatzes, sondern auch die rechtliche Vereinbar- Vielen Dank, Herr Kollege Otten. keit. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frau von Storch marschiert ohne Mund-Nase- (Beifall bei der AfD) Bedeckung herum!)

Die Bundesregierung beruft sich zwar im Antrag auf – Frau von Storch, darf ich daran erinnern, dass Sie Ihre internationale Verträge, die den Rahmen für das Mandat Maske, wenn Sie sie haben, nicht nur in der Hand tragen, vorgeben; doch dieser Rahmen wird von ihr eben sehr sondern auch aufsetzen sollten? weit ausgelegt. Solange das so bleibt, kann die Bundes- (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und dem regierung de facto jeden Einsatz mit Worthülsen legiti- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mieren. Im vorliegenden Antrag ist es das „Recht auf Selbstverteidigung“. Dieses vorgebliche Recht auf Ich bin hier kurz vor dem Wahnsinn, wenn ich Ihnen das Selbstverteidigung ergibt sich – so steht es im Antrag – sagen darf. Ich habe auch gerade wieder darauf verzich- aus der Terrorgefahr durch den IS in Deutschland und der tet, einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu rügen, die westlichen Welt. ihre Maske vergessen hatten. Es kommt gelegentlich vor im Showgeschäft. Solange ich glaube, sie ist vergessen Nun, wir von der AfD sind sicherlich die Letzten, die worden und es ist keine Provokation, ist es auch in Ord- die Gefahr des islamistischen Terrors bestreiten, der heu- nung. te in einer Kirche in Nizza wieder drei Menschen brutal (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und das Leben gekostet hat. Deshalb widmen Sie sich endlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffi auch ohne ideologische Scheuklappen dem Islamismus in Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Deutschland! Um es Ihnen zu verdeutlichen: Wenn bei Frau von Storch auszuschließen!) (B) angeblich mangelnde Staatlichkeit oder Perspektivlosig- (D) keit der Nährboden für den islamischen Terrorismus sind, – Ja, Frau von Storch habe ich ja jetzt auch ermahnt. wie es im Antragstext heißt, wie erklären Sie uns dann ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Islamismus in der westlichen Welt, einen Islamismus NEN]: Das ist die reine Provokation! Haben von Muslimen und Konvertiten, die in Sicherheit und Sie das immer noch nicht gemerkt? – Gegenruf relativem Wohlstand aufgewachsen sind? von der AfD: Das ist Quatsch!) Aus dieser latenten Terrorgefahr dann aber ein Recht – Ich habe meine Entscheidung getroffen, und ich kann auf kollektive Selbstverteidigung abzuleiten und militä- ich Ihnen sicher sagen, dass Kommentare zur Sitzungs- risch in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten leitung und zu Entscheidungen des Präsidenten auch ord- einzugreifen, halten wir für äußerst fragwürdig und ver- nungsruffähig sind. Deshalb bitte ich darum, das einfach antwortungslos. zu unterlassen. Ich bitte noch einmal alle Kolleginnen und Kollegen, (Beifall bei der AfD) darauf zu achten – das gilt insbesondere dann, wenn Mit- glieder der regierungstragenden Fraktionen, die ja leucht- Dennoch ist kollektive Selbstverteidigung ständig Dreh- ende Beispiele sind, diese Bitte nicht beachten –: Wenn und Angelpunkt zur Legitimation von Interventionen von wir den Bürgerinnen und Bürgern auferlegen, künftig mit Koalitionen der Willigen. Und wenn es nach der Verteidi- schärferen Maßnahmen zu leben, dann sollten wir dies gungsministerin geht: Künftig gerne noch mehr davon! auch in unserem Bewusstsein haben, unabhängig davon, ob uns das passt oder nicht. Mir passt es teilweise auch Doch was heißt eigentlich „kollektive Verteidigung“ nicht. Aber solange das geht, sollten wir es befolgen. im ursprünglichen Sinn? Diese beschreibt gemäß Kon- zeption der Bundeswehr eigentlich die Fähigkeit zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Einsatz kampfkräftiger Großverbände – ich zitiere – SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE „innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes“. GRÜNEN) Die Bundesregierung legt diesen Rand des Bündnisge- Wir müssen irgendwann im Präsidium von der Ermah- bietes allerdings sehr weit aus. Vor fast 20 Jahren war nung wirklich zu drastischen Ordnungsmaßnahmen über- es der Hindukusch, wo angeblich Deutschlands Sicher- gehen, wie wir es bei der Bevölkerung ja auch durch- heit verteidigt wurde, heute sind es das Zweistromland setzen wollen oder sollen. und die Sahelzone. Hinter dieser geografischen Ausdeh- nung steht allerdings – und das ist das Entscheidende – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des eine Entgrenzung völkerrechtlicher Prinzipien. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23461

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) So, nun haben wir die Zeit genutzt. Der nächste Redner reibungslos; denn wir haben nichts davon gelesen, dass (C) ist der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion. es dabei größere Schwierigkeiten gegeben hätte. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) haben außerdem einen wichtigen technischen Beitrag zur Verbesserung der Luftraumüberwachung im Irak geleistet. Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Was die Beobachtung der terroristischen Kräfte aus der beste Chance, der Ermahnung des Präsidenten zu entge- Luft durch Fotoaufnahmen, die früher unsere Tornados hen, ist, wenn man die Maske wie die Schüler in der geleistet haben, angeht, haben wir uns darauf verständigt, Schule einfach die ganze Zeit auf der Nase hat – solida- dass das zukünftig von anderen Nationen übernommen risch mit den Schülern in Deutschland. wird. Ich hätte mir schon vorstellen können, dass gerade Ich möchte zur Sache sprechen. Wir haben die Verlän- in der Coronakrise auch Deutschland erklärt, weiter diese gerung des Anti-IS-Mandates mit der Unterstützung der Rolle zu übernehmen, damit unsere Eurofighter zeigen, irakischen Regierung beim Aufbau tragfähiger eigener dass sie diese Fähigkeit im Einsatz innerhalb einer Sicherheitsstrukturen zu beraten. Das ist ein Mandat, NATO-Operation liefern können. Aber das ist eben nicht das diesmal für 15 Monate ausgesprochen werden soll. so, und das akzeptieren wir auch so. Es ist auch klug, dass wir nicht mitten in der Bundestags- wahl oder unmittelbar nach der Bundestagswahl schon Es ist ein wichtiger, ein starker Einsatz. Die Zahl der wieder im Deutschen Bundestag über Mandate befinden Soldaten, die im Einsatz sind, wird von 700 auf 500 ver- müssen. Das Mandat soll bis zum 31. Januar des Jahres mindert. Das sind eben die Soldaten, die wir bisher zum 2022 laufen, also 15 Monate vom 1. November an. Betrieb der Tornado-Aufklärungsflugzeuge gebraucht haben. Aber damit verliert der Einsatz, wie ich finde, Wir haben in der Coronakrise leider beobachten müs- nicht an Wucht mit Blick auf das, was wir für die iraki- sen, dass die Konflikte nicht etwa abgekühlt sind, son- sche Regierung tun. dern dass, im Gegenteil, gerade Terroristen oder aber eben auch Staats- und Regierungschefs, die Böses im Die völkerrechtliche Lage ist für meine Fraktion auch Schilde führen, die Gelegenheit nutzten, in der Corona- klar. Wir hatten den neuen irakischen Premierminister zeit, wo doch die eine oder andere Institution vielleicht Al-Kadhimi hier in Berlin. Er hat auch gegenüber dem etwas gelähmt ist, zu agieren. Wir haben über einen die- NATO-Generalsekretär vor einigen Monaten in einem ser neu ausgebrochenen und eskalierten Konflikte in Brief zum Ausdruck gebracht, dass die Unterstützung Bergkarabach eben in der Aktuellen Stunde gesprochen. im Irak ausdrücklich erwünscht ist. Es gibt also die for- Ich habe den Eindruck, auch nach Gesprächen mit dem male Einladung der zuständigen Regierung zur Bekämp- (B) Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten fung des IS-Terrors. Damit ist die völkerrechtliche (D) Kreuz, Peter Maurer, dass die Zahl der Menschen, die Grundlage meines Erachtens in vollem Umfang gegeben. durch Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Umstände von Terrorismus und von Vertreibung bedroht sind, in Ich glaube, dass die deutschen Soldatinnen und Solda- den letzten Monaten unter Corona eher zugenommen ten im Irak am Boden – davon auch viele im Norden bei hat. Das ist natürlich eine besorgniserregende Entwick- unseren kurdischen Freunden, die wir ja in der Vergan- lung. genheit auch sehr gut unterstützen konnten –, bei der Deswegen ist es total wichtig, dass wir unser Engage- Luftraumüberwachung, bei der Betankung von Jordanien ment an der Seite der irakischen Regierung fortsetzen. aus, aber eben auch in den AWACS-Flugzeugen – auch Wir haben es uns als Koalition nicht leicht gemacht mit das gehört zum Einsatz – einen guten Job machen, und diesem Mandat. Die Diskussion hat uns ja zu dem wünsche mir, dass sie unfallfrei und gefahrfrei aus dem geführt, was wir heute machen. Es gibt einige, wie ich Einsatz zurückkehren. In diesem Sinne wird die CDU/ finde, sehr positive Weiterentwicklungen. So werden wir CSU-Fraktion dem Einsatz zustimmen. zukünftig, wie es von Anfang an eigentlich auch der Wunsch der CDU/CSU gewesen ist, Herzlichen Dank. (Lachen der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack- (Beifall bei der CDU/CSU) Zimmermann [FDP] – Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Das ist ja cool, dass Sie das behaupten!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herzlichen Dank, Herr Kollege Hardt. – Nächster Red- gemeinsam mit der NATO mehr im Bereich des Anti-IS- ner ist der Kollege Alexander Müller, FDP-Fraktion. und Irak-Unterstützungsmandats machen, und zwar im Rahmen der NATO-Mission Iraq. Das ist tatsächlich jetzt (Beifall bei der FDP) gelungen. Wir haben diesen Vorbehalt, der ursprünglich beim ersten Mandat einmal ausgesprochen worden war, Alexander Müller (FDP): zurückgenommen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um Wir werden den an der Operation beteiligten Nationen die Terroristen des „Islamischen Staats“ zu bekämpfen, als Bundesrepublik Deutschland weiterhin weitere wich- müssen wir sie erst mal ausfindig machen. Ohne Luftauf- tige Kernfähigkeiten beisteuern, zum Beispiel Luftbetan- klärung kann das nicht gelingen. Bis zu diesem Frühjahr kung. Viele Tausend Luftbetankungsvorgänge durch haben das die Tornados der Luftwaffe sehr erfolgreich deutsche A400M-Flugzeuge liefen offensichtlich völlig gemacht; die Bundeswehr hat diesbezüglich einen her- 23462 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Alexander Müller (A) vorragenden Ruf; unsere Aufklärungsfähigkeiten und Erstens: die Ausbildung gemeinsam mit den NATO- (C) unsere Bildauswertung haben entscheidend mitgeholfen, Partnern leisten. den IS einzudämmen. Zweitens: die Luftaufklärung in Syrien und Irak wie- (Beifall bei der FDP) der sicherstellen, mit unseren Fähigkeiten weiter leisten, Dann kam die Bundesregierung auf die Idee, auf und zwar so lange, bis eine andere Nation diese wichtige bilateraler Basis Capacity Building zu betreiben und, los- Aufgabe erfüllen kann. gelöst vom NATO-Programm, irakische Soldaten auszu- Und drittens. Wir müssen besser evaluieren und uns bilden. Dann ziehen Sie auch noch unsere Aufklärungsf- auf unsere Stärken konzentrieren. lugzeuge dort ab, ohne dass geklärt ist, wann Ersatz kommen soll. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Weil wir Frieden und Stabilität in Syrien und im Irak Die Verteidigungsministerin beschwichtigt uns immer wollen, wird die FDP-Fraktion dem Mandat heute zu- wieder, Italien werde irgendwann einmal die Luftaufklä- stimmen. Wir appellieren aber auch dringend, die Fehl- rung übernehmen; aber unsere Tornados sind wieder zu entwicklungen zu beenden und unseren Entschließungs- Hause. Der IS breitet sich wieder aus und ist zurück auf antrag anzunehmen. dem Stärkeniveau vom März 2018. Vielen Dank. (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: (Beifall bei der FDP) So ist es!) Ohne Not machen wir uns die früheren Erfolge der Mis- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sion selbst kaputt. Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Nächste Rednerin (Beifall bei der FDP) ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. Die FDP hat in diesem Saal immer wieder vor den (Beifall bei der LINKEN) Folgen gewarnt. Ministerin Kramp-Karrenbauer redet immer von mehr deutscher Verantwortung weltweit, aber tut genau das Gegenteil. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle (Beifall bei der FDP) sind erschüttert angesichts der Berichte aus Nizza, wo In diesem Jahr hat die Bundeswehr praktisch nicht aus- ein islamistischer Mörder heute drei Menschen niederge- metzelt hat. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen (B) gebildet, erst wegen iranischer Raketenangriffe, dann (D) aufgrund der Pandemie. Außerdem gibt es im Irak starke in Nizza. Milizeinheiten, die sogenannten Volksmobilisierungs- Gestern zogen Anhänger des türkischen Präsidenten kräfte: staatlich geduldet und auf dem Papier der Zentral- Erdogan in der Nähe der französischen Stadt Lyon durch regierung unterstellt, in Wirklichkeit finanziert und die Straßen und riefen: „Wo seid ihr, Armenier?“, beglei- gelenkt aus dem Iran. Dieser verlängerte Arm der Mull- tet von Allahu-akbar-Gebrüll. Zuvor wurden friedliche, ahs, der die Zielkoordinaten für die iranischen Raketen christliche armenische Demonstranten mit einem Ham- besorgt, besteht aus Kämpfern, die gerne mal die Uni- mer und Messern angegriffen und schwer verletzt. Man form wechseln. Ob die Bundeswehr in Taji unbewusst muss es endlich zur Kenntnis nehmen, auch durch diese auch solche Kämpfer ausbildet, konnte bislang nicht Bundesregierung: Der türkische Präsident fördert diese glaubwürdig widerlegt werden. Wir müssen aufpassen, Mentalität und Ideologie, die wie der sogenannte „Isla- dass wir unsere Ziele erreichen und nicht den Feinden mische Staat“ unter dem Deckmantel der Religion nach von Frieden und Sicherheit noch eine hochwertige Aus- Pogrom und Völkermord giert. Und das Erschreckende bildung gönnen. ist, dass für die Bundesregierung Erdogan und die Türkei (Beifall bei der FDP) Partner sein sollen im Rahmen der Bekämpfung des Wir wollen mit dem Mandat erreichen, dass der IS in „Islamischen Staats“. Ja, dafür sollen weiter Bundes- die Schranken verwiesen wird, dass sich der Irak als wehrsoldaten in der Türkei stationiert werden. Ich finde, demokratischer Staat friedlich entwickeln, als Nation rei- das ist Zynismus pur, meine Damen und Herren. fen kann. Wir wollen den Menschen dort Sicherheit, Frie- (Beifall bei der LINKEN) den und Stabilität gewähren, Entwicklungshilfe und Inf- rastrukturprojekte ermöglichen. Und was macht die Wollen Sie uns wirklich erzählen, dass Sie mit Leuten, Bundesregierung? Sie vermischen ein unkoordiniertes die laut dem Bundesnachrichtendienst, die laut dem Bun- Bündel an Maßnahmen zu einem Mandat: AWACS-Luft- desinnenministerium den islamistischen Terrorismus in raumüberwachung aus der Türkei heraus, Luftbetankung der Region fördern – wie dem türkischen Präsident über Syrien von der jordanischen Basis aus, dazu Capa- Erdogan, der in von der Türkei besetzten Gebieten city Building im Irak, welches noch immer losgelöst von Syriens und des Iraks islamistische Mörderbanden trai- den NATO-Aktivitäten betrieben wird und seit fast einem niert und bewaffnet, um sie in Libyen und in Bergkara- Jahr komplett ruht. Das wirkt alles unausgegoren, bach in seinem Interesse einsetzen zu können –, den unkoordiniert und nicht zielführend. „Islamischen Staat“ bekämpfen können? Das ist doch absurd, meine Damen und Herren. Die FDP-Fraktion hat heute einen Entschließungsan- trag eingebracht mit diesen Forderungen: (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23463

Sevim Dağdelen (A) Erinnern wir uns: Als der „Islamische Staat“ 2014 nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) Sindschar im Nordirak einrückte, waren es die mutigen Gerold Otten [AfD]: Gut so!) kurdischen Freiheitskämpfer der YPG, die, nachdem die KDP-Milizen vor dem heranrückenden IS abgezogen Uns eint die Auffassung, dass der IS als Problem nicht wurden, viele Dutzende Jesiden vor dem Völkermord verschwunden ist. Ja, er mag territorial irgendwie besiegt des „Islamischen Staats“ retteten. Und jetzt gibt es ein sein, er mag kein zusammenhängendes Pseudostaatsge- Abkommen der irakischen Regierung und des Barzani- bilde mehr sein; aber richtig ist: Das Problem des soge- Clans, das darauf zielt, genau die Kräfte aus der Region nannten „Islamischen Staats“ besteht fort. Man muss zu vertreiben, die sich dem Völkermord an den Jesiden in gegen den IS vorgehen, und ich füge hinzu: in letzter den Weg gestellt haben, einfach weil Erdogan dies so will Konsequenz auch militärisch. Und ja, uns eint, dass der und jetzt sogar mit weiteren Angriffen auf die Kurden in Irak Hilfe bei der Regierungsführung und beim Staats- Syrien und im Irak droht. Ich finde, das kann man nicht aufbau braucht. Und das umfasst natürlich auch eine unterstützen, meine Damen und Herren! Reform des Sicherheitssektors. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, rechtfertigt dies dann jedes Mittel? Da ist (Beifall bei der LINKEN) unsere klare Antwort: Nein. Nicht jedes Mittel rechtfer- tigen diese hehren Ziele. Die Bundesregierung gibt vor, den „Islamischen Staat“ und seine rassistische und faschistische Ideologie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bekämpfen zu wollen. Zugleich haben Sie hier in Berlin jahrelang die sogenannte Botschaft der politischen Ver- Sie legen heute ein Mandat vor, das nicht nur eine tretung islamistischer Terrorgruppen, die ETILAF, nicht brüchige völkerrechtliche Grundlage hat, nämlich eine nur begrüßt, sondern bis 2019 mit Steuergeldern auch Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen, noch massiv finanziert. Auf deren Webseite ist aktuell aus der man eben nicht klar und eindeutig herauslesen nachlesbar, dass sie die Angriffe Erdogans auf Frankreich kann, dass ein Gewalteinsatz in Syrien gerechtfertigt ist, und auf Macron befürworten. Und diese Bundesregie- sondern Sie legen auch ein Mandat vor, in dem Deutsch- rung unterstützt diese Leute auch noch. Das ist unfassbar! land zum größten Teil, nämlich in Erbil und in Syrien, in einer Koalition der Willigen agiert. Das mag ja die Bun- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- desregierung vielleicht gerne tun; aber das Bundesver- neten der AfD) fassungsgericht, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat uns allen nun einmal ins Stammbuch geschrieben, dass, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wenn die Bundeswehr im Ausland eingesetzt wird, dies Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. nur nach entsprechenden Regeln und im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit geschehen (B) darf. Dies ist hier nicht der Fall. (D) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Beenden Sie diesen üblen Bundeswehreinsatz. An der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seite von Islamisten, Moslembrüdern und islamistischen Terrorgruppen kann man keinen islamistischen Terroris- Aber neben diesen rechtlichen Problemen hat Ihr Man- mus bekämpfen. Deshalb sagen wir Nein zu diesem dat schlichtweg auch ein inhaltliches Problem. Ich muss üblen, heuchlerischen Einsatz. zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung auf eine schriftliche Frage meines Kollegen Vielen Dank. unter anderem geantwortet hat, dass – Zitat – „gegenüber den irakischen Verantwortlichen wiederholt verdeutlicht“ (Beifall bei der LINKEN) wird, „dass ausschließlich reguläre irakische Streitkräfte ausgebildet werden“. Meine Damen und Herren, Sie wis- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sen in einigen Teilen noch nicht mal, wen Sie da aus- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der bilden, und das trägt eben nicht dazu bei, das fragile Kollege Dr. Tobias Lindner, Fraktion Bündnis 90/Die Gleichgewicht aus Sunniten, Schiiten und Kurden im Grünen. Irak irgendwie zu stabilisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich einen allerletzten Punkt anführen. Eine Resolution des irakischen Parlaments, nach der aus- Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ländische Streitkräfte das Land verlassen sollen, mag Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zwar rechtlich nicht bindend sein, aber sie sollte uns als Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Deutscher Bundestag nicht egal sein. Bundesregierung legt heute zum wiederholten Mal dem Herzlichen Dank. Deutschen Bundestag ein Mandat vor, das nicht nur rechtswidrig ist, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Gerold Otten [AfD]: Genau!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sondern das auch ein untaugliches Mittel darstellt, um die Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lindner. – Nächster Ziele, die man damit eigentlich verfolgen will, wirklich Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/ zu erreichen. Und deswegen, meine Damen und Herren, CSU-Fraktion. wird meine Fraktion diesem Mandat heute nicht zustim- men. (Beifall bei der CDU/CSU) 23464 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): All das zusammen ist das, was unseren strategischen (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Ansatz in der Region ausmacht. In diesem Sinne werbe ne sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepu- ich für das Mandat. blik Deutschland leistet als verlässlicher Partner der inter- nationalen Anti-IS-Koalition wesentliche Beiträge. Und Herzlichen Dank. es ist richtig: Wir haben in der Vergangenheit unseren Einsatz mühsam zurechtgezimmert und inzwischen ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sehr brauchbares und international belastbares Konstrukt ordneten der SPD) geschaffen, nicht nur, was die rechtliche Absicherung angeht – eine breite Mehrheit dieses Hauses steht hinter Vizepräsident Wolfgang Kubicki: diesem Einsatz –, sondern auch dahin gehend – das ist Vielen Dank, Herr Kollege. sehr erfreulich; die Kollegen Schmid und Hardt haben es angesprochen –, dass wir inzwischen auch bereit sind, das Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis zum Aufruf der NATO-Mandat dort zu unterstützen. namentlichen Abstimmung dauert es noch einige Minu- ten. Daher bitte ich Sie alle, noch auf Ihren Plätzen zu Warum ist dieser verlässliche Beitrag so wichtig? Ers- bleiben, und die Kolleginnen und Kollegen, die sich be- tens. Gerade im Bereich „Bekämpfung von Covid-19“ reits in der Westlobby befinden, bitte ich, die Rudelbil- sind viele internationale Anstrengungen im Irak zum dung zu vermeiden. Sie haben für die Teilnahme an der Erliegen gekommen. Aber der IS breitet sich wie namentlichen Abstimmung in der Westlobby 30 Minuten Covid-19 sehr flexibel und sehr angepasst aus. Es geht zur Verfügung. darum, den Verfolgungsdruck auf den IS weiterhin auf- rechtzuerhalten, und deshalb wollen wir diesen Einsatz Nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kolle- dort fortsetzen. gin Siemtje Möller.

(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Zweitens, liebe Kolleginnen und Kollegen – die Red- ner der Opposition haben es angesprochen –: Klar gibt es Siemtje Möller (SPD): Herausforderungen, insbesondere was die Volksmilizen Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! angeht, die zu den Schiiten gehören und den verlängerten Heute diskutieren wir über die neuerliche Verlängerung Arm des Iran darstellen. Aber gerade deshalb ist doch der des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte im Fähigkeitsaufbau der irakischen Regierung durch unse- Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Ich will es gleich vorwegnehmen: Es ist gut, dass Deutschland sich an der (B) ren Beitrag so wichtig, um der irakischen Regierung eine (D) vollständige Kontrolle über diese seltsamen Truppen zu Anti-IS-Koalition beteiligt und sich mit bis zu 500 Solda- ermöglichen und um den Einfluss des Iran einzudämmen. tinnen und Soldaten engagiert. Auch deshalb ist unser Einsatz dort relevant. Ich habe in den vergangenen Jahren zwei Reisen in den Ein Drittes liegt mir am Herzen. Wenn wir unseren Irak gemacht. Vor Ort konnte ich mir ein Bild machen deutschen Einsatz betrachten, so sehen wir: Wir haben von der Lage im Land, von dem Aufatmen, nachdem die in den letzten sechs Jahren eine ganze Menge geleistet. Mörderbande des IS doch noch zurückgeschlagen werden Wir fokussieren uns in unseren Debatten hier fast konnte, von den Wunden, die das Morden, die Vertrei- ausschließlich auf den militärischen Beitrag, der unab- bung, Versklavung, sexuelle Gewalt angerichtet haben. In dingbar ist, um zivile Unterstützung im Bereich der den bewegenden Gesprächen mit jesidischen Frauen, die humanitären Hilfe und im Bereich der Entwicklungszu- aus den Fängen des IS befreit werden konnten, war der sammenarbeit zu leisten. Aber seit 2014 sind über 2 Mil- Schrecken, der die Frauen noch immer beherrschte, spür- liarden Euro deutscher Hilfsgelder bewusst vor Ort in bar. Er breitete sich im ganzen Raum aus, auf alle Anwe- ganz konkrete Projekte geflossen. Ein Dank an die Hilfs- senden, die im Raum waren. Das Ausmaß der Zerstörung, kräfte, die das geleistet haben! die der IS infrastrukturell, gesellschaftlich, persönlich, körperlich und seelisch angerichtet hat, bekam ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Gesicht. ordneten der SPD) Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis das Trauma, Außerdem, liebe Kolleginnen und Kollegen: 750 Millio- das der IS in Irak und in Syrien verursacht hat, verheilt nen Euro davon sind in die vom IS befreiten Gebiete sein wird. Diese Bewältigung kann aber nur gelingen, geflossen. wenn Sicherheit gegeben ist. Und Sicherheit schaffen, das vermag der Irak nicht allein. Gerade deswegen gilt: All dies ist nur möglich, weil wir schon 2016 begonnen Es ist gut, dass Deutschland sich am Fähigkeitsaufbau der haben, die Peschmerga zu unterstützen. Ich will damit irakischen Sicherheits- und Streitkräfte beteiligt. Es ist sagen: Wir sind in der Lage, hier als Bundesrepublik gut, dass der Beratung irakischer Sicherheitsinstitutionen Deutschland strategisch zu handeln: durch unseren Ein- eine zunehmend größere Rolle zukommt, im Übrigen satz für die Peschmerga in der Vergangenheit, durch den auch auf Wunsch der irakischen Regierung. Und es ist Fähigkeitsaufbau über die NATO und das Anti-IS-Man- grundsätzlich gut, dass Deutschland vor Ort hilft; denn dat und natürlich auch – das dürfen wir nicht vergessen – wer Verantwortung übernehmen will in der Welt, der durch das EU-Türkei-Abkommen, das die Migration muss auch vor Ort sein. Und nur wer vor Ort ist, kann nach Europa begrenzt. am Ende aktiv gestalten und sich engagiert zeigen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23465

Siemtje Möller (A) Ich bin überzeugt: Deutschland kann und soll seine Wir alle haben doch erlebt, wie es 2015 war, als der IS (C) erfahrene und besonnene Stimme in dieser Situation ein- plötzlich weite Teile der Region unter seine Kontrolle bringen. Verbesserungen, verehrte Kolleginnen und Kol- genommen hat, welche Wirkung das auch auf die Radika- legen, kommen nicht von allein. Sie müssen aktiv herbei- lisierung von Menschen auf der ganzen Welt hatte, die als geführt werden, und dann kann Hoffnung entstehen. Foreign Fighters dorthin gefahren sind. Ohne den beherz- ten Einsatz der Anti-IS-Koalition, ohne den Einsatz der Es sind für mich besonders drei Punkte, die den Auf- Bundeswehr wäre diese Welle damals nicht gebrochen trag ausmachen: Stabilisierung sichern, das Wiedererstar- worden. Deswegen kann ich heute sagen: Dieser Einsatz ken des „Islamischen Staates“ verhindern, Versöhnung war bisher ein großer Erfolg. fördern in Irak und in Syrien. Deutschland hat in diesen Bereichen Erfahrung: aus der eigenen Geschichte heraus Aber jetzt geht es darum, Stabilisierung zu sichern, und aus dem Engagement in zahlreichen anderen Aus- Wiedererstarken des IS zu verhindern. Auch dazu brau- landseinsätzen der Bundeswehr. chen wir die Bundeswehr. Wir erteilen heute ein Mandat mit Fähigkeiten insbesondere im Bereich Stabilisierung, Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Engage- und das im Sinne von Hilfe bei der Errichtung selbsttrag- ment dort ist willkommen, nötig und macht einen Unter- ender Sicherheitsstrukturen der irakischen Streitkräfte. schied. Stimmen Sie dem Mandat zu! Für viele der auf Wir helfen konkret im Kampf gegen den IS mit Luft- unsere Unterstützung angewiesenen Menschen ist es von raumüberwachung, Luftraumbetankung, Lufttransport außerordentlicher Bedeutung. usw. Diese Beiträge sind wichtig für den Kampf gegen Vielen Dank. den „Islamischen Staat“. Unsere internationalen Partner verlassen sich auf uns. Diese Beiträge dienen unserer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eigenen Sicherheit. der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deswegen um Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Zustimmung zu dem Mandat. Vielen Dank, Frau Kollegin Möller. – Letzter Redner Herzlichen Dank. zu TOP 17 wird der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU-Fraktion, sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Dr. Brandl. – Damit schließe ich die Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Aussprache. (B) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- (D) Die Kollegin Möller hat es gerade vorher erwähnt: Der fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der genaue Titel des Mandats, das wir heute verlängern, lau- Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaff- tet „Stabilisierung sichern, Wiedererstarken des IS neter deutscher Streitkräfte – Stabilisierung sichern, Wie- verhindern, Versöhnung fördern in Irak und Syrien“. Die- dererstarken des IS verhindern, Versöhnung fördern in ser Titel beschreibt zum einen die Ziele des Mandats, aber Irak und Syrien. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- er beschreibt zum anderen auch die Herausforderungen, schlussempfehlung auf Drucksache 19/23212, den An- vor denen wir stehen. Es ist nicht nur der Kampf gegen trag der Bundesregierung auf Drucksache 19/22207 den IS – und unsere Antwort auf die Lage in Irak und in anzunehmen. Syrien ist auch nicht nur eine militärische Antwort –, es ist nicht nur der Einsatz der Bundeswehr, sondern wir Wir stimmen über die Beschlussempfehlung nament- geben auf diese schwierige Sicherheitslage eine vernetzte lich ab. Bitte denken Sie daran, dass wir unmittelbar nach Antwort mit großen Beiträgen des Auswärtigen Amts Eröffnung der namentlichen Abstimmung noch zwei und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam- Abstimmungen durchführen werden. Bleiben Sie, soweit menarbeit und Entwicklung, die einen ganz wesentlichen möglich, bitte noch einen Moment hier im Saal. Sie haben Teil zur Zielerreichung – nämlich Stabilisierung, Versöh- wieder eine halbe Stunde Zeit. Bitte gehen Sie nicht alle nung und Verhinderung des Wiedererstarkens des IS – gleichzeitig zur Abstimmung. Denken Sie an die Pflicht beitragen. zum Tragen der Mund-Nase-Bedeckung, und halten Sie bitte den Sicherheitsabstand ein. Es stehen acht Urnen zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verfügung. Aber, meine Damen und Herren, das Ziel ist auch der Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Kampf gegen den IS – nicht nur, aber auch. Wir haben vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Die Urnen sind diesen Tag heute unter dem Eindruck einer zweiten Coro- besetzt. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung nawelle erlebt. Was wir aber auch erleben, ist im Moment über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/23212 eine Welle des islamischen Terrorismus, die durch Euro- zu dem Antrag der Bundesregierung auf Drucksache pa geht: 4. Oktober Dresden, 16. Oktober Paris und heute 19/22207. Nizza. Natürlich kennen wir jetzt, kurz danach, noch nicht die Radikalisierungsgeschichte jedes einzelnen Die Abstimmung wird um 19.53 Uhr geschlossen. Das bevorstehende Ende der namentlichen Abstimmung wird Attentäters. Aber uns ist doch allen klar, dass wesentliche 1) Hintermänner, wesentliche Inspiratoren, Ideengeber, we- Ihnen rechtzeitig bekannt gegeben. sentliche Ideologien genau aus diesem Gebiet in Irak und in Syrien kommen und dort auch weiter vorhanden sind. 1) Ergebnis Seite 23473 D 23466 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Dr. Roland Hartwig [AfD]: Eine Stunde?) – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia (C) Gabelmann, Susanne Ferschl, Matthias W. – Ich bin korrekterweise darauf hingewiesen worden, Birkwald, weiterer Abgeordneter und der dass die gerade von mir genannte Zeit eine Stunde war. Fraktion DIE LINKE Dem ist aber nicht so. Also, liebe Kolleginnen und Kol- legen, die Abstimmung endet um 19.23 Uhr und nicht um Gute und wohnortnahe Arzneimittel- 19.53 Uhr. Sie werden trotzdem vorher noch mal darauf versorgung erhalten – Versandhandel hingewiesen, dass sie tatsächlich endet. mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen über die Ent- verbieten schließungsanträge. Abstimmung über den Entschlie- – zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula ßungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, 19/23722. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Dr. Kirsten Kappert-Gonther, weiterer Wer stimmt dagegen? – Dann ist dieser Entschließungs- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- antrag gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den NIS 90/DIE GRÜNEN Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Sicherung einer patientennahen und Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- bedarfsgerechten Arzneimittelversor- tion der FDP auf Drucksache 19/23723. Wer stimmt für gung durch Apotheken diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen Drucksachen 19/8277, 19/22194, 19/18931, der FDP-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktio- 19/9462, 19/9699, 19/23775 (neu) nen des Hauses abgelehnt. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: beschlossen. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, soweit mög- desregierung eingebrachten Entwurfs eines lich, Platz zu nehmen. Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apo- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- theken nerin der Kollegin Karin Maag das Wort. Drucksache 19/21732 (Beifall bei der CDU/CSU) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) (B) Karin Maag (CDU/CSU): (D) Drucksache 19/23775 (neu) Herzlichen Dank für das Wort. – Herr Präsident! Liebe b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Kolleginnen und Kollegen! Die Covid-19-Pandemie hat Berichts des Ausschusses für Gesundheit uns ja heute schon ein Weilchen beschäftigt. Aber sie hat (14. Ausschuss) uns auch in diesem Fall, bei den Apothekern, einmal mehr gezeigt, was uns an einer flächendeckenden Apo- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Axel thekenversorgung liegen muss, dass wir darauf angewie- Gehrke, Dr. Robby Schlund, Paul Viktor sen sind und dass wir uns vor allem auf die Apotheker in Podolay, weiterer Abgeordneter und der der Krise verlassen können. Fraktion der AfD (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Flächendeckende Versorgung mit Arz- neimitteln sichern und ausbauen, Wett- bewerb stärken – Versandhandel mit Vizepräsident Wolfgang Kubicki: verschreibungspflichtigen Arzneimit- Frau Kollegin Maag, einen ganz kleinen Moment. Das teln verbieten, Zustellung durch Boten geht nicht auf Ihre Redezeit. zukünftig nicht nur im Einzelfall erlau- Ich darf die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Frak- ben tion bitten – es kann ja sein, dass es Beratungsbedarf – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev gibt –, die Beratung nicht im Saal zu führen. Das stört Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Jörg die Rednerin und mich auch. Liebe Kolleginnen und Kol- Schneider, weiterer Abgeordneter und legen, es ist einfach auch eine Frage der Höflichkeit, der der Fraktion der AfD Rednerin zuzuhören – zumindest so zu tun – und Ruhe herzustellen. – Frau Kollegin Maag, Sie haben jetzt wirk- Apotheken – Botendienste sichern und lich das Wort. ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Maag (CDU/CSU): Christine Aschenberg-Dugnus, Michael Wir können uns auch in der Krise auf die Apotheker Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer verlassen. Ich erinnere zum Beispiel daran, dass sie die Abgeordneter und der Fraktion der FDP Herstellung der Desinfektionsmittel übernommen haben, Versorgungssicherheit mit Arzneimit- dass sie ihre Öffnungszeiten ausgedehnt haben, als Not teln gewährleisten – Produktion in am Mann war. Es ist uns bewusst – ich bin unseren Europa stärken Apotheken auch dafür dankbar –, dass sie unsere Arznei- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23467

Karin Maag (A) mittelversorgung mit viel persönlichem Einsatz aufrecht- sungsverbot, die Modellvorhaben zur Grippeimpfung (C) erhalten, trotz mancher Unwägbarkeiten unterschied- oder die Erhöhung der Zuschläge für den Nacht- und lichsten Ursprungs in der Belieferung. Notdienst. Deswegen sind sie ein wesentlicher Baustein unserer Die Wertschätzung für die Apotheken als Branche wie Gesundheitsversorgung. Genau das ist der Grund, warum auch für die handelnden Personen vor Ort war und ist – wir in der Union auch ihre Empörung teilen über eine vor und nach der Krise – für uns in der Union ein Anlie- Benachteiligung, die durch ein Urteil des Europäischen gen. Gerichtshofs vom Oktober 2016 entstanden ist. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt brauchen wir uns hier nicht über Europarecht auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zuregen. Selbstverständlich achtet die Union das Europa- ordneten der SPD) recht. Aber wir in der Union können trotzdem nicht akzeptieren, dass seither die ausländischen Versandapo- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: theken Rabatte auf rezeptpflichtige Arzneimittel gewäh- Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Als nächsten ren dürfen, während unsere heimischen Apotheker an Redner rufe ich den Kollegen Paul Viktor Podolay, Festpreise gebunden sind. Auch deswegen wollen wir AfD-Fraktion, auf. das Apothekenstärkungsgesetz verabschieden. (Beifall bei der AfD) Ich bin ganz ehrlich: Ich weiß, dass viele – Apotheker wie auch Kollegen in der Politik – sich ein Versandhan- delsverbot gewünscht hätten. Aber wir müssen uns auf Paul Viktor Podolay (AfD): das beschränken, was europarechtlich möglich ist. Ich Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und danke ausdrücklich dem Gesundheitsminister und seinen Kollegen! Geschätzte Apothekerinnen und Apotheker! Mitarbeitern für viele Gespräche mit der Kommission, Zunehmender Kostendruck, Konkurrenz durch ausländi- für Gutachten zum Sachleistungsprinzip als tragendem sche Onlineversandhändler und mangelhaft vergütete Element unserer Gesundheitsversorgung und für kon- Botendienste bedrohen zunehmend unsere Apotheken. struktive Zusammenarbeit. Der uns hier vorliegende Gesetzentwurf soll die Vor- Genau deshalb verankern wir heute die sogenannte Ort-Apotheke angeblich stärken. Wenn man jedoch Gleichpreisigkeit, einen einheitlichen Apothekenabgabe- genau hinschaut, springt einem der Etikettenschwindel preis für gesetzlich versicherte Patienten im Rahmen des sofort ins Auge. Die von Insolvenz betroffenen Apothe- (B) Sachleistungsprinzips im SGB V. Überdies: Jeder Ver- ken wurden bisher absolut unzureichend von der Politik (D) stoß wird deutlich sanktioniert, und zwar mit Vertrags- unterstützt. Verlieren werden in erster Linie die Apothe- strafen bis zu 50 000 Euro. ken, die schließen müssen, und die ländliche Bevölke- Theoretisch bleibt der Bonus für Rezepte der Privat- rung. Freudig bejubelt wird diese Entwicklung von aus- versicherten möglich. Allerdings ersetzen die privaten ländischen Versandhändlern und Kapitalgesellschaften, Kassen ihren Versicherten nur den tatsächlich bezahlten die unseren Markt nun fluten können. Preis. Das heißt, ein Versicherter hätte aus der Nutzung Wer sich nicht auf Knopfdruck digitalisieren kann oder des ausländischen Versandhandels keine monetären Vor- möchte, der hat Pech gehabt. Und anstatt sich von einem teile mehr. Ich bin der ABDA übrigens auch dankbar, fachkundigen Menschen beraten zu lassen, muss der Pati- dass sie im Rahmen der Anhörung zugestanden hat, ent künftig online nachlesen, wie er seine Medikamente dass es keine tragfähigere Lösung zur Einbindung der einzunehmen hat. Gekrönt wird diese digitale Meister- Privatversicherten gegeben hätte. leistung noch vom E-Rezept, das ab 2022 für alle gesetz- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stärken die Apo- lich Versicherten verbindlich eingeführt wird und eine theken aber auch mit einem dauerhaften Zuschlag auf den Baustelle für sich ist. Um dieser fatalen Fehlentwicklung Botendienst von 2,50 Euro. Gerade um in Regionen mit entgegenzusteuern, hat die AfD-Fraktion hier bereits geringerer Apothekendichte die Versorgung sicherzustel- 2019 gefordert, den Versandhandel mit verschreibungs- len, ist dieser Zuschlag so wichtig. pflichtigen Medikamenten endlich zu verbieten. (Beifall bei der CDU/CSU) Warum es die Regierung nicht interessiert, dass sogar der Bundesrat hervorhebt, dass der Gesetzentwurf seine Wir entlasten damit auch die älteren Mitbürgerinnen und eigenen Ziele konterkariert, ist absolut nicht nachvoll- Mitbürger. Der Botendienst nimmt die Apothekenbesu- ziehbar. Eindeutiger kann man das Desinteresse der che ab und schafft Gewissheit, dass die notwendigen GroKo unter der Führung der Union für die eigenen Insti- Arzneimittel pünktlich und einfach erhalten werden. tutionen und das eigene Volk nicht kundtun. Daneben honorieren wir weitere zusätzliche pharma- zeutische Dienstleistungen: Medikationsanalyse, Thera- (Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche piebegleitung, Anwendungsschulung. All das wird künf- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tig möglich sein. Wir fordern, die Botendienste adäquat zu vergüten. Aufgrund der überlangen Verfahrensdauer haben wir Damit wollen wir die Vor-Ort-Apotheken im Kampf bereits an anderer Stelle weitere Verbesserungen für die gegen den Onlineversandhandel unterstützen. Der aktuell Apotheker geregelt, zum Beispiel das Makel- und Zuwei- vorgesehene Betrag von 2,50 Euro ist nicht adäquat. 23468 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Paul Viktor Podolay (A) Die Initiativen des Gesundheitsministeriums lassen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) erahnen, dass langfristig geplant ist, unser sehr gut funk- der CDU/CSU) tionierendes System nach und nach vollkommen durch große Medizinische Versorgungszentren im Sinne der Deshalb stärken wir Offizinapotheken durch das vor- sozialistischen DDR-Polikliniken auszutauschen, um liegende Gesetz: Wir führen neue pharmazeutische die freie Apotheker- sowie Ärzteschaft zu dezimieren. Dienstleistungen ein und schaffen dadurch einen zusätz- lichen finanziellen Spielraum für die Apotheken. Wir (Beifall bei der AfD) beziehen die pharmakologische Kompetenz der Apothe- Und ich habe 1982 geglaubt, mit meiner Flucht aus einem ker stärker in das Versorgungsgeschehen mit ein, und wir sozialistisch regierten Land dieses System endgültig hin- verstetigen die Vergütung des Botendienstes. Insgesamt ter mir gelassen zu haben. reden wir hier von einem dreistelligen Millionenbetrag, der künftig den Apotheken für ihre Service-, Betreuungs- Das i-Tüpfelchen dieses Masterplans bilden die aus- und Beratungsleistungen zufließen wird. ufernde Telemedizin und der Arzneimittelversand, die den Patientenkontakt zu Apothekern oder Ärzten mög- Außerdem stellen wir in einem Änderungsantrag auch lichst minimieren sollen. klar, dass die Anforderungen an die Temperaturkontrol- Das sogenannte Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz len bei der Lieferung von Arzneimitteln bis zur Abgabe ist zu einem Apothekenschwächungsgesetz mutiert. Ent- an den Empfänger künftig zwingend auch von europä- weder muss das Gesetz in wesentlichen Teilen deutlich ischen Versandhändlern einzuhalten sind. zugunsten der Apotheken vor Ort geändert werden, oder Die ursprünglich vorgesehenen Änderungen zur pa- der aktuelle Gesetzgebungsprozess muss gestoppt und tientenindividuellen Parenteraliaversorgung haben wir neu begonnen werden. Aber das Beste wäre, wenn dieser im parlamentarischen Verfahren wieder gestrichen, weil inkompetente Gesundheitsminister zurücktreten würde uns auch auf Nachfrage keine strukturellen Versorgungs- und die ganze Regierung mit ihm. probleme nachgewiesen werden konnten. Allerdings Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wollen wir auf keinen Fall die vorhandene Versorgungs- struktur unserer über 270 Apotheken mit Sterillaboren (Beifall bei der AfD) und ihre Versorgungsnetzwerke schwächen. Sollte aller- dings in Zukunft ein Versorgungsengpass auftreten, wer- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: den wir selbstverständlich die dann notwendigen Ände- Für die Fraktion der SPD hat als Nächstes das Wort die rungen auf den Weg bringen. Kollegin Sabine Dittmar. (B) (Beifall bei der SPD) (D) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Karin Maag [CDU/CSU] – [SPD]: Meine Damen und Herren, wir haben lange und inten- Kompetenz voran!) siv über die europa- und verfassungsrechtlichen Risiken dieses Gesetzes diskutiert. Unsere Bedenken haben wir Sabine Dittmar (SPD): im Verfahren wiederholt deutlich zum Ausdruck Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vor fast gebracht. Die EU-Kommission hat kein klares Signal genau vier Jahren hat der Europäische Gerichtshof ent- gegeben, aber sie hat eben auch nicht deutlich Nein ge- schieden, dass ausländische Arzneimittelversender Boni sagt, und auch die Juristen sehen weiterhin unterschied- gewähren dürfen, und seitdem diskutieren wir hier lei- lichen Ausgestaltungsspielraum. denschaftlich über ein Versandhandelsverbot für ver- schreibungspflichtige Arzneimittel und über die Preisbin- Ich persönlich gehe davon aus, dass der Europäische dung. Gerichtshof abschließend klären wird, ob der von Minis- ter Spahn vorgeschlagene Weg, die Preisregelungen aus Mit der heutigen abschließenden Lesung des Vor-Ort- dem Arzneimittelgesetz in das von uns ausschließlich Apotheken-Stärkungsgesetzes setzen wir einen einstwei- national zu verantwortende SGB V zu überführen, in Ein- ligen Schlussstrich unter diese Diskussion. Der Versand- klang mit den Europäischen Verträgen steht. Das wird handel bleibt erlaubt, aber wir sorgen durch eine einheit- sich zeigen. Aber da das Gesetz wirklich viele Punkte liche Preisgestaltung bei der Medikamentenabgabe für enthält, die für die Zukunft unserer Apotheken vor Ort wieder gleich lange Spieße im Wettbewerb zwischen wichtig sind, bitte ich Sie herzlich um Ihre Zustimmung. Offizinapotheke, zwischen deutschem Versandhandel und europäischen Versandhändlern. Danke für die Aufmerksamkeit. Für uns als SPD ist und bleibt der Versandhandel mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein wichtiger der CDU/CSU) Baustein in der Versorgung der Patientinnen und Patien- ten. Fakt ist aber auch: Der Hauptansprechpartner für Patientinnen und Patienten bei der Arzneimittelversor- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gung ist die Apotheke vor Ort. Sie genießt großes Ver- Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Die nächste trauen, und sie spielt gerade jetzt während der Pandemie – Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus die Kollegin Maag hat das ausführlich dargestellt – eine von der Fraktion der FDP. zentrale Rolle. Auf unsere Apotheken vor Ort können und wollen wir nicht verzichten. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23469

(A) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Wie wollen wir das erreichen? Erstens durch Abbau (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der Bürokratiepflichten, zweitens durch Prüfung von Kollegen! Auch wir als FDP-Fraktion setzen uns für eine Investitionsbezuschussung für Produktionsstätten und Stärkung der Vor-Ort-Apotheken ein; denn Apotheken drittens durch Prüfung von Zuschüssen zur Gewährung sind wichtig für eine sichere und flächendeckende Arz- der Versorgungssicherheit. neimittelversorgung unserer Patienten. Meine Damen und Herren, die Sicherstellung der Arz- Der vorliegende Gesetzentwurf enthält durch die am neimittelversorgung hat gerade in Zeiten einer Pandemie Dienstag eingebrachten Änderungsanträge einige positi- oberste Priorität. Engpässe in der Versorgung müssen ve Ansätze: vermieden und bekämpft werden. Dafür bedarf es einer Strategie, die wir Ihnen hier vorlegen. Wir sind eben eine Erstens. Die Möglichkeit, für einen Botendienst einen Serviceopposition. Zuschlag in Höhe von 2,50 Euro zu erheben, kommt insbesondere der älteren Bevölkerung und damit der Herzlichen Dank. Sicherstellung der Arzneimittelversorgung zugute. (Beifall bei der FDP) Zweitens. Die Kontrolle der geltenden Temperaturan- forderungen während des Transports muss im Sinne der Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Patientensicherheit auch von ausländischen Versandapo- theken eingehalten werden. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Und wir haben einen Servicesaaldienst, der hier gleich aufräumt. Beiden Änderungsanträgen haben wir zugestimmt. Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Wo wir nicht zustimmen können, ist das Ziel Ihres Kollege Harald Weinberg. Gesetzentwurfes, die sogenannte Gleichpreisigkeit statt über das Arzneimittelgesetz jetzt nunmehr über das (Beifall bei der LINKEN) SGB V zu regeln. Konkret bedeutet das, dass ausländi- sche Versandapotheken über das Sozialgesetzbuch der Harald Weinberg (DIE LINKE): deutschen Preisbindung unterworfen werden sollen. Mei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- ne Damen und Herren, es ist ein durchschaubarer Trick, ne Damen und Herren! Worum geht oder – besser gesagt – der allein dazu dient, die EuGH-Rechtsprechung aus dem ging es eigentlich insgesamt bei diesem Gesetz? Es ging Jahr 2016 zu umgehen. um ein Versandhandelsverbot für rezeptpflichtige Medi- kamente. So stand es zunächst einmal im Koalitionsver- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Kordula trag. So will es im Übrigen auch die Frau Ministerin (B) Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) Huml in Bayern. So will es der Bundesrat. So gilt es in Ihnen ist anscheinend auch nach der öffentlichen etwa drei Viertel der EU-Staaten. Und so steht es in dem Anhörung immer noch nicht bewusst, dass Sie sehenden Antrag meiner Fraktion, der Linken, nach wie vor. Auges auf ein Vertragsverletzungsverfahren der EU zusteuern. Ein zweites Desaster wie bei der Maut können (Beifall bei der LINKEN) und wollen wir uns hier in dem Bereich nicht leisten. Warum ist das wichtig? Wichtig ist das deswegen, weil Arzneimittel keine Waren sind wie jede andere Ware, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) weil es Beratungsbedarf und hohe Qualitätsanforderun- Wir sind für Rechtssicherheit und verlangen eine europa- gen gibt. Insbesondere kranke Menschen brauchen Apo- rechtskonforme Lösung. theken vor Ort, wo sie beraten und bei der Handhabung ihrer Medikamente unterstützt werden, unter anderem (Beifall bei der FDP) auch in Bezug auf Unverträglichkeiten, auch am Wochenende und auch in der Nacht. Eine solche nachhaltige Lösung wäre sicher auch im Sinne der Apothekerinnen und Apotheker. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in aller Zum Erhalt dieser Apotheken, die im Wettbewerb ste- Kürze auf unseren eigenen Antrag eingehen. Die Zahl hen mit den Onlineversandapotheken, braucht es gleich von Lieferengpässen hat sich allein im Jahr 2019 gegen- lange Spieße als unbedingte Voraussetzung. Das Prinzip über dem Vorjahr verdoppelt, also auch unter Vernachläs- hierzu ist die Gleichpreisigkeit; die haben wir aber in sigung der Auswirkungen des Coronavirus. Ein Haupt- diesem Gesetz nicht bei Selbstzahlern und Privatversi- grund für die Lieferschwierigkeiten ist die Verlagerung cherten. Eine Schnäppchenjagd im Internet und nur im der Produktion von Wirkstoffen für Arzneimittel ins Notfall die Apotheke vor Ort heranziehen – das führt zu außereuropäische Ausland. Diese Konzentration auf ein- einer existenziellen Bedrohung der Apotheken vor Ort. zelne Produzenten in China und Indien ist Ihnen als Regierung auch bekannt; zumindest hat das unsere Studien belegen die katastrophalen Auswirkungen, die Anfrage ergeben. Wir schlagen in unserem Antrag vor, ein Anstieg des Onlineversandhandels hätte, auch die von dass die Herstellung von Arzneimitteln nach Deutschland Spahn in Auftrag gegebene IGES-Studie, die das E- oder zumindest in die Europäische Union zurückverlagert Rezept als Gamechanger sieht. Die Kombination von E- wird. Rezept und Onlinehandel führt genau zu einem solchen enormen Druck auf die Apotheken vor Ort, und es wer- (Beifall bei der FDP) den viele davon dem Druck nicht standhalten können. 23470 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Harald Weinberg (A) Insofern ist das Gesetz eine Mogelpackung. Es steht Jetzt kommt als nächste Rednerin die Kollegin (C) vorne „Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz“ drauf; aber Kordula Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen. das ist nicht der Inhalt des Gesetzes. Daran ändern auch die Vergütungen für pharmazeutische Dienstleistungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nichts, die im Wesentlichen aufgenommen worden sind, um den Apothekerverband zu befrieden. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie ist die 180-Grad-Wende der Koalition zu erklä- NEN): ren? Es werden verfassungsrechtliche und europarecht- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der liche Bedenken angeführt – haben wir gerade gehört –; ersten Lesung dieses Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsge- das macht stutzig. Die Mehrheit in diesem Hause lässt setzes hatte ich appelliert, dass wir die gemeinsame sich bei anderen Gelegenheiten davon wenig beeindru- Debatte nutzen, damit Vor-Ort-Apotheken in Stadt und cken. Bei der Wahlrechtsreform beispielsweise, da hat Land mit innovativen Ideen gestärkt in eine sichere Zu- man sich wenig davon beeindrucken lassen. kunft gehen können. Und großes Lob: Tatsächlich ist das an vielen Punkten geschehen. (Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Allerdings stehen die meisten dieser Punkte heute gar Ich möchte im Zusammenhang mit dieser 180-Grad- nicht mehr zur Abstimmung, weil sie schon in Omnibus- Wende in der Frage des Versandhandels vom Koalitions- gesetzen untergebracht wurden, sodass jetzt eigentlich vertrag bis zum Gesetz zumindest mal erwähnen, dass fast nur noch eine Finte des Gesundheitsministers übrig Europas größtes Onlinemedizinversandhaus DocMorris bleibt, nämlich der Versuch, den Europäischen Gerichts- ein regelmäßiger Sponsor Ihrer Parteitage und Festivitä- hof hinter die Fichte zu führen und zu vertuschen, dass ten wie Spargelfahrten war und ist. sich die bemängelte Gleichpreisigkeit jetzt im Sozialge- setzbuch V wiederfindet. Meine Damen und Herren, ich (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! bin mir sicher, dass sich der EuGH nicht so leicht hinter Hört!) die Fichte führen lässt. Und dass zuletzt die drei Kandidaten für den CDU-Vor- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sitz auf einer Veranstaltung der Jungen Union mit Mas- SES 90/DIE GRÜNEN) ken aufgetreten sind, auf denen das Logo von DocMorris prangte: Wertvolle Zeit für Reformen ist damit vergangen. Des- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Was ein wegen wird es jetzt Zeit, meine Damen und Herren, inno- Zufall!) vative Ideen endlich auf den Weg zu bringen. Wir sehen (B) gerade auch bei jüngeren Apothekerinnen und Apothe- (D) was das vielleicht mit dieser Wende zu tun haben kann – kern eine große Bereitschaft, sich dafür einzusetzen, dass ein Schelm, wer Böses dabei denkt. die Apotheken vor Ort tatsächlich erhalten bleiben, aber (Beifall bei der LINKEN) mit neuen, innovativen Ideen. Wir werden diese 180-Grad-Wende auf jeden Fall (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht mitmachen, also das Gesetz ablehnen. Dieser Erhalt der Vor-Ort-Apotheken ist tatsächlich Vielen Dank. wichtig. Wir haben auch in Covid-19-Zeiten gesehen, (Beifall bei der LINKEN) dass sie oft die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten sind, wenn sie nicht mehr weiterwissen, wenn Ach so, eins noch: Ich werde jetzt gleich mal rausge- sie gesundheitliche Probleme haben. hen müssen, um an der namentlichen Abstimmung teil- zunehmen. Das ist das Problem, wenn man nur eine halbe Vor dem Hintergrund des demografischen und gesell- Stunde für die Abstimmung zulässt und die genau in die schaftlichen Wandels schlagen wir deswegen vor, dass Debattenzeit fällt. wir uns vor allem darauf konzentrieren, die Attraktivität des Berufs zu steigern: durch mehr pharmazeutische (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dienstleistungen, durch die Einbindung in moderne Tele- SES 90/DIE GRÜNEN) medizin und Telepharmazie, durch die Stärkung der heil- Das will ich nur ganz kurz sagen. Es ist keine Unhöflich- beruflichen Tätigkeiten. Ganz besonders, meine Damen keit, dass ich gleich gehe. und Herren, müssen wir jungen Apothekerinnen und Apothekern die Möglichkeit geben, gemeinsam Apothe- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. ken zu führen, um Familie und Beruf besser miteinander Sabine Dittmar [SPD]) zu vereinbaren.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lieber Herr Kollege Weinberg, das war ein ganz wich- Die Apotheke vor Ort ist der Kern guter Patientenver- tiger Hinweis. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sorgung mit Medikamenten und mit Rat und Tat. Leider schließen demnächst die Abstimmung, natürlich nach- sorgt das Gesetz, so wie es uns heute vorgelegt wird, nicht dem der Kollege Weinberg abgestimmt hat. Sollte noch dafür, dass diese Ansprüche erfüllt werden. Deswegen jemand da sein, der das Bedürfnis hat, abzustimmen, und wird meine Fraktion dieses Gesetz heute ablehnen. es noch nicht gemacht hat, der hat jetzt Gelegenheit. Wie gesagt: wenige Minuten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23471

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir hätten uns das auch für die Privatversicherten ge- (C) Der Kollege Michael Hennrich von der CDU/CSU ist wünscht, aber – die Kollegin Maag hat es hinreichend der nächste Redner. deutlich gemacht – das hätte neue rechtliche Probleme aufgeworfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist einfach wichtig, dass wir Rechtssicherheit schaf- fen. Ich bin, anders als Sie, Frau Kollegin Aschenberg- Michael Hennrich (CDU/CSU): Dugnus, der Meinung, dass die Regelung bestehen wird; Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und denn das Entscheidende ist – und das ist keine Finte –, Kollegen! Wir verabschieden heute nach langer und dass wir im Grunde genommen einen Konstruktionsfeh- schwieriger Diskussion das Gesetz zur Stärkung der ler beheben. Wir haben die Vergütungen für die Ärzte, für Vor-Ort-Apotheken. Wir beenden damit eine lange und die Krankenhäuser und für die Physiotherapeuten im auch durchaus kontrovers geführte Debatte über das Ver- SGB V etabliert, aber nicht für die Apotheker. Das ist sandhandelsverbot und über Boni bei Rezepteinreichun- ein ganz wesentlicher Punkt. gen. Aber es geht nicht nur darum, Gleichpreisigkeit zu Lassen Sie es mich klar sagen – ich wende mich auch schaffen, sondern auch darum, Perspektiven zu eröffnen. an Sie, Herr Weinberg –: Ich bin kein Fan von Versand- Deswegen sind ein ganz wesentlicher Baustein die phar- apotheken. Ich trage neutrale Atemschutzmasken. Ich mazeutischen Dienstleistungen. In diesem Bereich pas- wäre sogar bereit, Atemschutzmasken mit einem roten siert schon viel, Stichwort: Grippeimpfung. Wichtig A zu tragen. Aber es gehört zur Realität dazu, anzuer- wird auch das Thema „Versorgung von Pflegeeinrichtun- kennen, dass der Versandhandel heute von vielen Patien- gen“ sein. Es kann auch um Lifestyleberatung oder auch tinnen und Patienten in Anspruch genommen wird. Wir um Ernährungsberatung gehen. Für eine entsprechende vonseiten der Politik haben das über Jahre hinweg akzep- Anschubfinanzierung stellen wir Mittel in Höhe von tieren können, weil wir durch die Gleichpreisigkeit die 150 Millionen Euro bereit. Wir weiten die Botendienste Voraussetzung dafür geschaffen haben, dass sich die Ver- aus. Das sind alles Maßnahmen, um die Apotheken vor sender nicht einseitig Preisvorteile zu Nutze machen, Ort zu stärken und ihnen eine Perspektive zu bieten. Des- ohne dass sie den Gemeinwohlverpflichtungen nachkom- wegen bitte ich Sie um die Zustimmung für dieses Geset- men. Das hat lange funktioniert, bis zu dem Tag, als das zesvorhaben. EuGH-Urteil kam. Ich möchte sehr deutlich sagen, dass Herzlichen Dank. ich dieses Urteil für falsch halte, weil ausschließlich auf das Thema Wettbewerb abgehoben wurde und das Thema (Beifall bei der CDU/CSU) Versorgung und Bedürfnisse der Patientinnen und Patien- (B) (D) ten vor Ort keine Berücksichtigung fand. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Natürlich wäre es für uns eine Möglichkeit gewesen, Vielen Dank, Kollege Hennrich. das Versandhandelsverbot für rezeptpflichtige Arzneimit- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch mal tel zu verbieten. Das hätten die Apotheker erwartet, aber zurück zum Tagesordnungspunkt 17. Die Zeit für die es entspricht nicht der Erwartungshaltung der Patientin- namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. nen und Patienten. Es gehört auch zur Realität, zu begrei- fen, dass wir nicht alle Probleme in der Versorgung durch Bevor ich die Abstimmung schließe, möchte ich darauf Botendienste der Vor-Ort-Apotheken beheben können. hinweisen, dass mehrere Erklärungen zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vor- Das funktioniert dort, wo es kleine Distanzen gibt, aber 1) es funktioniert nicht mehr dort, wo es große Distanzen liegen. gibt. Ich darf jetzt noch fragen: Ist noch ein Mitglied des Umgekehrt ist aber auch klar, dass sich die Versand- Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben apotheken, wie ich schon dargelegt habe, in vielen Berei- hat, aber abgeben wollte? – Das ist nicht der Fall. Dann chen der Gemeinwohlverpflichtung entziehen. Sie picken schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer- sich sozusagen die Sahnestückchen der Versorgung wie innen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später die einfache Abgabe von Arzneimittelpackungen heraus. 2) Aber der notwendigen Aufgabe, Empathie zu zeigen, sich bekanntgegeben. zu kümmern und für die Patientinnen und Patienten Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 19 ansprechbar zu sein, entziehen sie sich schlicht und fort. Nächster Redner: Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion. ergreifend. Deswegen war es auch richtig und wichtig, (Beifall bei der SPD) dass wir das Boniverbot etablieren und damit sicherstel- len, dass es eine Gleichpreisigkeit gibt. Denn es ist voll- kommen klar: Jeder Euro, den eine Apotheke abgeben Dr. Edgar Franke (SPD): müsste, schmälert die Marge. Das kann eine Apotheke Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- in der Stadt vielleicht stemmen, aber es ist ein großes ren! Wir wissen alle: Wir brauchen eine flächendeckende Problem für die Apotheken in der ländlichen Region, Arzneimittelversorgung. Gerade wer auf dem Land und die sind wichtig für die Versorgung. Deswegen war wohnt, weiß, wie wichtig der Apotheker vor Ort ist, wie es notwendig, die Gleichpreisigkeit im SGB V zu ver- wichtig es ist, dass es einen Apotheker gibt, der An- ankern. 1) Anlage 6 (Beifall bei der CDU/CSU) 2) Ergebnis Seite 23473 D 23472 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Edgar Franke (A) sprechpartner ist. Wir brauchen dessen qualifizierte Bera- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) tung. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass zusätzliche der CDU/CSU) pharmazeutische Dienstleistungen wie Präventionsange- bote oder die Medikationsanalyse besser honoriert wer- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: den. Botendienste der Apotheken werden jetzt unbefristet Vielen Dank, Kollege Dr. Franke. – Der letzte Redner bezahlt. Wir schaffen damit einen zusätzlichen finanziel- zu TOP 19 ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU- len Spielraum für die Apotheker und Apothekerinnen. Fraktion. Eines dürfen wir auch nicht vergessen: Wir haben letztes Jahr schon die Nacht- und Notdienstvergütung erhöht. So (Beifall bei der CDU/CSU) stärken wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Koalition die Apotheken vor Ort umfassend. Stephan Pilsinger (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem der CDU/CSU) Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken legen wir heute den Grundstein für die langfristige Sicherung der Wir Sozialdemokraten betrachten Versorgung natür- flächendeckenden qualifizierten Arzneimittelversorgung lich immer aus der Perspektive der Patienten und Ver- in Deutschland. sicherten. Deshalb ist es richtig, dass der Versandhandel von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln erhalten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bleibt; denn in der digitalen Welt von heute wäre ein Besonders im Hinblick auf die anhaltende Pandemie- Versandhandelsverbot nun wirklich ein Rezept von ges- situation hat sich die Bedeutung der Vor-Ort-Apotheken tern. für die Versorgung der Bevölkerung eindrücklich gezeigt. (Beifall bei der SPD) (Beifall des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU]) Seit 2016 – wir haben es schon öfter gehört – haben wir Mein ausdrücklicher Dank geht daher zunächst an die es vom EuGH schriftlich, dass ein Rabattverbot im deut- Apothekerinnen und Apotheker, die in den vergangenen schen Arzneimittelrecht, jedenfalls im Arzneimittelge- Monaten einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der setz, europarechtswidrig ist. Deshalb streichen wir die anhaltenden Krise geleistet haben. Vorgabe eines einheitlichen Abgabepreises aus dem Arz- neimittelrecht und überführen sie in das Sozialrecht, in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das SGB V; denn im Sozialrecht ist der Abgabepreis dem neten der SPD und des Abg. Matthias W. Zugriff des EuGH entzogen. Das, Frau Aschenberg- Birkwald [DIE LINKE]) Dugnus, ist kein Trick; denn anders als im Wirtschafts- (B) Ich begrüße es sehr, dass wir mit dem Gesetz einen (D) recht können im Sozialrecht nach europarechtlichen Vor- europarechtlich gut begründbaren Weg gefunden haben, schriften nationale Gründe geltend gemacht werden, um die Gleichpreisigkeit auch für Auslandsapotheken ge- etwas vollkommen anders auszugestalten, und das haben setzgeberisch festzuschreiben. Unabhängig davon, ob wir hiermit gemacht. die Versicherten ihre Medikamente in der Vor-Ort-Apo- (Beifall bei der SPD) theke kaufen oder im Internet bestellen, von nun an gilt immer der gleiche Preis. Das heißt, keine Rabatte mehr Natürlich muss man sagen: Man weiß nie, wie der für die Versender. EuGH entscheidet. Man kann auch fragen: Ist das sozial- und gesundheitspolitisch notwendig oder nicht, oder ist Darüber hinaus stellen wir den Apotheken 150 Millio- es ein Verstoß gegen die EU-Warenverkehrsfreiheit? nen Euro zusätzlich für die Vergütung pharmazeutischer Eines kann man jedenfalls sagen: Mit einem einheitlichen Dienstleistungen zur Verfügung. Abgabepreis schaffen wir nunmehr einen fairen Wettbe- Vor allem aber sorgen wir mit diesem Gesetz endlich werb zwischen den europäischen Versandapotheken auf dafür, dass sich auch die ausländischen Versandhandelsa- der einen Seite und der deutschen Apotheke vor Ort auf potheken an die geltenden Regeln halten müssen; denn der anderen Seite. Das ist etwas Positives, meine sehr Arzneimittel sind keine gewöhnlichen Versandartikel. verehrten Damen und Herren. Die Patientinnen und Patienten müssen sich darauf ver- (Beifall bei der SPD) lassen können, dass Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ihrer Arzneimittel jederzeit gewährleistet sind, auch beim Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne die Apotheke Versand. vor Ort geht es nicht. Die Menschen brauchen die kom- petente und persönliche Beratung vor Ort. Nicht umsonst (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) heißt es: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Die Vor-Ort-Apotheken erfüllen diese strengen Qualitäts- Ihren Arzt oder Apotheker.“ Mit diesem Gesetz sorgen anforderungen seit Jahren. Nur die großen Versender aus wir dafür, dass dieser Spruch weiterhin Bestand hat. Wir dem EU-Ausland konnten sich den umfangreichen Stan- schaffen einen fairen Ausgleich zwischen dem freien dards bisher entziehen. Damit muss endlich Schluss sein. Wettbewerb auf der einen Seite und der Versorgungssi- cherheit auf der anderen Seite. Dieser Ausgleich ist genau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das richtige Rezept für die Apotheke von morgen; denn Mit dem Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz stellen wir die Verbesserung der Versorgung ist immer der rote klar: Auch ausländische Versandhandelsapotheken sind Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. zur Einhaltung der Regeln des Apothekengesetzes und Ich danke Ihnen. der Apothekenbetriebsordnung verpflichtet. Konkret Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23473

Stephan Pilsinger (A) bedeutet das: Die für Arzneimittel geltenden Temperatur- Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des (C) anforderungen beim Transport sind auch von den EU- Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/8277 Versendern einzuhalten und entsprechend nachzuweisen. mit dem Titel „Flächendeckende Versorgung mit Arznei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mitteln sichern und ausbauen, Wettbewerb stärken – Ver- der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜND- sandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln NIS 90/DIE GRÜNEN]) verbieten, Zustellung durch Boten zukünftig nicht nur im Einzelfall erlauben“. Wer stimmt der Beschlussempfeh- Mit der Einführung von Qualitätskriterien für den Ver- lung des Ausschusses zu? – Das sind alle Fraktionen mit sand von Arzneimitteln sorgen wir dafür, dass die Arznei- Ausnahme der AfD. Gegenprobe! – Die AfD ist gegen mittelsicherheit künftig auch im grenzüberschreitenden diese Beschlussempfehlung. Enthaltungen? – Keine. Die Handel mit ausländischen Versandapotheken gewährleis- Beschlussempfehlung ist damit angenommen. tet ist. In den vergangenen Wochen habe ich mich mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass diese Regelungen ins Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- Gesetz aufgenommen werden. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der AfD auf Drucksache 19/22194 mit dem Titel „Apothe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ken – Botendienste sichern und ausbauen“. Wer stimmt An dieser Stelle fordere ich daher noch einmal ausdrück- für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Das lich, dass die neuen Vorschriften auch durchgesetzt und sind wieder alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. die Versender entsprechend kontrolliert und bei Verstö- Gegenprobe! – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. Die ßen sanktioniert werden. Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Buchstabe d. Hier empfiehlt der Ausschuss die Ableh- Meiner Ansicht nach muss hier gelten: Wer sich nicht an nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache die Regeln hält, darf auch kein Geld von den Kranken- 19/18931 mit dem Titel „Versorgungssicherheit mit Arz- kassen bekommen. neimitteln gewährleisten – Produktion in Europa stärken“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus- Vielen Dank. ses? – CDU/CSU, SPD und Linke. Gegenprobe! – AfD (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und FDP. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die ordneten der SPD) Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner Be- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Vielen Dank, Kollege Pilsinger. – Ich schließe die Aus- tion Die Linke auf Drucksache 19/9462 mit dem Titel (B) sprache. „Gute und wohnortnahe Arzneimittelversorgung erhal- (D) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- ten – Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung verbieten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des der Vor-Ort-Apotheken. Ausschusses? – Das sind CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP. Gegenprobe! – Linke und AfD. Auch hierzu liegen mehrere Erklärungen zur Abstim- Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Beschlussempfeh- 1) mung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. lung angenommen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch- Und schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache stabe f die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd- 19/23775 (neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung nis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/9699 mit dem Titel auf Drucksache 19/21732 in der Ausschussfassung anzu- „Sicherung einer patientennahen und bedarfsgerechten nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Arzneimittelversorgung durch Apotheken“. Wer stimmt der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – CDU/ zeichen. – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – CSU, SPD, Linke, FDP und AfD. Gegenprobe! – Die Alle übrigen Fraktionen, AfD, FDP, Bündnis 90/Die Grü- Grünen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh- nen und Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetz- lung des Ausschusses ist damit gegen die Stimmen der entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Grünen mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- der Koalition angenommen. men. Dritte Beratung Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, dem Ge- Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung mit stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dasselbe Abstim- dem Titel „Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut- mungsverhalten wie in der zweiten Lesung. Damit ist scher Streitkräfte – Stabilisierung sichern, Wiedererstar- der Gesetzentwurf mit Zustimmung der Koalitionsfrak- ken des IS verhindern, Versöhnung fördern in Irak und tionen angenommen. Syrien“ bekannt: Abgegeben wurden 646 Stimmkarten. Tagesordnungspunkt 19 b. Wir setzen die Abstimmung Mit Ja haben gestimmt 431, mit Nein haben gestimmt zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für 209, enthalten haben sich 6. Die Beschlussempfehlung Gesundheit auf Drucksache 19/23775 (neu) fort. Unter ist damit angenommen.

1) Anlage 7 23474 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Endgültiges Ergebnis Michael Grosse-Brömer Dr. Jan-Marco Luczak (C) Abgegebene Stimmen: 645; Astrid Grotelüschen Daniela Ludwig davon Markus Grübel Karin Maag ja: 430 Manfred Grund nein: 209 Dr. Thomas de Maizière Dr. enthalten: 6 Monika Grütters Bernd Siebert Fritz Güntzler Dr. Astrid Mannes Ja Olav Gutting Björn Simon CDU/CSU Christian Haase Hans-Georg von der Tino Sorge Marwitz Dr. Jürgen Hardt Frank Steffel (Altötting) Dr. Norbert Maria Altenkamp Dr. Dr. Matthias Heider (Rostock) Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Thomas Heilmann Michelbach Johannes Steiniger Dorothee Bär (Chemnitz) Dr. Christian Frhr. von Stetten Thomas Bareiß Mark Helfrich Karsten Möring Rudolf Henke Gero Storjohann (Börde) Michael Hennrich Stephan Stracke Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller Dr. Dr. André Berghegger (Braunschweig) Dr. Dr. Hermann-Josef Tebroke Stefan Müller (Erlangen) Alexander Hoffmann Hans-Jürgen Thies Dr. Andreas Nick Peter Beyer Dr. Dietlind Tiemann Dr. Erich Irlstorfer Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Dr. Volker Ullrich Florian Oßner Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl (B) (Kleinsaara) (D) Torbjörn Kartes Sebastian Brehm Volker Kauder Heike Brehmer Dr. Stefan Kaufmann Dr. Johann David Wadephul Ralph Brinkhaus Dr. Joachim Pfeiffer Ronja Kemmer Stephan Pilsinger Dr. Carsten Brodesser Roderich Kiesewetter Dr. Christoph Ploß Michael Kießling Dr. Georg Kippels () Alexander Dobrindt Dr. Peter Weiß (Emmendingen) Marie-Luise Dött Sabine Weiss (Wesel I) Alois Rainer Hansjörg Durz Markus Koob Dr. Thomas Erndl Carsten Körber Hermann Färber Alexander Krauß Lothar Riebsamen Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Dr. Günter Krings Dr. Norbert Röttgen Wiesmann Axel E. Fischer (Karlsruhe- Rüdiger Kruse Land) Klaus-Peter Willsch Michael Kuffer Erwin Rüddel Dr. Elisabeth Winkelmeier- Dr. Roy Kühne Becker Thorsten Frei Andreas G. Lämmel Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Wolfgang Schäuble Tobias Zech (Hof) Ulrich Lange Dr. Silke Launert Dr. Hans-Joachim Fuchtel Christian Schmidt (Fürth) Ingo Gädechens Paul Lehrieder Dr. SPD Dr. Thomas Gebhart Dr. Patrick Schnieder Dr. Nadine Schön Ingrid Arndt-Brauer Dr. Klaus-Peter Schulze Bela Bach Ursula Groden-Kranich Dr. Heike Baehrens Hermann Gröhe Armin Schuster (Weil am Klaus-Dieter Gröhler Rhein) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23475

(A) Dr. Dr. Dagmar Ziegler Matthias Seestern-Pauly (C) Sören Bartol Bärbel Bas Dr. Jens Zimmermann Dr. Marie-Agnes Strack- Lothar Binding Falko Mohrs Zimmermann (Heidelberg) Benjamin Strasser FDP Dr. Siemtje Möller Katja Suding Bettina Müller Grigorios Aggelidis Dr. Karl-Heinz Brunner Detlef Müller (Chemnitz) Renata Alt Michael Theurer Michelle Müntefering Christine Aschenberg- Stephan Thomae Dr. Dr. Rolf Mützenich Dugnus Dr. Dr. Daniela De Ridder Ulli Nissen Jens Beeck Dr. Andrew Ullmann Dr. Karamba Diaby Dr. Jens Brandenburg Gerald Ullrich (Rhein-Neckar) Esther Dilcher Mahmut Özdemir Sabine Dittmar (Duisburg) Nicole Westig (Südpfalz) Dr. Aydan Özoğuz Sandra Bubendorfer-Licht Christian Petry Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Nein Dr. Johannes Fechner Carl-Julius Cronenberg Dr. (Minden) SPD Britta Katharina Dassler Dr. Edgar Franke Bijan Djir-Sarai Dr. Dirk Heidenblut Dr. Michael Gerdes Mechthild Rawert Otto Fricke Sönke Rix Thomas Hacker Hilde Mattheis Angelika Glöckner Markus Paschke Timon Gremmels Dr. Martin Rosemann Katrin Helling-Plahr Kerstin Griese Dr. Markus Herbrand René Röspel Michael Groß Michael Roth (Heringen) Dr. Gero Clemens Hocker Dr. Nina Scheer Uli Grötsch Susann Rüthrich Manuel Höferlin Bernd Rützel Dr. Christoph Hoffmann AfD Rita Hagl-Kehl Reinhard Houben Axel Schäfer (Bochum) Dr. (B) (D) Marianne Schieder Marc Bernhard (Peine) Dr. Nils Schmid Peter Boehringer Dr. Stephan Brandner Karsten Klein (Aachen) Jürgen Braun Dr. Dagmar Schmidt (Wetzlar) Marcus Bühl Dr. Barbara Hendricks Carsten Schneider (Erfurt) Petr Bystron Dr. Lukas Köhler Michael Schrodi Tino Chrupalla Gabriele Hiller-Ohm Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Frank Schwabe Berengar Elsner von Alexander Graf Gronow Rita Schwarzelühr-Sutter Lambsdorff Dr. Ulrich Lechte Christian Lindner Peter Felser Martina Stamm-Fibich Dietmar Friedhoff Sonja Amalie Steffen (Heilbronn) Dr. Anton Friesen Dr. Bärbel Kofler Dr. Götz Frömming Dr. Jürgen Martens Dr. Alexander Gauland Christian Lange Albrecht Glaser (Backnang) Markus Töns Roman Müller-Böhm Franziska Gminder Dr. Carsten Träger Frank Müller-Rosentritt Dr. Kay Gottschalk Marja-Liisa Völlers (Lausitz) Armin-Paulus Hampel Kirsten Lühmann Dirk Vöpel Matthias Nölke Mariana Iris Harder-Kühnel Heiko Maas Dr. Roland Hartwig Dr. Joe Weingarten Dr. h. c. Thomas Udo Theodor Hemmelgarn Sattelberger Christoph Matschie Gülistan Yüksel Frank Schäffler Dr. Heiko Heßenkemper 23476 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Karsten Hilse Gökay Akbulut Kersten Steinke Dr. Tobias Lindner (C) Nicole Höchst Dr. Dr. Dietmar Bartsch Dr. Claudia Müller Dr. Bruno Hollnagel Lorenz Gösta Beutin Jessica Tatti Beate Müller-Gemmeke Leif-Erik Holm Matthias W. Birkwald Dr. -Förster Michel Brandt Andreas Wagner Dr. Konstantin von Notz Dr. Harald Weinberg Omid Nouripour Dr. Birke Bull-Bischoff Stefan Keuter Jörg Cezanne Sabine Zimmermann Cem Özdemir Norbert Kleinwächter Sevim Dağdelen (Zwickau) Jörn König Fabio De Masi Tabea Rößner Dr. Rainer Kraft Dr. BÜNDNIS 90/ Claudia Roth (Augsburg) Rüdiger Lucassen Anke Domscheit-Berg DIE GRÜNEN Dr. Dr. Susanne Ferschl Corinna Rüffer Dr. Birgit Malsack- Manuel Sarrazin Winkemann Margarete Bause Nicole Gohlke Dr. Dr. Gregor Gysi Dr. Volker Münz Dr. André Hahn Sebastian Münzenmaier Heike Hänsel Dr. Franziska Brantner Stefan Schmidt Matthias Höhn Agnieszka Brugger Charlotte Schneidewind- Jan Ralf Nolte Dr. Anna Christmann Hartnagel Gerold Otten Ulla Jelpke Ekin Deligöz Kordula Schulz-Asche Tobias Matthias Peterka Kerstin Kassner Katharina Dröge Dr. Wolfgang Strengmann- Paul Viktor Podolay Dr. Achim Kessler Kuhn Stephan Protschka Martin Reichardt Jan Korte Kai Gehring Roman Johannes Reusch Dr. Ulrike Schielke-Ziesing Katrin Göring-Eckardt Daniela Wagner Jörg Schneider Erhard Grundl Wolfgang Wetzel Uwe Schulz Anja Hajduk (B) Thomas Seitz Britta Haßelmann (D) Dr. Gesine Lötzsch Dr. Bettina Hoffmann Detlev Spangenberg Dr. Dr. Fraktionslos Pascal Meiser Ottmar von Holtz René Springer Amira Mohamed Ali Dieter Janecek Marco Bülow Beatrix von Storch Cornelia Möhring Dr. Kirsten Kappert- Dr. Niema Movassat Gonther Dr. Enthalten Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Katja Keul SPD Dr. Dr. Alexander S. Neu Sven-Christian Kindler Dr. Christian Wirth Elvan Korkmaz-Emre Petra Pau Maria Klein-Schmeink Uwe Witt (Spandau) Sören Pellmann Sylvia Kotting-Uhl FDP Tobias Pflüger Christian Kühn (Tübingen) FDP Renate Künast Dr. Wieland Schinnenburg Markus Kurth Eva-Maria Schreiber DIE LINKE Dr. Sven Lehmann Alexander Müller Doris Achelwilm Helin Steffi Lemke Christian Sauter

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18: Qualitätspakt Schule – Humane und humanistische Bildung durch Schüler- Beratung der Beschlussempfehlung und des Lehrer-Kontakt gewährleisten Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole – zu dem Antrag der Abgeordneten Joana Höchst, Marc Bernhard, Matthias Büttner, Cotar, Uwe Schulz, Dr. Michael Espendiller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD AfD Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23477

(A) Corona digital bekämpfen – Deutsches Paketen geschnürt und auf den Weg gebracht. Die Situa- (C) Bildungs- und Forschungssystem digital tion erfordert zielstrebiges, sie erfordert schnelles Han- fit machen für Lernen-zu-Hause sowie deln. Fernlehre und -forschung Aber die Situation erfordert trotzdem auch eine grund- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. sätzliche Debatte darüber, wohin es mit der digitalen Bil- Thomas Sattelberger, Katja Suding, Dr. Jens dung gehen soll. Wenn wir bei diesem Thema erfolgreich Brandenburg (Rhein-Neckar), weiterer Ab- sein wollen, müssen wir festhalten: Es geht dabei nicht geordneter und der Fraktion der FDP nur um Technik, es geht auch darum, dass wir die Bereit- Lehren aus der Corona-Krise – Impulse schaft an den Tag legen, Dinge neu zu denken. Und wir für die Schule der Zukunft haben gesehen – noch einmal mit Blick auf das Thema Schnelligkeit –, dass leider in vielen Bundesländern die – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Umstrukturierung, die Umstellung auf den Onlineunter- Gohlke, Dr. Birke Bull-Bischoff, Dr. Petra richt dann doch nur sehr schleppend vorangekommen ist. Sitte, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Für uns als Union ist ganz klar: Wir wollen und wir werden die digitale Bildung weiter vorantreiben. Das ist Lehrkräftemangel beheben – Gute Bil- aus mehreren Gründen ganz entscheidend. Es geht letzt- dung sichern endlich um die persönliche Entwicklung von Kindern, – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit von jungen Menschen. Wenn sich die Welt um uns herum Stumpp, Erhard Grundl, Katja Dörner, wei- immer mehr digitalisiert, muss sich das im Unterricht terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- entsprechend wiederfinden. Wir wollen, dass junge Men- NIS 90/DIE GRÜNEN schen die Schulen als mündige Bürger verlassen. Dafür ist ganz entscheidend, dass auch digitale Kompetenzen Bundeszentrale für digitale und Medien- vermittelt werden. Es geht um die Zukunftschancen eines bildung – Medien- und digitalpädagogi- jeden Kindes, es geht aber auch um die Zukunftschancen sche Kompetenzen bündeln, vermitteln von uns als Gesellschaft. und fördern Mit dem DigitalPakt Schule haben wir als Bund ein – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit starkes Zeichen gesetzt – mit zunächst 5 Milliarden Stumpp, Dr. Anna Christmann, Kai Gehring, Euro schon vor über einem Jahr und jetzt noch einmal weiterer Abgeordneter und der Fraktion mit anderthalb Milliarden Euro, die dazugekommen (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind –, ein starkes, ein bewusstes Zeichen, dass wir hier (D) mit anpacken, dass wir einen echten Aufbruch wollen Lernen aus der Krise – Ein Update für die und dass wir auch mitgestalten wollen. Schulen Drucksachen 19/20568, 19/20683, 19/20554, (Beifall bei der CDU/CSU) 19/19483, 19/18729, 19/20385, 19/23792 Zu den vielen Anträgen, die wir in der heutigen Debat- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten te diskutieren, gäbe es viel zu sagen. Mit Blick auf viele beschlossen. Forderungen der FDP und auch der Grünen – Themen, über die wir in der jüngsten Vergangenheit schon oft Ich bitte, zügig und mit Abstand den Raum zu verlas- diskutiert haben – lässt sich zusammenfassend sagen, sen, wenn Sie gehen wollen, und sich ansonsten auf die dass das Meiste eigentlich schon in der Umsetzung ist. gekennzeichneten Plätze zu setzen. – Liebe Kolleginnen Deswegen will ich den Fokus an der Stelle einmal auf die und Kollegen, könnten Sie die Zusammenballung auflö- Anträge der AfD richten, die vor Widersprüchen nur so sen? strotzen – bis hin zu einzelnen, man muss schon wirklich Ich eröffne die Aussprache zu TOP 18. Es beginnt die sagen, auch verstörenden Aussagen. Kollegin Ronja Kemmer, CDU/CSU-Fraktion. Sie schreiben da zunächst einmal, dass Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU) den Schulen darauf vorbereitet werden sollen, sich auch später in der Kommunikationswelt zurechtzufinden und handeln zu können. Das ist so weit richtig. Was dann aber Ronja Kemmer (CDU/CSU): umso mehr verwundert, ist, dass genau der Teil, der dafür Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die entscheidend ist und der heute ja auch Thema ist, nämlich Coronapandemie hat uns in diesem Jahr sehr dramatisch das Stichwort „digitale Bildung“, von Ihnen geradezu vor Augen geführt, wie verwundbar wir als Gesellschaft dämonisiert und verteufelt wird. sind. Gerade das Thema der Schulschließungen im Früh- jahr hat uns stark bewegt und uns eben noch einmal ganz (Lachen bei Abgeordneten der AfD) deutlich klargemacht, wie zentral wichtig es ist, dass wir beim Thema „digitale Bildung“ vorankommen. Als Koa- Sie machen Aussagen wie – das muss man sich einmal lition tun wir auch genau das – im Übrigen nicht erst, seit auf der Zunge zergehen lassen; ich zitiere –, dass eine Corona auf der Tagesordnung steht. Wir haben mit dem „pauschale digitale Aufrüstung“ nicht sinnvoll sei, DigitalPakt Schule viele Maßnahmen angeschoben. Wir haben weitere Maßnahmen in diesem Jahr in zahlreichen (Nicole Höchst [AfD]: Das ist richtig!) 23478 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Ronja Kemmer (A) und beziehen sich dann auf Studien aus dem Jahr 2014. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) Also, mit Verlaub, seit 2014 sind in der digitalen, aber Die Kollegin Nicole Höchst von der AfD-Fraktion ist auch in der politischen Zeitrechnung inzwischen wirklich die nächste Rednerin. Lichtjahre vergangen. (Beifall bei der AfD) (Karsten Hilse [AfD]: Lichtjahre, das ist eine Entfernung!) Nicole Höchst (AfD): Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Liebe Ganz grundsätzlich frage ich Sie dann schon: Wie wollen Frau Kemmer! Auch die Irrungen und Wirrungen der Sie Eigenbestimmung und Mündigkeit von jungen Men- Coronamaßnahmenkrise überdecken die fatalen Folgen schen, die Sie ja wollen, entsprechend vermitteln, wenn der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte nicht. Sie alle Sie digitale Kompetenzen aus den Lehrplänen streichen, hier haben mit Ihren Parteien die Bildung effizient wenn Sie Themen wie Medienkompetenz oder Fake kaputtgespart, verreformiert, ideologisch verformt News – mag ja ein Faible-Thema für Sie sein – am Ende mit, sage ich mal, Kreide und Tafel unterrichten? (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Also, das ist eine Mischung aus Realitätsferne auf der und die Bildungsnation an die Wand gefahren. einen Seite und Steinzeitdenken auf der anderen Seite; das lehnen wir ganz klar ab. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Das ist – ganz egal, was Sie jetzt alles Wohlklingendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fordern, Frau Kemmer – Ihre große Schuld. neten der SPD – Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) Die Probleme sind lange bekannt: Die Klassenteiler sind zu groß. Zu wenig Lehrpersonal steht zur Verfügung. Sie wollen keinen digitalen Unterricht, fordern aber Die Schulen leiden unter Baumängeln und fehlender dann, dass die Lehrer eigentlich viel besser auf dieses Ausstattung, insbesondere in Bezug auf Hygiene in den Thema vorbereitet werden sollten. Dann schreiben Sie, Sanitärräumen sowie digitale Infrastruktur. dass dem Onlineunterricht der Präsenzunterricht immer Ihre großartig betrommelten Pakte sind nicht einmal vorzuziehen ist und dass der nicht ersetzt werden kann. ein Tropfen auf den heißen Stein. Hätten die hier anwe- Das will aber hier auch, glaube ich, ganz grundsätzlich senden Parteien, die alle in Bund, Ländern und Kommu- niemand im Haus und hat auch niemand gefordert. nen in Regierungsverantwortung sitzen, ihre Hausaufga- ben gemacht, wären uns viele der völlig überzogenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Coronamaßnahmen erspart geblieben. (B) Warum es doch geht, ist, dass wir eine sinnvolle Ergän- (Beifall bei der AfD) (D) zung, eine Weiterentwicklung des Unterrichtes bekom- men und dass wir natürlich auch in Situationen wie jetzt, Aber nein, man reicht sich auf allen Ebenen den Schwar- in Krisen und Ausnahmesituationen, vorbereitet sind, zen Peter weiter, und immer sind die anderen schuld, dass im Worst Case eben nicht monatelang der Unterricht wenn dringend erforderliche Ausgaben wieder nicht ausfällt. gemacht werden. Schämen Sie sich! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kemmer, Nachhilfe für Sie von einer Fachfrau: Solche differenzierten Ansätze sind für Sie in Ihrer Der wichtigste Erfolgsgarant für gute Bildung ist der Schwarz-Weiß-Denke aber vielleicht zu anspruchsvoll. Präsenzunterricht – da können Sie alle draußen fragen – Es gibt ja sowieso kaum eine Partei, die sich beim Thema mit direkter und vertrauensbasierter Schüler-Lehrer- Corona so diametral in Widersprüche verhakt wie die Beziehung. Genau hierauf stellen unsere Anträge grund- AfD. sätzlich ab. (Widerspruch bei der AfD) An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an alle Lehrkräfte in allen Positionen an der Bildungsfront da Auf der einen Seite leugnen Sie Corona geradezu oder draußen. sagen, wie heute Morgen in der Debatte, dass das alles ja (Beifall bei der AfD – Zuruf von der CDU/ gar nicht so schlimm wäre, auf der anderen Seite listen CSU) Sie just in Ihrem Antrag bei 13 Punkten 11 Punkte auf, wie wir denn in den Schulen im Präsenzunterricht besser Sie leben Ihre Berufung seit Jahren unter den schlechtest mit Coronahygienemaßnahmen umgehen sollen. Da fra- denkbaren Voraussetzungen. ge ich Sie dann doch: Ist das jetzt ein ernstzunehmendes (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Risiko, ja oder nein? Die Antwort bleiben Sie schuldig, und das merken auch die Menschen draußen. Diese Sie haben wahrlich Unterstützung verdient da draußen – Widersprüche können Sie einfach nicht auflösen. Des- und nicht nur in diesen seltsamen Zeiten. wegen lehnen wir Ihre Anträge entsprechend ab. (Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Selbstverständlich können Digitallösungen eine sinn- neten der SPD – Norbert Kleinwächter [AfD]: volle Ergänzung zum Präsenzunterricht sein. Maske aufsetzen, wenn Sie das so wichtig fin- (Lachen des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ den!) CSU] – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23479

Nicole Höchst (A) Schauen Sie mal in Ihren Antrag! Da lesen Sie Marja-Liisa Völlers (SPD): (C) genau das Gegenteil!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schülerinnen und Schüler vom Schulhof Und ja, die Digitalisierung von Schulen und die Profes- abholen und in den Klassenraum bringen, überprüfen, sionalisierung von Onlineunterricht können in pandemi- dass alle Abstände eingehalten und die Hygiene beachtet schen Krisenzeiten geeignet sein, um den nötigen Ausfall wird, den Timer für die nächste Lüftungspause stellen: des Präsenzunterrichts abzufedern und zu ergänzen, Der Schulalltag unserer Lehrkräfte ist ein anderer gewor- (Lachen des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ den – belastender. CSU]) Für die Umsetzung der Hygienekonzepte ist keine für den Fall, dass uns tatsächlich mal ein Killervirus zusätzliche Zeit eingeplant. Das kommt einfach so heimsuchen sollte. Gerade hierauf zielt unser zweiter dazu, neben dem klassischen Fachunterricht, der Digita- Antrag ab – das ist wirklich nicht so schwer zu verste- lisierung und der Inklusion. Nur: Das übersehen leider hen –: Wir benötigen dringend flächendeckend geeignete viele immer noch gerne. Stattdessen sehen sich unsere pädagogische Konzepte und Lehrerqualifizierung, um Lehrkräfte immer häufiger mit dem Vorwurf konfrontiert, digitales Lehren und Lernen von zu Hause aus für einen man würde sich in der Pandemie nicht gerade ein Bein wirklichen Ernstfall zu ermöglichen. Digitales Lernen rausreißen. Dieser Vorwurf trifft in den allerallermeisten ohne Raum, Ausstattung, Hilfe und Aufsicht zu Hause Fällen nicht zu. An dieser Stelle mein großer Dank an die geht völlig an der Lebensrealität von Familien vorbei. vielen Kolleginnen und Kollegen im Schuldienst! Das interessiert die FDP aber nicht, die mit ihrem An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trag wieder möglichst alles durchdigitalisieren möchte, der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- ohne Praxistauglichkeit, dafür mit einer Vielzahl von NISSES 90/DIE GRÜNEN) wohlklingenden Superlativen – super! Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Forderungen zur Umwandlung in ein Ganztagsschul- GEW, warnt zu Recht vor einer zu hohen Arbeitsbelas- system ab der Grundschule fehlen bei den Grünen selbst- tung. Wenn wir also über die Behebung des Fachkräfte- verständlich nicht. Das wäre dann der Todesstoß für unse- mangels reden, dann müssen wir eben auch über attrakti- re gewachsene Vereinslandschaft und die Musikschulen. vere Arbeitsbedingungen und natürlich auch über die (Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wertschätzung des Lehrpersonals sprechen. NEN]: Das ist doch Unsinn!) Gute Arbeitsbedingungen fangen übrigens bei einer Die Menschen von heute wie morgen werden durch zeitgemäßen Ausstattung an, über die auch heute schon (B) Bildung in die Lage versetzt, als mündige Bürger eigen- ein bisschen gesprochen worden ist. Es kann eben nicht (D) ständig und eigenverantwortlich in den Kommunika- sein, dass ein Lernvideo beim Abspielen 80 Prozent der tionswelten zu handeln. Sie sollen durch humane und Zeit puffert, weil die Internetverbindung immer noch zu humanistische Bildung gegen Ideologisierung, Fanatis- schlecht ist. Unsere Schulen müssen endlich alle einen mus, virtuell bedingte Abhängigkeiten sowie Vereinsa- vernünftigen Breitbandanschluss erhalten; das haben mung und Entmenschlichung immun gemacht werden. wir miteinander übrigens im Koalitionsvertrag klar ver- ankert. (Beifall bei der AfD) Wir haben in der Pandemie die Digitalisierung unserer Wir Menschen sollten die Digitalität beherrschen, nicht Schulen gemeinsam weiter angeschoben: vom Endgerät von ihr getrieben oder beherrscht werden. bis zur IT-Beratung. Ich erwarte nun auch, dass in dem Unsere Anträge sind die weitestgehenden. Bereich der Anschlüsse in den Schulen das Bundesminis- terium für Verkehr und digitale Infrastruktur noch ein (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Ronja bisschen mehr Butter aufs Brot packt. Kemmer [CDU/CSU]: In Widersprüchen viel- leicht!) (Beifall bei der SPD) Sie sind am ehesten geeignet, den Weg aus der Krise zu Wir brauchen außerdem eine bessere Weiter- finden. bildungskultur. Die größte Anzahl der Lehrkräfte will sich ja weiterbilden. Deshalb wollen wir als SPD-Bun- (Beifall bei der AfD) destagsfraktion der Lehrerfortbildung einen zusätzlichen Bitte stimmen Sie unseren Anträgen zu: Für unsere Schub geben: 300 Euro Weiterbildungsbudget für jede gemeinsame Zukunft und für Deutschland! Lehrerin und jeden Lehrer. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Nicole Höchst [AfD]: Der Wahnsinn!) (Beifall bei der AfD – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Sehr schwach!) Deshalb haben wir auch gesagt: Wir unterstützen die Länder beim Aufbau von IT-Beratungsstrukturen an den Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Schulen, wenn diese ihrerseits ihre Bemühungen in Für die Fraktion der SPD macht sich bereit die Kolle- Sachen Weiterbildung hochfahren. Und es ist gut und es ist schön, dass ebendiese Zusatzvereinbarung zum Digi gin Marja-Liisa Völlers. Sie hat das Wort. - talPakt Schule in den nächsten Tagen endlich in Kraft (Beifall bei der SPD) treten soll. 23480 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Marja-Liisa Völlers (A) Natürlich wird Corona den Fachkräftemangel an unse- Die AfD fabuliert in ihrem Antrag über humanistische (C) ren Schulen noch weiter verschärfen. Wir brauchen also Bildung und Schüler-Lehrer-Kontakte. Auf Ihren Denun- auch kurzfristig pragmatische Lösungen. Deshalb geben ziantenportalen hingegen rufen Sie dazu auf, Lehrer an wir – warum nicht? – den Lehramtsstudierenden flächen- den virtuellen Pranger zu stellen. Aus jungen Menschen deckend die Möglichkeit, das bestehende Schulpersonal den inneren Blockwart herauszukitzeln: Das ist der zu unterstützen. So könnten sie Lehrkräfte, die zum Bei- Humanismus der AfD. Super, Frau Höchst! spiel den Risikogruppen angehören, vor Ort vertreten und (Beifall bei der FDP) gleichzeitig schon sinnvolle und gute und wertvolle Pra- xiserfahrungen sammeln. Wir Freien Demokraten fordern massives Engagement auf zwei Ebenen: einerseits langfristige Strategien, um Zu den Anträgen der Opposition hat meine Kollegin mehr Menschen für den Lehrerberuf zu gewinnen, für Kemmer eben schon wunderbar Stellung genommen; da schöpferisch-kreatives Lernen, für mehr Qualität in der kann ich mich ihr in fast allen Punkten anschließen. Ich Bildung; andererseits unmittelbares Handeln in der Krise. würde sie gerne mit den beiden Hinweisen ergänzen: Ent- Es ist goldrichtig, dass Schulen und Kitas jetzt offen weder ist das durch Regierungshandeln eh schon gelöst bleiben, aber definitiv kein Freibrief, auf der faulen oder im Weg der Lösung befindlich, oder es liegt eben gar Haut zu liegen. Jetzt ist die Chance, Schulen hybridfähig nicht in der Zuständigkeit des Deutschen Bundestages. auszubauen: für Schulunterricht in Präsenz, wo nur mög- Von daher lehnt die SPD-Fraktion die Anträge natürlich lich, und mit voller Kraft auf Distanz, wenn nötig. ab. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD – Nicole Höchst [AfD]: Sie sind nirgendwo zuständig!) Schule darf in der zweiten Coronawelle nicht so ver- sagen wie in der ersten. Aber die Bundesregierung, Frau Und abschließend, sehr geehrte Damen und Herren: Ministerin, kommt ja nicht in die Hufe. Wir müssten Wir müssen alles gemeinsam daransetzen, dass eben dringend europäische Education-Start-ups in den digita- alle Kinder und alle Jugendlichen eine gute Bildung len Unterricht einbeziehen: Serlo, simpleclub, itslear- erhalten, gerade auch in einer Pandemie. Deshalb möchte ning. Sie haben fertige Lösungen. Da braucht der Staat ich mit einer Bitte schließen: Helfen Sie alle mit! Es das Rad nicht mehr neu zu erfinden. kommt jetzt auf jeden Einzelnen von uns in jeder unserer diversen Funktionen an. (Zuruf von der LINKEN) Lehrerverbandschef Heinz-Peter Meidinger sagt zu Herzlichen Dank. Recht: Wir brauchen privatwirtschaftliche Angebote (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und müssen dabei mit den Kompromissen leben. – In (B) der CDU/CSU) der Krise scheitert, wer 100 Prozent Perfektion verlangt. (D) (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Bürger wollen keine Zuständigkeits- und Schuld- Danke, Frau Kollegin. – Der nächste Redner macht zuweisungen zwischen Bund und Ländern, sondern sich bereit: der Kollege Dr. Thomas Sattelberger, FDP- Lösungen; denn jetzt ist Krise! Wenn es brennt, packt Fraktion. man an. Da gießt man nicht verträumt die Blumen, son- (Beifall bei der FDP) dern hält den Wasserschlauch auf die brennende Hütte. Ran an den Speck, Frau Karliczek! Dr. h. c. Thomas Sattelberger (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Lin- ke! Ihr rotes Thüringen liegt bei Studienplätzen fürs Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Lehramt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von Vielen Dank, lieber Kollege Dr. Sattelberger. – Die 22 Studierenden pro 1 000 Schüler. nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke, Frak- (Zuruf von der LINKEN) tion Die Linke. Thüringen hat nur 17. Sie Moralinis, kehren Sie vor Ihrer (Beifall bei der LINKEN) eigenen Haustüre! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nicole Gohlke (DIE LINKE): der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Kai Gehring Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern sowie Leh- rerinnen und Lehrern wird seit Beginn der Pandemie viel Die FU Berlin, liebe Rot-Rot-Grüne, lehnt 85 Prozent zugemutet. Das ist bekannt, und dennoch wird gegen der potenziellen Grundschullehrer ab – aus Kapazitäts- diese Überlastung zu wenig getan. gründen! Schande! Und Brandenburg, Frau Völlers, bil- Die ganzen Diskussionen, die wir jetzt teilweise füh- det nicht mal Berufsschullehrer aus. Jedes Land strickt in ren, zum Beispiel die, wer jetzt genau wann wo wie eine der Lehrkräftegewinnung eigene Konzepte ohne Koordi- Maske tragen muss, verdecken doch, was das eigentliche nation. Wann kommt endlich der Masterplan Lehramts- Problem an den Schulen ist, und das wirklich nicht erst studium? seit Corona: Das ist der eklatante Mangel an Lehrkräften, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Was sagt denn der schon seit Jahren an die Substanz geht; an die Sub- die FDP?) stanz von Schülerinnen und Schülern und an die der Lehr- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23481

Nicole Gohlke (A) kräfte, die eine immer größere Arbeitslast bewältigen In 18 der letzten 20 Jahre wurden weniger Lehrerinnen (C) müssen. Für uns als Linke ist klar: Das darf so nicht und Lehrer ausgebildet, als die Schulen benötigt haben. bleiben. Das ist doch eine absurd hohe Quote. Im letzten Jahr (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schaffte es gerade mal ein einziges Bundesland, seine NIS 90/DIE GRÜNEN) offenen Stellen mit selbst ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern zu besetzen. Seit der Coronakrise arbeiten die Schulen im Dauern- otbetrieb. Schülerinnen und Schüler müssen immer wie- (Otto Fricke [FDP]: Thüringen! Das war der im Homeschooling betreut werden. Mit der jetzigen bestimmt Thüringen!) Abdeckung an Lehrkräften ist das nicht zu schaffen, und Also behaupten Sie nicht, wir hätten kein bundesweites das wissen, ehrlich gesagt, wir alle hier im Raum. Aber Steuerungsproblem. schon vor der Pandemie sind ja Unterrichtsstunden aus- gefallen, waren die Klassen zu groß, (Otto Fricke [FDP]: Thüringen war es dann wohl nicht!) (Ronja Kemmer [CDU/CSU]: Länderzustän- digkeit!) – Sie scheinen ja einigermaßen schlecht informiert zu sein, wenn Sie nicht wissen, welches Land das ist. und konnten mancherorts manche Fächer gar nicht ange- boten werden. Und schon vor der Pandemie waren viele (Otto Fricke [FDP]: Ich hätte gedacht, dass Sie Lehrerinnen und Lehrer an der Belastungsgrenze. Es ist als Linke jetzt sagen: Thüringen macht das bes- völlig unklar, wie es eigentlich klappen soll, all die groß- ser!) en Aufgaben im Bildungsbereich, die jetzt erst kommen, – An der Stelle haben Sie sich verrechnet. Sie können ja vor denen wir noch stehen – die Umsetzung der Ganz- noch ein bisschen spekulieren. – Ich löse es auf: Es war tagsschule, die Inklusion –, anzugehen, so unterfinan- Baden-Württemberg. ziert, wie die Schulen sind, und bei dem Lehrkräfteman- gel. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN]: Ah!) Die Antworten aus der Politik: Zuerst hat man auf Ich sage außerdem: Der Bund muss endlich für Chan- Quer- und Seiteneinsteiger gesetzt. Das mag ja als eine cengleichheit und für gute Arbeitsbedingungen sorgen. vorübergehende Notmaßnahme zulässig sein, aber darf Ducken Sie sich vor dieser Aufgabe bitte nicht weiter doch, bitte schön, nicht zum Normalfall werden. Welche weg. Antwort auf den Lehrkräftemangel kam aus Bayern? Die (Beifall bei der LINKEN) (B) Schnapsidee, einfach mehr unbezahlte Unterrichtsstun- (D) den für die Lehrerinnen und Lehrer anzuordnen. Was Es ist die Aufgabe von Politik, die soziale Spaltung zu für ein weltfremder und vor allem dreister Vorschlag! überwinden, dafür zu sorgen, dass die Kinder aus armen Familien nicht länger auf der Strecke bleiben. Sorgen Sie (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai dafür, dass es endlich kleinere Klassen, eine individuel- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – lere Betreuung und mehr Lehrerinnen und Lehrer geben Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das kann. geht ja gar nicht!) Vielen Dank. Jetzt, in der Coronakrise, hieß das Konzept gegen den Mangel, verrentete Lehrerinnen und Lehrer, die ja im (Beifall bei der LINKEN – Nicole Höchst Übrigen meist zur Risikogruppe gehören, zurück in den [AfD]: Machen Sie das doch, wo Sie mitregie- Beruf zu holen. Ja, ich frage mich schon: Wo sind wir ren! Das ist doch nur heiße Luft hier!) denn eigentlich gelandet, wenn wir Menschen aus dem Ruhestand holen müssen, um die Bildung unserer Kinder Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zu gewährleisten? Das ist doch wirklich komplett irre. Vielen Dank, Kollegin Nicole Gohlke. – Der nächste (Beifall bei der LINKEN) Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Kai Ich verstehe nicht, warum man nicht das Naheliegende Gehring. macht, nämlich endlich mehr Lehrkräfte auszubilden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und das länderübergreifend und koordiniert. Das wäre die richtige Antwort. Deswegen beantragt Die Linke heu- te, dass der Bund in Absprache mit den Ländern ein Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Programm zur Finanzierung von zusätzlichen Lehramtss- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tudienplätzen auflegt, damit wenigstens in Zukunft genü- ist vernünftig, während des Wellenbrecher-Lockdowns gend Lehrkräfte für den Schuldienst bereitstehen. Kitas und Schulen offen zu halten. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Bevor Sie jetzt wieder mit dem Einwand daherkom- men, dass das Ländersache sei, sage ich Ihnen: Der Bund Denn ein weiterer Bildungs-Lockdown wäre unverant- hat da eine Verantwortung. wortlich für die junge Generation. (Otto Fricke [FDP]: Der Bund hat immer eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortung!) sowie bei Abgeordneten der FDP) 23482 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Kai Gehring (A) Corona hat die Schullandschaft kalt erwischt. Digitales – Das tue ich ja gerade. (C) Lernen steckt in den Kinderschuhen. Ihr Digitalpakt (Nicole Höchst [AfD]: Sehr schön!) fliegt noch immer nicht. Dazu kommt das alte deutsche Problem: der Mangel an Bildungsgerechtigkeit. Wir müs- In der Pandemie sind so viele Lehrkräfte über sich sen dringend achtgeben, dass die Pandemie nicht zu hinausgewachsen. Beispielhaft zitiere ich aus einem Abertausenden zusätzlichen Schulabbrecherinnen und Brief einer Berliner Lehrerin an ihre vierte Klasse, der Schulabbrechern führt, die es ganz klar schwerer haben, mich berührt hat. Als im März Schulen schließen muss- auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Darum braucht es ten, schrieb sie: Wir stehen vor einem Experiment – jetzt dringender denn je eine Kraftanstrengung für Chan- Schule von zu Hause aus. An alles, was wir jetzt tun, cen für alle. werdet ihr euch ein Leben lang erinnern. Machen wir also etwas Gutes und Richtiges daraus. – Wir sagen Dan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ke an alle Lehrkräfte, die Kindern auch in schwierigsten Herausfordernd bleibt, dass Bildung Ländersache ist. Zeiten Mut machen. Doch die Folgekosten mangelnder Bildung tragen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesamtstaatlich. Darum ist gute Bildungspolitik immer sowie des Abg. Stephan Albani [CDU/CSU]) auch präventive Sozialpolitik. In unserem föderalen Land gibt es über 4 700 Studiengänge, um Lehrer zu werden, Hunderte Lehrpläne für über Dutzend Schular- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ten. Ein Umzug kostet die Eltern Nerven und die Schüler Vielen Dank, Kollege Gehring. – Die Kollegin schnell ein ganzes Schuljahr. Etwas weniger Komplexi- Dr. Dietlind Tiemann ist die nächste Rednerin für die tät, etwas mehr Einheitlichkeit wäre gut, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) sagen auch Schüler und Lehrkräfte. Sie haben recht. Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): Natürlich brauchen wir kein zentralgesteuertes Bil- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dungssystem; nicht jedes Problem muss der Bund lösen. Kollegen! Liebe Kollegen der antragstellenden Fraktio- Gute Schulen werden schließlich vor allem vor Ort nen, „Digitalisierung“, „Krise“ und „Unterstützung“, das gemacht. Aber kluge Bund-Länder-Programme können sind Worte, die vielfach in Ihren Anträgen vorkommen; einen Modernisierungsschub leisten, aber zur Wahrung der Kompetenzen von Bund, Ländern (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ach, wirk- und Kommunen tragen sie nicht bei. lich? – Ronja Kemmer [CDU/CSU]: Ganz Nehmen wir zum Beispiel einen Vorschlag der Linken: (B) neue Töne!) Der Bund soll in Absprache mit den Ländern ein Pro- (D) wie das rot-grüne Ganztagsschulprogramm in den gramm für zusätzliche Studienplätze finanzieren. Rich- 2000er-Jahren. tig, die Prognose der KMK zum Einstellungsbedarf stellt einen Mangel an Lehrkräften fest. Aber was soll der Bund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denn hier noch finanzieren? Die Lehrkräfte fehlen doch Auch heute braucht es solche gemeinsamen Antwor- besonders in speziellen Bereichen, zum Beispiel in ten, zum Beispiel in der Lehrerausbildung. Herausforde- MINT-Fächern. Daneben sind die Studiengänge bereits rungen wie Diversität, Inklusion, Integration, Digitalisie- alle kostenfrei und die Plätze ohne Numerus clausus rung, Bildung für nachhaltige Entwicklung – all das muss zugänglich, von einer faktischen Einstellungsgarantie sich bundesweit stärker widerspiegeln. Denn das Wich- für Lehrkräfte dieser Fächer ganz zu schweigen. Das ein- tigste für unsere Schulen sind gut ausgebildete Lehrkräfte zige Rad, an dem hier gedreht werden kann, sind die mit einer Pädagogik der Vielfalt und Wertschätzung, die ausgeschriebenen Stellen der Länder, und das ist nun Wissen vermitteln, Haltung und Orientierung bieten. Wo mal ureigene Kompetenz der Länder. solch wertvolle Arbeit geleistet wird, sind die Feinde von (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das war zu Demokratie und Freiheit nicht weit: Lehrkräfte werden erwarten!) von Onlineprangern der AfD eingeschüchtert, Lehrkräfte werden bedroht oder gar angegriffen, weil sie Meinungs- Nehmen wir einen Vorschlag der FDP: Der Bund soll freiheit und eine demokratische Diskussionskultur ein- die Anbieter von Onlinelehre qualitativ prüfen und Rah- üben wollen. Die Ermordung des französischen Lehrers menverträge schließen. Super! Zugleich soll das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ausgebaut Samuel Paty hat uns zutiefst erschüttert. und Institute für bessere Lehrer und bessere Schulpraxis (Dr. Götz Frömming [AfD]: Unerhört! – Nicole geschaffen werden. Auch toll! Höchst [AfD]: In einem Atemzug! Schämen (Beifall bei der FDP) Sie sich!) Beides ist sicherlich gut gemeint. Aber zerreißt das nicht Wir müssen unsere Kinder vor Extremismus und Hass eine Kompetenz, die besser in einer Hand bleiben sollte? schützen. Lehrkräfte brauchen breitesten Rückhalt, damit Die Länder sind ausschließlich für Lerninhalte, Curricula sie denen Paroli bieten, die meinen, dass nicht die Würde und Qualität des Unterrichts zuständig; auch das wissen jedes Menschen unantastbar ist. Sie bereits. Aber für die Auswahl der genutzten Online- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – lehre und die Überprüfung der Qualität des Bildungswe- Nicole Höchst [AfD]: Sagen Sie das mal den sens soll wieder der Bund verantwortlich sein? Ich gehe Islamisten!) mit, dass diejenigen, die lehren, und diejenigen, die die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23483

Dr. Dietlind Tiemann (A) Qualität prüfen, verschieden sein sollten; das ist sicher- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) lich richtig. Aber es ist nicht zielführend, dafür zwei ver- Der letzte Redner zu Tagesordnungspunkt 18 ist der schiedene Verwaltungsebenen zu nutzen, liebe Kollegin- Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. nen und Kollegen der FDP. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte mit Blick auf alle Anträge vielleicht ein Dr. Karamba Diaby (SPD): bisschen aus der Schule plaudern und mit einem Augen- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten zwinkern darauf hinweisen: Die Kultushoheit liegt bei Damen und Herren! Die Bertelsmann-Stiftung geht den Bundesländern. Ihr gemeinsames Gremium ist die davon aus, dass im Jahr 2025 mindestens 26 300 Absol- Kultusministerkonferenz. Koordiniert wird deren Arbeit venten für das Grundschullehramt fehlen werden. Der vom Kultusministerkonferenzsekretariat mit über 300 Deutsche Lehrerverband ist bereits seit Langem besorgt; Angestellten und knapp 120 Millionen Euro Budget laut wir sind es auch. Haushaltsplan 2020/2021. Auch das sollte an dieser Stel- le einmal hervorgehoben werden. Die Länder arbeiten (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Dann können Sie ja unserem Antrag zustimmen!) nicht im luftleeren Raum – und jedes Land für sich allein –, sondern haben ein tolles Sekretariat. Hier sind Wenn wir dem bundesweiten Lehrkräftemangel nicht ent- die zentralen Entscheidungen zu treffen, wenn es um gegenwirken, wird immer mehr Unterricht ausfallen, und Transparenz, um Vergleichbarkeit, um Qualität, kurz: die Vielfalt der Bildungsangebote wird abnehmen. wenn es um eine gute Bildungspolitik für ganz Deutsch- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Richtig!) land geht. Und was viel schlimmer ist: Die Zukunftschancen der Wenn die Bildung als gesamtstaatliche Aufgabe ver- Schülerinnen und Schüler stehen auf dem Spiel. Wenn standen wird, dann ist die KMK der maßgebliche Akteur, Unterricht ausfällt oder motivierte und gut ausgebildete wie wir alle wissen. Und dieser Herausforderung sind die Lehrkräfte fehlen, sind die Jugendlichen – speziell aus Länder mit der KMK-Vereinbarung vom 15. Oktober bildungsfernen Schichten – die Leidtragenden. Das dür- 2020 nachgekommen; davon haben wir heute noch gar fen wir nicht zulassen! Dagegen müssen wir stärker nichts gehört. Für Abschlüsse, für Unterrichtsinhalte und ankämpfen. für die Ausbildung der Lehrkräfte sind Absprachen getroffen worden; auch das geht in die richtige Richtung. (Beifall bei der SPD – Nicole Gohlke [DIE Ob sie und der entstehende Wissenschaftliche Beirat der LINKE]: Dann mal los!) große Wurf werden, wird sich sicherlich zeigen. Mit einer Eine wichtige Aufgabe für uns ist, den Lehrerberuf kleinen Träne im Knopfloch weise ich darauf hin, dass (B) attraktiver zu machen. Erstens. Das können wir durch (D) der Koalitionsvertrag eigentlich einen nationalen Bil- finanzielle Anreize erreichen und durch faire Arbeitsbe- dungsrat vorgesehen hat. Dennoch können wir diesen dingungen und Weiterbildungsangebote. Zweitens. Wir Schritt der Länder guten Gewissens anerkennen, Frau brauchen in der heutigen Zeit eine dauerhafte digitale Ministerin. Ich glaube, die Richtung ist richtig. Grundausstattung und die Möglichkeit zum Erwerb von Die Kommunen im System haben dafür Sorge zu tra- digitalen Kompetenzen. Drittens. Was wir jetzt brauchen, gen, dass die schulische Infrastruktur vorhanden ist. Von sind auch Investitionen in die Lehramtsausbildung, um den Ländern sind sie dazu finanziell richtig auszustatten; unsere Lehrkräfte für morgen auszubilden. auch das ist ein ewiges Problem. Wir wissen, dass unsere Klassen bunt sind, aber unsere (Beifall bei der CDU/CSU) Lehrerzimmer noch nicht. Wir brauchen mehr Lehrerin- nen und Lehrer mit Migrationsgeschichte, die als Vorbil- Der Bund hat hier auf den ersten Blick eben nur eine der gelten. Nebenrolle. Diese nimmt er aber in voller Verantwortung wahr – auch das sollte noch einmal hervorgehoben wer- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias den –, ob bei der Unterstützung von Instituten zur Quali- W. Birkwald [DIE LINKE]) tät im Bildungswesen, ob bei der Förderung der Fortbil- Das können wir zum Beispiel durch die Förderung von dung von Lehrkräften oder bei der Überprüfung von Mentoring-Programmen erreichen. Als ein Beispiel, das Schülerleistungen im internationalen Umfeld. Auf die Schule machen sollte, möchte ich das Refugee Teachers zusätzlich bereitgestellten Gelder ist heute schon mehr- Program des DAAD an der Universität Potsdam nennen. fach eingegangen worden. Es unterstützt neu angekommene Lehrkräfte mit Flucht- Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Appell lautet: hintergrund beim Wiedereinstieg in ihren alten Beruf. Berücksichtigen Sie die Kompetenzen der Länder, und Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Lehrer- berücksichtigen Sie auch die Beschlüsse vom 15. Oktober mangel zeigt uns auch, dass wir bildungspolitisch noch 2020! Sie sollten uns als Bund in die Lage versetzen, die zu kurz- oder mittelfristig denken. Daher lassen Sie uns damit eingeleitete richtungsweisende Entwicklung zu mehr auf langfristige Maßnahmen in der Bildungspolitik begleiten und mitzutragen. Dann sind wir, glaube ich, setzen und mehr in Programme investieren. Nur so kön- schon ein kleines Stück weitergekommen. Deshalb brau- nen wir dem Lehrermangel entgegenwirken und eine gute chen wir die Anträge nicht und lehnen sie ab. Zukunft für unsere Kinder aufbauen. Das ist unser Danke. Anspruch; da müssen wir hin. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke schön. 23484 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Karamba Diaby (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Update für die Schulen“. Wer stimmt für die Beschluss- (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE empfehlung des Ausschusses? – CDU/CSU, SPD und GRÜNEN) AfD. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Enthaltungen? – FDP. Die Beschlussempfehlung ist Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: angenommen. Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: sprache zu TOP 18. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- serung der Transparenz in der Alterssiche- zung auf Drucksache 19/23792. Der Ausschuss empfiehlt rung und der Rehabilitation sowie zur unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Modernisierung der Sozialversicherungswah- Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Druck- len (Gesetz Digitale Rentenübersicht) sache 19/20568 mit dem Titel „Qualitätspakt Schule – Humane und humanistische Bildung durch Schüler-Leh- Drucksache 19/23550 rer-Kontakt gewährleisten“. Wer stimmt für die Be- Überweisungsvorschlag: schlussempfehlung des Ausschusses? – Das sind alle Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Fraktionen mit Ausnahme der AfD-Fraktion. Gegenpro- Ausschuss Digitale Agenda be! – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. Die Beschluss- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO empfehlung des Ausschusses ist angenommen. Beschlossen ist eine Aussprachedauer von 30 Minuten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- Wir warten noch einen Moment, bis hier ein bisschen nung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache Ruhe ist. – Das Wort hat die Parlamentarische Staats- 19/20683 mit dem Titel „Corona digital bekämpfen – sekretärin Kerstin Griese für die Bundesregierung. Bitte Deutsches Bildungs- und Forschungssystem digital fit schön. machen für Lernen-zu-Hause sowie Fernlehre und -for- schung“. Wer stimmt der Beschlussempfehlung des Aus- (Beifall bei der SPD) schusses zu? – Das sind wieder alle Fraktionen mit Aus- nahme der AfD-Fraktion. Gegenprobe! – AfD. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung des Kerstin Griese, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Ausschusses ist angenommen. minister für Arbeit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- (B) Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorlie- (D) fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- gende Gesetzentwurf – „Gesetz Digitale Rentenüber- tion der FDP auf Drucksache 19/20554 mit dem Titel sicht“ – bündelt drei unterschiedliche Vorhaben: erstens „Lehren aus der Corona-Krise – Impulse für die Schule die Einführung einer digitalen Rentenübersicht, zweitens der Zukunft“. Wer stimmt dafür? – Das sind Die Linke, die Modernisierung der Sozialversicherungswahlen und die CDU/CSU, die SPD, die AfD. Gegenprobe! – Die drittens die Regelung der Beschaffung von Leistungen FDP. Enthaltungen? – Die Grünen. Die Beschlussemp- zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der fehlung des Ausschusses ist damit angenommen. gesetzlichen Rentenversicherung. Das sind drei gute Unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung emp- und wichtige Vorhaben, die eines gemeinsam haben: Sie fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- stehen für mehr soziale Sicherheit. – Diese drei guten tion Die Linke auf Drucksache 19/19483 mit dem Titel Vorhaben will ich jetzt in vier Minuten vorstellen. „Lehrkräftemangel beheben – Gute Bildung sichern“. Erstens. Mit der digitalen Rentenübersicht wollen wir Wer ist für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? – es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, Informa- Das sind die AfD, FDP, CDU/CSU und SPD. Gegenpro- tionen über ihre individuelle Absicherung im Alter abru- be! – Die Linke. Enthaltungen? – Wiederum die Grünen. fen zu können – auf einen Blick und an einem Ort. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenom- men. (Beifall bei der SPD) Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- Mit diesem für die Bürgerinnen und Bürger freiwilligen be g seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Angebot soll ihr Kenntnisstand über die eigene Alters- Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- vorsorge verbessert und ein möglicher Handlungsbedarf sache 19/18729 mit dem Titel „Bundeszentrale für digi- erkennbar werden. tale und Medienbildung – Medien- und digitalpädagogi- sche Kompetenzen bündeln, vermitteln und fördern“. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird versucht, ein sol- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus- ches Projekt, das es in anderen europäischen Ländern ses? – CDU/CSU, SPD und AfD. Gegenprobe! – Bünd- schon gibt, auch bei uns zu realisieren. Bei uns gibt es nis 90/Die Grünen und Linke. Enthaltungen? – FDP. Die ja eine sehr vielgestaltige Altersvorsorgelandschaft, und Beschlussempfehlung ist angenommen. deshalb ist das eine besondere Herausforderung. Mit die- sem Gesetzentwurf schaffen wir jetzt den für die Umset- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe h zung notwendigen rechtlichen Rahmen, also den ersten seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags großen Schritt. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/20385 mit dem Titel „Lernen aus der Krise – Ein (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23485

Parl. Staatssekretärin Kerstin Griese (A) Auf Grundlage der regelmäßigen Informationen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Vorsorgeeinrichtungen sollen eine übersichtliche Darstel- der CDU/CSU) lung der bereits erreichten und bis zum Renteneintritt Drittens. Die Beschaffung von Leistungen zur medi- erreichbaren Altersvorsorgeansprüche und eine Zusam- zinischen Rehabilitation durch die Träger der Rentenver- menfassung der Ansprüche in einem Gesamtüberblick sicherung wird im SGB VI neu geregelt. Das muss nach die Herzstücke der digitalen Rentenübersicht sein. Kurz- dem europäischen Vergaberecht nach den Grundsätzen um: Auf einen Klick, auf einen Blick wird man seine der Transparenz, der Nachvollziehbarkeit und der Nicht- Altersvorsorge sehen können, wenn alles umgesetzt ist. diskriminierung geschehen. Das ist eine sehr komplexe Für die Umsetzung konnten wir die Deutsche Renten- Materie. Ich will nur zwei Regelungen nennen, damit versicherung Bund gewinnen. man sich was darunter vorstellen kann: Rehabilitations- (Otto Fricke [FDP]: Na ja!) einrichtungen haben künftig gegenüber der Rentenversi- cherung einen Anspruch auf Zulassung zur Erbringung Unter ihrem Dach wird die Zentrale Stelle für die Digitale ihrer medizinischen Rehaleistungen, wenn sie die objek- Rentenübersicht das Vorhaben umsetzen, tiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllen. Die konkrete (Otto Fricke [FDP]: Na ja!) Inanspruchnahme der am besten geeigneten Rehaeinrich- tung erfolgt ebenfalls auf der Grundlage festgelegter die technischen Voraussetzungen entwickeln und für die objektiver sozialmedizinischer Kriterien. Dabei wird Ausgestaltung der inhaltlichen Vorgaben sorgen. In die- das Wunsch- und Wahlrecht des Versicherten berücksich- sen Prozess werden wir auch die Träger der gesetzlichen, tigt. Wir stärken also die Rolle der Rehabilitanden, damit der privaten und der betrieblichen Alterssicherung und sie in der Reha gut gesunden können. die Vertreterinnen und Vertreter des Verbraucherschutzes einbinden. Digitalisierung bedeutet hier mehr Bürgernä- (Beifall bei der SPD) he und mehr Bürgerfreundlichkeit unseres Sozialstaates. Wir stärken damit den wichtigen Bereich der Rehabilita- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank tion mit dem Ziel, den Menschen, die in eine Rehamaß- Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) nahme gehen, bestmögliche Qualität und Transparenz zu ermöglichen, damit sie diese Reha so wahrnehmen, dass Das zweite Anliegen dieses Gesetzentwurfes sind die sie gesunden. Stärkung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und die Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz- Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart und entwurf vereinen wir mehrere sozialpolitisch wichtige setzen wir hiermit um. Wichtig war und ist uns dabei die Vorhaben. Jedes einzelne dieser drei Vorhaben ist gut Einbindung der Sozialpartner. und wichtig für eine bürgernahe Sozialversicherung. Sie (B) ist gerade in der Coronapandemie wichtiger denn je, aber (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie ist auch langfristig für die Zukunft wichtig. Deshalb der CDU/CSU) freue ich mich auf die Beratungen im Sinne der vielen Es freut mich, dass es uns nach verschiedenen Anläu- Menschen, für die wir diesen Sozialstaat so gut wie mög- fen in den letzten Legislaturperioden – einige hier werden lich weiterentwickeln. sich erinnern – gelungen ist, erstmals einen umfassenden Vielen Dank. Gesetzentwurf dazu auf den Weg zu bringen. Wir stärken das Ehrenamt in der Sozialversicherung; wir verbessern (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den gesetzlichen Rahmen für die Wahrnehmung des Amtes und für Fortbildungen. Wir wollen eine Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Geschlechterquote, die dafür sorgt, dass Frauen in den Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, auch dafür, dass Selbstverwaltungsorganen stärker vertreten sein werden. Sie gezeigt haben, was man in vier Minuten alles sagen Bislang sind sie nämlich sehr unterrepräsentiert; das darf kann. nicht so bleiben. (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Das war wirk- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich schnell! – Dr. Franziska Brantner [BÜND- der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da war Zug drin! – Deshalb sollen die Vorschlagslisten für die Vertreterver- Otto Fricke [FDP]: Wenn man was zu sagen sammlungen und Vorstände der Renten- und Unfallver- hat!) sicherungsträger künftig möglichst zu mindestens 40 Pro- Jetzt kommt die nächste Rednerin, und zwar für die zent aus Frauen bestehen. Fraktion der AfD die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist verfas- (Beifall bei der AfD) sungswidrig! Das wissen Sie doch!) Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Maßnah- Ulrike Schielke-Ziesing (AfD): men, mit denen wir die Transparenz des Wahlverfahrens Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und und den Bekanntheitsgrad der Sozialversicherungswah- Herren! Dieser Gesetzentwurf bündelt drei Gesetzesvor- len steigern. Das wird, so hoffen wir, dazu beitragen, die haben: die Einführung einer säulenübergreifenden Ren- Wahlbeteiligung zu erhöhen und die Teilhabe an der tenübersicht, die Modernisierung der Sozialversiche- Selbstverwaltung zu verbreitern. Kurzum: Wir stärken rungswahlen und die Regelung der Beschaffung von unseren Sozialstaat und besonders die Selbstverwaltung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die die ein Fundament unseres Sozialstaates ist. Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Wei- 23486 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Ulrike Schielke-Ziesing (A) terentwicklung des Übergangsgeldanspruches. Alle drei Ehrenamtes durch einen gesetzlichen Freistellungsan- (C) Gesetzesvorhaben waren Bestandteil des Koalitionsvert- spruch und Bildungsurlaub verbessert; außerdem wird rages und werden nun umgesetzt. Das ist zu begrüßen. die 5-Prozent-Hürde aufgehoben. Diese Punkte sind zu begrüßen. Wir sprechen uns als Ich möchte in meiner Rede hauptsächlich auf die digi- AfD allerdings entschieden gegen die vorgesehene tale Renteninformation eingehen. Geschlechterquote aus. Die Zulässigkeit von Geschlech- In Deutschland haben die Bürger häufig keinen aus- terquoten bei Wahlen ist verfassungsrechtlich äußerst reichenden Überblick über ihre Rentenansprüche. Das problematisch, da sie dem Grundsatz der Freiheit der liegt daran, dass im Verlauf eines Arbeitslebens viele Wahl widersprechen. unterschiedliche Ansprüche aus gesetzlicher und privater (Beifall bei der AfD) Vorsorge und unterschiedlichen Betriebsrenten erworben Ich verweise hier auf die Urteile des Thüringer Verfas- worden sind. Zukünftig sollen die Renteninformationen sungsgerichtshofs und nun auch des Brandenburger Ver- an einer zentralen Stelle gebündelt werden, um möglichst fassungsgerichts zum Paritätsgesetz für die jeweiligen umfassend über die bisher erreichten Anwartschaften zu Landtagswahlen. Die Einführung von Geschlechterquo- informieren. Ziel ist es, dass jeder Bürger über ein elek- ten bei Sozialwahlen könnte daher die Ergebnisse der tronisches Portal abrufen kann, wie viel Rentenanwart- Sozialwahlen insgesamt angreifbar machen. Hier sollte schaften er insgesamt erworben hat. Wir als AfD-Frak- das BMAS noch einmal in sich gehen und diesen Passus tion begrüßen dieses Gesetzesvorhaben. streichen. Nach der Schröder-Riester-Reform ist die gesetzliche Vielen Dank. Rentenversicherung alleine eben nicht mehr darauf aus- (Beifall bei der AfD) gelegt, dass man im Alter ein ausreichendes Einkommen erhält. Um für das Alter ausreichend vorzusorgen, müs- sen auch die beiden anderen Säulen der Altersvorsorge Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: bedient werden. Hier ist eine zusammenfassende Darstel- Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der lung der bisher erreichten Anwartschaften nötig, um Kollege Tobias Zech. rechtzeitig eventuelle Versorgungslücken zu erkennen. (Beifall bei der CDU/CSU) Leider werden in diese Renteninformation nicht alle Ver- sorgungseinrichtungen aufgenommen. Berufsständische Versorgungswerke, die Beamtenversorgung und Pen- Tobias Zech (CDU/CSU): sionszusagen von Arbeitgebern fehlen hier, und damit Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ganz (B) wird der ursprüngliche Zweck einer umfassenden Aus- spannend, wenn man drei sehr unterschiedliche Vorhaben (D) kunft nicht erfüllt. in einem Gesetzentwurf innerhalb von fünf Minuten erklären muss. Die Staatssekretärin hat es in vier Minuten Die Zentrale Stelle für die Digitale Rentenübersicht geschafft. Ich versuche, es in fünf Minuten darzustellen. wird bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ange- Ich möchte mich erst einmal um das Thema Reha küm- siedelt; ein zu bildendes Steuerungsgremium und Fach- mern. Die Leistungsbeschaffung in der medizinischen beiräte sollen die Arbeit unterstützen. Besonders beim Rehabilitation ist ein wichtiges Thema, ein Thema, bei Steuerungsgremium sollte bei der Besetzung auf Ausge- dem es um Transparenz geht und auch darum, dass wir wogenheit geachtet werden. Es darf bei der Besetzung das offene Zulassungsverfahren, das in der Kritik steht, unter keinen Umständen der Eindruck entstehen, dass neu aufstellen und zukunftsfähig machen. Es geht zudem die Aufbereitung der dargestellten Informationen von darum, eine nachhaltige, transparente Leistungserbrin- Interessen einzelner Produktanbieter oder der Politik gung im Bereich der Vergütung, im Bereich der Inan- bestimmt wird. spruchnahme, aber natürlich auch im Bereich der Be- schaffung sicherzustellen. Im Gesetzesvorhaben wird die Möglichkeit der Spei- cherung der abgerufenen Daten in Nutzerkonten eröffnet. Wichtig ist, dass wir mit diesem Gesetz und bei seiner Hier sollte noch einmal der Sinn dieser Speicherung über- Behandlung im parlamentarischen Verfahren drei Bedin- dacht werden. Der Nutzer fordert bei der zentralen Stelle gungen erfüllen. seine Renteninformation an. Diese Stelle sammelt bei Bedingung eins: Der Patient, der Mensch muss im allen angeschlossenen Trägern diese Informationen, stellt Mittelpunkt stehen. Ich denke, mit diesem Gesetz, mit dem Nutzer das Ergebnis zur Verfügung und löscht im der Stärkung der Wahlfreiheit und des Patientenwun- Anschluss alle Daten. Das alles kann effektiv und schlank sches, auch im Sinne des SGB IX sowie im Sinne der umgesetzt werden. Wenn nun aber Nutzerkonten zentral UN-Behindertenrechtskonvention, gehen wir einen rich- gespeichert werden können, wird das ganze System tigen Schritt in eine positive Zukunft und stärken die unnötig aufgebläht, ohne dass dem ein großer Mehrwert medizinische Reha. entgegensteht. Die Nutzer können die erhaltenen Daten Bedingung zwei: Wir müssen ein Gesetz vorlegen, das selber speichern. Eine zentrale Datenhaltung ist nicht den EU-Ausschreibungskriterien entspricht. nötig. Bedingung drei – dieser Punkt muss uns allen wichtig Ein weiterer Bestandteil dieses Gesetzespaketes ist die sein –: Wir dürfen unter keinen Umständen die plurale, Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Hiermit vielfältige Rehalandschaft mit ihren unterschiedlichen werden die Rahmenbedingungen für die Ausübung des Trägern, die wir in Deutschland haben, gefährden, son- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23487

Tobias Zech (A) dern wir müssen sie stärken im Sinne der Patienten und (Beifall bei der CDU/CSU) (C) im Sinne derer, die die Rehaeinrichtungen standortnah Alle drei Vorhaben – neben den beiden angesproche- mit unterschiedlichen Konzepten nutzen wollen. Das ist nen auch die Weiterentwicklung der Sozialwahlen – sind ein wichtiges Vorhaben, das wir in der Diskussion noch für die Menschen, die davon betroffen sind, sehr wichtig. aktiv ausgestalten müssen und begleiten werden. Wir werden das im laufenden Verfahren eng begleiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Vorschläge, die jetzt vom BMAS auf dem Tisch lie- gen, gehen alle in die richtige Richtung und treffen den Das zweite Thema, auf das ich in dieser Debatte Wert richtigen Ton. Ich freue mich auf die weitere Debatte. legen will, ist die Digitale Rentenübersicht. Die Digitale Rentenübersicht soll eine Vereinfachung bewirken, um Herzlichen Dank. Anwartschaften, die man über alle drei Säulen erwirt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schaftet hat – die gesetzliche, die betriebliche, aber ordneten der SPD) auch die private Vorsorge –, in einer Übersicht darzu- stellen. Das ist notwendig; denn wir haben es mit unter- schiedlichen Lebensläufen und unterschiedlichen Berufs- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: entwicklungen zu tun. Ich selbst arbeite jetzt seit Vielen Dank, Kollege Zech. – Der nächste Redner für 23 Jahren. Ich habe sowohl eine private Vorsorge als die FDP-Fraktion ist der Kollege Johannes Vogel. auch eine betriebliche Altersvorsorge. Ich habe auch in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlt und be- Johannes Vogel (Olpe) (FDP): komme auch hier eine Vorsorge. Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- (Zuruf von der FDP: Sehr schön!) gen! Die Bilanz der Rentenpolitik dieser Koalition ist Und was mache ich jedes Jahr? Ich nehme alle Statusmit- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: teilungen, loche sie und hefte sie ab. Wirklich großartig!) Ziel ist es, dass wir die Anwartschaften, die Statusmit- wirklich katastrophal. Sie haben die finanziellen Funda- teilungen und die Vorsorgeeinrichtungen, die Standmit- mentaldaten der Rente destabilisiert. Sie können nicht teilungen erbringen müssen, zusammenfassen. Damit erklären, wie das Ende des Jahrzehnts bezahlt werden darf es aber nicht abgetan sein, und deswegen müssen soll. Sie haben sogar erfolgreiche Reformen der letzten wir das Verfahren sehr eng begleiten. Bei einem Gesetz Jahre rückabgewickelt. mit 13 Paragrafen, Frau Staatssekretärin, in denen neun Aber das hier ist die eine große Ausnahme. Verordnungsermächtigungen enthalten sind, sollten wir (B) im Verfahren schon ganz genau darauf achten, was wir (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (D) tun. Es darf nicht damit abgetan sein, dass ich statt der CDU/CSU) vier Zettel, die ich jedes Jahr loche und weghefte, dann Es ist wirklich eine sinnvolle Reform in der Rentenpoli- noch einen fünften Zettel loche und weghefte, auf dem tik, endlich zu einer Digitalen Renteninformation zu dann alles noch mal steht. Wir brauchen im Jahr 2020 und kommen. Gut, dass bei diesem Thema endlich etwas pas- dann im Jahr 2023, wenn wir das System live stellen, ein siert. Andere Länder – Dänemark, Schweden, die Nieder- System ohne Medienbruch. Wir brauchen ein System, das lande, Australien – machen uns das seit vielen Jahren vor, es dem Nutzer erlaubt, diese Daten digital weiter- und es ist gut, dass sich in Deutschland jetzt endlich etwas zuverarbeiten, also ein System, wo ich meinen Bankbe- bewegt. Wir haben das unter der Überschrift „Digitales rater, meinen Rentenbearbeiter, meinen Rentenberater Altersvorsorgekonto“ lange gefordert. mit einbinden und ihm auch die digitalen Daten zur Ver- fügung stellen kann. So kann man einen echten Mehrwert Ich bin Ihnen wirklich dankbar, weil ich glaube, dass für die Menschen schaffen, und nur dann ist dieses Sys- das keine nette Spielerei, kein Gimmick ist, sondern dass tem zukunftsfähig. Das müssen wir gemeinsam errei- das ein echter Gamechanger sein kann. Das sieht man im chen. Vergleich zu Dänemark: Fünf Jahre nach Einführung der dortigen Renteninformation wird das von über der Hälfte Das System muss zudem administrierbar sein. Die der Bevölkerung regelmäßig genutzt. Über die Hälfte der Deutsche Rentenversicherung ist ein professioneller und Bevölkerung in Deutschland kann repräsentativen Um- glaubwürdiger Partner, der mit diesen sensiblen Daten fragen zufolge gar nicht sagen, wie viel Geld sie im Alter umgehen und die Komplexität der Zusammenführung zu erwarten haben. Dies zu ändern, ist wirklich sinnvoll, sicherstellen kann. und ich bin dankbar, dass Sie das auf den Weg bringen. Wir müssen Wert darauf legen, dass wir die Gremien, Aber: Schaut man sich diesen Gesetzentwurf genauer die wir im Gesetz beschreiben – die Steuerungsgremien, an, muss man sagen: Na ja, der große Wurf ist das noch die Fachbeiräte – nicht überborden. Es müssen vielmehr nicht. – Erstens, liebe Kolleginnen und Kollegen von der kleine, schnelle, agile Einheiten sein; denn der Zeitplan Koalition, ziehen Sie sich ohne Not Datenschutzdebatten bis 2023 mit dem vorgestellten Budget ist sehr ambitio- und Datenschutzbedenken an. Warum konzentrieren Sie niert. Ich kann den Kollegen von der Rentenversicherung sich nicht wie die erfolgreichen internationalen Beispiele bei diesem Vorhaben nur viel Erfolg wünschen. Es wird auf die dezentrale Lösung? Warum schaffen Sie über- nicht einfach. Im Ergebnis haben wir aber mehr Transpa- haupt die Möglichkeit der Datenspeicherung? Ich halte renz, und das wird dazu führen, dass man seine eigene das für einen Fehler. Rentenplanung und potenzielle Versorgungslücken früh erkennen und abstellen kann. (Beifall bei der FDP) 23488 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Johannes Vogel (Olpe) (A) Zweitens. Was in Ihrer Zielsetzung fehlt, ist das kleine werden. Die Linke fordert darum, die milliardenschwere (C) Wörtchen „alle“; denn nur, wenn die Bürgerinnen und Riester-Förderung durch die Steuerzahlenden einzustel- Bürger wirklich alle ihre Alterseinkünfte in der Digitalen len. Renteninformation sehen können, bringt sie wirklich (Beifall bei der LINKEN) etwas. Sie digitalisieren aber nur die Informationen, die heute sowieso schon in Papierform zugestellt werden Ich fordere Sie, verehrte Frau Staatssekretärin Griese, die müssen. Rente ist aber mehr als gesetzliche Rente und gesamte Bundesregierung und alle demokratischen Frak- Versicherungen. Das bedeutet: In Ihrem Entwurf gibt es tionen dieses Hauses auf: Lassen Sie uns stattdessen ge- keine Versorgungswerke, keine Beamten, keine betrieb- meinsam dafür sorgen, dass die gesetzliche Rente endlich lichen Pensionszusagen, gar keine Aktien- und Fonds- wirksam vor Armut schützen und wieder den einmal in sparpläne. Das ist etwas wenig, liebe Kolleginnen und einem langen Erwerbsleben hart erarbeiteten Lebensstan- Kollegen, und das muss noch besser werden! dard sichern möge. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Meine Damen und Herren, Die Linke will eine GRÜNEN) Erwerbstätigenversicherung einführen. Dazu müssen Ansonsten entsteht ein doppeltes Problem: Zum einen alle Erwerbstätigen, also auch Selbstständige, Beamtin- werden moderne Lebensläufe mit ihren Wechseln – zwi- nen und Beamte, Freiberuflerinnen und Freiberufler und schen Beamtentum und Anstellung oder in die Selbst- auch Bundestagsabgeordnete, endlich Pflichtbeiträge in ständigkeit und zurück – gar nicht abgedeckt. Zum ande- die gesetzliche Rentenversicherung zahlen. ren lassen Sie das Thema Aktien völlig außen vor. Ich (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Nee, das kommt sage Ihnen für die Freien Demokraten: Aktien müssen morgen dran, Herr Kollege! – Johannes Vogel auch in Deutschland eine größere Rolle in der Altersvor- [Olpe] [FDP]: Du hast die falsche Rede!) sorge spielen. Dazu morgen mehr. (Beifall bei der FDP) Wir sind, liebe Koalition, grundsätzlich dafür, eine – Ich finde auch, das ist einen Applaus wert! Wir kennen jährliche, säulenübergreifende Renteninformation für viele erfolgreiche Beispiele: in der Schweiz, in den Nie- alle Bürgerinnen und Bürger einzuführen. derlanden, in Schweden. Ganz viele unterschiedliche Länder mit erfolgreichen Rentensystemen haben viel (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias höhere Aktienanteile als wir. Der Verbraucherzentrale Zimmer [CDU/CSU]: Mit Warnhinweisen!) Bundesverband fordert das übrigens auch. Internationale Im Übrigen befürchte ich ein böses Erwachen, wenn (B) (D) Beispiele wie Dänemark machen uns vor, dass man so die Menschen verstehen werden, von wie wenig Geld sie etwas in eine solche Renteninformation einziehen kann. im Alter leben sollen, trotz Riester-Rente, trotz Entgel- Sie springen einfach zu kurz, wenn Sie es nicht einmal tumwandlung und Ähnlichem. Viele Menschen über- versuchen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koa- schätzen regelmäßig die Leistungsfähigkeit der kapital- lition. Das sollte im weiteren Gesetzgebungsverfahren gedeckten Alterssicherung um Längen, und gleichzeitig wirklich noch besser werden. unterschätzen sie prinzipiell die vorhandene Leistungs- Was wir wollen, das ist doch ein moderner, digitaler fähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung drama- Staat, und dazu gehört eine wirklich umfassende digitale tisch. Kein Wunder; denn Riester-Verträge sind sehr häu- Rentenversicherung. Dann kann das ein echter Gamec- fig komplett intransparent und die Verwaltungskosten hanger in der Altersvorsorge werden. Ich wünsche mir, unverschämt hoch. dass Sie hier im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist noch mutiger werden. wahr!) Vielen Dank. Ihre Behauptung, die Riester-Rente würde die 20-pro- (Beifall bei der FDP) zentige Kürzung der gesetzlichen Renten in den vergan- genen Jahren ausgleichen, ist falsch. Diese Lebenslüge schwarz-rot-grüner Rentenpolitik wird durch die Digitale Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Rentenübersicht offenkundig werden, und das finden wir Vielen Dank, Kollege Vogel. – Für die Fraktion Die Linken gut. Linke hat das Wort der Kollege Matthias W. Birkwald. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Herr Birkwald will die digitale Im Unterschied zu den meisten kapitalgedeckten Pro- Rentenversicherung light! Der rechnet das für dukten sichert die gesetzliche Rente nicht nur eine ver- jeden gleich aus! – Johannes Vogel [Olpe] lässliche Vorsorge fürs Alter, sondern sie sichert bei- [FDP]: Der hat eben geklatscht bei mir! Ich spielsweise auch chronisch Kranke ab. Das alles würde war ganz überrascht!) eine gute und schonungslos ehrliche Renteninformation klarstellen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist dazu ein allererster Schritt, immerhin. Aber es fehlen klare gesetz- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): liche Vorgaben für die Ausgestaltung im Interesse der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Versicherten. ren! Die Riester-Rente ist gescheitert. Mit ihr kann die in die gesetzliche Rente gerissene Lücke nicht geschlossen (Otto Fricke [FDP]: Ja, warum wohl?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23489

Matthias W. Birkwald (A) Mein Hauptkritikpunkt: Eine Vergleichbarkeit der ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) schiedenen Ansprüche aus gesetzlichen, betrieblichen Wir unterstützen Sie, wenn Sie das Ehrenamt stärken und privaten Renten ist gar nicht erst vorgesehen. Als und die Transparenz erhöhen wollen. Wir unterstützen Maßstab sollen nur die bisherigen Standmitteilungen gel - Sie im Übrigen auch – im Gegensatz zur AfD – bei der ten. Das, meine Damen und Herren, ist so unambitioniert, Einführung einer Geschlechterquote. da können Sie es auch gleich sein lassen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Millionen künftiger Menschen im Ruhestand Denn wenn die Vorschlagslisten bei der Wahl der Selbst- benötigen dringend eine einheitliche Berechnungsgrund- verwaltungsorgane dazu führen, dass unter den Vertreter- lage für ihre zu erwartenden Rentenleistungen und eine innen und Vertretern nur 23 Prozent Frauen sind, dann ist transparente Darstellung. Beides fehlt, und das ist das ein Riesenproblem. schlecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der LINKEN) Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist ein Wahl- ergebnis! Aber da haben Sie ja Probleme, das Liebe Bundesregierung, die Beamtenversorgung und zu akzeptieren!) die berufsständischen Versorgungswerke wollen Sie in Ihre Übersicht gar nicht aufnehmen. Die sollen komplett Allerdings sind die Sozialwahlen in vielen Fällen gar außen vor bleiben. Da kann ich nur mit dem Kopf keine echten Wahlen, sondern sogenannte Wahlen ohne schütteln, und meine Fraktion schüttelt mit, nicht? Wahlvorgang. Wenn nämlich nur so viele Kandidatinnen und Kandidaten auf den Listen stehen, wie Plätze zu ver- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und geben sind, gelten diese automatisch als gewählt. Das der FDP) wird beschönigend „Friedenswahl“ genannt. Ich glaube, Weder die Risiken des Aktienmarktes noch die völlig die geringe Beteiligung an den Sozialwahlen hängt unter überzogenen Verwaltungskosten der Riester-Produkte anderem auch damit zusammen, dass es beim Zugang zu werden in der Rentenübersicht auftauchen. Sozialwahlen noch erhebliche Mängel gibt, die abgestellt Eine Kritik allerdings wiegt – ich komme zum Schluss, werden sollten. Herr Präsident – am schwersten. Dazu zitiere ich zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ende die VdK-Präsidentin Verena Bentele: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Fünf Prozent der Bevölkerung sind offline. Sie Das führt sogar so weit, dass die aktuelle Bundesbe- haben nichts von einem Portal im Internet. Neben auftragte für die Durchführung der Sozialwahlen, unsere (B) der digitalen Rentenübersicht muss es auch eine frühere Kollegin von der CDU, Rita Pawelski, mit einer (D) analoge Übersicht geben. … bemerkenswerten Forderung an die Öffentlichkeit gegan- (Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: gen ist. Sie plädiert dafür, die Sozialwahlen umzubenen- Oh nein!) nen, nämlich in „Benennung durch die Listenträger“, und zwar aus Respekt vor der Institution der Wahl. Das sollte Schweden ist ein gutes Vorbild. Dort gibt es auch ein uns in der Tat zu denken geben. digitales Rentenportal. Zusätzlich wird jährlich auch eine übergreifende Renteninformation automatisch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN per Post allen Versicherten zugesandt. Daran sollten sowie des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU] – wir uns orientieren. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Vor allem der Union!) Hören Sie auf die VdK-Präsidentin! Sie hat recht. Es gibt auch in anderen Einzelfällen – da will ich einen Ich danke Ihnen. besonderen herausgreifen, den ich wirklich nicht in Ord- (Beifall bei der LINKEN) nung finde und wo ich hoffe, dass wir wirklich zu einer konstruktiven Änderung kommen – ein Problem, zum Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Beispiel bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Vielen Dank, Kollege Matthias W. Birkwald. – Der Forsten und Gartenbau. Dieser Sozialversicherungszweig nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der Kolle- hat – leider mit Erfolg – durch verschiedene dubiose ge Markus Kurth. Tricksereien und Rechtsauslegungen verhindert, dass die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das ist die Vereinigung der Ökolandwirte – an den Sozial- wahlen teilnehmen konnte. Die haben nämlich Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 314 000 Saisonbeschäftigte, die weniger als ein halbes Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Jahr in Deutschland arbeiten, einfach als Beschäftigte ne Damen und Herren! Die Sozialwahlen sind ein wichti- gezählt, und auf der Basis der Beschäftigtenzahlen wird ges Instrument zur Stärkung einer Besonderheit in unse- das Mindestquorum, das man an Unterschriften beibrin- rer Sozialversicherung, die viel stärker zur Vitalisierung gen muss, um überhaupt an einer Wahl teilnehmen zu und Demokratisierung der Sozialversicherung genutzt können, festgestellt. Damit und durch noch ein paar ande- werden kann. Das ist ganz entscheidend. Wir begrüßen, re Tricks, die ich jetzt aus Zeitgründen nicht nennen kann, dass die Bundesregierung in diesem Gesetzentwurf haben sie die einfach rausgekickt und vom Wahlvorgang zumindest einige Schritte unternimmt, um die Sozialwah- entfernt. Durch so was schwächt man natürlich eine len zu stärken und zu verbessern. Sozialwahl. 23490 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Markus Kurth (A) Der Vorsitzende des Bundeswahlausschusses hat den rungssystem erreicht werden; denn schließlich handelt es (C) Gesetzgeber auch schon 2017 nach Beschwerden und sich um ein System, welches Pflicht ist und welches Bei- Klagen der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirt- träge von Versicherten sowie von Arbeitgebern einfor- schaft aufgerufen, diese Regelung für die Sozialversiche- dert. Die Versicherten müssen aber auch wissen und kon- rung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau zu än- trollieren können, was Selbstverwaltung eigentlich heißt dern. Ich meine, wir brauchen in der Selbstverwaltung und welche Verantwortung ihre gewählten Vertreter tra- auch die Vertretung von Landwirten, die das Klima schüt- gen. zen, die Artenvielfalt bewahren und das Tierwohl achten. Wir brauchen Aufklärung, Transparenz und auch Vielen Dank. etwas mehr Dynamik bei den Sozialwahlen; denn Demo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kratie braucht Teilnehmer, aktive Wähler wie aktive Inte- ressenvertreter. Ich könnte mir im Übrigen vorstellen, neben Gewerkschaften auch Sozialverbände mit eigenen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Listen zuzulassen; das wünscht sich im Übrigen auch Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. – Der nächste Frau Bentele. Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Michael Gerdes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN) Die Selbstverwaltung ist eine Bedingung für das solida- Michael Gerdes (SPD): rische Miteinander in Renten-, Kranken- und Unfallver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute sicherung. Sie vertritt die Interessen von Versicherten und zu beratende Gesetzentwurf enthält, wie bereits gehört, Arbeitgebern in gleichen Teilen. Diesen Ausgleich der drei Themenbereiche: die Einführung einer digitalen Interessen wollen wir insbesondere erhalten. Rentenübersicht, klare Kriterien für die Zulassung, Ver- gütung und Inanspruchnahme von Rehamaßnahmen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus dem sowie Maßnahmen zur Modernisierung der Sozialversi- Ruhrgebiet. Bei uns gibt es vor allem die Knappschafts- cherungswahlen. Ich kann nicht so schnell reden wie Frau ältesten. Sie sind für die Versicherten weit mehr als Griese; deshalb möchte ich mich auf die Sozialversiche- Rentenberater oder Sprachrohr im Kontakt mit der Ver- rungswahlen besonders konzentrieren, zumal ich glaube, sicherung. Unsere Knappschaftsältesten sind auch Kum- dass die angedachten Veränderungen nicht nur zeitge- merkasten oder Helfer in der Not. Unsere Nachbarschaf- mäß, sondern auch längst überfällig sind. ten profitieren von aktiven und ausreichend geschulten Selbstverwaltern. Sie sind eine Stütze des sozialen (B) (Beifall bei der SPD) Lebens. Deshalb sage ich an dieser Stelle einmal aus- (D) Der Selbstverwaltung der Sozialversicherungszweige drücklich Danke an alle, die sich regelmäßig zur Wahl hat eine lange Tradition. Damit es eine gute und akzep- stellen, die das Versicherungssystem mitgestalten und tierte Tradition bleibt, wollen wir für mehr Wahlbeteili- dazu beitragen, die manchmal komplizierten Verfahren gung und Transparenz sorgen. Das stärkt den vielen zu verstehen. Selbstverwaltungen in den Gremien den Rücken. Beson- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ders zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang die Ein- bei Abgeordneten der LINKEN und des führung einer Frauenquote, die wir im Gegensatz zur AfD BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für besonders notwendig halten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit der Modernisierung der Sozialwahl gehen wir den der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- richtigen Weg. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank und Glück auf! ebenso die Absenkung des Quorums für die Listenauf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stellung sowie der Anspruch auf die Fortbildung der der CDU/CSU) ehrenamtlichen Interessenvertreter . Im Frühjahr haben wir an gleicher Stelle bereits einen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: möglichen Baustein zu mehr Wahlbeteiligung beschlos- Vielen Dank, Kollege Gerdes. – Der letzte Redner zu sen: Bei den Sozialversicherungswahlen im Jahr 2023 diesem Tagesordnungspunkt macht sich auf den Weg, der soll modellhaft die Onlinestimmabgabe erprobt werden; Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU-Fraktion. auch das ist im Übrigen noch eine Forderung aus der letzten Legislatur. Hier geht es selbstverständlich nicht (Beifall bei der CDU/CSU) nur um ein Plus an abgegebenen Stimmen, wir tun auch etwas für die Barrierefreiheit. Thomas Heilmann (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, ist Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- die soziale Selbstverwaltung ein Teil der Verantwortung, gen! Liebes Publikum an den digitalen Endgeräten und herzlich willkommen Sie da oben, der als Einziger noch die die Sozialpartner in Deutschland für die Gestaltung der Sozialversicherung übernehmen. Formal geht es um zuschaut! die rechtliche Selbstständigkeit, die Mitwirkung der (Alois Karl [CDU/CSU]: Da oben sind noch Betroffenen und Gewährung von Entscheidungsbefug- zwei! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: nissen. So soll die Akzeptanz für unser Sozialversiche- Fast wegen Überfüllung geschlossen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23491

Thomas Heilmann (A) – Oh, Entschuldigung, es sind vier. Gegen das Licht ist Wir haben überlegt, ob wir es noch schärfer formulieren, (C) das nicht so gut zu erkennen. Insofern begrüße ich Sie sind aber angesichts der Urteile ein bisschen vorsichtig. natürlich alle einzeln! (Norbert Kleinwächter [AfD]: So weit ist die Zur Sache. Während mein Kollege Tobias Zech die Union schon gekommen!) anderen beiden Teile dieses Gesetzentwurfs behandelt hat, werde ich mich jetzt dem Thema Sozialwahlen wid- Von Herrn Kurth ist auch gesagt worden, dass wir Aus- men. Erfreulicherweise haben wir ein derartiges Maß an wahl brauchen; denn wir wollen Urwahlen. Es gibt nur 10 Übereinstimmung, dass man sich fragt, warum wir von 143; das sind keine Wahlen. Das ist natürlich auch im eigentlich so lange für die Modernisierung gebraucht Hinblick auf das Thema Onlinewahlen wichtig. Deswe- haben. Ich bin erst in dieser Legislaturperiode in den gen finden wir es richtig, dass der Vorschlag des BMAS Deutschen Bundestag gekommen und jetzt Berichterstat- vorsieht, dass die Unterschriftenlisten kleiner werden und ter für dieses Thema. Es wurde mir als extrem strittig dass die Listenverbindungen erschwert werden. dargestellt; das hörte sich heute Gott sei Dank nicht so Es gibt noch ein Thema, mit dem wir noch nicht vol- an. Ich bin sicher, wir werden eine gute Ausschussbera- lends glücklich sind und das wir in den Ausschussbera- tung haben. tungen aus meiner Sicht behandeln müssen, das ist die Der wichtigste Teil der Modernisierung der Sozialwah- Frage der Namensgebung. Für diejenigen, die das Thema len liegt schon hinter uns, weil wir bei den Krankenkas- nicht kennen: Es gewinnen überwiegend die Listen, die sen Onlinewahlen zugelassen haben. Auch da gibt es so ähnlich heißen wie die Versicherung, die dahintersteht. Erfreuliches zu berichten: Das Gesetz ist fertig, die Das ist ein Wettbewerbsvorteil, und ich finde: Wenn es Rechtsverordnung liegt vor, die Satzungsänderungen eine solche Verzerrung gibt, die statistisch nicht mehr zu sind vollzogen, die Zertifizierung durch das BSI ist da. leugnen ist, dann müssen wir bei der Namensgebung Jetzt können die Krankenkassen an die Ausschreibungen irgendwie Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit gehen. Das ist eine gute Nachricht. Warum eigentlich? für die verschiedenen Listen schaffen. Daran müssen wir, glaube ich, noch einmal arbeiten. Dazu gibt es eine Rege- Erstens. Bei den Sozialwahlen bei den Krankenkassen lung im Gesetz; aber ich glaube, sie führt uns noch nicht gibt es 22 Millionen Wahlberechtigte. Das ist eine große wirklich zum Ziel. Menge. Wir als Gesellschaft lernen endlich, inwiefern Onlinewahlen sicher sind, wie wir die Menschen authen- Ich freue mich auf die Ausschussberatungen, die tifizieren und – das ist ganz besonders wichtig – wie wir Union wird sie selbstverständlich konstruktiv begleiten. die Geheimhaltung der Wahl aufrechterhalten, damit kein Vielen Dank. Hacker feststellen kann, wie jemand gewählt hat, und wie (B) manipulationssicher die Wahl ist. Diese Erfahrungen (Beifall bei der CDU/CSU) (D) brauchen wir dringend. Ich hätte mir eigentlich ge- wünscht, dass wir das schon für die letzten Sozialwahlen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: erreichen; aber nun erreichen wir das wenigstens für die Vielen Dank, Thomas Heilmann. – Ich schließe die nächsten Wahlen. Gerade in der gegenwärtigen Corona- Aussprache zu Tagesordnungspunkt 21. pandemie wäre ich froh, wir hätten ein erprobtes System, das wir jetzt auf andere Dinge ausweiten können. Jetzt Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs lernen wir es. Man kann das Erlernte dann auch für ande- auf Drucksache 19/23550 an die in der Tagesordnung re Dinge anwenden. Wenn wir dann 2023 wissen, wie es aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere geht, dann brauchen wir es hoffentlich nie wieder für Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann irgendeine Pandemie. verfahren wir wie vorgeschlagen. Es gibt noch ein paar weitere Themen, die andere Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: schon angesprochen haben. Was ist der Union wichtig? Beratung der Beschlussempfehlung und des Wir wollen, dass Frauen besser repräsentiert sind; das Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- haben wir mehrfach beschlossen. schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Schauen Sie Boehringer, Marcus Bühl, Martin Hohmann, wei- mal in Ihre Fraktion!) terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Aber zuerst zu Ihnen, Frau Schielke-Ziesing. Ich verstehe Antrag auf abstrakte Normenkontrolle beim Ihren Angriff gar nicht. Während es in Thüringen und Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 93 Brandenburg verpflichtende Frauenquoten gibt, steht Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes wegen jetzt im Gesetzentwurf – wohlweislich resultierend aus des Gesetzes über die Feststellung eines Zwei- den Rechtsproblemen – eine verschärfte Sollvorschrift. ten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für Dass diese nun nach dem Urteil rechtlich nicht möglich das Haushaltsjahr 2020 (Zweites Nachtrags- sein soll, erscheint mir in Ihrer Argumentation ziemlich haushaltsgesetz 2020) absurd. Drucksachen 19/22926, 19/23798 (Ulrike Schielke-Ziesing [AfD]: Das können Beschlossen ist eine Aussprache von 30 Minuten. – Ich wir klären!) sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir tragen das jedenfalls selbstverständlich mit. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der SPD die Kollegin Esther Dilcher. 23492 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trächtigen, mit einem Beschluss des Bundestages die (C) der CDU/CSU) Kreditobergrenze zu überschreiten, also die sogenannte Schuldenbremse auszusetzen. Dabei kommt dem Gesetz- Esther Dilcher (SPD): geber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Außerdem muss die Kreditaufnahme nach Ausmaß und und Kollegen! Zweck dazu bestimmt und geeignet sein, die Notsituation zu beseitigen. Die Pandemie rechtfertigt aus Sicht der Seit März 2020 befinden wir uns in einer Ausnahmesitua- SPD-Bundestagsfraktion und auch aus Sicht des Koali- tion. tionspartners die Feststellung einer Notsituation und ist Das Schreckgespenst heißt ausnahmsweise nicht nur daher ein Grund, die im Grundgesetz verankerte Schul- AfD, sondern auch Corona! denbremse auszusetzen. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Sehr witzig!) Deshalb haben wir in zwei Nachtragshaushalten Geld in die Hand genommen. Wir wollen zeitnah nach der Die Abgeordneten der AfD wollen mit ihrem Antrag Pandemie mindestens dort stehen, wo Deutschland als feststellen lassen, dass das Zweite Nachtragshaushaltsge- Wirtschaftsstandort mit ausgeprägten sozialen Struktu- setz 2020 das Grundgesetz und haushaltsrechtliche ren, mit attraktiven Arbeitsplätzen, mit gleichwertigen Grundsätze verletze und dieser Nachtragshaushalt daher Lebensverhältnissen vor der Pandemie gestanden hat. verfassungswidrig sei. Und wir wollen langfristig durch die Pandemie nicht (Norbert Kleinwächter [AfD]: Genau das ist unsere Ziele in den Bereichen der Digitalisierung, des er!) Klimawandels und der erneuerbaren Energien, der Mobi- lität, der Entlastung von Familien und der Handlungsfä- Genau diese Diskussion haben wir bereits in der 170. Sit- higkeit der Kommunen, unsere Wettbewerbsfähigkeit zung des Deutschen Bundestages am 2. Juli 2020 aus- und ein starkes Europa aus dem Blick verlieren oder führlich geführt mit dem Ergebnis, dass wir diesen Nach- auch nur gefährden. tragshaushalt verabschiedet haben, und das ist auch gut so. Und jetzt kommt die AfD um die Ecke, die sich immer zum Hüter der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, zum (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vertreter der braven Bürgerinnen und Bürger erklärt, und Die Hilfen greifen zwischenzeitlich, und diese Tatsa- stellt diese Maßnahmen infrage. Sie stellt damit aber auch che sollte man im Auge behalten. Wir und insbesondere infrage, dass die Betroffenen finanzielle Hilfen erhalten unser Finanzminister Olaf Scholz haben in diesen letzten haben. Sie haben mit Ihrer konsequenten Verweigerungs- Monaten sehr viel Zuspruch und Dank dafür erhalten, haltung gegenüber den AHA-Regeln unter anderem mit (B) (D) (Ulrike Schielke-Ziesing [AfD]: Ernsthaft?) dazu beigetragen, dass wir erneut drastische Maßnahmen hinnehmen müssen. wie schnell und unbürokratisch geholfen wurde und wir dieses Land durch eine der größten Gesundheits- und (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist ja nun Wirtschaftskrisen geführt haben. wirklich bodenlos, Frau Dilcher!) Einschneidende Maßnahmen in unserem gesellschaft- Menschen mit Ihrer Haltung haben zur Gefährdung der lichen, sozialen und wirtschaftlichen Leben haben dazu Mehrheit der Bevölkerung beigetragen! geführt, dass wir ein Zusammenbrechen unseres Gesund- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heitssystems und überdurchschnittlich viele Schwerkran- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ke und Tote verhindern konnten. Gestern wurden leider CDU/CSU) neue Maßnahmen beschlossen, die wir nicht verhindern Ich finde es empörend, dass der Haushaltsausschuss- konnten, vorsitzende, der wie wir alle Vorbildfunktion hat, am (Otto Fricke [FDP]: Oha! Das ist bemerkens- Wochenende an einer Großveranstaltung ohne Abstand, wert, wenn man das als Parlamentarier sagt!) ohne Maske teilnimmt oder sich mit einigen Kolleginnen da durch die Lockerungen in der Sommerpause das Infek- und Kollegen Ihrer Fraktion vor dem Banner der Links- tionsgeschehen wieder bedrohlich zugenommen hat. fraktion unter Verstoß gegen die Anordnung des Bundes- tagspräsidenten hier in diesem Haus ohne Mund-Nase- (Zuruf von der AfD: So ein Unfug!) Bedeckung und ohne Abstand fotogen in Szene setzt. Mir persönlich macht das Angst. In meiner Heimat- (Dennis Rohde [SPD]: Der sollte sich stadt haben sich in einer Dialysestation mehrere Patienten schämen!) angesteckt und sind dann an den Folgen der Coronainfek- tion verstorben. In diesen Zusammenhängen überhaupt Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des darüber nachzudenken, wie es teilweise aus Ihren Reihen anderen beginnt. kam, ob diese Patienten aufgrund ihrer chronischen Sie wollen unser Gesetz durch eine Normenkontroll- Erkrankungen eventuell in den nächsten Jahren sowieso klage beim Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen, gestorben wären, finde ich beschämend. wozu Sie ein Viertel der Stimmen des Deutschen Bundes- Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 Grundgesetz erlaubt dem tages brauchen. Verlassen Sie sich darauf: Die Stimmen Bund, bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen der Koalition bekommen Sie dafür nicht. Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates ent- (Norbert Kleinwächter [AfD]: Ja, das ist klar! ziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beein- Sie verklagen ja nicht sich selber!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23493

Esther Dilcher (A) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ranstrengungen bei bestehenden Ausgabeprogrammen: (C) Dutzende Milliarden Euro für die EU, Abermilliarden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für Klima, Weltbeglückung und Zuwanderung. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Die Schuldenaufnahme führt dazu, dass die Regierung Vizepräsidentin Claudia Roth: in keiner Weise mehr kostenbewusst wirtschaften muss. Vielen Dank, Kollegin Esther Dilcher. – Schönen Unter dem Vorwand von Corona hat man 2020 den mit guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Näch- Abstand größten Haushalt der bundesdeutschen Ge- ster Redner: für die AfD-Fraktion Peter Boehringer. schichte beschlossen, und das ohne jede Einsparung. Wenn aber eine durch eine Notsituation begründete (Beifall bei der AfD) Schuldenaufnahme zur Umsetzung von politischen Pro- grammen genutzt wird, welche ohnehin und unabhängig Peter Boehringer (AfD): von der Notsituation verfolgt werden sollten, so ist dies Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! einfach rechtsmissbräuchlich. Frau Dilcher, an einer Stelle haben Sie recht: Ich hatte in der Tat am 2. Juli hier bereits die Klage, die wir heute auf (Beifall bei der AfD) den Weg bringen wollen, bzw. den Antrag dazu ange- Drittens. Das Grundgesetz und die Haushaltsordnung kündigt. Wenn der zweite Nachtragshaushalt 2020 als verbieten es mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot und dem reiner Schuldenhaushalt verabschiedet werden sollte, Jährlichkeitsprinzip, Neuschulden aufzunehmen, die werden wir eine Initiative für eine Verfassungsklage auf nicht durch den aktuellen Ausgabebedarf veranlasst den Weg bringen – das waren meine Worte. Diesen An- sind. Genau dies ist aber im zweiten Nachtragshaushalt trag auf Normenkontrolle beim Verfassungsgericht 2020 geschehen: Herr Scholz wird die gewährten riesigen gemäß Artikel 93 Grundgesetz bringen wir nun heute Schuldenmittel 2020 gar nicht ausgeben können; es gibt ein, und wir laden verantwortungsbewusste Kollegen übrigens aktuelle Meldungen, die genau das bestätigen. anderer Fraktionen ein, die Klage mitzuzeichnen. Es war auch gar nie geplant, weil man das Geld für das Wahljahr 2021 vorhalten wollte. Man baut schuldenfi- (Beifall bei der AfD) nanziert sogar noch weitere Rücklagen auf. Ein überjähri- Im Einzelnen ist Folgendes verfassungsrechtlich ges Geldbunkern ist aber dummerweise verfassungswid- bedenklich: rig. Erstens. Die Regierung nahm im zweiten Nachtrags- (Beifall bei der AfD – Dennis Rohde [SPD]: (B) haushalt über 62 Milliarden Euro neue Schulden auf. Mit Wo steht das denn?) (D) der Asylrücklage verfügte der Bund aber über eine Kre- ditermächtigung, mit der er in der Lage gewesen wäre, Viertens. Eine gesundheitliche Notlage war im Juli auf Notsituationen zu reagieren. Diese Rücklage aufzulö- nicht gegeben. Die Sterberate liegt in Deutschland 2020 sen, bevor neue Schulden gemacht werden, wäre haus- bis heute nicht über dem langjährigen Durchschnitt. halts- und verfassungsrechtlich geboten gewesen. Doch (Esther Dilcher [SPD]: Aber warum denn der aktuelle Bundestag schränkte stattdessen ohne Not nicht?) die finanziellen und politischen Spielräume künftiger Und der Eintritt der wirtschaftlichen Not war im zweiten Bundestage ein. Nachtragshaushalt 2020 im Juli sicher nicht mehr der (Beifall bei der AfD – Dennis Rohde [SPD]: Kontrolle des Staates entzogen, wie es Artikel 115 Genau das Gegenteil ist richtig, und das wissen Grundgesetz verlangt. Ganz im Gegenteil hat erst die Sie! Genau das Gegenteil!) seit April anhaltende staatliche Überreaktion bereits bis Zwar sind viele Zahlungen wegen des seit April über- Juli die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte zogenen Regierungshandelns und der darum inzwischen herbeigeführt. Die Voraussetzung für die Inanspruchnah- depressiven Wirtschaftslage leider unabweisbar notwen- me der grundgesetzlichen Notsituation war darum im dig – auch da haben Sie recht, Frau Dilcher –, etwa die Haushalt 2020 nicht gegeben. Unterstützungszahlungen für Kurzarbeiter und Arbeits- Dann vielleicht noch ein Hinweis an die anderen Frak- lose sowie andere Hilfsprogramme für deutsche Unter- tionen. Unsere Einschätzung zur gesundheitlichen Lage nehmen und Bürger. Doch diese notwendigen Ausgaben steht nicht zentral in der Klageschrift. Das steht nicht für 2020 hätten aus Rücklagenmitteln bestritten werden zentral drin, sondern die anderen Punkte, die ich eben können. – Das ist der erste Hauptpunkt. aufgezählt habe. Wir laden Sie also ein, mitzuklagen, selbst wenn Sie diese Ansicht zur gesundheitlichen (Beifall bei der AfD) Lage nicht teilen sollten; denn es gibt haushalterische Zweitens. Viele der mit dem Nachtragshaushalt ein- Argumente. geleiteten Programme stehen gar nicht in Veranlas- sungszusammenhang mit der ins Feld geführten Corona- (Beifall bei der AfD) notlage. Das wäre aber natürlich auch rechtliche Ich erinnere an die Rede des Kollegen Dürr vom 2. Juli Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Ausnahme- hier im Bundestag, der sagte: Dieser Bundeshaushalt ver- Verschuldungsregel des Grundgesetzes gewesen. Coro- stößt gegen das Grundgesetz. – Herr Kubicki sagte erst nakreditgelder werden stattdessen für völlig krisenfrem- vor ein paar Tagen, nun müsse endlich das Parlament ins de Daueraufgaben verwendet. Wir sehen keinerlei Spa- Coronamanagement eingreifen. Nun, wir sind das Parla- 23494 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Peter Boehringer (A) ment. Und heute erst sagte derselbe Herr Kubicki dem ner-Demo hier in Berlin unterwegs, natürlich ohne Mas- (C) NDR, man müsse gegen die Maßnahmen klagen; das ke – frei nach dem Motto „Zeig mir dein Lächeln“ – und Zitat ist sieben Stunden alt. ohne Mindestabstand. (Otto Fricke [FDP]: Das sind aber die Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- heitsmaßnahmen! – Gegenruf des Abg. Dennis NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Rohde [SPD]: Er hat halt keine Ahnung!) ten der SPD – Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie sind Leugner des wahren Ausmaßes!) Genau dazu fordern wir die Mitglieder dieses Hauses heute mit unserem Antrag und der zugehörigen Klage- Aber interessanterweise hat auch Herr Kollege schrift auf. Boehringer vorgestern bei der Parlamentsärztin einen Coronatest gemacht. Verstehen Sie mich nicht falsch: (Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter Ich halte das für vollkommen richtig, Herr Boehringer, [AfD] – Otto Fricke [FDP]: Das sind aber die dass Sie diesen Test gemacht haben. Aber da lässt man Gesundheitsmaßnahmen!) sich auf etwas testen, dessen Existenz man doch im – Nein, es ging nicht um Gesundheitsmaßnahmen, es Grunde abstreitet. ging um die haushalterischen Maßnahmen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – (Otto Fricke [FDP]: Bei Herrn Kubicki? Nein!) Norbert Kleinwächter [AfD]: Die AfD streitet die Existenz von Corona nicht ab, Herr Körber! – Nein, okay. Sie haben recht. Es ist alles in Ordnung. Verbreiten Sie keine Fake News!) (Dennis Rohde [SPD]: Wer hat es denn be- Für Sie, Herr Boehringer – das sage ich ganz klar –, freue schlossen? Wir waren es!) ich mich aber, dass dieser Test negativ war. Ich wünsche Zur epidemischen Notlage wird morgen noch eine ähn- niemandem, krank zu werden, natürlich auch dann nicht, liche Klageeinladung an dieses Haus folgen. Unabhängig wenn er die Krankheit, an der er erkrankt, für ein von all dem fordere ich die Bundesregierung aus leider Ammenmärchen hält. Gleichwohl – das muss ich sagen – hochaktuellem Anlass erneut auf, die massiven Ein- ist Ihr Verhalten verantwortungslos. Ein Test am Dienstag schränkungen des gesellschaftlichen Lebens zu beenden kann keine Aussage über eine mögliche Infektion am und nur die kleine Risikogruppe zu schützen. Stoppen Sie Sonntag geben. den wirtschaftlich so extrem folgenreichen Lockdown! (Ulrike Schielke-Ziesing [AfD]: Kommen Sie Vielen Dank. zum Thema!) (B) (Beifall bei der AfD) (D) Vizepräsidentin Claudia Roth: Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung Vizepräsidentin Claudia Roth: vom Kollegen Kleinwächter? Danke schön, Herr Boehringer. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Körber. Carsten Körber (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Nein, ich würde gerne im Zusammenhang vortragen, Frau Präsidentin. – Mal angenommen, es stellt sich in ein Carsten Körber (CDU/CSU): paar Tagen heraus, dass Sie infiziert sind. Dann hatten Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und jetzt eine ganze Menge Möglichkeiten, viele Leute anzu- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heu- stecken. te Abend müssen wir uns wieder einmal mit einem An- (Martin Hohmann [AfD]: Es kann jeder von trag der AfD-Fraktion befassen, der einzig und allein uns infiziert sein!) darauf abzielt, der geneigten Klientel zu suggerieren, die AfD sei die einzige Kraft in diesem Land, die sich Und mal angenommen, Sie stecken mit Ihrem Verhalten um die wahren Interessen der Bürgerinnen und Bürger dann den kompletten Haushaltsausschuss in Quarantäne: kümmert. Was würde das denn für die weiteren Haushaltsberatun- gen bedeuten? (Zuruf von der AfD: Sie sagen es! – Dagmar Ziegler [SPD]: Haha!) (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverantwortlich! – Norbert Wer auch immer diesen Antrag zu Papier gebracht hat, Kleinwächter [AfD]: Herr Körber, ich selber der muss von einem wahren Furor getrieben gewesen hatte Corona, und das war überhaupt kein Pro- sein, beschäftigt sich der Antrag doch mit einer Thema- blem!) tik, die aus Sicht weiter Teile der AfD so überhaupt nicht existiert. Er beschäftigt sich mit der Coronapandemie und Wollen Sie ernsthaft dafür verantwortlich sein, dass wir dem zweiten Nachtragshaushalt, welchen wir deshalb dann den Haushalt für 2021 beschließen mussten. Es gibt keine gefährliche Pande- (Peter Boehringer [AfD]: Zur Klage!) mie, weiß man bei der AfD, und weiter: Das ist doch alles nur eine leichte Grippe. – Deshalb war auch erst am nicht weiter beraten können oder ihn nicht rechtzeitig Wochenende der haushaltspolitische Sprecher der AfD- beschließen können – mit all den damit verbundenen Fraktion, Herr Kollege Boehringer, bei einer Coronaleug- Folgen für das Land und für die Menschen? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23495

Carsten Körber (A) Aber jetzt zurück zum eigentlichen Antrag. Ich sehe Und was wünschen Sie sich da? Der Bundestag soll (C) hier meinen hochgeschätzten Kollegen Karl in der Run- begrüßen – so hätten Sie es gern –, dass Abgeordnete de, und ich denke an Ihre letzte Rede zu einem Antrag der nach Karlsruhe gehen und vom Verfassungsgericht ver- AfD-Fraktion. Jetzt bin ich leider kein Weißbiertrinker, langen, dass der zweite Nachtragshaushalt für verfas- und der Antrag, um den es hier heute geht, hat zum Glück sungswidrig erklärt wird. Angenommen, dieses Begrü- auch keine 211 Seiten. Aber manchmal – das sage ich ßen würde der Bundestag beschließen: Was sollte denn Ihnen – reicht schon eine Seite, um mindestens drei bitte die Rechtsfolge dessen sein? Weizen zu brauchen, um das zu verdauen. (Peter Boehringer [AfD]: 20 Seiten Klage- (Dennis Rohde [SPD]: Damit kommst du dann schrift!) nicht aus!) Jeder Abgeordnete hat doch auch ohne Ihren Antrag das Dieser Antrag ist schon etwas Besonderes. Seine For- Recht, zusammen mit einem Viertel seiner Kollegen ein mulierungen sind so vage, und die Begrifflichkeiten sind solches Normenkontrollverfahren in Gang zu setzen. so schwammig, dass sich auch der geneigte Leser irgend- Dafür braucht es kein Begrüßen des Hohen Hauses. wann fragen muss, wie viele Weizen der Verfasser da Ihr Antrag macht keinen Sinn. Deshalb lehnen wir wohl bereits intus hatte. diesen Antrag ab und folgen der Beschlussempfehlung (Norbert Kleinwächter [AfD]: Ja, wenn Sie so des Haushaltsausschusses. viele Weizen trinken, dann verstehen Sie wahr- Vielen Dank. scheinlich gar nicht mehr, was wir formuliert haben!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was meinen Sie denn mit der Bildung einer kreditfinan- zierten Rücklage? Wenn es um die Zuführung zur EKF- Vizepräsidentin Claudia Roth: Rücklage geht, dann sagen Sie das doch und schreiben das direkt klar in den eigentlichen Antrag. Vielen Dank, Carsten Körber. – Moment, Herr Fricke. (Otto Fricke [FDP]: Ich bleibe hier stehen!) (Peter Boehringer [AfD]: Das steht hier!) – Gut. Die Hose haben Sie schon gerichtet. Wenn Sie beschlossene Maßnahmen des Coronapaketes als sachfremd kritisieren, dann benennen Sie diese doch (Otto Fricke [FDP]: Ich wollte Ihnen nicht die ganz klar in Ihrem Antrag. Kniestrümpfe zumuten!) Gestern haben Sie dazu immerhin noch einen Ände- Nächster Redner: für die FDP Otto Fricke. (B) rungsantrag vorgelegt – wohlgemerkt: einen Änderungs- (Beifall bei der FDP) (D) antrag zu Ihrem ureigenen Antrag; alleine das ist schon bemerkenswert. Otto Fricke (FDP): (Otto Fricke [FDP]: Ja, das macht ihr ja regel- Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Ich wollte Ihnen mäßig bei Gesetzentwürfen! Das macht ihr nicht die Kniestrümpfe zumuten. doch bei euren eigenen Gesetzentwürfen jeden Tag!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Aber damit nicht genug: Diesen Änderungsantrag haben Die sind aber gar nicht so schlecht. Die Farbe ist cool. Sie gestern dann auch gleich wieder zurückgezogen. – So geht verantwortungsvolle und stringente Parlamentsar- beit. Bravo! Otto Fricke (FDP): Demokratie lebt vom Diskurs, von der Gewaltentei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lung und von der Frage, wie wir uns hier miteinander Aber am interessantesten – ich hätte beinahe gesagt: auseinandersetzen. In manchen Fällen tragen wir es am schönsten – finde ich den zweiten Teil Ihres Antrages, auch zur anderen Gewalt, um die Fragen zu lösen, von den Teil, in dem normalerweise ein Auftrag formuliert denen wir glauben, dass sie nur vom Verfassungsgericht wird, in dem der Bundestag als Gesetzgeber zum Beispiel gelöst werden können. der Bundesregierung etwas aufträgt. Aber da wollen Sie (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: doch tatsächlich, dass der Bundestag keine rechtliche Aber mit dem Bundestag!) Entscheidung trifft. Nein, viel schöner: Wir sollen etwas Der zweite Nachtragshaushalt ist aus Sicht meiner begrüßen. Fraktion ein wirklich zweifelhafter Haushalt. Er beinhal- (Peter Boehringer [AfD]: Das soll überprüft tet manche Punkte, an denen man hinsichtlich der Ver- werden! Wie das in Karlsruhe halt so ist!) fassungsgemäßheit durchaus Zweifel haben kann. Ich Laut Duden bedeutet das Verb „begrüßen“ in dem von halte für meine Fraktion, die dem ersten Nachtragshaus- Ihnen verwendeten Zusammenhang: etwas positiv halt und der damaligen Feststellung der Notsituation bewerten, etwas freudig zur Kenntnis nehmen, gutheißen. zugestimmt hat, noch mal fest, dass wir das beim zweiten Nachtragshaushalt nicht mehr konnten. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und dem Denn wir sind erstens der Meinung, er hätte nicht die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen Umfang haben müssen. Man hätte zweitens die Asyl- Also, der Bundestag soll irgendwas toll finden. rücklage endlich auflösen müssen. Man hätte drittens 23496 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Otto Fricke (A) mehr bei Soloselbstständigen tun müssen; die Regierung (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die (C) sieht das inzwischen auch ein und versucht, einen Titel Großzügigkeit der FDP! 15 Sekunden immer- dieses Nachtragshaushaltes jetzt noch irgendwie umzu- hin!) formulieren. – Es waren elf. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber nichts mit dem Nachtragshaushalt (Heiterkeit – Florian Oßner [CDU/CSU]: Das an sich zu tun!) gibt einen Eintrag ins Geschichtsbuch!) Man hätte viertens nicht an die Mehrwertsteuer heran- Herzlichen Dank. – Nächste Rednerin: für die Fraktion gehen müssen, sondern es mit einer negativen Gewinn- Die Linke Dr. Gesine Lötzsch. steuer machen müssen. Man hätte vieles andere mehr (Beifall bei der LINKEN) berücksichtigen müssen bei der Frage eines Nachtrags- haushalts. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Aber dem, was die AfD jetzt möchte, nämlich diese Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Frage nach Karlsruhe zu tragen, kann meine Fraktion Damen und Herren! Im Bundestag nimmt die Zahl der nicht folgen. Ich will das auch ganz ruhig und sachlich fundamentalistischen Anhänger der Schuldenbremse ab, und nüchtern begründen und das ist gut so. Selbst neoliberale Ökonomen, die die (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schuldenbremse gefordert haben, distanzieren sich Grundsatzfrage der FDP, wie Sie sich aufstel- zunehmend von diesem völlig untauglichen und len!) schädlichen Instrument. Wer sich heute noch an die Schuldenbremse klammert, der hat keine ökonomischen oder Ihnen ganz einfach empfehlen: Schauen Sie sich mal Argumente, sondern nur ideologische. Das ist die Wahr- eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus heit! dem Jahre 1989 an. (Beifall bei der LINKEN) Damals hat die CDU gegen einen Haushalt aus dem Jahre 1981 wegen Verfassungswidrigkeit geklagt. Sie hat Wir haben ja alle gesehen: Die Schuldenbremse ist gesagt: An der Stelle ist eine Störung des gesamtwirt- gleichzeitig eine Investitionsbremse geworden. Der schaftlichen Gleichgewichtes angenommen worden, da- Investitionsstau ist für viele Menschen sichtbar und fass- mit die Regierung damals mehr Kredite aufnehmen konn- bar. Man muss nur an die vielen Eisenbahnbrücken den- te – hört sich sehr interessant an –, mit der Feststellung ken, die in einem so desolaten Zustand sind, dass sie (B) einer Notsituation. Das Bundesverfassungsgericht hat gesperrt werden mussten. (D) dann in seiner Klugheit etwas wirklich Wunderbares klar- gemacht: Es ist keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch Wie kam es dazu? Die Bundesregierung wollte sparen, den Gesetzgeber vorzunehmen. Wir sind keine Verwal- koste es, was es wolle, und aus dem Investitionsstau ist tungsbehörde. nun eine strukturelle Investitionskrise geworden. Investi- tionsprogramme werden beschlossen, doch das Geld Und so sehr, wie ich mit meiner Fraktion der Meinung fließt nicht richtig ab, weil in vielen Ämtern nicht mehr bin, dass es eine falsche Entscheidung war, die beim das Personal vorhanden ist, das die entsprechenden zweiten Nachtragshaushalt getroffen wurde, billige ich Investitionsentscheidungen umsetzen kann. Darum brau- der Mehrheit in der Demokratie den vom Verfassungsge- chen wir jetzt wirkliche Zukunftsinvestitionen in Bil- richt festgestellten Beurteilungsspielraum ausdrücklich dung, Gesundheit, Umwelt und soziale Sicherheit. Das zu. Der Diskurs über die Frage, was das bessere Gesetz wäre der richtige Weg. ist, was die bessere Lösung ist und wie wir darum strei- ten, findet hier in diesem Plenum statt und nicht im (Beifall bei der LINKEN) Forum in Karlsruhe. Die Antragsteller von der rechten Seite des Hauses (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leugnen die Pandemie und die wirtschaftliche Notlage. der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Stellen wir uns mal eine Sekunde vor, es würde Ihnen SES 90/DIE GRÜNEN) gelingen, die Bundesverfassungsrichter von Ihrer Auffas- sung zu überzeugen. Was würde das bedeuten? Wir Das ist unsere Position als Rechtsstaatspartei, und das wären nicht mehr in der Lage, den Menschen zu helfen, wird auch immer unsere Position bleiben. die unter der Pandemie leiden, Meine Damen und Herren, zum Schluss habe ich (Peter Boehringer [AfD]: Lesen Sie den An- eigentlich noch 15 Sekunden. Aber das sollte man am trag!) Abend selbst als Haushälter manchmal verschenken. und genau das – das ist das Schlimme bei Ihnen – ist Ihr Herzlichen Dank. Ziel. Ihr Ansatz ist doch: Nur wenn es den Menschen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schlecht geht, geht es Ihrer Partei gut. Das ist zynisch der CDU/CSU) und menschenverachtend. Das werden wir niemals hin- nehmen, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vielen Dank! Danke, Otto Fricke. Dennis Rohde [SPD]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23497

Dr. Gesine Lötzsch (A) Aber ich verkenne nicht, dass es auch in anderen Frak- Aber wir haben nicht gesagt, dass dieser Nachtrag zum (C) tionen Marktradikale gibt, die lieber heute als morgen die Haushalt verfassungswidrig ist. Man kann Kritik üben, Schuldenbremse wieder in Kraft setzen wollen. Davor man kann zu anderen Abstimmungsergebnissen kom- können wir als Linke nur warnen. men. Aber er ist nicht verfassungswidrig; denn die Inan- spruchnahme der Ausnahmeregel nach Artikel 115 (Beifall bei der LINKEN) Absatz 2 Satz 6 des Grundgesetzes erfordert, dass eine Denn gerade die Pandemie hat gezeigt, dass der Kapita- außergewöhnliche Notsituation vorliegen muss, die sich lismus eben nicht in der Lage war, schnell und effizient der Kontrolle des Staates entzieht und zu einer erhebli- auf die Pandemie zu reagieren. chen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage führt. – Das ist die Formulierung aus dem Grundgesetz. (Otto Fricke [FDP]: Nein, aber der Sozialis- mus, der war es, in Venezuela? – Gegenruf Niemand hier im Haus kann doch ernsthaft bestreiten, des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: dass der Fall einer schweren, weltweiten Pandemie, die Das eine hat mit dem anderen erst mal nichts zu sich auch in Deutschland massiv auswirkt, zu einer ganz tun, Herr Fricke!) schweren Notlage des Staates und der Finanzlage geführt Wer keine Vorratswirtschaft betrieb, der stand in der Kri- hat. Das hat extreme Auswirkungen auf die Wirtschaft, se zu Anfang und lange Zeit ohne Maske und ohne aus- auf Unternehmen, auf Beschäftigte, auf die Bevölkerung, reichende Schutzausrüstung da. insbesondere auf das Gesundheitssystem, das wir in die- sen Zeiten auch wieder extrem schützen müssen. Die Mehrheit in unserem Land hat erkannt, dass Soli- darität in der jetzigen Situation unverzichtbar ist. Nur die AfD leugnet das. Warum leugnet sie das? Weil Sie eine Partei der Coronaleugner sind. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb müssen wir vor der Bundestagswahl klären, wer Man sieht in den USA, was passiert, wenn rechtsradi- eigentlich die Krisenrechnung bezahlen soll; denn der kale Coronaleugner regieren: Dann gibt es Hunderttau- Tilgungsplan, den SPD und Union beschlossen haben, sende Tote, massives Chaos, die Wirtschaft geht nach wird, wenn er so umgesetzt wird, zu wirklich massiven unten und Intensivstationen kollabieren. Das wollen wir sozialen Spannungen führen. nicht in Deutschland. Es ist gut, dass das hier in Deutsch- land nicht passiert ist. Wir als Linke fordern darum eine Vermögensabgabe für die Superreichen. Das ist nach unserem Grundgesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möglich. Das wäre ökonomisch sinnvoll und sozial sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und gerecht. Das müssen wir umsetzen. (B) der SPD) (D) Vielen Dank. Die Annahme, dass dieser zweite Nachtragshaushalt (Beifall bei der LINKEN) gegen die Verfassung verstößt, ist einfach nicht zutref- fend; das ist einfach falsch. Es gibt im Grundgesetz keine Vizepräsidentin Claudia Roth: Regel, die sagt, wie hoch die Inanspruchnahme der Kre- Vielen Dank, Dr. Gesine Lötzsch. – Nächster Redner: ditaufnahme ist. Es gibt auch im Ausführungsgesetz kei- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sven-Christian ne maximale Obergrenze für die Aufnahme der Kredite. Kindler. Es gibt auch keine Vorgaben für die Aufnahme von Rück- lagen und dazu, wie sie zu beachten sind oder ob sie nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufzufüllen sind.

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Otto Fricke und andere Kolleginnen und Kollegen, NEN): auch Esther Dilcher, haben es gesagt: Der Haushaltsge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- setzgeber hat bei seinen Maßnahmen einen breiten Ein- ren! Auch wir Grünen haben Kritik am zweiten Nach- schätzungs- und Beurteilungsspielraum. Natürlich muss tragshaushalt geübt, so wie das im normalen parlamenta- das nachvollziehbar sein, und es muss erklärbar sein; das rischen Verfahren auch üblich ist, und wir haben dem ist richtig. Aus unserer Sicht ist es das auch. Man kann zweiten Nachtragshaushalt auch nicht zugestimmt, weil sehr gut begründen, warum bestimmte Ausgaben zur Be- wir gesagt haben: Es fehlt ein befristeter Krisenaufschlag wältigung dieser Pandemie notwendig sind, auch be- für ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger, es fehlt stimmte Investitionen, die die wirtschaftliche Misere eine Unterstützung für Soloselbstständige, die auch ihren abfedern. Das ist alles begründbar und nachvollziehbar. Unternehmerlohn ansetzen können, es fehlen gezielte Auch wir haben diesen Nachtragshaushalt in Teilen Hilfsmittel für die Veranstaltungswirtschaft. Gerade jetzt kritisiert; Teile haben wir auch richtig gefunden. Aber sehen wir ja, dass es extrem notwendig gewesen wäre. wir haben klar gesagt: Dieser Nachtragshaushalt war Wir fordern Sie auf: Bessern Sie da nach! Es braucht nicht verfassungswidrig. Da ist die AfD einfach auf der endlich wirksame Hilfen für Soloselbstständige und die völlig falschen Spur. Veranstaltungswirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – sowie bei Abgeordneten der SPD und der Otto Fricke [FDP]: Da hat er recht!) Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) 23498 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Sven-Christian Kindler (A) Vielleicht ist es ein naiver Wunsch, aber ich wünsche (Beifall bei der CDU/CSU) (C) mir eigentlich auch mehr Demut von der AfD. Wer so Wir haben mit dem Nachtragshaushalt die Vorausset- viele Spendenskandale hat – bei Frau Weidel, bei Herrn zungen dafür geschaffen, gestärkt aus der Krise zu kom- Meuthen, auch bei Herrn Boehringer –, men. Dabei wollen wir sowohl umsichtig als auch (Widerspruch des Abg. Peter Boehringer vorausschauend handeln. Deshalb haben wir auch breite [AfD]) Unterstützung – das möchte ich noch mal unterstreichen – für diesen Haushalt erhalten, und ich möchte mich bei der sollte sich hier nicht scheinheilig zum Hüter von allen Kolleginnen und Kollegen dafür nochmals im Recht und Gesetz aufschwingen, sondern erst mal vor Nachgang bedanken. der eigenen Tür kehren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der AfD-Antrag scheint mir auch nicht komplett sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) durchdacht zu sein; denn er weist immense Lücken auf. Erwartbar für die AfD ist der Klassiker der Ein-Thema- Vizepräsidentin Claudia Roth: Partei – das hätten wir sonst vermisst –, dass sie selbst bei Vielen Dank, Sven-Christian Kindler. – Letzter Redner einem Antrag über Wirtschaftshilfen in einer Pandemie in dieser Debatte: Florian Oßner für die CDU/CSU-Frak- selbstverständlich auch noch das Thema Asyl reinklopft. tion. Ein weiteres Beispiel, wie populistisch dieser Antrag ist, (Beifall bei der CDU/CSU) ist die Kritik, dass der Nachtragshaushalt Ausgaben ent- hält, die nicht im Zusammenhang mit einer außerordent- Ham wir’s richtig? Jetzt kommt das Gillamoos. lichen Notsituation stehen würden. Welche Ausgaben Sie aber damit konkret meinen, erwähnen Sie mit keinem Florian Oßner (CDU/CSU): Wort. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sie haben ein gutes (Widerspruch bei der AfD) Erinnerungsvermögen. – Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Es wird heute wieder eines klar: Man möchte offen- Natürlich enthält dieser Nachtragshaushalt bewusst sichtlich das alte AfD-Credo munter weiterverfolgen, das Zukunftsinvestitionen wie zum Beispiel die Wasserstoff- lautet: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser ist strategie. Einer Partei wie der AfD, die lieber rückwärts- es für die AfD“, so wie es auch der frühere AfD-Presse- schaut, als in die Zukunft zu blicken, mag das sicherlich sprecher Christian Lüth kürzlich offenbarte. nicht passen. Dies ist aber nicht der Maßstab unserer (B) Regierungskoalition, die alles daransetzt, um unsere (D) Inzwischen ist man ja von der AfD schon einiges Volkswirtschaft wettbewerbsfähiger und fitter für die Zu- gewohnt. Dass Sie selber aber die größte Krise unseres kunft zu machen. Landes seit dem Zweiten Weltkrieg für Ihre eigene poli- tische Agenda so schamlos missbrauchen, zeugt schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. von besonders schlechtem Stil. Dennis Rohde [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die AfD schreibt in ihrem Antrag – ich zitiere –, dass neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE es keinesfalls Massenerkrankungen gäbe – unglaublich! GRÜNEN) (Zuruf des Abg. Uwe Witt [AfD]) Denn wer so selbstgerecht wie die AfD gegenüber der Das zeigt abermals: Das alleinige Verleugnen einer Pan- eigenen Bevölkerung handelt, kann keine Alternative demie schafft noch keine Lösung. Nein, ganz im Gegen- für Deutschland sein. teil: Es ist schier unverantwortlich gegenüber allen Fami- Mit dem Nachtragshaushalt 2020 haben wir als C-Par- lien in unserem Land, die entweder schon einen geliebten teien bewiesen, dass wir konstruktive Vorschläge zur Be- Menschen verloren haben oder in denen jemand erkrankt wältigung der Krise vorlegen. Uns ist daran gelegen, dass ist und heute noch an den Spätfolgen leidet. Deutschland diese weltweit schwierige Phase gut über- Zudem schreiben Sie – das ist der Hammer –: Von den steht. Das sollte auch das primäre Ziel jedes Mitglieds des 1 500 positiv getesteten Tönnies-Mitarbeitern scheint Deutschen Bundestages sein. nicht einer – man höre und staune – gestorben zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. In Gottes Namen: Wie menschenverachtend ist das denn? Dennis Rohde [SPD]) (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/ So ist es gelungen, nicht nur unsere Wirtschaft und die DIE GRÜNEN]) vielen von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen in der Damit stellen Sie nochmals unter Beweis, dass Sie defini- derzeitigen Notlage zu unterstützen. Ja, wir haben mit der tiv keine Verantwortung für unser Land übernehmen dür- Wasserstoffstrategie, der verstärkten Digitalisierung und fen. der Förderung der nachhaltigen Mobilität bedeutende Weichen für die Zukunft unseres Landes gestellt; denn (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem eines ist klar: Einer Krise von derartigem Ausmaß kann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man nicht durch Steuererhöhungen begegnen, sondern Liebe Kolleginnen und Kollegen, als wir den Nach- nur durch eine neue Dynamik in der Forschung, in der tragshaushalt im Sommer beschlossen haben, war für Entwicklung und in der Wirtschaft. uns eines entscheidend, gerade auch für mich als jüngeren Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23499

Florian Oßner (A) Abgeordneten: dass wir die Aufnahme von Krediten mit Gut. Dann fangen wir an, und ich gebe das Wort der (C) dem Versprechen verbinden: Wir werden, sobald die ersten Rednerin: Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Frak- Konjunktur wieder anspringt, unverzüglich darangehen, tion. die Kredite zurückzubezahlen. – Dieses Versprechen gilt nach wie vor. Das ist ein Akt der Generationengerechtig- (Beifall bei der SPD) keit. (Beifall bei der CDU/CSU) Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin absolut davon überzeugt, dass wir trotz aller Wegen unterschiedlicher Rechtsprechung ist eine Neu- eigenen Fehlbarkeit mit den verabschiedeten Maßnah- abstimmung zwischen Versicherungsteuergesetz und men das Bestmögliche für unser Land beschlossen haben, Versicherungsteuer-Durchführungsverordnung nötig ge- und wir werden nicht nachlassen, auch immer wieder worden. Daher modernisieren wir jetzt das Versiche- nachzuschärfen und zu verbessern. Wir als CDU/CSU rungsteuerrecht. gehen deshalb konstruktiv in die Zukunft unseres Landes. Die AfD verhält sich destruktiv. Das ist der eklatante Zahlreiche konkretisierende Vorschriften wandern nun Unterschied, und deshalb werden wir den Antrag ableh- ins Verordnungsrecht und ermöglichen damit einen pra- nen. xisnahen Umgang mit neuen Entwicklungen in dem Bereich. Versicherungen auf Erwerbs- und Berufsunfä- Vielen Dank. higkeit sowie Krankheit und Invalidität werden grund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sätzlich steuerfrei bleiben. Steuerbefreiung soll für Ver- Ulrike Bahr [SPD]) sicherungen gelten, die individuelle Risiken absichern und dabei den Versicherten, der abgesichert wird, oder Familienangehörige begünstigen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Florian Oßner. – Damit schließe ich die Besteht kein Angehörigkeitsverhältnis zwischen der Aussprache. Risikoperson, die abgesichert wird, und dem Begünstig- ten, dann soll keine Steuerfreiheit mehr bestehen. Da gibt Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushalt- es ein paar Beispielfälle, zum Beispiel: Wenn ein Verein sausschusses zum Antrag der Fraktion der AfD mit dem begünstigt ist, der seinen Profifußballer abgesichert hat, Titel „Antrag auf abstrakte Normenkontrolle beim Bun- und im Versicherungsfall dann die Prämien oder was desverfassungsgericht gemäß Artikel 93 Absatz 1 Num- auch immer bekommt, dann besteht keine Steuerfreiheit mer 2 des Grundgesetzes wegen des Gesetzes über die mehr. Es gibt noch so einen Fall: Filmprojekte werden (B) Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaus- abgesichert, indem man die Schauspieler versichert; auch (D) haltsplan für das Haushaltsjahr 2020“. Der Ausschuss da soll in Zukunft keine Steuerfreiheit mehr bestehen. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/23798, den Antrag der Fraktion der AfD auf Druck- Abstrakte Formulierungen im Gesetz sind sinnvoll; sache 19/22926 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- denn es gibt vielleicht in Zukunft Absicherungen, die schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, aber die gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen vielleicht dann auch unter die Nichtsteuerbefreiung fallen bei Gegenstimmen der AfD und Zustimmung aller ande- würden. ren Fraktionen des Hauses. Das Gesetz enthält weitere Regelungen, zum Beispiel Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: die Einführung einer grundsätzlichen Verpflichtung zur elektronischen Steueranmeldung, um IT-Verfahren effi- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zient zu nutzen. Es gibt auch eine Regelung zu Sonder- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tatbeständen mit Drittlandbezug; auch hier ist jetzt zur Modernisierung des Versicherungsteuer- Rechtssicherheit in das Gesetz gekommen. Wir regeln rechts und zur Änderung dienstrechtlicher die Anwendbarkeit des ermäßigten Steuersatzes für See- Vorschriften schiffskaskoversicherungen in Fällen, wenn die Schiffe Drucksache 19/21089 nicht im deutschen Seeschiffsregister registriert sind. Es gibt eine Verlängerung des engagierten Ruhestandes im Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Postnachfolgebereich, und die sogenannte Beihilfeablö- ausschusses (7. Ausschuss) seversicherung, die für Kommunen wichtig ist, bleibt Drucksache 19/23757 steuerfrei. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Im Laufe der Beratungen wurden große Bedenken der beschlossen. Versicherungswirtschaft an uns herangetragen. Hier wur- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, zügig die Plät- den Probleme geäußert wie zum Beispiel: Was passiert ze einzunehmen oder zu tauschen, damit ich die Aus- mit Altfällen? Das Problem konnte ausgeräumt werden; sprache eröffnen kann. Wir sind nämlich schon eine halbe es bezieht sich nur auf neue Fälle. Das Gesetz wird auch Stunde drüber. – Zügig! erst am 1. Januar 2022 scharfgestellt. Also auch da konn- ten die Bedenken der Versicherungswirtschaft ausge- (Dagmar Ziegler [SPD]: Unverzüglich! – Otto räumt werden. Angehörigenverhältnisse müssen nicht Fricke [FDP]: Damit waren bestimmt die Grü- permanent überprüft werden; auch das ist nicht nötig. nen gemeint!) Der Verwaltungsaufwand ist also nicht übermäßig hoch. 23500 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Ingrid Arndt-Brauer (A) Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem BMF erwarten, aber Modernität sieht ... anders aus.“ Wenn (C) danken, das uns in den Sitzungen, die berichterstattungs- ich die Aussagen der Vorredner in der anderen Debatte mäßig notwendig waren, immer wieder mit Rat und Tat eben sehe: Es ist wohl eher eine Frage des Standpunktes, zur Seite stand und uns Erläuterungsschreiben schon im des Mutes und vielleicht auch des Zuhörens bei Ausfüh- Vorfeld zur Verfügung gestellt hat. Das ist ungewöhnlich, rungen von Fachleuten; das würde vielleicht auch in der aber hat dazu geführt, dass wir eigentlich alle Bedenken, Coronadebatte dann und wann helfen, liebe Kollegen. die an uns herangetragen wurden, ausräumen konnten. Was Sie hier entfesselt haben – das ist von allen Fach- Deswegen bedanke ich mich ausdrücklich für die gute leuten übereinstimmend gesagt worden –, ist ein Büro- Zusammenarbeit. kratiemonster, das sehr viele rechtliche Fragen aufwerfen Ich bedanke mich beim Koalitionspartner und bei den wird. anderen Fraktionen für die guten Beratungen und denke, Kommen wir zum Thema Erfüllungsaufwand; man wir haben ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht. Ich möchte meinen, die SPD stand hier Pate. Der Erfüllungs- denke, es ist möglich, dass alle diesem guten Gesetz heute aufwand für die etwa 130 Unternehmen der Versiche- zustimmen können. rungswirtschaft wurde von dieser Regierung und den Vielen Dank. Experten auf 150 000 Euro geschätzt. Das wären etwa 1 000 Euro pro Unternehmen. In der Anhörung trat deut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich zutage: Wir haben hier den Faktor 1 000. Die Ver- der CDU/CSU) sicherungswirtschaft rechnet aufgrund der gewaltigen Umstellungserfordernisse mit 150 Millionen Euro Erfül- Vizepräsidentin Claudia Roth: lungsaufwand. Vielen Dank, Ingrid Arndt-Brauer. – Nächster Redner: (Dr. Carsten Brodesser [CDU/CSU]: Man muss für die AfD-Fraktion Kay Gottschalk. nicht alles glauben!) (Beifall bei der AfD) Wie sagte der Kollege von der CDU eben? Wir sollten Steuern senken, damit wir die Wirtschaft beleben. – Sie Kay Gottschalk (AfD): aber hauen denjenigen, die überhaupt noch solvent sind Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und und fürs Alter vorsorgen, noch einen drüber. Das ist die Herren! Liebe Kollegen! Haben Sie Realitätsverlust? Regierung aus SPD und CDU in diesen Tagen. Haben Sie den Kolleginnen und Kollegen aufmerksam zugehört, den Rechtsanwälten? Es geht um Versiche- (Beifall bei der AfD – Sebastian Brehm [CDU/ rungsnehmer und versicherte Personen, um die betrieb- CSU]: CDU/CSU! So viel Zeit muss sein!) (B) liche Altersvorsorge, die notwendig ist, weil Sie die Wenn sich jemand in einem Unternehmen so massiv ver- (D) Rente zu Tode reformiert haben. Die wird ein Streitfall rechnen würde – er würde entlassen werden. sein, Wirklich spannend – ich habe es eben schon gesagt – (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Eben nicht!) war die Haltung der CDU. Ich komme an dieser Stelle auf und Sie wissen selbst: Durchführungsverordnungen – eine Äußerung des Kollegen Dr. Florian Reuther zurück. darauf komme ich noch im Laufe meiner Rede zu spre- Er untermauerte seine Position in der Anhörung mit chen – werden nicht für rechtliche Klarstellung sorgen. einem zitierungswürdigen Satz – Achtung: Satire! –: „Die Diskussion zeigt, wie rechtssicher der neue Entwurf (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Das ist einfach ist.“ Noch mal: Das war Ironie pur – in einer Anhörung. falsch!) Die Kritik ist nämlich, dass es an präzisen Formulie- Letztlich kann das nur ein Gericht, und das wird wahr- rungen – Sie haben es eben erwähnt – in diesem Gesetz scheinlich in vielen Fällen so sein. fehlt. Es wurde eine enumerative Aufzählung verlangt, Aber zum Thema. weil viele Fälle strittig sein werden. Sie regeln die Bei- hilfeablöseversicherung jetzt per Durchführungsverord- (Dr. Carsten Brodesser [CDU/CSU]: Genau!) nung – bis es zu Klagen kommt. Dann wird ein Gesetz „Drohende Versicherungssteuer stößt den Verbänden entscheiden müssen – mit den entsprechenden Risiken sauer auf.“ dasinvestment.com schreibt: „Versicherte für die Kommunen. Ich zitiere Professor Dr. Jochen sind wieder einmal die Dummen.“ Ich und auch die Fach- Axer, der klarstellte, dass die Regelung von Begriffsbe- presse können nicht erkennen, dass dieses Gesetz gut stimmungen in einer Durchführungsverordnung nicht der oder überhaupt ansatzweise gelungen ist – ziemlich verfassungsrechtlich gebotenen Wesentlichkeitstheorie ernüchternd. entspricht. Wir hatten am 5. Oktober 2020 eine Anhörung, die in Wir werden uns alle wahrscheinlich wieder vor Gericht meinen Augen, liebe Kollegen der CDU, sehr aufschluss- sehen; denn viele Menschen, die gerade wegen der reich war. Denn die Fragen und teilweise auch der Verlauf schlechten Rentensituation, die Sie zu verantworten der Debatte ließen die inneren Schwierigkeiten und Ehe- haben, vorgesorgt haben, werden jetzt auch noch bei ihrer probleme dieser GroKo offen zutage treten. Der Vertreter betrieblichen Altersvorsorge bestraft und wahrscheinlich des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirt- mit 19 Prozent Steuer belastet. Das heißt, Sie belasten in schaft, Dr. Volker Landwehr, fasste das aus meiner Sicht Zeiten von Nullzinspolitik und sinkenden Renditen die hervorragend zusammen – ich zitiere mit Erlaubnis der Sparerinnen und Sparer in Deutschland. Sie setzen sie Präsidentin –: „Der Titel des Gesetzentwurfs lässt viel diesem Risiko aus. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23501

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: tät gibt es aber Fallkonstellationen – die Kollegin hat (C) Herr Kollege. darauf hingewiesen –, in denen weder der Versicherungs- nehmer noch ein Angehöriger und auch nicht die Risiko- Kay Gottschalk (AfD): person in den Genuss einer Versicherungsleistung Ich komme sofort zum Ende. – Der letzte Satz: Wir als kommt, die Versicherungsprämien aber dennoch steuer- AfD sind nach dem Zusammentragen aller Fakten zum frei sind. Hier geht es beispielsweise um diese Sport- Gesetzentwurf, vor allem aufgrund der deutlichen Stel- invaliditätsversicherung mit Marktwertabdeckung, die lungnahmen der Experten zu dem Ergebnis gekommen, Profifußballvereine abschließen und bei der die Versiche- dass wir diesem Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, nicht rungsleistung nicht dem Spieler, sondern dem Verein zustimmen können und werden. zufließt. Wenn eine Steuer aber nicht nur eine gezielte Lenkungswirkung ausüben soll, sondern auch gerecht Danke schön. gestaltet werden soll, dann bedarf es der fortlaufenden (Beifall bei der AfD) Überprüfung durch den Gesetzgeber. Gerade an diesem Punkt setzt das zu beratende Gesetz an. Es schafft Klar- heit, Sicherheit und Steuergerechtigkeit. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den intensiven Fraktion Dr. Carsten Brodesser. parlamentarischen Beratungen und beim Austausch mit (Beifall bei der CDU/CSU) den beteiligten Verbänden wurden tatsächlich die einzel- nen Reformpunkte teils kontrovers und sehr intensiv diskutiert. Sowohl Unternehmen als auch Verbraucher Dr. Carsten Brodesser (CDU/CSU): äußerten die Befürchtung, dass die Überprüfung, die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dokumentation und die Abwicklung einer möglichen Meine sehr geehrten Damen und Herren! Primetime im Steuerpflicht zu unverhältnismäßig hohem Aufwand Bundestag, und wir beschäftigen uns zur besten Sende- und am Ende auch zu höheren Kosten führen. Da wir zeit mit einem eher trockenen Thema mit mäßigem als Koalition Gesetze nicht für uns, sondern für die Bür- Unterhaltungswert – Sie haben es gemerkt –: der Moder- gerinnen und Bürger unseres Landes machen, haben wir nisierung der Versicherungsteuer. die vorgebrachten Argumente sehr ernst genommen und (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit dem Ministerium intensiv beraten. Nahezu jeder von uns hat privat eine oder mehrere Auch wenn wir uns zukünftig eine realitätssichere Versicherungen abgeschlossen, die Leib und Leben oder Aufwandsschätzung der Gesetzesfolgen wünschen wür- (B) Sachen versichern, die einem lieb und teuer sind. Grund- den, darf ich sagen, dass nahezu alle Befürchtungen aus- (D) sätzlich fallen auf die Prämien dieser Versicherungen geräumt werden konnten. Mit dem erläuternden Begleit- Steuern an in vergleichbarer Höhe der Umsatzsteuer. schreiben des BMF geben wir der Finanzverwaltung eine Aus sozial- oder wirtschaftspolitischen Erwägungen gute Orientierung an die Hand, die mögliche Fallkonstel- kann der Gesetzgeber jedoch Ausnahmen von der grund- lationen einer Steuerpflicht klar darstellt und beschreibt. sätzlichen Besteuerung oder der Höhe des Steuersatzes Änderungen am Entwurf haben wir auch in Bezug auf vornehmen. So haben wir am Anfang dieses Jahres die eine mögliche Steuerbarkeit von nicht begünstigten Ver- sogenannte Dürreversicherung – also eine Absicherung tragskonstellationen erzielt. Frau Kollegin Arndt-Brauer von trockenheitsbedingten Ernteausfällen – steuerlich hat darauf verwiesen: Diese gelten erst für Neuabschlüsse privilegiert und damit jene Landwirte entlastet, die sich ab dem 1. Januar 2022. Damit haben wir für eine längere gegen entsprechende Ernteausfälle versichern wollten. Übergangsfrist für die Versicherer gesorgt. Diese Rege- (Beifall bei der CDU/CSU) lung passt auch besser in die administrativen Abläufe der Steuerbefreit waren schon immer Versicherungen, durch Unternehmen und reduziert damit auch den Umstellungs- die Ansprüche im Falle des Todes, des Erlebens oder des aufwand. Alters begründet werden, wie Lebens- und Rentenversi- Die Angst vieler Versicherer, alle bestehenden Verträ- cherungen. ge – immerhin sind das 80 Millionen Stück – in die Hand Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war und ist der nehmen und auf ihre Steuerpflicht überprüfen zu müssen, Wille des Gesetzgebers, dass die Prämien für die klassi- konnte ausgeräumt werden. Klar ist, dass bestehende Alt- sche Altersversorgung nicht Gegenstand einer Besteue- verträge von den Regelungen nicht betroffen sind. rung werden. Ferner waren und werden Versicherungs- prämien für private Kranken-, Berufsunfähigkeits- und Irritationen gab es anfänglich mit den Begriffen der im Pflegezusatzversicherungen – die Kollegin Arndt-Brauer Gesetz benannten nahen Angehörigen und der Risikoper- hat darauf verwiesen – grundsätzlich steuerbefreit. Dies son. Aber durch entsprechende Verweise auf § 15 Abga- wird auch so bleiben. benordnung und § 7 Pflegezeitgesetz konnte auch hier eine Klärung erzielt werden. Die Versicherer können (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: So ist es!) zukünftig schon bei Antragsaufnahme durch klare Frage- Der entscheidende Punkt für eine Versicherungsteuer- stellungen erkennen, ob es sich um einen steuerpflichti- befreiung ist jedoch, dass die Versicherungsleistung dem gen Vertrag handelt oder nicht. Eine fortlaufende Über- Versicherungsnehmer selbst, seinem Angehörigen oder prüfung der Vertragsdaten ist also nicht erforderlich. Dem der versicherten Risikoperson zufließt; eigentlich eine Versicherungsnehmer entsteht auch nach Vertragsab- Selbstverständlichkeit, könnte man meinen. In der Reali- schluss kein signifikanter Mehraufwand. Eine Steuer- 23502 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Carsten Brodesser (A) pflicht entsteht für den Versicherer erst dann, wenn er 100 Millionen Euro. Das ist also eine wirkliche Belastung (C) Kenntnis von wesentlichen Veränderungen bei der in einer sehr, sehr schwierigen Phase für die ganze Bran- Bezugsperson beim Versicherungsnehmer erhält. che. In der Anhörung geltend gemachte Sorgen der Kom- Jetzt muss man fragen: Was soll das eigentlich brin- munen – darauf ist verwiesen worden –, die sich um die gen? In der Anhörung ist herausgekommen: Es bringt Steuerfreiheit der Beihilfeablöseversicherung Gedanken 6 Millionen Euro zusätzliche Steuereinnahmen. 6 Millio- gemacht haben, konnten im parlamentarischen Verfahren nen! Wahrscheinlich ist der Aufwand, der im Ministe- ebenfalls entkräftet werden; denn die Kommunen sind im rium, in den Verbänden usw. betrieben wurde – finanziell Regelfall verpflichtet, ihren Beamten im Krankheitsfall betrachtet –, wesentlich höher als die Steuereinnahmen, Beihilfeleistungen zu gewähren. In Erfüllung dieser Für- die wir durch dieses Gesetz tatsächlich erzielen werden. sorgepflicht sind sie ebenfalls von der Versicherungsteuer Deshalb, glaube ich, sollten Sie sich mit etwas ande- befreit. Also auch kein Problem! rem beschäftigen – das hätte eigentlich in dieses Gesetz Die Sorgen der deutschen Reeder letztendlich, die bei gehört –, nämlich mit der Reform der Riester-Rente. Wo der Bereederung von ausländischen Schiffen eine Co- bleibt die eigentlich? Sie haben das in Ihren Koalitions- assured-Problematik befürchtet haben, wurden ebenfalls vertrag geschrieben, und bis heute ist nichts passiert. durch ein erläuterndes Schreiben des BMF unseres (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mich Erachtens ausgeräumt. wundert das nicht!) Ich danke dem BMF an dieser Stelle ausdrücklich, dass die Fragen und Einwände im Rahmen der öffentlichen Dabei gibt es über 16 Millionen Riester-Verträge in die- Anhörung und in den anschließenden Berichterstatterge- sem Land, die alle nicht mehr vernünftig funktionieren, sprächen zufriedenstellend beantwortet und behandelt weil die Beitragsgarantie, die im Gesetz verankert ist, wurden. Das angesprochene Erläuterungsschreiben des dazu führt, dass letztendlich keine positiven Erträge BMF wird parallel veröffentlicht und schafft somit auch mehr erwirtschaftet werden können. Rechtssicherheit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Alles in allem, liebe Kolleginnen und Kollegen, also der CDU/CSU) ein gutes Stück Finanzpolitik der Koalition. Ich bedanke Deshalb muss man darangehen. Das hätte in dieses mich noch mal ausdrücklich für die konstruktive Diskus- Gesetz gehört. Ich glaube, Sie müssen sich daranmachen. sion mit allen Kolleginnen und Kollegen aller Parteien sowie die Begleitung durch das Ministerium. Gemeinsam (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Besser legen wir ein gutes Gesetz vor, das zu einer notwenigen die gesetzliche Rentenversicherung stärken!) (B) und angemessenen Anpassung des Steuerrechts führt. Dafür haben Sie nicht mehr viel Zeit. Sie haben noch (D) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und emp- dieses Jahr und vielleicht das nächste Frühjahr. Wenn fehle Ihnen allen die Zustimmung zum vorliegenden Ge- das dann nicht kommt, wird das sehr wahrscheinlich im setzentwurf. nächsten Jahr nichts werden, und dann wird die Nullzins- politik der EZB weiter auf diese wichtige Grundlage der Herzlichen Dank. Altersvorsorge drücken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich sage das deshalb heute: Morgen ist Weltspartag. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Der Weltspartag war früher ein großes Fest. Da sind die Eltern mit ihren Kindern zur Sparkasse gegangen und Vizepräsidentin Claudia Roth: haben die Spardose geleert. Heute ist das nur noch Nos- Vielen Dank, Dr. Carsten Brodesser. – Der nächste talgie. Wir sollten dafür sorgen, dass das nicht Nostalgie Redner ist für die FDP Frank Schäffler. bleibt, sondern der Weltspartag wieder zum Fest wird. Deshalb sollten Sie andere Gesetze vorlegen als solche (Beifall bei der FDP) schlechten. Vielen Dank. Frank Schäffler (FDP): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Kay legen! Versicherungsteuermodernisierungsgesetz – das Gottschalk [AfD]) klingt gewaltig. Das klingt so modern, so neu, (Dr. Carsten Brodesser [CDU/CSU]: Lang- Vizepräsidentin Claudia Roth: weilig!) Vielen Dank. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die nach einem großen Wurf; aber eigentlich ist das einzig Grünen Stefan Schmidt. Moderne an diesem Gesetz dieser Name. Ansonsten ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier nichts neu. Eigentlich ist das, was Sie hier machen, eine ganz kleine Nummer. Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie schaden in einer ohnehin schwierigen wirtschaft- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- lichen Lage der Branche ungemein. Es ist schon gesagt nen und Kollegen! In den letzten zehn Jahren hat die worden: Der Erfüllungsaufwand ist geschätzt worden auf Versicherungsteuer unseren Gerichten ordentlich Arbeit eine Größenordnung von 150 000 Euro. Die Branche bereitet. Das Finanzgericht in Köln, der Bundesfinanzhof prognostiziert einen Aufwand von tatsächlich über und sogar der Europäische Gerichtshof mussten Rechts- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23503

Stefan Schmidt (A) streitigkeiten zur deutschen Versicherungsteuer klären. Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Es ist also gut und auch notwendig, dass wir das Ver- Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Nächster Redner: für sicherungsteuerrecht ändern und damit auch auf diese die SPD-Fraktion Lothar Binding. Entscheidungen der Gerichte reagieren. (Beifall bei der SPD – Fritz Güntzler [CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – CSU]: Der nimmt kein Blatt vor den Mund!) Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Da hat er recht!) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir finden es richtig, das Versicherungsteuerrecht zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! modernisieren und an aktuelle Entwicklungen anzupas- Sehr verehrte Damen und Herren! Frank Schäffler hat, sen. Deswegen gehen wir bei vielen Änderungen mit. Wir glaube ich, Ingrid Arndt-Brauer und Carsten Brodesser, finden es zum Beispiel gut, dass die elektronische Steuer- die das Gesetz sehr schön erklärt haben, nicht zugehört; anmeldung ab 2022 verpflichtend wird. Das vereinfacht denn sonst hätte er überhaupt nicht solch eine Kritik die Steuerabführung, und es ist auch für die Unternehmen formulieren können. eine sinnvolle Investition in die Digitalisierung. Er beklagt sich, dass das fiskalische Ergebnis nur 6 Mil- Wir finden es auch richtig, dass Personenversicherun- lionen Euro beträgt. Wären es mehr gewesen, hättet ihr gen nur noch dann steuerfrei sein sollen, wenn sie aus gesagt, dass wir die Versicherungsnehmer belasten. Seid sozialen Gründen abgeschlossen werden. Wenn also doch froh, dass es so wenig ist! Hier geht es nicht um zum Beispiel Eltern ihre Kinder gegen Berufsunfähigkeit Steuereinnahmen. Hier geht es um Gerechtigkeit. Hier absichern, dann bleibt die Versicherung steuerfrei. Ein geht es im Wesentlichen um Steuerbefreiungen. Profisportverein hingegen, der seine Spielerinnen und Spieler versichert, um im Ernstfall den wirtschaftlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schaden des Vereins aufzufangen, muss künftig Versi- Das hat er ja hier offensichtlich gar nicht aufgenommen. cherungsteuer zahlen; auch das finden wir richtig. Für Das ist ein Gesetz zur Modernisierung. Es hilft der uns ist klar: Unternehmen – und dazu zähle ich Profi- Verwaltung, es ist besser und gerechter; es schafft größere sportvereine – brauchen diese Subvention nicht. Klarheit. Und seit 2012 hat sich so viel verändert, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich das sehr lohnt. Es geht um mehr Rechtssicherheit, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) um Modernisierung, um die Weiterentwicklung des Ver- Inhaltlich finden wir dieses Gesetz also weitgehend sicherungsrechts, um die Vereinfachung der Rechtsan- richtig. Handwerklich ist es allerdings schlecht umge- wendung, und es geht auch um die Sicherung des Steuer- aufkommens, das es jetzt schon gibt. Immerhin sind im (B) setzt; denn Union und SPD schreiben viele Änderungen (D) nicht direkt ins Gesetz, sondern in die Durchführungsver- Haushalt 14 Milliarden Euro an Einnahmen aus der ordnung. Vor allem werden zentrale Begriffe wie „Ver- gesamten Versicherungswirtschaft. Es geht also um sicherer“, „Versicherungsnehmer“ und „Risikoperson“ Steuerbefreiungen. nicht direkt im Gesetz definiert. Die Frage, welche Perso- Natürlich formulieren wir im Gesetz abstrakte Nor- nenversicherung in welchem Fall steuerpflichtig wird, men. Jetzt wurde gelegentlich auf das Begleitschreiben soll sogar durch ein begleitendes Ministeriumsschreiben hingewiesen. Das Begleitschreiben präzisiert für die Exe- geregelt werden. Das ist aus unserer Sicht höchst proble- kutive, für die Bürger und für die Versicherungen etwas matisch; denn diese Auslagerungen führen dazu, dass das genauer als die abstrakte Norm im Gesetz. Das ist ein Gesetz eben nicht zu mehr Rechtssicherheit führt, obwohl ganz normales Vorgehen. Sonst sagen wir: Den BMF- das eines der Ziele ist. Brief gibt es zu jedem Gesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun kritisieren die Verbände der Versicherungswirt- schaft Bürokratie und Komplexität. Wir haben auch heute Vieles bleibt Auslegungssache. Rechtsstreitigkeiten schon gehört: Es gibt ein Bürokratiemonster. sind vorprogrammiert; denn es ist fraglich, wie die Gerichte das Gesetz auslegen. Die Finanzgerichte sind Ich will einmal vorlesen: ja nicht an die Auslegung des Ministeriums gebunden. Versicherungsschutz besteht im Rahmen des versi- Rechtssichere Gesetzgebung würde gehen; aber sie geht cherten Risikos für den Fall, dass der Versicherungs- anders als in diesem Gesetzentwurf, und zwar nur in nehmer wegen eines während der Wirksamkeit der Gesetzen. Lassen Sie uns also in Gesetzen klären, was Versicherung eingetretenen Schadenereignisses in Gesetzen geklärt werden kann! (Versicherungsfall), das einen Personen-, Sach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) oder sich daraus ergebenden Vermögensschaden zur Folge hatte, aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbe- Liebe Kolleginnen und Kollegen, inhaltlich stimmen stimmungen privatrechtlichen Inhalts von einem wir dem Gesetzentwurf weitgehend zu; handwerklich Dritten auf Schadensersatz in Anspruch genommen ist er aber schlecht umgesetzt. Deswegen können wir wird. … hier nicht zustimmen und werden uns enthalten. Kein Versicherungsschutz besteht für Ansprüche, Vielen Dank. auch wenn es sich um gesetzliche Ansprüche han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – delt, ... auf Erfüllung von Verträgen, Nacherfüllung, Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Positiv oder nega- aus Selbstvornahme, Rücktritt, Minderung, auf tiv enthalten?) Schadensersatz statt der Leistung … 23504 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Jeder merkt schon: Das ist relativ komplex, obwohl es Der reduzierte Steuersatz – Herr Kollege Brodesser hat (C) hier jeder verstanden hat. Das war nur kein Zitat aus dem es erwähnt – wird in Spezialfällen angewandt. Wir konn- Gesetz, sondern das war ein Zitat aus den Allgemeinen ten Anfang des Jahres eine Senkung des Versicherungs- Versicherungsbedingungen, die ich lesen muss, wenn ich teuersatzes der Dürreversicherung erreichen, und wir eine Versicherung abschließe, und das geht auf zwanzig konnten die Landwirte hiermit notwendigerweise groß- Seiten so weiter. zügig unterstützen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die eh Eine Reihe von Rechtsprechungen haben es notwendig keiner lesen kann!) gemacht – Kollege Schmidt hat es gesagt –, dass wir das Versicherungsgesetz anpacken. Gleichzeitig konnten wir Also, man merkt schon: Wer den anderen Komplexität damit Klarheit schaffen und die Chance nutzen, etwas vorwirft, der sollte zunächst seine eigenen Papiere lesen, Modernes in das Gesetz aufzunehmen, nämlich die elekt- damit es ein bisschen gerechter wird im Urteil und im ronische Steueranmeldung; das war notwendig. gegenseitigen Umgang miteinander. Aber im Mittelpunkt stand immer die Frage: Wann ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine Versicherungsleistung steuerfrei und wann nicht? der CDU/CSU) Hier ging es in erster Linie darum, wem die Versiche- rungsleistung im Leistungsfall zufließt. Mein Kollege Vizepräsidentin Claudia Roth: Carsten Brodesser, der für uns, die CDU/CSU, die Vielen Dank, Lothar Binding. – Wir hier oben haben Berichterstattung macht und ein Spezialist ist in all diesen das nicht so wirklich verstanden; aber gut. Fragen, hat es detailliert ausgeführt: Es ging insbesondere um die Klarstellung im Gesetz, dass, wenn eine Versiche- (Zuruf von der AfD: Bei einer Haftpflichtver- rungsleistung nicht an die versicherte Person oder an eine sicherung! Alles in Ordnung!) nahestehende Person geht, dann eben Versicherungsteuer Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: zu erheben ist. Wir haben es gehört: Bundesligavereine Sebastian Brehm. zum Beispiel schließen Sportinvaliditätsversicherungen ab. Falls der Sportler invalide wird, dann bekommt der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verein bzw. letztlich der Arbeitgeber die Versicherungs- leistungen. In diesem Fall gilt keine Privilegierung. Das Sebastian Brehm (CDU/CSU): ist absolut in Ordnung und normalerweise eigentlich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! unspektakulär. Heute beraten wir abschließend in zweiter und dritter Doch die Verwirrung war am Anfang relativ groß: Das (B) Lesung einen Gesetzentwurf, der in der Öffentlichkeit – Bundesfinanzministerium hatte hier zunächst keine kla- (D) wir haben ja gerade schon Texte gehört – bei den Bürger- ren Erläuterungen geliefert. Es entstand der Eindruck – innen und Bürgern kaum im Fokus ist, aber dennoch auch in der Anhörung –, dass private Lebens- oder große Wirkung hat. Was ist eigentlich die Versicherung- Berufsunfähigkeitsversicherungen umfasst sein könnten. steuer? Sie ist eine Verkehrsteuer und wird auf Prämien Des Weiteren wurde – das ist schon mehrmals angespro- und Beitragszahlungen aus Versicherungen erhoben; sie chen worden – der Umstellungsaufwand für über ist eine Art Umsatzsteuer für Versicherungen. 600 Gesellschaften in Deutschland mit insgesamt nur Während die Umsatzsteuer für den Verkauf und Er- 150 000 Euro angenommen. werb von Gütern und Dienstleistungen gilt, so sind Ver- Diese Verwirrung, liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherungsleistungen hier nicht umfasst. Deswegen gibt hätte vermieden werden können. Deswegen bin ich dank- es die Versicherungsteuer, ebenfalls mit einem Steuersatz bar, dass mein Kollege Carsten Brodesser in den Ver- von 19 Prozent, und wie bei der Umsatzsteuer gibt es handlungen eine vernünftige Lösung finden konnte und auch bei der Versicherungsteuer Ausnahmen von der das BMF auch gebeten hat, ein entsprechendes Anwen- Besteuerung oder reduzierte Steuersätze. dungsschreiben schon mit dem Gesetzentwurf letztlich Die Versicherungsteuer steht dem Bund zu. Sie bringt vorzulegen, in dem ganz klar festgehalten wird, welche Einnahmen in Höhe von 14 Milliarden Euro; das sind Fälle der Versicherungsteuer unterworfen werden und ungefähr 4 bis 5 Prozent der gesamten Steuereinnahmen welche nicht. Dort sind viele praktische Beispiele aufge- des Bundes. führt. Deswegen ist es gut und deutlich, dass man dieses jetzt hat. Es wird mit der Beschlusslage von heute im Bei den wichtigen Ausnahmen sind gerade Lebensver- Bundessteuerblatt veröffentlicht; das ist gut so, weil es sicherungen, Krankenversicherungen, Arbeitslosenversi- Rechtssicherheit gibt. cherungen, Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherun- gen dabei; hier fällt keine Versicherungsteuer an, da es Ein zweiter Erfolg ist, dass wir den Stichtag für Ver- sich um Verträge handelt, die zur Absicherung dienen sicherungsverträge, auf die das neue Recht anzuwenden und zur Altersversorgung dienen, und diese Versicherun- ist, nicht auf den 1. Juli 2021, sondern auf den 1. Januar gen bleiben – entgegen Ihrer Aussage – auch weiterhin 2022 gelegt haben. Das heißt, erst Versicherungsverträge, steuerbefreit. Das war und das ist uns allen wichtig, und die ab dem 1. Januar 2022 abgeschlossen werden, fallen deswegen muss man das hier auch noch einmal deutlich unter das neue Recht. Deswegen ist Ihre Aussage erneut feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. falsch, wenn Sie sagen, dass die gesamte Versicherungs- branche und vor allem die Versicherten unsicher wären (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und hier eine unklare Rechtslage bestünde; das ist defini- der SPD) tiv falsch. Das neue Recht gilt nur für Neuverträge, die ab Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23505

Sebastian Brehm (A) dem 1. Januar 2022 abgeschlossen werden. Damit haben Überweisungsvorschlag: (C) die Versicherungsgesellschaften die notwendige Zeit für Ausschuss für Arbeit und Soziales die organisatorischen und EDV-technischen Umstellun- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten vor- gen. gesehen. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schnell die Plätze einzunehmen, die Masken aufzusetzen, der SPD) Herr Gottschalk, sonst gibt es Ärger. – Ja, er bemüht sich. Gut. Das Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist sum- ma summarum ein gutes Gesetz. Wenn wir jetzt noch die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Johannes Modernisierung der Unternehmensbesteuerung gemein- Vogel für die FDP-Fraktion. sam hinbekommen, (Beifall bei der FDP) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Johannes Vogel (Olpe) (FDP): SPD – dieses müssen wir noch anpacken –, dann haben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wir wirklich ein gutes Werk geschaffen. Ansonsten bitte ist jetzt 22.08 Uhr. Ich möchte nur mal daran erinnern, ich einfach um Zustimmung. dass alle unsere Beschäftigten, die heute Abend noch eine dienstliche E-Mail auch nur lesen, weil sie zum Beispiel Herzlichen Dank. vielleicht eine Redefreigabe bearbeiten müssen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen sie nicht!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Jörg Cezanne gibt morgen die Arbeit nicht vor 10 Uhr wiederaufnehmen seine Rede zu Protokoll.1) dürfen, weil elf Stunden ununterbrochene Ruhezeit gel- ten. Wir fangen aber morgen um 9 Uhr schon mit der Damit sind wir am Ende der Aussprache. Sitzung wieder an. Da merkt man: Das passt hinten und Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- vorne nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni- (Beifall bei der FDP) sierung des Versicherungsteuerrechts und zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften. Der Finanzausschuss Das liegt daran, dass unser Arbeitszeitgesetz aus dem empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Jahre 1994 stammt. 1994, da war das Smarteste an Tele- (B) 19/23757, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf fonen, wenn sie keine Wählscheibe mehr hatten. Wir (D) Drucksache 19/21089 in der Ausschussfassung anzuneh- haben heute aber das digitale Zeitalter, und das Arbeits- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der zeitgesetz passt nicht mehr zur Lebensrealität, liebe Kol- Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- leginnen und Kollegen. chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- (Beifall bei der FDP) men. Zugestimmt haben die Fraktionen der SPD und Wer hält sich heute daran? Diese Frage stellt sich nicht der CDU/CSU, dagegengestimmt haben die Fraktionen nur hier im Deutschen Bundestag. Wenn Eltern zum Bei- der AfD, der FDP und der Linken, und enthalten hat spiel nachmittags die Kinder betreuen wollen und dann sich Bündnis 90/Die Grünen. abends noch mal ein bisschen arbeiten wollen und am Dritte Beratung nächsten Morgen nicht bis 10 Uhr warten können, dann verstoßen sie gegen ein Arbeitnehmerschutzrecht, liebe und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Kolleginnen und Kollegen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Ich habe letztens mit Vertretern der Gewerkschaft Ver- entwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktio- di darüber diskutiert und sie gefragt, ob sie es eigentlich nen von SPD und CDU/CSU, dagegengestimmt haben gut finden, dass gegen dieses Arbeitnehmerschutzrecht in die Fraktionen der AfD, der FDP und der Linken, und unserem Land heute jeden Tag millionenfach verstoßen enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. wird. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Beratung des Antrags der Abgeordneten Unglaublich!) Johannes Vogel (Olpe), Michael Theurer, Da meinten die Kollegen von Verdi, da brauche man eine Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und Mischung aus Nonchalance und Ignoranz. der Fraktion der FDP (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ganz Arbeitsrecht updaten – Moderner Rechtsrah- liberal!) men für orts- und zeitflexibles Arbeiten Liebe Kolleginnen und Kollegen, daran will ich mich in Drucksache 19/23678 einem Rechtsstaat nicht gewöhnen.

1) Anlage 8 (Beifall bei der FDP) 23506 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Johannes Vogel (Olpe) (A) Niemand soll mehr arbeiten oder weniger Pausen durchschnittlich ausgeprägt. Wer liegt ganz vorne? Die (C) machen. Aber wenn ein Gesetz nicht mehr in die Zeit Niederlande. So kommt’s, wenn man eine liberale passt, dann dürfen wir das nicht ignorieren, sondern Reform macht, dann müssen wir das modernisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das sollten Sie endlich tun. (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP) NEN]) Schon vor der Coronakrise war die Passgenauigkeit und genau zu dieser liberalen Reform fordern wir Sie des deutschen Arbeitsrechts zur digitalen Realität nicht heute mit diesem Antrag auf, liebe Kolleginnen und Kol- mehr gegeben. Nach der Coronakrise wissen wir: Es ist legen. eigentlich alles noch viel schlimmer. In der Realität gibt (Beifall bei der FDP) es Pragmatismus, im Homeoffice. In der Realität findet der Kulturwandel statt in den Unternehmen, von DAX- Wir können von unseren Nachbarn lernen. Konzernen bis zu den Mittelständlern bei mir im Sauer- land. Aber was es nicht gibt, ist eine Gesetzesnovelle Vizepräsidentin Claudia Roth: dieser Koalition, die diesen Pragmatismus und die Reali- Herr Vogel. tät der Menschen in diesem Land aus der Illegalität heben würde. In der Realität gibt es neues Denken – in der Koalition gibt es nur alten Streit. Johannes Vogel (Olpe) (FDP): Wir können eine Modernisierung erreichen und den (Beifall bei der FDP) Rechtsrahmen passend machen zur Realität im Jahre Das ist zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der 2020. Tun Sie von der Koalition es endlich! Koalition. Die Union will, wie so oft, am liebsten einfach (Beifall bei der FDP) nichts machen, und die SPD hat jetzt einen Vorschlag vorgelegt, in dem sie allen Ernstes mehr Bürokratie vor- schlägt, obwohl wir weniger brauchen. Liebe Kollegin- Vizepräsidentin Claudia Roth: nen und Kollegen, das ist nicht überzeugend, und das Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächster Redner: für reicht nicht aus für die Modernisierung unseres Landes. die CDU/CSU-Fraktion Thomas Heilmann. Natürlich geht Homeoffice nicht immer und überall. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber passt es wirklich in die Zeit, dass wir Arbeitgeber verpflichten, in den Privatwohnungen der Arbeitnehme- (B) Thomas Heilmann (CDU/CSU): (D) rinnen und Arbeitnehmer den Lichteinfall der heimischen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Schreibtischlampe zu kontrollieren oder sich faktisch in Johannes Vogel! Die Rede meines Vorredners hat mich der Rechtsunsicherheit zu bewegen, wenn sie das nicht zu der Frage gebracht: Warum sind eigentlich die Libe- tun? Passt es in die Zeit, wenn zum Beispiel wir als Abge- ralen in den Niederlanden so viel erfolgreicher als in ordnete vom Präsidenten angewiesen sind, Homeoffice Deutschland? Das ist jetzt ein bisschen weit weg vom jetzt möglichst zu ermöglichen, und zwar dauerhaft, Thema; aber da fällt mir der ein oder andere Grund ein. wenn Homeoffice also nicht nur gelegentlich vorkommt, dass wir in Deutschland dann von Telearbeit reden? Das (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der klingt schon wie 80er-Jahre, und das ist es auch. CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil die eine Grund- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war rente haben in den Niederlanden – Zuruf von gar nicht so schlecht!) der FDP) Wissen Sie, was bei Telearbeit nämlich verboten ist? – Auch eine gute Bemerkung. Für die, die es nicht gehört Laptops. Der Deutsche Bundestag gibt aber nur Laptops haben: weil die da halt regieren und hier nicht. – Aber gut, für mobiles Arbeiten aus. – Willkommen in Absurdistan, lassen wir das jetzt. liebe Kolleginnen und Kollegen! Das passt hinten und vorne nicht zusammen. Zum mobilen Arbeiten. Lieber Johannes Vogel, die Frage wird völlig zu Recht gestellt. Die Arbeitslandschaft (Beifall bei der FDP) verändert sich massiv, natürlich auch durch Corona, und darauf müssen wir reagieren. So weit, so richtig. Die Die Niederlande machen uns schon seit vielen Jahren Fragen: „Wie gehen wir mit dem flexiblen Arbeiten vor, wie es besser geht. Dort hat die Regierung in einem um?“ und: „Wie gehen wir mit den elf Stunden Pause Gesetzespaket das Arbeitszeitgesetz flexibilisiert, Arbeit- um?“, sind natürlich berechtigte Fragen. Von den Ant- nehmerinnen und Arbeitnehmer und Unternehmen von worten bin ich, ehrlich gesagt, enttäuscht; denn die Bürokratie entlastet und ein Erörterungsrecht eingeführt; Lage hat sich doch dramatisch geändert: das firmierte dann in der Debatte unter dem sogenannten Recht auf Homeoffice. Eine erfolgreiche Reform in den Erstens. Die Dinge sind längst im Fluss – wir müssen Niederlanden – übrigens unter einem liberalen Premier- sie nicht in Gang bringen –, und zwar natürlich wegen minister – hat zu einem Kulturwandel geführt. Das sieht Corona. Wir müssen uns doch eher die Frage stellen: man auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Statis- „Wie begrenzen wir Homeoffice?“, anstatt noch mehr tik der europäischen Gesellschaften über die Nutzung Leute noch länger ins Homeoffice zu senden. Das sind von mobilem Arbeiten. In Deutschland ist das unter- doch ganz neue Fragestellungen, die wir haben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23507

Thomas Heilmann (A) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE – Na ja, aber ich habe ein bisschen größere Kinder. Da (C) GRÜNEN]: Es gibt doch klare Regeln!) esse ich mit denen auch gerne mal länger und bearbeite um halb zwölf meine E-Mails. Dann kann ich natürlich Das trennt uns leider auch von den Sozialdemokraten, nicht um 8 Uhr morgens wieder arbeiten, damit ich schon die die Frage mit dem Recht auf Homeoffice so themati- um 9 Uhr hier sitzen kann. sieren, dass wir jetzt erst mal anfangen müssen, zu üben, wie es im Homeoffice ist. Die Übungen finden jetzt durch Nun bin ich kein Angestellter; deswegen hinkt das Bei- die Schließungen im November leider doch in besonde- spiel. Aber früher war das anders: Ich bin ja erst seit drei rem Umfang statt. Jahren im Parlament. Insofern ist das natürlich eine Fra- ge. Natürlich sind da haufenweise Leute ständig in der Zweitens. Wir von der Union – das ist ja öffentlich Illegalität, und da müssen wir sie ganz dringend heraus- geworden – haben uns dazu eine Menge neuer Antworten holen, überlegt. Ich hätte mir von der Opposition gewünscht, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE dass sie diese Notwendigkeit erkennt. GRÜNEN]: Nein, die Arbeitnehmer sind nicht (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ist das die in der Illegalität! Der Arbeitgeber kann in die- Unionsmeinung oder deine?) ser Illegalität sein, aber nicht andersrum!) – Der Arbeitgeber hat natürlich eine Schutzpflicht. Er Der erste Punkt ist: Wenn die Leute so viel mobil oder muss darauf achten, dass die Arbeitszeiten ordentlich ein- im Homeoffice arbeiten, dann stellt sich die Frage der gehalten werden. Begrenzung. Also: Wie schaffe ich mir dann wirklich Blöcke, in denen ich abschalten kann, in denen ich nicht (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE arbeite? Und deshalb ist eine unserer ersten Forderungen, GRÜNEN]: Ja, genau, der Arbeitgeber, aber zu sagen: Wir wollen ein Recht auf Nichterreichbarkeit nicht die Beschäftigten!) haben. Das ist bei mobilem Arbeiten technologisch ganz Wenn der Arbeitgeber Arbeitszeitkonten führen lässt, einfach. dann müsste er die Arbeitnehmer darüber belehren, dass sie nicht gegen die Arbeitszeitregeln verstoßen dürfen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Herzlich willkommen! Das hat Die Linke schon vor (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE zwei Jahren vorgeschlagen! Aber super!) GRÜNEN]: Oder er macht einen Tarifvertrag!) – Wir haben das schon in einem Buch geschrieben; aber – Frau Müller-Gemmeke, wenn Sie es so sehen, dass die jetzt ist es eben auch Thema der Fraktion. Insofern kön- Menschen das selber machen dürfen, dann können Sie unserem Vorschlag ja zustimmen. (B) nen wir uns über die Urheberschaft gerne streiten. Wir (D) haben dafür sogar eine technische Lösung vorgeschlagen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welchem Vorschlag denn?) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Kol- legin Krellmann hat das doch schon gesagt!) Wir sagen ja: Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin- nen dürfen das alleine entscheiden. Der Arbeitgeber kann Das ist der erste Punkt. selbstverständlich nicht verlangen, dass sie bis Mitter- nacht arbeiten und dann am Morgen um 7 Uhr wieder Der zweite Punkt ist: Wir müssen natürlich verhindern, mit der Arbeit anfangen. dass Arbeitgeber mobil Arbeitende dahin gehend unter Druck setzen, dass sie ihre verdienten Pausen nicht neh- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE men. Die meisten Arbeitgeber behandeln ihre Beschäftig- GRÜNEN]: Gibt es einen Gesetzentwurf?) ten auch sehr anständig, aber wie immer gibt es da auch Darüber sind wir uns ja völlig einig; das kann nicht ange- ein paar schwarze Schafe. Deswegen ist entscheidend, ordnet werden. dass der Arbeitnehmer, wenn wir die Arbeitszeit flexibi- lisieren, über seine Arbeitszeit wirklich selber entschei- Die dritte große Regelung ist – da sind wir uns in der den kann und nicht durch seinen Arbeitgeber faktisch Koalition weitestgehend einig –: Wir müssen beim The- oder gar juristisch zu etwas gezwungen wird. ma Versicherungen auch eine Lösung für diejenigen fin- den, die im Homeoffice sind. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Wir gehen noch einen Schritt weiter und sagen: Wir GRÜNEN]: Genau!) sollen die Leute nicht zu lange im Homeoffice einsper- Jetzt ist es allerdings so – da hat der Kollege Vogel ren; das ist auf Dauer nicht gut. recht –, dass sich die Arbeitnehmer illegal verhalten, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wenn sie erst mit ihren Kindern essen und dann ihre E- GRÜNEN]: Alternierend!) Mails bearbeiten, weil sie dann bis zum nächsten Morgen Wir sehen ja in dem Großtest Corona, dass das auch sehr nicht auf die elf Stunden Ruhezeit kommen. negative Folgen hat. Deswegen müssen wir den Leuten (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Nein! Was ist die Gelegenheit geben, ihre Arbeit auch von ihrem Priva- denn da mit den Betriebsvereinbarungen? – ten zu trennen. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Wenn wir nicht wollen, dass sie pendeln, wenn wir also GRÜNEN]: Wenn sie bis 10 Uhr arbeiten, kön- nicht wollen, dass sie wieder ins Büro fahren, dann ist nen sie um 9 Uhr wieder anfangen. Das ist kein eben unser Vorschlag, zu sagen: Dann lasst uns doch Co- Problem!) Working-Spaces, oder auf Deutsch: Nachbarschaftsbü- 23508 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Thomas Heilmann (A) ros, in den ländlichen Räumen schaffen. Es gibt jede gefährdet. In anderen Berufsfeldern sieht die Studie ähn- (C) Menge Immobilien, die tagsüber sowieso leer stehen. liche Entwicklungen. Bei insgesamt 30 Millionen Sozial- Das sind Vereinsheime, Gemeindezentren, Kirchenge- versicherungspflichtigen und geringfügig Beschäftigten meinden und was es da sonst alles gibt. Warum führt erwarten die Verfasser der Studie eine Gefährdung von das nicht dazu, dass die Leute mit dem Fahrrad nur ein knapp über 18 Millionen der untersuchten Arbeitsplätze paar Meter weit fahren, dann da arbeiten und nur gele- in Deutschland. Das sind 59 Prozent des deutschen gentlich in ihr Büro pendeln, sagen wir jetzt mal zwei Arbeitsmarktes, der mittel- und langfristig gefährdet ist. Tage die Woche oder auch nur einen? Das wäre eine (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Von den sehr pragmatische Lösung, und auch dafür müssen wir Studien gibt es jede Menge!) etwas finden. Wenn ich gerade bei Studienergebnissen bin – ich weiß Ob uns das alles noch in dieser Legislaturperiode, die nicht, ob Sie das wissen, Herr Birkwald –: Das Bera- sich dem Ende zuneigt, gelingt, das wissen wir nicht. tungsunternehmen PricewaterhouseCoopers hat für (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Für so was Großbritannien ermittelt, dass Homeoffice einen gesamt- gibt es ganz viele betriebliche Beispiele! wirtschaftlichen Schaden in Höhe von 16,7 Milliarden Aber wir als Union jedenfalls werden für die nächste Euro verursachen könnte. Denn wenn Mitarbeiter ver- Legislaturperiode mit einem ganzen Set an Vorschlägen mehrt im Homeoffice arbeiten, hat das Auswirkungen kommen. auf die Wertschöpfungskette und entsprechende Ökosys- teme von Unternehmen um die Büros großer Firmen Vielen Dank. herum. Dazu gehören die Gastronomie, die Mitarbeiter (Beifall bei der CDU/CSU) bislang vor allem mittags versorgt haben, Einzelhändler, Verkehrsunternehmen sowie Tankstellen für Pendler, Facility-Management etc. etc. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Thomas Heilmann. – Nächster Redner: Wie Sie in Ihrem Antrag richtig feststellen, hat die für die AfD-Fraktion Uwe Witt. Coronakrise dazu beigetragen, die Einführung der Digita- lisierung zu beschleunigen. Aber damit entsteht keine (Beifall bei der AfD – Jutta Krellmann [DIE schöne, neue Arbeitswelt, wie Ihr Antrag suggeriert, son- LINKE]: Oh, der schon wieder! – Gegenruf dern ein Szenario, das ungeahnte Folgen für den Arbeits- der Abg. Nicole Höchst [AfD]: Da müssen markt und die Gesellschaft im Allgemeinen, den einzel- Sie jetzt durch!) nen Arbeitnehmer und sein familiäres Umfeld im Besonderen hat. (B) Uwe Witt (AfD): (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Also zu- Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten! Die Kol- rück zu Tafel und Griffel? – Beate Müller- legen der FDP legen uns einen Antrag vor, in dem sie der Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gerne Rechnung tra- Die AfD will die Telearbeit voranbringen!) gen möchten. Ihre Behauptung „Die Digitalisierung ist Die Vermischung von Arbeit und Privatleben – etwas, nicht nur einer der wichtigsten Wachstumstreiber der das übrigens über 50 Prozent aller Mitarbeiter im Home- aktuellen ökonomischen Entwicklung, sondern auch ein office als negativ bewerten – ist ein Problem, das Sie hier Motor der gesellschaftlichen Transformation und des in Ihrem Antrag durch die rosarote Brille betrachten. Wandels der Arbeitswelt“ zeigt allerdings eine eklatante Sicherlich mag es für den einen oder anderen Mitarbeiter Fehleinschätzung der Situation. Denn die heilige Kuh sinnvoll oder erleichternd erscheinen, sich tagsüber um „Digitalisierung“ hat einige Nebenwirkungen, die für Familie und Kinder kümmern zu können – aber zu wel- den Arbeitsmarkt leider extrem toxisch sind. Ich weiß, chem Preis? die FDP will sich hier besonders profilieren. Aber wie In der Realität sieht der Alltag doch so aus: morgens alles im Leben hat auch die Digitalisierung zwei Seiten, um 6 Uhr die E-Mails abrufen, dann Kinder in Kita und nämlich Licht und Schatten. Schule abgeben, zwei bis drei Stunden am Laptop arbei- Das Licht, in diesem Fall die Möglichkeit zum Home- ten, Mittagessen vorbereiten, Kinder abholen, bei Haus- office, hat vielen Menschen während des ersten Lock- aufgaben unterstützen, zwischendurch immer wieder downs die Chance zum Arbeiten gegeben. Hier gibt Arbeiten am Laptop erledigen, Kinder bettfertig machen es – da stimme ich der FDP zu – Bedarf, gesetzliche und dann bis spät in die Nacht für die Firma im Home- Regelungen auszuweiten und anzupassen. Der Schatten, office Arbeiten erledigen – in meinen Augen keine fami- den die Digitalisierung wirft, ist allerdings deutlich größ- lienfreundliche Perspektive! er als das eben erwähnte Licht. Digitalisierung transfor- (Beifall bei der AfD) miert: Jedoch wird der kleine Sachbearbeiter in einem Großraumbüro durch Digitalisierung nicht zum IT-Fach- Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Dafür wol- mann transformiert, sondern zum Arbeitslosen. len Sie, liebe FDP, die Arbeitszeitrichtlinien aufweichen und anstelle einer werktäglichen Höchstarbeitszeit eine (Beifall bei der AfD) identische wöchentliche Höchstarbeitszeit festlegen. Sie Laut einer Studie der ING-DiBa in Deutschland gibt es öffnen damit einer 24/7-Rund-um-die-Uhr-Dauerverfüg- circa 3,5 Millionen Bürokräfte und Mitarbeiter in ver- barkeit Tür und Tor. Ihr Antrag muss dringend mit dem zu wandten Berufen; durch fortschreitende Digitalisierung erwartenden Gesetzentwurf aus dem Hause Hubertus sind rund 3 Millionen dieser Arbeitsplätze mittelfristig Heil, dem Entwurf für das Mobile-Arbeit-Gesetz, im Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23509

Uwe Witt (A) Ausschuss diskutiert werden, um in Einklang mit gen, die diese Verlässlichkeit schaffen können. Und des- (C) Arbeitsschutz und Arbeitsschutzregeln gebracht zu wer- halb, meine Damen und Herren, wollen wir nicht nur ein den. Recht auf Homeoffice, sondern auch mehr Rechte für die Danke schön. Beschäftigten im Homeoffice. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Das heißt, klare gesetzliche Regelungen, zum Beispiel Vizepräsidentin Claudia Roth: zur Erfassung der Arbeitszeit. Vielen Dank, Uwe Witt. – Nächster Redner: für die Meine Damen und Herren von der FDP, Ihr Antrag gibt SPD-Fraktion Dr. Martin Rosemann. uns die Gelegenheit, hier heute über dieses wichtige (Beifall bei der SPD) Thema zu diskutieren. Ich erkenne in Ihrem Antrag im Vergleich mit dem, was wir vorhaben, durchaus Ge- meinsamkeiten: Wir wollen beide mobiles Arbeiten Dr. Martin Rosemann (SPD): voranbringen. Es gibt auch inhaltlich Gemeinsamkeiten: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fragen zum Erörterungsrecht, zum Unfallversicherungs- Befragungen zeigen: Etwa 40 Prozent der Beschäftigten schutz. Leider, Herr Vogel, haben Sie darüber viel zu in Deutschland möchten zumindest teilweise mobil oder wenig geredet. im Homeoffice arbeiten. Vor Corona gemacht haben es aber nur etwa 12 Prozent. Vizepräsidentin Claudia Roth: Durch die Coronapandemie haben wir einen Groß- Herr Rosemann. versuch erlebt: Plötzlich waren Dinge möglich, die vor- her für unmöglich erklärt wurden; das Ganze nicht ganz freiwillig, teilweise unter schwierigen Bedingungen, weil Dr. Martin Rosemann (SPD): plötzlich auch die Kinder, die nicht in die Schule, in die Ich komme gleich zum Ende, Frau Präsidentin. Kita gehen konnten, zu Hause nebenher betreut werden mussten. Und trotzdem – das zeigen aktuelle Umfragen – Vizepräsidentin Claudia Roth: haben die Beschäftigten dieses Homeoffice überwiegend Nein, sofort. als positiv erlebt. Leider scheitert Homeoffice in Deutschland zu häufig immer noch am Arbeitgeber. Lei- der haben wir auch in der Coronapandemie nur Werte Dr. Martin Rosemann (SPD): erreicht, die andere Länder – der Kollege Vogel hat auf Leider haben Sie zu viel über Regelungen zur Arbeits- zeit geredet. Leider wollen Sie dieses wichtige Schutz- (B) die Niederlande verwiesen – völlig unabhängig von (D) Corona bereits erreicht hatten. recht schleifen. Das, sage ich Ihnen, wird es mit uns nicht geben. Nutzen Sie doch die Möglichkeiten von Tarifver- Meine Damen und Herren, das Ziel der SPD heißt: Die trägen, die es bei uns in Deutschland gibt. Beschäftigten, die wollen, sollen dort, wo es betrieblich möglich ist, die Möglichkeit mobilen Arbeitens nutzen Herzlichen Dank. können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Deshalb wollen wir ein Recht auf mobiles Arbeiten. Wir Vizepräsidentin Claudia Roth: wollen die Arbeit nach Corona besser machen. Wir wol- Das war deutlich drüber. – Danke schön, Herr len die Chancen der Digitalisierung auch und gerade für Rosemann. die Beschäftigten nutzen. Wir wollen ihnen Arbeit er- (Dagmar Ziegler [SPD]: Das war eine Minute möglichen, die zum Leben passt. drüber!) Meine Damen und Herren, Studien und Erfahrungen – Ja, das ist deutlich drüber. Ich ziehe nichts ab, weil ich zeigen aber ebenso, dass Homeoffice und mobiles Arbei- gut aufgelegt bin. ten auch für Arbeitgeber Vorteile hat; denn die Beschäf- tigten sind motivierter und produktiver. Gleichzeitig wis- (Heiterkeit) sen wir, dass mobiles Arbeiten auch Gefahren mit sich – Um Gottes willen: Nein, nein, das ist rückwirkend. bringt: mehr Arbeit und mehr Belastungen. Denn die Rückwirkend gilt das nur. Wir kommen jetzt nämlich Arbeit ist schon zu Hause; man kann häufig nicht ganz gut durch. abschalten. Deshalb müssen wir darauf achten, dass es nicht zur Entgrenzung von Arbeit und Privatleben Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Jessica kommt, dass Beschäftigte eben nicht 24 Stunden rund Tatti. um die Uhr zur Verfügung stehen müssen. (Beifall bei der LINKEN) Wir machen doch die Erfahrung – das zeigen viele Befragungen, die jetzt in den letzten Monaten gemacht Jessica Tatti (DIE LINKE): worden sind –, dass Homeoffice und mobiles Arbeiten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In besonders dann gut funktionieren, wenn es vernünftig der Pandemie ist Homeoffice für viele Beschäftigte zum organisiert ist, wenn es klare Regelungen gibt, auf die Alltag geworden. Die einen machen die Erfahrung, dass sich alle Beteiligten verlassen können. Deshalb wollen es für sie nicht das Richtige ist. Für andere ist es eine wir mehr Tarifverträge und mehr Betriebsvereinbarun- ideale Arbeitsform, die sie gerne auch nach der Pandemie 23510 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Jessica Tatti (A) nutzen wollen. Und genau für diese Menschen wollte (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) Minister Heil vor einigen Wochen ein Recht auf Home- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE office auf den Weg bringen. Das war gut, auch wenn wir GRÜNEN) über die Ausgestaltung sicher noch intensiv hätten bera- Aber die FDP stützt sich ja lieber auf Behauptungen und ten müssen. sagt, man müsse ja am Abend noch irgendwie mal eine E- (Beifall bei der LINKEN) Mail abrufen können – als ob das rechtfertigen könnte, Aber der Koalitionspartner Union hat das Ganze gleich das Arbeitszeitgesetz als zentrales Schutzgesetz für alle beerdigt. Beschäftigten anzutasten. Das betrifft dann nämlich auch diejenigen, die überhaupt nicht die Möglichkeit haben, Jetzt holt die FDP das Thema in die Debatte und im Homeoffice oder mobil zu arbeiten. Es ist verwerflich, spricht im Antrag sogar einige wichtige Punkte an, was Sie hier machen. Denn gerade im Homeoffice wird (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Oha! – Stephan länger gearbeitet, werden weniger Pausen gemacht, kann Thomae [FDP]: Ich bin überrascht!) man schlechter von der Arbeit abschalten. Also muss man gerade hier eine astreine Dokumentation und Ein- wie Fragen der Arbeitsstättenverordnung oder der Unfall- haltung der Arbeitszeit sicherstellen. versicherung bei mobiler Arbeit. Auch die Blockadehal- tung vieler Arbeitgeber, sich mit Homeoffice-Wünschen (Beifall bei der LINKEN) ihrer Beschäftigten gar nicht erst befassen zu wollen, wird richtigerweise thematisiert. Aber, Herr Vogel, Aber die FDP macht eben das Einzige, was sie so richtig gut kann: einseitig die Interessen der Arbeitgeberverbän- (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ja?) de vertreten. es war ja von Ihnen nicht anders zu erwarten, dass Sie (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das dann gleich auch die Abschaffung des Achtstundentags stimmt ja auch!) und die Aufweichung von Ruhezeiten mit unterjubeln wollen, und das ist perfide. Und dann haben Sie auch noch die Frechheit, es so dar- zustellen, als wäre es im Interesse der Beschäftigten an (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. selbstbestimmten Arbeitszeiten. Wenn Sie in deren Inte- Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] und Beate resse handeln wollten, dann würden Sie die Tarifbindung Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausdehnen, die Mitbestimmung stärken und den massi- NEN]) ven Missbrauch bei den Überstunden stoppen wollen. Sie nennen das dann völlig irreführend ein „modernes“ Arbeitszeitgesetz. Was Sie wollen, ist aber alt – von (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (B) wegen „neu denken“! –: Das ist Frühzeit der Industriali- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (D) sierung, als die Arbeiter noch bis zum Umfallen schuften und des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] mussten. [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Das alles steht in Ihrem Antrag nicht drin. Deshalb ist Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 19. Jahr- er Schrott, und wir lehnen ihn ab. hundert!) (Beifall bei der LINKEN) Und das Recht auf einen geregelten Feierabend brachten dann auch nicht profitgierige Unternehmer und deren Vizepräsidentin Claudia Roth: Einsicht, sondern es wurde von der Arbeiterbewegung Vielen Dank, Frau Tatti. – Nächste Rednerin: für erkämpft. Das war echter sozialer Fortschritt, Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Die Linke steht zu dieser Errungenschaft – ganz im Mit Maske, Frau Kollegin! Gegensatz zur Union, die nichts Besseres zu tun hat, als sich diesen neoliberalen Fantasien der FDP gleich anzu- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schließen. NEN): (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Stimmt doch Ich habe es noch gemerkt. Ich habe geschwätzt – das gar nicht!) war das Problem. Dabei ist es doch längst belegt: Überlange Arbeitszei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- ten machen krank, sie isolieren Menschen von ihren legen! Wir haben unseren Antrag zum Homeoffice be- Familien und Freunden. reits im März eingebracht. Jetzt kommt die FDP mit dem Antrag. Aber eigentlich warten wir ja auf einen (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das sagen Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Heil. Er wurde Sie um 22.30 Uhr!) immerhin lautstark angekündigt und sollte ja eigentlich Spätestens nach acht Stunden sinkt die Konzentration, unverzüglich kommen. Die Union blockiert jetzt mal steigt das Unfallrisiko. Sie haben überhaupt nichts aus wieder. Der Gesetzentwurf wäre aber wichtig, gerade der Anhörung hier im Bundestag gelernt. Dabei haben jetzt in der zweiten Coronawelle, weil in genau dieser alle Arbeitswissenschaftler eindringlich vor einem sol- Zeit ja wieder mehr Menschen im Homeoffice arbeiten chen Angriff auf das Arbeitszeitgesetz gewarnt. werden. Es ist also höchste Zeit für klare Regelungen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23511

Beate Müller-Gemmeke (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]) Aber jetzt zum Antrag der FDP. Bei Homeoffice und mobilem Arbeiten müssen natürlich die Rahmenbedin- Vizepräsidentin Claudia Roth: gungen stimmen – Unfallversicherung, Arbeitsschutz, Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster Datenschutz –; da sind wir uns einig, das steht auch alles Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Stracke. in unserem Antrag und kann noch mal nachgelesen wer- den. Strittig wird es dann aber, wenn es ernsthaft darum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) geht, den Beschäftigten Zeitsouveränität zu geben. Denn beim mobilen Arbeiten geht es darum, dass Arbeit besser Stephan Stracke (CDU/CSU): ins Leben passt. Da geht es um Familie, um Kinder, um Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Pflege, aber auch um Ehrenamt, politische Arbeit oder Herren! Die Digitalisierung hat in der Coronakrise einen Weiterbildung. Die FDP will aber nur, dass die Beschäf- Schub erfahren. Videokonferenzen, Homeoffice, mobiles tigten das Recht bekommen, dass sich der Chef mit dem Arbeiten haben maßgeblich dazu beigetragen, unser Wunsch nach Homeoffice auseinandersetzt – das meint Wirtschaftsleben am Laufen zu halten. Die positiven der Begriff „Erörterungsrecht“ –, und das ist uns zu Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag zeigen: Die digitale wenig. Wir wollen die Beschäftigten tatsächlich mit Transformation ist kein Schreckgespenst. Im Gegenteil: einem Rechtsanspruch stärken. Sie macht vielmehr unsere Wirtschaft flexibler und funk- tionstüchtiger. Die digitale Transformation der Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) welt ist auch ein Mehrgewinn für die Beschäftigten. Die Gleichzeitig muss Homeoffice immer freiwillig sein, Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit wird spür- und vor allem muss mobile Arbeit immer auch alternie- bar besser. Die Arbeit kommt zu den Menschen und nicht rend sein, also eine Ergänzung zum festen Arbeitsplatz. umgekehrt. Die Beschäftigten dürfen nicht unsichtbar werden, und sie sollen auf gar keinen Fall den Kontakt zu ihren Kolle- Das ist auch der Wunsch der Beschäftigten. Das ginnen und Kollegen verlieren. Es geht um Nichterreich- beweist im Übrigen auch eine aktuelle Umfrage der barkeit. All das fehlt im Antrag der FDP. Hier sollte es um CSU im Bundestag – natürlich repräsentativ – den Schutz der Beschäftigten gehen, und der muss garan- (Heiterkeit bei der FDP sowie bei Abgeordne- tiert werden. ten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Anfang Oktober 2020. Auf die Frage, welche Maß- nahmen die Politik umsetzen soll, damit sich Familie und (B) Eigentlich geht es der FDP ja nur wieder um die (D) Arbeitszeit, genau wie beim Gesetzentwurf vom Anfang Beruf besser vereinbaren lassen, antworten 64 Prozent, der Legislaturperiode. Und die Anhörung war damals also ziemlich viele: flexible Arbeitszeiten. Das ist das, eindeutig: Nur die Arbeitgeberseite und der von der was 64 Prozent wollen. Weitere 10 Prozent wollen im FDP benannte Sachverständige waren dafür, alle anderen Übrigen ein Recht auf Homeoffice. Das bedeutet: Zwei waren dagegen, und das Argument war der Gesundheits- Drittel der Beschäftigten will mehr Flexibilität. Das ist schutz. Genau das unterschreiben wir ohne Wenn und eine Bestätigung unseres Kurses. Eine moderne Arbeits- Aber. welt braucht mehr Flexibilität, bezogen auf die Arbeits- zeit, auf den Arbeitsort und natürlich auch bezogen auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Arbeitsstrukturen. Da ist der Antrag der FDP ja tat- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sächlich ganz sympathisch. Nach der durchaus missli- KEN) chen Rede eures Vorsitzenden heute Vormittag ist das, Und jetzt sagen Sie, Kollege Vogel, immer: Es geht ja was du heute gesagt hast, lieber Johannes, durchaus stär- gar nicht darum, dass die Beschäftigten länger arbeiten; ker sinngeprägt. es geht um Freiheit und Selbstbestimmung. – Aber was (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – ist das für eine Freiheit, wenn die Beschäftigten dann auf Stephan Thomae [FDP]: Das hat sogar der Kol- einmal 12 oder gar 14 Stunden arbeiten müssen – und lege Stracke erkannt!) zwar die Beschäftigten in der Pflege, im Callcenter, die Reinigungskräfte –, weil sich der Arbeitgeber auf ein Der Schlüssel für mehr flexibles Arbeiten ist tatsäch- reformiertes Arbeitszeitgesetz berufen kann? Da kann lich eine Reform des Arbeitszeitgesetzes. Wo das ich nur sagen: Freiheit sieht anders aus. Arbeitszeitgesetz einfach nicht mehr passt – und die Bei- spiele, die Johannes genannt hat, sind ja durchaus praxis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerecht –, da muss es auch geändert werden, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee, da muss man einfach einen Es geht also nicht um das Arbeitszeitgesetz, sondern Tarifvertrag ausmachen!) um wirkliche Zeitsouveränität – bei der Dauer, bei der Lage und beim Ort der Arbeit. Wir meinen: Digitalisie- weil es der Realität eben nicht mehr entspricht. Und das rung geht auch anders. Wir müssen sie nur politisch wollen wir auch: Wir wollen die gesetzliche Höchstar- gestalten und dabei die Wünsche und den Schutz der beitszeit pro Tag abschaffen und stattdessen eine Höchst- Beschäftigten gleichermaßen im Blick haben. arbeitszeit pro Woche ermöglichen. Vielen Dank. (Stephan Thomae [FDP]: Dann mal los!) 23512 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Stephan Stracke (A) Flexiwoche statt starrer Achtstundentag – das ist ein – Da wollt ihr jetzt plötzlich keinen Tarifvertrag mehr: (C) moderner Ansatz für die Arbeit der Zukunft, und das einerseits ja, aber wenn Tarifvertragsparteien andererseits bedeutet im Übrigen auch mehr Freiheiten für flexible in diesem Bereich etwas vereinbaren, ist es auch wieder Vereinbarungen. nicht recht. Ein seltsames Verständnis von Tarifvertrags- parteien und Autonomie in diesem Bereich! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke – Da klatscht sogar auch die CDU neben der FDP. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie doch heute schon machen!) (Heiterkeit bei der FDP – Beifall des Abg. Carl-Julius Cronenberg [FDP]) Erst wenn beim Arbeitszeitgesetz nachgesteuert wird, lohnt sich letztendlich auch eine Debatte über die gesetz- Das nützt nicht nur denen, die von zu Hause arbeiten liche Ausgestaltung von mobiler Arbeit. können, sondern tatsächlich allen Arbeitnehmern, auch denjenigen, die beispielsweise in sogenannten Anwesen- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE heitsbranchen beschäftigt sind. Wir wollen deswegen die GRÜNEN]: Können Sie das mal begründen? – Spielräume der EU-Arbeitszeitrichtlinie nutzen. Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LIN- KE]) Klar ist auch: Mehr Flexibilität unter der Woche, Frau Die digitalen Technologien haben einen Schub erfahren. Kollegin von den Linken, bedeutet natürlich nicht, insge- Diesen Schub müssen wir jetzt für eine moderne Arbeits- samt länger zu arbeiten. welt der Zukunft nutzen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Thomae GRÜNEN]: Aber am Tag 14 Stunden, oder [FDP]: Vernünftige Ansichten, gesunder was? Geht’s denn noch?) Allgäuer Pragmatismus! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das macht mich richtig sauer! Dazu trägt beispielsweise auch die Notwendigkeit bei, Das ist ein Schutzgesetz!) die Arbeitszeit zu dokumentieren. Das hat uns ja der Europäische Gerichtshof auch noch mal deutlich gesagt. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank, Stephan Stracke. – Die letzte Rednerin in GRÜNEN]: Der Kollege Heilmann hat aber dieser Debatte: Dagmar Schmidt für die SPD-Fraktion. anders gesprochen!) (Beifall bei der SPD) (B) Dokumentation gibt es in beiden Bereichen, und deswe- (D) gen geht beides zusammen. Auch das Arbeitszeitgesetz Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): ist nämlich ein Arbeitnehmerschutzgesetz, und daran Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wollen wir natürlich nichts ändern. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben es (Zuruf von der LINKEN: Doch! Genau das gehört: Unsere Gesellschaft verändert sich, ist im Wan- machen Sie aber mit Ihrer Forderung!) del, die Arbeitswelt ändert sich. Wir erleben gerade in den Zeiten der Pandemie in ganz besonderer Art und Anfang Oktober hat Bundesminister Heil einen Weise das mobile Arbeiten und Homeoffice, aber auch Rechtsanspruch auf Homeoffice gefordert. Einen solchen die Möglichkeiten, zeitflexibler zu arbeiten. Rechtsanspruch lehnen wir als Union ab. Er ist im Übri- Die meisten finden es gut, wenn sie über Arbeitsort gen auch in der Koalition gar nicht vereinbart. Wir wollen und Arbeitszeit maßgeblich selbst entscheiden können. ein Erörterungsrecht; wir haben niedergelegt, was da Auch die Arbeitgeber öffnen sich angesichts der Pande- kommen soll. Wenn es einen Rechtsanspruch auf Home- mieerfahrungen jetzt endlich dafür; es wurde, ehrlich ge- office gäbe, wäre er nicht lebensgerecht, wenn er nicht sagt, auch Zeit. Aber sie haben eben auch berechtigte sinnvoll mit dem Arbeitszeitrecht verknüpft würde. Und Interessen, wenn es um den Arbeitsort und die Präsenz deswegen macht jetzt hier wieder Heil den zweiten im Betrieb oder auch um bestimmte Arbeitszeiten geht. Schritt vor dem ersten. Die Möglichkeiten der Flexibilisierung müssen also im (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ja was denn Interesse beider Seiten umgesetzt werden, und ich glaube jetzt?) auch, dass das geht, wenn man sich gleichberechtigt begegnet. Wir sagen: Da muss die Ordnung stimmen. Nun ist es in der echten Welt aber so, dass Unter- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE nehmen nicht basisdemokratisch, sondern hierarchisch GRÜNEN]: Homeoffice geht doch mit dem organisiert sind. Und in der echten Welt gibt es ein ganz normalen Arbeitszeitgesetz!) Abhängigkeitsverhältnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das auch gerne mal ausgenutzt und miss- Ich habe natürlich auch Sympathie für das, was die braucht wird. Da muss ich nicht über die Fleischwirt- FDP vorschlägt, nämlich weitgehende Tariföffnungs- schaft reden; das gibt es in allen Branchen, und Kontrol- klauseln im Hinblick auf die Ruhezeiten. len kommen da oftmals nicht hinterher (Zuruf von der LINKEN: Sie sind eine echte (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Leider ist das Strafe!) so!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23513

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) Leider haben wir auch die Erfahrung gemacht: Wenn Glück auf! (C) Schutzrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angefasst werden, manchmal aus guten Gründen, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommt der Missbrauch umgehend hinterher, Beispiel der CDU/CSU) Leiharbeit. Die Arbeitszeit ist schon heute ein schwieriges Thema Vizepräsidentin Claudia Roth: und sehr missbrauchsanfällig. Sie haben ja ein paar Bei- Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Damit schließe ich spiele genannt, die belegen, wie die Realität und die die Aussprache. Gesetzeslage dann nicht mehr zueinanderpassen. Es ist Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf die Frage: Muss man dann das Gesetz ändern oder die Drucksache 19/23678 an den Ausschuss für Arbeit und Realität? Soziales vorgeschlagen. – Es gibt keine weiteren Über- Der ständige Kampf gegen eine ordentliche Arbeits- weisungsvorschläge. Dann verfahren wir wie vorgeschla- zeiterfassung mit teils hanebüchenen und auch entlarv- gen. enden Argumenten, die wir in der Mindestlohndebatte Ich bitte jetzt, die Plätze zügig einzunehmen oder zu erlebt haben, spricht an der Stelle Bände. Deswegen: tauschen. Wenn wir gemeinsam wollen, dass wir den Arbeitneh- merschutz an die Veränderungen der Zeit anpassen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatz- dann kann die Antwort nicht „weniger Arbeitsschutz“ punkt 20 auf: sein, sondern dann muss sie „mehr Arbeitsschutz“ lauten, 25 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ein Arbeitsschutz, der auch durchgesetzt wird. CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines (Beifall bei der SPD) Gesetzes zur Entfristung von Vorschriften Und wer setzt das durch? 73 Prozent der Betriebe zur Terrorismusbekämpfung haben keinen Tarifvertrag. Das betrifft 48 Prozent der Drucksache 19/23706 Beschäftigten. Nur 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen – – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Vizepräsidentin Claudia Roth: ZP 20 Unterrichtung durch die Bundesregierung Moment mal! – Ich darf die Innenpolitiker der CDU/ CSU bitten, entweder ihre Witzchen draußen zu machen Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Geset- oder jetzt der Kollegin zuzuhören. zes zur Verlängerung der Befristung von Vor- (B) schriften nach den Terrorismusbekämpfungs- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesetzen DIE GRÜNEN) Drucksache 19/23350 Das gilt auch für Herrn Amthor. Wir sind gerade in einer Debatte, und es wäre anständig, wenn Sie jetzt zuhören Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) würden. – Sorry, es war wirklich störend. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz So, weiter geht’s! Verteidigungsausschuss Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): beschlossen. 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Ich eröffne die Aussprache und bitte die Kolleginnen und nur 9 Prozent der Betriebe haben einen Betriebsrat, und Kollegen, Platz zu nehmen und die Gespräche ein- und in Betrieben ohne Betriebsrat gibt es gar keine Mit- zustellen, damit der erste Kollege reden kann. bestimmungsregeln; da gibt es nur den gesetzlichen Schutz. Für eine moderne, flexible Wirtschaft brauchen Ich gebe das Wort Armin Schuster für die CDU/CSU- wir mehr Mitbestimmung – auch in den Betrieben ohne Fraktion. Betriebsräte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen uns schon aus Präventions- und Gesund- Meine letzte Rede in diesem Hohen Haus! Hätte ich es heitsgründen um die Rechte derjenigen sorgen, um die es mir aussuchen dürfen, hätte ich diese Uhrzeit gewählt. geht. Damit wir an der einen Stelle etwas verändern kön- nen, müssen wir darauf achten, dass wir an einer anderen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Stelle einen mindestens so starken Schutz aufbauen. Wir und der FDP) brauchen mehr Mitbestimmungsrechte, wenn es um – Ja, denn so habe ich dieses Haus die letzten elf Jahre Arbeitsort und Arbeitszeit geht, und dazu gehört auch erlebt; die Uhrzeit passt. das Recht auf Homeoffice, das wir schaffen wollen – für mehr Zeit für die Familie, weniger Stress und Stau, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE eben eine Arbeit, die zum Leben passt, in der Krise und GRÜNEN]: Ja, jetzt sind nur doch die da, die es auch danach. ernst meinen!) 23514 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) Was nicht passt – das muss ich ehrlich sagen –, ist, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (C) heute zu diesem Thema reden zu müssen. Angesichts CDU/CSU) von Nizza fällt mir das schwer. Wir sind in Gedanken mich beim lieben Gott und bei meiner CDU – ob im bei unseren französischen Freunden. Ich bin ihnen auch Kreis, ob im Land, ob im Bund, ob bei meiner Fraktion – geographisch sehr nahe. Wenn das stimmt, was mein zu bedanken. Es ist nicht selbstverständlich, dass man Generalsekretär getwittert hat, Herr Kuhle, dann haben hier als Sicherheitsexperte reinkommt und tatsächlich Sie die Initiative ergriffen und gerade eben spontan vor Innenausschuss machen darf; das ist überhaupt nicht der französischen Botschaft auch unsere Trauer noch mal selbstverständlich. gezeigt. Das haben viele Abgeordnete, viele Kolleginnen und Kollegen, gemacht, und ich finde das ein sehr schö- (Stephan Thomae [FDP]: Eher Zufall!) nes Zeichen an unsere französischen Freunde. Danke Ich durfte es elf Jahre machen, sieben Jahre als Obmann. dafür! Ich war in vier Untersuchungsausschüssen in allen Funk- (Beifall im ganzen Hause) tionen. Ich habe mich vom stellvertretenden Mitglied zum Vorsitzenden hochgearbeitet. Das ist schon eine stei- Leider zeigen Nizza und Dresden, wie wichtig es ist, le Karriere, finde ich. dass wir endlich das Terrorismusbekämpfungsgesetz ent- fristen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Warum?) Sieben Jahre Parlamentarisches Kontrollgremium und – Weil wir hybride Bedrohungslagen im Bereich des drei Jahre Vorsitzender: Das ist für jemanden wie mich, Rechtsterrorismus und im Bereich des internationalen der sich immer noch als normaler Bürger sieht, schon Terrorismus durch unsere Nachrichtendienste, und zwar etwas, was ich, glaube ich, erst begreifen werde, wenn weltweit im Verbund, besser bekämpfen können, wenn das mal wirklich rum ist und ich zurückgucke. wir Bewegungsbilder für Terrorgefährder erstellen kön- nen, wenn wir Finanztransaktionen für Terrorfinanzie- Ich glaube, ich habe sehr bewegte Zeiten in diesen rung offenlegen können, wenn wir Netzwerkaufklärung Funktionen erlebt, widerspreche aber ab sofort dem betreiben können. Dadurch können wir auch die Spiona- Satz, mit 48 Lebensjahren – damals kam ich hier rein; geabwehr verbessern und Proliferation besser bekämp- keine Sorge, ich bin wirklich so alt – könne man sich fen. nicht mehr entwickeln und verändern. Ich glaube, dass das der Lebensabschnitt war, der mich persönlich am „Otto-Pakete“ wird es etwas despektierlich genannt. meisten entwickelt hat. Ich hoffe, ich kann das irgendwie (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE in Bonn einsetzen. Ich möchte jedenfalls keine Sekunde (B) GRÜNEN]: Kataloge!) missen. Ich hatte eine Menge toller Ideen. Einiges davon (D) Otto Schily hat 2002 genau gewusst, was er tut. Das ist ist umgesetzt worden. Das, was wir nicht umgesetzt bis heute richtig. haben: Da seid ihr selber schuld. Das hätte es noch besser gemacht. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pleite gegangen! Zu Recht!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Unionsfraktion war damals übrigens in der Opposi- tion und hat diesem Paket zugestimmt, Ich trete nach meiner Wahrnehmung auf dem Höhe- punkt meines politischen Wirkens ab – da bin ich ziem- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE lich sicher – und gehe in meine berufliche Heimat zurück, GRÜNEN]: Ja!) in die Exekutive. Darauf freue ich mich ganz besonders; weil wir davon überzeugt waren. das konnte ich, glaube ich, nie verbergen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Stephan Thomae [FDP]: Keine Steigerung!) Dass es richtig war, haben die drei Verlängerungen Es ist der letzte Baustein für einen echten Sicherheits- gezeigt, die wir vorgenommen haben. Und im Übrigen experten, der mir noch fehlt. Nach den Nachrichtendiens- haben das auch die vier Evaluationen bewiesen. Der ten und der Polizei kommt jetzt der Katastrophenschutz. Bedarf und die Angemessenheit werden seit über 15 Jah- Das macht mich schon stolz. Wenn ich damit fertig bin: ren immer wieder von Wissenschaftlern attestiert. Sucht ihr euch mal einen Vergleichbaren! (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) GRÜNEN]: Dass ich nicht lache! Wer hat denn Meine Damen und Herren, nach Covid-19 – das wird evaluiert?) irgendwann vorbei sein – haben wir Lessons learned zu Sie können jetzt nur noch den Vatikan einschalten, wenn betreiben, und dann sehe ich die Stunde des Bundesamtes Sie noch eine Stufe höher gehen wollen. Ich glaube, wir für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Ich bin brauchen das nicht. Was es braucht, sind Vertrauen und mir ziemlich sicher, dass wir alle gemeinsam – auch die Zutrauen in unsere Sicherheitsbehörden. Das macht übri- Ministerpräsidenten – gelernt haben, dass wir mit diesem gens ganz besonders regierungsfähig. Amt ein hervorragendes Amt haben, das nicht nur im Spannungs- und im Verteidigungsfall, sondern auch in (Beifall bei der CDU/CSU) zivilen Fällen seine Leistung erbringen kann und erbrin- Ich glaube, es ist für mich an der Zeit – ich war schon gen will. Ich glaube, dass es neben Waldbränden, Flut- beim Vatikan –, katastrophen an der Elbe und dem Verteidigungsfall noch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23515

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) etwas gibt, was wir jetzt gerade bekämpfen, nämlich dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei (C) Katastrophen von nationalem Ausmaß, wobei das Bun- Abgeordneten der AfD – Die Abgeordneten desamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe der CDU/CSU erheben sich) eine andere Rolle spielen möchte. Dafür werde ich mich jedenfalls einsetzen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen der SPD für Herr Präsident, lieber Armin Schuster, ich möchte elf wirklich starke Jahre in der Innenpolitik. Mit keinem mich im Namen des Hauses bei Ihnen für viele streitbare anderen kann ich mir vorstellen so weit zu kommen, wie Auseinandersetzungen bedanken; das macht die Demo- wir gekommen sind. Diese Republik hat elf starke Jahre kratie erst richtig spannend. Ich wünsche Ihnen im hinter sich. Namen des Hauses alles, alles Gute für die wirklich wich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tige Funktion als Präsident des Bundesamts für Bevölke- der SPD – Stephan Thomae [FDP]: Nicht sehr rungsschutz und Katastrophenhilfe. ehrgeizig! Bescheidene Ansprüche!) Sie haben gesagt, dass Sie dann zurückschauen. Ich Die Union hat mit der SPD eine klasse GroKo-Politik hoffe von Herzen, dass Sie uns dann furchtbar vermissen. gemacht, und die werden wir mit dem BND-Gesetz, mit (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Ab- dem Bundesverfassungsschutzgesetz und mit dem Bun- geordneten der SPD) despolizeigesetz beenden; davon bin ich überzeugt. Alles Gute, Herr Schuster! (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit uns?) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Die Grünen: Leute, ich bin Wettkampfsportler, und LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD – wenn ich mich entscheiden könnte, im Vorlauf den Dagmar Ziegler [SPD]: Die Betonung liegt auf schwachen oder den starken Gegner zu haben, dann wür- „furchtbar“!) de ich den starken nehmen, und so charakterisiere ich euch. Wir sind so superstark, weil ihr es auch seid. Ich könnte jetzt sagen, die Redezeit Ihrer Kollegen ist deutlich aufgebraucht, aber so machen wir es nicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Oh!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der Ich glaube, dass die sehr gute Leistung der Regierung FDP) Merkel seit 15 Jahren viel damit zu tun hat, dass wir starke Gegner haben. Das macht uns besser. Danke dafür! Das war auch unser Dankeschön von hier oben an Sie. (B) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/ (D) GRÜNEN]: Ich beantrage Verlängerung der CSU]: Also, mir wurde gesagt, man wäre krea- Redezeit!) tiv bei der letzten Rede!) Die FDP habe ich vier Jahre in der Opposition und vier Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Christian Jahre in der Regierungskoalition erlebt. Ihr macht in Wirth. Opposition weit mehr Spaß. Bleibt dabei, liebe FDP! (Beifall bei der AfD) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christian Wirth (AfD): Stephan Thomae [FDP]: Und das ist kein Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Erst mal: Herr Spaß!) Schuster, viel Glück in Ihrem neuen Amt, alles Gute für Es ist wirklich cool. Ihr neues Berufsfeld! Bleiben Sie so, wie Sie sind! Würde Herzlichen Dank an alle Mitarbeiter. Das will ich mal mich freuen. sagen: Viele von uns wären bei Weitem nicht so gut, Deutschland ist seit dem Inkrafttreten des Terrorismus- wenn es die nicht gäbe. Über die redet nie jemand; die bekämpfungsgesetzes das Ziel zahlreicher Terroranschlä- dürfen nie hier drin sein. Vor denen mache ich einen ge geworden, die vor allem deswegen in den meisten großen Diener. Fällen misslungen sind, weil die Beamten unserer Behör- Ich scheide mit Trude Herr: den Außergewöhnliches leisten. In einem Land, in dem der Wunsch nach Sicherheit nicht selten als Populismus (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: „Nie- gebrandmarkt wird, sind wir denen zu Dank verpflichtet, mals geht man so ganz“!) die unsere Sicherheit gewährleisten. Aber warum muss Niemals geht man so ganz, irgendwas von mir bleibt! das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terroris- mus in Ihrer Begründung zum Gesetz zur Bekämpfung (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Das des internationalen Terrorismus und Rechtsterrorismus passt ins Rheinland! – Stephan Thomae mutieren? Die neue Unterscheidung zwischen internatio- [FDP]: Eine freundliche Drohung!) nalem und rechtem Terrorismus zeichnet ein falsches Als Bürger habe ich eine herzliche Bitte: Macht et jot! Narrativ, das parteipolitisch gefärbt ist. Der Kampf gegen rechts lässt mal wieder grüßen. Sowohl der islamistische Tschö! Terrorismus als auch der Linksterrorismus sind auch (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- inländischer Terrorismus. Der Rechtsterrorismus ist nicht fall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und nur ein inländisches Problem, sondern längst internatio- 23516 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Christian Wirth (A) nal inspiriert und verbunden. Wer Sicherheit parteipoli- (Beifall bei der AfD – Thorsten Frei [CDU/ (C) tisch instrumentalisiert, relativiert die Gefährlichkeit des CSU]: Wird auch zu später Stunde nicht bes- Terrorismus. ser!) (Beifall bei der AfD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Mit der Entfristung des Terrorbekämpfungsgesetzes Danke schön. – Uli Grötsch gibt seine Rede zu Proto- wollen Sie die Behörden stärken. Dem stimmen wir zu. koll.1) In der Praxis wird unseren Diensten jedoch in den Rücken gefallen. Nehmen Sie das Urteil des Bundesverfassungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gerichts vom Mai 2020, wonach die strategische Aus- Damit ist der nächste Redner, für die FDP-Fraktion, land-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND gegen das Benjamin Strasser. Grundgesetz verstoßen soll. Die Taliban mit ihrer Kom- munikation, die gerade deutsche Soldaten in Afghanistan (Beifall bei der FDP) angreifen, der IS- oder al-Qaida-Terrorist, der per Telefon zur Köpfung von Geiseln aufruft, der Irak mit seiner Benjamin Strasser (FDP): Propagandawebseite: Alle können sich jetzt laut Bundes- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und verfassungsgericht auf das Grundgesetz als neues Welt- Kollegen! Wir führen hier zu später Stunde eine in zwei- recht berufen. Hierdurch ist die Zusammenarbeit mit aus- erlei Hinsicht bemerkenswerte Debatte. Sie ist bemer- ländischen Diensten, auf die wir angewiesen sind, kenswert, weil wir es mit einem rot-grünen Terrorismus- nachhaltig gestört. bekämpfungsgesetz von 2001 zu tun haben, das bis heute in Teilen umstritten ist, und weil dieses Gesetz en passant Das sind die Probleme, die wir im Parlament anzuge- in zwei Sitzungswochen mal nebenbei entfristet werden hen haben. soll und damit eines wesentlichen Bestandteils beraubt Aber auch die Politik der Bundesregierung ist kontra- wird. Das ist auch bemerkenswert, weil die Große Koali- produktiv für die Sicherheit unserer Bevölkerung. Über- tion bis 2015 – – all in Europa – außer in Deutschland – ist anerkannt, dass der islamische Terrorismus die größte Gefahr für die Vizepräsidentin Claudia Roth: westliche Welt darstellt und in Zukunft sein wird. Herr Spaniel, könnten Sie bitte sofort Ihre Maske auf- Schauen wir nur nach Paris, Dresden. Allein heute gab setzen! Sonst gibt es einen Ordnungsruf. es drei islamische Terroranschläge gegen Franzosen. In Gedanken sind wir bei den Opfern und ihren Familien. (Zuruf des Abg. Dr. Dirk Spaniel [AfD]) (B) (Beifall bei der AfD sowie bei Abgeordneten – Ja. Sie haben es vorher auch schon mal vergessen. – (D) der CDU/CSU) Doch! Widersprechen Sie mir nicht! Auch dank der offenen Grenzen haben wir in Deutsch- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der land 28 000 erkannte Islamisten, davon rund 12 000 Sala- CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- fisten und über 1 000 Personen, die dem islamisch- SES 90/DIE GRÜNEN] – Karsten Hilse terroristischen Personenpotenzial zuzurechnen sind. Ab- [AfD]: „Widersprechen Sie mir nicht!“) schiebungen? Marginal! Nicht lügen! Ich habe Sie gesehen. Aber bitte, bitte Trotzdem arbeiten die Bundesregierung und die Bun- nächstes Mal, okay? – Alles klar. desländer mit radikalen Islamverbänden zusammen, die So, Herr Strasser, bitte. von islamischen Staaten wie der Türkei, Katar, Saudi- Arabien gesteuert werden, wo der islamische Terrorismus Benjamin Strasser (FDP): zur Staatsräson gehört – beste Voraussetzungen zur Radi- Bemerkenswert ist die Debatte aber auch, weil zumin- kalisierung Hunderttausender junger männlicher Musli- dest die SPD-Bundestagsfraktion bei der letzten Debatte me in Deutschland, die ihre Wünsche in Deutschland hier im Haus 2015 die Dinge ganz anders gesehen hat. nicht realisieren können. Der SPD-Kollege Grötsch, der jetzt leider nicht da ist, Die beste Aufklärung, der beste Geheimdienst und die meinte damals – Zitat –, für die SPD sei die Befristung besten Beamten nützen wenig, wenn sie mangels Kompe- „von entscheidender Bedeutung“, um die Notwendigkeit tenz, Personal oder Willen der Bundesregierung zur und Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen. Recht Untätigkeit verdammt sind. Um drei Terrorverdächtige hat er. Nur: Wo ist der Uli Grötsch von 2015 geblieben? einen Monat rund um die Uhr zu observieren, sind etwa (Beifall bei der FDP) 150 Vollzeitkräfte erforderlich. Die Konsequenz: siehe Dresden. Ein verurteilter IS-Anhänger konnte in Dresden Gerade in Zeiten der terroristischen Bedrohung müs- trotz Observierung einen deutschen Bürger ermorden. sen wir eine Debatte um bürgerliche Freiheitsrechte Beileidsbekundungen der Bundesregierung? – Wie schon führen, gerade in Zeiten der terroristischen Bedrohung beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz: Fehlanzeige! müssen wir über den Ausgleich von Freiheits- und Sicherheitsrechten reden. Ihnen ist diese Debatte über An die Bundesregierung: Beenden Sie endlich Ihr die Jahre anscheinend lästig geworden, und deswegen Sicherheitsbingo! Handeln Sie, schließen Sie die Gren- soll dieses Gesetz jetzt entfristet werden. zen, und schieben Sie Gefährder ab!

Vielen Dank. 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23517

Benjamin Strasser (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des (Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜND- (C) Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN]) DIE GRÜNEN]) Kohärenz, liebe Kollegen von der CDU/CSU! Uns haben Sie dabei nicht an Ihrer Seite; wir sind bekann- termaßen der Bürgerrechts-TÜV hier im Hohen Haus, Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die und der ist notwendiger denn je. Grünen Dr. Konstantin von Notz. (Beifall bei der FDP – Karsten Hilse [AfD]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was für ein Kalauer!) Wenn wir uns einmal anschauen, was diese Große Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Koalition in all den Jahren entweder angekündigt oder NEN): beschlossen hat, dann dreht sich einem schon der Helm: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Herr gibt nichts zu beschönigen: Die sicherheitspolitische Schuster hatte recht mit seiner Bemerkung!) Lage ist ernst, die Gefahren sind real. Wir haben das – es ist angesprochen worden – allein in den letzten Tagen Verschärfung Zollfahndungsdienstgesetz, Quellen-TKÜ, in Paris, in Dresden und, heute, in Nizza gesehen. Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, bio- metrische Gesichtserkennung an Bahnhöfen usw. usf. Auch ich möchte sehr danken, dass wir uns auf die Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Zeit für eine Anregung des Kollegen Kuhle heute auf dem Pariser Überwachungsgesamtrechnung, und deswegen haben Platz versammeln und unseren Freundinnen und Freun- wir Freien Demokraten diesen Antrag in dieser Woche den in Frankreich unsere Anteilnahme und vor allen Din- in den Deutschen Bundestag eingebracht. gen unsere unbedingte Solidarität zum Ausdruck bringen konnten. Herzlichen Dank an alle, die da waren! (Beifall bei der FDP) Wir sind nicht bereit, weiteren, neuen Befugnissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, oder einer Entfristung von Sicherheitsgesetzen zuzustim- bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der men, solange wir uns nicht einen Überblick über die LINKEN sowie des Abg. Karsten Hilse [AfD]) bestehenden Kompetenzen verschafft haben, solange Aber wir wissen auch aus unserem eigenen Land – wir nicht eine Evaluation haben, die diesen Namen ver- parallel zu unserer Debatte hier tagt der Untersuchungs- dient. Sie sind offensichtlich nicht willens oder nicht in ausschuss Breitscheidplatz –, wie ernst die Lage ist. Für der Lage, eine solche Evaluation vorzulegen. Was Sie uns ist entscheidend: Die Antworten auf die Frage, wie vorgelegt haben, ist ein Wunschzettel von Nachrichten- (B) man dieser Gefahr begegnet, unterscheiden Demokratien (D) diensten. von Diktaturen, unterscheiden Rechtsstaaten von Un- Aber, lieber Kollege Schuster – die letzten dreißig rechtsstaaten. Wir brauchen entschlossene, aber besonne- Sekunden gehören Ihnen –, es war immer eine faire und ne und scharfe, aber eben rechtsstaatliche Maßnahmen. kollegiale Zusammenarbeit mit Ihnen. Ihrer Fraktion Was wir nicht brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte man eigentlich zurufen: Wenn Sie Herrn Schuster sind Symboldebatten, wie zum Beispiel über die Vorrats- was Gutes tun möchten, wenn Sie der inneren Sicherheit datenspeicherung, die gerichtlich längst als verfassungs- was Gutes tun wollen, dann sorgen Sie endlich für eine widrig eingestuft worden ist, über unsinnige Fußfesseln, Föderalismuskommission III, die nicht zur Anwendung kommen, über Burkaverbote. (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Der Man muss an so einem Tag auch einmal ansprechen, Kollege Schuster hat das so aber nicht gesagt!) was die letzten Jahre nicht gelungen ist: Wir haben es nicht geschafft, über einheitliche, europaweit geltende die weniger Sicherheitsbehörden in Deutschland und Gefährderbegriffe zu sprechen, die wir dringend bräuch- mehr Verantwortlichkeit schafft sowie dem BBK eine ten, um überhaupt mit dieser Gefahr grenzüberschreitend Zentralstellenfunktion verschafft. – Hier haben Sie uns richtig umgehen zu können. an Ihrer Seite, Herr Kollege Schuster. Ihrem letzten Wunsch, nach Entfristung, können wir leider nicht zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Und was machen stimmen. wir dann mit denen?) (Beifall bei der FDP) Wir brauchen daneben Verbesserungen bei der zuverläs- sigen Zusammenarbeit im föderalen System. Außerdem Vizepräsidentin Claudia Roth: wurden neue Gefahren, wie durch Reichsbürger, durch Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Die Kollegin Ulla völkische Siedler, durch Antisemiten, durch Verschwö- Jelpke gibt ihre Rede zu Protokoll.1) rungsideologien und durch digital-vernetzte Rechtsterro- risten, viel zu spät erkannt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: All das zeigt: Die Sicherheitspolitik ist bei der Großen Eine gute Tat!) Koalition – den letzten drei Großen Koalitionen in 20 Jah- – Ihre zwei Redner können auch Applaus kriegen, wenn ren – nicht in guten Händen gewesen, und das ist extrem sie ihre Reden auch noch zu Protokoll geben, oder? bedauerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 9 und bei der FDP) 23518 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Dr. Konstantin von Notz (A) Und was machen Sie hier als GroKo auf der letzten Thorsten Frei (CDU/CSU): (C) Kurve dieser Legislatur? Sie entfristen mal einfach so. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schuster, das ist der entscheidende Punkt: Ohne Lieber Armin Schuster, du wirst uns hier im Hohen Hause eine einzige unabhängige Evaluierung dessen, was diese fehlen; das hast du heute ein weiteres Mal bewiesen. Dir Gesetze können und was sie nicht können, entfristen Sie zuzuhören, ist immer spannend und interessant. Es ist diese Otto-Kataloge. Das ist viel Symbolik, viel Bauch- auch lehrreich, weil du deine ganz persönlichen Erfah- politik, aber eben nicht die rationale, wissenschaftlich rungen als Polizist immer in die sicherheitspolitischen fundierte Innenpolitik, die wir in so ernsten Zeiten brau- Debatten hier mit eingebracht hast. Das wird uns in der chen. Tat fehlen. Ich glaube, das, was du hier als Erkenntnis aus der Vergangenheit zu den einzelnen Fraktionen beschrie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben hast, hat sich in der Debatte auch für die Zukunft und bei der FDP) leider schon bewahrheitet. Ich sage mal: Wer solche Sachen hier einfach durch- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) zieht, der sollte in den letzten Jahren unter Beweis gestellt haben, dass er ernsthaft auch seriöse Sicherheitsgesetze Ich glaube, diese Debatte ist auch deshalb ganz interes- hier durchs Haus bringt, die in Karlsruhe nicht aufgeho- sant, weil sie eine Reminiszenz an einen wirklich ganz ben werden. bemerkenswerten Bundesinnenminister ist, an Otto Schi- ly, der dieses Gesetz 2001 als eine Antwort auf die isla- (Stephan Thomae [FDP]: Genau!) mistischen Terroranschläge in New York auf den Weg Wenn ich mir vor diesem Hintergrund angucke, was hier gebracht hat. abends in einer halben Stunde einfach mal so aus dem Ich finde es wirklich geradezu albern, Herr Strasser, Bauch heraus entfristet wird, dann muss ich sagen: Das dass Sie sagen, wir würden hier im Vorbeigehen Gesetze passt nicht zusammen. entfristen. Herr Schuster, das sage ich Ihnen mit sozusagen aller (Benjamin Strasser [FDP]: Ja, machen Sie Sympathie und Kollegialität: Auch ich möchte mich ganz doch!) herzlich bedanken für Ihre Beiträge in der Innenpolitik, aber auch im Parlamentarischen Kontrollgremium, wo Viermal evaluiert, Sie als Vorsitzender eine ganz wichtige Rolle in den letz- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ten Jahren hatten und wir ganz entscheidende Reformen GRÜNEN]: Vom BMI!) vorangebracht haben. Danke für Ihre Kollegialität und vor allen Dingen für Ihre Sportlichkeit in den Debatten! die Befristung dreimal verlängert: Ich glaube, wir haben (B) Ich habe das immer extrem geschätzt. selten mal ein Gesetz verabschiedet, das auf seine Wirk- (D) mächtigkeit und auf die Frage, wie notwendig die Dinge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind, so gut untersucht war. bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- geordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Zu guter Letzt – ich komme zum Schluss –: Die FDP spricht es an: Das Bundesverfassungsgericht mahnt die Wenn man sich mal anschaut, wofür wir diese Infor- Überwachungsgesamtrechnung an. Wir tun das auch. Mit mationen brauchen – das ist von Armin Schuster darge- solchen Initiativen wie hier heute Abend, diesem Feder- stellt worden –, dann muss man sagen: Das Gesetz war in strich, machen Sie alle anderen Sicherheitsgesetze der Vergangenheit wirklich immer wirkungsvoll. schwieriger und problematischer, weil das Bundesverfas- Erstens hat es geholfen, den Nachrichtendiensten die sungsgericht alles auf den Tisch legen und gucken muss, Informationen von Telekommunikations- und Teleme- wie es um unsere Freiheitsrechte insgesamt steht, – dienunternehmen, von Kreditinstituten, von Luftfahrtun- ternehmen zur Verfügung zu stellen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Zweitens will ich an dieser Stelle auch sagen: Wenn Herr von Notz. man sich mal den Erhebungszeitraum des Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation anguckt, Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann sieht man: In diesen zwölf Monaten gab es genau NEN): 110 Anfragen vom Kanzleramt, Innenministerium und – und da ist das einfach kontraproduktiv. Verteidigungsministerium. Also, dieses Instrumentarium ist nie exzessiv eingesetzt worden. Das war nie diese Ganz herzlichen Dank. Orwell’sche Dystopie, die von der Opposition häufig an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Wand gemalt wurde: ein Staat, der mit seinen Diens- sowie bei Abgeordneten der FDP) ten die Bevölkerung massenhaft überwacht. – Das hat es nie gegeben; dieses Instrument ist maßvoll eingesetzt worden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Nächster Redner: Deswegen ist es vollkommen richtig, dass die Befris- für die CDU/CSU-Fraktion Thorsten Frei. tungen dieser Regelungen Anfang des nächsten Jahres nicht auslaufen, sondern dass wir diese Maßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU) dauerhaft zur Verfügung stellen können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23519

Thorsten Frei (A) Es ist auch deutlich geworden: Egal ob Sie über Seitdem hat sich die Welt und mit ihr auch die Bedro- (C) Rechtsextremismus, welcher derzeit ohne Zweifel das hungslage für unser Land in vielfältiger Weise weiter größte Problem für uns ist, über Linksextremismus oder verändert. über islamistischen Terrorismus sprechen: Wir haben es nach wie vor mit einer präzedenzlosen Gleichzeitigkeit Die Sicherheitsbehörden sehen sich heute Szenarien all dieser Bedrohungen in Sachen Extremismus und Ter- gegenüber, wie sie vor 20 Jahren noch nicht vorstellbar rorismus zu tun. Deswegen müssen wir unsere Dienste gewesen waren. Deshalb ist es keine Frage von politi- auch in die Lage versetzen, entsprechend tätig zu werden. scher Präferenz oder gar von politischer Ideologie, son- dern schlicht von ermittlungstaktischer Notwendigkeit, (Beifall bei der CDU/CSU) dass wir unseren Sicherheitsbehörden die Kompetenzen Wenn wir heute zu später Stunde dieses einfache, klei- und Arbeitsmittel an die Hand geben, die sie zwingend ne, aber eben wichtige und bedeutungsvolle Gesetz in die und im Übrigen dauerhaft benötigen. parlamentarische Debatte einbringen, dann sollte sein Schöpfer Otto Schily vielleicht auch ein Hinweisgeber Ich sage an die Adresse der Grünen: sein, wenn es darum geht, beispielsweise im Verfassungs- schutz, dafür zu sorgen, dass analoge Fähigkeiten in der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE digitalen Welt ihren Wert nicht verlieren. GRÜNEN]: Ja?) Ich finde, das war damals ein sehr vorausschauendes, Es ist schon bemerkenswert, lieber Herr Kollege von ein sehr kluges und innovatives Gesetz, und ich würde Notz, dass Sie es heute nach 18 Jahren immer noch nicht mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam mit unserem geschafft haben, sich in Ihrer Rede wenigstens zu Ihren sozialdemokratischen Koalitionspartner auch die nächs- damaligen Beschlüssen zu bekennen. ten Schritte für noch mehr Sicherheit in Deutschland gehen könnten. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, unabhängige Evaluierung!) GRÜNEN]: Ja, nächste Legislatur!) Sie haben viel darüber gesprochen, was nicht gelungen Herzlichen Dank an Sie alle. ist. Die wesentlichen Beiträge dazu haben Sie im Bundes- rat geleistet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ute Vogt [SPD]) Lieber Armin Schuster, darüber, was daraus nach der nächsten Wahl auch immer wird, will ich jetzt noch gar (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: nicht spekulieren. Aber eines will ich sagen: Denk ich an (D) Vielen Dank, Thorsten Frei. – Der letzte Redner in grüne Sicherheitspolitik in der Nacht, bin ich um den dieser Debatte und für den heutigen Abend ist für die Schlaf gebracht. CDU/CSU-Fraktion Michael Kuffer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) der AfD – Dr. Konstantin von Notz [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich weiß gar nicht, Michael Kuffer (CDU/CSU): was man dazu sagen kann! Wahnsinn!) Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mir eigentlich keinen traurigeren Anlass als Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns in dieser Legis- den vorstellen, der der heutigen Debatte die Aktualität laturperiode nach langwierigen Verhandlungen noch verleiht, die sie hat. Unsere Gedanken sind bei den gelungen ist, bei der Novelle des Bundesverfassungs- Opfern des neuen schrecklichen Anschlags in Nizza in schutzgesetzes einen Durchbruch zu erzielen. Den gefun- Frankreich. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen, denen Kompromiss können, glaube ich, alle gut mittra- bei der Grande Nation, aber nicht nur in Frankreich; denn gen, und ich freue mich auf die Beratungen. dieses Problem ist auch ein europäisches. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zum Ich will hinzufügen: Wir können über die Richtigkeit Abschluss sagen: Der CDU/CSU wird ja immer vorge- und über die Verhältnismäßigkeit von Coronamaßnah- worfen, dass wir im Bereich der Sicherheitspolitik eine men gerne und viel diskutieren, aber der eigentliche Obsession entwickeln. Ich glaube, deutlicher kann man Kampf um unsere Freiheit, liebe Kolleginnen und Kol- unsere Motivation nicht fehldeuten; denn wir handeln legen, findet an dieser Stelle gegen den islamistischen nicht zum Selbstzweck, sondern wir sind Überzeugungs- Terrorismus in seiner Hässlichkeit und in seiner Grau- täter. samkeit statt, wie er sich in Nizza wieder gezeigt hat. Ein ganz großer von diesen Überzeugungstätern und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der AfD einer, von dem ich glaube sagen zu können, dass er trotz und der FDP) seiner Klarheit über die Parteigrenzen hinweg Ansehen Die heutige Entscheidung zur Entfristung der Vor- genießt, wird in den kommenden Tagen seinen Abschied schriften nach dem Terrorismusbekämpfungsgesetz ist aus unseren Reihen nehmen, um sich neuen und ebenso deshalb nicht nur richtig, sondern natürlich längst über- wichtigen Aufgaben zu widmen. Deshalb bleibt uns allen fällig. Es ist gesagt worden: Der Ursprung der Regelun- und mir persönlich nur eines: ein herzliches „Vergelt’s gen reicht zurück bis ins Jahr 2002 und bis zu Otto Schily. Gott“, lieber Armin Schuster, verbunden mit großem 23520-23532 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

Michael Kuffer (A) Respekt für das, was Sie im vergangenen Jahrzehnt für Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (C) die Innen- und Sicherheitspolitik in diesem Lande den Drucksachen 19/23706 und 19/23350 an die in der erreicht haben. Wie gesagt, alles stets in großer Klarheit, Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. mit anerkanntem, ausgewiesenem Sachverstand und Es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann verfahren wir einem unverrückbaren Wertekompass. genau so. Für die neue Aufgabe von Herzen alles, alles Gute, Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- Gottes Segen und eine gute Zusammenarbeit! nung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Herzlichen Dank. tages auf morgen, Freitag, den 30. Oktober 2020, 9 Uhr, ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und der AfD) Kommen Sie bitte gut nach Hause. Einen schönen Restabend – bitte mit Maske heute Abend und morgen Vizepräsidentin Claudia Roth: früh! Die Sitzung ist geschlossen. Vielen Dank. – Damit schließe ich die Debatte. (Schluss: 23.20 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23533

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ Pohl, Jürgen AfD DIE GRÜNEN Remmers, Ingrid DIE LINKE Barthle, Norbert CDU/CSU Röring, Johannes CDU/CSU Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Ryglewski, Sarah SPD Dürr, Christian FDP Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Schlund, Dr. Robby AfD Hartmann, Verena fraktionslos Schraps, Johannes SPD Herdt, Waldemar AfD Schwartze, Stefan SPD Irmer, Hans-Jürgen CDU/CSU Sitta, Frank FDP Kemmer, Ronja* CDU/CSU Solms, Dr. Hermann Otto FDP Lamers, Dr. Dr. h. c. Karl A. CDU/CSU Spahn, Jens CDU/CSU Leidig, Sabine DIE LINKE Steier, Andreas CDU/CSU Löbel, Nikolas CDU/CSU Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (B) Ludwig, Dr. Saskia CDU/CSU (D) Warken, Nina CDU/CSU Magnitz, Frank AfD Weiler, Albert H. CDU/CSU Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU Zdebel, Hubertus DIE LINKE Mrosek, Andreas AfD Zeulner, Emmi CDU/CSU Müller, Dr. Gerd CDU/CSU Zimmermann, Pia DIE LINKE Müller, Hansjörg AfD Nord, Thomas DIE LINKE Pilger, Detlev SPD * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

Anlage 2

Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung (Tagesordnungspunkt 8 a) Abgegebene Stimmkarten: 657

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Marcus Bühl 124 509 24 –

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich. 23534 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Anlage 3 (C)

Ergebnis der Wahl von Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes (Tagesordnungspunkt 8 b) Abgegebene Stimmkarten: 657

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Albrecht Glaser 102 522 30 3 Volker Münz 125 499 28 5

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

Anlage 4

Ergebnisse der Wahl von Mitgliedern des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Tagesordnungspunkt 8 c) Abgegebene Stimmkarten: 657 Ergebnis der Wahl eines ordentlichen Mitglieds

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Peter Boehringer 130 497 24 6

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich. Abgegebene Stimmkarten: 657 (B) (D) Ergebnis der Wahl eines stellvertretenden Mitglieds

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Dr. Birgit Malsack-Winkemann 119 517 20 1

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

Anlage 5

Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an den Wahlen zu den Tagesordnungspunkten 8 a bis c teilgenommen haben

CDU/CSU Christoph Bernstiel Astrid Damerow Hans-Joachim Fuchtel Alexander Dobrindt Dr. Michael von Abercron Peter Beyer Ingo Gädechens Michael Donth Stephan Albani Marc Biadacz Dr. Thomas Gebhart Marie-Luise Dött Norbert Maria Altenkamp Steffen Bilger Alois Gerig Hansjörg Durz Philipp Amthor Peter Bleser Eberhard Gienger Thomas Erndl Artur Auernhammer Norbert Brackmann Eckhard Gnodtke Michael Brand (Fulda) Hermann Färber Ursula Groden-Kranich Peter Aumer Uwe Feiler Dorothee Bär Dr. Reinhard Brandl Hermann Gröhe Dr. Enak Ferlemann Klaus-Dieter Gröhler Thomas Bareiß Axel E. Fischer (Karlsruhe- Maik Beermann Silvia Breher Land) Michael Grosse-Brömer Manfred Behrens (Börde) Sebastian Brehm Dr. Maria Flachsbarth Astrid Grotelüschen Veronika Bellmann Heike Brehmer Thorsten Frei Markus Grübel Sybille Benning Ralph Brinkhaus Dr. Hans-Peter Friedrich Manfred Grund Dr. André Berghegger Dr. Carsten Brodesser (Hof) Oliver Grundmann Melanie Bernstein Gitta Connemann Michael Frieser Monika Grütters Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23535

(A) Fritz Güntzler Dr. Astrid Mannes Thomas Silberhorn Sören Bartol (C) Olav Gutting Matern von Marschall Björn Simon Bärbel Bas Christian Haase Hans-Georg von der Tino Sorge Lothar Binding Florian Hahn Marwitz Katrin Staffler (Heidelberg) Jürgen Hardt Andreas Mattfeldt Frank Steffel Dr. Eberhard Brecht Matthias Hauer Stephan Mayer (Altötting) Dr. Wolfgang Stefinger Leni Breymaier Mark Hauptmann Dr. Michael Meister Albert Stegemann Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Matthias Heider Dr. Angela Merkel Peter Stein (Rostock) Katrin Budde Mechthild Heil Jan Metzler Sebastian Steineke Dr. Lars Castellucci Thomas Heilmann Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Johannes Steiniger Bernhard Daldrup Frank Heinrich (Chemnitz) Michelbach Christian Frhr. von Stetten Dr. Daniela De Ridder Mark Helfrich Dr. Mathias Middelberg Dieter Stier Dr. Karamba Diaby Rudolf Henke Dietrich Monstadt Gero Storjohann Esther Dilcher Michael Hennrich Karsten Möring Stephan Stracke Sabine Dittmar Marc Henrichmann Elisabeth Motschmann Max Straubinger Dr. Wiebke Esdar Ansgar Heveling Axel Müller Karin Strenz Saskia Esken Christian Hirte Sepp Müller Dr. Peter Tauber Yasmin Fahimi Dr. Heribert Hirte Carsten Müller Dr. Hermann-Josef Dr. Johannes Fechner (Braunschweig) Alexander Hoffmann Tebroke Dr. Fritz Felgentreu Stefan Müller (Erlangen) Karl Holmeier Hans-Jürgen Thies Dr. Edgar Franke Dr. Andreas Nick Dr. Hendrik Hoppenstedt Alexander Throm Ulrich Freese Petra Nicolaisen Erich Irlstorfer Dr. Dietlind Tiemann Dagmar Freitag Michaela Noll Thomas Jarzombek Antje Tillmann Michael Gerdes Dr. Georg Nüßlein Andreas Jung Markus Uhl Martin Gerster Wilfried Oellers Dr. Volker Ullrich Angelika Glöckner Ingmar Jung Florian Oßner Arnold Vaatz Timon Gremmels Alois Karl Josef Oster Kerstin Vieregge Kerstin Griese Anja Karliczek Henning Otte Volkmar Vogel Michael Groß Torbjörn Kartes Ingrid Pahlmann (Kleinsaara) Uli Grötsch Volker Kauder Sylvia Pantel Christoph de Vries Bettina Hagedorn Dr. Stefan Kaufmann Martin Patzelt Kees de Vries Rita Hagl-Kehl Ronja Kemmer Dr. Joachim Pfeiffer Roderich Kiesewetter Dr. Johann David Metin Hakverdi (B) Stephan Pilsinger Wadephul (D) Michael Kießling Dr. Christoph Ploß Sebastian Hartmann Dr. Georg Kippels Marco Wanderwitz Dirk Heidenblut Eckhard Pols Kai Wegner Volkmar Klein Thomas Rachel Hubertus Heil (Peine) Axel Knoerig Marcus Weinberg Gabriela Heinrich Kerstin Radomski (Hamburg) Jens Koeppen Marcus Held Alexander Radwan Dr. Anja Weisgerber Markus Koob Alois Rainer Wolfgang Hellmich Peter Weiß Dr. Barbara Hendricks Carsten Körber Dr. Peter Ramsauer (Emmendingen) Gustav Herzog Alexander Krauß Eckhardt Rehberg Sabine Weiss (Wesel I) Gabriele Hiller-Ohm Gunther Krichbaum Lothar Riebsamen Ingo Wellenreuther Thomas Hitschler Dr. Günter Krings Josef Rief Marian Wendt Frank Junge Rüdiger Kruse Dr. Norbert Röttgen Kai Whittaker Michael Kuffer Josip Juratovic Stefan Rouenhoff Annette Widmann-Mauz Dr. Roy Kühne Thomas Jurk Erwin Rüddel Bettina Margarethe Andreas G. Lämmel Albert Rupprecht Wiesmann Oliver Kaczmarek Katharina Landgraf Stefan Sauer Klaus-Peter Willsch Elisabeth Kaiser Ulrich Lange Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Ralf Kapschack Dr. Silke Launert Jana Schimke Becker Gabriele Katzmarek Jens Lehmann Tankred Schipanski Oliver Wittke Cansel Kiziltepe Paul Lehrieder Christian Schmidt (Fürth) Tobias Zech Arno Klare Dr. Katja Leikert Dr. Claudia Schmidtke Paul Ziemiak Lars Klingbeil Dr. Andreas Lenz Patrick Schnieder Dr. Matthias Zimmer Dr. Bärbel Kofler Antje Lezius Nadine Schön Daniela Kolbe Andrea Lindholz Elvan Korkmaz-Emre Felix Schreiner SPD Dr. Carsten Linnemann Dr. Klaus-Peter Schulze Patricia Lips Uwe Schummer Niels Annen Christine Lambrecht Bernhard Loos Armin Schuster (Weil am Ingrid Arndt-Brauer Christian Lange (Backnang) Dr. Jan-Marco Luczak Rhein) Bela Bach Dr. Karl Lauterbach Daniela Ludwig Torsten Schweiger Heike Baehrens Sylvia Lehmann Karin Maag Detlef Seif Ulrike Bahr Helge Lindh Yvonne Magwas Johannes Selle Nezahat Baradari Kirsten Lühmann Dr. Thomas de Maizière Reinhold Sendker Doris Barnett Heiko Maas Gisela Manderla Dr. Patrick Sensburg Dr. Matthias Bartke Isabel Mackensen 23536 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Caren Marks Carsten Träger Dr. Birgit Malsack- Gyde Jensen (C) Dorothee Martin Ute Vogt Winkemann Dr. Christian Jung Katja Mast Marja-Liisa Völlers Corinna Miazga Karsten Klein Christoph Matschie Dirk Vöpel Volker Münz Dr. Marcel Klinge Hilde Mattheis Gabi Weber Sebastian Münzenmaier Daniela Kluckert Dr. Matthias Miersch Dr. Joe Weingarten Christoph Neumann Klaus Mindrup Bernd Westphal Jan Ralf Nolte Dr. Lukas Köhler Susanne Mittag Gülistan Yüksel Gerold Otten Carina Konrad Falko Mohrs Dagmar Ziegler Wolfgang Kubicki Claudia Moll Stefan Zierke Tobias Matthias Peterka Konstantin Kuhle Siemtje Möller Dr. Jens Zimmermann Paul Viktor Podolay Alexander Kulitz Bettina Müller Stephan Protschka Alexander Graf Lambsdorff Martin Reichardt Ulrich Lechte Detlef Müller (Chemnitz) AfD Michelle Müntefering Roman Johannes Reusch Christian Lindner Dr. Rolf Mützenich Marc Bernhard Ulrike Schielke-Ziesing Michael Georg Link Dietmar Nietan Andreas Bleck Jörg Schneider (Heilbronn) Ulli Nissen Peter Boehringer Uwe Schulz Oliver Luksic Josephine Ortleb Stephan Brandner Thomas Seitz Till Mansmann Mahmut Özdemir Jürgen Braun Martin Sichert Dr. Jürgen Martens (Duisburg) Marcus Bühl Detlev Spangenberg Christoph Meyer Aydan Özoğuz Matthias Büttner Dr. Dirk Spaniel Alexander Müller Markus Paschke Petr Bystron René Springer Roman Müller-Böhm Christian Petry Tino Chrupalla Beatrix von Storch Dr. Martin Neumann Sabine Poschmann Joana Cotar Dr. Alice Weidel (Lausitz) Florian Post Dr. Dr. Harald Weyel Matthias Nölke Achim Post (Minden) Siegbert Droese Wolfgang Wiehle Hagen Reinhold Florian Pronold Thomas Ehrhorn Dr. Heiko Wildberg Bernd Reuther Martin Rabanus Berengar Elsner von Dr. Christian Wirth Dr. h. c. Thomas Mechthild Rawert Gronow Uwe Witt Sattelberger Christian Sauter Andreas Rimkus Dr. Michael Espendiller Frank Schäffler Sönke Rix Peter Felser FDP Dr. Wieland Schinnenburg Dennis Rohde Dietmar Friedhoff Grigorios Aggelidis Matthias Seestern-Pauly (B) Dr. Martin Rosemann Dr. Anton Friesen (D) Renata Alt Judith Skudelny René Röspel Markus Frohnmaier Christine Aschenberg- Bettina Stark-Watzinger Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Götz Frömming Dugnus Dr. Marie-Agnes Strack- Michael Roth (Heringen) Dr. Alexander Gauland Nicole Bauer Zimmermann Susann Rüthrich Albrecht Glaser Jens Beeck Benjamin Strasser Bernd Rützel Franziska Gminder Dr. Jens Brandenburg Katja Suding Johann Saathoff Wilhelm von Gottberg (Rhein-Neckar) Linda Teuteberg Axel Schäfer (Bochum) Kay Gottschalk Mario Brandenburg Michael Theurer Dr. Nina Scheer Armin-Paulus Hampel (Südpfalz) Stephan Thomae Marianne Schieder Mariana Iris Harder- Sandra Bubendorfer-Licht Manfred Todtenhausen Kühnel Udo Schiefner Dr. Marco Buschmann Dr. Andrew Ullmann Dr. Roland Hartwig Dr. Nils Schmid Karlheinz Busen Gerald Ullrich Jochen Haug Uwe Schmidt Carl-Julius Cronenberg Johannes Vogel (Olpe) Ulla Schmidt (Aachen) Udo Theodor Hemmelgarn Britta Katharina Dassler Sandra Weeser Dagmar Schmidt (Wetzlar) Martin Hess Bijan Djir-Sarai Nicole Westig Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Heiko Heßenkemper Hartmut Ebbing Katharina Willkomm Michael Schrodi Karsten Hilse Dr. Marcus Faber Ursula Schulte Nicole Höchst Daniel Föst DIE LINKE Martin Schulz Martin Hohmann Otto Fricke Swen Schulz (Spandau) Dr. Bruno Hollnagel Thomas Hacker Doris Achelwilm Frank Schwabe Leif-Erik Holm Reginald Hanke Gökay Akbulut Andreas Schwarz Fabian Jacobi Peter Heidt Simone Barrientos Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Marc Jongen Katrin Helling-Plahr Dr. Dietmar Bartsch Rainer Spiering Jens Kestner Markus Herbrand Lorenz Gösta Beutin Svenja Stadler Stefan Keuter Torsten Herbst Matthias W. Birkwald Martina Stamm-Fibich Norbert Kleinwächter Heidrun Bluhm-Förster Sonja Amalie Steffen Jörn König Dr. Gero Clemens Hocker Michel Brandt Mathias Stein Steffen Kotré Manuel Höferlin Christine Buchholz Kerstin Tack Dr. Rainer Kraft Dr. Christoph Hoffmann Dr. Birke Bull-Bischoff Claudia Tausend Rüdiger Lucassen Reinhard Houben Jörg Cezanne Michael Thews Jens Maier Ulla Ihnen Sevim Dağdelen Markus Töns Dr. Lothar Maier Olaf In der Beek Fabio De Masi Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23537

(A) Dr. Diether Dehm Tobias Pflüger Harald Ebner Friedrich Ostendorff (C) Anke Domscheit-Berg Martina Renner Matthias Gastel Cem Özdemir Klaus Ernst Bernd Riexinger Kai Gehring Lisa Paus Susanne Ferschl Eva-Maria Schreiber Stefan Gelbhaar Brigitte Freihold Dr. Petra Sitte Katrin Göring-Eckardt Tabea Rößner Nicole Gohlke Helin Evrim Sommer Erhard Grundl Claudia Roth (Augsburg) Dr. Gregor Gysi Kersten Steinke Anja Hajduk Dr. André Hahn Friedrich Straetmanns Britta Haßelmann Dr. Manuela Rottmann Heike Hänsel Dr. Kirsten Tackmann Dr. Bettina Hoffmann Corinna Rüffer Matthias Höhn Jessica Tatti Dr. Anton Hofreiter Manuel Sarrazin Andrej Hunko Alexander Ulrich Ottmar von Holtz Ulle Schauws Ulla Jelpke Kathrin Vogler Dieter Janecek Dr. Frithjof Schmidt Kerstin Kassner Dr. Dr. Kirsten Kappert- Stefan Schmidt Dr. Achim Kessler Andreas Wagner Gonther Uwe Kekeritz Charlotte Schneidewind- Katja Kipping Harald Weinberg Hartnagel Jan Korte Katja Keul Katrin Werner Kordula Schulz-Asche Jutta Krellmann Sabine Zimmermann Sven-Christian Kindler Caren Lay Maria Klein-Schmeink Dr. Wolfgang Strengmann- (Zwickau) Kuhn Ralph Lenkert Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Margit Stumpp Michael Leutert BÜNDNIS 90/ Christian Kühn (Tübingen) Markus Tressel Stefan Liebich DIE GRÜNEN Dr. Gesine Lötzsch Renate Künast Jürgen Trittin Thomas Lutze Lisa Badum Markus Kurth Dr. Julia Verlinden Pascal Meiser Annalena Baerbock Monika Lazar Daniela Wagner Amira Mohamed Ali Margarete Bause Sven Lehmann Wolfgang Wetzel Dr. Danyal Bayaz Cornelia Möhring Dr. Tobias Lindner Gerhard Zickenheiner Niema Movassat Canan Bayram Dr. Irene Mihalic Fraktionslos Norbert Müller (Potsdam) Dr. Franziska Brantner Claudia Müller Dr. Alexander S. Neu Agnieszka Brugger Beate Müller-Gemmeke Marco Bülow Petra Pau Dr. Anna Christmann Dr. Ingrid Nestle Uwe Kamann Sören Pellmann Ekin Deligöz Dr. Konstantin von Notz Victor Perli Katharina Dröge Omid Nouripour Dr. Frauke Petry (B) (D)

Anlage 6 Ursprünglich hatte der Deutsche Bundestag beschlos- sen, das Mandat für die Beteiligung der Bundeswehr am Erklärungen nach § 31 GO Einsatz gegen die Terrormiliz IS in Syrien und im Irak Ende März 2020 auslaufen zu lassen. Nach dem damali- zu der namentlichen Abstimmung über die Be- gen Beschluss sollten sich bewaffnete deutsche Streit- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses kräfte noch bis zum 31. März 2020 mit Tornado-Aufklä- zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung rungsjets und Tankflugzeugen am Kampf gegen die des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte – Terrororganisation IS in Syrien und im Irak beteiligen. Stabilisierung sichern, Wiedererstarken des IS 343 Abgeordnete stimmten dafür, und bei 3 Enthaltungen verhindern, Versöhnung fördern in Irak und Syrien stimmten 274 dagegen. Die damalige Entscheidung zeig- te bereits deutlich, dass es erhebliche Bedenken gegen (Tagesordnungspunkt 17) den Einsatz in Syrien und im Irak gegeben hatte. Der Einsatz der deutschen Tornadoflugzeuge zur luftgestütz- ten Aufklärung endete zum 31. März 2020. Die Aufgaben Elvan Korkmaz-Emre (SPD): Aus persönlicher wurden fortan von Italien übernommen. Darüber hinaus Überzeugung kann ich dem Mandat nicht zustimmen. leistet Deutschland mit der Bereitstellung eines Luft- Ich respektiere mit meiner Enthaltung jedoch ausdrück- raumüberwachungsradars weiterhin einen wesentlichen lich das Engagement der Bundesregierung, die Initiativen Beitrag zur Luftraumüberwachung und Lagebilderstel- konsequent und zeitnah zu einem friedlichen Ende zu lung für die internationale Anti-IS-Mission in Irak und führen. in Syrien. Nach dem Ergänzungsmandat im Frühjahr soll- te das Mandat nun Ende Oktober 2020 auslaufen, nun soll es aufgrund der anstehenden Bundestagswahl 2021 um Markus Paschke (SPD): Die Entscheidung über Aus- 15 Monate verlängert werden. landseinsätze der Bundeswehr gehört zu den schwierig- sten Entscheidungen, die Abgeordnete des Deutschen Mit dem vorliegenden Antrag sinken die Risiken für Bundestages zu treffen haben. Die Bundeswehr beteiligt unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet nicht sich seit 2015 am internationalen Anti-IS-Einsatz, um zu wesentlich, da mittlerweile auch wieder der Einsatz mili- einer Stabilisierung der Region beizutragen – diese Stabi- tärischer Tankflugzeuge vorgesehen ist. Die Terrororga- lisierung ist bisher ausgeblieben. nisation Islamischer Staat war bereits in den vergangenen 23538 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) Jahren in der irakischen und syrischen Fläche militärisch Auch wenn Teile des Auftrags nun verstärkt im NATO- (C) fast vollkommen besiegt, und die ursprüngliche Idee, ter- Rahmen durchgeführt werden, erlaubt das Mandat der roristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden, Bundeswehr, auch zukünftig in einer Allianz der Willigen ist gescheitert. Die Gefahr islamistischer Terroranschläge zu agieren. ist nicht kleiner, sondern konstant geblieben – dies ver- Militärisch-friedenssichernde Maßnahmen sollten deutlicht, dass Militäreinsätze Terrorismus nicht nachhal- nach meiner festen Überzeugung – neben fortwährenden tig bekämpfen können. diplomatischen Beziehungen – über UN-Friedensmissio- nen erfolgen. Weiterhin liegt für die Mission keine Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat unter Bezug auf Kapitel Aufgrund der fehlenden verfassungs- und völkerrecht- VII der UN-Charta vor, also existiert kein explizites Man- lichen Grundlage des Mandats kann ich den Einsatz – wie dat der Vereinten Nationen. Es ist nach meiner Auffas- bereits die vorausgegangenen Mandate – in dieser Form sung unerlässlich, dass die Weltgemeinschaft bzw. die nicht befürworten und stimme mit Nein. Vereinten Nationen die Hoheit über militärische Einsätze haben. Dies kann nicht durch Beschlüsse der NATO oder anderer Koalitionen ersetzt werden. Auch verhindern die Anlage 7 derzeitigen Interessenkonflikte irakischer Parteien eine dauerhafte Stabilisierung der gesamten Region auf dem Erklärung nach § 31 GO militärischen Wege. der Abgeordneten Heike Brehmer, Christian Letztendlich muss eine Lösung für den Abzug deut- Haase, Axel Knoerig und Sepp Müller (alle CDU/ scher Streitkräfte gefunden werden, oder die bisherigen CSU) zu der Abstimmung über den von der Bun- Bündnisverabredungen müssen in ein Mandat der Verein- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes ten Nationen überführt werden. zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken (Tagesordnungspunkt 19 a) Für unsere Soldatinnen und Soldaten sind die Einsätze in Syrien und im Irak eine hohe Belastung. Aus zahlrei- Wir stimmen im Parlament heute über das „Vor-Ort- chen persönlichen Berichten und Gesprächen weiß ich, Apotheken-Stärkungsgesetz“ (VOASG) ab. Ziel des dass diese Belastung oft zu schwerwiegenden persön- Gesetzes ist es, die flächendeckende Arzneimittelversor- lichen Problemen, beispielsweise bei der psychischen gung der Bevölkerung auch in Zukunft sicherstellen zu Verarbeitung des Erlebten, führt. Mir wird dabei immer können und die Vor-Ort-Apotheken als wichtigen und wieder deutlich: Die Wahrnehmung der Soldaten unter- unverzichtbaren Standpfeiler der wohnortnahen Gesund- (B) (D) scheidet sich häufig von den offiziellen Verlautbarungen. heitsversorgung in Deutschland zu stärken. Als Abgeord- neter des ländlichen Raums unterstütze ich dieses Ziel der Ich begrüße die internationalen Bemühungen, auch medizinischen und pharmazeutischen Versorgung in der nichtmilitärische Lösungen für die aktuelle Situation in Fläche mit Nachdruck. Syrien und im Irak zu finden. Dieses Engagement Die Apotheke vor Ort ist für viele Menschen ein Stück Deutschlands unterstütze ich. Heimat – und eine wichtige Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten. Sie erbringt eine unverzichtbare Leistung Aus diesen Gründen stimme ich beim vorliegenden für die Versorgung der Bevölkerung; das hat gerade die Antrag mit Nein. derzeitige Situation in der Pandemie eindrucksvoll gezeigt. Apotheken erfüllen eine wichtige Funktion im kommunalen Gefüge und als niedrigschwelliger Gesund- Dr. Nina Scheer (SPD): Die Fortführung des Bundes- heitsdienstleister. wehrmandats ist weiterhin von dem Bestreben getragen, Trotz langer und intensiver Beratungen ist es nicht einen Beitrag zum Schutz der Staatlichkeit des Irak sowie gelungen, einen wichtigen Baustein aufrechtzuerhalten: für die Stabilität der gesamten Region zu leisten; das Es geht um den Erhalt der Preisbindung in § 78 Absatz 1 Bestreben erkenne ich an. Das Mandat vermischt nach Satz 4 AMG. Einheitliche, gebundene Preise sind uner- meiner Einschätzung aber – wie auch bereits die voraus- lässlich, um eine gerechte Versorgung der Menschen zu gegangenen Mandate – Ansätze einer Ausbildungsmis- sichern, in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen, im sion mit einem verfassungs- und völkerrechtlich proble- Nacht- und Notdienst, bei Lieferengpässen und Epide- matischen Bundeswehreinsatz in einer „Koalition der mien. Wettbewerb sollte nur über die Qualität der phar- Willigen“ im Rahmen der Anti-IS-Koalition. Luftbe- mazeutischen Dienst- und Beratungsleistungen erfolgen. tankung, bodengebundene Luftraumüberwachung und Beteiligung an AWACS-Luftraumüberwachungsflügen Mir ist bewusst, dass dies zu einem Rechtsstreit vor werden auch in Zukunft ausschließlich im Rahmen der dem EuGH geführt hätte bzw. anhängige Verfahren fort- Anti-IS-Koalition stattfinden. Demgegenüber können die geführt worden wären. Mit der richtigen Argumentation – irakischen Streit- und Sicherheitskräfte seit der Mandats- immerhin hat der Bundestag die Buchpreisbindung bestä- ergänzung im März 2020 sowohl im Rahmen der Anti-IS- tigt – hätten solche Verfahren meines Erachtens nach gute Koalition als auch im Rahmen der NATO-Mission aus- Chancen auf einen positiven Ausgang gehabt. Der EuGH gebildet werden. Im Zusammenhang mit der Ausbildung hat zumindest in seinen Schriftsätzen deutlich gemacht, ist zudem die mangelnde Kontrolle der Zentralregierung dass er zusätzlichen Argumenten gegenüber aufgeschlos- über die irakischen Sicherheitskräfte zu kritisieren. sen ist. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23539

(A) Die nun vorgenommene – alternative – Übertragung und auch die Anbieter von Versicherungen das Recht auf (C) der Preisbindung in das SGB V durch das VOASG ist ein handwerklich solide gemachtes Gesetz, das sie in ein wichtiger Schritt, bleibt aber halbherzig, da die Zukunft weniger oft zur Klärung vor Gerichte führt. PKV ausgeschlossen bleibt. Ich bedauere, dass in den Verhandlungen mit der EU-Kommission dieser Punkt, Diesen Anspruch erfüllt das Gesetz leider nicht. In für die CDU/CSU schweren Herzens, aufgegeben werden ihrer Erwiderung auf die Stellungnahme des Bundesrates musste. Die Freigabe der Preise im Bereich der PKV und und andere kritische Rückmeldungen weist die Bundes- Selbstzahler hat zwangsläufig zur Folge, dass die an den regierung Einwände mit der Begründung zurück, man Unterschied des Arzneimittels als „besondere Ware“ habe den Gesetzentwurf wohl falsch verstanden und das anknüpfende Argumentation künftig ins Leere geht. dazu gehörende BMF-Schreiben werde alle Unklarheiten Auch der kassenartunabhängige Aspekt der Sicherstel- beseitigen. Wie bitte? Wenn ich als Gesetzgeber weiß, lung einer bundesweiten Versorgungsgerechtigkeit als was ich will, warum schreibe ich das dann nicht auch Ausprägung des Verfassungsgebotes von der Gewährleis- klipp und klar in das Gesetz rein, sondern schreibe eine tung einheitlicher Lebensbedingungen in Deutschland ist Bedienungsanleitung für Leserinnen und Leser? dann argumentativ weitestgehend verloren. Umso wich- Noch schlimmer: Es braucht nicht nur ein BMF- tiger ist die Feststellung, dass die EU dem VOASG in Schreiben, um das Gesetz zu verstehen, sondern wesent- seiner nun vorliegenden Form positiv gegenübersteht. liche Regelungen werden von vornherein in die „Wieder- Darüber hinaus möchte ich die positiven Regelungen belebung“ der Durchführungsverordnung zur Versiche- des VOASG für die Vor-Ort-Apotheken anerkennen. Ich rungsteuer am Parlament vorbeiverschoben. Wenn wir nenne hier zum Beispiel die zusätzliche Entlohnung von doch gerade ein Gesetz machen, dann sollte doch bitte Apothekerinnen und Apothekern für zusätzliche pharma- alles, was schon jetzt absehbar geregelt werden soll, auch zeutische Dienstleistungen. Beispiele hierfür sind eine detailliert im Gesetz stehen. intensive pharmazeutische Betreuung bei einer Krebsthe- Die Unklarheit ist besonders ärgerlich bei den kommu- rapie oder die Arzneimittelversorgung von pflegebedürf- nalen Beihilfeablöseversicherungen. Mit diesen sichern tigen Patienten in häuslicher Umgebung. Hierfür werden sich die Kommunen gegen Risiken ab, die durch schwer- durch eine Änderung der Arzneimittelpreisverordnung wiegende Erkrankungen ihrer Beamten entstehen könn- 150 Millionen Euro netto zur Verfügung gestellt. ten. Je nach Lesart des Gesetzes könnten diese Versiche- rungen eben nicht mehr versicherungsteuerfrei bleiben. Da alternativ eine komplette Aufgabe der Preisbindung im Raum steht, kann ich mit starken Bedenken dem Ge- Insgesamt schränkt das Gesetz bei verschiedenen Ver- setz zustimmen , auch weil deutliche Verbesserungen sicherungen die Versicherungsteuerfreiheit ein, wo bis- (B) zum Kabinettsentwurf im parlamentarischen Verfahren lang Dritte, zum Beispiel Familienangehörige, mitversi- (D) erreicht werden konnten. chert werden. Überhaupt entstehen durch die Änderung des Angehörigenstatus ein großer Verwaltungsaufwand Auch bei weiteren Gesetzesvorhaben wie dem Patien- und nicht selten auch Mehrbelastungen für Versiche- tendatenschutzgesetz müssen wir uns von dem Gedanken rungsnehmer und Versicherer. einer Stärkung der Vor-Ort-Apotheken leiten lassen. Der Gesetzentwurf ist insgesamt zum größten Teil missglückt und wird von uns abgelehnt. Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Rede Anlage 9

zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Zu Protokoll gegebene Reden brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- rung des Versicherungsteuerrechts und zur Ände- zur Beratung rung dienstrechtlicher Vorschriften – des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD (Tagesordnungspunkt 24) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent- fristung von Vorschriften zur Terrorismusbe- kämpfung Jörg Cezanne (DIE LINKE): Das vorliegende Gesetz war ursprünglich gut gemeint, ist aber letztlich ziemlich und schlecht gemacht. Anlass des Gesetzes ist vor allem eine – der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vielzahl von Gerichtsurteilen, in denen jeweils im Gesetz Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Gesetzes unzureichend präzisierte Begriffe und Normen geklärt zur Verlängerung der Befristung von Vorschrif- werden mussten. Neben der vermeintlichen Präzisierung ten nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen bestehender Regelungen soll dieses Gesetz nationales Steuerrecht im Verhältnis zu anderen Staaten des europä- (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatzpunkt 20) ischen Wirtschaftsraums regeln. Zugegeben: Dieses Gesetz wird die Welt nicht aus dem Uli Grötsch (SPD): TOP 25 Wer über Terrorismus Angeln heben. Aber: Auch bei eher kleinteiligen oder redet, denkt sofort an den Terroranschlag vom 11. Sep- technischen Gesetzen haben die Bürgerinnen und Bürger tember 2001 in den USA. Als Reaktion haben wir damals 23540 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020

(A) viele Gesetze beschlossen und besondere Befugnisse für hörung haben. Da können wir uns noch mal intensiv (C) unsere Sicherheitsbehörden, insbesondere für das Bun- mit den Argumenten für eine Verstetigung der Antiterror- desamt für Verfassungsschutz, eingeführt. gesetze auseinandersetzen. Konkret geht es unter anderem darum, dass unsere In den letzten 20 Jahren ist nicht nur die Gefahr des Nachrichtendienste Auskünfte über Personen bei Luft- islamistischen Terrorismus präsent geblieben. In den letz- fahrtunternehmen, Banken und Telekommunikations- ten 20 Jahren, insbesondere seit den NSU-Morden, ist die und Telemedienanbietern jederzeit anfordern können, Gefahr durch den Rechtsterrorismus immer größer die für die Aufklärung extremistischer und terroristischer geworden. Heute ist der rechte Terror die größte Heraus- Netzwerke von zentraler Bedeutung sind. Es geht auch forderung für unsere Sicherheitsbehörden und unsere ge- um die Befugnis, den Standort eines aktiv eingeschalteten samte Gesellschaft. Er reicht in alle gesellschaftlichen Mobilfunkendgeräts bzw. dessen Karten- oder Geräte- Schichten – Jung und Alt –, er reicht in alle Berufe, zeigt nummer zu ermitteln. Es geht um Vorschriften zu Sicher- sich offen, ist aber auch konspirativ in digitalen Netz- heitsüberprüfungen für Personen, die in sensiblen Be- werken und Chatgruppen. Terrorismus ist komplexer reichen arbeiten. Es geht um Ausschreibungen zur denn je. Wir müssen schneller darin werden, unsere Fahndung im Schengener Informationssystem, um an bewährten Instrumente in der Bekämpfung des Islamis- Informationen über mögliche Reisebewegungen und mus auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus anzu- gegebenenfalls Mitreisende zu gelangen. wenden. Deshalb müssen wir mehr tun, um dieses Übel wirksam zu bekämpfen. Das tun wir auch, indem wir zum Zweifelsohne haben wir auch nach Einführung dieser Beispiel das Bundesamt für Verfassungsschutz mit digita- Befugnisse zahlreiche Terroranschläge erleben müssen – len Befugnissen wie der Quellen-Telekommunikations- aber wir haben auch viele Terroranschläge verhindern überwachung ausstatten werden. können! Allein mindestens neun seit 2016, darunter der Angesichts von regelmäßigen Cyberangriffen auf den vereitelte Anschlag eines IS-Anhängers in Offenbach und Bundestag, Bundesbehörden oder Wirtschaftsunterneh- die Festnahme Anfang 2019 von drei Irakern in Schles- men haben wir noch ganz andere Diskussionen zu führen, wig-Holstein, die einen Terroranschlag geplant hatten. um unsere kritischen Infrastrukturen, aber auch unsere Weil diese Befugnisse für uns Neuland waren und weil Wirtschaft zu schützen. Es ist nicht die Zeit, eine Rolle wir uns der Tragweite von intensiven Eingriffen in Frei- rückwärts zu machen, sondern wir müssen zeitgemäße heitsrechte bewusst waren, haben wir sie unter unserem Antworten auf die Herausforderungen finden. damaligen SPD-Bundesinnenminister Otto Schily befris- tet eingeführt, und wir haben eine regelmäßige Evaluie- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Koalitionsfraktionen rung vorgeschrieben. (B) wollen mit ihrem Gesetzentwurf erreichen, dass die bis- (D) Seitdem, also seit 20 Jahren, verlängern und bewerten herigen Befristungen in einer Reihe von Antiterrorgeset- wir diese besonderen Befugnisse regelmäßig. Und das zen aufgehoben werden. Diese Gesetze wurden ab 2002 war auch gut so! Dabei konnten wir immer auf eine breite beschlossen und enthalten weitgehende Befugnisse für Unterstützung in der Bevölkerung zählen. Heute, nach die Geheimdienste, die das Grundrecht auf informatio- 20 Jahren Praxiserfahrung, sind wir in der Koalition nelle Selbstbestimmung verletzen. Konkret geht es etwa nun der Meinung, dass wir diese Befugnisse – die zuge- um die Abfrage von Kontodaten, Bestandsdaten bei Tele- gebenermaßen als Ausnahmerecht gestartet waren – auf- kommunikationsanbietern, Flugdaten, Übermittlung von grund der anhaltenden Gefahr des Terrorismus dauerhaft Informationen über Flüchtlinge durch das BAMF an den beibehalten müssen. Denn wenn wir uns alle hier ehrlich Verfassungsschutz, den Einsatz von IMSI-Catchern usw. machen, sehen wir: Die Gefährdungslage ist nicht besser Als diese Gesetze erstmals verabschiedet wurden, wur- geworden. In der Zwischenzeit haben wir deshalb auch de versprochen, dass sie nur befristet gelten und es eine weitere Maßnahmen ergriffen, wie den Personalauswei- Evaluation geben werde. Jetzt bewahrheitet sich leider, sentzug zur Verhinderung der Ausreise von Terroristen. was wir von Anfang an befürchtet haben: Dieses Ver- Außerdem ist Terrorismusfinanzierung unter Strafe ge- sprechen diente lediglich dazu, die Öffentlichkeit zu stellt, und Prepaid-Handykarten dürfen nur noch mit Vor- beruhigen. Die Geheimdienste bekommen immer mehr lage des Ausweises gekauft werden. Rechte, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger werden dagegen immer weiter eingeschränkt. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass unsere Nachrichtendienste die Befugnisse missbräuchlich oder Zur Begründung ihres Vorhabens verweist die Koali- zu extensiv angewendet hätten. Das darf ich hier viel- tion auf die bisherigen Evaluationen. Doch diese sind leicht auch als Mitglied des Parlamentarischen Kontroll- allesamt untauglich, um das zu bestätigen, was die Bun- gremiums sagen. Bestimmte Befugnisse unterliegen ja desregierung aus ihnen herauslesen will. Vor allem haben der Kontrolle durch das PKGr und der Genehmigung sie einen großen Mangel: Sie sind nicht wirklich unab- durch die G 10-Kommission. Deshalb gibt es keinen hängig, und der vorgegebene Untersuchungsrahmen ist Sachgrund, das „Ritual“ der Befristung immer wieder viel zu eng. Das ist nicht die Schuld der Wissenschaftler, durchzuführen. „Das war schon immer so“ ist jedenfalls diese weisen vielmehr explizit auf diese Einschränkun- kein ausreichender Grund. Die Befugnisse sind nach wie gen hin. vor notwendig – vielleicht sogar mehr denn je –, sie sind Ich zitiere aus dem aktuellen Evaluationsbericht: bewährt, sie sind viermal evaluiert worden. Deshalb kann „Ausweislich des erteilten Auftrags wird die Evaluation ich das gut vertreten, sie zu entfristen. Wir werden am nicht durch den beauftragten wissenschaftlichen Sach- kommenden Montag auch eine öffentliche Expertenan- verständigen, sondern durch die Bundesregierung durch- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 186. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Oktober 2020 23541-23548

(A) geführt. Der Sachverständige unterstützt die Bundesre- Zu diesem Thema heißt es in der Studie: „Empirisch (C) gierung ...“ Weiter heißt es: „Ebenso wenig ist der Gut- lässt sich die Wirksamkeit der zu evaluierenden Maßnah- achter beauftragt worden, eine allgemeine verfassungs- men nur schwer anhand von ‚Erfolgskriterienʼ ... messen rechtliche Bewertung der zu evaluierenden Normen … Vorrangig vermag daher eine Operationalisierung des vorzunehmen oder zur Sicherheitsarchitektur im Übrigen Wirksamkeitskriteriums über eine Bewertung durch die oder eventuellen weiteren technischen Möglichkeiten Nachrichtendienste wertvolle Hinweise für die Bewer- Stellung zu nehmen.“ tung einer Norm zu liefern.“ Mit anderen Worten: Das BMI hat eine Untersuchung bestellt, deren Rahmen es bewusst so eng geschnitten hat, Mit anderen Worten: Die Wissenschaftler hatten im dass es davon ausgehen konnte, ein aus seiner Sicht pas- Rahmen ihres Auftrages keine Chance, die Wirksamkeit sendes Ergebnis zu bekommen. Das ist übrigens die glei- unabhängig zu überprüfen, und mussten einfach ab- che Taktik, die das BMI schon bei den früheren Evalua- schreiben, was die Geheimdienste selbst dazu sagen. tionen genutzt hat. Ich erinnere daran: Es geht hier um Und wann hätte man jemals einen Geheimdienst erlebt, Eingriffe in die Grundrechte. Da sollten sich solche der von sich aus sagt: „Ja okay, diese Befugnisse brau- Manöver, um das Ausmaß der Eingriffe zu vertuschen, chen wir nicht. Streicht sie doch einfach“? Auch hier wirklich verbieten! zeigt sich also wieder der Nachteil einer Untersuchung, deren Rahmen vom BMI selbst gesetzt wird. Damals noch die PDS und später Die Linke hat von Anfang an gegen die Gesetze gestimmt, und wir werden Interessant ist am Evaluationsbericht allerdings, dass selbstverständlich auch gegen ihre Entfristung stimmen. die Zahl der Maßnahmen sich stark erhöht hat. So wurde Wir haben ernsthafte Zweifel an der Verhältnismäßigkeit, im vorherigen Bericht angegeben, das BfV habe lediglich aus zwei Gründen: Zum einen gibt es keine Prüfung der zwölfmal innerhalb eines Jahres auf die Bestandsdaten kumulativen Wirkung der von diesen Gesetzen verur- von Telekommunikationsanbietern zugegriffen – diesmal sachten Grundrechtseinschränkungen. Denn bei jedem waren es 215 Mal! Das hatte zur Folge, so die Studie, dass Grundrechtseingriff, bei jeder Datenerhebung muss es „nicht mehr möglich“ war, „alle Aspekte, die im für die auch geprüft werden, wie sich die Eingriffstiefe in Kom- Einzelfallerfassung vorgesehenen Erhebungsbogen abge- bination mit anderen Eingriffen womöglich noch ver- fragt werden sollten, abzudecken bzw. hierzu exakte stärkt; ganz im Sinne einer Überwachungsgesamtrech- Angaben zu machen.“ Das BfV hat also so häufig gespit- nung, die vom Bundesverfassungsgericht angemahnt zelt, dass die Evaluation nicht mehr wie eigentlich vor- worden ist. gesehen durchgeführt werden konnte. Ich habe ja bereits aus der Evaluation zitiert, dass eine (B) solche allgemeine verfassungsrechtliche Bewertung oder Die Wissenschaftler selbst halten fest, dass angesichts (D) die Berücksichtigung weiterer Überwachungsbefugnisse dieser Rahmenbedingungen „eine verfassungsrechtliche der Geheimdienste nicht Teil des Untersuchungsauftra- Bewertung nur auf zurückgezogener Linie möglich“ sei, ges war. Zum anderen gibt es bislang keinen Nachweis also eigentlich gar nicht, erst recht nicht so, dass man jetzt für die Wirkung dieser Gesetze. die politische Legitimation hätte, alle diese Gesetze ein- Der Anhang der Studie enthält ein Beispiel, das ich fach zu verlängern bzw. zu entfristen. hier kurz nennen will: Es geht um den Einsatz von IMSI-Catchern gegen angebliche Linksextremisten. Da- Statt einer von den Regierungsfraktionen geforderten bei konnten weitere Mobilfunkanschlüsse aufgefunden Ewigkeitsgarantie für Grundrechtseingriffe brauchen werden, die nicht auf diese Personen registriert waren. wir das Gegenteil: einen Rückbau des Überwachungs- Das wiederum machte es möglich, diese Handys abzu- potenzials, zumindest ein Moratorium, wie es auch der hören. Mehr steht da nicht. Das heißt nur: Eine Über- Bundesdatenschutzbeauftragte gefordert hat. Dieses Mo- wachungsmaßnahme des Verfassungsschutzes hat es er- ratorium muss genutzt werden, um sämtliche Antiterror- möglicht, eine weitere Maßnahme durchzuführen. Ob das gesetze der letzten Jahrzehnte auf den Prüfstand zu stel- im Ergebnis etwas in dem Sinne genutzt hat, dass ein len mit dem Ziel, jene wieder rückgängig zu machen, die Anschlag usw. verhindert wurde, bleibt völlig im Dun- sich als unverhältnismäßig erweisen. keln. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333