Plenarprotokoll 19/125

Deutscher

Stenografischer Bericht

125. Sitzung

Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 26: Zusatzpunkt 10: Vereinbarte Debatte: 30 Jahre Mauerfall Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, (CDU/CSU) ...... 15563 B , , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (AfD) ...... 15565 C GRÜNEN: Wirtschaft zukunftsfähig auf- (SPD) ...... 15567 A stellen Drucksache 19/14825 ...... 15585 B (FDP) ...... 15568 C (FDP) ...... 15585 C Dr. (DIE LINKE) ...... 15570 D Dr. (CDU/CSU) ...... 15586 B Katrin Göring-Eckardt Dr. Christoph Hoffmann (FDP) ...... 15586 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15573 B (AfD) ...... 15587 D (CDU/CSU) ...... 15574 D (SPD) ...... 15588 D Leif-Erik Holm (AfD) ...... 15575 D (DIE LINKE) ...... 15590 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 15577 B Katharina Dröge Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15591 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15578 B Dr. (CDU/CSU) ...... 15592 C , Ministerpräsident Hansjörg Müller (AfD) ...... 15594 A (Sachsen) ...... 15579 A (SPD) ...... 15594 D Dr. (AfD) ...... 15580 C Bettina Stark-Watzinger (FDP) ...... 15596 B (SPD) ...... 15581 B Dieter Janecek (CDU/CSU) ...... 15582 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15597 B (fraktionslos) ...... 15583 C Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 15598 B (CDU/CSU) ...... 15584 B Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 27: schusses für Tourismus Antrag der Abgeordneten Michael Theurer, – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Christian Dürr, , weiterer CSU und SPD: Mit nationaler Touris- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tem- musstrategie den Standort Deutschland po für Deutschland weiter stärken Drucksache 19/14781 ...... 15585 B – zu dem Antrag der Abgeordneten , Stefan Schmidt, , in Verbindung mit weiterer Abgeordneter und der Fraktion II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale Zusatzpunkt 11: Tourismusstrategie fair, sozial, ökolo- Antrag der Abgeordneten Dr. Lukas Köhler, gisch und klimafreundlich gestalten , Grigorios Aggelidis, weiterer Ab- Drucksachen 19/11088, 19/11152, 19/14163 . . 15599 C geordneter und der Fraktion der FDP: Klima- Thomas Bareiß, Parl. Staatssekretär BMWi . . . 15599 D schutz braucht ein CO2-Limit – Klimaziele Sebastian Münzenmaier (AfD) ...... 15601 B durch die Ausweitung des EU-Emissions- handels in Deutschland garantiert errei- Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 15603 A chen Dr. (FDP) ...... 15604 A Drucksache 19/14782 ...... 15624 A (DIE LINKE) ...... 15605 C (SPD) ...... 15624 B (AfD) ...... 15625 C Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15606 C Dr. (CDU/CSU) ...... 15626 D (CDU/CSU) ...... 15607 D Dr. Lukas Köhler (FDP) ...... 15628 B Gülistan Yüksel (SPD) ...... 15608 D Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE) ...... 15629 D (CDU/CSU) ...... 15609 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 15630 D (SPD) ...... 15631 D (SPD) ...... 15610 C Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU) ...... 15633 A (CDU/CSU) ...... 15611 C Karsten Hilse (AfD) ...... 15633 B

Tagesordnungspunkt 29: Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz- Antrag der Abgeordneten , Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Kirsten , , weiterer Ab- Kappert-Gonther, weiterer Abgeordneter und geordneter und der Fraktion der AfD: Bürger- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: eingaben ernst nehmen – Änderung der Die Pflegeversicherung verlässlich und soli- Geschäftsordnung des Deutschen Bundes- darisch gestalten – Die doppelte Pflegega- tages – Verbindliche Regelungen für öffent- rantie umsetzen liche Petitionen Drucksache 19/14827 ...... 15612 C Drucksache 19/14762 ...... 15635 B Kordula Schulz-Asche Johannes Huber (AfD) ...... 15635 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15612 D (CDU/CSU) ...... 15636 D Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 15613 D (FDP) ...... 15638 B Jörg Schneider (AfD) ...... 15614 C Dr. (SPD) ...... 15639 B (SPD) ...... 15615 B (DIE LINKE) ...... 15640 B (FDP) ...... 15616 C Corinna Rüffer (DIE LINKE) ...... 15617 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15641 B (CDU/CSU) ...... 15618 C (CDU/CSU) ...... 15642 C (AfD) ...... 15619 C Timon Gremmels (SPD) ...... 15643 D (SPD) ...... 15620 C Tagesordnungspunkt 30: Dr. (FDP) ...... 15621 C Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 15622 C ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Invictus Games – Das Sportereignis der versehrten Soldatinnen Tagesordnungspunkt 32: und Soldaten als ein deutliches Zeichen Erste Beratung des von den Fraktionen der der Anerkennung und Wertschätzung nach CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Deutschland holen eines Gesetzes über einen nationalen Drucksachen 19/8262, 19/13992 ...... 15645 A Zertifikatehandel für Brennstoffemissionen Dr. , Parl. Staatssekretär BMVg . . 15645 A (Brennstoffemissionshandelsgesetz – (AfD) ...... 15646 A BEHG) Drucksache 19/14746 ...... 15624 A (SPD) ...... 15647 A Britta Katharina Dassler (FDP) ...... 15648 A in Verbindung mit Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 15648 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 III

Dr. Tagesordnungspunkt 34: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15649 C Antrag der Abgeordneten Dr. , (CDU/CSU) ...... 15650 C , Matthias W. Birkwald, wei- Dirk Vöpel (SPD) ...... 15651 B terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- KE: Kapitalinteressen in der Gesundheits- versorgung offenlegen Tagesordnungspunkt 33: Drucksache 19/14372 ...... 15659 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) ...... 15659 B schusses für Bildung, Forschung und Technik- Alexander Krauß (CDU/CSU) ...... 15660 B folgenabschätzung (AfD) ...... 15661 B – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD: Gemeinsame Initiative Bettina Müller (SPD) ...... 15662 A von Bund und Ländern zur Förderung Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 15663 A von Schulen in benachteiligten sozialen Dr. Kirsten Kappert-Gonther Lagen und mit besonderen Aufgaben (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15664 A der Integration Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 15664 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Götz Frömming, Nicole Höchst, Dr. Marc (SPD) ...... 15665 C Jongen, weiterer Abgeordneter und der Erich Irlstorfer (CDU/CSU) ...... 15666 C Fraktion der AfD: Bildungsgerechtigkeit wiederherstellen – Leistungsgedanken stärken Zusatzpunkt 12: – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicola Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Beer, , Dr. Jens der FDP: Durchsetzung des Rechtsstaats (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter im Fall Ibrahim Miri und der Fraktion der FDP: Chancenge- Dr. (FDP) ...... 15667 B rechtigkeit ernst nehmen – Leistungsfä- higkeit des Bildungssystems voranbrin- , Bundesminister BMI ...... 15668 C gen Dr. (AfD) ...... 15671 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Birke Dr. Eva Högl (SPD) ...... 15672 B Bull-Bischoff, Dr. , , weiterer Abgeordneter und Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 15673 C der Fraktion DIE LINKE: Für eine ge- Dr. meinsame Bildungsstrategie zum Abbau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15674 D sozialer Ungleichheit (CDU/CSU) ...... 15676 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit (AfD) ...... 15677 C Stumpp, , Beate Walter- Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und (SPD) ...... 15679 A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (FDP) ...... 15680 A NEN: Nationaler Bildungsbericht 2018 – Zeit für einen bildungspolitischen (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 15681 B Aufbruch (SPD) ...... 15682 D Drucksachen 19/7027, 19/7041, 19/7031, (CDU/CSU) ...... 15684 B 19/7026, 19/4632, 19/11082 ...... 15652 B (CDU/CSU) ...... 15685 B , Parl. Staatssekretär BMBF . . 15652 C Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 15653 A Nächste Sitzung ...... 15686 D Marja-Liisa Völlers (SPD) ...... 15653 D (FDP) ...... 15654 C Anlage 1 Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 15655 B Entschuldigte Abgeordnete ...... 15687 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 15656 A Dr. (CDU/CSU) ...... 15656 D Anlage 2 (SPD) ...... 15657 D Amtliche Mitteilungen ...... 15688 A

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15563

(A) (C)

125. Sitzung

Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zu erkämpfen, in der sie den Mut gefasst haben, sich zu Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte versammeln, oft in Versammlungsräumen im Schutz der nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Kirche, in der sie den Mut gefasst haben, zu diskutieren, in der sie den Mut gefasst haben, Flugblätter zu verteilen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Aus wenigen sind dann ganz viele geworden, die auf den Vereinbarte Debatte Straßen von Leipzig, aber auch in vielen anderen Orten der DDR demonstriert haben. 30 Jahre Mauerfall Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Dies geschah übrigens unter einem hohen persönlichen Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Risiko. Nur zur Erinnerung: 1989 war auch das Jahr, in Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dem in China in Peking eine Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen wurde. Keiner wusste, was aus diesen (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Demonstrationen werden würde, was passieren würde. (D) Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus. Deswegen, meine Damen und Herren, können wir wirk- (Beifall bei der CDU/CSU) lich davon sprechen, dass es eben keine Wende war, wie uns der eine oder andere SED-Funktionär weismachen Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): wollte, sondern eine Revolution, und zwar – und das ist Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Her- das große Wunder – eine Friedliche Revolution. ren! Die erste gute Nachricht am heutigen Tag ist, dass es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP den beiden Kollegen, denen es gestern schlecht gegangen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, wohl wieder besser geht. (Beifall) Weil das so ist, sollten wir uns heute mit großem Respekt vor denjenigen verneigen, die diese Friedliche Revolu- Daran merkt man: Wir sind Menschen. Vielleicht sollten tion durch ihr Engagement, durch ihren Mut überhaupt wir uns spätnachts auch so verhalten und berücksichtigen, erst möglich gemacht haben. dass wir Menschen nur eine begrenzte Belastungsfähig- keit haben. Ich glaube, das hilft uns weiter. Ich habe aber auch noch etwas anderes gelernt, nämlich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, dass 1988/1989 nicht der Anfang war. Zum Beispiel am der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE 17. Juni 1953 hat es Menschen gegeben, die für Freiheit GRÜNEN) gekämpft haben, auch in der Öffentlichkeit. Aber auch zwischen 1953 und 1988 hat es ganz viele Menschen ge- Meine Damen und Herren, zur Friedlichen Revolution, geben, von denen heute niemand mehr Notiz nimmt, die über die wir heute sprechen, fällt mir ein Erlebnis ein. Wir unter einem unglaublich hohen persönlichen Risiko für waren mit unserer Fraktion vor wenigen Wochen zu einer Freiheit gekämpft haben, Sondersitzung in Leipzig. Ich habe mich vorher zusam- men mit einigen Kollegen mit Bürgerrechtlerinnen und (Beifall der Abg. [CDU/ Bürgerrechtlern in der Nordkapelle der Nikolaikirche ge- CSU]) troffen, wir haben eine Andacht gefeiert, etwas diskutiert. Bei dieser Diskussion habe ich wirklich atemlos dageses- die dafür ins Gefängnis gegangen sind, denen dafür Be- sen und habe mir die Geschichten zu den Ereignissen von rufs- und Lebenschancen genommen wurden, die von 1988 und 1989 angehört. Ich bin noch einmal eingetaucht ihren Familien getrennt worden sind. Ich glaube, wir soll- in die Zeit, in der engagierte und mutige Menschen ange- ten uns heute auch vor diesen Menschen, vor den stillen fangen haben, sich Zentimeter für Zentimeter Freiräume Helden der Friedlichen Revolution, verneigen. 15564 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Ralph Brinkhaus (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und zwar deswegen, weil wir in ihm einen Freund gehabt (C) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie haben, der in unverbrüchlicher Freundschaft mit bei Abgeordneten der LINKEN) Deutschland verbunden war. Ich glaube, in Zeiten, in de- nen die deutsch-amerikanischen Beziehungen schwierig Ich denke, heute an diesem Tag sollten wir aber auch an sind, muss das an dieser Stelle auch gesagt werden. Vie- diejenigen denken, die den Fall der Mauer nicht mehr len Dank an George Bush! Es geht aber auch ein ganz erlebt haben, weil sie an der Mauer, am Stacheldraht, an herzlicher Gruß an Michail Gorbatschow, der Grenze durch Selbstschussanlagen getötet worden sind. Heute ist der Tag, auch diese Menschen zu würdi- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der AfD, gen, die ihren Kampf gekämpft haben, ohne dass er am der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ende erfolgreich war. NEN) Meine Damen und Herren, diese Friedliche Revolution der auch seinen Beitrag dazu geleistet hat, dass diese hat uns alle sehr beeindruckt. Der Tag, der für diese Fried- Wiedervereinigung möglich war. liche Revolution steht, ist natürlich der 9. November. Je- der, der diesen Tag erlebt hat, der weiß, was er damals Tja, und dann, meine Damen und Herren, wurde aus gemacht hat, der weiß, wie er diese Stunden verbracht hat. der Euphorie des 9. Novembers, aus der Freude des 3. Ok- Dieser Tag war – ich glaube, das kann man so sagen – der tobers Alltag. Und es war kein schöner Alltag, das muss glücklichste in unserer Geschichte, der erfüllt war von man auch sagen. Betriebe waren nicht mehr wettbewerbs- Freude, von unschuldiger, vorbehaltloser Freude. Ich fähig, wurden verkauft, verkleinert oder ganz geschlos- glaube, es ist einfach auch wichtig, sich in diesen Zeiten sen. Es gab Arbeitslosigkeit, existenzielle Ängste. Die an diese Freude zu erinnern; denn wenn wir uns immer Städte waren marode. Die Umweltschäden waren so groß, nur mit den traurigen Dingen beschäftigen, dann führt das wie wir uns das heute überhaupt nicht mehr vorstellen auch in der Politik zu wenig. Deswegen ist es richtig, dass können. Es gab Brüche über Brüche. wir heute diese Debatte führen. Es ist viel geschafft worden, viel Gutes erreicht wor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- den, das ist überhaupt keine Frage. Es ist nicht alles rich- ordneten der SPD und der FDP) tig gemacht worden, was oft weniger am bösen Willen, sondern an mangelnder Erfahrung lag, aber es ist viel Aber ich kann nicht über den 9. November 1989 reden, erreicht worden. ohne den 9. November 1938 zu erwähnen. Dieser Tag steht auch als Symbol für den millionenfachen Mord an (Dr. [AfD]: Ja, ja!) (B) Jüdinnen und Juden, verübt durch Deutsche. Ich glaube, (D) es ist gerade in diesen Tagen sehr wichtig, das hier in Aber eines haben wir nicht gesehen, und damit meine dieser Debatte zu benennen, wo jüdisches Leben in ich nicht die kaputten Straßen oder kaputten Städte, son- Deutschland wieder angegriffen, attackiert und verfolgt dern wir haben nicht gesehen – und das sage ich als je- wird. Deswegen sollte heute an diesem Tag aus diesem mand aus dem Westen, aus Nordrhein-Westfalen –, wel- Deutschen Bundestag das ganz klare Signal kommen, che großen Brüche sich in den Biografien der dass dieser Deutsche Bundestag alles in seiner Macht Bürgerinnen und Bürger in der damaligen DDR ergeben Stehende tun wird, um Jüdinnen und Juden, ihre Häuser, haben. Sie mussten sich komplett neu erfinden, sind aus ihre Versammlungsstätten, ihre Läden und auch ihre Sy- einer alten Zeit in eine unsichere neue Zeit hineingefallen, nagogen zu schützen. mussten alles irgendwie neu machen. Ich glaube, wir können gar nicht ermessen, was es bedeutet, wenn man (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, sich komplett neu erfinden muss mit all den Unsicher- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE heiten, die damit verbunden sind. Das, meine Damen GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD) und Herren, war wirklich – das gestehe ich zu – der große Fehler im Prozess der Wiedervereinigung. Dass wir viel Aus dem 9. November wurde dann der 3. Oktober, über Geld gesprochen haben, das war überhaupt keine wurde dann die Wiedervereinigung. Auch hier haben Frage, auch nicht, dass das Geld aus dem Westen gekom- wir unglaublich vielen Menschen zu danken: den Män- men ist, im Übrigen auch von Kommunen wie Gelsen- nern und Frauen – ich habe vom Westen aus mit großem kirchen und Pirmasens, die es sich nicht leisten konnten. Respekt darauf geschaut –, die an den Runden Tischen Aber Geld ist halt nicht alles, man muss auch die Men- versucht haben, das Land neu zu organisieren, den ersten schen sehen. Vielleicht ist der entscheidende Punkt, dass Abgeordneten der frei gewählten Volkskammer – wir ha- wir uns vornehmen, mehr den Menschen zu sehen und ben noch eine unter uns, die damals dabei war –, aber weniger auf Geld, Infrastruktur und anderes zu schauen. natürlich auch den Staatsmännern und Staatsfrauen, die die historische Chance beherzt ergriffen haben, ob das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nun Helmut Kohl, Lothar de Maizière oder viele andere ordneten der SPD) waren, und diese Wiedervereinigung organisiert haben. Meine Damen und Herren, die Friedliche Revolution Ich möchte einen ganz besonders nennen, nämlich war der Ruf nach Freiheit. Mir stellt sich die Frage, ob es George Bush, den amerikanischen Präsidenten, der Ruf nach Freiheit von etwas war, von Diktatur und Unrechtsstaat – ja, es war übrigens eine Diktatur und ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Unrechtsstaat; das muss auch einmal klar gesagt wer- ordneten der SPD und der FDP) den –, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15565

Ralph Brinkhaus (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Tino Chrupalla (AfD): (C) ordneten der SPD und der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! Morgen jährt sich der oder der Ruf nach Freiheit zu etwas. Freiheit muss immer Tag des Mauerfalls. Es ist ein ganz besonderes histori- zu etwas gebraucht werden, muss erkämpft werden, muss sches Ereignis in der jüngeren Geschichte unseres immer wieder verteidigt werden. Das bedeutet aber auch, Landes. Wie kein anderes Bauwerk symbolisierte dieses Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für sich Gebilde die Entzweiung des deutschen Volkes und die selbst und Verantwortung für das Land. Und das ist an- Fremdherrschaft durch zwei Weltmächte, die unser Land strengend, das ist überhaupt keine Frage. Genau deswe- im Herzen Europas für ihren Kalten Krieg einspannten. gen, weil es anstrengend ist, haben wir im Westen wie im Die einen nannten es den antifaschistischen Schutzwall. Osten momentan die Tendenz, dass gesagt wird: Lasst uns Für die anderen war es die kommunistische Schand- doch die Verantwortung weitergeben an den Staat, der für mauer. Ich nenne es heute den antideutschen Trennwall alles sorgen soll, an – meistens – starke Männer, die die- oder den Limes des 20. Jahrhunderts. sen Staat führen sollen, oder an autoritäre Parteien, die dann dafür sorgen sollen, dass alles geregelt ist und dass (Beifall bei der AfD) alles gut ist! Meine Damen und Herren, die Freiheit auf diese Art und Weise zurückzugeben, ist der größte Verrat In der Nacht auf den 9. November 1989 bezwangen die an den Männern und Frauen vom Herbst 1989! Bürger der DDR diesen Trennwall mitsamt der dazuge- hörigen Drohkulisse, bestehend aus Grenzsoldaten, Sta- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der cheldraht, Minen und Selbstschussanlagen. Am 9. No- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- vember 1989 wurde der Bann dieses Symbols SES 90/DIE GRÜNEN) gebrochen. In vielen deutschen Familien flossen in dieser Nacht die Freudentränen. Nun konnte wieder zusammen- Natürlich ist es anstrengend – das ist überhaupt keine wachsen, was zusammengehört. Für viele von uns ging Frage –, und es ist mit Ängsten verbunden. Aber schauen ein Traum in Erfüllung, den selbst deutsche Politiker wir doch noch einmal auf diejenigen, die in Leipzig und nicht mehr zu träumen wagten. anderswo auf die Straßen gegangen sind. Sie haben ge- zeigt, dass man keine Angst haben muss. Sie haben ge- (Beifall bei der AfD) zeigt, dass es geht und dass Menschen, wenn sie sich einig sind, wenn sie friedlich und respektvoll demonstrieren, Für uns ein Traum, für andere ein Albtraum. Herr unglaublich viel erreichen können. Das sollte uns auch in Maas, Sie liegen völlig daneben mit Ihrer Aussage, die die heutige Zeit hineintragen. deutsche Einheit sei auf Wunsch der Europäer zustande (B) gekommen. Das haben Sie in der Prager Botschaft – ich (D) Ich habe Ihnen am Anfang erzählt, dass wir in der habe es selbst gehört – erzählt. Es wäre schön, wenn es Nikolaikirche mit Bürgerrechtlern zusammengesessen tatsächlich so gewesen wäre. Aber die Realität sah anders und dort auch eine Andacht gefeiert haben. In dieser An- aus. Ich habe die Aussagen von Maggie Thatcher und dacht haben wir ein Lied gesungen. Dieses Lied, das anderen namhaften europäischen und deutschen Politi- Kirchenlied „Vertraut den neuen Wegen“, das im kern, vor allem aus der SPD, noch im Ohr, und sie Sommer 1989 ursprünglich für ein junges Hochzeitspaar schmerzen mich noch heute. in Eisenach geschrieben worden war, aber dann doch so viel von dem ausgedrückt hat, was diese Zeit geprägt hat, (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: hat mich seitdem nicht losgelassen. Oh!) ( [FDP]: Vorsingen!) Sie tun uns keinen Gefallen, Herr Maas, wenn Sie hier die Tatsachen verschleiern. In der dritten Strophe heißt es: (Beifall bei der AfD) Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Umwälzungen im Zuge der deutschen Einheit be- Die Tore stehen offen, das Land ist hell und weit. scherten den neuen Bundesländern neue Freiheiten und Möglichkeiten; aber sie bescherten uns auch einen bei- Meine Damen und Herren, vielleicht ist genau das die spiellosen Raubzug durch die Treuhand, der noch längst große Botschaft von 1989 an uns heute, wo wir auch vor nicht aufgearbeitet ist und dessen Folgen die Menschen in Brüchen stehen: Wer aufbricht, der kann hoffen. Das Mitteldeutschland heute noch immer spüren. Die Einheit Land ist hell und weit. bescherte uns auch neue Politiker, zum Beispiel die am- Danke. tierende Kanzlerin . (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Ich bedaure, dass sie uns nicht verrät, welche Herrschafts- GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) und Zersetzungsstrategien sie damals bei der FDJ gelernt hat. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Weitere Zurufe (Beifall bei der AfD) von der CDU/CSU und SPD) 15566 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Tino Chrupalla (A) Wie man ein Volk mit Agitation und Propaganda in ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien west- (C) Schach hält, ist wertvolles Wissen, das uns dabei helfen lichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer könnte, den Riss zu kitten, der heute wieder durch auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Mög- Deutschland geht. lichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) Wie haben Sie es eigentlich geschafft, Frau Merkel, Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der dass heute wieder ein antifaschistischer bzw. ein antideut- Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, scher Trennwall unser Land zerteilt? Diese Entwicklung das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die fällt in Ihre Amtszeit. Dafür sind Sie verantwortlich. sich nicht anpassen – das wird wiederkommen ... (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Oder glauben Sie etwa, dass Ihren Untertanen Ihre vielen Mikroaggressionen gegen alles Deutsche entgangen Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver sind? arbeiten, viel feiner als die . Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Selten der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert. so einen Quatsch gehört!) Zitat Ende. Ich kann auch kaum glauben, dass eine Frau so wenig Mitgefühl und Liebe zu dem Volk empfindet, das sie (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Britta selbst regiert und repräsentiert. Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie eigentlich die Akkreditie- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Claudia rung noch nicht unterschrieben? – Weitere Zu- Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rufe von der CDU/CSU, der SPD und dem NEN]: Jetzt reicht es aber! – Zurufe von der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des CDU/CSU und der SPD: Pfui! Schäm dich! – Abg. Christian Lindner [FDP]: Warum regt ihr Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND- euch darüber auf?) NIS 90/DIE GRÜNEN) Ihre Beileidsbekundung an die Angehörigen der Opfer Weil ich gerne mit einer hoffnungsvollen Botschaft vom Breitscheidplatz erfolgte ein Jahr später. Als der zum Tag des Mauerfalls enden möchte, schließe ich mit kleine Junge in mutwillig vor den Zug gestoßen einem Wunschtraum: In meinem Traum existiert wieder ein geeintes deutsches Volk im Herzen Europas, das zu (B) wurde, traten Sie schweigend Ihren Urlaub an. (D) seinen guten Traditionen und Werten steht, ein deutsches (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Volk, dem der Frieden in der Welt und in Europa am NEN]: Soll das Ihre Bewerbungsrede für Ihre Herzen liegt und das sich dabei trotzdem nicht selbst ver- rechte Partei sein?) leugnet, In einem gut regierten Land hätte das Staatsoberhaupt (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Trauerbeflaggung angeordnet; aber es erfolgte nichts. NEN]: Ist das die Flügelrede für den Parteitag? (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann Meinen Sie, damit kriegen Sie ein paar Stim- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie, men mehr von den Rechtsextremen?) dafür kriegen Sie ein paar Stimmen mehr vom ein Land, das gelernt hat, dass es ruhig, aber bestimmt Flügel? – Zurufe von der CDU/CSU und der Nein sagen darf und sich nicht ausbeuten und zerstören SPD) lassen muss, Soll ich Ihnen einmal sagen, wann Menschen gut und gerne in einem Land leben? Wenn sie das Gefühl haben, (Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dass ihr Land von Personen regiert wird, die auch um ihr dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) emotionales Wohlergehen bemüht sind. ein Land mit gesunden Grenzen, in denen man sich auch als Deutscher geborgen und wertgeschätzt fühlt, mit (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und dem Grenzen, die uns schützen, anstatt uns zu entzweien. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley hat vor 29 Jahren Vielen Dank. davor gewarnt, dass die Stasimethoden die DDR überle- ben würden. (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig ent- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben hemmt! Das war die Bewerbungsrede für den Sie Ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung Flügel, für den Parteitag! Hauptsache, man hat schon unterschrieben? – Zuruf vom BÜND- rechts geblinkt! – Katrin Göring-Eckardt NIS 90/DIE GRÜNEN: Hetzer!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ekelhaft! – Sie sagte – ich zitiere –: [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich! – Weitere Zu- Man wird diese Strukturen genauestens untersu- rufe von der CDU/CSU, der SPD und dem chen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15567

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gegeben. Deshalb kann sie auch heute nicht vollendet (C) Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Budde, werden. Wenn man sich dies einmal klargemacht hat, SPD. meine Damen und Herren, dann weiß man, wie dumm, wie skurril, wie irreführend einige der Parolen von heute (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gitta sind. Und wer diese Parolen ausgibt, der steht nicht in der Connemann [CDU/CSU]) Tradition der Friedlichen Revolution, der steht in der Tradition von Egon Krenz. Katrin Budde (SPD): Wer heute Morgen MOMA geschaut hat, der hat die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Rufe gehört: Tor auf! Tor auf! Wir kommen wieder, wir der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE müssen ja morgen zur Arbeit! Wir haben alle unsere Aus- GRÜNEN) weise mit! Lasst uns doch einfach durchs Tor gehen! – Das war die Stimmung am 9. November abends. Wer sie Mehr ist zu Ihrer Rede heute auch nicht zu sagen. noch einmal fühlen will, sollte sich in der Mediathek den MOMA-Beitrag von heute Morgen anhören. Wir wollten eine Demokratisierung ohne SED, ohne Egon Krenz, ohne MfS. Wir wollten Presse-, Meinungs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie und Reisefreiheit, eine saubere Umwelt. Wir wollten bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nicht nur die Brosamen, die uns die SED geben wollte. GRÜNEN) Wir wollten Veränderungen in unserem Zuhause; das ha- Es gibt ganz viele Erinnerungsgeschichten, die in die- ben die Menschen am 9. November zum Beispiel an der sen Tagen auf Veranstaltungen und untereinander erzählt Bornholmer Straße auch gesagt. Und ja, wir wollten auch werden, weil wir uns erinnern. Diese Erinnerungsge- Wohlstand – selbstverständlich. Die DDR war eine Man- schichten, die ich immer wieder höre, unterscheiden sich gelwirtschaft. Das zeigte sich nicht nur, wenn es um Ba- sehr von meiner eigenen persönlichen Wahrnehmung. nanen, Farbfernseher und Trabis ging, sondern zum Bei- Natürlich hat jeder seine eigene persönliche Wahrneh- spiel auch, wenn man einen CT-Termin brauchte und kein mung vom Herbst 1989 und auch vom 9. November. Aber Westgeld hatte. eines gleicht sich: Die meisten von uns waren staunend, sie waren ungläubig. Sie fragten sich auch wie Dietmar Verwechseln wir heute auch nicht gute strukturelle Woidke mit ein wenig Angst: Komme ich wieder zurück, Dinge wie den SV-Ausweis oder den Impfstatus mit der wenn ich in meinem Ausweis den Stempel „Ausreise aus DDR. Und verwechseln wir nicht das, wie ich finde, der DDR“ stehen habe? Wir waren überwältigt, und alles strukturell vernünftige Bildungssystem der DDR mit war ein wenig irreal. dem, wozu es benutzt wurde, nämlich zur Kontrolle und (B) ideologischen Indoktrination von Geburt an. Und nein, (D) Aber so klar, wie die Geschichte heute in der Rück- ich konnte nicht einfach sagen: Ich will Abitur machen. – schau erzählt wird, war das alles damals nicht. Noch am Und nein, ich konnte meinen Studienplatz nicht frei wäh- 7. Oktober, also nicht lange davor, waren überall in der len. Und ja, ich musste unterschreiben, dass ich am Ende DDR ganz viele Menschen – einfache Passanten, aber des Studiums für drei Jahre dahin gehe, wo der Staat mich auch Demonstrantinnen und Demonstranten, die gegen braucht. Das musste man damals, es sei denn, man hatte den Staat auf die Straße gegangen waren – festgenommen wie ich eine Wohnung; denn Wohnungen waren noch worden, inhaftiert worden. Wer die Gedächtnisprotokolle knapper. über Prügel, Schikane, über Verhöre und Inhaftierungen liest, der muss daran denken: Auch das war die DDR. Das Meine Damen und Herren, die Mauer ist nicht gefallen. MfS hatte die Tatze auf alle Teile der Volkspolizei gelegt, Sie wurde von innen eingedrückt. Sie wurde gestürzt. Sie auch auf die, die normalerweise nichts mit dem MfS zu wurde überwunden. tun hatten. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Am 6. November wurde die Aktenvernichtung ange- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie ordnet. Am 4. und 5. November, kurz vor dem 9. Novem- bei Abgeordneten der LINKEN) ber, reisten 10 000 Bürgerinnen und Bürger ohne Visa über die CSSR nach Bayern aus. In dieser Zeit, meine Sie bekam Löcher. Sie bekam Löcher an den Stellen, wo Damen und Herren, wurde auch das Wort „Wende“ ge- die Brüdervölker nicht mehr gewillt waren, die Handlan- boren. Das ist etwas, was es nie gegeben hat. Es hat keine ger der Sowjetunion zu sein. Wende gegeben. Ich bin immer wieder erstaunt und über- rascht, dass diese Bezeichnung die Bezeichnung „Fried- Holen wir uns ein Stück dieses Glücksgefühls zurück, liche Revolution“ abgelöst hat. Das macht mich wütend, das wir im Herbst 1989 empfunden haben, und gestatten und das macht mich auch traurig. wir uns auch, zuzugeben, dass es eben nicht die Sicht auf den Herbst 1989, auf die Ereignisse und Ergebnisse dieser (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Zeit gibt. Die Empfindungen, die die Menschen mit dem und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herbst 1989 verbinden, sind ganz unterschiedlich: ob sie Die Wende war etwas, was Egon Krenz wollte. Wer ängstlich oder mutig waren, ob sie aktiv dabei waren oder eine Bestätigung dafür braucht, muss sich die Sendungen staunend zugesehen haben und an der Seite standen, ob der „Aktuellen Kamera“ dieser Zeit ansehen. Egon Krenz sie die DDR als ihren Staat gesehen haben oder eben – hat gesagt, man wolle jetzt die Wende in der DDR schaf- wie ich – nicht als ihren Staat gesehen haben. Das ist sehr, fen. Diese Wende hat es, wie gesagt, Gott sei Dank nie sehr individuell und sehr, sehr unterschiedlich. 15568 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Katrin Budde (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE der CDU/CSU, der FDP und dem BÜND- GRÜNEN) NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Was ist denn das für ein Blödsinn?) Lassen wir nicht zu, dass 1989 ein Mythos wird. Denn ein Mythos erinnert nicht nur, sondern er vergisst, und er begradigt. Joachim Gauck hat in einem Interview die Zeit Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: damals mit einem jugendlichen Liebespaar verglichen, Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, das seine Liebessehnsucht stillen will, gar nicht vonei- FDP. nander lassen kann und unbedingt vereinigt werden will, später dann aber einen merkwürdigen Wandel von abso- (Beifall bei der FDP) luter Verehrung und Hingabe erlebt hin zu einem Leben miteinander, in dem es plötzlich an der Beziehung arbei- Linda Teuteberg (FDP): ten muss. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Freude, Jubel, Erleichterung – das sind die Ge- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) fühle dieses Tages, morgen vor 30 Jahren: unglaubliche Freude über die Freiheit, Erleichterung über das Ende von Ich finde, das ist ein gutes Gleichnis; denn so geht es auch Unfreiheit und Demütigung. Das war ein neues Kapitel uns emotional manchmal – in Ost und in West. deutscher und europäischer Geschichte, welches da auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geschlagen wurde. Frau Kollegin Budde hat es gerade der CDU/CSU) sehr richtig gesagt: Das war eine Revolution, keine Wen- de. Wir sollten diesen Sprachgebrauch wirklich nicht Ja, ich konnte mir 1989 nicht vorstellen, wie ein wie- übernehmen. Egon Krenz sagte in seiner Antrittsrede dervereintes Deutschland in den 90er-Jahren aussehen am 18. Oktober, damit werde man wieder die „politische würde, wie es in 2015 oder 2019 aussehen würde. Denn und ideologische Offensive“ erlangen. Das Gegenteil war ich wusste: Wenn der Kalte Krieg zu Ende geht, dann der Fall, meine Damen und Herren. verändert sich etwas, überall auf der Welt. Die Systeme brechen auseinander; das sind große Bewegungen. Aber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wer heute behauptet, er hätte gewusst, wie das aussehen der CDU/CSU) würde, der schwindelt – zumindest ein bisschen oder ganz Dass dieser Begriff – oft ohne böse Absicht – trotzdem viel. so verbreitet ist, liegt offenbar an seiner Kürze. Wir soll- Ja, es ist für uns Ostdeutsche – vielleicht – schwieriger, ten ihn aber aus einem zweiten Grund nicht zulassen: Er (B) mit dieser offenen, freien, hoch komplizierten Welt heute suggeriert eine gewisse Neutralität und dass das ein Pro- (D) umzugehen, mit dieser anstrengenden Moderne, mit dem zess ist, an dem man unbeteiligt ist, dem man gelassen Leben in einer freiheitlichen Moderne. Deshalb haben zusieht. Er vernachlässigt die Rolle jeder und jedes Ein- oder hatten wir keinen schlechteren Charakter. Aber auf zelnen, den Mut, das Gewissen, die Verantwortungsbe- dem Gebiet der DDR gab es im Grunde von 1945 bis reitschaft, die damals nötig waren, um die Revolution 1989, 44 Jahre lang, eine Diktatur. Selbstverständlich ge- durchzuführen, meine Damen und Herren. wöhnen sich Menschen an Anpassungsleistungen, die sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten erbringen müssen, um ihre persönliche Freiheit zu si- der CDU/CSU) chern; auch das gehört zur Wahrheit. Immerhin gibt es aber inzwischen nach drei Jahrzehnten viele Generatio- Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen Revolutions- nen überall in der Bundesrepublik, die dies nicht mehr charakter sehen, trotz und mit seiner lobenswerten Fried- mussten. Deshalb finde ich es gut, dass über 70 Prozent lichkeit. Dieser Tag ist Anlass für Trauer, für Dank und den Einigungsprozess heute positiv sehen und dass sie für Freude, und zwar für Trauer um all die Menschen, den Glücksfall der Wiedervereinigung und des Einstür- denen Lebenschancen genommen wurden, die mit ihrer zens der Mauer auch alle gemeinsam positiv sehen. Freiheit oder gar ihrem Leben bezahlt haben für dieses System, die nicht den Beruf ergreifen konnten, nicht den (Beifall des Abg. Hermann Gröhe [CDU/ Bildungsweg einschlagen konnten, den sie wollten, die CSU]) gestorben sind auf dem Weg in die Freiheit, die sie ge- sucht haben. Darüber sollten wir ehrlich trauern und dabei Ich freue mich auf das 40. Jubiläum in zehn Jahren. an diese Menschen denken. Denn da werde ich hingehen, anders als damals, als ich als junge Frau mit einem Diplom in der Hand zwangsver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten pflichtet werden sollte, am 7. Oktober 1989 zur Feier- der CDU/CSU) stunde zu gehen, und gesagt habe: Nein, das mache ich nicht. – Denn diesmal verteidige ich diesen Staat. Dies- Wir haben aber auch allen Grund zum Dank. Wir dan- mal ist es meiner, und es ist meine Demokratie. ken allen, die dazu beigetragen haben, zum Beispiel un- sere Nachbarn, vor allem die Polen. Der damalige Papst (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wunderbar!) mit seinen Worten „Fürchtet euch nicht“ und die mutigen Menschen der Bewegung Solidarnosc haben ein Beispiel Auch ein bisschen Diktatur und ein bisschen solcher gegeben, auch für die Menschen in der DDR. Regelungen, wie Sie sie wollen, zerstören diese Freiheit und diese Demokratie. Deshalb werden wir es nicht zu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lassen, dass wieder Mauern aufgebaut werden. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15569

Linda Teuteberg (A) Auch die Ungarn haben ihren Anteil; daran sollten wir Vor 30 Jahren führten diese Verirrungen bei manchen, (C) heute denken. Dank gilt auch unseren Verbündeten, ins- die nicht mehr so an die deutsche Einheit dachten, dazu, besondere den USA; das wird in diesen Tagen von man- dass sich Hans-Dietrich Genscher von so- chen unterschlagen. Auch denen sind wir zu Dank ver- gar vorwerfen lassen musste – übrigens im Deutschen pflichtet für die Unterstützung in diesem Prozess. Bundestag –, er hätte mit den Bildern in Prag eine Sog- wirkung für DDR-Flüchtlinge erzeugt. Diese Bilder wer- (Beifall bei der FDP) de man bald vergessen. – Welch ein Irrtum, meine Damen Ich grüße eine Gruppe von Mitarbeitern des Kongresses, und Herren. die heute diese Debatte verfolgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Menschen in der DDR waren Deutsche im Sinne der CDU/CSU und der SPD) des Grundgesetzes. Die beiden deutschen Staaten waren nicht Ausland füreinander, sondern standen in einer ganz Schließlich hat auch die KSZE-Schlussakte, auf die besonderen Beziehung. sich Menschen in Osteuropa, in der DDR berufen haben, wenn sie ihre Freiheitsrechte geltend machen wollten, Liebe Kollegen, diese Revolution war friedlich, und dazu beigetragen, die Freiheitsbewegung in Gang zu brin- das trotz des Eindrucks der chinesischen Lösung, die vie- gen. le Menschen noch im Blick hatten. Der Vorteil einer sol- chen friedlichen, friedfertigen Revolution ist: Es kommt Wir sind unseren Nachbarn und Verbündeten, allen, die keiner zu Tode, es fließt kein Blut. Es sind allerdings auch mitgewirkt haben, zu Dank verpflichtet. Unser Dank gilt hinterher noch alle da. Und das hat Folgen. Deshalb hat vor allem auch vielen Menschen in der DDR, für ganz der Bundesbeauftragte Jahn recht, wenn er sagt: Ja, auch unterschiedliches Handeln. Wir danken denen, die Aus- die Peiniger wurden befreit, auch ihnen wurden Freiheit reiseanträge gestellt haben und die das Land verlassen und Rechtsstaat gegeben. Manchmal hat man in den Jah- haben; denn sie haben die Frage nach Gehen oder Bleiben ren nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung von für alle sichtbar auf die Tagesordnung gehoben. Es war denen den Ausdruck „Siegerjustiz“ gehört. Daran ist nicht mehr zu verdrängen, dass dieses Land geteilt ist, wahr, dass Unrechtshandlungen, die eine politische dass die Menschen eine Abstimmung mit den Füßen Macht begeht, immer erst nach deren Niedergang justizi- durchführen für die Freiheit. Sie haben das sichtbar ge- abel werden. Aber unser freiheitlicher Rechtsstaat be- macht, und dafür gilt ihnen unser Dank. schränkt sich selbst. Er hält sich an seine Regeln, zum Beispiel ans Rückwirkungsverbot. Er bestraft nur straf- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gitta rechtlich, was auch zum Zeitpunkt der Tat strafbar war. (B) Connemann [CDU/CSU]) Diejenigen, die es betrifft, können verdammt froh sein, (D) Auch und vor allem denjenigen, die mutig Opposition in dass der freiheitliche Rechtsstaat sie so viel besser be- der DDR betrieben haben, die dafür viel riskiert haben – handelt hat als sie ihre politischen Gegner in 40 Jahren. das sind oft wenige, die ganz besonderen Mut beweisen –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gilt unser besonderer Dank. bei Abgeordneten der SPD und der AfD und der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]) der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun könnte man ja Neben Trauer und Dank haben wir allen Grund zur meinen, dass dieser zivilisatorische Fortschritt unseres Freude über die erkämpfte, selbsterrungene Freiheit in freiheitlichen Rechtsstaats, das Strafrecht nicht politisch unserem Land. zu missbrauchen, anderen nicht zu vergelten, was sie ge- tan haben, bei den Betroffenen zu einer gewissen Demut (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten führt. Aber stattdessen wird es immer dreister, und diese der CDU/CSU) geringe Anzahl von strafrechtlichen Verurteilungen wird Und, ja, vor der Einheit kam die Freiheit. Das ist richtig als Persilschein benutzt, so wie es heute manche Minister- und wichtig zu sagen; denn es hätte den 9. November präsidenten in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpom- nicht ohne den 9. Oktober gegeben. Zugleich aber muss mern tun. man doch keinen unnötigen Gegensatz zwischen Ein- heits- und Freiheitswillen konstruieren. Die allermeisten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ostdeutschen wollten beides. Übrigens hieß es in der der CDU/CSU) Präambel unseres Grundgesetzes, wie es 1989 noch laute- Das ist eine Verhöhnung unseres Rechtsstaates, der sich te, dass sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz ge- selbst beschränkt und die politische Aufarbeitung der Po- geben hat, und am Schluss heißt es: litik und der Gesellschaft überlässt. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ostdeutschen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche sind keine homogene Masse, wie das manche glauben Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung machen wollen, die sie politisch vereinnahmen, die das die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. zum Geschäftsmodell machen. Sie brauchen übrigens auch keine Belehrungen, gerade nicht aus der Nachfolge- Es brauchte immer mal wieder das Bundesverfassungs- partei der SED, darüber, wer Held war und wer nicht, oder gericht, um daran zu erinnern. wer erst den aufrechten Gang lernen musste. Es gab in 15570 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Linda Teuteberg (A) den 40 Jahren auch Menschen, die konnten schon auf- und ob er vor diese Entscheidungen gestellt wurde oder (C) recht gehen. Sie haben nur einen hohen Preis dafür be- nicht. zahlt durch die Repressalien der SED. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der CDU/CSU) bei Abgeordneten der AfD) Wir brauchen mit sehr viel mehr Besonnenheit und Ich bin mir sicher, dass die mutigen Menschen, die da- ohne bestimmte Exzesse im Hinblick auf die DDR so mals in der DDR Mut bewiesen haben, auch gar keinen etwas wie 68. Wir sollten darüber reden: Wie war das Wert darauf legen, von der Linken heute als Helden eti- damals? Da ist übrigens Platz für viele Geschichten und kettiert zu werden. für viele verschiedene Erfahrungen. Aber es ist nicht alles relativ. Die klare Grenzziehung zwischen Demokratie (Beifall bei der FDP) und Diktatur muss gewahrt bleiben. Denn Lebensleistun- Die Zeiten sind zum Glück vorbei, in denen Sie entschie- gen von Menschen in der DDR gab es trotz und nicht den haben, wer Held ist in unserem Land. wegen des politischen Systems. Übrigens sind auch die Täter zu respektieren. Sie haben ihre Menschenwürde, Ich will noch mit einem Thema hier kurz aufräumen: und die erkennt unser Rechtsstaat an. Aber nicht jede Immer wenn man ganz klare Worte zum Unrechtsstaat Lebensleistung ist von uns gleichermaßen zu würdigen, DDR findet, kommt das Thema Blockparteien. Auf diese liebe Kolleginnen und Kollegen. Nebelkerze ist Verlass. Ich sage dazu nur so viel: Wir sollten nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Es war (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die SED, die politisch Andersdenkenden die Flötentöne der CDU/CSU) beigebracht hat, und zwar mit Gewalt. Wir Freie Demokraten wollen, dass dieser Prozess der inneren Einheit unseres Landes gelingt. Wir sind ins Ge- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der lingen verliebt, nicht ins Scheitern. Heute ist es, anders als AfD) bei der Entstehung unseres Grundgesetzes, niemandem Dafür gibt es Beispiele, ich nenne zwei aus Mecklen- mehr versagt, mitzuwirken. Das müssen wir jeden Tag burg-Vorpommern für Frau Schwesig. Arno Esch zum wieder neu betonen. Wir sollten dieses Jahr, gerade weil Beispiel hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er sich 1989 nicht das Ende der Geschichte war, nutzen, und der Gleichschaltung der LDPD durch die SED verweigert zwar für eine Offensive für Recht und Freiheit. hat. Er musste dafür in Moskau sterben. Der spätere FDP- Generalsekretär Karl-Hermann Flach wurde gewarnt und Vielen Dank. (B) konnte durch Flucht diesem Schicksal entgehen. So ging (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) es auch Menschen aus anderen demokratischen Parteien, der CDU/CSU) die sich der Gleichschaltung widersetzt haben. Daran sollten wir heute auch denken. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Gregor der CDU/CSU und der AfD) Gysi, Die Linke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lange Teilung (Beifall bei der LINKEN – braucht auch Zeit zur Heilung. Die Heilung der Wunden [AfD]: Notar!) und Kränkungen muss man allerdings auch wollen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): GRÜNEN]: Genau!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen feiern wir den 30. Jahrestag des Manche streuen dieser Tage Salz in die Wunden. Sie ver- Mauerfalls. Dieser 9. November 1989 ist für viele ein suchen, Ursache und Wirkung zu verkehren, machen et- Tag der Freude, des Gedenkens, des Nachdenkens und wa die Treuhand für die Misswirtschaft von 40 Jahren der Besinnung. So zufällig und irrtümlich wie er zustande verantwortlich und für die strukturellen Probleme, die kam, so folgerichtig war es, dass der Selbstbefreiungs- dadurch für viele Menschen entstanden sind. drang der Ostdeutschen zum Fall der Mauer führte. (Christian Lindner [FDP]: So ist es!) Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Das Rei- sen in viele Länder blieb den meisten Menschen ver- Aber mit langfristigen schwierigen Entwicklungen wehrt. Es gab erhebliche Einschränkungen in der Freiheit, umzugehen, erfordert auch die Fähigkeit, zu trauern und der Demokratie, bei der Versorgung mit Waren und manchmal über Tragik zu sprechen, ohne immer einen Dienstleistungen. Es gab auch staatliches Unrecht. Die Sündenbock zu suchen. Mauer und die tödliche Praxis der Grenzsicherung waren (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE sein gröbster Ausdruck, der auch nicht dadurch zu recht- GRÜNEN]: Das machen Sie aber gerade!) fertigen war, dass die Mauer die Trennlinie der Systeme markierte und von den Großmächten im Kalten Krieg als Mauer und Teilung haben mit allen etwas gemacht. Sie gegeben akzeptiert wurde. haben Menschen vor schlimme Entscheidungsnotwen- digkeiten gestellt, und es ist niemandes eigener Verdienst, (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Schießbefehl in welchem Teil unseres Landes er oder sie geboren ist auf eigene Menschen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15571

Dr. Gregor Gysi (A) Alle Toten dort sind nicht hinnehmbar. (Beatrix von Storch [AfD]: Ja, und relativ viele (C) Stasispitzel!) (Beifall bei der LINKEN) Trotzdem lehne ich den Begriff des Unrechtsstaates für Die Reisefreiheit war deshalb neben der Meinungsfrei- die DDR ab, heit, der Ablehnung von Zensur und Bevormundung eine zentrale Forderung der Demonstrantinnen und Demonst- (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der ranten von Plauen über Berlin und Leipzig bis zum 4. No- CDU/CSU: Pfui! – Dr. Alice Weidel [AfD]: vember in Berlin. Man muss noch einmal in die Augen Unglaublich!) der Menschen sehen, die am Abend des 9. November vor weil der frühere Generalstaatsanwalt von Hessen Fritz 30 Jahren frei und ungehindert aus Ostberlin in den West- Bauer teil der Stadt strömten. Man muss sich ihre glückliche Fassungslosigkeit über die friedliche Überwindung der (Dr. Alice Weidel [AfD]: Dass sich so jemand Mauer vor Augen rufen, um die historische Dimension da vorne hinstellt! Unglaublich! – Gegenruf der Leistungen vieler Ostdeutscher vor 30 Jahren zu er- von der FDP: Sie dürfen doch da auch stehen!) kennen. diesen Begriff zu Recht für die Nazidiktatur prägte. (Beatrix von Storch [AfD]: Wer war IM-No- (Beifall bei der LINKEN) tar? – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach der Re- Die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die De- de haben Sie gar nichts zu melden bei der De- monstrierenden wollten zumindest bis zum Fall der batte! Überhaupt gar nichts!) Mauer die DDR grundsätzlich reformieren, was möglich erschien. Diese Leistungen müssen ebenso wie die Leistungen der Ostdeutschen (Beatrix von Storch [AfD]: Und wurden be- spitzelt von Stasileuten!) (Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD] – Dr. Alice Weidel [AfD]: Natürlich nicht! – Ge- In einem Unrechtsstaat wie Nazideutschland war dies genruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- ausgeschlossen. Er konnte und musste abgeschafft wer- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel Hass, Hetze den. und rechtsextreme Sachen! – Zurufe von der AfD – Gegenruf von der LINKEN: Zuhören! (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch Dann lernen Sie vielleicht noch was!) [AfD]: Dass Sie hier stehen, ist echt eine Schande! – [CDU/CSU]: Sie ha- (B) in den Jahrzehnten zuvor und in den Jahrzehnten danach ben nichts gelernt! Nichts!) (D) endlich angemessen gewürdigt werden. Wegen der Reichspogromnacht gedenken wir morgen (Beifall bei der LINKEN) auch der durch die Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden. Es ist auch deshalb höchste Zeit, gleiche Löhne ( [AfD]: Dass Sie sich nicht schämen, dazu zu sprechen!) (Martin Reichardt [AfD]: Was haben Sie da gemacht? Waren Sie im Widerstand?) Den Mauerfall und auch die deutsche Einheit hätte es ohne die Gründung etwa des Neuen Forums, von „Demo- für gleiche Arbeitszeit und gleiche Renten für die gleiche kratie jetzt!“ und des Demokratischen Aufbruchs, Lebensleistung in Ost und West zu zahlen. Außerdem muss es endlich gemäß Artikel 36 des Grundgesetzes so (Marian Wendt [CDU/CSU]: Waren Sie da viele Ostdeutsche in Führungspositionen der Bundesbe- Gründungsmitglied? Das ist doch Heuchelei!) hörden geben, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung ohne die Demonstrationen, die in Plauen und Leipzig entspricht. ihren Anfang und den Menschen die Angst nahmen (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der AfD: Beleidigung der Mauer- Der Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, der Anteil an toten!) den Führungskräften nur bei 1,7 Prozent. und schließlich bei der Demonstration am 4. November Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die 1989 in Berlin ihren Höhepunkt fanden, nicht gegeben. später dann zur deutschen Einheit führten, wurde mit den (Beifall bei der LINKEN) von Gorbatschow eingeleiteten Entwicklungen von Pe- restroika und Glasnost gelegt. Es ist aber auch an die Ich muss es ganz klar sagen: Die Demonstrierenden in Rolle von Solidarnosc in Polen, an die Flucht in bundes- vielen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demo- deutsche Botschaften und an die Grenzöffnung in Ungarn kratie in der DDR gekämpft zu denken. Deshalb muss die Erzählung früher ansetzen (Beatrix von Storch [AfD]: Gegen Leute wie als beim Fall der Mauer, auch weil sich mit diesem histo- Sie!) rischen Tag der Fokus der Akteure – freiwillig oder un- freiwillig – mehr und mehr in Richtung der deutschen und die Mauer zu Fall gebracht. Nicht Helmut Kohl und Einheit verlagerte. Zuvor ging es um eine Veränderung seine Bundesregierung brachten das zustande; es war die der DDR. Wie gesagt, es gab in ihr staatliches Unrecht. Leistung der Ostdeutschen. 15572 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Gregor Gysi (A) (Beifall bei der LINKEN) tionalen Egoismus, Rassismus und Antisemitismus ver- (C) Die Bereitschaft der Menschen vor 30 Jahren, bis dahin breiten. Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der bei Abgeordneten der CDU/CSU und des SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch Weidel [AfD]: Von einem Spitzel, von einem den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte. Stasispitzel! Lustig!) (Beifall bei der LINKEN) Abschottung und Ausgrenzung sind das Gegenteil von Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokrati- dem, wofür die Menschen vor 30 Jahren demonstrierten. sches Instrument, dessen wir uns aktiv erinnern sollten (Dr. Alice Weidel [AfD]: Von einem Stasispit- bei der Lösung aktueller Probleme. zel! Wie witzig! – Gegenruf der Abg. Katrin Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: keine Gewalt durch Budde [SPD]: Sie haben doch gar keine Ah- Demonstrantinnen und Demonstranten und der Verzicht nung, Frau Weidel! – Britta Haßelmann darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen später auch. Egon Krenz hatte wohl am Abend des 8. Ok- doch von nichts, Frau Weidel! Sie wohnen doch tober angeordnet, keine Gewalt mehr durch die Polizei in der Schweiz! – Lachen der Abg. Dr. Alice anzuwenden. Es bleibt eine beachtliche Leistung, dass Weidel [AfD]) während des gesamten Umbruchs kein einziger Schuss Gerade weil heute an den Grenzen Europas wieder fiel, Menschen sterben, die nach Freiheit, Demokratie, einem (Beifall bei der LINKEN) Leben in Sicherheit und mit einer wirtschaftlichen Per- spektive streben, sollten wir uns daran erinnern, dass man weder durch sowjetische Streitkräfte in der DDR noch mit Mauern und nationalem Egoismus durch die Angehörigen der sogenannten bewaffneten Or- gane der DDR, (Dr. Alice Weidel [AfD]: Unglaublich! Von ei- nem Spitzel! -Weiterer Zuruf von der AfD: (Marian Wendt [CDU/CSU]: Die hatten ihre Mauerbauer!) Truppen schon bereitgestellt!) regelmäßig Probleme nur verschärft und nicht löst. auch und gerade nicht am Abend des Mauerfalls, als an der Grenze keiner so richtig Bescheid wusste und sich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (B) Diensthabende entschieden, die Grenze zu öffnen. Beides (D) ist zu würdigen. GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch Außerdem sind Sie von der AfD feige; denn Sie bekämp- [AfD]: Fürs Protokoll: Dass Sie hier sprechen, fen die Schwächsten in der Gesellschaft: die Flüchtlinge. ist echt eine Schande!) Da lobe ich mir die Linken, die den Mumm haben, sich mit den Stärksten anzulegen. Nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen be- stimmt den Lauf der Geschichte. (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Als Mauerschützen-Partei, die sie sind!) (Beifall bei der LINKEN) Ich weiß, was die spätere Einheit Menschen in Ost- Die AfD – ich komme ja jetzt zu Ihnen – plakatiert die deutschland zusätzlich gebracht hat, Wende 2.0 und will angeblich die Wende vollenden. Mei- ne wenigen Damen und vielen Herren von der AfD hier, (Beatrix von Storch [AfD]: Da steht die Mauer- mit der Wende, mit dem Umbruch, mit der Friedlichen schützen-Partei und verhöhnt die ganzen Op- Revolution hatten und haben Sie nicht das Geringste zu fer!) tun. zum Beispiel die Sanierung von Städten und Wohnungen, (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch aber ich kenne auch die Fehler, die begangen wurden. Die [AfD]: Von einem Stasispitzel im Bundestag Einheit hätte – so wie es Gorbatschow vorschlug – unter müssen wir uns so was nicht sagen lassen! – anderem genutzt werden können, um weder Osteuropa Weiterer Zuruf von der AfD: Aber Sie! – Zuruf noch Westeuropa zu bleiben. Man hätte neutral und zu von der SPD: Bravo!) dem wesentlichsten Vermittler weltweit bei Konflikten werden können – egal ob es um den Konflikt Israel/Pa- Die Mehrheit der Ostdeutschen – hören Sie zu! – wollte lästina, Russland/Ukraine oder um andere geht. Eine sol- die Mauer zum Einsturz bringen, nicht wie Sie die Er- che Rolle kann man übrigens auch heute trotz der NATO- richtung neuer Mauern. Mitgliedschaft anstreben. Sie scheint mir den Wünschen (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Demonstrierenden vom Herbst 1989 und dem Grund- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE charakter des Mauerfalls zu entsprechen. Diese Rolle wä- GRÜNEN) re also vielen – auch mir – schon aus historischen Gründ- en, wenn ich an die Nazidiktatur und den Zweiten Die Mehrheit wollte ein vereinigtes Europa in Frieden, Weltkrieg denke, sehr sinnvoll erschienen. das Sie zerstören wollen. Die Demonstrierenden wollten Freizügigkeit und Toleranz und nicht wie Sie Hass, na- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15573

Dr. Gregor Gysi (A) Stattdessen hat sich die Mehrheit im Bundestag entschie- nen gingen, in Plauen, in Dresden, in Leipzig, in Berlin, (C) den, nicht nur in der NATO zu bleiben, sondern die Sol- überall, gab es Angst und die gleiche Frage: Was wird datinnen und Soldaten der Bundeswehr auch mit allen werden? Wird es friedlich bleiben? – Mit der Kerze in der Konsequenzen weltweit zu entsenden. Hand und mitten unter den vielen anderen Menschen kam dann der Moment, in dem sich die Angst auflöste, dieser Außerdem wäre es vernünftig gewesen, bestimmte Moment, der einem vertrauten Gefühl von heute und ei- Momente aus der DDR wie die höhere Gleichstellung nem völlig unvertrauten Gefühl von damals Platz machte: der Geschlechter, die Polikliniken, die Berufsausbildung Freiheit. mit Abitur für das vereinigte Deutschland zu überneh- men, Diese Freiheit verdanken wir denjenigen, die damals, im Herbst 1989, auf der Straße waren. Wir verdanken sie (Martin Reichardt [AfD]: Autobahn! Auto- aber mindestens genauso sehr denjenigen, die davor wirk- bahn!) lich viel riskiert haben, nämlich ihre Freiheit, ihr Leben: statt die Strukturen im Osten völlig zu negieren und zum , die Poppes, Bärbel Bohley, Werner Teil sogar herabzuwürdigen. Das hätte das Selbstbe- Schulz. All diesen Menschen, die wirklich viel riskiert wusstsein der Ostdeutschen gestärkt haben, gebührt unser herzlicher Dank. (Beatrix von Storch [AfD]: Und das grüne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ampelmännchen!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) und den Westdeutschen ermöglicht, dank des Ostens eine Die Freiheit, frei zu sein, ohne Angst, ohne totale Kon- Steigerung ihrer Lebensqualität zu erfahren. trolle des Staates über das eigene Leben, ohne die Erfah- rung des Unrechtsstaates – plötzlich erscheint alles mög- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: lich, alles machbar: Frei denken, frei sprechen, frei sein. Das, was heute so selbstverständlich ist, war damals für Herr Kollege Gysi. uns das Größte. Wer Angst hat und sich von ihr leiten lässt – das weiß ich seit 1989 –, kann nicht frei sein. Ja, Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): sich sorgen ist menschlich, sich fürchten vor Veränderun- Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. gen, die nicht nur Gutes bringen – Globalisierung, Digi- (Beatrix von Storch [AfD]: Ja, Sie sind am talisierung, künstliche Intelligenz, aber auch Klimakrise, Ende!) Migration, Sicherheit –, das ist normal. Aber wer ängst- lich ist, ist ausgeliefert. Wer Angst überwindet, kann han- Auf andere Schwächen und Stärken der Einheit werde deln und gestalten. Der Auszug aus der Angst hat die (B) ich wegen der Begrenzung der Redezeit erst im nächsten Friedliche Revolution möglich gemacht. Deswegen: (D) Jahr eingehen. – Übrigens: Am 9. November 1918 be- Angst, meine Damen und Herren, kann niemals Leitidee gann mit der Ausrufung der Republik von Politik sein. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Hören Sie doch bitte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Demokratiegeschichte in Deutschland; auch daran Die Freiheit von etwas, von Zwang, Kontrolle, Über- sollten wir denken. wachung, ist immer auch die Freiheit zu etwas, nämlich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen, mitzu- neten der SPD) machen. Mutig zu sein und Zukunft zu gestalten, es nicht anderen zu überlassen, die es irgendwie schon richten Der Fall der Mauer aber sollte uns alle mahnen, Probleme werden, und vor allem nicht den Rattenfängern mit den wirklich zu lösen und nicht zu versuchen, sie mit Mauern einfachen Antworten hinterherzulaufen, das ist Freiheit. durch Einigelung vorübergehend unsichtbar zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Beatrix von Storch [AfD]: Was für eine Schan- Das ist übrigens bei vielen Veränderungen nicht immer de!) leicht gewesen, auch nicht nach 1990. Dass viele heute über die Neonazis in den 90er-Jahren sprechen, über die Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Baseballschlägerjahre, heißt eben auch: Diese Freiheit war und ist in unserem Gemeinwesen auch schon damals, Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von schon in den 90er-Jahren, immer wieder bedroht worden. Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Auch darüber müssen wir sprechen, wenn wir über diesen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9. November reden.

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN): Meine Damen und Herren, Freiheit ist eine Zumutung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Sie mutet uns zu, damit auch zu scheitern und Tiefschläge ne großartigste und eindrucksvollste Erinnerung an den einzustecken. Hinfallen, aufstehen, trotzdem weiter- Herbst 1989 währte eigentlich nur einen einzigen Augen- machen: Viele Ostdeutsche haben diese Zumutung der blick. Bei allen, die damals zu den großen Demonstratio- Freiheit nach der Wiedervereinigung selbst erlebt. Millio- 15574 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Katrin Göring-Eckardt (A) nen von Menschen haben in kürzester Zeit Veränderun- Menschen entgegenstellen, meine Damen und Herren (C) gen erfahren, positiv wie negativ, im Grunde genommen von der AfD. genug für drei Leben. Es ist ein guter Moment, sich wie- der füreinander zu interessieren, über die gemeinsam ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, machten Erfahrungen zu reden, zu fragen: Wie können bei der SPD und der LINKEN) wir für die Veränderungen, die vor uns liegen, die Erfah- Sie müssen ertragen, dass wir auf Ihren Rassismus mit rungen der Ostdeutschen der letzten 30 Jahre eigentlich Zusammenhalt antworten und dass wir Ihrem Toben ge- nutzen? Das, was in Sachsen und Brandenburg, in Meck- gen selbstbewusste, gleichberechtigte Frauen mit einem lenburg-Vorpommern und Thüringen und in Sachsen-An- kämpferischen und fröhlichen Feminismus begegnen, halt durchlebt wurde in den letzten 30 Jahren, diese Er- meine Damen und Herren. fahrung ist ein Schatz, und sie ist zugleich eine Chance. Sie heute zu nutzen, das könnte uns, das würde uns stark- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, machen für viele Veränderungen, die vor uns liegen. bei der SPD und der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Und Männer und Diverse!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Budde [SPD]) Warum sage ich das heute? Ich sage das heute, weil ich tatsächlich vor 30 Jahren auf der Straße war und dafür Aber nicht nur der Osten hat sich verändert. Er hat auch gekämpft habe – anders als Herr Gauland und Herr Höcke im Westen Spuren hinterlassen. Und ich rede nicht von und Herr Kalbitz – und weil ich weiß: Freiheit fordert von Kleinigkeiten wie dem Ampelmännchen und dem grünen uns Respekt vor den Andersdenkenden, Zurückhaltung in Pfeil und auch nicht von ein paar Kirchenliedern, die es der Auseinandersetzung. ins gesamtdeutsche Gesangbuch geschafft haben. Kinder- tagesstätten und Ganztagsbetreuung sind heute überall (Widerspruch bei der AfD) selbstverständlich. Nationalparks und Biosphärenreser- Sie fordert Anstand von uns. Freiheit ist unbequem. Und vate hat der Osten als Naturerbe mit in die Vereinigung dennoch, meine Damen und Herren: Ich würde jeden Tag gebracht. Der § 175 StGB, der Homosexualität bestrafte, wieder für sie auf die Straße gehen. Glauben Sie nur eines wurde später endlich auch im gesamten Deutschland ab- nicht: Glauben Sie bei all Ihren Versuchen, Angst zu geschafft. schüren, nicht, (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- (Leif-Erik Holm [AfD]: Wer schürt denn hier NIS 90/DIE GRÜNEN] und Katrin Budde Ängste?) [SPD]) dass diejenigen, die für Freiheit und Demokratie stehen, (B) Die Spätis übrigens sind eine ostdeutsche Erfindung ge- die dafür jeden Tag kämpfen, sich auch nur eine Sekunde (D) wesen. einschüchtern lassen von Ihrem Toben, von Ihren Angrif- (Christian Lindner [FDP]: Genau! Und hier in fen auf die Freiheit und auf die Demokratie; denn sie ist Berlin werden sie jetzt eingeschränkt von der stärker. Linken, von den Grünen und von der SPD!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die nach 1990 eingegangenen Polikliniken tauchen heute bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. als Medizinische Versorgungszentren überall wieder auf. Hermann Gröhe [CDU/CSU]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist gut, auch Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, diese Erinnerungen heute zu benennen. CDU/CSU. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Budde [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind ein größeres, aber wir sind eben auch ein viel- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): fältigeres Land geworden, und darauf können wir ge- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe meinsam stolz sein. Aber diese Vielfalt wird uns eben Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die wir alle vor auch zugemutet. Wir müssen die Freiheit anderer ertra- Augen haben, die tanzenden Frauen und Männer auf der gen – das gehört dazu –, deren Meinungen, auch wenn wir Berliner Mauer, die sich umarmenden Menschen, die den sie unerträglich finden, sogar Ihre Reden hier – auch größten Glücksmoment der deutschen Geschichte so mi- heute wieder – von der AfD. Aber das Verrückte ist doch: terlebt haben, meine Damen und Herren, das sind dieje- Sie glauben, Meinungsfreiheit hieße Widerspruchsfrei- nigen, derer wir heute gedenken, mit denen wir heute heit. Sie können sagen, was Sie wollen, auf den Markt- feiern. Der Mut der Demonstranten in Leipzig, in Berlin plätzen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Netz, und anderen ostdeutschen Städten, der Aufstand der vie- sogar hier im Parlament, überall. Nur müssen Sie auch len gegen das Unrechtsregime der wenigen, mit Worten ertragen, dass wir mit unserer freien Rede antworten. Sie statt Waffen, mit Gebeten statt Gewalt – das war der müssen unsere Argumente anhören, und Sie müssen un- größte Glücksmoment und ein Segen für die deutsche sere Freiheit, Ihnen klar zu sagen, was Sie tun und wie Sie Geschichte, meine Damen und Herren. versuchen, dieses Land zu spalten, akzeptieren. Sie müs- sen aushalten, dass wir Ihren Hass klar benennen, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir Ihrer Menschenverachtung die Würde jedes einzelnen ordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15575

Alexander Dobrindt (A) Gleichzeitig wehren wir uns entschieden gegen alle Damen und Herren: Der Begriff „Unrechtsstaat“ relati- (C) Versuche, die Geschichte umzuinterpretieren und ins Ge- viert nicht die Lebensleistung der Ostdeutschen. Er wert- genteil zu verkehren. Deswegen sage ich auch hier sehr schätzt und respektiert die Leistung derjenigen, die deutlich: „Wir sind das Volk“, das war ein Satz, der diesem Unrechtsregime entgegengetreten sind, es über- Mauern eingerissen hat und zusammengeführt hat, und wunden haben, es zu Fall gebracht haben. wir dürfen nicht akzeptieren, dass er missbraucht wird und wieder neue Mauern errichten sowie spalten soll. (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der Das sind wir der Bürgerrechtsbewegung schuldig, meine FDP) Damen und Herren. Sehr geehrter Herr Gysi, wer die Freiheitskämpfer von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 1989 wirklich ehren will, der muss auch das Verbrecher- ordneten der SPD, der FDP und der LINKEN) regime beim Namen nennen, das sie bekämpft haben. Zur historischen Betrachtung gehört natürlich auch da- (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der zu, dass nicht alle im Westen die Wiedervereinigung so FDP) intensiv begleitet haben oder gar daran geglaubt haben. Den Versuch der Uminterpretation Deutschlands in eine Wir alle sind heute die Erben der Einheit. Jeder weiß, Nation, zwei Staaten, den es auch gegeben hat, den haben dass Erben leichter ist als Erarbeiten. Deswegen – auch wir nie mitgemacht, den haben wir abgelehnt. Gegen die das ist von Bedeutung – ist dieses Erbe ein Auftrag. Die- Festschreibung der Teilung haben wir uns immer ge- ses Erbe ist der Auftrag, die Einheit zu bewahren. Die wehrt. Es waren andere, die gesagt haben, dass das ver- Einheit unseres Landes ist nicht gesetzt, sie muss immer fassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot ein Un- wieder neu erarbeitet werden. Das ist der Auftrag auch glück für das deutsche Volk sei. Was für eine grandiose heute. Fehleinschätzung, meine Damen und Herren! Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) ordneten der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben vielen Muti- gen auf der Straße, neben unseren Nachbarn in Europa, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die anfangs ja auch mit Bedenken, aber trotzdem mit Freude die Entwicklungen zur Wiedervereinigung beglei- Leif-Erik Holm, AfD, ist der nächste Redner. tet haben, war es auch Michail Gorbatschow in Moskau (Beifall bei der AfD) (B) und waren es auch die Vereinigten Staaten von Amerika, (D) die die Zeichen der Zeit erkannt und die Wiedervereini- gung ermöglicht haben. Und deswegen, um es klar zu Leif-Erik Holm (AfD): sagen: Die deutsche Einheit war nicht nur ein Geschenk Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Her- Europas an Deutschland, sie war auch ein Geschenk der ren! Ich wollte eigentlich mit meinen persönlichen Erleb- Vereinigten Staaten von Amerika an Deutschland. nissen hier einsteigen. Ich möchte aber doch noch mal einen Satz zu Gregor Gysi sagen, der hier als Vertreter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Nachfolger der SED sitzt und eine wirklich schwache ordneten der AfD und der FDP) Rede gehalten hat, Man sollte Jubiläen ja nicht nur feiern, sondern auch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann realpolitisch die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Die haben wir eine andere Rede gehört!) Botschaft von 1949 hieß: Nie wieder Faschismus! Die Lehre von 1989 heißt: Nie wieder Kommunismus! der uns, der AfD, vorwirft, wir würden die Errichtung neuer Mauern befördern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der AfD und der FDP) ( [DIE LINKE]: Ja, das wollen Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekämp- Sie doch! – Weitere Zurufe von der LINKEN) fen wir die Extremisten außerhalb und innerhalb der Par- Erstens. Für die Mauertoten sind Sie verantwortlich lamente. und nicht wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der AfD – Zurufe von der LIN- bei Abgeordneten der AfD) KEN) Wir treten dabei übrigens auch den Geschichtsvergesse- nen und den Relativierern entschlossen entgegen. Den- Zweitens. Es macht einen Unterschied, ob man seine jenigen, die behaupten, „die DDR sei das friedfertigste Bürger einsperrt oder ob man sagt: Wir wollen kontrol- und menschenfreundlichste Gemeinwesen der deutschen lieren, wen wir in das Land hereinlassen. Geschichte gewesen“; (Beifall bei der AfD – [Er- (Lachen des Abg. Christian Lindner [FDP]) furt] [SPD]: Aber Schießen geht trotzdem!) denjenigen, die behaupten, es habe nie einen Schießbe- Der 9. November, meine Damen und Herren, ist für uns fehl gegeben, und denjenigen, die behaupten, die DDR sei ein bewegender Tag. Für uns junge Ossis war er damals kein Unrechtsstaat gewesen, denen sage ich klar, meine wirklich ein prägender Tag. 15576 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Leif-Erik Holm (A) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es ist doch so, wir erleben es auch in diesem Hause: (C) NEN]: Wie war das noch mal mit der von Wer die Masseneinwanderung kritisiert, der ist ein Aus- Storch? Was das Schießen angeht?) länderfeind. Zwei Dinge haben uns in diesen Tagen wirklich stark (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) bewegt: Wer sich für ein Europa der Vaterländer einsetzt statt für Erstens. Es war die Wiedergewinnung unserer Nation, die Zentralisierung in Europa, der ist ein Europafeind. es war ja die vorweggenommene Wiedervereinigung – Und wer die Klimahysterie völlig überzogen findet, der das kann man wirklich sagen –: der 9. November, dieser ist ein Klimaleugner. glückliche Tag. (Zurufe der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Na ja, ich NIS 90/DIE GRÜNEN] und Markus Kurth habe an was anderes gedacht!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die SPD hat damals noch in ihren Statuten das Ziel der Es gibt auch heute wieder nur Totschlagargumente wie Wiedervereinigung herausstreichen wollen. Das muss früher. Damals war es der Konterrevolutionär, der staats- man heute auch noch mal sagen. feindliche Hetze betreibt. Ja, wir haben auch heute schon wieder – man kann es zwischen den Zeilen merken; der (Beifall bei der AfD) Ossi ist da etwas sensibler – einen unerträglichen Mei- Diejenigen, die sich heute hierhinstellen und die große nungszwang in Deutschland. Das haben wir uns 1989 Einheit loben, haben damals das Ziel herausstreichen nicht erträumt. wollen. Aber wir Ostdeutsche haben uns sehr gefreut, (Beifall bei der AfD – Zurufe vom BÜND- dass wir endlich wieder zusammenkamen in Ost und West NIS 90/DIE GRÜNEN) und dass wir wieder zusammenwachsen konnten. Wir freuen uns noch heute darüber. – Ich weiß, es ist ja alles erfunden, was wir Ihnen erzäh- len. Ich höre das Geschrei. Zweitens. Dieser 9. November war die Wiedergewin- nung der Freiheit. Mir klingt immer noch ein älterer Herr Es ist vermutlich erfunden, dass ein Unternehmer seine von der Bornholmer Brücke im Ohr, der damals gesagt Biohirse nicht verkaufen kann, weil er das falsche Partei- hat: Det is unsere Stunde, det is die Stunde der Freiheit. – buch hat. Es ist auch nicht wahr – natürlich –, dass Uni- Genauso haben wir das im Osten empfunden. Es ging professoren ihre Vorlesungen nicht abhalten können, weil nicht nur um Reisefreiheit. Wir hatten auch keinen Bock sie die falsche Weltanschauung haben. Hören wir doch (B) mehr auf die ständige Bevormundung durch die SED- mal zu, was der Präsident des Deutschen Hochschulver- (D) Herrscher, keinen Bock mehr auf Staatsbürgerkunde bandes, Bernhard Kempen, sagt – Zitat –: und all den Sozialistenquark. Im Namen der Political Correctness erfolgt zuneh- (Beifall bei der AfD) mend ein Angriff auf das Wesen der Universität: auf die Freiheit des Forschens, Denkens und Debattie- Aber was ist daraus heute geworden? 30 Jahre nach rens. unserer Friedlichen Revolution erleben wir wieder den Geist der Unfreiheit. Eine Minderheit versucht, ihnen unsympathische Ansich- ten nicht argumentativ zu widerlegen, sondern zu unter- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch drücken gar nicht!) mit Drohungen, Shitstorms, Blockaden und manch- Ja, zum Glück kommt heute niemand in den Knast, wenn mal psychischer Gewalt. er seine Meinung sagt. Zitat Ende. – Das alles passiert heute: im freiesten (Enrico Komning [AfD]: Noch nicht!) Deutschland aller Zeiten. Das sehen und spüren die Aber die Stigmatisierung, die Diffamierung, das Mob- Bürger. Das zeigen auch die Studien. Drei Viertel der bing muss man heute schon wieder ertragen, und mittler- Deutschen sind heute lieber vorsichtig, was sie im öffent- weile sogar körperliche Angriffe. Das versteht wirklich lichen Raum sagen. Zwei Drittel der Jugendlichen finden keiner, der 1989 dabei war. schon, dass man nicht offen über Migrationsprobleme sprechen könne. Das müssen Sie sich mal vorstellen! (Beifall bei der AfD) Schon unsere Kinder sind also vom Meinungsdruck ein- geschüchtert. Aber Frau Merkel sieht die Meinungsfrei- Wir haben damals gelernt, wie toll es ist, wenn man heit nicht in Gefahr, wie wir kürzlich lesen konnten. Da offen und frei heraus seine Argumente austauschen kann. muss man wirklich schon sehr weit oben im Elfenbein- Heute gewinnt schon wieder der, der die Moralkeule am turm leben, um die Realität so zu negieren. lautesten schwingen kann. Davon haben wir wirklich die Nase gestrichen voll. Deswegen werden wir nicht zulas- (Beifall bei der AfD) sen, dass wir wieder in eine solche bleierne Zeit zurück- fallen. Wenn ich Sie hier so höre, dann scheint sehr viel Platz oben im Elfenbeinturm zu sein; denn offensichtlich (Beifall bei der AfD) scheinen Sie dort auch zu Hause zu sein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15577

Leif-Erik Holm (A) Aber vielleicht ist es bei manchen eben nicht nur Nai- anderen Ländern verpflichtet, zu erwähnen: 1989 war (C) vität, sondern auch Mittel zum Zweck: eine Chance, eine Verdichtung auch für die internationale Politik. Der Mauerfall hat das Entscheidende dazu beige- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tragen. NEN]: Ja, bei Ihnen!) die Moral- und Nazikeule als pures Machtinstrument, um Aber auch in Südafrika endete die Apartheid. Namibia sich die Pfründe zu sichern, war nicht mehr besetzt, sowjetische Truppen zogen aus Afghanistan ab. Es wäre vielleicht ein Moment der Be- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- friedung dieses Landes gewesen, wenn sich nicht andere NEN]: Keine Meinungsfreiheit? In welchem Mächte wieder eingemischt hätten. In Polen wurde Soli- Land leben Sie denn? Sie leben hier in einer darnosc wieder zugelassen. Es ist sozusagen auch ein Demokratie!) Glücksmoment in diesem Jahr 1989 gewesen, wo der Mauerfall natürlich das entscheidende Ereignis war, aber die jetzt bedroht sind, wo die Bürger unzufrieden mit wenn man Geschichte richtig betrachtet, nicht linear, Ihrer Arbeit sind. Genau deswegen kommen Sie mit ir- dann sieht man: Es wurde auch wieder der Keim des gendwelchen hanebüchenen Demokratieförderprogram- Unfriedens und der Unterdrückung gelegt. Wir sollten men für Ossis. Aber ich sage Ihnen: Wir brauchen gewiss uns daran erinnern: In Peking, auf dem sogenannten Platz keine Umerziehung von Ihnen. des Himmlischen Friedens, wurden 1989 Hunderttausen- (Beifall bei der AfD) de von Menschen eingeschüchtert, aber es wurden eben auch Menschen getötet. In Jugoslawien gab es die Hetz- Jeder, der damals vor 30 Jahren auf die Straße gegangen rede von Milosevic als Erinnerung an das Amselfeld. All ist, das kann hier im Bundestag zeigen, wohin Hetze und der (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Versuch, Unfrieden und ein historisches Narrativ zu NEN]: Das Grundgesetz!) schaffen, führen. Ich finde, wir sind es dem Jahr 1989 schuldig, an diese Ereignisse zu erinnern. hat mehr für die Demokratie getan als Sie alle zusammen in Ihren phrasenhaften Sonntagsreden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- (Beifall bei der AfD – Katrin Göring-Eckardt SES 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, ich war in Leipzig auf der Straße!) Dennoch, meine Damen und Herren, zwei Alleinstel- 30 Jahre nach dem Mauerfall müssen wir dem Geist lungsmerkmale bleiben: einerseits die Anziehungskraft der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und – was meine (B) von 1989 endlich wieder Leben einhauchen. (D) Kollegin Budde gesagt hat –, natürlich auch der Wohl- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fahrt, des Wohlstandes, andererseits die Akzeptanz und NEN]: Aber nicht mit Ihrem Kalbitz und Ihrem Einordnung in regionale und internationale Zusammen- Höcke, den Faschisten!) arbeit. Ohne den Mauerfall wäre 1990 nicht die Charta Wir alle in Ost und in West sollten passend zu diesem von Paris entstanden, in der sich die KSZE- bzw. die Jubiläum endlich damit anfangen. Meine Damen und OSZE-Mitglieder zusammengefunden haben, um ein Herren, det is die Stunde, die Stunde der Freiheit. großes Regelwerk für die europäische Friedensordnung zu schaffen, mit der die Hoffnung aufkeimte: Wir werden Danke schön. eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft schaffen, in der Regeln, Werte und Normen eine Rolle spielen. Der (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann Fall der Mauer hat dies ermöglicht. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das eigentlich? Finden Sie das nicht primitiv?) Ich will daran erinnern: In diesem Dokument – man muss es sich noch mal genau anschauen – waren unter der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Überschrift „Sicherheit“ vier Absätze zum Thema Abrüs- tung enthalten. Abrüstung wurde damals für Sicherheit Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, genutzt. Alle, die die Unterschrift geleistet haben, waren Dr. Rolf Mützenich. der vollen Überzeugung: Das ist die Richtung, in die wir (Beifall bei der SPD) gehen können. Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit – das war eines der großen Kapitel in der Charta, ebenso wie Dr. Rolf Mützenich (SPD): Umwelt und insbesondere, dass sich die KSZE, die OSZE Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dem Regelwerk der Charta der Vereinten Nationen unter- Kollegen! In seinem Festvortrag anlässlich des 60. Ge- ordnen sollte. Was für ein wunderbarer Moment für die burtstages der Bundeskanzlerin spürte der Historiker internationale Politik! Jürgen Osterhammel der historischen Zeit und den Um- Jetzt könnte man sagen: Das war ein kurzes Aufblit- bruchphasen nach. Bei all seiner Skepsis für Trends und zen. – Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten angebliche Wahrheiten war er sicher, dass die größten werden uns aber nicht mit der Behauptung des Aufblit- Umbrüche in Zeiten der Verdichtung geschehen. zens abfinden. Wir werden auf der Lehre der Charta von Der Mauerfall war der wichtigste Teil dieser Verdich- Paris eine europäische Friedensordnung aufbauen, die tung im Jahre 1989. Aber ich denke, wir sind, weil wir ein sich so gestaltet, genau die Elemente, die ich eben ange- Parlament sind, das über Deutschland hinausschaut, auch sprochen habe, zusammenzuführen. Die Charta war mehr 15578 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Rolf Mützenich (A) als die NATO, sie war weniger als die Vereinten Natio- ten Generation Ost oder, wie ich auch gerne sage, der (C) nen, aber sie war der Keim für eine europäische Friedens- Generation „Wiedervereinigung und Zusammenwach- ordnung, der nach dem Mauerfall hier nie wieder vergeht. sen“. Ich bin der festen Überzeugung: Man muss sich wieder daran erinnern, um diese Schritte auch für die Zukunft zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gehen. SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der 9. November war eine Zäsur in der deutschen Ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schichte. Er markierte aber weder einen Beginn noch ein Ich bin sicher: Wir haben diese Momente, meine Damen Ende der Entwicklung, aber es war ein Meilenstein. Die und Herren. Es wird immer noch – in einer schmalen Entwicklung, die wir sahen, begann viel früher. Es be- Nische – über Abrüstung gesprochen. Wir als Parlament gann mit den Bürgerrechtsbewegungen, und zwar nicht müssen zusammen mit der Bundesregierung alles versu- erst in den 80ern, sondern sie waren von Anfang an da. chen, dass der letzte internationale Abrüstungsvertrag er- Sie blitzte immer wieder auf mit den Aufständen 1953, halten bleibt. Das ist uns damals, 1989, sozusagen mit auf 1956 und 1968. All das ist in einem Kontext zu sehen. All den Weg gegeben worden. Es ist schade, dass wir wieder das ist eine Entwicklung, die mit der glücklichen Wieder- eine Allianz der Multilateralisten finden müssen, obwohl vereinigung endete. Aber die Entwicklung ist heute noch wir eigentlich gedacht haben: Genau das wäre unter der nicht abgeschlossen; denn eine echte Wiedervereinigung, Charta von Paris möglich. eine echte Vereinigung Europas haben wir bis heute nicht erreicht. Wir brauchen passende Antworten auf die Herausfor- derungen unserer Zeit, und wir finden sie in den Erfah- Die Veränderungen prägten nicht nur Ostdeutschland, rungen auch des Mauerfalls. Ich möchte an etwas erin- sie prägten natürlich auch das alte Westdeutschland, auch nern: Ich glaube, dass neue Mauern immer in den Köpfen wenn die Entwicklungen im Osten natürlich deutlich beginnen. Das ist das Fatale in unserer Zeit. Hier wird die spürbarer waren. Denn es war dort, wo wir in kürzester Zivilgesellschaft, die es geschafft hat, dass die Mauer Zeit praktisch alles von den Füßen auf den Kopf stellten: gefallen ist, so hervorgehoben. Wir sollten uns in diesen ein neues Verwaltungssystem, ein neues Bildungssystem Stunden, in diesen Tagen daran erinnern: Die Zivilgesell- mit neuer Form und neuen Inhalten, ein neues Sozialsys- schaft in Chile, in Hongkong, im Irak und an anderer tem, und das Ganze praktisch über Nacht. Über Nacht Stelle ist bemüht, Regimen klarzumachen, dass diese verschwanden die alten Gewissheiten, über Nacht musste sie als Menschen akzeptieren und dafür sorgen sollen, man sich neu orientieren, und diese Orientierungslosig- dass die Korruption, die Unterdrückung und viele andere keit spürte ich als Jugendliche ganz besonders, die spürte (B) Dinge zurückgehen. Deswegen sage ich: Keine neuen meine Generation. Denn in einer Lebensphase, in der man (D) Mauern in den Köpfen nach den Erfahrungen davon, Orientierung sucht, in der man Orientierung auch bei sei- was die Zivilgesellschaft gerade bei uns erwirkt hat! nen Eltern sucht, musste man feststellen: Auch diese Ge- neration war orientierungslos und suchte selbst nach Ori- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entierung, die niemand bieten konnte. Es war keine der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Orientierung da, und es fehlten die entsprechenden Insti- GRÜNEN) tutionen und Strukturen, die das auffangen konnten. Das Meine Damen und Herren, 1988 war nicht absehbar, Ergebnis entlädt sich momentan in den Erzählungen, die dass ein Jahr später die Mauer fällt, aber die Vorarbeiten wir unter #baseballschlägerjahre lesen müssen. Es zeigt waren geleistet. Wir müssen heute ermöglichen – und sich: Die Orientierungslosigkeit, die danach folgte, prägt dürfen nicht darin nachlassen –, was wir für uns in der uns noch heute. Zukunft wünschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Ich möchte an dieser Stelle aber positiv nach vorne (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gucken; denn in der Zeit danach – Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- hat die gemeinsame Prägung angesprochen – hat sich ordneten der CDU/CSU) insbesondere in Bezug auf das Thema „Frauenrechte und Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ viel getan, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: als insbesondere die jungen ostdeutschen Frauen massen- haft in die alten Bundesländer zogen und Ideen mitbrach- Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Müller, ten, die das Leben dort nachhaltig verändert und geprägt Bündnis 90/Die Grünen. haben. Wir wären deutlich nicht da, wo wir jetzt sind bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesem Thema, wenn es die Wiedervereinigung nicht ge- geben hätte. Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- men und Herren! Die Friedliche Revolution und insbe- Wir müssen diese Phase nun nutzen, um eine gemein- sondere die Öffnung der Mauer erlebte ich, wie es sich für same Erzählung, eine gemeinsame ost- und westdeutsche eine Achtjährige wahrscheinlich gehört, schlafend im Geschichte, eine gemeinsame europäische Geschichte zu Bett. Vor Ihnen steht also keine aktive Aktivistin der finden, und wir müssen den Blick richten auf die Heraus- Friedlichen Revolution, sondern eine Vertreterin der drit- forderungen, die wir in Ost wie West haben: das Zusam- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15579

Claudia Müller (A) menwachsen von Stadt und Land, der unterschiedlichen Es ist doch vollkommen klar, dass nicht nur einer oder (C) Regionen, der schnell wachsenden und der schrump- zwei, sondern alle die Verantwortung tragen, die sich be- fenden Regionen. Es muss uns gelingen, gleichwertige klatschen und bejubeln, für diese unsäglichen, verleum- Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands herzu- derischen, geringschätzenden, hasserfüllten Reden, mei- stellen; denn nur dann können wir zu einer echten Einheit ne Damen und Herren. kommen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Es geht um die Frage des Gemeinsamen. Das ist die der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Lehre aus 1989: Es war gemeinsam – die verschiedensten GRÜNEN – Zurufe von der AfD) Gruppen mit verschiedenen Wertvorstellungen in den Und es ist genauso klar, dass, wenn Menschen wie Sie Großstädten wie Leipzig und Berlin, aber auch in kleinen Verantwortung in den Jahren vor 1989 in der alten Bun- und mittelgroßen Städten wie Plauen oder Waren an der desrepublik getragen hätten, dieses Ergebnis nicht mög- Müritz, wo die Menschen auf die Straße gingen. Es war lich gewesen wäre. Sie spalten heute. Gott sei Dank haben ein Gemeinschaftsprojekt, und nur in dieser Gemein- Sie damals keine Verantwortung getragen. schaft können wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, meistern, nur gemeinsam schaffen wir es, eine (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, echte Einheit in unserem Land und in Europa voranzu- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE bringen. GRÜNEN – Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD]) Vielen Dank. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Gegenüber Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen wie Helmut Kohl, dem Kanzler der deutschen Ein- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der heit, sind Sie ärmliche Gestalten. CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: neten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD]) Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer. Meine Damen und Herren, die DDR war – das haben wir jetzt mehrmals schon diskutiert –, moralisch und wirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftlich am Ende. Die Begriffe, die man verwenden kann für dieses Land, sind sehr verschieden; aber es ist Michael Kretschmer, Ministerpräsident (Sachsen): ganz klar: Ein Land, das seine Menschen einsperrt, das sie (B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ermordet, wenn sie das Land verlassen wollen – immer- (D) ren! Was für eine Fügung des Schicksals, dass der Tag der hin 139 Mauertote –, größten Freude für unser Land auf den Tag fällt, der uns (Jürgen Braun [AfD]: Mit denen arbeiten Sie dauerhaft, auch in den kommenden Jahrzehnten, immer zusammen!) wieder in Verantwortung nimmt für unsere Geschichte! Der Fall der Berliner Mauer und die Reichskristallnacht ein Land, in dem Staatsanwälte bei der SED-Kreisleitung an einem Tag – immer wieder im Gedächtnis, dass alles oder -Bezirksleitung anrufen, das, was nach dem 9. November 1989 gelungen ist, nur denkbar ist, weil man sich nach 1945 der deutschen Ge- (Jürgen Braun [AfD]: Das sind doch Ihre schichte gestellt hat, gerade auch in ihren schwierigen Freunde!) und dunklen Seiten, weil die Bundesrepublik Deutsch- um sich sagen zu lassen, welches Urteil sie fällen sollen, land Verantwortung übernommen hat, weil sie sich in ein Land, das verhindert, dass Menschen ihren Weg ge- das westliche Bündnis eingefügt hat und damit ein un- hen, oder das Menschen mit bunten Haaren ins Gefängnis glaubliches Vertrauen genossen hat, was dazu geführt hat, steckt, dieses Land, meine Damen und Herren, ist nichts dass andere uns vertraut haben bei dieser deutschen Ein- anderes als ein Unrechtsstaat. heit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- ordneten der FDP) SES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, nach zwei Jahren bin ich Wir haben das miteinander geschafft, Deutsche in Ost das erste Mal wieder in diesem Plenarsaal. und West. Diese deutsche Einheit ist die größte patrioti- sche Leistung, die Menschen füreinander erbracht haben: (Marian Wendt [CDU/CSU]: Schön, dass du Der eine Teil verzichtet auf Wohlstandszuwachs, um dem hier bist!) anderen Teil zu helfen. Das, was wir hier aufgebaut ha- – Danke. – Und ich bin auf eine Weise erschrocken über ben, dieses beste Deutschland, das wir je hatten, haben Reden, die mich an Nazis erinnern, was ich nicht für wir gemeinsam geschafft. Deswegen: Lassen Sie uns möglich gehalten hätte. nach vorn gehen. Lassen Sie uns aufhören mit dieser Diskussion über Deutsche erster oder zweiter Klasse, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, über Verlierer oder Nichtverlierer. Die Zukunft liegt vor der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE uns. Lassen Sie sie uns mit beiden Händen ergreifen, GRÜNEN) meine Damen und Herren. 15580 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Ministerpräsident Michael Kretschmer (Sachsen) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- über andere Daten gesprochen wird. Es ist notwendig, (C) neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- dass das Geld bereitgestellt wird, dass zügig damit begon- SES 90/DIE GRÜNEN – Karsten Hilse [AfD]: nen wird, Straßen zu bauen und die Infrastruktur aufzu- Gut, dass Sie nicht mehr im Bundestag sitzen! bauen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Echt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten sechs Bun- despräsidenten gewählt. Wir haben einen ostdeutschen Die letzte Bitte ist folgende: Sie alle kennen die Ant- Bundespräsidenten gehabt, und wir haben – zum Glück – wort auf die Frage: Hätten wir 1989/90 die gleichen Re- eine ostdeutsche Bundeskanzlerin. gelungen und Gesetze gehabt wie heute, hätten wir dann das Gleiche erreicht? Die Antwort ist: Nein. – Meine (Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren, vertrauen wir den Menschen und Wir sind gemeinsam Fußballweltmeister geworden. Wir der Wirtschaft in diesem Land wieder mehr, geben wir haben schwierige Dinge wie Naturkatastrophen an der ihnen mehr Freiheit zum Unternehmertum, zum Handeln. Elbe und an der Oder gemeinsam gemanagt. Wir haben Wir brauchen mehr Dynamik für Deutschland insgesamt, eine unglaubliche Kraft gezeigt, dieses Land aufzubauen. aber vor allem zur Bewältigung der großen Herausforde- Das soll uns auch für die kommenden Jahre die Kraft rungen im Bereich Mobilität und im Zusammenhang mit geben, meine Damen und Herren. dem Strukturwandel in den Kohleregionen, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben, damit wir auch Der Kompass ist klar: Dieses Land ist ein Land der weiter in eine gute Zukunft gehen. Freiheit, der sozialen Marktwirtschaft, ein Land, das sich in Europa einbettet und das eine enge Einbindung in die Herzlichen Dank. NATO und in die westliche Welt haben muss. Das hat uns stark gemacht. Das hat uns bis hierher gebracht. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Leitschnur für die kommenden Jahrzehnte. neten der SPD und der Abg. Linda Teuteberg [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Natürlich gibt es Dinge, die noch zu klären sind. 90 Pro- Dr. Marc Jongen, AfD, ist der nächste Redner. zent der ostdeutschen Menschen haben nach 1989 einen anderen Arbeitsplatz suchen müssen. Da hat nicht alles (Beifall bei der AfD) funktioniert. Deswegen ist meine herzliche Bitte vor allen (B) Dingen an Sie, meine Damen und Herren in den Koali- Dr. Marc Jongen (AfD): (D) tionsfraktionen, jetzt zügig das Thema Grundrente abzu- „Das tritt, nach meiner Kenntnis … ist das sofort, un- schließen. Sie ist den Deutschen versprochen worden. Die verzüglich.“ Mit diesen legendären Worten, meine Da- Vorschläge, die heute vorliegen, würden für den Freistaat men und Herren, setzte Günter Schabowski am 9. Novem- Sachsen bedeuten, dass 200 000 Menschen davon profi- ber 1989 auf einer Pressekonferenz in Ostberlin die tieren. Ich glaube, wir sind es den Leuten schuldig. Sie Ereignisse in Gang, die noch am selben Abend zum Fall warten darauf. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir an die- der Mauer führen sollten. Die Friedliche Revolution war ser Stelle schnell zu einem Ergebnis kommen würden. erfolgreich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es folgte ein euphorischer Freudentaumel in Ost und der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜND- West. Sich an den Mauerfall zu erinnern, ist Gelegenheit, NIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald sich durch das zeitweilige Wiedereintauchen in die dama- [DIE LINKE]: Das sollten Sie Ihrer Fraktion lige Freude über die Einheit bewusst zu machen, was uns eigentlich sagen! – Michael Grosse-Brömer zu einem Volk macht, über die regionalen und mittler- [CDU/CSU]: Wir machen das, wie im Koali- weile hoffentlich auch über die Parteigrenzen hinweg. tionsvertrag vereinbart!) Die SPD hätte es damals ja lieber bei zwei deutschen Meine Damen und Herren, wir haben große Erfahrun- Staaten belassen, wie wir wissen. gen mit der Aufarbeitung von wirtschaftlichem Notstand. Der Strukturbruch nach 1989 ist – auch das ist schon (Beifall bei der AfD) gesagt worden –, Ergebnis von Misswirtschaft in der ehe- Die Erinnerung an diese Tage der Freude darf aber maligen DDR. Was heute vor uns liegt, sind andere Ver- nicht darüber hinwegtäuschen, was dem folgte, nämlich änderungen: der Kohleausstieg und die Strukturentwick- nicht sofort blühende Landschaften, sondern der skanda- lung in diesen Regionen. Ich bitte Sie alle, dafür zu löse Ausverkauf von DDR-Betrieben durch die Treuhand, sorgen, dass auch in dieser Frage das, was versprochen hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung der Jugend in den wurde, gilt: Erst neue Arbeitsplätze, bevor andere weg- Westen, viel bittere Bevormundung der Ossis durch Wes- fallen. sis und vielfache Rückkehr alter DDR-Eliten an Macht- (Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD]) positionen einschließlich der Etablierung der SED-Nach- folgepartei in diesem Hohen Haus, ein Skandal in Das bedeutet, dass die Festschreibung des Jahres 2038 für Permanenz, meine Damen und Herren. uns notwendig ist, wie es in der Kommission vereinbart worden ist, damit erst Neues geschaffen werden kann. Ich (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- sehe mit Sorge, dass an der einen oder anderen Stelle jetzt ten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15581

Dr. Marc Jongen (A) Wir müssen uns aber auch daran erinnern, was dem stehen; denn sie ist viel mehr als dieser eine funkelnde (C) Mauerfall vorausging, nämlich 40 Jahre Unrechtsregime Moment. Sie ist eine lange Geschichte, die weit vor dem der DDR. Millionen Menschen wurden von der Staats- 9. November begann. sicherheit bespitzelt. Viele Tausend Unschuldige wurden aus politischen Gründen inhaftiert, mehrere Hundert wur- Warum ist es wichtig, daran zu erinnern? Weil diese den bei dem Versuch, aus dem Gefängnis namens DDR zu großartige Zeit eine wichtige Erfahrung in sich trägt, die fliehen, getötet. wir nicht vergessen dürfen: Geschichte passiert nicht ein- fach so. Sie ist kein anonymes Geschehen, dem wir aus- Meine Damen und Herren, bis heute existiert keine geliefert sind. Wir sind immer Teil dieser Geschichte – im zentrale Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Ge- Guten wie im Schlechten, und wir tragen Verantwortung, waltherrschaft in Deutschland. Die AfD-Fraktion hat des- meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. halb einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, zusammen mit der Berliner Landesregierung (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Linda an einem zentralen Ort in Berlin ein solches Denkmal zu Teuteberg [FDP]) errichten. Der Herbst 1989 ist somit eine Art Urerfahrung der De- (Beifall bei der AfD) mokratie. Menschen können den Lauf der Geschichte ändern, wenn sie Mut haben, wenn sie zusammenstehen Wir befinden uns damit in Übereinstimmung mit einem und wenn sie Verantwortung übernehmen. Antrag, der am 2. Oktober 2015 vom Deutschen Bundes- tag angenommen worden ist und in dem bereits ein sol- Eins ist mir auch wichtig zu sagen: Nicht die Fatalisten ches zentrales Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an haben damals gesiegt. Es waren die Träumer, die Neu- die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft gefor- gierigen, die Freiheitsliebenden, diejenigen, die Mauern dert wurde. Nur, geschehen ist bisher nichts. Erinnern Sie einreißen wollten, nicht diejenigen, die Mauern aufbauen sich an Ihren eigenen Beschluss, und schreiben Sie jetzt wollten. Das waren die treibenden Kräfte des Herbstes einen offenen Wettbewerb aus. Wir sind es den Opfern 1989. des Kommunismus schuldig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der AfD) Mir hat sich ein Moment im Herbst 1989 sehr tief ein- geprägt, als nämlich in meiner Heimatstadt, in Jena, das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: erste Mal einige Tausend Menschen auf die Straße ge- gangen sind: friedlich, aber sehr entschlossen. Ich sehe Nächster Redner ist der Kollege Christoph Matschie, (B) das immer noch vor mir: das Glänzen in den Augen, die (D) SPD. Menschen, die sich in den Armen liegen, das Glück, die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Mark Angst überwunden zu haben, das Glück, sein Schicksal in Hauptmann [CDU/CSU]) die eigene Hand zu nehmen und dieses Land zu verän- dern, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das war Christoph Matschie (SPD): der große Moment 1989. Sehr viele davon waren nicht Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mei- nur in diesen Tagen auf der Straße, sondern sie haben ne sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst eine kurze danach Verantwortung übernommen: in ihren Gemeinde- Bemerkung zu Ihnen, Herr Jongen, in Bezug auf die SPD: räten, in den Parlamenten, in Unternehmen, in Gewerk- Es war Willy Brandt, der durch die Politik der Annähe- schaften. Sie haben Verantwortung übernommen und die- rung einem friedlichen Wandel in Europa den Weg be- ses Land neu aufgebaut. reitet hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Enrico Komning [AfD]: Wir reden jetzt von In diesem Zusammenhang muss ich eine Bemerkung Deutschland!) zu Ihnen hier auf der ganz rechten Seite machen, Und es war Willy Brandt, der als Erster gesagt hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Das war die (Beatrix von Storch [AfD]: Jetzt bin ich echt Position der SPD zur deutschen Einheit. gespannt, was kommt!) die Sie ja in den letzten Monaten immer wieder behauptet (Beifall bei der SPD – Martin Reichardt [AfD]: haben, Das ist eine Lüge! Ich war damals in eurem Saftladen!) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Genau! Hass und Meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlich wer- Hetze!) den an diesem Tag die großen Bilder heraufbeschworen: die Revolution von 1989 weiterzuführen. Was für eine (Martin Reichardt [AfD]: Ehrlich?) groteske Anmaßung! die jubelnden Menschen auf der Mauer, die Trabis, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durch die Grenzübergänge fahren, und natürlich Emotio- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- nen, Gänsehaut pur. Ich gestehe: Ich mag diese Bilder. NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Bernd Aber für unsere Debatte, 30 Jahre danach, ist es auch Baumann [AfD]: Das sehen die Wähler an- wichtig, die Zeitenwende von 1989/90 als Ganzes zu ver- ders!) 15582 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Christoph Matschie (A) Nicht Sie sind die Erben von 1989. Es sind die demo- Und – damit möchte ich schließen – wir sollten uns (C) kratischen Parteien, die dieses Land danach wieder auf- heute auch klarmachen: Uns verbindet natürlich viel, viel gebaut haben, die in den vielen Parlamenten Verantwor- mehr, als uns trennt. Vielfalt in dieser Gesellschaft, die tung übernommen haben. unterschiedlichen Erfahrungen, die wir mitbringen, das ist eine große Stärke. Wir sollten sie noch besser nutzen; (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- denn eins ist klar: Gemeinsam, mit allen Erfahrungen, die spruch bei der AfD) wir haben, sind wir ein unglaublich starkes Land. Es sind die vielen, die in Gewerkschaften, in Verbänden, in Vereinen und Unternehmen angepackt haben und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Land aufgebaut haben, nicht solche wie Sie, die nur der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- jammern und spalten wollen. SES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Heike Brehmer, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ordneten der CDU/CSU und der FDP – [AfD]: 8 Prozent!) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr geehrten Damen und Herren, beim Blick zurück aus 30 Jahren Distanz werden aber auch die Brü- Heike Brehmer (CDU/CSU): che sichtbar, die Verletzungen, die enttäuschten Träume. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich habe in den 90er-Jahren als junger Abgeordneter wie- Kollegen! Ich bin dankbar für die Friedliche Revolution der auf der Straße gestanden, damals mit Menschen, die des Herbstes 1989 und den Sieg der Ostdeutschen über ihren Job verloren haben. In meiner Heimatstadt sind die Diktatur. Noch heute überkommt mich eine Gänse- 1991 von 27 000 Beschäftigten bei Carl Zeiss 17 000 haut, wenn ich an den 9. November zurückdenke, wohl entlassen worden. Das ist nur ein Beispiel. Millionen wissend, dass ich nicht hier stehen würde ohne den Mut Menschen haben damals genau das erlebt: das Gefühl, von Menschen in der gesamten DDR, ohne die Zivilcou- die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, den rage und den Widerstand, den Bürgerinnen und Bürger Boden unter den Füßen zu verlieren. über Jahrzehnte gegen die Diktatur aufbrachten. Sie alle Ich habe die Verzweiflung gesehen, die Wut, die Trau- haben den Weg dafür geebnet, dass aus einem geteilten rigkeit. Viele haben es heute geschafft; das ist wahr. Sie Land ein Volk wurde und wir morgen das 30-jährige Ju- haben angepackt. Aber die Narben und die Erinnerungen biläum des Mauerfalls feiern können. (B) bleiben. Sie bleiben nicht nur bei denen, die das direkt Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen wäh- (D) erlebt haben. Auch der jüngeren Generation wurde diese rend der Demonstrationen im Herbst 1989 in der DDR. Erfahrung erzählt, und sie hat sich fortgepflanzt und prägt Wie war das eigentlich vor dem 9. November 1989 mit sie auch noch. dem Reisen in der DDR? Urlaubsplätze waren äußerst Natürlich muss man von dem Mut derer reden, die an- begrenzt. Einen FDGB-Ferienplatz zu bekommen, war gepackt und vieles geschafft haben – allen Problemen schon etwas Besonderes. Für DDR-Bürger waren Aus- zum Trotz. Man muss über die Solidarität reden, die wir landsreisen nur ins sozialistische Ausland möglich, aller- erlebt haben. Ohne die finanzielle Unterstützung aus dem dings auch dies nur begrenzt und nicht für jedermann. Westen des Landes wäre der Aufbau so nicht möglich Reiseerleichterungen wurden zwar immer wieder an- gewesen. Auch dafür will ich heute ganz klar Danke sa- gekündigt. Die Praxis jedoch war eine andere. Viele gen. DDR-Bürger litten sehr darunter, dass Eltern und Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schwister in der Bundesrepublik lebten und ihnen nicht bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- einmal Verwandtschaftsbesuche möglich waren. So SES 90/DIE GRÜNEN) konnte ich zum Beispiel 1984 nicht zur Silberhochzeit meines Onkels in die Bundesrepublik reisen, obwohl Es bleiben auch nach 30 Jahren Unterschiede. Da gibt ich verheiratet war, ein kleines Kind hatte und zu meiner es Unterschiede, die schmerzen: unterschiedliche Löhne, Familie zurückgekehrt wäre. Ich durfte nicht mal einen die deutlich geringere Repräsentanz von Ostdeutschen in Antrag stellen. Vorständen, in Spitzenfunktionen, in den Medien. Wir sollten diese Unterschiede ernst nehmen. Das ist eine Umgekehrt – so haben es mir viele Kolleginnen und Frage der Achtung. Kollegen erzählt – war es aber auch für Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik nicht so einfach möglich, Meine Generation hat zwei unterschiedliche gesell- ihre Verwandten in der DDR zu besuchen. Viele erhielten schaftliche Systeme erlebt, und sie hat den Umbruch gar kein Visum zur Einreise in die DDR. hautnah erfahren. Das ist eine Erfahrung, die bleibt. Aber diese unterschiedlichen Erfahrungen müssen ja nichts Meine heutige Redezeit reicht leider nicht aus, um über Schlechtes sein. Der Osten muss nicht genauso sein wie alle Erfahrungen aus der DDR zu berichten und darüber, der Westen. Aber er muss genauso ernst genommen wer- wie wir in unserer Freiheit eingeschränkt waren. den. Der 9. November veränderte alles. Ich selbst saß da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mals vor dem Fernseher und hörte die Worte von Günter LINKEN) Schabowski, der sagte: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15583

Heike Brehmer (A) Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute Mario Mieruch (fraktionslos): (C) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte 9. November ist der Schicksalstag der Deutschen, ein der DDR auszureisen. Tag, der es längst verdient hätte, Gedenk- und Feiertag gleichermaßen zu sein, weil er den Schrecken brennender Persönlich hatte ich immer geglaubt, erst im Rentenalter Synagogen und den Freudentaumel über die Hoffnung in die Bundesrepublik reisen zu dürfen. auf Freiheit wie kein anderer verbindet. Es ist ein Tag, Aufregend und beeindruckend war meine erste Reise der uns erdet und zeigt, warum Erinnerung und Verant- zu unseren Verwandten nach Göttingen über Braunlage wortung untrennbar miteinander verknüpft sind. im Harz, was mich nachhaltig beeindruckt hat, denn der Geschichte wiederholt sich vielleicht nicht; aber Harz war über Jahrzehnte durch die Mauer getrennt und manchmal reimt und gleicht sie sich. Ja, wir leben heute ein besonderes Symbol der deutschen Teilung. in Freiheit, und wir haben sehr viel Gutes erreicht. Aber Die touristische Aufbauarbeit und die Vermarktung in manche Symptome – das sagte kürzlich – Ost und West waren zu Beginn nicht leicht. Doch es gab beginnen sehr wohl, an die Vergangenheit zu erinnern. viele engagierte Ost-West-Brückenbauer, die sich dafür Wenn zwei Drittel der Deutschen meinen, man könne sich einsetzten, die touristischen Angebote auszubauen. Be- zu bestimmten Themen nicht mehr offen äußern, dann ist reits im März 1991 organisierte dann ein gemeinsamer das eben keine Erfindung von Verschwörungstheoreti- Harzer Tourismusverband für die Bundesländer Sach- kern, sondern es ist in dieser Anzahl ein gesamtdeutsches, sen-Anhalt, Niedersachsen und Thüringen den Touris- deutlich geäußertes Bedürfnis nach mehr sachlicher und mus. rationaler Teilhabe am demokratischen Diskurs. Als Tourismuspolitikerin möchte ich noch ein paar Wenn Ideologen Kinder und Jugendliche wieder dazu Worte dazu sagen; denn unser Antrag heißt ja „30 Jahre ermuntern, die Schule zu schwänzen, wenn es Vorsitzen- Mauerfall und Reisefreiheit – Erfolgsgeschichte Touris- de der Grünen gut finden, dass Skeptiker ihrer Klima- mus“. Die Entwicklung des Tourismus in ganz Deutsch- apokalypse in den Medien nicht mehr zu Wort kommen land ist eine Erfolgsgeschichte. Über 3 Millionen Be- sollen, wenn Bewerber um den SED-Vorsitz meinen, der schäftigte arbeiten in der Branche und kümmern sich Sozialismus sei bisher nur falsch angefasst worden, wenn rund um die Uhr um das Wohl der Gäste, nördliche Landeschefs der Union Koalitionen mit den amnesierten SED-Erben klug finden, wenn immer mehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) staatliche Souveränität zentralisiert nach Brüssel verla- gert und langjährigen Verbündeten regelmäßig beim 2- auch am Wochenende und an Feiertagen. Dafür möchte Prozent-Ziel oder, ganz frisch, bei deren Mitwirkung (B) ich ihnen recht herzlich danken. Sie arbeiten hart dafür, (D) am Mauerfall vor den Kopf gestoßen wird, dann zeigt dass für 30 Prozent der Bundesbürger Deutschland das sich, wie sträflich es ist, dass Geschichte in der Schule beliebteste Reiseziel ist. Die Tourismusbranche in unse- nicht mehr Pflichtfach ist und dass auch die zweite deut- rem Land zeichnet sich durch exzellente Qualität, Service sche Diktatur auf unserem Boden offensichtlich noch und Gastfreundschaft aus. nicht richtig aufgearbeitet wurde. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist gleichermaßen falsch, bei der berechtigten Kritik Auch die Zahl ausländischer Gäste wächst kontinuier- an diesen Dingen als Mittel zum Zweck die Landolf La- lich. Berlin gehört mit fast 33 Millionen Übernachtungen digs und ihre Freunde zu akzeptieren und den Osten als im Jahr 2018 zu den beliebtesten Städten Europas, direkt permanentes Opfer zu stilisieren; denn nach 1989 hatte hinter Paris und London. Ein großes Dankeschön gehört jeder – auch im Osten – die Möglichkeit, Freiheit zu nut- daher der DZT, welche für unseren Tourismus im Aus- zen, sich selbst zu entfalten und Optionen in Anspruch zu land wirbt. nehmen. Es war in allererster Linie eine Frage der persön- lichen Veränderungsbereitschaft. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als Ergebnis all dieser Zustände wirft man sich heute Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich persön- von links nach rechts und von rechts nach links Unver- lich freue mich über die Reisefreiheit, die nicht immer für mögen und Boshaftigkeit vor, geißelt – durchaus zu alle von uns selbstverständlich war. Wir alle können stolz Recht – geschichtsklitternde Sprache und sieht dabei, sein auf die Entwicklung des Tourismus in Deutschland. dass die Aktivisten von heute sich vielleicht gar nicht Reisen bildet, bringt neue Erfahrungen und trägt zur Ver- so sehr von den Aktivisten der ersten Stunde von damals ständigung zwischen den Menschen bei. Wir als CDU/ unterscheiden. CSU-Bundestagsfraktion setzen uns dafür ein, dass diese Erfolgsgeschichte fortgeführt werden kann. 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es in ganz Europa kein anderes Thema mehr als den wankenden Wirt- Herzlichen Dank. schaftsriesen Deutschland. Der Arbeitsplatzabbau in un- serem Land ist nicht abstrakt; er läuft – schonungslos in (Beifall bei der CDU/CSU) seinen Auswirkungen auf Familien in Gesamtdeutsch- land, auf den Mittelstand, auf Kommunen, auf Gemein- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: den. Ideologische Energie- und Verkehrsprojekte mit Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario absolutem Anspruch zerstören gerade 100 000 Arbeits- Mieruch. plätze und machen uns ressourcenseitig ausgerechnet ab- 15584 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Mario Mieruch (A) hängig vom neuen fernöstlichen Sozialismus mit Social gung mitzugestalten, oder auch Herr Gorbatschow; keine (C) Scoring. Frage. Deswegen sind wir dankbar für die internationale Hilfe, die uns hier widerfahren ist. Immer radikalere Forderungen treiben die Polarisie- rung unserer Gesellschaft voran, weil man nicht mehr Aber wir sagen auch: Wir müssen derjenigen geden- zuhören, sondern nur noch erziehen will, weil viele nur ken, die hier nicht dieses Glück hatten, von dieser Freiheit noch Vater des Erfolges sein wollen, aber nicht mehr ver- und dieser Hoffnung zu profitieren. Es war noch im Jahr antwortlich. Überall beginnt der Staat, wieder einzugrei- 1989 Chris Gueffroy, der in der Nacht vom 5. Februar fen, meint er, alles regeln zu können und zu müssen. In infolge des Schießbefehls erschossen wurde. Es waren feinen Scheiben wird die Freiheit weggehobelt und durch die vielen, die eingesperrt wurden, Unternehmer, die ent- Verbote und Vorgaben „gemietdeckelt“. Diese Entwick- eignet wurden, Mütter, Familien, denen Kinder für lungen waren ganz sicher nicht das Ziel der Männer und Zwangsadoptionen weggenommen wurden, aber eben Frauen, die vor 30 Jahren die Mauer zu Fall brachten. auch viele, die einfach nur wie Roland Jahn, der Bundes- beauftragte für die Stasiunterlagen, von einer Party nach Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hause gefahren sind und sich dann im Gefängnis wieder- Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Ihre Rede- gefunden haben. Sie zeugen von dieser Unfreiheit, die wir zeit abgelaufen ist. damals erlebt haben. Deswegen müssen wir auch dieser Menschen gedenken. Mario Mieruch (fraktionslos): Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gehöre Danke. Letzter Satz. – Auch wenn wir heute keine einer Generation an, die sich nur wenig persönlich erin- Mauern mehr haben: Es gibt wieder tiefe Gräben und nern kann, was die Umstände dieser Nacht des 9. Novem- demnächst auch einen vor dem Bundestag. Ich finde das ber 1989 angeht. Ich war damals fünf Jahre alt. Nur die sehr, sehr schade. Stunde und die Gnade der späten Geburt haben das Pio- niertuch bei mir verhindert und mir ermöglicht, in dem Vielen Dank. ersten gesamtdeutschen Jahrgang 1990 eingeschult zu werden. Auch diese Generation müssen wir heute in Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: den Blick nehmen, eine Generation, die mit vielen Ent- Mark Hauptmann, CDU/CSU, ist der voraussichtlich wicklungen, die wir heute beschreiben, positive Hoffnun- letzte Redner in dieser Debatte. gen und die Vollendung dessen verbindet, was wir den Menschen an Hoffnung gegeben haben. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Es gibt heute eben keine Unterschiede mehr zwischen (D) Mark Hauptmann (CDU/CSU): der jungen Generation Ost und West. Beide haben die Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen Möglichkeit, freie Schul- und Berufswahl, Auslandsau- und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! fenthalte, Reisefreiheit und auch die grenzenlose Freiheit Die Debatte heute, einen Tag vor einem historischen Ju- und ihren Wohlstand zu genießen. Deswegen können wir biläum – 30 Jahre Mauerfall –, zeigt, dass auch 30 Jahre aufhören, hier verschiedene Begriffe zu benutzen. Linda danach noch die Deutungshoheit darüber umkämpft ist, Teuteberg hat etwas zum Begriff der Wende gesagt. Die- wem eigentlich dankzusagen ist und wie die Geschichte sen Begriff sollten wir völlig zu Recht niederlegen. Wir ihren Verlauf nahm. Deswegen ist es am Ende der Debatte sprechen von einer friedlichen Revolution; denn genau wichtig, gerade in der Polarisierung rechts und links, ei- das war es. niges geradezurücken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Erstens. Wir gedenken und danken denjenigen, die mit der FDP) der Kerze in der Hand, mit dem Gebet in der Kirche, friedlich auf den Straßen in der DDR gegen einen Staat Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen demonstriert haben, der seine eigenen Menschen einge- auch aufhören, von den neuen Ländern zu sprechen; denn sperrt hat, der sie willkürlich verhaftet hat, der Meinungs- „neue Länder“, das klingt wie „nicht so ganz dazugehö- und Versammlungsfreiheit gar nicht kannte und der alle rig“, das klingt wie „Da gibt es die alten Länder, die eine Staatsgewalt in die Hände einer Partei geschrieben hat. große Leistung für dieses Land erbracht haben, und die Herr Gysi, Sie müssen sich bis heute anhören: So einen neuen Länder, die irgendwie dazugekommen sind“. Hier Staat nennen wir einen Unrechtsstaat. sprach gerade ein Ministerpräsident, der die Tradition eines selbstbewussten Freistaats mit einer jahrhunderte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- alten Geschichte vertritt. ordneten der SPD, der AfD und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweitens. Die Demonstranten in der DDR waren nicht allein, sondern sie hatten Unterstützung und Hilfe, einer- Auch ich als Thüringer, der aus einem Freistaat kommt, seits in der Regierung von Helmut Kohl, der die Stunde wo Goethe und Schiller gewirkt haben und wo die Bibel der Zeit, das Zeitfenster der Geschichte erkannte, aber von Martin Luther vor mehr als 500 Jahren übersetzt auch unserer Bündnispartner und unserer internationalen wurde, kann Ihnen sagen: Das sind nicht die neuen Län- Freunde, ob das Ronald Reagan war, der wenige Meter der; das ist ein alter Teil der deutschen Geschichte, und von hier davon sprach, die Mauer einzureißen, George genau so sollten wir ihn auch behandeln, meine sehr ge- Bush senior, der dabei tatkräftig half, die Wiedervereini- ehrten Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15585

Mark Hauptmann (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Michael Theurer (FDP): (C) ordneten der SPD und der FDP) Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Ich komme zum Schluss. – Dieser Tag steht für uns nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her- symbolisch für den Ruf nach Freiheit. Barack Obama hat ren! Wie stellen wir uns Deutschland im Jahr 2050 vor? nur wenige Meter von hier gesagt: Ich sage: Wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen, dann werden wir im Jahr 2050 das Land sein, das die Völker der Welt – schaut auf Berlin, wo eine Mauer Digitalisierung mit der industriellen Wertschöpfung ver- fiel, ein Kontinent sich vereinigte und der Lauf der knüpft hat. Wir werden das Land sein, das die Grundwerte Geschichte bewies, dass keine Herausforderung zu der pluralistischen, der liberalen Demokratie westlicher groß ist für eine Welt, die zusammensteht. Prägung in die digitale Welt übertragen hat und dort Pri- vatsphäre, Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit schützt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, er meinte: Diese Stadt kennt den Traum von Freiheit. – Aber wir (Beifall bei der FDP) als Demokraten in der Mitte dieses Hauses wissen, dass Freiheit nicht nur ein Traum ist; „Freiheit“ heißt auch Durch die weltbeste Bildung leben wir in einer Gesell- „Verantwortung“. Konrad Adenauer sprach bei der schaft glücklicher, interessierter, neugieriger und produk- Gründung unseres Staats: „Wir wählen die Freiheit!“ Lie- tiver Menschen. Als Entwicklungszentrum der Welt leis- be Demokraten in der Mitte dieses Hauses: Lassen Sie ten wir einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt der uns diese Freiheit auch jeden Tag verteidigen! Menschheit durch smarte Produkte, intelligente Maschi- nen und neue Technologien. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, wir werden das Land sein, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in dem das Klimaproblem durch die konsequente Anwen- dung von Digitalisierung und technischem Fortschritt ge- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: löst wurde – nicht nur Fridays for Future, sondern Freiheit Damit schließe ich die Aussprache. for Future und Future by Technology. Wir brauchen Zu- kunft durch Technologie, meine Damen und Herren, und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie den Zusatz- keine Ideologie. punkt 10 auf: (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ 27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael CSU: Das ist wahr!) Theurer, Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Doch um alle diese Ziele zu erreichen, brauchen wir (B) wirtschaftliches Wachstum. Wirtschaftliches Wachstum (D) Tempo für Deutschland ist die notwendige Grundvoraussetzung, um diese Ziele Drucksache 19/14781 zu erreichen.

Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Finanzausschuss Ohne Wettbewerbsfähigkeit dieses Standorts wird hier nicht investiert, und ohne Investitionen gibt es keine In- ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten novationen. Katharina Dröge, Dieter Janecek, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten sind NIS 90/DIE GRÜNEN in großer Sorge, was die Wirtschaft in Deutschland an- Wirtschaft zukunftsfähig aufstellen geht. Nachdem die Bundesregierung jahrelang täglich die Belastbarkeit der deutschen Wirtschaft durch immer neue Drucksache 19/14825 gesetzliche und bürokratische Auflagen getestet hat, ist jetzt die Belastungsgrenze überschritten. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (Beifall bei der FDP) Wenn Sie bitte, soweit Sie an dieser Debatte nicht teil- nehmen wollen, den Plenarsaal zügig verlassen und den Wir stehen an der Schwelle zur Rezession. Die Wachs- Kollegen, die danach drängen, an dieser Debatte teilzu- tumserwartungen haben sich eingetrübt; es sind die zweit- nehmen, schwächsten in ganz Europa, knapp vor Italien. (Dr. [FDP]: Jawohl, die gibt es!) Meine Damen und Herren, es geht jetzt darum, die Lebenschancen für die Menschen in Deutschland zurück- Platz machen. zugewinnen. Deshalb fordern wir Freie Demokraten mehr Tempo für Reformen, mehr Tempo für die Entlas- Interfraktionell haben wir für die Debatte 60 Minuten tung der Menschen. Wir schlagen vor, die Eigenkapital- vereinbart. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so basis unserer Unternehmen zu stärken, damit sie wieder beschlossen. investieren können für Wachstum und Sicherung der Ar- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem beitsplätze. Kollegen Michael Theurer, FDP. (Beifall bei der FDP – Enrico Komning [AfD]: (Beifall bei der FDP) Das ist gut!) 15586 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Michael Theurer (A) Liebe Freunde, meine Damen und Herren, sehr geehrte Handelsstreits zwischen den USA und China und am (C) Bürgerinnen und Bürger, nur wenn es uns gelingt, die schwachen Welthandel – alles Faktoren, die Deutschland Steuerentlastung durchzusetzen, übrigens nur mittelbar beeinflussen kann. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aha! Erzähl Diese Faktoren beeinflussen auch den Wachstumsbei- mal!) trag des Außenhandels. Wir haben an dieser Stelle schon häufiger über die deutschen Außenhandelsüberschüsse die Bürokratieentlastung als Investition in die Moderni- gesprochen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, sierung unseres Landes und der Verwaltung zu begreifen, wir sehen doch gerade, dass wir mehr Angst davor haben werden wir die Zukunft gewinnen. Wir schlagen einen sollten, keine Überschüsse mehr zu haben, als Angst da- Zukunftsfonds vor für Wachstum und Beschäftigung vor, Überschüsse zu haben. Überschüsse sind immer auch nach dänischem Vorbild durch die Privatisierung der An- ein Zeichen von Wettbewerbsfähigkeit, und diese muss teile von Post und Telekom. Wir wollen Existenzgründern natürlich in den Vordergrund gestellt werden. und Start-ups das Leben und eine Wachstumsphase er- möglichen. Und wir wollen, dass die Macher endlich ma- Gleichzeitig ist aber laut Sachverständigenrat nicht von chen können. Wir wollen Freiräume einführen, Freiheits- einer breiten oder tiefgehenden Rezession auszugehen. zonen gestalten, nicht nur in den neuen Bundesländern, Nach Jahren der Überauslastung kommen wir jetzt in sondern auch in den alten. einen Bereich der Normalauslastung der deutschen Wirt- schaft und der deutschen Industrie. In der Industrie zeigt (Beifall bei der FDP) sich übrigens momentan wieder ein erster Hoffnungs- Solange wir nicht wieder auf dem Wachstumspfad von schimmer: Die Zahl der Pessimisten nimmt laut ifo ab, 2 Prozent jährlich sind, darf es keine neuen Abgaben, und die Zahl der Auftragseingänge nimmt wieder zu. keine neuen Steuern, keine Umverteilungen und keine „50 Prozent der Wirtschaft ist Psychologie“; das sagte Eingriffe in die unternehmerische Freiheit mehr geben. schon Ludwig Erhard. Es ist verantwortungslos, einen Wir brauchen Freiräume für die Menschen, Tempo für Abschwung herbeizureden, meine sehr geehrten Damen Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand, mehr Tempo für und Herren. Deutschland, damit unser Land im Jahre 2050 so aussieht, wie wir es uns wünschen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich befinden wir uns in einer Zeit, in der Wirt- (Beifall bei der FDP) schaftspolitik wichtiger wird. Deshalb ist es wichtig, dass Dafür kämpfen wir. Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeit- der Staat kräftig investiert. Die Investitionen des Bundes punkt, die Trendwenden in Deutschland einzuleiten. sind mit 40 Milliarden Euro auf Rekordniveau. Wir inves- (B) tieren in Infrastruktur, wir investieren in Bildung und (D) Vielen Dank. Forschung – wir investieren also in Zukunft. (Beifall bei der FDP) (Abg. Dr. Christoph Hoffmann [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: CDU/CSU. Herr Kollege Lenz, der Kollege Hoffmann würde (Beifall bei der CDU/CSU) Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Ja, bitte. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Tempo für Deutschland“ heißt der Antrag der FDP. Die letzten Jahre Dr. Christoph Hoffmann (FDP): wuchs die deutsche Wirtschaft kontinuierlich. Wir befin- Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – den uns immer noch in der längsten Aufschwungsphase Ihre Worte, dass alles gut sei, klingen wie Hohn in den der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wir haben also Ohren der Menschen, die sich Sorgen machen, zum Bei- Tempo gemacht, und vor allem die deutsche Wirtschaft spiel im Mittelstand in Baden-Württemberg, in der gan- hat die letzten Jahre Tempo gemacht. Das waren übrigens zen Zuliefererindustrie, die eigentlich jeden Tag um ihren Jahre, in denen Sie von der FDP nicht oder größtenteils Arbeitsplatz bangen. Sie haben gesagt, Sie hätten alles nicht an der Regierung beteiligt waren. richtig gemacht und alle Weichen in der Wirtschaft richtig gestellt. Meine Frage an Sie ist: Glauben Sie nicht, dass (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Leider!) wir ein Entwicklungsland sind in Sachen Breitband und Das ist eben der Unterschied: Sie sprechen über Freiheits- dass da die Weichen schon vor langer Zeit von Ihrer Partei zonen, und wir liefern. grundsätzlich falsch und einfach nicht schnell genug ge- stellt worden sind? (Michael Theurer [FDP]: Wann?) Aber in der Tat: Die konjunkturelle Entwicklung hat Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): sich etwas eingetrübt. Das liegt allerdings in erster Linie Vielen Dank für die Frage. – Natürlich ist es so, dass an externen Schocks. Das liegt an der Unsicherheit hin- wir im Moment eine konjunkturelle Eintrübung haben, sichtlich des Brexits, an der Unsicherheit hinsichtlich des dass wir gerade im Bereich der Automobilindustrie mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15587

Dr. Andreas Lenz (A) strukturellen Problemen zu kämpfen haben. Es ist aber (Enrico Komning [AfD]: Am Ende der Legis- (C) auch so – weil Sie jetzt die Frage der Investitionen an- latur, oder was?) sprechen –, dass wir gerade beim Breitbandausbau auf Rekordniveau investieren, dass wir gerade die Zukunfts- Wir müssen uns für eine um uns herum ändernde Welt themen kräftig adressieren und dass es im Moment nicht allerdings auch rüsten und die Wettbewerbsfähigkeit der am Geld scheitert, sondern an den Baufirmen und den deutschen Wirtschaft weiter stärken. Genau das werden Kommunen, die die Gelder gar nicht abrufen können. wir machen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk- Insofern kümmern wir uns um die Zukunftsthemen samkeit. Breitbandausbau und Infrastruktur, aber auch um Bildung und Forschung und adressieren eben gerade diese Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) kunftsthemen mit kräftigen Impulsen und mit Investitio- nen, die sich auch im Bundeshaushalt entsprechend wie- Vizepräsident : derfinden. Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Dr. Andreas Lenz für die Fraktion der CDU/ CSU. Gerade gestern haben wir beispielsweise die steuerliche Forschungsförderung beschlossen – ein weiterer wichti- (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Der hat ge- ger Impuls. Jetzt ist es so, dass die beschlossenen Maß- rade gesprochen! – Weitere Zurufe von der nahmen einen Wachstumsimpuls in Höhe von 0,6 Prozent CDU/CSU: Der war gerade! – Tino Chrupalla in diesem Jahr und in Höhe von 0,5 Prozent im nächsten [AfD]: Noch mal nicht!) Jahr bewirken. Hinzu kommt ein Impuls durch die Teil- – Das war er gerade. Entschuldigung, ich bin noch nicht abschaffung des Solis. Natürlich wollten wir mehr; aber angekommen; aber jetzt bin ich da. dieser Impuls wird sich 2021 auch entsprechend auf die konjunkturelle Entwicklung auswirken. (Heiterkeit)

Wir investieren auf Rekordniveau trotz ausgegliche- Dr. Enrico Komning für die Fraktion der AfD. nem Haushalt. Wenn ich die aktuelle Diskussion hier ver- (Beifall bei der AfD – Tino Chrupalla [AfD]: folge, dann stelle ich fest, dass die Kritiker eines ausge- Doktor!) glichenen Haushalts in Wirklichkeit nicht investieren, sondern konsumieren wollen. Das ist eine Politik, die zu- – Sie sind auch gleich noch befördert worden. (B) lasten der künftigen Generationen geht, und das ist mit (D) uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und (Heiterkeit des Abg. Michael Theurer [FDP] – Herren. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Viel- leicht wäre es besser gewesen, Herr Lenz hätte Schauen wir auf das Klimapaket. Wir schützen damit seine Rede noch mal gehalten!) das Klima und stützen gleichzeitig die Wirtschaft. Wir setzen beispielsweise durch das Brennwertkessel-Pro- Enrico Komning (AfD): gramm und durch die Förderung neuer Heizungsanlagen Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für die Pro- in Höhe von 40 Prozent richtige Impulse für die Wirt- motion, die Sie mir gerade erteilt haben. Ich bin bemüht, schaft und für das Klima. Durch die steuerliche Förde- das in den nächsten Jahren vielleicht doch noch zu be- rung der Gebäudesanierung fördern wir ebenso private werkstelligen. Investitionen und schützen gleichzeitig das Klima. Das ist kluge Politik, die auf Anreize und nicht auf Verbote Meine Damen und Herren, Deutschland bekommt ge- setzt. genwärtig die über ein Jahrzehnt andauernde wirtschafts- politische Tatenlosigkeit der Regierung Merkel zu Mit der Gründung der KfW Capital, der KfW-Tochter spüren, und ich fürchte, das ist erst der Anfang. Das pro- für Wagnisfinanzierungen, haben wir ein wichtiges Zei- duzierende Gewerbe ist schon in der Rezession; der chen für den Bereich der Risikofinanzierungen gesetzt. Dienstleistungssektor wird folgen. Und, meine Damen Wir wollen in den nächsten zehn Jahren 2 Milliarden Euro und Herren, Herr Lenz, wir reden hier nicht über eine in Wagnisfinanzierungen stecken. In diesem Bereich, Konjunkturdelle, sondern über strukturelle Defizite, die dem Bereich der Start-ups, müssen wir aber noch mehr uns diese Regierung eingehandelt hat. Anstrengungen unternehmen, damit wir gerade auch auf internationaler Ebene auf Augenhöhe mitspielen. Die (Beifall bei der AfD) Gründungen von heute sichern auch den Wohlstand von Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes morgen. Wir sehen anhand der aktuellen Entwicklung, Deutschland wird zu massivem Wohlstandsverlust füh- dass die Zeiten guter Konjunktur natürlich nicht gottge- ren, die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit beschleu- geben sind. Wir müssen wachstums- und wirtschaftsf- nigen und unsere aufgeblähten Sozialsysteme ein für alle reundliche Politik deshalb künftig noch mehr in den Vor- Mal unbezahlbar machen. Die Konzeptionslosigkeit und dergrund stellen und beispielsweise auch über eine Zögerlichkeit der Regierung bei der Digitalisierung steht Unternehmensteuerreform diskutieren. Das machen wir. als Beispiel dafür, wie Wirtschaftspolitik nicht geht. Wir legen Konzepte vor und werden diese auch entspre- chend umsetzen. (Beifall bei der AfD) 15588 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Enrico Komning (A) Wir lassen große Bereiche völlig brachliegen, nämlich die Deshalb, liebe FDP: Holen wir die Währungshüter zu uns (C) ländlichen Räume. Hier, wo ein überdurchschnittlich ho- nach Hause zurück, und beenden wir das Euro-Experi- her Anteil von Empfängern von staatlichen Sozialleistun- ment! gen lebt, gibt es ungeheure Potenziale. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Stefan (Johann Saathoff [SPD]: Erneuerbare Energien Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da klatschen zum Beispiel!) ja nicht mal alle Ihre Kollegen!) Aber was macht die Regierung? Sie verpulvert den Auf eines im Antrag der Grünen muss ich noch ein- Wohlstand des Landes in „Refugees welcome“ und Kli- gehen. Sie schreiben, dass die Automobilindustrie sich mareligion - neu erfinden müsse, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. (Beifall bei der AfD) (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Geld, das für Investitionen fehlt. Gerade in den ländlichen NEN]: So ist das!) Räumen sind massive Investitionen in klassische wie Welche Ironie, sind Sie es doch, die durch Ihr Anhängsel auch in digitale Infrastrukturen dringend notwendig, um CDU die Automobilindustrie systematisch an die Wand Wirtschaftswachstum auf breitere und nachhaltigere Füße fahren und ihr so jeden Raum für Innovationsforschung zu stellen. und Investitionen nehmen!

(Johann Saathoff [SPD]:Windenergie, Solar- Meine Damen und Herren, der CO2-schwangere Grü- energie, Biogas, Speichertechnik!) nenantrag zeigt eines ganz deutlich: Wir brauchen in Aber auch Sie, liebe Kollegen von der FDP, müssen Deutschland eine neue Säkularisierung. Wir müssen den sich fragen lassen, wie stark Ihr Engagement für mehr Staat und die Klimareligion endlich voneinander trennen, Tempo für die deutsche Wirtschaft wirklich ist. Sie for- sonst endet Deutschland wie allseits bekannte totalitäre dern in Ihrem Antrag eine substanzielle steuerliche Ent- Republiken, in denen Unterdrückung und Staatsterror Ta- lastung. Wir haben verschiedene Anträge hierzu zur Ab- gesgeschäft sind; stimmung gestellt. Als Beispiel nenne ich nur die (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steuerliche Besserstellung der ländlichen Räume – abge- NEN]: Wo waren Sie denn in der DDR, Herr lehnt; Abschaffung der Grundsteuer zugunsten einer Ein- Komning? -Zurufe von der SPD) kommensteuerbeteiligung der Kommunen – abgelehnt. denn das ist das größte Hemmnis für eine wachsende Wirtschaft. (B) Davon abgesehen, enthält Ihr Antrag natürlich vieles (D) Richtiges und Unterstützenswertes. Ein besseres Investi- Insoweit freue ich mich auf konstruktive Beratungen tionsklima für Start-ups durch Bereitstellung von mehr im Ausschuss zum FDP-Antrag. Beim Antrag der Grünen Wagniskapital ist gut. Innovative Geschäftsideen müssen fehlt mir leider jegliche Fantasie dazu. in Deutschland mehr Unterstützung erfahren, wenn wir ein Hochtechnologieland bleiben wollen. (Dr. [DIE LINKE]: Ja, das glaube ich!) Wir brauchen daher erheblich mehr Investitionen in Forschung und Technologie, aber bitte ideologiefrei und Vielen Dank. technologieoffen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Vizepräsident Thomas Oppermann: Die Konzentration auf grüne Technologien ist eine Sack- gasse. Gerade im Energiebereich wird der Ausstieg aus Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der Kernkraft Deutschland noch teuer zu stehen kommen. der SPD der Kollege Bernd Westphal. (Beifall bei der SPD) (Johann Saathoff [SPD]: Eben nicht!) Darüber hinaus wird der Ausstieg aus der Erforschung Bernd Westphal (SPD): und Entwicklung neuer Reaktorenkonzepte Deutschland Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten von einer sauberen, emissionsfreien, sicheren und bezahl- Damen und Herren! Die Megathemen des 21. Jahrhun- baren Energieerzeugung abschneiden und damit hinter derts liegen auf der Hand: Es sind der Klimaschutz, die alle Länder zurückwerfen. Globalisierung, aber auch Digitalisierung und sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft. Mit einer nachhalti- Irritiert hat mich aber doch, dass Sie vor drohenden gen Wirtschaftspolitik stellen wir die richtigen Weichen. Negativzinsen warnen, daraus in Ihrem Antrag aber keine Schlussfolgerungen ziehen. Solange eine Europäische In den vorliegenden Anträgen wird eine Reihe von Zentralbank über die Währungspolitik zulasten Deutsch- Themen angesprochen – teilweise konstruktiv als Grund- lands die Entschuldung der südeuropäischen Länder be- lage für eine Debatte, teilweise werden Themen ange- treibt, bedeutet das einen nachhaltigen Schaden für un- sprochen, die wir in der Regierung schon erledigt haben sere Zukunftsfähigkeit. oder die in Arbeit sind. Aber es sind teilweise auch wirk- lich alte Kamellen. Es tut mir leid: Da fehlt mir jede (Beifall bei der AfD) Fantasie, überhaupt darüber zu diskutieren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15589

Bernd Westphal (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem verpflichtet, bis Ende 2022 mindestens 98 Prozent (C) Die jüngste Konjunkturprognose der Wirtschaftswei- der Haushalte mit 100 Mbit pro Sekunde – also schnellem sen hat gezeigt: 0,5 Prozent Wachstum für dieses Jahr, Internet – zu versorgen. Auch der Ausbau der Glasfaser- 0,9 Prozent für das nächste Jahr. Ja, das ist eine konjunk- netze bis 2025 ermöglicht, die digitale Infrastruktur auf- turelle Abkühlung, aber bei Weitem keine Rezession. Es zubauen. tut mir leid: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage Wir haben darüber hinaus im Qualifizierungschancen- für diese Debatten, die von der Opposition geführt wer- gesetz Möglichkeiten für vom Strukturwandel betroffene den. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen, sich auf die neuen Beschäftigungsbereiche vorzubereiten. (Michael Theurer [FDP]: Doch! Der Sach- Hier haben wir mit unserem wirklich sehr aktiven Ar- verständigenrat, Herr Kollege!) beitsminister – auch was das Transfor- Es macht die Arbeit der Opposition natürlich schwer – mations-Kurzarbeitergeld angeht – einen Rechtsanspruch das gebe ich zu –, dass es hier keine Anknüpfungspunkte auf Förderung einer zweiten Berufsausbildung geschaf- gibt. fen, damit sich Beschäftigte auf die neuen Arbeitsplätze vorbereiten können. Regierungsseitig haben wir zudem mit Investitionen des Bundes wichtige Schritte getan. Sie sind auf Rekord- Wir haben am Mittwoch im Ausschuss mit dem Vor- höhe, wie man sieht. In der Finanzplanung für die Jahre sitzenden der Monopolkommission und dem Präsidenten 2020 bis 2023 sind über 158 Milliarden Euro vorgesehen – des Bundeskartellamtes über das Gesetz gegen Wettbe- 38 Milliarden bzw. 30 Prozent mehr als in der letzten werbsbeschränkungen diskutiert. Deshalb wundern mich Legislaturperiode –, und das zeigt die gute Grundlage diese Ausführungen in den Anträgen, weil hier klar er- für die Modernisierung unseres Staates. Wir haben 5 Mil- kennbar ist, dass wir mit einem Wettbewerbsrecht 4.0 ge- liarden Euro für den Digitalpakt der Schulen vorgesehen nau auf diese Plattformökonomie, auf die Monopole, was und 5,5 Milliarden für den sozialen Wohnungsbau. Für Daten angeht, reagieren und dort neue Bereiche absichern den öffentlichen Personennahverkehr sind 1,7 Milliar- und auch für Vielfalt auf dem Markt sorgen werden. den Euro vorgesehen. Sie sehen, es sind bereits Konjunk- turprogramme, die die Wirtschaft unterstützen sollen, (Beifall bei der SPD) unterwegs. Für den Strukturwandel in den Braunkohler- Auch was Venture Capital angeht, haben wir über die evieren sind 14 Milliarden Euro vorgesehen. Wir werden KfW bereits heute Möglichkeiten der Risikofinanzierung ihn gemeinsam mit den Kommunen, mit den Betriebsrä- und Verbesserung des Kapitalmarktzugangs geschaffen. ten, Gewerkschaften und Verantwortlichen vor Ort ge- Auch dies stellt eine Möglichkeit für junge innovative (B) stalten. Was das Investitionsprogramm angeht, besteht Unternehmen dar, sich zu finanzieren. (D) nicht die Notwendigkeit, zusätzliche Mittel aufzubringen, und schon gar nicht, von einem ausgeglichenen Haushalt Wir haben zur Verringerung der CO2-Emissionen ein abzugehen. Nationales Dekarbonisierungsprogramm auf den Weg ge- bracht. Hier geht es darum, mit Forschung und Entwick- Auch der Klimaschutz ist ein Innovations- und Investi- lung und auch mit dem Kompetenzzentrum Klimaschutz tionsprogramm für die deutsche Wirtschaft, und dies mit in der Lausitz viele Dinge auf den Weg zu bringen, um einer gesunden Mischung aus Innovation und Investition unsere Industrie in den Stand zu versetzen, mit einer in Infrastruktur. Ich wundere mich, dass die Anträge von Wasserstoffstrategie ihre Prozesse zu defossilisieren. der FDP und den Grünen, die hier vorliegen, das über- Wir haben hiermit die Chance, dass wir der Stahlindust- haupt nicht aufgreifen und honorieren. Zugleich wird in rie, der Chemieindustrie und anderen Bereichen hier am den Anträgen davon ausgegangen, dass die Steuern auto- Standort eine Perspektive der klimaneutralen Produktion matisch sprudeln. Nein, zu einer funktionierenden Wirt- ermöglichen. schaftspolitik gehört auch, dass wir zum Beispiel mit einem deutsch-französischen Vorschlag für eine gemein- (Beifall bei der SPD) same Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer 1979 – vor 40 Jahren – hat Willy Brandt mit Olof in der EU sorgen oder dafür, zwecks Bekämpfung von Palme im Nord-Süd-Dialog beschrieben, welche Verant- Umsatzsteuerbetrug auf elektronischen Marktplätzen ei- wortung Industrieländer haben. In diesem Geist müssen ne stärkere Haftung der Betreiber einzuführen. Auch die auch wir heute Vorreiter auf dem Gebiet der neuen Tech- Anstöße zur globalen Mindestbesteuerung auf G-20-Ebe- nologien sein. Wir müssen hier Dinge entwickeln, die ne in den OECD-Ländern gehören zu unserer erfolgrei- dann Nachahmer in anderen Länder finden, die uns in chen Wirtschaftspolitik. eine klimaneutrale Produktion folgen. Hierzu müssen (Beifall bei der SPD) Wertschöpfungsketten errichtet werden, zum Beispiel im Bereich der Wasserstofftechnologie, wo unser Ma- Im Bereich der Digitalisierung haben wir die Strategie schinenbau Anlagen liefern kann, die Perspektiven für der Bundesregierung für die künstliche Intelligenz. 3 Mil- die Zukunft bieten. liarden sind für Transfer- und Spitzenforschung und zu- sätzliche Stellen an den Universitäten für Professoren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vorgesehen. National für uns heißt das Investition in gute Bildung, Mit der Versteigerung der 5G-Lizenzen verpflichten Infrastruktur und ein investitionsfreundliches Umfeld. wir die Netzbetreiber, bis 2022 mindestens 4 000 neue Wir wollen Vollbeschäftigung mit Mitbestimmung und 5G-Masten aufzustellen. Wir haben die Betreiber außer- Tarifverträgen. 15590 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Bernd Westphal (A) (Beifall des Abg. Johann Saathoff [SPD]) sozialökologischen Umbau investieren. Man müsste in (C) Bildung und Forschung investieren. Die wirtschaftspolitische Strategie ist an unseren Wer- ten ausgerichtet und setzt auf Offenheit, nicht auf ( [FDP]: Das passiert nur Abschottung. Es geht um die Demokratisierung von Glo- leider nicht!) balisierung und Digitalisierung. Den notwendigen Trans- formationsprozess sozial zu gestalten, Strukturwandel Die Schulen und Universitäten sind in einem schlechten nachhaltig zu begleiten, das setzt auf gesellschaftliche Zustand. Die Infrastruktur verfällt. Teilhabe und Zusammenarbeit. Wir arbeiten für das Wohl (Katharina Willkomm [FDP]: Richtig!) der Gemeinschaft. Wir müssen in neue Technologien investieren. Das alles Herzlichen Dank und Glück auf! macht diese Bundesregierung viel zu wenig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Michael Donth [CDU/CSU]: Das Geld wird der CDU/CSU) doch gar nicht abgerufen!) Hören Sie doch endlich einmal auf den Sachverständi- Vizepräsident Thomas Oppermann: genrat! Deutschland muss endlich loslegen und nicht Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege weiter auf der Bremse stehen. Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Herr Westphal, zu Ihrer Aussage, es gebe für die Op- position keinen Grund, das Thema hier anzusprechen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! muss ich Ihnen schon sagen: Der Sachverständigenrat „Tempo für Deutschland“ – welch ein Titel! Die nächste sagt ganz deutlich: Die Aufschwungphase ist vorbei. In Grippewelle wird sicherlich „Tempo“ benötigen, aber der Industrie sind wir schon längst in einer Rezession. – diesen Antrag der Fraktion der FDP braucht hier im Bun- Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; Sie sind, glaube ich, destag niemand. wie ich Gewerkschaftler. Es dürfte Ihnen nicht ganz (Beifall bei der LINKEN) fremd sein, in welcher Not viele Beschäftigte in der Auto- mobilindustrie, der Zulieferindustrie, der chemischen In- Es sind die alten Gassenhauer, die hier zum wieder- dustrie, im Braunkohlebereich sind. holten Male eingebracht werden: Steuersenkungen für Unternehmen, Steuersenkungen für Wohlhabende und (Katharina Willkomm [FDP]: Absolut! Rich- (B) Reiche, Flexibilisierung des Arbeitsrechts – was dann ja tig!) (D) auch weniger Schutzrechte für die Arbeitnehmer bedeu- Reden Sie mal mit Stahlarbeitern und anderen Arbeitneh- tet – und die Krönung: eine Schuldenbremse 2.0 im mern, was da los ist. Da herrschen riesige Zukunftsängste. Grundgesetz. Ich weiß nicht, ob die FDP die Debatten Die reichen bis weit in die Mitte, bis zum Ingenieurswe- richtig verfolgt. sen. Die Leute haben Angst, was in zehn Jahren sein wird. (Katharina Willkomm [FDP]: Es geht um die Das ist Ihre Wirtschaftspolitik, die von der SPD immer Sozialversicherung!) mitgetragen wird. Es müssen aber endlich Antworten auf die Fragen, die mit dem bevorstehenden Umbau der In- Es gibt immer mehr auch konservative Wirtschaftsjour- dustrie zusammenhängen, gefunden werden. nalisten, auch Wirtschaftsweise – bis in den Sachverstän- digenrat hinein –, die deutlich sagen: Die Schuldenbrem- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ se – die schwarze Null – ist eine Investitionsbremse in CSU: Was heißt das für die Wettbewerbsfähig- Deutschland und muss dringend gelockert werden. keit?) Es ist tatsächlich ein Problem, dass wir zu exportab- (Beifall bei der LINKEN) hängig sind. Das haben wir als Linke hier immer ange- Deutschland hat sich in die schwarze Null verliebt. Ich sprochen und gesagt: Wir müssen die Binnenkaufkraft kann überhaupt nicht nachvollziehen, dass die SPD da stärken. – Das hält uns zurzeit überhaupt noch über der immer mitmacht. Wer in Zeiten von Negativzinsen nicht Nulllinie. Wir müssen aber auch deutlich machen, dass endlich in die Zukunft des Landes investiert, versündigt Brexit und Handelskonflikte usw. in den nächsten Jahren sich an den kommenden Generationen. dazu führen werden, dass der Export wahrscheinlich nicht so schnell aus den Puschen kommt. Auch deshalb müssen (Beifall bei der LINKEN) wir die Binnennachfrage stärken. Die Vorschläge der Lin- Investitionen in die Zukunft wären der Maßstab einer ken liegen auf dem Tisch. zukunftsweisenden Wirtschaftspolitik der deutschen Wir müssen auf dem Arbeitsmarkt endlich aufräumen. Bundesregierung. Wir brauchen endlich einen höheren Mindestlohn – von mindestens zwölf Euro. (Katharina Willkomm [FDP]: Wer zahlt sie denn zurück, die Schulden?) (Beifall bei der LINKEN) Der Sachverständigenrat hat vor zwei Tagen deutlich Wir müssen die sachgrundlosen Befristungen abschaffen. gesagt: Deutschland müsste viel mehr investieren und Wir brauchen gleiches Geld für gleiche Arbeit in der Zeit- lässt Zukunftschancen brachliegen. Man müsste in den arbeit, und wir brauchen endlich mehr Tarifbindung. Die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15591

Alexander Ulrich (A) Gewerkschaften machen auch in diesem Jahr einen guten sagt, sie hätten kein Zukunftskonzept, wenn die Mobili- (C) Job bei den Tarifabschlüssen. Aber wenn immer weniger tätswende greift. Das ist eine große Sorge. Deshalb muss Beschäftigte von Tarifverträgen profitieren, brauchen wir der Sozialstaat andere Antworten liefern als bisher. So endlich mehr Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträ- unterstützen wir die Forderung der IG Metall, dass die gen, und da muss die SPD – wie auch die Bundesregie- Bundesregierung deutlich mehr arbeitsmarktpolitische rung – endlich aus den Puschen kommen. Instrumente für Qualifizierung der Mitarbeiter, für die Schaffung neuer Aufgaben anbieten muss. Auch das (Beifall bei der LINKEN) Transferkurzarbeitergeld der IG Metall ist ein toller Vor- Wir haben einen Wirtschaftsminister, der bei der De- schlag, den wir aufgreifen müssen. batte heute wieder einmal nicht da ist. Dabei hat er offen- sichtlich Langeweile. Die Probleme sind riesengroß, hun- (Beifall bei der LINKEN) derttausende Arbeitsplätze sind im Automobilsektor, im Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. – Noch Zulieferersektor, im Kohlesektor, im Stahlsektor in Ge- einmal, Herr Westphal: Wir haben eigentlich viel zu tun, fahr, und unser Wirtschaftsminister hat anscheinend aber diese Bundesregierung macht zu wenig. In den Zei- nichts anderes zu tun, als über Wahlrechtsreformen nach- tungen ist zu lesen, dass am Wochenende ein Konzept zur zudenken, über die Anzahl von Staatssekretären, über Grundrente verabschiedet werden soll. Man hört, die SPD Wahltermine, darüber, wie Bundesländer im Bundesrat sei zu einer weiteren Unternehmensteuerreform bereit. abstimmen. Vielleicht macht er sich gerade, da er nicht Davor kann ich Sie nur warnen. Wieder die Steuern für da ist, Gedanken darüber, wie seine nächste Wahlrechts- die Unternehmen zu senken, das wäre der falsche Ansatz- reform aussehen könnte. punkt. Die SPD würde wieder auf ganzer Linie versagen. Nehmen Sie doch einen anderen Vorschlag der CDU auf. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDA-Präsident Lamers hat gestern gesagt, wir bräuchten NEN]: Er hat ja ein paar Staatssekretäre!) einen höheren Mindestlohn. Seien Sie doch bereit, die Ich will es an dieser Stelle sagen: Ein Wirtschaftsminister, Grundrente herzugeben für die Umsetzung der Forderung der nicht erkennt, was seine Aufgaben sind, ist für dieses der CDU nach einem höheren Mindestlohn. Damit wäre Land unnötig. Er müsste eigentlich ausgetauscht werden. dem Land sehr gedient. Herr Altmaier versteht nicht, was seine Rolle in dieser Bundesregierung ist. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Aber da er sich nun einmal Gedanken über eine Wahl- Vizepräsident Thomas Oppermann: (B) rechtsreform macht, will ich hier nur ansprechen, dass es (D) doch die Union ist, die jede Wahlrechtsreform blockiert. Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Herr Altmaier macht Vorschläge zur Wahlrechtsreform, Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- aber es ist die Union, die das blockiert. Und noch keine nen. andere Bundesregierung hat eine so große Anzahl an Staatssekretären gehabt wie diese. In Kürze soll ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Staatssekretär das Wirtschaftsministerium verlassen, wie man so hört. Herr Altmaier könnte dann ja auf eine Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nachbesetzung verzichten. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Ich kann mich Herrn Ulrich anschlie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ßen. Auch ich finde das Desinteresse, das Herr Altmaier neten der FDP) an dieser Debatte zeigt, angesichts der Situation, in der Was wir in diesem Land dringend benötigen, sind deut- sich die deutsche Wirtschaft befindet, erstaunlich. lich mehr Investitionen. Darauf, dass die FDP wieder sagt, wir bräuchten Steuersenkungen, sage ich: Das Prob- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lem der Wirtschaft ist nicht, dass zu wenig Geld vorhan- sowie bei Abgeordneten der FDP) den ist. Wir haben kein Angebotsproblem, sondern ein Ich finde es nicht nur unhöflich uns gegenüber – daran Nachfrageproblem. Die Wirtschaft hat genug Geld; das haben wir uns mittlerweile gewöhnt –, ich finde es auch ist nicht das Problem. Weitere Steuersenkungen würden respektlos der deutschen Wirtschaft gegenüber, die ge- nur eine weitere Umverteilung bedeuten. Wir brauchen rade in dieser schwierigen Zeit Antworten von einem keine Umverteilung von unten nach oben, sondern umge- Wirtschaftsminister verlangt und wissen möchte, wie kehrt. Wir müssen wieder so umverteilen, dass die Kauf- der Zukunftsplan des Wirtschaftsministers aussieht. kraft gestärkt wird. Vorschläge dazu hat Die Linke zuhauf gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Herr Lenz, Herr Westphal, wir können darüber streiten, was nächstes Jahr bei der Entwicklung der Wirtschaft Lassen Sie mich etwas zur Situation im Automobilsek- passieren wird. Ehrlich gesagt kann uns kein Wirtschafts- tor sagen. Die Transformation in der Automobilindustrie forschungsinstitut momentan seriös darüber Auskunft ge- geht einher mit der Digitalisierung. Das ist für viele Mit- ben. arbeiter ein riesengroßes Problem und auch für viele Un- ternehmen. Jeder von Ihnen hat in seinem Wahlkreis si- (Bernd Westphal [SPD]: Das hat mit dem cherlich den einen oder anderen Zulieferer, der Ihnen Weltmarkt zu tun!) 15592 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Katharina Dröge (A) Fakt ist aber: Die Wirtschaft ist momentan in einem Ab- Das, wovon Sie immer erzählen, der Staat solle sich he- (C) schwung. Fakt ist aber: Die Industrie ist jetzt schon in der raushalten und technologieoffen in alle Richtungen sein, Rezession. Fakt ist aber: Die Unsicherheiten sind extrem hilft keinem deutschen Großkonzern. hoch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bernd Westphal [SPD]: Ja, global!) sowie des Abg. Johann Saathoff [SPD]) Angesichts dessen bräuchte es eine Politik, die Vertrauen Wenn Sie mit Thyssenkrupp reden, wenn Sie mit der schafft, eine Politik, die Stabilität verspricht, und eine Chemieindustrie reden, wenn Sie mit der Automobilin- Politik, die einen Zukunftsplan hat. Leider – und das ist dustrie reden, dann sagen Ihnen alle: Sie müssen die po- die Bilanz Ihrer Regierungszeit – gibt es all das momen- litischen Instrumente in die Hand nehmen, Ordnungspo- tan nicht. Es gibt keine langfristige Planung, Sie haben litik machen, Förderpolitik machen, damit wir wissen, keine Zukunftsperspektive, und es gibt auch keine Stabi- dass klimaneutraler Stahl auf dem Markt auch gekauft lität. Das Chaos, das Sie allein mit dem Klimapaket an- wird, dass sich eine Investition in wasserstoffbasierte gerichtet haben, die schlampige Gesetzgebung, über die Technologie in der Chemieindustrie lohnt. Wenn Sie die- sich die gesamte Wirtschaft beschwert, sind das Gegenteil se Weichenstellungen nicht vornehmen werden, dann von zukunftsfähiger Politik. werden die Unternehmen nicht investieren. All diese Technologien sind vorhanden. Wenn wir es nicht schaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fen, dieses Land zu transformieren, dann ist das kein Ver- Aber was Ihnen fehlt, ist nicht nur, eine gute Politik zu sagen der deutschen Wirtschaft, sondern ein Versagen machen, Ihnen fehlt es auch an der richtigen Analyse. Das Ihrer Politik. finde ich wirklich fatal. Keiner in dieser Debatte hat bis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lang die strukturellen Herausforderungen, vor denen un- sere Wirtschaft steht, konkret benannt. Wenn man sich die großen Industriebranchen ansieht – Automobil, Stahl und Vizepräsident Thomas Oppermann: Chemie –, dann erkennt man, dass sie momentan vor Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der massiven Transformationsprozessen stehen. Das liegt CDU/CSU der Kollege Dr. Matthias Heider. insbesondere an einem megaharten globalen Wettbewerb, an Staatsdumping, an Überkapazitäten auf den Märkten. (Beifall bei der CDU/CSU) Da bedürfte es einer Politik, die klar auf die Anwendung Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): von Handelsschutzinstrumenten setzt, auf die Anwen- dung des Beihilferechtes setzt, auf die Anwendung des Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe (B) Vergaberechts, um die Wettbewerbsfähigkeit des Stand- (D) ortes Deutschland sicherzustellen. Frau Kollegin Dröge, wenn man die Forderungen, die Sie hier aufmachen, in einem Atemzug mit Wettbewerbsfä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) higkeit zusammenbringt, dann bleibt es das Geheimnis der Grünen, wie das funktionieren soll. Ich kann da keine Dazu keine Vorschläge von Ihnen! gemeinsamen Punkte mit Wettbewerbsfähigkeit erken- Zusätzlich bedürfte es jetzt einer Innovationsperspek- nen. tive für dieses Land. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Bernd Westphal [SPD]: Dazu habe ich doch Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschland etwas gesagt!) geneigt, über unsere Wettbewerbsfähigkeit erst dann Selten war die Richtung für Innovation so klar. Die Kli- nachzudenken, wenn uns ein äußerer Druck dazu veran- makrise schreitet mit brutaler Geschwindigkeit voran. lasst. So ist es gewiss auch kein Zufall, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie gerade jetzt mit (Beatrix von Storch [AfD]: Sie schüren Ängs- einem solchen Antrag um die Ecke kommen, wenn die te!) ersten, sagen wir, hellgrauen Wolken am Konjunkturhim- Es ist keine Frage des Ob, es ist nur eine Frage des Wann, mel erkennbar sind. bis die ganze Welt Technologien nachfragen wird, die (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- eine klimaneutrale Produktion ermöglichen. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir sollten jedoch nicht nur dann über Wettbewerbsfä- Tino Chrupalla [AfD]: So ein Blödsinn!) higkeit und Konjunkturschwankungen nachdenken, wenn Herr Theurer, Sie haben eben von Technology of Fu- es einen aktuellen Anlass gibt und sich eine Eintrübung ture oder so ähnlich gesprochen. Da stimmen wir Ihnen zeigt, wir sollten – und das ist meine dringende Forde- zu. Die Technologien, die wir hier in Deutschland ent- rung – eigentlich ständig über Reformen sprechen, die wickeln, können die Lösung für die ganze Welt sein. Aber unsere Wettbewerbsfähigkeit an unserem Wirtschafts- es braucht eine Politik, die auch Absatzmärkte schafft, es standort verbessern. braucht eine Politik, die diese Investitionen auch möglich (Zuruf von der FDP: Das machen wir doch!) macht. Das müssten alle an der Gesellschaft Beteiligten machen, (Beatrix von Storch [AfD]: Die Chinesen ma- nicht nur das Parlament, sondern auch die Tarifpartner, chen das kaputt!) die zum Beispiel dazugehören, und alle anderen auch. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15593

Dr. Matthias Heider (A) Insofern sage ich in Richtung der Liberalen: Es ist ein Meine Damen und Herren, in einem für uns ganz we- (C) schöner Text, den Sie da aufgeschrieben haben. sentlichen Feld der Wettbewerbsfähigkeit sind wir sogar ein paar Schritte voraus. Die anderen Wirtschaftsplätze (Beifall bei der FDP) auf dieser Welt blicken hier auf uns. Wir haben vor, das Es ist schön, dass Sie aufs Tempo drücken. Schöner wäre Wettbewerbsrecht zu revolutionieren. Wir wollen verhin- es aber gewesen, wenn Sie Ihre PS auch auf die Straße dern, dass große Internetfirmen, die Gigatech-Firmen, die gebracht hätten. Märkte aufrollen und den Wettbewerb auf diesen Märkten empfindlich stören. Die ungeheure Datenmacht von digi- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Sie hätten es talen Plattformen wie Google, Facebook, Amazon und ja haben können!) anderen schafft Abhängigkeiten auf unseren Märkten. Ganze Wirtschaftsbereiche haben ein erhebliches Miss- Sie wissen, das geht nur, wenn man im Fahrzeug sitzt, brauchspotenzial zu befürchten – leider zum Nachteil der wenn man Teil der Regierung ist. Ich weiß, Sie hören das kleinen und mittleren innovativen Unternehmen in an dieser Stelle nicht gerne, aber ich sage es trotzdem: Deutschland, die vorwiegend aus dem Mittelstand kom- Motorengeräusche zu machen, das reicht nicht, man muss men. Die Studien weltweit und auch die Berichte unserer auch mitfahren wollen. Das ist der eigentliche Punkt. Kartellbehörden bestätigen uns, dass dort dringender (Beifall bei der CDU/CSU – Bettina Stark- Handlungsbedarf besteht. Watzinger [FDP]: Das sagen Sie mal Ihrer Für dieses Vorhaben wurde viel Vorarbeit geleistet. Es Kanzlerin!) befindet sich gerade noch in der interministeriellen Ab- Sehen wir uns einmal einige Felder an. Es gibt durch- stimmung; in der Tat, das Rechts- und das Wirtschafts- aus viele Gemeinsamkeiten für die Anhänger der sozialen ministerium sollten sich hier ein bisschen beeilen. Das Marktwirtschaft. Dazu gehört zuerst das Feld des Unter- zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Am Mittwoch nehmensteuerrechts. Weltweit gehen die Steuersätze zu- haben wir das Thema auch im Wirtschaftsausschuss an- rück. So wurde die Körperschaftsteuer in den USA auf gerissen. Dort sind wir von der FDP dafür kritisiert wor- 21 Prozent gesenkt, während in den europäischen Nach- den, dass wir diese Schritte jetzt sehr früh unternehmen. barländern die Steuersätze für Unternehmen bei knapp Da stehen Sie dann auf der Bremse. Wir müssen unseren 25 Prozent liegen. Selbst in Frankreich – ich schaue ein- Marktplatz aber gegen all diese Einwirkungen befestigen; mal auf die linke Seite – hat man gesehen, dass das so- denn ansonsten werden wir gegenüber dem großen zialistische Höchststeuerexperiment von François Hol- Marktplatz USA und den Marktplätzen in Asien das lande nicht gerade die Wettbewerbsfähigkeit gefördert Nachsehen haben. Meine Damen und Herren, wir müssen hat, sondern dass es eine gigantische Belastung für alle mit Blick auf den deutschen Mittelstand verhindern, dass (B) (D) Unternehmen gewesen ist und Frankreich in seinem Fort- eine solche Situation eintritt. kommen erheblich behindert hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, in Deutschland werden Zum Thema Klimaschutz ist schon einiges gesagt wor- Körperschaften unterdessen weiterhin mit 32 Prozent be- den. Sie sollten mal bedenken, dass wir weltweit die Ein- lastet. Für Personengesellschaften sind es sogar 45 Pro- zigen sind, die den Ausstieg aus der Atomenergie sowie zent. der Steinkohle- und Braunkohleverstromung gleichzeitig organisieren, aber eine immer noch ordentlich laufende (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ist nicht Wirtschaft haben. Sie müssten mir einmal zeigen, wel- besser!) ches andere Land auf der Welt das macht. Damit liegen wir weltweit im absoluten Spitzenbereich. Es wird höchste Zeit, dass wir den Wirtschaftsstandort (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland und unsere Unternehmen entlasten. Wie Wettbewerbsfähigkeit müssen wir mit sozialer Verant- Sie wissen, arbeiten wir an einem solchen Konzept. Ich wortung verbinden; Kollege Westphal hat darauf hinge- glaube, dass die Zeit wirklich dafür reif ist. wiesen. Wir dürfen nicht nur absolute Ziele verfolgen, sondern soziale Rücksicht und wirtschaftliche Vernunft (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- müssen auch eine Rolle spielen. Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch beim Thema Außenhandel müssen wir deutlich (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- aktiver werden. Mit JEFTA, dem Freihandelsabkommen Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zwischen Japan und der Europäischen Union, das seit Das kann diese Koalition übrigens besonders gut. Ich dem 1. Februar gilt, haben wir einen wichtigen Schritt finde, das Ergebnis auch bei der CO2-Bepreisung kann getan. Wir verbinden 125 Millionen Menschen in Japan sich sehen lassen. mit 500 Millionen Europäern. Von einem Markt von solch einer Größe kann man Impulse erwarten. Ein gemeinsa- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mer Markt mit den USA würde einen Wirtschaftsraum NEN]: Was? Sie finden keinen, der das sagt!) mit ungefähr 800 Millionen Bürgern bedeuten. Wenn es Es ist ein marktwirtschaftliches Instrument und keine gelänge, das umzusetzen, könnten davon Impulse ausge- Steuer, die da vorgesehen ist. Das ist von daher der rich- hen, die dafür sorgen, dass wir weltweit auch bei der tige Weg, meine Damen und Herren. Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China einen großen Schritt vorankommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 15594 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Matthias Heider (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (C) ordneten der SPD) Ja!) Die Grünen betreiben also angeblich eine nach vorne ge- Vizepräsident Thomas Oppermann: richtete Energiepolitik. Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Hansjörg Müller für die Fraktion der AfD. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben es verstanden!) (Beifall bei der AfD) Denkt doch bitte einmal an die gefälschte Weissagung der Cree-Indianer – ihr als Umweltaktivisten müsst die ja Hansjörg Müller (AfD): kennen –: Erst wenn das letzte Kraftwerk abgeschaltet Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- ist und die letzte Wohnung unbeheizt bleibt, werdet ihr legen! Wir machen jetzt ein Ratespiel. Ich lese einige feststellen, dass wir alle wieder, und zwar von allen Frak- Sätze vor, und Sie werden dann erraten, tionen, am Lagerfeuer hocken und in Höhlen sitzen, so wie in der Steinzeit. (Zuruf von der LINKEN) (Beifall bei der AfD – Zurufe vom BÜND- was aus dem FDP-Antrag ist und was die Forderungen NIS 90/DIE GRÜNEN) der AfD sind. Ich kann nur konstatieren, dass dieser sogenannte Antrag ( [SPD]: FDP und AfD mar- einen planwirtschaftlichen Unfug nach dem anderen ent- schieren sowieso Seit’ an Seit’!) hält. Erstes Ratespiel: Synthetische Kraftstoffe und E-Mo- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bilität sind steuerlich gleichzustellen. – Oder: In Wahrheit liest er sich wie der feuchte Traum von … die Diskriminierung von Wasserstoff und synthe- Bomber-Harris. tischen Kraftstoffen gegenüber batterieelektrischen Antrieben (ist) zu beenden. Ich möchte mit einem Zitat aus der Literatur schließen. Vieles ist natürlich im links-grünen Bildungssystem ka- Was davon war FDP, und was war AfD? puttgemacht worden, aber vielleicht lernt doch noch je- mand Gedichte. Also, ihr von den Grünen macht Umwelt- Kommen wir zum zweiten Ratespiel: politik nach Heinrich Heine: Franzosen und Russen Auf einen teuren und klimapolitisch fragwürdigen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten … Wir aber (B) Kohleausstieg zu verzichten, der im europäischen besitzen im Luftreich des Traums – die Herrschaft unbe- (D) Emissionshandel ohnehin bereits angelegt ist. stritten. Oder: Beim Kohleausstieg Danke. keine weiteren planwirtschaftlichen Eingriffe in den (Beifall bei der AfD – Oliver Krischer [BÜND- Energiemarkt vorzunehmen, sondern stattdessen die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat nicht einmal Marktmechanismen des Europäischen Emissions- Ihre eigene Fraktion verstanden! – Dieter handels … zu nutzen … Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kön- nen Sie das einmal erklären?) Welche Formulierungen sind aus dem aktuellen Antrag der FDP, und welche sind grundsätzliche Forderungen der AfD? Vizepräsident Thomas Oppermann: Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der (Christian Dürr [FDP]: Stimmt doch zu!) Kollege Johann Saathoff für die Fraktion der SPD. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist (Beifall bei der SPD) höchste Zeit, dass Sie sich von Ihrem eigenen Antrag distanzieren; sonst zeigen Sie noch viel zu viel Nähe Johann Saathoff (SPD): zur Programmatik der AfD. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der AfD – Rainer Spiering [SPD]: Kollegen! Eigentlich wollten die Antragsteller heute eine Sie ist doch da! – Oliver Krischer [BÜND- Debatte führen über eine Rezession, über einen Ab- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist doch da!) schwung der deutschen Wirtschaft. Die Ausgangslage für die negative Stimmung war aufgrund der Nachrich- Sie kommen auch noch dran, liebe Kolleginnen und tenlage der letzten Woche auch entsprechend, sodass die- Kollegen von den Grünen. Sie lächeln ja schon in froher ser Antrag vorbereitet wurde. Es gab globale Handels- Erwartung. Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer – ich streitigkeiten. Es gab eine geringere Wirtschaftsleistung zitiere – rückwärtsgerichteten Energiepolitik der Bundes- Chinas. Es gab die Dieselkrise. regierung. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Alles gelöst?) (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fast keine Woche der letzten Monate verging ohne ir- NEN]: Ja!) gendeine Hiobsbotschaft oder irgendeine Gewinnwar- – Ein Hörgerät habe ich noch nicht. Wie bitte? nung. So war zu erwarten, dass die sogenannten Wirt- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15595

Johann Saathoff (A) schaftsweisen diese Woche einen Abschwung der deut- wir später mal in der Wirtschaft bitter brauchen werden. (C) schen Wirtschaft verkünden. Somit war auch der Arbeits- Gut, dass wir Vorsorge getroffen haben mit dem Gute- titel des FDP-Antrags klar. Der ursprüngliche Titel laute- KiTa-Gesetz und mit dem DigitalPakt Schule, wo wir te: Zehn Punkte gegen den Abschwung. 5 Milliarden Euro – einmalig in der Geschichte der Bun- desrepublik Deutschland – in die Schulen transferiert ha- Jetzt wurde in dieser Woche ein Wirtschaftswachstum ben. von 0,5 Prozent in diesem Jahr und – aufsteigend – 0,9 Prozent im nächsten Jahr prognostiziert. Dadurch ist (Beifall bei der SPD) natürlich nichts mehr mit Punkten gegen den Abschwung. Prompt hat sich der Titel geändert. Jetzt heißt der Antrag: Wir brauchen in Deutschland Sicherheit im Alltag. Tempo für Deutschland. Gut, dass die Grundrente kommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Und wir brauchen in Deutschland eine Vorstellung von Industriepolitik der Zukunft. Dazu gibt es jetzt einen ers- Dieser Antrag, meine Damen und Herren, umfasst jetzt ten Entwurf von Herrn Altmaier. Ich würde mal sagen, es nicht mehr 10 Punkte, sondern 20 Punkte. Bei zwei Punk- ist ein erster Aufschlag; so wollen wir ihn mal bezeich- ten stimmen wir von der Sozialdemokratie Ihnen zu. nen. Er will einen starken Staat. Das sehen wir auch so. In diesen schwierigen Zeiten darf man nichts der Zukunft Planungsrecht vereinfachen: Da gibt es bereits ganz überlassen. Aber der Bundeswirtschaftsminister hat auch viele Bereiche, einige Schlüsseltechnologien genannt. Darüber freuen (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das ist nicht wir uns. Das finden wir gut. Zum Beispiel die Luft- und so angekommen im Planungsverfahren!) Raumfahrttechnik, zweifelsfrei eine Schlüsseltechnolo- gie. Er hat aber auch einige wichtige Bereiche nicht ge- wo wir sagen: Da wollen wir miteinander weiter voran- nannt: den Schiffbau zum Beispiel; das ist nämlich eine gehen. genauso wichtige Schlüsseltechnologie. Bei der Vereinfachung des Vergaberechts sind wir auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ihrer Seite und sagen: Wir haben gute Erfahrungen mit dem Konjunkturpaket II gemacht, in dessen Rahmen wir Wir hätten uns als Sozialdemokraten auch gewünscht, Kommunen die Möglichkeit gegeben haben, einfacher dass die betriebliche Mitbestimmung, also die gelebte ins Vergaberecht einzusteigen. Sozialpartnerschaft, als Schlüssel für erfolgreiche Unter- nehmensentwicklung im Zentrum dieser Strategie steht Bei einem anderen Punkt – damit sind es sogar drei und nicht irgendwo am Rande bzw. gar nicht erwähnt Punkte – würden wir vielleicht auch noch mitmachen, wird. (B) nämlich beim Bürokratieabbau. Aber, liebe Kolleginnen (D) und Kollegen von der FDP, ich verstehe wirklich nicht, Die FDP will den Solidaritätszuschlag komplett ab- warum Sie beim Punkt Bürokratieabbau die Reduzierung schaffen. Die Abschaffung des Solis für die letzten der Aufbewahrungsfristen von zehn auf fünf Jahre ins 10 Prozent, also für die Reichen, kostet 11 Milliarden Zentrum stellen Euro. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Weil es (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Also, 3 Milliarden Euro bringt!) da reden wir aber noch mal, ob die sich als reich und behaupten, dass es dadurch weniger Bürokratie gibt. bezeichnen!) Das erschließt sich mir einfach nicht. Die Grundrente, für Hundertausende Menschen von exis- tenzieller Bedeutung, kostet 3,8 Milliarden Euro, also Der Bundesfinanzminister hat kürzlich darauf hinge- deutlich weniger als die Hälfte. wiesen: Deutschland ist gut gerüstet für die konjunktur- ellen Herausforderungen der nächsten Jahre. Was, liebe (Rainer Spiering [SPD]: Hört! Hört!) Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir denn in Deutschland? Wir brauchen in Deutschland öffentliche Sie wollen den Reichen 10 Milliarden Euro schenken, Investitionen in Infrastruktur und in Innovationen; mein (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Schenken? – Kollege Bernd Westphal hat eindrücklich darauf hinge- Frank Sitta [FDP]: Das hat mit Schenken über- wiesen, und er hat auch darauf hingewiesen, wo wir das haupt gar nichts zu tun!) schon überall machen. den Bedürftigen aber nicht mal die Hälfte davon gönnen. Wir brauchen in Deutschland eine Antwort auf den Wir wollen genau das Gegenteil. Fachkräftemangel. Interessanterweise wird das in keinem der beiden Anträge mit nur einem Wort erwähnt. Gut, (Beifall bei der SPD) dass wir im Sommer ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist beschlossen haben. Das kann man, finde ich, an dieser gut, dass die Menschen jetzt wissen, wer welche Position Stelle mal erwähnen. hat, damit sie das entsprechend einordnen können. (Beifall bei der SPD) Die FDP will auf den Kohleausstieg verzichten. Wir Wir brauchen in Deutschland Investitionen in Bildung wollen das nicht. Nicht mal die Industrie will das. Es ist für Menschen, die in Arbeit sind, und für Menschen, die ein breit aufgestellter Konsens, der da erfolgt ist, und Arbeit suchen, aber auch für die jungen Menschen, die dieser Konsens darf nicht infrage gestellt werden. 15596 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Johann Saathoff (A) (Tino Chrupalla [AfD]: Blödsinn!) habe befürchtet, dass es so weitergeht wie in der Zwi- (C) Nebenbei bemerkt gibt es viele junge Menschen, die wol- schenbilanz, bei der sich die GroKo selber ein exzellentes len, dass die Kohleverstromung noch vor 2038 endet, Zeugnis ausgestellt hat. Ich vertraue eher auf eine externe Begutachtung, und der Sachverständigenrat hat es Ihnen (Tino Chrupalla [AfD]: So ein Schwachsinn!) ins Gebetbuch geschrieben: weil sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen. (Beifall bei der FDP) (Tino Chrupalla [AfD]: Dann sollten sie nicht Der Aufschwung ist zu Ende. Wir haben weniger Unter- mehr SPD wählen!) nehmensgründungen, und wir haben mehr Unterneh- Das sind Menschen, denen der FDP-Vorsitzende die Qua- mensschließungen. lifikation dazu abredet. Dementsprechend ist natürlich Die Menschen haben in vielen Regionen Deutschlands folgerichtig, dass die FDP auf den Kohleausstieg verzich- Sorge um ihren Arbeitsplatz. Sie erleben, dass sie im ten will. Die energiepolitischen Ziele der FDP waren ja ländlichen Raum nicht an das digitale Nervensystem schon immer, sage ich mal, einigermaßen überschaubar. der Zukunft angeschlossen sind, und sie sehen, dass große Immerhin haben Sie heute mal auf die Renaissance der Vorhaben in diesem Land keine Chance mehr haben, um- Atomkraft verzichtet. Dafür sind wir Ihnen dankbar. gesetzt zu werden, oder bereits veraltet sind, wenn sie (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger umgesetzt sind. In meinem Heimatland Hessen wurde [FDP]) die A 44 als Projekt der Wiedervereinigung beschlossen, ist aber auch nach 30 Jahren nicht fertiggestellt. Dann Überhaupt frage ich mich angesichts der völlig unter- stellt sich diese Regierung hin und sagt, alles sei in Ord- schiedlichen Anträge von Grünen und FDP, wie wohl Ihre nung und nichts müsse passieren? Wenn Sie uns hier das Halbzeitbilanz ausgesehen hätte, wenn Sie sich getraut Abhaken von Klein-klein-Boxen aus Ihrem Koalitions- hätten, mit der CDU zusammen zu regieren. vertrag präsentieren, dann ist das eigentlich Arbeitsver- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Zuruf weigerung. von der FDP: Auf jeden Fall besser!) (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, der Antrag heißt „Tempo Was wir in diesem Land brauchen, sind wieder die für Deutschland“. Manchmal habe ich mich bei der Lek- großen Ziele, nicht Brandkessel alleine. Das mag sinnvoll türe gefragt, ob es nicht eher „Tempotaschentücher für die sein, aber wir brauchen die großen Ziele, damit die Men- FDP“ heißen müsste. schen auch persönlich wirtschaftliches Vorankommen er- (B) (Frank Sitta [FDP]: Wer im Glashaus sitzt …!) leben. Da geht es nicht darum, dass der eine dem anderen (D) etwas wegnimmt. Geben Sie Ihr statisches Verständnis Der Wirtschaft in Deutschland geht es trotz der vielen von Wirtschaft auf. Es geht darum, dass alle Zugang zu Unkenrufe nach wie vor gut. Es gibt keinen Abschwung. Wohlstand und Wachstum haben. Wir müssen uns allerdings um die weitere Entwicklung bemühen. Wir müssen wach sein für die weitere Entwick- (Beifall bei der FDP) lung. Ich möchte drei Punkte ansprechen: (Beatrix von Storch [AfD]: Bitte noch ein Punkt eins: Innovationsfähigkeit. Der Wohlstand in ei- bisschen Plattdeutsch!) ner Volkswirtschaft hängt von ihrer Innovationsfähigkeit Aber es gibt keinen Grund, die Wirtschaft in eine Krise zu ab. Emmanuel Macron macht es uns vor, während wir reden, um sich selber zu profilieren. In Ostfriesland wür- hier noch debattieren. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, de man dazu sagen: bis 2025 25 Unicorns anzusiedeln. Was sagen die Zahlen? Im ersten Halbjahr 2019 gab es so viel Wagniskapital wie (Beatrix von Storch [AfD]: Danke! Endlich!) noch nie in Europa. Aber es fließt nicht nach Deutsch- Wenn’t Muus satt is, is Mehl bitter. land, sondern es fließt nach London, und es fließt nach Berlin. Herzlichen Dank. (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Hä? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU – Tino Chrupalla [AfD]: Was DIE GRÜNEN]: Sie haben gerade „Berlin“ ge- für ein Stuss!) sagt! – Bernd Westphal [SPD]: Berlin ist in Deutschland!) Vizepräsident Thomas Oppermann: Nutzen wir die Chance und bauen wir in der Zwischenzeit Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die eine vitale Gründerszene in unserem Land auf. Dafür Kollegin Bettina Stark-Watzinger für die Fraktion der brauchen wir einen Zukunftsfonds für Wagniskapital, da- FDP. mit mehr Kapital das Wachstum von Start-ups finanziert. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Bettina Stark-Watzinger (FDP): Weil Innovation auch nicht von Ihnen geplant werden Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- kann, sondern ständig funktioniert, brauchen wir Frei- men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heitszonen, in denen neue Ideen wachsen können, frei Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15597

Bettina Stark-Watzinger (A) von bürokratischer Belastung, die in unserem Land viel Der Klimawandel ist das größte Marktversagen, das (C) zu stark ausgeprägt ist. die Welt je gesehen hat. – Das hat der liberale Ökonom Sir Nicholas Stern 2006 gesagt, und nicht erst seit 2006 ist (Beifall bei der FDP) das die Marschroute für grüne Wirtschaftspolitik. Herr Punkt zwei. Wir brauchen Tempo bei der Entlastung Heider, wenn Sie sagen, die CO2-Bepreisung von 10 Euro, für Investitionen, bei der Abschaffung des Solidaritätszu- die Sie da an die Wand gemalt haben, wäre etwas Pro- schlags und bei der Unternehmensteuerreform. gressives, dann sage ich Ihnen: Da stimmt Ihnen der Prä- sident des größten europäischen Industrieverbandes, des (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) VDMA, Herr Welcker, nicht zu. Der hat von 100 Euro als Zehnmal versprochen und nie geschafft! Der Steuerstill- angemessenen Preis gesprochen; den halten nicht mal wir stand bedroht unser Land. Wir brauchen die Abschaffung Grüne für realistisch. Aber die Industrie denkt da deutlich des Solis, und wir brauchen ein modernes Unternehmens- progressiver als Sie. Sie geben ihr keinen ökologischen teuerrecht mit einer maximalen Steuerbelastung von Rahmen, 25 Prozent, meine Damen und Herren. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Das ist so- (Beifall bei der FDP) ziale Verantwortung!) Mein dritter und letzter Punkt: Tempo für solide Finan- und deswegen kommt es auch nicht zu Innovationen. zen. Dieser Sozialstaat kennt im Augenblick nur die Ge- genwart. Was ist eigentlich mit dem Respekt vor den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zukünftigen Generationen? Um was geht es denn jetzt? Wir sind als ein Industrie- (Bernd Westphal [SPD]: Genau deshalb die land, in dem die Industrie – Automobilindustrie, Stahl- Grundrente!) industrie, chemische Industrie, Zementwerke – 23 Prozent Wie erklären Sie diesen Generationen, dass Sie heute eine Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung hat, in der Grundrente beschließen, Pflicht, hier den Transformationsrahmen entschlossen so zu setzen, dass die deutsche Industrie sich wandeln (Bernd Westphal [SPD]: Das ist soziale Ver- kann. Dazu brauchen wir eine CO2-Bepreisung. Dazu antwortung!) brauchen wir aber auch Investitionen in CO2-freie Indust- die Milliarden kostet, die sie belasten wird, ohne die Al- rieprozesse. Dafür brauchen wir bessere Abschreibungs- tersarmut richtig zu bekämpfen? Wir brauchen eine möglichkeiten. Dafür brauchen wir Leuchtturmprojekte. Schuldenbremse, die klarstellt, dass versicherungsfremde Wir müssen jetzt durchstarten, damit all das, was Sie in (B) Leistungen sachgerecht über Steuern finanziert werden Ihrem Antrag versprechen, das klimaneutrale Flugzeug, (D) und dass Firmen nicht genutzt werden, um den Bundes- das wasserstoffbetriebene Stahlwerk, möglich werden haushalt zu umgehen. kann. Aber wo sind da die Konzepte der FDP? (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben Chancen Was Ihnen da einfällt, ist das Flugtaxi. Das hat ja die und Risiken. Wir haben kluge Menschen. Wir haben es in Kollegin Doro Bär in die Diskussion eingeführt. Ich bin der Hand, zu bestimmen, was aus diesem Land wird. Wir ein Freund von Flugtaxis. Das ist eine interessante Tech- sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft ge- nologie. Aber, mit Verlaub, damit wird keine Verkehrs- schieht. Machen wir Tempo für Deutschland. und Mobilitätswende bewirkt.

(Beifall bei der FDP) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das legt Ihr Grünen fest, oder? Die Grünen ent- Vizepräsident Thomas Oppermann: scheiden das!) Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Roland Berger sagt: Im Jahr 2030 gibt es auf der ganzen Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Welt 100 000 davon. – Wenn Sie das jetzt sozusagen als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Innovationsmotor Nummer eins nennen, dann gute Nacht, Deutschland! Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Das eine Signal in dieser Diskussion ist ja, dass der Wirtschaftsminister Altmaier Sie schreiben dann in Ihrem Antrag, dass Sie den Koh- seine Wertschätzung durch Nichtanwesenheit ausdrückt. leausstieg in Deutschland nicht wollen. Das andere Signal ist – das will ich Ihnen sagen –: Herr Theurer von der FDP hat diesen Antrag eingebracht, hat (Frank Sitta [FDP]: Nicht politisch festlegen!) sich danach in die fünfte Reihe gesetzt und ist jetzt nicht mehr anwesend. Auch das ist keine Wertschätzung des Die AfD hat vorhin gesagt: Die Lichter gehen aus, wenn Parlaments, des Deutschen Bundestages, wenn wir über man die Kraftwerke ausschaltet. – Die Lichter gehen an, Wirtschaftspolitik reden wollen. wenn man die Kohlekraftwerke ausschaltet, weil die er- neuerbaren Energien auf den Markt kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15598 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dieter Janecek (A) Sie liefern da nicht. Vielleicht haben Sie es nicht gemerkt, Beide Anträge zeichnen aber ein zu düsteres Bild der (C) dass erneuerbare Energien bereits heute einen Anteil von Lage unseres Landes und unserer Wirtschaft. Es gibt im- 40 Prozent an der Stromversorgung haben. mer viel zu tun – gar keine Frage. Aber ganz so schlimm, wie dargestellt, ist es nun auch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tino Chrupalla [AfD]: So ein Blödsinn! – Ich will kurz auf einige Punkte eingehen. Frau Stark- Beatrix von Storch [AfD]: Das glauben Sie Watzinger, Sie haben vorhin die Absenkung des Körper- noch nicht mal selber, oder?) schaftsteuersatzes von 15 auf höchstens 12,5 Prozent an- gesprochen, um international wieder wettbewerbsfähig Digitalisierung, künstliche Intelligenz – wir sind ein zu werden. Das streben wir mit an. Ich freue mich, dass Land, das in diesen Feldern maximal im unteren Mittel- wir Sie jetzt schon auf unserer Seite zählen können, feld der Bundesliga mitspielt. Wir brauchen hier ent- schlossene Investitionen; da stimme ich dem Antrag der (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wenn das FDP explizit zu. Da sind wir mit der FDP auf demselben denn kommt!) Kurs. Wir brauchen aber auch einen Markt für Breitband, wenn wir uns damit auch innerhalb der Koalition durch- der endlich realisiert, dass der Ausbau in der Fläche an- setzen. Unsere AG Finanzen arbeitet gerade an einer Re- kommt. Auch das ist ein Problem, das nicht gelöst wird. form des Unternehmensteuerrechts. Wir haben hierzu am Wenn die Infrastruktur nicht kommt, dann wird Deutsch- Dienstag als Fraktion ein Positionspapier beschlossen. land auch nicht zukunftsfähig. Der Gesetzentwurf kommt nach der Einigung in der Koa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lition, lieber Frank Schäffler. Sie sollten aber zunächst unsere Position zur Kenntnis nehmen. Dort heißt es: Ganz zum Schluss möchte ich zum Thema „Automo- bilindustrie und Elektromobilität“ etwas sagen. Ich finde, Wenn wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit das ist eine leidige Diskussion. Der Weltmarkt setzt das der deutschen Wirtschaft erhalten wollen, ist die Zeichen für Elektromobilität; es sind nicht die Grünen, es Modernisierung des deutschen Unternehmensteuer- sind nicht Umweltverbände. Der Markt setzt das Zeichen. rechts dafür eine der wesentlichen Grundlagen. Schließlich spielt die steuerliche Belastung eines (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: China!) Unternehmens eine wesentliche Rolle bei internatio- Es geht dann nicht an, sich hinzustellen und zu sagen: Wir nalen Standort- und Investitionsentscheidungen. müssen jetzt als Deutschland das einzige Land der Welt Das ist das, was wir als CDU/CSU-Fraktion wollen. sein, das einen anderen Weg geht. Wir müssen alles mit Wasserstoff machen oder den Diesel ins Grundgesetz Wir haben natürlich im Vergleich zu anderen Ländern (B) schreiben. in Europa eine zu hohe Belastung der deutschen Unter- (D) nehmen. Wenn Sie den Solidaritätszuschlag mit einrech- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen und die Gewerbesteuer auch, sind wir bei 30 bis NEN – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Alles! 35 Prozent für die Kapitalgesellschaften und bei Perso- Alles!) nengesellschaften bei 45 Prozent. Das ist zu viel. Von Mit Verlaub, wenn die gesamte Strommenge für den Mo- diesem Niveau müssen wir herunterkommen, wenn wir bilitätssektor durch Wasserstoff erzeugt werden soll, dann unserer Wirtschaft nicht unnötige Fesseln anlegen wol- brauchen Sie ein Vielfaches der Energie, die heute produ- len. ziert wird. Wo soll die denn herkommen? Das ist auch (Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP]) keine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik. Die finden Sie in unserem Antrag. Wir haben vor, die Steuerbelastung von Kapital- und Personengesellschaften für nicht ausgeschüttete Gewinne Vielen Dank. bei maximal 25 Prozent zu deckeln. Das ist ein Wort. Die Körperschaftsteuer würden wir gern auf 10 Prozent ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) senken und den Solidaritätszuschlag ganz abschaffen. Die Gewerbesteueranrechnung wollen wir weiterentwickeln. Vizepräsident Thomas Oppermann: Das ist CDU/CSU pur. Das ist das, wofür wir stehen und Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der wofür wir in der Koalition um Mehrheiten werben. Kollege Klaus-Peter Willsch für die Fraktion der CDU/ Wir haben hohe Arbeitskosten und sehr hohe Energie- CSU. kosten; da ist Deutschland an der Spitze, weil wir hier mit (Beifall bei der CDU/CSU) Mehrheit beschlossen haben, gleichzeitig aus der Kohle- und Atomenergie auszusteigen, und diesen industriepoli- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): tischen Feldversuch mit 80 Millionen Probanden nun mu- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- tig angehen. Wir haben neben diesen Belastungen trotz- ren! Liebe Kollegen! Ich habe mir in Vorbereitung zu dem Möglichkeiten als Gesetzgeber, immer wieder die dieser Rede natürlich den Antrag der FDP durchgelesen: Qualität zu sichern und fortzuschreiben. Wir haben die Evaluation der Handwerksordnung ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bettina nutzt, um zwölf Handwerksberufe wieder auf die Liste zu Stark-Watzinger [FDP]: Danke, sehr schön!) setzen. Hier wird wieder ordentlich gearbeitet; hier wird So weit, so gut. Dann habe ich mich durch den Antrag der in Zukunft auch ausgebildet werden. Das ist ein Erfolg. Grünen gekämpft, muss man sagen: So weit, so schlecht. Ob Fliesenleger, Raumausstatter, viele haben uns be- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15599

Klaus-Peter Willsch (A) drängt und gesagt: Führt hier wieder die Meisterpflicht Vizepräsident Thomas Oppermann: (C) ein, damit wir Qualität sichern in der Ausbildung und für Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht den Verbraucher, der die Leistung des Handwerkers nach- vor. fragt. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell (Beifall bei der CDU/CSU) wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/ 14781 und 19/14825 an die in der Tagesordnung aufge- Ich will schließlich noch einen Punkt ansprechen, dem führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- heute besondere Aktualität zukommt. Der Bundesrat wird verstanden. Dann verfahren wir so. heute das Bürokratieentlastungsgesetz verabschieden oder hat es vielleicht schon getan. Ich weiß nicht genau, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: wie weit sie sind mit ihrer Sitzung. Wir haben ein Ent- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- lastungsvolumen von 1,1 Milliarden Euro für die Wirt- richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- schaft auf den Weg gebracht. Wir haben dazu als Koali- schuss) tion in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht, dass wir dort weiteren Bedarf sehen; denn es ist natürlich – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU so, dass das eine Daueraufgabe bleibt. So heißt es dann und SPD auch dort: Mit nationaler Tourismusstrategie den Standort Deutschland weiter stärken Bürokratieabbau bleibt eine Daueraufgabe. Daher wollen die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus dieser Wahlperiode mögliche Inhalte für ein weite- Tressel, Stefan Schmidt, Matthias Gastel, wei- res Bürokratieentlastungsgesetz ausloten. Die Bun- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- desregierung soll hierzu entsprechende Konsulta- NIS 90/DIE GRÜNEN tionen zwischen den Ressorts einleiten. Ein Nationale Tourismusstrategie fair, sozial, Schwerpunkt soll sein, die Bürokratie- und Regulie- ökologisch und klimafreundlich gestalten rungslasten Drucksachen 19/11088, 19/11152, 19/14163 – aufgemerkt! - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die für Gründer in der Start- und Wachstumsphase auf Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Es gibt dazu kei- ein Mindestmaß zu reduzieren und Genehmigungs- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (B) verfahren für private Bau- und Infrastrukturmaßnah- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem ersten Red- (D) men zu beschleunigen. ner das Wort, dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Bareiß. Ich freue mich, dass Sie uns bereits heute Ihre Unterstüt- zung dafür zusagen. Wir werden gerne darauf zurück- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kommen. ordneten der SPD)

Ich komme noch kurz auf die Digitalisierung zu spre- Thomas Bareiß , Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- chen; Kollege Heider hat dazu heute Morgen schon etwas nister für Wirtschaft und Energie: gesagt. Wir haben hier im Parlament bereits in der letzten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Legislaturperiode den entscheidenden Schritt gemacht Herren! Der Deutschlandtourismus ist eine Erfolgsge- und befinden uns in der Umsetzung: Ich meine das On- schichte, und zwar bereits im neunten Jahr. Die Zahlen linezugangsgesetz. Wir verpflichten mit dem Onlinezu- des Jahres 2018 sind beeindruckend. Deutschland steht gangsgesetz auch die Länder und Kommunen, ihre Ver- auch dieses Mal wieder auf Platz eins als Kulturreiseziel, waltungsportale in einem Portalverbund miteinander zu auf Platz eins als Tagungs- und Kongressziel in Europa verknüpfen – Stichwort „Once-Only-Prinzip“ – und die und weltweit auf Platz eins als Messeziel. Wir haben auch Zugangsmöglichkeit für die Bürger und die Unternehmen in der Kategorie Städteziele den ersten Platz erreicht. Wir damit herzustellen. Das ist ein wirklicher Sprung. Das stehen im Best Country Report 2018 auf dem dritten Platz wird einen Schub für Wirtschaft, Verwaltung und Bürger und haben auch bei der Jugend eine sehr gute Positionie- mit sich bringen. Darauf freuen wir uns. Wir wissen, dass rung – Platz eins – als bestes Reiseziel Europas. Wir sind es in verschiedenen Bereichen schon läuft. Wir sind sehr bei der Nachfrage von 50 Nationen auf Platz eins gewählt zuversichtlich, dass unsere hervorragende Verwaltung worden. Sie sehen, dass der Tourismus in Deutschland das auf allen Ebenen hinbekommen wird. sehr stark blüht und enormen Erfolg hat. Ich glaube, dass er mehr Wertschätzung auch durch Politik bekommen Gleichwohl ist es so, wie es immer ist: Bürokratie sollte. wächst von selbst. Es wurde viel getan; es bleibt aber noch viel zu tun. Wir freuen uns über jeden, der da an Die Tourismusbranche ist eine Branche, die sehr viel- unserer Seite mitarbeitet. fältig und unterschiedlich geprägt ist, und deshalb bei uns in Berlin oft auch nicht so sichtbar ist. Dennoch ist sie Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. eine wichtige Branche mit über 3 Millionen Beschäftig- ten, mehr als in allen anderen Branchen, die wir haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb, glaube ich, sollte ein Dankeschön an all dieje- 15600 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Parl. Staatssekretär Thomas Bareiß (A) nigen gehen, die in dieser Branche so viel arbeiten, sich tun können, damit wir in den nächsten Jahren weiterhin (C) leidenschaftlich für unser Land einsetzen und damit eine erfolgreich sind. Ich habe mich bewusst dafür entschie- Visitenkarte für unser Land sind. Danke schön an dieje- den, die Strategie in einem zweistufigen Verfahren zu nigen, die diesen Erfolg ermöglicht haben. entwickeln. Wir haben im April dieses Jahres ein Eck- punktepapier, das die großen Ziele der Tourismusstrate- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gie enthielt, ins Kabinett eingebracht. Ich habe das extra Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) eingefordert, weil ich alle Ressorts am Tisch haben woll- Der Erfolg zeigt sich auch an der gestiegenen Zahl der te, damit sie diese großen Linien unterstützen. Aus Übernachtungen. Wir hatten im letzten Jahr 87,7 Millio- diesem Eckpunktepapier folgen die Unterziele für die nen Übernachtungen von Gästen aus dem Ausland. Vor nächsten Monate. Danach wird es wieder eine Kabinetts- 15 Jahren waren es noch 40 Millionen Übernachtungen. befassung geben. Ich glaube, dass dann noch einmal alle Das ist eine enorme Steigerung. Für 2030 steuern wir das mitziehen müssen; denn das ist natürlich eine Quer- Ziel an, 125 Millionen Gäste aus dem Ausland bei uns zu schnittsaufgabe, die viele Bereiche betrifft. beherbergen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, dass das Reisen in der heutigen Zeit wichtig Es geht darum, dass wir die inländische Wertschöpfung ist. Gerade angesichts der morgigen Feierlichkeiten zum in den nächsten Jahren steigern, dass wir die Lebensqua- Jahrestag des Mauerfalls zeigt sich, dass Reisen heute ein lität der deutschen bzw. der inländischen Bevölkerung Privileg ist, das jeder entsprechend nutzen kann. Reisen stetig ausbauen. Wir müssen den Tourismus als einen Teil bedeutet Freiheit. Reisen muss für die Menschen möglich der internationalen Sicherheit und Stabilität verstehen. sein und bleiben. Reisen muss für jeden Geldbeutel mach- Das zeichnet den Tourismus noch einmal in besonderer bar sein. Deshalb ist es unser großes Anliegen, das an alle Weise aus. Menschen in Deutschland zu adressieren. Mir ist wichtig, dass die Branche in den nächsten Jah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ren erfolgreich ist. Deshalb muss diese Strategie, diese der SPD) Gesamtkonzeption, auch gemeinsam mit der Branche Die Länder und Kommunen profitieren vom Touris- erarbeitet werden. Ein wichtiger Schwerpunkt muss des- mus. Die Wertschöpfung von über 105 Milliarden Euro, halb in den nächsten Monaten darauf gelegt werden, die die in Deutschland erzielt wird, kommt nicht nur in den Branche einzubinden, die Länder und Regionen einzu- Städten, sondern auch auf dem Land an. Auch das ist eine binden und dann eine Gesamtstrategie zu finden, die alle ganz wichtige Botschaft. Mit der Förderung des Touris- entsprechend berücksichtigt und große Akzeptanz findet. Das werden wir in den nächsten Monaten sehr intensiv (B) mus machen wir Strukturpolitik für alle Bereiche unseres (D) Landes. verfolgen. Unser Land ist vielfältig, unser Land ist wunderschön Die Tourismusstrategie wird dann im nächsten und bietet viele sehr unterschiedliche Destinationen. Von Sommer oder Herbst vorgelegt werden. Ich weiß, manche Sylt, der Nordsee und der Ostsee im Norden bis Baden- sind etwas forscher und wollen etwas schneller voran- Württemberg und Bayern im Süden unseres Landes gibt kommen. es so viele unterschiedliche Ausprägungen, die eine sehr gute Visitenkarte unseres Landes sind und Strahlkraft in (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Sie sind ja auch die Wirtschaft hineintragen. Auch das hat der Tourismus schon ein Jahr dran, Herr Bareiß! Mit diesem in den letzten Jahren geschafft. In einem wirtschaftlichen Tempo werden wir nie fertig! – Gegenruf des Umfeld, das mittelständisch, von vielen kleinen und mit- Abg. Michael Donth [CDU/CSU]: Lieber gut telständischen Unternehmen, die familiengeführt sind, regieren als nicht regieren!) geprägt ist, wird eine enorme Leistungsbereitschaft er- Manchmal habe ich auch diesen Drang wie manche Kol- zielt. Auch das muss die Politik, glaube ich, stärker hono- legen hier im Haus, die das nachher wahrscheinlich noch rieren. sagen werden. Ich sage aber: Gründlichkeit geht vor Deshalb wollen wir das in den nächsten Monaten ganz Schnelligkeit. Ich glaube, wir brauchen eine Strategie, gezielt angehen und schauen, wo wir uns noch verbessern die langfristig trägt. Wir haben große Themen vor uns, und unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken können. und wir entwerfen eine solche Strategie zum ersten Mal. Deshalb wird die Tourismusstrategie ein ganz entscheid- Diese soll für die nächsten zehn Jahre gelten. Insofern ender Baustein dafür sein, dass der Tourismus in den fallen eineinhalb Jahre nicht so sehr ins Gewicht. nächsten Jahren und Jahrzehnten noch so erfolgreich ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Strategie ist ein einmaliges Projekt. Wir haben so etwas im Bund noch nie gemacht. Bisher gab es in Ich freue mich auch, dass wir während der Entwick- Deutschland nur regionale und landesspezifische Strate- lung der Strategie bereits weitere Erfolge im Bereich des gien. Das heißt, wir haben das Ganze immer sehr regional Tourismus erzielt haben. Auch die Bürokratieentlastung – betrachtet. Aber ich glaube, dass es jetzt sehr wichtig ist, darin sind Sie ja in den letzten Wochen auch eingebunden dass es sich diese Koalition zur Aufgabe gemacht hat, gewesen – ist ein richtig großer Erfolg für unsere Hotel- eine nationale Tourismusstrategie auf den Weg zu bringen iers. Wir haben es geschafft, dass am Empfang, beim und darin einerseits die Herausforderungen in den ver- Check-in, in einem Hotel die Meldescheine nicht mehr schiedenen Bereichen zu beschreiben und andererseits analog ausgefüllt werden müssen, sondern jetzt auch di- zu sagen, was die Politik und die Branche gemeinsam gital ausgefüllt werden können. Das ist ein Erfolg. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15601

Parl. Staatssekretär Thomas Bareiß (A) (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Sie haben sich zehn lich. Wenn die Menschen aber ihren Urlaub verlieren und (C) Jahre Zeit gelassen dafür!) das gezahlte Geld noch dazu, dann wird das Thema nicht vorgezogen, sondern muss weiter in der Schublade Wir reden von 150 Millionen Meldescheinen pro Jahr, die schlafen. Diese Ignoranz, meine Damen und Herren von wegfallen können. der Regierungskoalition, ist genau der Grund, warum ( [CDU/CSU]: 100 Millionen Ihnen bei den Wahlen die Menschen weglaufen. Ersparnis!) Aber gut, Sie haben das Thema der heutigen Debatte Das sind laut Branche 100 Millionen Euro, die die Bran- festgesetzt. Sprechen wir also über die nationale Touris- che einsparen kann. Ich glaube, das ist ein großartiger musstrategie. Die nationale Tourismusstrategie – das wis- Erfolg, der zeigt, dass Bürokratie abgebaut werden kann. sen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Aus- Das gibt einer Branche, die mit den Menschen arbeitet schuss, alle – ist eine unendliche Geschichte. Sie handelt und mit Leidenschaft arbeitet und sich dabei nicht mit von zwei Regierungsparteien, die seit Konstituierung des Bürokratie befassen will, etwas mehr Freiraum. Insofern Bundestages circa fünf Monate gebraucht haben, bis die war das ein ganz wichtiger Baustein. Idee der nationalen Tourismusstrategie im Koalitionsver- trag überhaupt geboren wurde. Danach benötigte man Ich freue mich darüber hinaus, dass wir jetzt in Bezug weitere 15 Monate, bis man gewisse Eckpunkte der na- auf die gewerbesteuerliche Hinzurechnung ein Urteil ha- tionalen Tourismusstrategie zusammengezimmert hatte. ben. Auch das ist ein wichtiges Thema für die Branche, Diese Eckpunkte bestehen und bestanden leider aber das der Branche in den Wochen, in denen wir noch große nur aus Worthülsen mit vielen Handlungsfeldern, aber Themen vor uns haben, langfristige Sicherheit gibt. ohne jeden konkreten Inhalt. Wer jetzt fragt, was in den In diesem Sinne: Dem Tourismus geht es gut. Ich glau- einzelnen Handlungsfeldern konkret geschehen soll, der be, wir haben die Weichen richtig gestellt. Ich freue mich hört dann, dass dies im Rahmen eines breit angelegten jetzt auf die Debatte und auch auf Ihre Vorschläge, die wir Dialogprozesses zwischen Bund, Ländern und der Tou- dann entsprechend einbinden können. rismuswirtschaft geklärt werden muss. Dieser Dialogpro- zess soll jetzt aber nicht etwa in den nächsten Wochen Vielen Dank. abgeschlossen sein, sodass wir dann endlich weiter- arbeiten können, sondern dieser Dialogprozess soll in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- den kommenden Monaten starten. Angesichts dieses ordneten der SPD) Schneckentempos der Bundesregierung haben Union und SPD anscheinend die Geduld verloren und einen Vizepräsident Thomas Oppermann: eigenen Antrag mit immerhin 46 Forderungen an die (B) Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der eigene Regierung formuliert. (D) Kollege Sebastian Münzenmaier für die Fraktion der AfD. (Martin Burkert [SPD]: Der ist stark!) 46 Weckrufe von den eigenen Leuten, Herr Burkert, das (Beifall bei der AfD) ist keine dezente Kritik, das ist eine schallende politische Ohrfeige für die Bundesregierung wegen Untätigkeit im Sebastian Münzenmaier (AfD): Amt. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Bareiß! Sie haben völlig recht: Die (Beifall bei der AfD – Michael Donth [CDU/ Tourismusbranche hat mehr Wertschätzung verdient. CSU]: Nein! Das ist Parlament und Regierung! Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass wir heute Vor- Das ist unsere Aufgabe! Wir sind keine Kader- mittag so ausführlich über Tourismus in diesem Haus partei!) debattieren. Aber, Herr Donth, ich verstehe ja den Versuch der Schade finde ich aber, dass wir die Zeit nicht dafür Koalition. Ich verstehe, dass Sie Ihre eigene Regierung nutzen, über das zu reden, was die Menschen beim Thema antreiben wollen. Tourismus aktuell wirklich bewegt; denn Tausende von (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Also, von Ge- Menschen da draußen wollen aktuell wissen, wie sie ihr waltenteilung haben Sie noch was gehört?) Geld nach der Thomas-Cook-Pleite zurückbekommen. Die Regierungskoalition stellt sich hin und sagt: Wir re- Schauen wir uns deswegen doch mal genauer an, was Sie den lieber über eine unfertige nationale Tourismusstrate- da genau fordern. Als Erstes stellt man fest: Die meisten gie. – Also Möchtegernpläne statt Lösung von realen Sor- Punkte, die Sie fordern, sind so vage wie möglich. Da soll gen. So, meine Damen und Herren von Union und SPD, irgendwas geprüft, irgendwas beigetragen, irgendwas be- kann man auch klarmachen, wie wenig die Regierenden rücksichtigt werden, man soll sich einsetzen usw. Konkret die Probleme der ganz normalen Menschen in diesem wird es leider meistens nicht. Und über das Wie schweigt Land ernst nehmen. sich Ihr Antrag auch weitestgehend aus. Aber ich will nicht übertreiben. Ich wende mich gerne den wenigen (Beifall bei der AfD) konkreten Maßnahmen zu, die Sie in Ihrem Antrag be- nennen. Sie bewegt stattdessen beispielsweise – so steht es in Ihrem Antrag –, dass ein vom Bundesamt für Naturschutz Die Koordinierung der Tourismuspolitik soll zwischen geförderter Praxisleitfaden für Nachhaltigkeit weite- den Ministerien der Bundesregierung verstärkt werden. rentwickelt wird. Das ist Ihrer Meinung nach also dring- Dafür will man einen Staatssekretärsausschuss einrich- 15602 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Sebastian Münzenmaier (A) ten. Das ist eine gute Idee, beseitigt hoffentlich das Zu- mit diesem Verein nicht möglich, weil die Gewähr für (C) ständigkeitsgewirr im Tourismus, das momentan zwi- eine gewissenhafte Geschäftsführung nicht mehr gegeben schen Ihren verschiedenen Ministerien herrscht. Aber, war. Das muss mich schon verwundern, wenn ich über- meine Damen und Herren da draußen an den Bildschir- lege, dass man seit 2010 insgesamt 17 Projekte mit dem men, ich frage Sie einmal. Was denken Sie denn: Welchen Verein „Tourismus für Alle“ durchgeführt hat und man Stellenwert ordnet die Regierungskoalition dieser rein diese Projekte mit rund 900 000 Euro aus Steuermitteln internen Maßnahme der Bundesregierung zu? Ob Sie es gefördert hat. Und jetzt ist es plötzlich nach Ansicht der glauben oder nicht: Das ist die erste Forderung der Koali- Bundesregierung nicht mehr möglich, weil die Gewähr tion zur Ausgestaltung einer nationalen Tourismusstrate- für eine gewissenhafte Geschäftsführung nicht mehr ge- gie. Die wichtigste Forderung der Regierungskoalition an geben ist? die eigene Bundesregierung lautet also: Räum endlich deinen eigenen Laden auf. Meine Damen und Herren, ( [AfD]: Traurig!) das finde ich bemerkenswert. Da ist mehr Aufklärung vonnöten, und ich wundere mich (Beifall bei der AfD) sehr über diese Ansicht. Was will die Koalition sonst noch so im Tourismus? (Beifall bei der AfD – Michael Donth [CDU/ Die Regierungskoalition setzt sich für eine stärkere Nut- CSU]: So ein Verein entwickelt sich weiter! zung der Potenziale der Digitalisierung in der Tourismus- Auch personell! Glauben Sie es nur!) wirtschaft ein. Das klingt sehr gut. Aber wie sieht denn die Realität aus? Vor wenigen Monaten hat meine Frak- Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland, tion einen abgewogenen Antrag zur Digitalisierung der Herr Donth, hat gesagt, mit der Aufgabe des Vereins sei Geltendmachung von Fahr- und Fluggastrechten im eine der wichtigsten Organisationen in diesem Bereich Deutschen Bundestag eingebracht. Für Sie da draußen weggefallen, und er beschuldigt die Bundesregierung, an den Bildschirmen: Wir wollten Ihnen ermöglichen, hierfür die Mitverantwortung zu tragen. Das sind die dass Sie bei einem Zugausfall oder bei einer Flugverspä- Worte des Verbandes, nicht meine. tung schnell und unkompliziert direkt vor Ort Ihre An- sprüche geltend machen können. Sie sehen, meine Damen und Herren: Mit den 46 For- derungen zur Ausgestaltung der nationalen Tourismus- (Martin Burkert [SPD]: Das gibt es!) strategie hat sich die Regierungskoalition ein kleines App und Smartphone statt Papierkrieg pur. Fleißkärtchen verdient. (Martin Burkert [SPD]: Das gibt es!) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Erste Erkenntnis! (B) (D) Glauben Sie, meine Damen und Herren, die Digitalisie- Das erste richtige Wort in Ihrer Rede!) rungsfreunde von Union und SPD haben diesen Antrag Inhaltlich taugen Ihre Forderungen aber nicht wirklich, unterstützt? Natürlich nicht. So viel ist also das Bekennt- um mit ihnen die Rahmenbedingungen für den deutschen nis zur Digitalisierung im Tourismus tatsächlich wert, Tourismus zu verbessern. Unabhängig davon stellt sich meine Damen und Herren. natürlich auch die Frage: Wenn Sie so viel gute Ideen Nächstes Thema. Die Regierungskoalition fordert haben, warum haben Sie die denn in den letzten sechs Maßnahmen für eine intensivere Nutzung des Potenzials Jahren nicht einfach umgesetzt? Schließlich regieren und der Infrastruktur von Heilbädern und Kurorten. Auch Sie schon seit Dezember 2013, oder nicht? Aber wahr- das begrüßen wir; finden wir völlig richtig. Schade ist hier scheinlich darf man bei Ihnen, bei Ihrem Reformtempo nur, dass die Bundesregierung gerade auf eine Kleine An- sowieso nicht allzu viel erwarten. Ich lobe ausdrücklich frage unserer Fraktion erklärt hat, dass sie keine Pläne die Realisierung des digitalen Meldescheins, Herr Bareiß. hat, um die Zahl der Übernachtungen in Heilbädern und Aber man muss dazusagen: Seit den ersten Forderungen Kurorten oder die Länge der Aufenthaltsdauer dort zu 1996 hat es immerhin über 20 Jahre gedauert, bis die fördern. Keine Pläne! Was soll ich daraus lernen? Poli- Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. tiker von Union und SPD fordern im Parlament also etwas Richtiges, während Politiker derselben Parteien in der (Beifall bei der AfD) Bundesregierung öffentlich bekennen, dass sie diesbe- Wenn es in dieser rasanten Geschwindigkeit weiter- züglich völlig planlos sind. Aber das schafft Vertrauen geht, dann, befürchte ich, werden wir für die Verbesse- in Sie alle, meine Damen und Herren, und ich möchte rung von politischen Bedingungen im Deutschland-Tou- gerne noch mit einem weiteren Thema daran anknüpfen. rismus noch eine Weile brauchen. Aber wissen Sie was, Sie fordern, den Ausbau der Barrierefreiheit weiter zu vielleicht werden in der Zukunft auch andere Menschen fördern und die bundesweite Einführung und Weiterent- hier in diesem Haus Verantwortung tragen. wicklung des Zertifizierungssystems „Reisen für Alle“ zu unterstützen. So weit, so gut. Wie passt es jetzt aber dazu, (Gülistan Yüksel [SPD]: Ihr bestimmt nicht!) dass auf eine Kleine Anfrage von mir die Bundesregie- Und ich bin mir sicher: Viele Menschen da draußen wür- rung bekannt hat, dass sie nichts zur Rettung der wich- den das begrüßen. tigsten Selbsthilfeorganisation der Behindertenverbände auf diesem Gebiet, nämlich des Vereins „Tourismus für Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Alle“, unternommen hat. Laut Aussage der Bundesregie- rung war eine weitere projektbezogene Zusammenarbeit (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15603

(A) Vizepräsident Thomas Oppermann: Denn, meine Damen und Herren, Tourismus lebt ge- (C) Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für rade von Weltoffenheit, Gastfreundschaft, Internationali- die Fraktion der SPD die Kollegin Gabi Hiller-Ohm. tät, Aufgeschlossenheit, Hinwendung und Toleranz. Aber das alles, meine Kolleginnen und Kollegen der AfD, passt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht in Ihr politisches Konzept. Deshalb können Sie nie- der CDU/CSU) mals Botschafter für eine gute Tourismuspolitik sein.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein rich- GRÜNEN – Sebastian Münzenmaier [AfD]: tig guter Tag für den Tourismus. Oh Jessas! Können Sie das auch ein bisschen ruhiger?) (Beifall der Abg. Kerstin Vieregge [CDU/ Meine Damen und Herren, wir werden heute festlegen, CSU]) wie die Rahmenbedingungen für den Tourismus in Denn mit unserem gemeinsamen Antrag von SPD und Deutschland auf Bundesebene aussehen sollen. Ich freue Union stellen wir heute Weichen für eine zukunftswei- mich, dass auch die Grünen einen Antrag mit ihren Forde- sende Tourismuspolitik in unserem Land. rungen an eine Tourismusstrategie eingebracht haben. Vieles läuft in die gleiche Richtung. Deshalb bin ich zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versichtlich, dass wir gemeinsam etwas Gutes für den der CDU/CSU – Dr. Marcel Klinge [FDP]: Lei- Tourismus erreichen werden. der eben nicht!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der nationalen Wir haben schon im Koalitionsvertrag eine nationale Tourismusstrategie würdigen wir nicht nur diese wichtige Tourismusstrategie für Deutschland vereinbart. Mit unse- Branche. Wir geben dem Tourismus und insbesondere rem vorliegenden Antrag zeigen wir auf, was wir von den Menschen, die im Tourismus arbeiten, die Aufmerk- dieser Strategie erwarten. Das, liebe Kolleginnen und samkeit, die sie verdienen. In Deutschland sind fast 3 Mil- Kollegen, ist eine richtig große Sache; denn bisher gibt lionen Beschäftigte in der Tourismusbranche tätig. Jeder es auf Bundesebene überhaupt keine Strategie, wie sich fünfzehnte Arbeitsplatz ist im Tourismus angesiedelt. Die der Tourismus in Deutschland entwickeln soll. Wir brin- Branche ist vor allem von kleinen und mittelständischen gen sie erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Unternehmen geprägt. Ihnen wollen wir unter die Arme jetzt auf den Weg. Meine Damen und Herren, das hat greifen bei zukünftigen Herausforderungen wie Digitali- bisher noch keine Koalition geschafft. sierung und demografischem Wandel. Das Tolle ist ja: (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tourismus schafft Arbeitsplätze vor Ort. Deshalb profi- (D) der CDU/CSU) tieren vom Tourismus besonders ländliche Regionen ge- nauso wie kleinere Kommunen und Städte. Tourismus Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, blasen kann also ein richtig starker Wirtschaftsmotor sein. Das heute wieder einmal die Backen mächtig auf. Aber was, ist er ja auch bereits in vielen Regionen, und das soll so so frage ich Sie, haben Sie bisher Positives für den Tou- weitergehen. Gleichzeitig ist Tourismus ein Dienstleis- rismus geleistet? tungssektor und damit, wie kaum eine andere Branche, (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Entschuldigung! Sie geprägt von den Menschen, die dort arbeiten: die Taxifah- regieren doch! Nicht wir! Das kann doch wohl rerin, der Kellner, die Reinigungskraft – sie alle sorgen nicht wahr sein!) dafür, dass Urlaube erholsam und erlebnisreich sind. Sie leisten oft eine knochenschwere Arbeit, häufig auch am Ich gebe Ihnen die Antwort: Das können Sie gar nicht; Wochenende und nach den üblichen Öffnungszeiten, lei- denn dafür stehen Sie sich selbst im Weg. der oft auch unter schweren Arbeitsbedingungen und zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schlechten Löhnen. Deshalb verdient ihre Arbeit die nö- CDU/CSU) tige Anerkennung in Form von guter sozialer Absiche- rung, Einhaltung gesetzlicher Arbeitszeiten und vor allem AfD und Tourismus ist ein Widerspruch in sich. mit angemessenen Löhnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sebastian Münzenmaier der CDU/CSU) [AfD]: Ui! Ui! Ui! – Weiterer Zuruf von der AfD: Das ist unterirdisch, was Sie da sagen!) Nach dem Mindestlohn machen wir jetzt mit der Min- destausbildungsvergütung einen weiteren wichtigen Mit Ihrem Fremdenhass, Ihrer Intoleranz und Ihrer Schritt in die richtige Richtung. Bei der Einführung der Menschenverachtung und mit den unsäglichen Faschisten flächendeckenden Tarifbindung im Gastgewerbe ist nun in Ihren Reihen sind Sie das größte Schreckgespenst für aber auch die Branche gefordert. Dem Fachkräftemangel jede gute Tourismusentwicklung in unserem Land. müssen wir gemeinsam entgegenwirken. Deshalb haben wir in der nationalen Tourismusstrategie die Umsetzung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes verankert. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Sebastian Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir eröff- Münzenmaier [AfD]: Bleiben Sie ruhig und nen dem Tourismus und den Menschen, die dort arbeiten, entspannt, Frau Hiller-Ohm!) echte Zukunftsperspektiven. Menschen machen Touris- 15604 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Gabriele Hiller-Ohm (A) mus. Für sie alle ist die nationale Tourismusstrategie. Wir, Diesen Anspruch verfehlt die Große Koalition in ihrem (C) SPD und CDU/CSU, bringen sie auf den Weg. Deshalb, Antrag gänzlich. liebe Kolleginnen und Kollegen, ist heute ein richtig guter Tag für den Tourismus. (Beifall bei der FDP) Sie haben keine Idee, wohin Sie mit Ihrer Strategie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) überhaupt wollen, keine Leidenschaft, keine Kreativität, dafür unglaublich viele Allgemeinplätze. Würden unsere Vizepräsident Thomas Oppermann: Mittelständler und Familienbetriebe, meine Damen und Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für Herren, genauso plan- und ideenlos arbeiten wie CDU/ die Fraktion der FDP Dr. Marcel Klinge. CSU und SPD – manche sprechen auch vom Karliczek- Syndrom –, dann hätten sie ihren Laden schon längst (Beifall bei der FDP) dichtmachen müssen. Dr. Marcel Klinge (FDP): (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist eine Un- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und verschämtheit!) Kollegen! Die Kollegin Hiller-Ohm sprach gerade davon, Unser Anspruch ist das nicht. dass Sie mit Ihrer Strategie den Unternehmen im Touris- mus unter die Arme greifen würden. Wie wäre es, wenn (Beifall bei der FDP und der AfD) Sie damit anfangen, ihnen nicht ständig neue Knüppel zwischen die Beine zu werfen? Wir Freie Demokraten wollen, dass diese nationale Tou- rismusstrategie für die Branche ein Erfolg wird. (Beifall bei der FDP und der AfD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Martin Burkert [SPD]: Ja, dann macht etwas! Ihr habt nichts gemacht! Null!) Ich wollte heute mit einem Kompliment starten, einem Kompliment an Sie. – Ja, warten Sie einmal. – Dafür müssen wir drei grund- legende Dinge ändern. (Michael Donth [CDU/CSU]: Sag es!) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unerhört ist das!) Es ist schon eine wahre Meisterleistung, wie es die Koali- tion in ihrem Antrag schafft, auf acht Seiten mit 46 Be- Wir wollen erstens die Leistungsträger der Branche, schlusspunkten und mit 3 041 Wörtern dermaßen an den nämlich die kleinen und mittleren Unternehmen, in den Bedürfnissen und Wünschen einer der wichtigsten Wirt- Mittelpunkt dieser Strategie stellen. (B) schaftsbranchen Deutschlands vorbeizureden. Also, das Wir wollen zweitens endlich klare inhaltliche Schwer- (D) muss Ihnen erst einmal einer nachmachen. punkte setzen. Wo sind die denn in Ihrem Antrag? (Beifall bei der FDP) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wir stellen die Ich war kürzlich mit Freunden bei mir daheim im Menschen in den Mittelpunkt!) Schwarzwald etwas trinken, selbstverständlich rein be- Kümmern wir uns doch endlich um die drängenden The- ruflich; denn bei dieser Gelegenheit bin ich mit der Wirtin men der Branche. Das ist zuallererst der existenzbedro- ins Gespräch gekommen, die den Betrieb seit 16 Jahren hende Fachkräftemangel. Ohne ausreichend gutes Perso- führt. Ich habe sie gefragt, was sie von uns in Berlin er- nal können Sie im Tourismus nichts reißen. wartet. Die Antwort war relativ simpel: (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Von der FDP leider gar nichts!) Das ist die erdrückende Bürokratie, die unternehmer- isches Engagement im Tourismus immer schwerer macht Wir sollen nicht so viel schwätzen, sondern endlich ein- und die die Nachfolge in den Betrieben erschwert. Die mal etwas für die kleinen und mittleren Betriebe auf den Zahlen gehen immer weiter zurück. Und das ist die Digi- Weg bringen. – Ich glaube, das ist genau die richtige talisierung, die gerade für die Kleinen eine riesige Chan- Erwartungshaltung an die nationale Tourismusstrategie, ce, aber auch eine riesige Herausforderung zugleich ist. nämlich dass nach Jahren des Stillstands endlich etwas für die Branche getan wird. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja, genau!) (Beifall bei der FDP) Gerade einmal jedes fünfte Hotel in Deutschland kann man online buchen. Da liegt noch richtig viel Arbeit Das hat sie auch verdient. Wir haben die besten Tou- vor uns. Aber Voraussetzung für digitale Angebote ist rismusbetriebe der Welt, die einen grandiosen Job ma- ein funktionierendes Breitband- und Mobilfunknetz, chen: 3 Millionen Beschäftigte, 300 Milliarden Euro Um- und zwar an jeder Milchkanne. satz, eine überdurchschnittliche Ausbildungsquote und eine enorme Standorttreue. Daher ist es für uns Freie (Beifall bei der FDP) Demokraten eine Ehrensache, dass wir diese fleißigen Menschen in ihrer täglichen Arbeit bestmöglich unter- Für uns sind Menschen, die im ländlichen Raum leben, stützen. wie in meinem Wahlkreis, keine Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Die touristisch schönsten Orte, meine Da- (Beifall der Abg. Christine Aschenberg- men und Herren, sind nun einmal die abgelegensten Orte. Dugnus [FDP]) Deswegen hören Sie auf, bei den Lizenzversteigerungen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15605

Dr. Marcel Klinge (A) wie jüngst bei 5G, immer und immer wieder den gleichen Bevor Sie sich hochtrabend mit Strategien beschäfti- (C) Fehler zu machen, gen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, fordere ich Sie auf, beim Thema „gewerbe- (Martin Burkert [SPD]: Mövenpick, sage ich steuerliche Hinzurechnung für Reiseveranstalter“ endlich nur! Mövenpick!) aktiv zu werden. Seit Jahren drücken Sie sich um eine nämlich auf Kosten der Netzabdeckung den letzten Cent politische Lösung und haben es den Gerichten zugescho- aus den Mobilfunkbetreibern herauszupressen. So jeden- ben. Jetzt haben wir seit Sommer ein Urteil für die Bran- falls kommen wir beim Mobilfunk niemals auf einen in- che und seit gestern sogar eine Begründung. Deswegen ternationalen Spitzenplatz. handeln Sie bei diesem wichtigen Thema für die Branche und machen Sie etwas für die kleinen Reiseveranstalter! (Beifall bei der FDP und der AfD) (Beifall bei der FDP) Eine gute Tourismusstrategie – das ist der dritte Punkt, an den wir grundlegend herangehen müssen – darf nicht Meine Damen und Herren, die nationale Tourismus- für sich alleine stehen. Keine Strategie der Welt, mag sie strategie, wie sie die Große Koalition anpackt, wird außer noch so gut sein, kann ihre Wirkung entfalten, wenn sie großen Papierbergen leider keine spürbaren Ergebnisse ständig durch andere Maßnahmen torpediert wird. Doch hervorbringen. Wir Freie Demokraten plädieren deswe- genau das machen Sie am laufenden Band. Nehmen wir gen für einen kompletten Neustart: zurück auf Los, mit das Beispiel Luftverkehrsteuer. Diese wollen Sie nun um klaren inhaltlichen Schwerpunkten, dem Fokus auf dem sage und schreibe 700 Millionen Euro auf fast 2 Milliar- Mittelstand und ordentlich Wumms bei der Umsetzung. den Euro erhöhen. Wir stehen wohl vor der größten Herzlichen Dank. Steuererhöhung in der Geschichte der Reisebranche. (Beifall bei der FDP) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ach Gott!)

Das hat verheerende Folgen. Vizepräsident Thomas Oppermann: (Martin Burkert [SPD]: Das hat gute Folgen!) Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Linksfrak- tion die Kollegin Kerstin Kassner. Der Sommerurlaub für Familien, aber auch Geschäftsrei- sen werden ab April 2020 spürbar teurer. (Beifall bei der LINKEN) (Michael Donth [CDU/CSU]: Und die Mehr- Kerstin Kassner (DIE LINKE): wertsteuer für Fernzüge?) Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und (B) Sie treffen mit Ihrer Politik die fleißige Mitte unserer Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wie stolz (D) Gesellschaft. das klingt: nationale Tourismusstrategie. Ja, es klingt stolz, muss aber auch stolz umgesetzt werden. Dazu be- (Beifall bei der FDP) darf es eines riesigen Aufgebotes an Kraft, Energie und Das Überleben vieler Regionalflughäfen steht ebenfalls Kreativität. Tourismus ist tatsächlich eine Querschnitts- auf der Kippe, weil die Airlines aus gestiegenem Kosten- aufgabe. Nicht nur der Bund beschäftigt sich damit, son- druck Flugverbindungen streichen werden. Auch der dern hier sind alle gefordert: die Länder, die Kommunen. Umsatz von Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften Es ist ganz wichtig, das immer im Auge zu haben; denn wird unter dieser massiven Steuererhöhung leiden. Sie die Kommunen haben eine breite Infrastruktur für den selbst kennen doch die geringen Margen in der Branche. Tourismus aufrechtzuerhalten. Oft wird sie nur sehr ein- geschränkt genutzt. Trotzdem ist sie notwendig, damit Wir als FDP-Fraktion lehnen die Erhöhung der Luft- gerade im ländlichen Raum kleine und mittelständische verkehrsteuer ab, weil sie niemandem hilft, im Übrigen Unternehmen eine Existenzgrundlage haben. Es ist also auch nicht dem Klima. Ein Großteil unseres Flugverkehrs eine sehr vielfältige Aufgabe. ist dem europäischen Emissionshandel unterworfen. Das, was wir jetzt teuer einseitig national sparen, kann an an- (Beifall bei der LINKEN) derer Stelle europäisch mehr verflogen werden. Und ich Es ist aber auch eine Querschnittsaufgabe für unsere habe bis heute nicht verstanden, warum die Koalition Bundesregierung. Ich will ganz deutlich sagen: Ich hätte jüngst Condor einen Kredit von 380 Millionen Euro ge- mir hier mehr Anstrengungen gewünscht. Über dieses währt hat. Wir haben das als FDP-Fraktion unterstützt, Thema wird seit Beginn der Legislatur diskutiert – wir weil wir an die Zukunft der Gesellschaft mit ihren 5 000 als Abgeordnete durften nicht mitwirken –, aber das, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern glauben. Aber ich ver- jetzt vorgelegt wurde, genügt offensichtlich nicht einmal stehe nicht, warum Sie Condor einen Kredit von 380 Mil- den Regierungskoalitionen; denn sie mussten mit eigenen lionen Euro geben und im Gegenzug mit der Erhöhung Vorschlägen nachlegen. Das Gleiche haben die Kollegen der Luftverkehrsteuer das Marktumfeld dieser Airline, von den Grünen und auch wir getan, um das Augenmerk die Sie retten wollen, dermaßen verschlechtern. Das ist auf bestimmte Schwerpunkte zu legen. GroKo-Logik vom Feinsten. Das versteht draußen wirk- lich niemand mehr. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist die Auf- gabe des Parlaments!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Martin Burkert [SPD]: Verkehrswen- Ich wünsche mir, dass man die Vorschläge auch auf- de zugunsten der Schiene!) nimmt und dass man diese Querschnittsaufgabe als solche 15606 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Kerstin Kassner (A) wahrnimmt. Wahrscheinlich ist es nicht richtig, dass das lich: Das ist viel zu wenig. Das widerspricht allen Krite- (C) Thema beim Wirtschaftsministerium angesiedelt ist; denn rien im 29. Jahr der deutschen Einheit. hier geht es nur um Kapitalverwertung, um höher, schnel- ler, weiter. Das alleine wird nicht reichen, um die Branche (Beifall bei der LINKEN – Michael Donth nachhaltig am Markt halten zu können. [CDU/CSU]: Dann müssen da doch auch Kon- zepte kommen! Da sind Sie gefordert! So läuft (Beifall bei der LINKEN) das nicht!) Deshalb sage ich ganz deutlich: Das Thema gehört zentral Deshalb müssen wir uns verstärkt darum bemühen, in angesiedelt im Bundeskanzleramt beim Bundesminister den neuen Bundesländern die Forschungslandschaft und für besondere Aufgaben; denn es sind viele Ministerien auch den Tourismus – eine der wenigen Branchen, die in gefordert. infrastrukturell schwächeren Bereichen boomt und in der Arbeitsplätze vorgehalten werden – zu unterstützen. Das Wir haben das Thema schon aus unterschiedlichen wünsche ich mir. Blickwinkeln betrachtet: Arbeits- und Lebensbedingun- gen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein ganz (Beifall bei der LINKEN) wichtiges Thema. Mit sachgrundlosen Befristungen der Beschäftigten und mit Minijobs wird man nichts dazu Denken Sie einmal daran, wenn Sie morgen mit uns allen beitragen können, dass die Branche attraktiv ist und so 30 Jahre Mauerfall feiern. ein Weg aus dem Fachkräftemangel gefunden wird. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Deshalb sagen wir ganz deutlich: Hier braucht es Verän- derungen im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Vizepräsident Thomas Oppermann: ter. Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Zum Thema Bürokratie. Ich will nur daran erinnern, Kollege Markus Tressel für Bündnis 90/Die Grünen. wie lange wir uns über die Pauschalreiserichtlinie unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halten haben. Man kam nicht zu den richtigen Ergebnis- sen, was zulasten der Reisenden geht. Klar ist: Hier müs- Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen wir ran. Ich will der Bundesregierung mit auf den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- Weg geben: Schauen Sie sich die Besteuerung der Mar- be Kollegin Hiller-Ohm, ob das ein großer Tag für den gen genau an. Auch hier ist ein vernünftiges Augenmaß Tourismusstandort Deutschland wird, wird sich am Ende (B) gefragt, damit wir die Existenz der Reisebüros nicht noch herausstellen, wenn nämlich ausgezählt wird. Das hängt (D) zusätzlich gefährden. Sie haben es in der jetzigen Zeit auch von der Energie ab, die die Bundesregierung in die ohnehin schon sehr schwer. Umsetzung der Maßnahmen, über die wir heute sprechen, (Beifall bei der LINKEN) investiert. Ich mache dahinter erstmal noch drei große Fragezeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein wichtiges Feld ist auch die Mobilität. Hier nutzt es wenig, wenn wir Verbesserung bei der Deutschen Bahn Dennoch ist es ein wichtiges Projekt. Wir haben viele erreichen – das wollen wir auch erst mal sehen –; viel- Regionen in Deutschland, und der Tourismus schafft die mehr muss die Mobilität bis zum letzten Dorf aufrechter- Möglichkeit, all diese Regionen in ihrer Vielfalt bezogen halten werden. Sonst nutzt es uns nichts, und die Urlau- auf ihre Chancen und Herausforderungen zu vereinen, berinnen und Urlauber werden bei der Mobilität weiter wenn man Tourismuspolitik richtig anfasst, wenn man auf ihr eigenes Fahrzeug setzen. Was das bedeutet, liebe es schafft, die Regionen zu stärken, die Wertschöpfung Kolleginnen und Kollegen, das kann ich Ihnen von mei- und Wirtschaftskreisläufe, das Handwerk, die Landwirt- ner Insel erzählen: Trotz der Brücken und neuer schaft und die Kultur zu fördern. Das ist unsere Idee von Schnellstraßen geht nichts mehr, stehen die Menschen der Nationalen Tourismusstrategie. Tourismus ist im bes- stundenlang im Stau und kommen nicht von A nach B. ten Sinne Regionalpolitik, Wirtschaftspolitik, aber auch Also brauchen wir andere Lösungen, und das geht wieder Umweltpolitik, Klimapolitik, Sozialpolitik und vieles nur gemeinsam zwischen Bund, Ländern und den Kom- mehr. Wir erwarten deutlich mehr Nachdruck von dieser munen. Bundesregierung, als sie bisher an den Tag gelegt hat. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich wünschte mir, dass wir noch viel mehr Forschung Eine Nationale Tourismusstrategie bietet durchaus die und Entwicklung betreiben. Das wird uns helfen, nach- Möglichkeit, dem Tourismus in Deutschland die Rah- haltige Antworten zu finden und zu definieren: Was ist menbedingungen zu verschaffen, die unsere regionale Qualitätstourismus? Dafür brauchen wir Geld. Aber es Vielfalt nicht nur erhalten, sondern auch stärken und vo- macht mich schon sehr betroffen, dass von den 4,4 Millio- ranbringen. Tourismus kann Brücken bauen, nicht nur nen Euro, die aus dem Forschungsministerium für Tou- zwischen Menschen und Kulturen – das ist ein ganz wich- rismusforschung zur Verfügung gestellt werden, kaum tiger Punkt –, sondern auch zwischen Stadt und Land, etwas in den Osten geht. Nicht 30 Prozent, nicht 20 Pro- zwischen Reisenden und der Umwelt, die sie besuchen. zent, nicht 10 Prozent dieser Summe gehen in den Osten, Wir müssen diese Chance ergreifen, wenn wir einen zu- sondern nur 2 Prozent. 2 Prozent gehen nach Wismar für kunftsfähigen Tourismusstandort haben wollen. Das gilt ein Forschungsprojekt im Tourismus. Ich sage ganz deut- auch für die Erschließung touristischer Regionen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15607

Markus Tressel (A) Erst vorgestern stand in der „FAZ“, dass in den Alpen Thema adressieren. Das haben wir in unserem Antrag (C) in Österreich zwei Skigebiete zusammengelegt werden sehr deutlich gesagt. sollen, und zwar unter massiven Eingriffen in die Natur. Drei neue Seilbahnen, ein Skitunnel, ein betoniertes Was- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) serreservoir und eine Gipfelstation für Tausende Gäste Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schwelle, an der sollen dort errichtet werden. Ein Gipfel soll dafür tatsäch- die Touristik in Deutschland steht, ist ohne Grundlagen- lich gesprengt werden. Das sei entscheidend, so die forschung – das ist zuletzt von der Kollegin Kassner ge- „FAZ“, um eine möglichst große Anzahl an zusammen- sagt worden – nicht vernünftig zu überqueren. Die Tou- hängenden Pistenkilometern aufbieten zu können, dann rismusbranche hat über alle Bereiche hinweg 2018 kämen mehr Skifahrer. 8,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland erwirtschaftet. Wir haben mal abgefragt, wie hoch denn Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten der Anteil der bezuschussten Forschungsvorhaben ist: Damen und Herren, wir wissen, dass die alpinen Glet- 0,022 Prozent der Forschungsmittel in Deutschland ge- scher schmelzen. Wir wissen, dass der Klimawandel in hen in den Tourismusbereich. Diese beiden Zahlen – den Alpen mit einem viel höheren Tempo voranschreitet 0,022 Prozent der Forschungsmittel und 8,6 Prozent am als woanders. Wir wissen, dass es jetzt schon zu erhöhten Bruttoinlandsprodukt – zeigen ein krasses Missverhältnis Risiken kommt; damit meine ich Lawinen, Steinschläge, auf. Da müssen wir ran, wie in vielen anderen Bereichen Starkregen und Hochwasser. Wir wissen auch, dass sich auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. die Bergwelt verändern wird. Deswegen ist das, was wir gerade bei unseren Nachbarn in Österreich sehen – das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muss man so deutlich sagen –, genau die falsche Heran- gehensweise an die Frage, wie wir Tourismuspolitik in Der Meldeschein ist angesprochen worden. Wir hätten der Zukunft gestalten wollen. uns gewünscht, dass der Meldeschein komplett abge- schafft wird. Der Bundeswirtschaftsminister hat im Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schuss deutlich gesagt, dass das die nächste Stufe sein wird. Ich frage mich, warum Sie das nicht direkt gemacht Immer größer, höher, weiter, schneller – man darf haben. Kollege Lehrieder hat eben reingerufen: „100 Mil- Zweifel haben, dass die Reisenden dies derzeit und auch lionen Bürokratieersparnis!“ Sie hätten noch viel mehr in den kommenden Jahren wollen und dass es am Ende – Bürokratieersparnis haben können, wenn Sie dem Antrag und das ist das Wichtigste – dem Standort nutzt. Deswe- der Grünen gefolgt wären und den Meldeschein komplett gen brauchen wir auch in Deutschland eine Grundlage, abgeschafft hätten, liebe Kolleginnen und Kollegen von auf der wir Pläne für die Zukunft machen können. Wir der Koalition. brauchen bessere Analysen, nicht nur in den Alpen, son- (B) (D) dern überall. Wir benötigen Klimawandelanpassungsstra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tegien für die unterschiedlichen Regionen; denn schmelz- ende Gletscher können wir nicht einfach ignorieren, Ein Themenbereich, der uns dieser Tage ganz wichtig genauso wenig wie wir Starkregen in Berlin oder ausge- ist, ist der Verbraucherschutz. Wir haben gesehen, dass trocknete Flüsse im Rheinland ignorieren können. Hier das kein Nebenaspekt ist. Wir haben gelernt, dass auch brauchen wir mehr Ambitionen bei der Bundesregierung, das in einer nationalen Tourismusstrategie eine große liebe Kolleginnen und Kollegen. Rolle spielen muss. Jetzt geht es um die Frage: Wie können wir konkrete (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Projekte auf die Schiene setzen? Da erwarte ich mehr Wir wollen die Förderung sanfter Tourismusprojekte, Nachdruck von dieser Bundesregierung. Wir haben einen die sich zentral an Umwelt- und Klimaschutz orientieren. Antrag vorgelegt, der viele konkrete Projekte auflistet. Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bundesregierung Ich bitte um Ihre Zustimmung für unseren Antrag. dieser Verantwortung bei der Erarbeitung der Aktions- pläne tatsächlich stellt. Sie können jetzt die Richtung vor- Herzlichen Dank. geben, in die der Tourismusstandort Deutschland gehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird. Ich hoffe, dass das Thema Klimaschutz einen höhe- ren Stellenwert hat als in Ihrem sonstigen Handeln. Vizepräsident Thomas Oppermann: Wir haben die Aufgaben in der Digitalisierung zu be- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin werkstelligen und touristische Mobilität zu verbessern. Astrid Damerow für die Fraktion der CDU/CSU. Es ist Aufgabe der Politik – es ist angesprochen worden –, die kleinen und mittelständischen Betriebe zu unterstüt- (Beifall bei der CDU/CSU) zen und zu fördern. Die Nationale Tourismusstrategie muss Angebote für alle Aspekte der touristischen Ent- Astrid Damerow (CDU/CSU): wicklung machen. Wir brauchen konkrete Lösungen. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Herausforderungen sind bekannt. Tourismus – das ist hier schon gesagt worden – ist ein Wirtschaftszweig, der für ganz Deutschland, egal ob Ost Der Kollege Klinge hat das Thema Fachkräfte ange- oder West, Nord oder Süd, Stadt oder Land, gleicherma- sprochen. Wir haben eine hohe Ausbildungsquote, aber ßen bedeutend ist. auch die höchste Quote aufgelöster Ausbildungsverhält- nisse in dieser Branche. Das hat auch etwas mit Arbeits- Die Konsumausgaben von Touristen aus dem In- und bedingungen zu tun. Deswegen müssen wir auch dieses Ausland betragen jährlich 290 Milliarden Euro. Davon 15608 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Astrid Damerow (A) profitieren nicht nur Hotels, die Gastronomie oder Reise- Probleme – bereits intensiv dabei ist, zu Verbesserungen (C) verkehrsunternehmen, sondern auch andere Branchen zu kommen, um umweltverträglicher agieren zu können. wie das Handwerk, Einzelhändler oder auch die Gesund- heitswirtschaft. Mit weiteren 76 Milliarden Euro Wert- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schöpfung werden so fast 1,3 Millionen weitere Arbeits- Auch regional hat sich bereits viel getan. In Sachsen plätze gesichert. arbeitet beispielsweise der Tourismusverband Sächsische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schweiz an einer Nachhaltigkeitsstrategie, um die Be- dürfnisse der Gäste und der lokalen Bevölkerung mit Vor allem strukturschwache Regionen profitieren vom dem Naturschutz zu vereinen. Tourismus. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregie- rung eine nationale Tourismusstrategie erarbeitet – das (Michael Donth [CDU/CSU]: Dank Klaus erste Mal; auch das ist heute hier schon erwähnt worden. Brähmig!) (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) In meinem Wahlkreis wird seit Jahren klimafreundliche Mobilität für die Touristen gefördert. Unsere Regionen Im Tourismus wirbt jede Region mit ihren eigenen arbeiten schon seit Langem an einem umweltverträgli- Besonderheiten. Zahlreiche Branchen beschäftigen sich chen Tourismus in ihrem jeweiligen Umfeld. Auf allen direkt oder indirekt mit dem Tourismus. Es ist gut und diesen Beispielen sollten wir in Zukunft aufbauen. richtig, dass die Bundesregierung mit allen Beteiligten einen intensiven Dialog über die Eckpunkte der Touris- Verehrte Damen und Herren, ich wünsche mir ein gast- musstrategie führt. Ich danke dem Staatssekretär Thomas freundliches Deutschland, das ausländische Gäste gern Bareiß ausdrücklich, dass er sich die Zeit dafür nimmt. empfängt. Deshalb fördern wir weiterhin die Deutsche Denn erstens muss eine solche Strategie Akzeptanz fin- Zentrale für Tourismus. Ich wünsche mir aber auch ein den, und zweitens muss sie gemeinsam mit den Akteuren weltoffenes Deutschland, in dem Touristen sich sicher erarbeitet werden. Das kann nicht von oben nach unten und willkommen fühlen. Das, meine Damen und Herren, gehen. Solche Dinge, Herr Kollege Klinge, fordern eben ist nicht allein eine Frage von mehr Polizei oder gar von ihre Zeit. Abschottung. Das ist eine Frage von Haltung. Das geht uns alle an. (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Aber Sie wissen schon, dass die Legislatur in zwei Jahren vorbei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist! Spätestens!) der SPD) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung be- In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Diskus- (B) kennt sich zu den Nachhaltigkeitszielen der Agenda sion im Ausschuss, bedanke mich nochmals bei der Bun- (D) 2030 der Vereinten Nationen, und wir diskutieren die desregierung, dass sie uns in diesen Prozess sehr stark Umsetzung des Klimapakets der Bundesregierung. All einbindet. Ich bin mir sehr sicher, dass wir auch in Zu- dies findet seinen Niederschlag in unserem Antrag. kunft hier noch einiges beitragen können. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir, Den Antrag der Grünen werden wir ablehnen, da sich wenn wir Touristen haben wollen, auch die Mobilität si- weite Teile dessen bereits in unserem Antrag wiederfin- cherstellen müssen. Und wir sichern die Attraktivität des den. Reiselandes Deutschland nicht dadurch, dass wir Reisen per Auto, Flugzeug oder Kreuzfahrtschiff negativ bele- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. gen. Vielmehr müssen Flugreisen und Kreuzfahrten auch in Zukunft dazugehören. Es muss darum gehen, Mobilität (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Wirtschaftswachstum nachhaltig und umweltverträg- der SPD) lich zusammenzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Thomas Oppermann: Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Wir müssen hier durch Forschung und Entwicklung si- Kollegin Gülistan Yüksel für die Fraktion der SPD. cherstellen, dass wir einen klimaneutralen und nachhalti- gen Flugverkehr und Kreuzfahrttourismus ermöglichen. (Beifall bei der SPD) Im Übrigen wird an beidem bereits intensiv gearbeitet. Ich finde es wichtig, dass wir in unserer Diskussion Gülistan Yüksel (SPD): nicht hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Wenn ich Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und mir anschaue, was in den diversen Tourismusbereichen Herren auf den Tribünen und vor den Bildschirmen! Lie- getan wird, dann stelle ich fest, dass man dort schon be Kolleginnen und Kollegen! Sie haben die Zahlen ge- weiter ist. Der Bundesverband DEHOGA beispielsweise hört. Immer mehr Menschen reisen. Sie erleben nicht nur hat eine Energiekampagne gestartet, die von vielen Be- neue Kulturen und Landschaften, sondern unterstützen trieben genutzt wird. Der Bundesverband der Deutschen auch die regionale Wirtschaft und Infrastruktur. So för- Tourismuswirtschaft engagiert sich für klima- und um- dert Tourismus die Völkerverständigung und die ökono- weltfreundlichen Tourismus, wie beim letzten Touris- mische Entwicklung. Aber so viele positive Aspekte das musgipfel ganz deutlich geworden ist. Ich will hier ein- Reisen auch hat, es trägt zur menschengemachten Klima- mal betonen, dass auch die Kreuzfahrtbranche – natürlich schädigung bei. Wir alle, die wir reisen, sei es beruflich ist das alles nicht nur schön, Kreuzfahrten schaffen auch oder privat, sind somit Teil des Problems. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15609

Gülistan Yüksel (A) Mit einem ganz ähnlichen Eingeständnis begann der stattfindet, wenn er zu lokalem Wohlstand und Gleich- (C) Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber seine Rede berechtigung beiträgt und wenn er kommende Generatio- auf dem Tourismusgipfel des Bundesverbandes der Deut- nen berücksichtigt. Die 46 Punkte in unserem Antrag schen Tourismuswirtschaft. Der Gründer des Potsdam- tragen dazu bei. Wenn manch einer kritisiert, es seien Instituts für Klimafolgenforschung war eingeladen, um zu viele, dann kann ich nur sagen: Schade, dass Sie von der Branche ihre doppelte Herausforderung aufzuzeigen: der AfD und Sie, Herr Kollege Klinge von der FDP, gar Tourismus lebt von seinen Reisenden und ist angewiesen keine Ideen haben. auf eine intakte Natur, zerstört aber als ein Treiber des Klimawandels ebendiese. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Marcel Klinge [FDP]: Wir haben Anfang des Jahres Die nationale Tourismusstrategie wird diese doppelte einen umfangreichen Antrag vorgelegt! Den und globale Herausforderung natürlich nicht alleine lösen haben Sie doch! Also, das ist doch Quatsch, können. Hier bedarf es auf nationaler und internationaler was Sie erzählen! Anfang des Jahres! Ist Ihr Ebene Anstrengungen von beiden Seiten, der Regierun- Gedächtnis so kurz? Das kann doch nicht wahr gen, aber auch der Branche und jedes Einzelnen; denn nur sein! Wir sind ein bisschen schneller als Sie wenn alle an einem Strang ziehen, können wir unsere gewesen, Frau Kollegin!) Erde für künftige Generationen erhalten. Wir haben in unserem Antrag 46 Projekte und Initiativen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die den Tourismus in Deutschland und der Welt nachhal- CDU/CSU) tig weiterentwickeln und gestalten werden. Eine Herausforderung ist, mit neuen Technologien und (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Die müssen Standards dem Klimawandel entgegenzuwirken. Mit dem wohl bei Ihnen unter den Tisch gefallen sein, Klimapaket leisten wir bereits jetzt einen wichtigen Bei- die ganzen anderen Anträge!) trag. Förderung von umweltfreundlichen Initiativen, Ent- Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen wicklung von CO2-armen Technologien sowie gesetzli- und Herren, neben diesen wichtigen Einzelmaßnahmen che Anreize für Investitionen im Bereich Nachhaltigkeit ist es aber auch wichtig, die ursprüngliche Bedeutung werden uns in allen Lebensbereichen begleiten, selbstver- des Tourismus wiederzubeleben: die Begegnung mit ständlich auch im Tourismus. Nur unter der Prämisse der Menschen und Kulturen. umfassenden Nachhaltigkeit ist touristisches Wachstum überhaupt wünschenswert und zukunftsfähig. Genau des- Vielen Dank und ein schönes Wochenende. halb wollen wir Tourismusförderung im Sinne der Agen- da 2030 konsequent gestalten. (Beifall bei der SPD) (B) (D) Sehr geehrte Damen und Herren, nach Deutschland Vizepräsident Thomas Oppermann: kommen viele Touristen auch wegen der einzigartigen Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Landschaft und Kultur, die wir gerade in ländlichen Re- der CDU/CSU der Kollege Michael Donth. gionen häufig finden. Sie erinnern sich vielleicht an mei- ne Werbung für den Bayerischen Wald in der letzten Sit- (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder zungswoche. [CDU/CSU]: Guter Mann!)

(Michael Donth [CDU/CSU]: Ja!) Michael Donth (CDU/CSU): Für uns bedeutet Nachhaltigkeit aber nicht nur Klima- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schutz, sondern auch soziale und ökonomische Nachhal- Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Gestern ver- tigkeit. Darunter verstehen wir faire Löhne, gute Arbeits- öffentlichte der Bundesfinanzhof sein Urteil zu der ge- und Ausbildungsbedingungen sowie eine gute soziale werbesteuerlichen Hinzurechnung bei der Überlassung Absicherung; Frau Hiller-Ohm ist eben darauf eingegan- von Hotelzimmern an Reiseveranstalter, der sogenannten gen. Bettensteuer. Im Gegensatz zur Auffassung von Bundes- finanzministerium und den Finanzverwaltungen aller Wir fordern in unserem Antrag unter anderem, den Länder entschied der Bundesfinanzhof im Sinne der Rei- Bundeswettbewerb „Nachhaltige Tourismusdestinatio- severanstalter und auch ganz im Sinne von uns Tourismu- nen in Deutschland“ wieder aufzunehmen und den Pra- spolitikern xisleitfaden für Nachhaltigkeit im Deutschlandtourismus weiterzuentwickeln. Neben der Förderung dieser Projekte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verbessern wir zudem die Anbindung touristischer Ziele und lehnte eine Hinzurechnung der vermieteten Hotel- durch die Bahn; mein Kollege Martin Burkert wird nach- zimmer bei der Gewerbesteuer ab. her näher darauf eingehen. (Roman Müller-Böhm [FDP]: Das war doch Wir fördern aber nicht nur Projekte in Deutschland, nicht Ihr Erfolg!) sondern auch in Entwicklungsländern. So ermöglichen wir, dass Tourismus mit guter Ausbildung, der Beteili- Ich freue mich sehr über diesen Erfolg und die Klarheit gung der lokalen Bevölkerung sowie mit dem Schutz für unsere Reisebranche. Über deren Haupt schwebte die- der natürlichen Ressourcen einhergeht. ses Damoklesschwert seit über einem Jahrzehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tourismus ist nach- (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Ein Jahrzehnt zu haltig, wenn er nicht auf Kosten der Umwelt und Natur viel!) 15610 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Michael Donth (A) Es ist jetzt nötig, dass das Bundesfinanzministerium, Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) Staatssekretärin Hagedorn, dieses Urteil schnellstmög- Dr. Marcel Klinge [FDP]) lich für allgemeingültig erklärt und im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Der Bund stellt sich mit dieser nationalen Tourismus- strategie, über die wir heute debattieren, seiner Verant- (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Ja, dann set- wortung als wichtiger Partner für den Tourismus. Für zen Sie es doch um!) diesen braucht es auch gute und verlässliche Verkehrsver- bindungen sowie eine hervorragende Infrastruktur; da- Also, insgesamt eine gute Woche für die Reisebranche! rauf wird mein Kollege Martin Burkert gleich noch ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tieft eingehen. Diese Infrastruktur kommt eben auch der einheimischen Bevölkerung zugute. Dabei achten wir auf Aber jetzt zur Tourismusstrategie. Deutschland ist ein die größtmögliche Schonung und Bewahrung von Natur Industrieland. Deutschland ist aber auch ein Urlaubsland und Umwelt, ein wichtiger Aspekt in unserem Deutsch- für Gäste aus dem Ausland, aber auch aus dem Inland. landtourismus, und das nicht erst seit dem Klimaschutz- Gerade wir, die Reiseweltmeister, entdecken zunehmend paket. wieder, dass auch unser eigenes Land eine Vielfalt bietet, die ihresgleichen sucht. Wir entdecken unser eigenes Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit allen Be- Land gerade neu. teiligten an der nationalen Tourismusstrategie. Wenn wir von Tourismus in Deutschland sprechen, Herzlichen Dank. sprechen wir von Qualitätstourismus. Wir wollen den Tourismus stärken – das bringt Lebensqualität für Ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- heimische und für Gäste –, einen Tourismus, der im Ein- ordneten der SPD) klang mit der Natur und Kultur steht und nebenher auch das Deutschlandbild im Ausland positiv prägt. Vizepräsident Thomas Oppermann: (Beifall bei der CDU/CSU) Nächster Redner ist der schon angekündigte Kollege Martin Burkert für die Fraktion der SPD. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch von mir an den Tourismusbeauftragten der Bundesregierung, (Beifall bei der SPD) Thomas Bareiß, der sein wichtiges Amt mit großem En- gagement ausfüllt. Martin Burkert (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- (B) Der Tourismus in Deutschland ist eine vielfach unter- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Ankündi- (D) schätzte Größe in unserer Wirtschaft: 3 Millionen Ar- gung erhöht die Erwartungshaltung. Aber man muss in beitsplätze, mehr als im Maschinenbau, und ein Umsatz der Tat etwas zum Verkehr sagen, denn der nachhaltige von 290 Milliarden Euro. Die Tourismusbranche boomt Tourismus in Deutschland braucht eine leistungsfähige in unseren hochattraktiven Städten. Das ist das eine. Der und zuverlässige Verkehrsinfrastruktur. Das gilt natürlich Tourismus bietet aber vor allem – das ist das andere – insbesondere für die Schiene. Chancen für den ländlichen Raum: Chancen für Arbeits- Gerade touristische Ziele – das haben wir heute schon plätze, Chancen für Wertschöpfung, Chancen für Einrich- gehört – in ländlichen Gebieten benötigen eine gute An- tungen vor Ort, die nicht nur den Gästen, sondern auch bindung mit der Bahn. Ich freue mich, dass die Bundes- den Einheimischen zur Verfügung stehen. regierung die Bedeutung des Verkehrs jetzt auch in ihrem Ich erinnere mich gerne an meine Zeit als Bürger- Eckpunktepapier anerkannt hat. Herr Bareiß, ich sage meister der Gemeinde Römerstein auf der Schwäbischen aber auch: Das reicht noch nicht aus. Ich hoffe, Sie und Alb zurück. Dort haben wir als Gemeinde die Zeichen der Ihr Haus lesen die 46 Punkte und auch die verkehrspoliti- Zeit früh erkannt und das Biosphärengebiet Schwäbische schen Maßnahmen unseres gemeinsamen Antrags: Alb, auch aus touristischen Motiven, mitbegründet. Man- Erstens: die Umsetzung des Deutschland-Taktes, ein cher Landgasthof überlebt nur deshalb, weil dort eben Zielfahrplan für den Nah- und Fernverkehr in unserem nicht nur die Einheimischen, lieber Marcel, zum Stamm- Land. Jede Stunde zur selben Minute sollen Züge fahren tisch einkehren, sondern weil auch noch Tagestouristen und die Fahrpläne aller Verbindungen aufeinander abge- zum Mittagessen vorbeikommen. Deshalb müssen wir stimmt werden. dafür sorgen, dass die Gastronomen ihre Arbeit tun kön- nen. Dazu braucht es mehr Flexibilität, vor allem bei der (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das wäre schön!) Arbeitszeit. Davon profitiert dann der Tourismus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) (Frank Sitta [FDP]: Und der Wettbewerb!) Tourismus wird in Deutschland von den Städten, Ge- Im Übrigen soll darauf auch der daran angegliederte meinden und Ländern, aber vor allem auch von privaten ÖPNV abgestimmt werden. Mit dem Deutschland-Takt Akteuren vor Ort gemacht. Der Bund dagegen kümmert entsteht auf dem Land eine Vielzahl neuer, vor allem sich mit der DZT schwerpunktmäßig um die Werbung für besserer Reiseverbindungen als heute. Es wird kürzere Deutschland im Ausland, übrigens sehr erfolgreich. Ein Reisezeiten geben. Es wird bessere Umstiegsmöglichkei- herzliches Dankeschön an Frau Hedorfer und ihr Team. ten geben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15611

Martin Burkert (A) Zu der von der FDP angesprochenen Kritik: Natürlich Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) haben wir auch Regionen, die noch nicht an die Schiene Herr Kollege, aber ein kurzer Schluss, weil Sie schon angebunden sind. über Ihre Redezeit sind. (Dr. Marcel Klinge [FDP]: Ich habe vom Mo- bilfunk gesprochen, nicht von der Schiene, Martin Burkert (SPD): Herr Kollege! Vom Mobilfunk, bitte!) Frau Präsidentin, ganz kurz. – Lieber Kollege Donth, wir brauchen nicht mehr Flexibilisierung im Tourismus- Ein Blick in den Bundesverkehrswegeplan und in unseren gewerbe. Wir brauchen gute Arbeitsbedingungen und gu- Antrag zeigt, dass wir im Flächennetz etwas tun, dass wir te Löhne. mit dem Deutschland-Takt schnellere Fernregionallinien Vielen Dank. einrichten. Davon profitieren auch die ländlichen Regio- nen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Ich will einen zweiten Punkt nennen; da geht es um die Vizepräsidentin Claudia Roth: schnellere Umsetzung von verkehrspolitischen Planungs- Vielen Dank, Martin Burkert. – Ihnen allen einen vorhaben. Wenn wir wollen, dass Deutschland als Tou- schönen Tag von mir! – Die letzte Rednerin in der De- rismusstandort stärker wird, müssen wir künftig mehr batte: Kerstin Vieregge für die CDU/CSU-Fraktion. Verkehrsvorhaben umsetzen, die für den Tourismus von Bedeutung sind. Dazu zählen auch die touristischen Rad- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wege – über die noch niemand heute hier gesprochen hat – ordneten der SPD) wie das Radnetz Deutschland. Mit 11 700 Kilometern Netzlänge und zwölf sogenannten Premium-Radrouten Kerstin Vieregge (CDU/CSU): durch ganz Deutschland ist das neue Radnetz für Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrte Deutschland eine der wichtigsten touristischen Attraktio- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen unseres Landes. Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich dafür bedanken, dass wir zu dieser schönen Uhrzeit debattieren; Auch der öffentliche Nahverkehr muss für den Touris- denn so bekommt die nationale Tourismusstrategie, die mus besser werden. Deshalb fordern wir – darauf haben wirklich supergut ist, den Stellenwert, den sie auch ver- wir uns verständigt; da danke ich ausdrücklich auch der dient. (B) Union –, dass die Einführung eines bundesweiten Touris- (D) mustickets im öffentlichen Personennahverkehr und im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Schienenpersonennahverkehr in Zusammenarbeit mit ordneten der SPD) den Verkehrs- und Tourismusverbänden von Ihnen und Bei der Ausgestaltung der Strategie war es mir beson- Ihrem Ministerium, Herr Bareiß, geprüft wird. ders wichtig, dass das Kur- und Heilbäderwesen mit in die Strategie aufgenommen wurde. Die mehr als 350 Heil- Wissen Sie, wie die Halbierung der Schienenmaut im bäder und Kurorte in Deutschland sind wichtige Stand- Schienengüterverkehr zustande gekommen ist? In enger orte für Gesundheitsdienstleistungen und spielen mit rund Zusammenarbeit an einem runden Tisch hat man am Ende 25 Prozent der Gästeübernachtungen eine bedeutende beschlossen, dass der Güterverkehr auf der Schiene heute Rolle für den Tourismus in Deutschland. Sie sind die die Hälfte zahlen muss. Das ist richtig, damit der Lkw- Kompetenzzentren in allen Fragen rund um Gesundheit Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wird. und Prävention und bieten auch für die einheimische Be- Deswegen: Machen Sie das. völkerung eine wichtige medizinische und wirtschaftli- Noch etwas zum Antrag der Grünen. Eigentlich hätten che Infrastruktur. Wir benötigen eine Bäderoffensive, in Sie ihn zurückziehen können. der wir Tourismus, Gesundheitsdienstleistungen und Inf- rastrukturprojekte bündeln, um insbesondere struktur- (Lachen des Abg. Markus Tressel [BÜND- schwachen Regionen, die reich an kostbarem Naturraum NIS 90/DIE GRÜNEN]) sind, dabei zu helfen, eine selbsttragende Wirtschafts- struktur aufzubauen. Wir führen Gespräche, damit wir – Ja. – Sie fordern die Senkung der Mehrwertsteuer auf eine Datenbasis für Kur- und Heilbäder erhalten, damit Bahnfahrkarten: Das ist im Bundeskabinett bereits be- das Angebot gerade im ländlichen Raum besser zugäng- schlossen. Es wird umgesetzt, lich ist.

(Dr. Marcel Klinge [FDP]: Was ist mit dem Meine Heimat Lippe in Nordrhein-Westfalen ist ein FlixBus? – Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/ positives Beispiel dafür, wie die gesamte Region des Teu- DIE GRÜNEN]: Kabinett ja! – Markus Tressel toburger Waldes durch die Heil- und Kurbäder sowie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit durch Tourismusmarketing profitiert. Als Mittelgebirgs- den 50 anderen Punkten?) region im ländlichen Raum setzen wir mit Erfolg auf eine Kombination aus Qualitäts- und Aktivurlaub. Wandern und auch andere Dinge sind von uns geplant. und Radfahren in Abwechslung zu medizinischen Dienst- leistungen und Wellnessangeboten in den Kur- und Heil- Zum Schluss will ich noch was sagen. bädern sowie ein interessantes kulturelles Angebot lassen 15612 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Kerstin Vieregge (A) den Urlaub auf dem Land zu einem besonderen Erlebnis strategie den Standort Deutschland weiter stärken“. Wer (C) werden. stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- gegen? – Wer enthält sich? – Enthaltungen sehe ich nicht. Die veränderten Werbe- und Buchungsmöglichkeiten Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustim- im Zuge der Digitalisierung sind zugleich Chance und mung von SPD, CDU/CSU und gegen die Stimmen der Risiko für die Tourismusbranche. Noch nie war es ein- Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und facher, als kleine Region oder Nischenanbieter Aufmerk- AfD. samkeit zu erhalten. So ist beispielsweise die Nachfrage nach Urlaub auf dem Bauernhof auf dem Höchststand. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Aber mit jeder Buchung oder mit jeder Werbung über fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- die neuen, global agierenden Portale geht ein Teil der tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11152 Wertschöpfung in der Region und oftmals auch in mit dem Titel „Nationale Tourismusstrategie fair, sozial, Deutschland verloren. Die Sharing Economy bietet viel ökologisch und klimafreundlich gestalten“. Wer stimmt Potenzial. Wir müssen aber Maßnahmen zum Abbau von für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wettbewerbsverzerrungen gegenüber traditionellen An- Wer enthält sich? – Keine Enthaltungen. Zugestimmt ha- bietern prüfen, damit wir keine Zweiklassengesellschaft ben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD. in der Tourismusbranche erhalten; denn es darf nicht sein, Dagegengestimmt haben die Fraktionen Bündnis 90/Die dass der traditionelle, ordentliche Beherbergungsbetrieb Grünen und Die Linke. Damit ist die Beschlussempfeh- bzw. Unterkunftssektor einen Nachteil erfährt, weil er lung angenommen. sich an die Spielregeln hält – im Gegensatz zu vielen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: privaten Angeboten, die insbesondere in den Großstädten noch zusätzlich die Wohnraumproblematik verschärfen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Kirsten Kappert-Gonther, weiterer Abgeord- Zum Ende meiner Rede möchte ich den vielen ehren- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- amtlich tätigen Helferinnen und Helfern danken, ohne die NEN unsere Gemeinden nicht so schön erblühen würden, un- Die Pflegeversicherung verlässlich und solida- sere Wanderwege nicht so sicher zu begehen wären und risch gestalten – Die doppelte Pflegegarantie unsere Tourismusstruktur so nicht möglich wäre. Dafür umsetzen ein ganz, ganz großes Lob und Dankeschön! Drucksache 19/14827 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) ordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Wir werden ihr Engagement weiter unterstützen und för- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen dern. Haushaltsausschuss Sehr geehrte Damen und Herren, die nationale Touris- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die musstrategie hat die Herausforderungen der Branche prä- Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich kei- zise beschrieben, und sie hat teilweise bereits Lösungs- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wege aufgezeigt. Lassen Sie uns den Rahmen setzen für Wenn die Kolleginnen und Kollegen Platz genommen eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus in Deutsch- haben, eröffne ich die Aussprache. land – klimabewusst, digital kompetent, wirtschaftlich relevant und gesellschaftlich verantwortlich. Denn dann Das Wort hat Kordula Schulz-Asche für die Fraktion können wir im internationalen Wettbewerb bestehen und Bündnis 90/Die Grünen. mit Vorbildfunktion einen modernen, barrierefreien Qua- litätstourismus verbessern, der das größte Kapital unseres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Landes in den Vordergrund stellt: unsere Landschaft, Tra- dition und Bewohner. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Danke schön. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Men- schen, die in unserem Land auf Pflege angewiesen sind, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und ihre Familien brauchen dringend Hilfe. Wenn wir ordneten der SPD) wollen, dass gute Pflege heute und in den nächsten Jahr- zehnten möglich ist und möglich bleibt, dann müssen wir Vizepräsidentin Claudia Roth: die Pflegeversicherung jetzt reformieren. Vielen Dank, Kerstin Vieregge. – Damit schließe ich die Aussprache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wo sind die Probleme? Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksa- Erstens. In Pflegeheimen erhalten die Menschen Pfle- che 19/14163. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a gesachleistungen entsprechend ihrem Pflegegrad. Aber seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags diese Leistungen decken nicht die gesamten Pflegekosten der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa- ab, sodass ein Pflegeeigenanteil zu zahlen ist. Dieser Ei- che 19/11088 mit dem Titel „Mit nationaler Tourismus- genanteil steigt seit Jahren beständig an und liegt zurzeit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15613

Kordula Schulz-Asche (A) bei rund 690 Euro im Monat, mit weiter steigender Ten- versuchen müssen, die durch den demografischen Wandel (C) denz. Die längst überfälligen Gehaltssteigerungen für die auftretenden Probleme, die seit 30 Jahren und länger ab- Pflegefachkräfte, für jede Qualitätsverbesserung in der sehbar waren, zu lösen. Dafür muss dieses Haus, müssen Pflege: Alles geht zurzeit ausschließlich zulasten der pfle- die Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause gebedürftigen Menschen und ihrer Familien. Die Men- zusammenhalten. Ich weiß, dass es auch andere Fraktio- schen, die die ständig steigenden Eigenanteile nicht mehr nen in diesem Hause gibt, die an einem ähnlichen Modell bezahlen können, fallen in die Sozialhilfe, in die Hilfe zur arbeiten. Ich weiß auch, dass unser Modell nicht von uns Pflege. Wir wollen mit der doppelten Pflegegarantie dafür allein umgesetzt werden kann, sondern mehrere Fraktio- sorgen, dass das Leben in einem Pflegeheim kein Armuts- nen hier im Hause braucht, damit es tatsächlich auf den risiko mehr ist. Weg gebracht werden kann. Diesen Appell möchte ich ausdrücklich an alle Demokratinnen und Demokraten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier im Hause senden. Zweitens. Auch in der ambulanten Pflege haben wir Wir sollten in den Ausschussberatungen sehen, dass dramatische Probleme. Denn hier hängt es oft vom Geld- wir diesen Weg ganz schnell gehen können. Die SPD beutel der Familien ab, welche Pflege überhaupt in An- hat sich auf den Weg gemacht; das weiß ich schon. Viel- spruch genommen werden kann. Wir müssen davon aus- leicht werden wir schon heute in der Debatte etwas gehen, dass es in der häuslichen Pflege oft zu einer schlauer; vielleicht sind auch andere schon auf dem massiven Unterversorgung mit professioneller Pflege Weg. Wir können das nur gemeinsam schaffen, und wir kommt. Wir dürfen die pflegebedürftigen Menschen müssen es gemeinsam schaffen. Die pflegebedürftigen und ihre Familien nicht länger alleinlassen. Menschen in unserem Land und ihre Familien haben es (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther verdient, dass wir dieses Armutsrisiko, das Problem der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unterversorgung in der häuslichen Pflege endlich lösen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Unsere Antwort darauf ist die doppelte Pflegegarantie. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit der doppelten Pflegegarantie garantieren wir ers- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- tens die Planbarkeit der Pflegeeigenanteile durch eine wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der sofortige und deutliche Senkung und die dauerhafte SPD) Deckelung des Eigenanteils. Wir garantieren zweitens, dass die Pflegeversicherung alle Pflegeleistungen be- Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) zahlt, die der einzelne pflegebedürftige Mensch tatsäch- Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Nächster Red- (D) lich braucht. ner: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wie senken wir den Pflegeeigenanteil? Das muss man ja dazusagen. Wir wollen die versicherungsfremden Leis- Erwin Rüddel (CDU/CSU): tungen aus dem Bundeshaushalt finanzieren; denn da ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen hören sie auch hin und nicht in die Pflegeversicherung. und Herren! Ich bin froh, dass ich bei diesem Antrag Wir verlangen, die Kosten für die medizinische Behand- die Gelegenheit habe, auf die historische Leistungsaus- lungspflege im Heim in die Krankenversicherung zu ver- weitung hinzuweisen, die wir in der letzten Legislatur- lagern; denn da gehören diese Kosten hin und nicht in die periode in der Pflegeversicherung für die Pflegebedürfti- Pflegeversicherung. gen, gerade für die Demenzkranken und deren Familien, vorgenommen haben. Ich denke, das ist jetzt eine gute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen, was wir Wir haben mit der doppelten Pflegegarantie die pflege- im Rahmen der Diskussion um die Pflegeversicherung bedürftigen Menschen und ihre Familien, aber auch die in der letzten Legislaturperiode umgesetzt und auf den Versichertengemeinschaft und die Steuerzahlerinnen und Weg gebracht haben. Steuerzahler im Blick. Angesichts des demografischen Im Kern geht es bei diesem Antrag der Fraktion der Wandels lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, Grünen um die Eigenanteile der Pflegebedürftigen. Wenn dass unsere Gesellschaft dem Anspruch einer guten und man sich die Welt in der Klinik ansieht, stellt man fest: würdevollen Pflege auch in Zukunft gerecht wird und Für die Pflege dort übernimmt die Krankenversicherung gerecht werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam das Ver- die vollen Kosten; bei der Pflege im Heim bleibt ein Fest- sprechen der Pflegeversicherung erfüllen und erneuern – betrag. Wir wollen insgesamt die Arbeitssituation für die verlässlich, solidarisch und generationengerecht. Meine Pflegekräfte verbessern, wir wollen mehr Pflegekräfte, Damen und Herren, die doppelte Pflegegarantie ist unser und wir wollen diese Pflegekräfte besser bezahlen. Die Angebot. Machen wir uns gemeinsam schnell auf den Folge ist, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen Weg! steigen, weil hier die Dynamik ansetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist unerlässlich, dass wir die Eigenanteile in der Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch einen Appell stationären Pflege auf einen zumutbaren Betrag einbrem- an dieses Haus richten. Ich glaube, dass wir in einer ge- sen. Ich denke, da schließen wir uns dem Appell von Frau sellschaftlichen Situation sind, in der wir alle gemeinsam Schulz-Asche an, gehen in dieselbe Richtung. Ich möchte 15614 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Erwin Rüddel (A) dezidiert aber auch festhalten: Es geht nur um die Kosten Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) der Pflege und nicht um die Kosten, die durch das Woh- Vielen Dank, Erwin Rüddel. – Nächster Redner: für die nen entstehen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser So- AfD-Fraktion Jörg Schneider. ckel-Spitze-Tausch die falschen Anreize setzt und nicht die optimale Lösung ist. Wir müssen hier nach kreativen (Beifall bei der AfD) und guten Lösungen suchen. Die Eigenanteile variieren in den Bundesländern nämlich sehr stark. Gerade dort, wo Jörg Schneider (AfD): die Eigenanteile vergleichsweise niedrig sind, würde die- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ser Tausch nur geringe Hilfen bringen, und umgekehrt Herren! Liebe Zuschauer! Die Probleme in der Pflege wären in wohlhabenderen Regionen die Entlastungen be- haben sehr viel mit Demografie zu tun. Bis 2035 werden sonders groß. wir ungefähr 4 bis 6 Millionen Erwerbstätige weniger haben. Die Zahl der Menschen, die Pflegeleistungen be- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Dann deckelt kommen, wird sogar noch steigen. Uns fehlen jetzt schon ihn doch!) ungefähr 3,5 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung, Es kann sozialpolitisch aber nicht gerecht sein, dass wir (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Kann man die Stärkeren noch stärker entlasten. durch Einwanderung lösen!) Dazu kommt der falsche Anreiz, teure Versorgungsfor- und die Kosten werden natürlich weiter steigen: durch men und teure Anbieter zu wählen sowie möglichst viele höhere Löhne – das gönnen wir den Menschen, die dort Leistungen in Anspruch zu nehmen. Es gäbe keinerlei harte Arbeit leisten – und durch mehr Pflegekräfte – das Eigeninteresse an kostengünstigen Lösungen mehr, da gönnen wir den Menschen, die auf Pflege angewiesen die Pflegeversicherung ohnehin alle die den Eigenanteil sind. Aber: Die Kosten werden steigen. übersteigenden Kosten übernehmen würde. Das hätte Die Grünen schlagen dazu vor, den Eigenanteil zu de- auch Folgen für die Beitragssätze in der Pflege- und ckeln Krankenversicherung und würde nachfolgende Genera- tionen unnötig belasten. Sie haben diese Herausforderun- (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE gen auch erkannt – das habe ich in Ihrem Antrag gele- GRÜNEN]: Und zu senken!) sen –, weil Sie die Kostenrisiken durch ein Case- und die darüber hinausgehenden Kosten durch die Pflege- Management in den Griff bekommen wollen. Ich muss versicherung zu übernehmen. Weil das eine Umkehrung aber gestehen: Ich bin skeptisch, ob das gelingt. des derzeitigen Systems ist, spricht man dabei eben vom Meine Damen und Herren, ich denke, es ist wichtig, Sockel-Spitze-Tausch. Dazu wollen Sie noch Geld aus (B) noch einmal herauszustellen, dass die Pflegeversicherung Steuermitteln in die Pflegeversicherung übertragen. Au- (D) eine Teilkaskoversicherung und keine Vollkaskoversiche- ßerdem sollen Leistungen, die im Moment noch aus der rung ist. Pflegeversicherung gezahlt werden, zukünftig von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. (Sabine Dittmar [SPD]: Leider!) Ich sage das einmal in dieser Ausführlichkeit, damit Weil das so ist, bleibt auch künftig eine Eigenverantwor- Sie merken: Es wird teurer. Es wird teurer für die Steuer- tung übrig. Wir müssen nach Konzepten suchen, wie wir zahler, es wird teurer für die Beitragszahler, für die Unter- Menschen motivieren können, Vorsorge zu treffen, so- nehmen wird es teurer, und es wird vor allen Dingen für wohl private wie auch betriebliche Vorsorge. die jungen Menschen teurer. Wir sprechen hier in diesem Haus sehr häufig über das Thema Altersarmut, und das Unabhängig davon brauchen wir intelligente Lösun- sicherlich auch berechtigterweise. Aber wir dürfen nicht gen, um die Pflegebedürftigen in den stationären Einrich- außer Acht lassen: Der durchschnittliche 70-Jährige hat tungen zu entlasten und die Eigenanteile einzubremsen; heute ein 30-mal so hohes Vermögen wie der durch- hierzu hat sich der Minister schon geäußert. Eine Mög- schnittliche 25-Jährige. Ich denke, wir müssen den jungen lichkeit könnte ein einheitlicher Zuschuss sein, der über Menschen auch einfach Luft lassen, um selber vorzusor- die Krankenversicherung finanziert wird. Denkbar ist gen, um Eigenvorsorge zu betreiben. auch, dass Steuermittel genutzt werden, weil auf der an- deren Seite Sozialhilfe eingespart werden kann. Zu den (Beifall bei der AfD) kreativen Lösungen gehört aber auch der Abbau der Sek- Sie möchten die private Pflegeversicherung ja nun ganz torengrenzen. Wir brauchen hier eventuell einen dritten abschaffen, und an dieser Stelle gehen wir sicher nicht mit Weg, der viele Möglichkeiten offenlässt, wie zum Bei- Ihnen mit. spiel dass hauswirtschaftliche Leistungen in stationären Einrichtungen von den Pflegebedürftigen selbst oder de- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau!) ren Familien erbracht werden, um insgesamt die Kosten Die Kosten werden steigen. Sie sagen ganz explizit, im Heim und die Eigenanteile zu senken. Wir müssen auf dass sie durch Ihr System nochmals deutlich steigen wer- diese Familienunterstützung setzen können. den. Sie setzen dem ein Case-Management entgegen, mit Kreativität ist also gefragt. Wir werden 2020 hierzu dem Sie das in den Griff bekommen wollen. Ich glaube, entsprechende Konzepte vorlegen, die dann diskutiert Sie haben sich da an das niederländische System ange- werden können. lehnt. Jetzt spricht nichts dagegen, dass man ein System, das woanders gut funktioniert, auch hier in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) anwendet. Aber ich glaube, zu den Niederlanden gibt es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15615

Jörg Schneider (A) doch zwei wesentliche Unterschiede. Wir haben hier in Wir haben den Weg freigemacht für ordentliche Tarifver- (C) Deutschland einen wesentlich höheren Anteil von Men- träge in der Pflege. Und gestern haben wir eine wichtige schen, die in Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, als Entlastung der Angehörigen von Pflegebedürftigen be- in den Niederlanden. Dem tragen Sie Rechnung, indem schlossen. Sie sagen, Sie trennen bürokratisch klar zwischen den Jetzt gilt es – da stimme ich den Antragstellern zu –, die Case-Managern, die festlegen, welche Pflege benötigt Pflegeversicherung weiterzuentwickeln. Ich freue mich wird, und den Leistungserbringern. Das wird in den Nie- darüber, dass wir jetzt eine breite gesellschaftliche Debat- derlanden aber ganz anders gehandhabt. Da sind Case- te haben und nicht mehr nur den Katzenjammer vergan- Manager und Leistungserbringer tatsächlich in den glei- gener Zeiten. Ich habe den Eindruck, es gibt eine Auf- chen Gruppen; teilweise sind es sogar die gleichen Perso- bruchstimmung und eine große Bereitschaft auch in der nen, die das tun. Insofern weiß ich nicht, ob das in den Bevölkerung, diese Reformen tatsächlich voranzubrin- Niederlanden erfolgreiche System wirklich so auf gen. Deutschland übertragbar ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich fasse zusammen: Sie möchten die jungen Men- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schen gerne stärker belasten – da gehen wir mit Ihnen CDU/CSU) nicht mit –, Sie lehnen private Vorsorge, eine private Pflegeversicherung ab – auch da gehen wir nicht mit –, Natürlich kosten solche Verbesserungen, wie wir sie und Sie möchten die Kosten in den Griff bekommen, schon auf den Weg gebracht haben und auch noch vor- indem Sie ein System, das in den Niederlanden gut funk- haben, Geld. Wir wollen nicht, dass die Pflegebedürftigen tioniert, auf Deutschland übertragen, wobei wir eben auf- und ihre Familien einseitig belastet werden. grund ganz unterschiedlicher Voraussetzungen durchaus Schwierigkeiten sehen, was die Übertragbarkeit betrifft. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich danke Ihnen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der gute pflegerische (Beifall bei der AfD) Versorgung solidarisch gesichert und getragen wird; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Claudia Roth: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächste Rednerin: für CDU/CSU) die SPD-Fraktion Heike Baehrens. dafür haben auch wir schon ganz konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Darum ist es richtig und wichtig, die (B) (Beifall bei der SPD) Eigenanteile in der stationären Pflege zu deckeln. Es ist (D) notwendig, dass die Hauptkosten der Pflegeleistungen Heike Baehrens (SPD): tatsächlich durch die solidarische Pflegeversicherung ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tragen werden, dass die Behandlungspflege tatsächlich Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 1995 bin endlich von denen finanziert wird, die dafür die Verant- ich eng verbunden mit der Pflegepolitik in unserem Land. wortung tragen, nämlich die Krankenversicherungen. Lange zählte das Thema Pflege nicht zu den Topthemen Und es ist auch richtig, ernsthaft darüber zu reden, wie der Politik; aber diese Legislaturperiode scheint tatsäch- das Geld, das im Pflegevorsorgefonds liegt und für das lich die Legislaturperiode der Pflege zu sein. Negativzinsen anfallen, für die Verbesserung der Pflege heute eingesetzt werden kann. Denn jetzt, wo wir vor Wir haben in der kurzen Zeit der Großen Koalition Augen haben, was zu tun ist, gilt es, in die Pflege zu schon viel erreicht. Wir haben ein Sofortprogramm für investieren, statt Negativzinsen zu zahlen. die Pflege auf den Weg gebracht, das mehr Pflegeperso- nal in die Krankenhäuser und auch in die Pflegeheime (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bringt. Durch Tarifbezahlung werden wir die Entlohnung DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Roy Kühne der Beschäftigten in der Pflege verbessern, und wir haben [CDU/CSU] und Harald Weinberg [DIE LIN- auch dafür gesorgt, dass Tarifbezahlung von den Kran- KE]) ken- und Pflegekassen tatsächlich refinanziert werden Wir als SPD packen das ganz konkret an, sowohl in der muss. Großen Koalition als auch darüber hinaus. Das sieht man (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zum Beispiel auch daran, dass die sozialdemokratische Abg. Erich Irlstorfer [CDU/CSU]) Gesundheitssenatorin in Hamburg eine Bundesratsinitia- tive auf den Weg gebracht hat, um die Begrenzung der Wir haben eine umfassende Konzertierte Aktion Pflege Eigenanteile tatsächlich auch realisieren zu können. An auf den Weg gebracht, in der eine ganz, ganz große Zahl der Stelle lade ich die anderen Bundesländer ein, sich mit an konkreten Maßnahmen vereinbart wurde, die wir uns gemeinsam auf diesen Weg zu machen. Schritt für Schritt umsetzen werden. Die Ausbildungsof- fensive für die Pflegeausbildung ist gestartet worden. Ich Ich möchte einen Denkanstoß geben: den Antragstel- finde die Plakataktion – man kann jetzt überall die groß- lern, also den Grünen, die uns heute diesen Antrag vor- flächigen Plakate sehen – unter dem Motto „Das Ding hat gelegt haben, aber vielleicht auch uns allen zum Weiter- Zukunft“ wunderbar. denken. Wenn wir die Eigenanteile begrenzen wollen, dann müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir vor (Dr. [FDP]: Zu wenig!) allem jene entlasten können, die ganz besondere Bedarfe 15616 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Heike Baehrens (A) haben, die durch besondere, langwierige Erkrankungen ein würdevolles Leben auch bei Pflegebedürftigkeit ist (C) und Belastungen eben auch auf eine langfristige stationä- aus unserer Sicht ein sozialpolitisches Versprechen, auf re Versorgung angewiesen sind. Das sind diejenigen, die das sich alle Menschen verlassen können müssen. Des- vor allem relativ schnell Unterstützung durch Hilfe zur halb ist es notwendig, die Pflegeversicherung jetzt wei- Pflege benötigen, weil sich die Pflege eben über einen terzuentwickeln, und es ist wichtig, die finanzielle Be- langen Zeitraum erstreckt. Da sind oftmals Angehörige lastung der Pflegebedürftigen zu begrenzen. eingebunden, die selber auch noch einen Haushalt führen müssen. Und wenn wir darüber nachdenken, wie wir eine Es ist unser sozialdemokratischer Anspruch, dass alle Deckelung der Eigenanteile gestalten wollen, sollten wir Menschen unabhängig von Herkunft, sozialem Status und auch diese Bedarfsgruppen ganz besonders im Blick ha- Einkommen in jeder Lebensphase gut und würdevoll le- ben; denn genau da ist die Solidarität der Gesellschaft ben können. Dafür haben wir in der letzten Legislatur- gefragt. periode das Fundament gelegt. Daran arbeiten wir mit großen Schritten in dieser Legislaturperiode weiter, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dafür bieten wir auch zukunftsfeste Antworten an. DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Ich möchte auch an einer anderen Stelle einen Denk- anstoß geben und noch einmal kritisch nachfragen, näm- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich wenn es um die Begrenzung der Eigenanteile im der CDU/CSU) ambulanten Bereich geht, die auch angesprochen worden sind. Da, denke ich, sind die Überlegungen noch nicht Vizepräsidentin Claudia Roth: ausgegoren; denn wir haben schon heute die Situation, Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächste Rednerin für dass Hilfe zur Pflege vorrangig im stationären Bereich die FDP-Fraktion: Nicole Westig. zu zahlen ist. 31 Prozent der Menschen, die in einem Pflegeheim leben, sind auf Unterstützung durch Hilfe (Beifall bei der FDP) zur Pflege angewiesen. Im ambulanten Bereich sind es lediglich 5 Prozent. Das hängt vor allem damit zusam- Nicole Westig (FDP): men, dass im ambulanten Bereich sowohl die Leistungen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der häuslichen Krankenpflege aus der Krankenversiche- Die Fraktion der Grünen hat sich offenbar von der Regie- rung als auch – zusätzlich – die Leistungen der Pflege- rung inspirieren lassen, was wohlklingende Namen an- versicherung im Bereich der Grundpflege in Anspruch geht. Sie präsentiert hier die „doppelte Pflegegarantie“. genommen werden können. Garantie klingt gut. Allerdings wird durch den Inhalt des (B) Antrags nichts garantiert – weder einfach noch doppelt; (D) (Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Und die Tages- denn dieses Konzept wird früher oder später an die Gren- pflege!) ze der Finanzierbarkeit stoßen. – Natürlich die gesamten Leistungen der Pflegeversiche- rung. – Dadurch ist die Belastung im ambulanten Bereich (Beifall bei der FDP) für die Betroffenen tatsächlich nicht genauso hoch wie im Der demografische Wandel sollte uns davor warnen, stationären Bereich. An der Stelle müssen wir daher wei- Garantien auszusprechen; er war damals der Grund, die terdenken, und das betrifft im Übrigen auch die Frage der Pflegeversicherung eben als Teilleistungsprinzip anzule- Personalbemessung. gen. Nun, nach 25 Jahren, hat er sich immens verschärft. Deshalb sollten wir nicht ausgerechnet ihn zum Anlass Sie erinnern sich, dass die Gutachter immer sagen: Ja, nehmen, vom Prinzip der Teilleistung abzuweichen. Ihr im Bereich der ambulanten Pflege haben wir noch keinen Antrag sieht jedoch einen deutlichen Ausbau der Pflege- Vorschlag, wie wir das mit der Personalbemessung ma- versicherung vor. Die Diakonie will einen ähnlichen Weg chen können. – Aber das hängt genau mit dieser Doppel- beschreiten, spricht aber ehrlicher über die Kosten. Sie struktur zusammen, dass wir in der ambulanten Pflege gar geht davon aus, dass der Pflegebeitragssatz beim Sockel- keine Personalvorgaben, sondern im Bereich der häusli- Spitze-Tausch sofort um über 1,3 Prozentpunkte steigen chen Krankenpflege Einzelvergütungen haben. Und wir müsste. haben Modulpreise im Bereich der Pflegeversicherung. Und dies zusammen ergibt eben niemals Personalschlüs- Zur Erinnerung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die sel. Hier geht es darum, dass wir endlich leistungsgerech- Sozialbeitragsquote liegt aktuell bereits bei 39,9 Prozent te Vergütungen im Bereich der häuslichen Krankenpflege für Kinderlose. Der demografische Wandel und die Kos- bekommen, dass wir leistungsgerechte Preise im Bereich ten für die dringend benötigten Verbesserungen in der der Pflegeversicherung bekommen. Das ist ein klarer Ap- Pflege werden den Beitrag künftig noch mehr in die Höhe pell, der an die Kranken- und Pflegekassen und eben auch schnellen lassen. Das ist nicht nachhaltig, und das ist auch an die überörtlichen Sozialhilfeträger geht, die hier ver- nicht solidarisch. Wer übt eigentlich Solidarität mit den suchen, die Preise niedrig zu halten. nachfolgenden Generationen? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP – Harald Weinberg [DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKE]: Die dann erwartete Wirtschaftsleis- CDU/CSU) tung!) Ich komme zum Schluss. Für uns als SPD ist Pflege ein Diese werden übermäßig belastet. Spätestens wenn die wesentlicher Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, und Babyboomer pflegebedürftig werden, ist Ihr Konzept Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15617

Nicole Westig (A) nicht mehr finanzierbar. Dagegen hilft auch Ihre Pflege- Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) bürgerversicherung nicht. Das eigentliche Problem der Und ich warte gespannt auf das Ende Ihrer Rede. Pflegeversicherung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ignorieren Sie: die fehlende Kapitalde- (Heiterkeit) ckung. Nicole Westig (FDP): (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich bin am Ende. – Wir Freie Demokraten haben in NEN – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Da dieser Legislaturperiode bereits mehrere Vorschläge für kommt zusammen, was zusammen gehört!) eine generationengerechte Pflegefinanzierung einge- Allein durch das Umlageverfahren ist die Finanzierung bracht. Von daher freuen wir uns auf die weiteren Bera- der Pflege nicht nachhaltig zu schaffen. tungen. (Beifall bei der FDP) (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das Problem wäre bei einem kapitalgedeckten Verfahren noch größer!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Nicole Westig. – Nächster Redner: für die Wir brauchen deshalb mehr private Vorsorge von de- Fraktion Die Linke Harald Weinberg. nen, die es sich leisten können, um diejenigen, die es sich nicht leisten können, zielgenau unterstützen zu können. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der FDP) Harald Weinberg (DIE LINKE): Ihr Antrag setzt jedoch Fehlanreize. Vermögende sehen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! dadurch keinen Anlass, über den festgeschriebenen An- Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kol- teil hinaus vorzusorgen. Sie sind es, die auf Kosten aller leginnen und Kollegen von den Grünen! Sie legen hier Beitragszahler am meisten profitieren. einen äußerst interessanten Antrag mit dem Titel „Dop- pelte Pflegegarantie“ vor. Über viele Seiten davon konnte (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Lassen Sie ich immer wieder nur nicken und Ihnen zustimmen: Viele uns doch die Vermögenden stärker einbezie- Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen sind hen!) im Pflegefall überfordert, auch finanziell. Es kann nicht Pflegebedürftige mit geringem Einkommen bekom- sein, dass Verbesserungen für Beschäftigte in der men bereits jetzt die Kosten über die Hilfe zur Pflege stationären Pflege oder dringend notwendige Lohnerhö- erstattet. hungen zulasten der Menschen mit Pflegebedarf gehen (B) und die Eigenanteile entsprechend steigen. Der Gesetz- (D) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geber macht sich hier bisher einen schlanken Fuß, da er nicht für Abhilfe sorgt, sondern die Auseinandersetzung Allerdings: Die Sorge um die steigenden Eigenanteile ans Pflegebett delegiert. für Pflegebedürftige teilen wir. Hier müssen wir Lösun- gen finden, und da bin ich bei einigen Ihrer Vorschläge Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen soll- dabei, etwa die medizinische Behandlungspflege für sta- ten ohne finanzielle Zwänge diejenige Pflege auswählen tionär Gepflegte nicht mehr über die Pflegeversicherung, können, die für sie passend, nötig und bedarfsgerecht ist. sondern – wie in der ambulanten Pflege auch – über die Krankenversicherung zu finanzieren. Auch über die Dy- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- namisierungsregeln für die SPV kann man diskutieren. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber eine generelle Deckelung der Eigenanteile ist so- Das ist im derzeitigen System nicht gegeben. Viele zialpolitisch nicht zielgenau und nicht nachhaltig finan- können nur einen Teil der Leistungen in Anspruch neh- zierbar. men, die sie bräuchten. Dies führt zu Einsparungen im System, aber nicht zu guter Versorgung. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau!) Es gibt viel zu wenige Kurzzeitpflegeplätze. Das ist ein Der Gesundheitsminister hat es in der Ausschusssit- nicht hinnehmbarer Zustand. zung neulich genau richtig formuliert. Er sagte: Wir brau- chen mehr Kapitaldeckung in der Pflegefinanzierung, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und wir müssen deswegen etwa über Reformen des Pfle- NIS 90/DIE GRÜNEN) gevorsorgefonds nachdenken. Es ist oft schlicht unmöglich, kurzfristig einen Kurzzeit- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE pflegeplatz zu bekommen. Mehr als einmal hatte ich es GRÜNEN]: Es wird Zeit!) schon mit verzweifelten Menschen zu tun, die erst in einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern fündig wur- Frau Weiss, richten Sie es dem Minister aus: Sie kön- den – und auch das nur mit Glück. Dabei bräuchten ge- nen sich ganz sicher sein, dass Sie uns bei diesem Vor- rade pflegende Angehörige so dringend Entlastung. haben an Ihrer Seite haben. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN) Wir warten nun gespannt, wann Ihr konkretes Konzept Auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben Sie, es brauche – kommt. ich zitiere – „eine umfassende Reform der Pflegeversi- 15618 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Harald Weinberg (A) cherung, die dafür sorgt, dass alle pflegebedürftigen Men- weiterführen, beispielsweise die zu den Nebenkosten. (C) schen die Pflege erhalten, die sie benötigen …“ Und wie- Aber es gibt inzwischen doch eine ganze Menge Men- der kann ich Ihnen nur zustimmen und auf die vielfältigen schen, die sich an dieser gesellschaftlichen Diskussion parlamentarischen Initiativen meiner Fraktion verweisen: beteiligen. Denjenigen geht es in der Tat um eine Ver- „Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit besserung, um eine grundlegende Reform der Pflegever- Pflegebedarf finanziell entlasten“ – Februar 2018 –, sicherung. „Pflegelöhne auf Tarifniveau sofort refinanzieren“ – im Oktober 2018 vorgelegt –, „Zwei-Klassen-System in der (Beifall bei der LINKEN) Pflegeversicherung beenden“ – im Januar 2019 vorge- Als solches nehmen wir das Diskussionsangebot gerne legt –, „Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in auf und werden unsererseits immer wieder daran erin- der Altenpflege“ – im November 2019 vorgelegt. nern, dass eine wirklich umfassende Reform der Alten- pflege durchaus realisierbar, finanzierbar, möglich, sinn- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) voll und dringend geboten ist. Was wir brauchen, ist eine Wir stehen alle gemeinsam vor der Situation, dass es in solidarische Pflegevollversicherung, erst dann können der Pflegeversicherung eigentlich der umfassenden und wir von einer wirklichen Pflegegarantie sprechen. grundsätzlichen Reform bedarf, von der im Antrag die Rede ist. Gleichzeitig treten immer wieder ganz akute Vielen Dank. Probleme auf wie zum Beispiel, dass sich die Höhe der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Eigenanteile so entwickelt, dass sie durch die Decke ge- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hen und die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen über Gebühr belasten. Die Politik neigt dann dazu, darauf mit Sofortmaßnahmen zu reagieren. In diesem Widerspruch Vizepräsidentin Claudia Roth: bewegt sich auch der vorliegende Antrag. Der formulierte Vielen Dank, Harald Weinberg. – Nächster Redner: für Anspruch einer „umfassenden Reform“ wird nur bedingt die CDU/CSU-Fraktion Erich Irlstorfer. eingelöst durch die nachfolgenden Forderungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Umfassendere Reformkonzeptionen liegen ja vor, un- ter anderem – darauf haben Sie auch Bezug genommen – Erich Irlstorfer (CDU/CSU): im Gutachten von Professor Rothgang, unter anderem für Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Hans-Böckler-Stiftung. Sie knüpfen in der Begrün- Ich glaube, dass heute ein Anfang gemacht wird bei der dung Ihres Antrags auch daran an. Es heißt dort: Diskussion einer Reform der Pflegeversicherung. Ich be- grüße es sehr, was hier vorgelegt worden ist, weil man – Es gibt einige Stimmen, die einen Eigenanteil für die (B) das ist eben der Unterschied – nicht nur Schwierigkeiten (D) Pflegeleistungen von null Euro, die sogenannte Pfle- und Probleme benennt, sondern auch Lösungen anbietet. gevollversicherung, fordern. Das geschieht hier. (Beifall bei der LINKEN) (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Demgegenüber stehen Unterstützerinnen und Unter- GRÜNEN]: Danke!) stützer des Sockel-Spitze-Modells mit gedeckelten Eigenanteilen oberhalb von null Euro. Ich glaube, dass heute schon viele wichtige Punkte ge- nannt worden sind. Auch unser Minister hat ganz klar Und dann noch: gesagt, dass er das Thema der Reform der Pflegeversi- cherung als eines der wichtigen Themen ansieht. Somit Es ist an der Zeit, für die Pflegeversicherung reali- werden wir das im neuen Jahr gemeinsam anpacken. stische Reformperspektiven zu entwickeln, dafür langfristige Mehrheiten zu gewinnen und in einem Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die Union partizipativen Prozess gemeinsam mit den an der kann ich Ihnen sagen, dass wir der Meinung sind, dass die Umsetzung Beteiligten die konkrete Ausgestaltung Pflegeversicherung, die es seit 1995 gibt und die als Teil- unter der Berücksichtigung der zu erwartenden Rah- kaskomodell eingeführt worden ist, so generell richtig ist. menbedingungen ... vorzunehmen. Der Bereich der Eigenverantwortung gehört mit dazu. Welchen Anreiz würde es denn geben, wenn man sagen Das ist ein etwas komplizierter Schachtelsatz. Das würde, dass derjenige, der Vorsorge trifft, der sich privat heißt aber im Wesentlichen – das finde ich wichtig, und absichert, im Endeffekt keinen Vorteil hat, weil sowieso so verstehe ich die Formulierung an dieser Stelle im An- alles gleichgemacht wird und in einem Vollkaskomodell trag –, dass es ein Einstiegsprojekt in eine umfassende alles bezahlt wird? Das, glaube ich, wäre der falsche Weg Reform der Pflegeversicherung sein soll und folglich als und würde dem Ganzen nicht gerecht werden. ein Diskussionsbeitrag in der zunehmend an Fahrt auf- nehmenden Debatte – darauf ist schon hingewiesen wor- Wir hören in jeder Sitzungswoche immer wieder For- den; wir haben eine gesellschaftliche Diskussion zu die- derungen, was wir machen sollen. Ich glaube, dass wir sem Thema – zu verstehen ist unter denjenigen, die der diese Forderungen jetzt umfassend miteinander in Ver- Meinung sind, dass es in der Altenpflege nicht so bleiben bindung bringen müssen. Natürlich geht es um Eigenan- darf, wie es ist. Es sind an dieser Debatte nicht alle be- teile. Es geht aber natürlich auch um Beitragsstabilität; teiligt. Einige meinen, man könnte sozusagen weiterhin das ist uns wichtig. Wir dürfen dies alles nicht gegen- die alten Wege beschreiten – ich nenne als Beispiel die einander ausspielen. Es darf nicht so sein, dass man sagt, Kapitaldeckung –, man könnte die alten Diskussionen man dürfe die Eigenanteile nicht angehen, weil man sonst Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15619

Erich Irlstorfer (A) keine ordentlichen Löhne mehr zahlen könne. Nein, mei- stehen die Länder in der Verantwortung für das Zugesag- (C) ne sehr geehrten Damen und Herren, hier brauchen wir te. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die Kommunen, eine Diskussion über diesen gesamten Themenblock. Das die vor Ort natürlich näher dran sind, die die Situation ist erkannt und wird auch gemacht werden. vielleicht besser beurteilen können, sowohl Verantwor- tung bei der Entscheidung als auch bei den Kosten tragen. Wir diskutieren hier über die Themen, die wir anpa- Es gehört dazu, dass jeder kommunale Haushalt den Be- cken wollen. Das betrifft die ambulante Pflege, die sta- reich der Pflege, der Medizin und der demografischen tionäre Pflege, aber auch Themen wie die Qualität. Der Entwicklung hier implementiert. wesentliche Punkt wird aber sein – davon bin ich über- zeugt –, ob wir im Endeffekt genügend Menschen in der Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss: Pflege haben, die diesen Beruf gerne machen. Ich glaube, Ich glaube, es ist heute wirklich ein guter Auftakt, ein dass es das entscheidende Instrument ist, dass wir gut konstruktiver Auftakt. Wir werden diese Themen ge- ausgebildete Pflegekräfte in einer ausreichenden Menge meinsam mit unserem Minister im neuen Jahr bespre- haben. Die stationären Einrichtungen benötigen aber chen. Wir werden dann nicht nur Lösungen anbieten, son- auch täglich Hilfskräfte, die Tätigkeiten machen, die im dern auch Lösungen umsetzen, damit es in Deutschland Bereich des hauswirtschaftlichen Bereichs liegen, und die weiterhin eine gerechte, eine menschliche, eine gute Pfle- somit, was die Kosten betrifft, natürlich in einer anderen ge gibt. Liga spielen. Herzlichen Dank. Ich war gestern bei Verdi und habe an einer Podiums- diskussion teilgenommen. Das möchte ich heute einmal (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- klarstellen: Hier wird immer davon geredet, man müsse ordneten der SPD) Druck auf die Politik ausüben. Ich kann an Verdi gerichtet nur sagen: Bei mir löst es keinen Druck aus, wenn man Vizepräsidentin Claudia Roth: standardisierte Briefe mit einer Auflage von 4 000 oder Vielen Dank, Erich Irlstorfer. – Nächster Redner für die 5 000 Stück an Abgeordnete schickt. Das beeindruckt AfD-Fraktion: Ulrich Oehme. mich auch nicht. Die Entscheidungen werden am Ver- handlungstisch getroffen, nicht auf der Straße und nicht (Beifall bei der AfD) mit Parolen. Ulrich Oehme (AfD): (Beifall bei der CDU/CSU) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Natürlich benötigen wir – das will ich hier schon sa- Ist eine Reform der Pflegeversicherung notwendig? (B) gen – konkrete Vorschläge. Einer dieser Vorschläge, der Wenn man, wie ich persönlich, von der Pflege von An- (D) von unserer Seite kommt, betrifft den Umstand, dass wir gehörigen betroffen ist oder in meinem Wahlkreis mit Menschen, die langjährig pflegebedürftig sind, natürlich Betreibern von Einrichtungen spricht, spürt man immer anders bewertet werden müssen als Patienten, die eher wieder die Grenzen, die die aktuelle Gesetzeslage setzt. kurzfristig eine Pflege benötigen. Ich glaube auch, dass Wir brauchen eine Alternative. Leider ist der von Ihnen es ein Grundsatz sein muss, dass sich aufgrund der Pfle- vorgelegte Antrag, liebe Kollegen der Grünen, keine Al- gebedürftigkeit der Eltern oder anderer Angehöriger nicht ternative. Der Antrag, der hier vorliegt, wird die Kosten in Biografien von Menschen der jüngeren Generation aus der Pflege weiter in die Höhe treiben. finanziellen Gründen verändern dürfen. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche GRÜNEN]: Sie sind ja die Alternative!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Richtig, wir sind die Alternative. Das ist wichtig. Wir dürfen nichts verschieben. Die ältere Schauen wir uns einmal Ihre doppelte Pflegegarantie Generation, die Demografie, das alles ist schon erwähnt genauer an. Unter Punkt 1 a fordern Sie von der Bundes- worden, das hat alles seine Berechtigung und ist auch regierung, dass der Eigenpflegeanteil deutlich unter den richtig. Aber ich glaube auch, dass wir hier sachgerecht durchschnittlich 690 Euro liegen soll. So weit, so gut. und mit der nötigen Sensibilität vorgehen müssen, um die Unter Punkt 1 b fordern Sie, dass die Pflegeversicherung Generationengerechtigkeit auch weiterhin herzustellen. alle darüber hinausgehenden pflegerischen Kosten über- Ebenso ist es notwendig, dass wir eine Bund-Länder- nimmt. Sie reden nicht nur dem Modell eines Sockel- Arbeitsgruppe einrichten und auch die kommunale Ebene Spitze-Tausches das Wort, sondern Sie belassen die Kos- wieder in diesen Prozess mit einbinden. ten von Unterkunft und Verpflegung der vollstationären Pflege in der Eigenverantwortung des Versicherten; aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP Sie sagen dies den Versicherten nicht. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Keinerlei Aussage treffen Sie dazu, wie Unternehmer Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dazu animiert werden können, die bis 2040 fast 400 000 NEN]: Dann stimmen Sie doch einfach zu!) zusätzlich benötigten Pflegeplätze mit einem Investi- Das Ganze wird nicht gelingen, meine sehr geehrten Da- tionsvolumen von rund 109 Milliarden Euro zu schaffen. men und Herren, wenn wir nur sagen, dass sich der Bund Spricht man mit Betreibern kleiner Heime, erfährt man, um die Finanzierung kümmern muss und die Länder für dass diese keinerlei Anreiz für die Fortführung ihres Ge- die Investitionen zuständig sind, die sie – das muss man schäftes sehen, nicht weil sie sich nicht mehr um ihre auch einmal deutlich sagen – leider nicht erbringen. Hier Bewohner kümmern wollen, sondern weil sie keine Lust 15620 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Ulrich Oehme (A) mehr haben, sich mit dem Wust und der Fülle an Vor- (Beifall bei der AfD – Harald Weinberg [DIE (C) schriften auseinanderzusetzen. LINKE]: Da freue ich mich schon, Sie mal im Gesundheitsausschuss zu sehen!) (Beifall bei der AfD) Das langsame Sterben von familiengeführten Unter- Vizepräsidentin Claudia Roth: nehmen zugunsten großer Anbieter im Pflegesektor ist Vielen Dank, Ulrich Oehme. – Nächste Rednerin: auf die überbordende Gesetzesflut, die ein geradezu Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. feindliches Marktklima schafft, zurückzuführen – ohne (Beifall bei der SPD) dass dies für die Qualitätssicherung zwingend notwendig wäre. Als Beispiel dazu: die Heimmindestbauverord- nung. Sie fordert dogmatisch die Errichtung eines tech- Sabine Dittmar (SPD): nisch aufwendigen Pflegebades, und zwar für jeweils 20 Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bewohner ein Bad. Dabei sind die bestehenden Pflege- vor 25 Jahren eingeführte soziale Pflegeversicherung ist bäder in den Einrichtungen überhaupt nicht ausgelastet, eine echte soziale Errungenschaft. Das Pflegerisiko wur- weil die Bewohner lieber die Dusche im eigenen Zimmer de erstmals finanziell abgesichert. Aber mit Blick auf den nutzen. Statt diese Regelflut und Bürokratie abzubauen demografischen Wandel erkennen wir, dass der Bedarf an und so Kosten zu senken, gehen Sie in Ihrem Antrag Pflegeleistungen natürlich enorm ist und vor allem weiter sogar noch weiter und machen aus den frei wählbaren steigen wird. Aus diesem Grund haben wir nicht nur in Leistungen eine sozialistische Plan- und Verteilungswirt- dieser, sondern auch schon in der vergangenen Legisla- schaft. turperiode vieles auf den Weg gebracht, um unseren Pfle- gesektor zukunftssicher zu machen. Ich kann Ihnen sa- (Beifall bei der AfD – Lachen der Abg. Kordula gen: Wir werden in diesen Anstrengungen nicht Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nachlassen. NEN] – Zuruf von der LINKEN: Oh!) Die Leistungen für Pflegebedürftige und pflegende Ihr Case-Management vor Ort ist letztlich nichts weiter Angehörige wurden deutlich ausgeweitet. Sie wurden als ein Bedarfsfeststellungsverfahren für jeden Pflegebe- auch auf kognitiv eingeschränkte Patientinnen und Pa- dürftigen. Das bedeutet schlichtweg Steuerung und Ra- tienten erweitert. Die Kurzzeit- und Verhinderungspflege tionierung von Leistungen. wurde flexibilisiert, Versorgungslücken nach einem Krankenhausaufenthalt wurden gesetzgeberisch ge- (Beifall bei der AfD) schlossen, und die Personalausstattung wurde aufge- stockt. Ich bin mir sicher, wenn das jetzt in Auftrag ge- (B) (D) Leider steht in diesem Antrag nichts über die größte gebene Gutachten zur Personalbemessung vorliegt und Gruppe des Pflegesektors. Von den circa 3,5 Millionen zu die Ergebnisse umgesetzt werden, wird das Personal Pflegenden in Deutschland werden zwei Drittel, also weiter aufwachsen. Mir ist es wichtig, dass dieses Perso- knapp 2,5 Millionen, von Angehörigen entweder ganz nal verbindliche Tarifverträge und eine gute Bezahlung oder mit ambulanter Unterstützung zu Hause gepflegt. erhält. Dieser größte Pflegedienst Deutschlands schuftet unab- hängig vom Pflegegrad der zu Pflegenden bis zu zehn (Beifall bei der SPD) Stunden täglich. Überwiegend wird diese Tätigkeit von Diese Leistungsverbesserungen gibt es nicht umsonst. Frauen übernommen, die dadurch nicht in der Lage sind, Gute Pflege hat ihren Preis, und zwar zu Recht. Es darf einer eigenen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die An- aber nicht sein, dass die zu erbringenden Eigenleistungen, rechnung, Anerkennung und Wertschätzung dieser Leis- Eigenanteile – wir erleben dies vor allem im stationären tung fällt bisher leider viel zu gering aus. Bereich, wenn vollstationäre Leistungen lange in An- spruch genommen werden – aus dem Ruder laufen. Hier (Beifall bei der AfD) gilt es Schranken einzubauen. Im Positionspapier der SPD-Fraktion „Pflege solidarisch gestalten“ – Sie weisen Wir brauchen eine Alternative für die Situation in der dankenswerterweise in Ihrem Antrag darauf hin – haben Pflege. Diese liegt aber sicherlich nicht in sozialistischer wir deshalb noch einmal zusammengefasst, welche Plan- und Versorgungswirtschaft gepaart mit zu viel staat- Schritte wir für notwendig erachten, um Pflege solida- lichem Eingriff. Vielmehr liegt sie in einer investitions- risch abzusichern. Wir begreifen Pflege als gesamtgesell- freundlichen Wirtschaftskultur, in der besseren Nutzung schaftliche Aufgabe und wollen die soziale Pflegeversi- der Ressource der Angehörigenpflege und dem Ziel, cherung zu einer echten Pflegebürgerversicherung kommende Generationen finanziell nicht noch mehr zu weiterentwickeln. belasten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der AfD) der LINKEN) Die heutige Debatte hier zeigt, dass alle Parteien an Ein erster Schritt ist, die jetzige Konzeption der Pflege- einer Lösung des Problems interessiert sind. Auch die versicherung, die als Teilkostenversicherung konzipiert AfD wird sich in diese Debatte einbringen. Wir freuen ist, hin zu einer echten Teilkaskoversicherung weiter- uns schon auf die Diskussionen. zuentwickeln. Das heißt, wir wollen nicht mehr die Zu- schüsse der Pflegeversicherung deckeln, vielmehr sollen Danke. die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gedeckelt werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15621

Sabine Dittmar (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der einer guten Lösung zu arbeiten. Ich freue mich deshalb (C) Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/ auf die parlamentarische Debatte. DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten So wird die finanzielle Belastung durch Pflege über- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE schaubar. GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Wenn man sich aber die Investitionskosten, die zu Bu- Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: für che schlagen, je nach Einrichtung und Bundesland an- die FDP-Fraktion Dr. Wieland Schinnenburg. schaut, dann hat man manchmal den Eindruck, dass man den Heimplatz dauerhaft erwirbt. Ich denke, im Be- (Beifall bei der FDP) reich Investitionskosten – diese galoppieren wirklich da- von – sind die Länder eindringlich gefordert, ihre Haus- Dr. Wieland Schinnenburg (FDP): aufgaben zu machen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich diesen Antrag der Grünen gelesen habe, habe ich mich (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche doch einigermaßen gewundert. Denn er widerspricht in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) vielem dem, was die Grünen uns sonst so erzählen. Das betrifft im Übrigen auch die moderne Landespflege- Erstens. Die Grünen reden gerne von Nachhaltigkeit planung. Hier geht der Appell an die Grünen. Ich war ein und zünden hier einen Ausgabenturbo. Meine Damen bisschen überrascht, dass ausgerechnet Baden-Württem- und Herren, Mehrkosten im zweistelligen Milliardenbe- berg aus der Landespflegeplanung ausgestiegen ist. reich für künftige Generationen – das ist nicht nachhaltig, Sehr geehrte Damen und Herren, Planbarkeit und Ver- das ist schlicht und einfach falsch. lässlichkeit sind zentrale Aspekte von guter Pflege. Mit (Beifall bei der FDP) dem gestern verabschiedeten Angehörigen-Entlastungs- gesetz leisten wir auch da einen effizienten Beitrag. Zweitens. Die Grünen sagen doch ständig, das Klima sei das wichtigste Thema, und entwerfen apokalyptischs- (Beifall bei der SPD) te Szenarien. Wenn dem so ist, müssen wir doch jeden Wenn Kinder oder Eltern Leistungen der Hilfe zur Pflege verfügbaren Euro dafür ausgeben, das Klima zu retten. oder andere Leistungen der Sozialhilfe beziehen, müssen Wir müssen Geld ausgeben für Klimaforschung und für sie sich zukünftig keine Sorgen hinsichtlich einer finanz- klimafreundliche Infrastruktur. Ich sage Ihnen: Das Geld, (B) (D) iellen Überlastung machen. Die Einkommensgrenze liegt das Sie hier ausgeben wollen, wird uns später beim bei 100 000 Euro im Jahr. Kampf gegen den Klimawandel fehlen. Das ist ein Fehler. Ein wichtiges Anliegen ist mir auch ganz persönlich – (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Pflege gegen ich sage das aus voller Überzeugung, weil ich erst vor Klima – das ist toll!) Kurzem von heute auf morgen Pflege organisieren muss- Drittens. Die Grünen wecken falsche Erwartungen. Sie te –, dass wir mehr Kurzzeitpflegeplätze zur Verfügung suggerieren mit diesem Antrag, die Pflege würde billiger stellen und dass diese für den Träger auskömmlich finan- für die Menschen. Das ist falsch. Der Eigenanteil sinkt; ziert sind. das stimmt. Aber dadurch werden die Beiträge und die Steuern steigen. Das ist nicht billiger. Sie erwecken einen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nicole falschen Eindruck. Westig [FDP]) Es ist genauso wichtig, dass wir endlich dafür sorgen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des dass die Leistungen der Pflegeversicherung flexibler ein- Abg. [AfD]) gesetzt werden können, also endlich ein Entlastungsbud- Viertens. Die Grünen reden gerne von Vielfalt. Hier get eingeführt wird, wie wir es im Koalitionsvertrag vor- wollen Sie auf einmal die Bürgerversicherung, also eine gesehen haben. Ich denke, dass Minister Spahn zeitnah Einheitsversicherung, das genaue Gegenteil von Vielfalt einen Entwurf vorlegen wird. und das Gegenteil von Wettbewerb und Alternativen. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick auf die (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- häusliche Pflege werfen. Pflege in Deutschland wird nach NISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall des Abg. wie vor zum größten Teil innerhalb der Familie geleistet Martin Hebner [AfD]) und dort vor allem von Frauen. Die SPD möchte deshalb Damit sind wir bei der sogenannten Bürgerversiche- pflegende Angehörige und damit vor allem die rund rung, die in Wirklichkeit eine Einheitsversicherung ist. 3 Millionen Frauen, die familiäre Pflege leisten, besser absichern. Dazu wollen wir einen Anspruch auf Pflege- (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE zeit mit Lohnersatzleistungen einführen analog zur El- GRÜNEN]: Das steht bei uns gar nicht drin! ternzeit mit Elterngeld. Auch bewusst!) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurde Diese Bürgerversicherung hat mehr Fehler, als mancher viel getan. Wir haben noch viel vor uns. Aber ich erkenne Hund Flöhe hat. Lassen Sie uns einen Blick in diesen hier im Plenum einen großen Konsens, konstruktiv an Flohzirkus werfen: 15622 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Wieland Schinnenburg (A) (Heike Baehrens [SPD]: Ein bisschen erns- Vielen Dank, meine Damen und Herren. (C) thafter werden!) (Beifall bei der FDP) Erstens. Die Bürgerversicherung basiert auf dem Um- lageprinzip. Das Umlageprinzip kann funktionieren, wenn die Jahrgänge etwa gleich sind. Das ist aber nicht Vizepräsidentin Claudia Roth: der Fall. Wir haben schon sehr bald sehr viele Pflege- Vielen Dank, Dr. Schinnenburg. – Nächster und letzter bedürftige, aber nur wenige Beitragszahler, und da kann Redner in dieser Debatte: Dr. Roy Kühne für die CDU/ ein Umlagesystem nicht funktionieren. CSU-Fraktion. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wie die Ka- (Beifall bei der CDU/CSU) pitaldeckung funktioniert, sehen wir in Chile!) Wir belasten damit Ältere. Das ist inakzeptabel. Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Martin Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Pflege- Hebner [AfD] – Kordula Schulz-Asche versicherung ist ein Erfolgsmodell; das wurde heute be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb reits mehrfach gesagt. Aber sie ist auch ein Modell, das klatscht auch die AfD gerade!) natürlich im Laufe der Zeit irgendwann renoviert und aktualisiert werden muss. In Anbetracht des demografi- Zweitens. Wir müssen, gerade weil das so ist, den Men- schen Wandels, der absehbar steigenden Anzahl von Pfle- schen Anreize geben, eigene Vorsorge zu betreiben. gebedürftigen und vor dem Hintergrund des Fachkräfte- Wenn Sie aber einen relativ niedrigen Eigenanteil vorse- mangels ist klar, dass das System neuerdings vor großen hen und dafür die gesamten Leistungen anbieten, entfällt Herausforderungen steht. Der vorliegende Antrag der jeglicher Anreiz, eigene Vorsorge zu betreiben. Das, mei- Grünen beschäftigt sich daher vollkommen zu Recht ne Damen und Herren, ist nichts anderes als kontrapro- mit der Frage, wie pflegerische Leistungen in Zukunft duktiv. Darum lehnen wir das auch ab. finanzierbar werden, für Angehörige und auch für die Drittens. Wir müssen natürlich sehen – das hat mich Pflegebedürftigen selber. Es ist sicherlich eine Frage, wirklich überrascht –, dass Sie auf diese Weise die Arbeit- die uns als Gesundheitspolitiker momentan stark beschäf- geber entlasten. Das mag man ja gut finden. Nur kann ich tigen sollte; denn sie bewegt die Gesellschaft. mich entsinnen, dass Grüne, Linke und auch die SPD immer von der Parität reden; die Arbeitgeber müssen ei- Die Vorschläge, die derzeit aber im Raum stehen, nen paritätischen Beitrag leisten. Mit der Bürgerversiche- könnten teilweise kaum unterschiedlicher sein. Deshalb (B) rung beseitigen Sie genau das. lohnt es sich gerade jetzt, einen Blick auf die Details zu (D) werfen und zu gucken, wo wir Ressourcen heben können (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE und – das wurde bereits angesprochen – wie wir verschie- GRÜNEN]: Aber Sie haben schon mitbekom- denste Verantwortungsebenen einbeziehen können; die men, dass es kein Bürgerversicherungsantrag Kommunen wurden genannt. Das bedeutet aber nicht, ist?) dass wir eine totale Abkehr von der bisherigen Systema- tik haben wollen. Denn wenn Sie alle Einnahmen einbeziehen, sinkt der Anteil des Beitrages aus der abhängigen Beschäftigung, Wir haben – das wurde durch meinen Kollegen Herrn woran sich der Arbeitgeber beteiligt. Ergebnis: Grüne, Rüddel schon angesprochen – in den vergangenen Wahl- Linke und SPD senken den Arbeitgeberanteil. Kann perioden mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III we- man gut finden, entspricht aber nicht dem, was Sie sonst sentliche Verbesserungen in der pflegerischen Versor- immer erzählen. gung auf den Weg gebracht. Diesen Weg setzen wir mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz und dem Pflegelöh- (Heike Baehrens [SPD]: Das ist falsch! Das ist neverbesserungsgesetz konsequent fort. kompletter Unsinn! Sie haben das Konzept nicht begriffen!) Die Kosten in der Pflege steigen aber auch deshalb, weil wir genau das getan haben, wodurch Pflegekräfte – Viertens. Wenn Sie alle Einnahmen berücksichtigen verdient – mehr Geld verdienen. Dadurch verbessern wir wollen, müssen Sie natürlich auch kontrollieren, ob sie Arbeitsstrukturen und haben natürlich auch motiviertere auch wirklich gemeldet werden. Was brauchen Sie? Eine Pflegekräfte. Das spüren Patientinnen und Patienten und Pflegefahndung analog der Steuerfahndung. Liebe Grü- Angehörige. Das sollten wir nicht verschweigen. Eben- ne, haben Sie nicht irgendwann mal was von Datenschutz falls haben wir die Rückgriffsschwelle gerade gestern auf erzählt? Meine Damen und Herren, die Bürgerversiche- 100 000 Euro festgesetzt. Damit setzen wir weiter auf rung wird zu einer großen Schnüffelei führen. Das teilen konkrete Verbesserungen. wir als Freie Demokraten nicht. Ich glaube, mit diesen Aktionen sind weitere Grund- (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE pfeiler gesetzt, um zukünftig die Initiative, die auch durch GRÜNEN]: Sie reden irgendwie am Thema die konzertierte Aktion begonnen wurde, weiter voranzu- vorbei!) bringen. Ich bin den beteiligten Ressorts sehr dankbar, Ergebnis: Die Einheitsversicherung ist nichts anderes dass wir diese Diskussion aktuell führen. Noch mal: Pfle- als eine Einfaltsversicherung, und das lehnen wir Freie gepolitik ist etwas, was die Menschen draußen unmittel- Demokraten ab. bar spüren, egal in welchem Bereich. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15623

Dr. Roy Kühne (A) Dies wurde auch schon mehrfach gesagt: Wir sind uns, ma investiert in die Zukunft. – Ich glaube, wir sollten uns (C) glaube ich, alle darin einig, dass mit den Belastungen von darin einig werden, diese Vokabel zu nutzen. Mit einer Menschen, die zu pflegende Angehörige haben, irgendwo guten Pflegepolitik, mit einer Entlastung der Angehöri- auch Schluss sein muss. Es ist für die Menschen nicht gen investieren wir in die Zukunft. mehr nachvollziehbar, dass die berechtigten Veränderun- gen in der Pflegepolitik irgendwie nur auf die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- abgewälzt werden, die dann den Mehrkostenanteil zu tra- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- gen haben. Wir als Politik haben hier die Verantwortung, ten der SPD) eine Lösung zu finden, sodass die Menschen draußen Die Zukunft besteht darin, dass wir den Pflegebedürf- sagen: Jawoll, hier muss Geld investiert werden. Ich bin tigen eine wirklich menschengerechte, adäquate Pflege dabei. Aber du, Staat, hast ebenfalls deine Verantwortung. zukommen lassen und dass die Angehörigen keine Angst (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und haben müssen, ob sie morgen die Pflege ihrer Angehöri- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen noch bezahlen können. Deshalb denke ich: Wenn wir über die Finanzierung der Pflege reden, geht es darum, Ganz konkret – ich möchte gar nicht weiter darauf ein- wie wir diesen Menschen Sicherheit geben können. gehen; denn es wurde genug dazu gesagt –: Ich möchte Gleichzeitig muss es natürlich auch eine Diskussion über mit Blick auf den vorliegenden Antrag klar sagen, dass die Situation der Pflegekräfte geben. Ich glaube, die Pfle- ich den Kollegen von den Grünen sehr dankbar bin, dass gekräfte haben wir ganz klar an unserer Seite, wenn wir das Thema aktualisiert wird. Es wurde, glaube ich, auch ihnen Raum für Motivation lassen, wenn wir Raum für schon mehrfach parteiübergreifend – mit einer Ausnah- Arbeitsstrukturen lassen und wenn wir Raum für Gehalt me – gesagt, dass hier logischerweise investiert werden lassen. Das sind Faktoren, die Menschen ihren Arbeits- muss, und zwar in Zeit und Gespräche. prozess motiviert durchführen lassen. Das ist gerade in Ich befürchte aber, dass wir, wenn wir die Sockel-Spit- der Behandlung von Menschen immens wichtig. Es ist ein ze-Umkehr machen – das wurde auch schon gesagt –, Unterschied, ob eine Stoßstange ausgetauscht oder ob ein teilweise eine Wettbewerbsverschiebung bekommen, Mensch gepflegt wird. Darüber sollten wir uns im Klaren weil im Grunde genommen die Verhältnisse in den Län- sein. dern, was die Kosten angeht, verschoben werden. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der müssen daher überlegen, wie wir gleichwertige Verhält- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nisse schaffen. Wir hatten heute Morgen die Debatte zum NEN) 30. Jahrestag des Mauerfalls. Es kam wieder der Spruch: Wir müssen für gleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse Ich bin den Grünen, wie gesagt, sehr dankbar, dass wir (B) sorgen. – Das ist ein guter Einstieg, darüber nachzuden- hier genau hinterfragen, wie es zukünftig mit der Pflege (D) ken, wie wir die gleichwertige Finanzierung der Löhne weitergeht. Ich glaube, übergreifend sind wir uns alle gleichmäßig auf die Bundesländer verteilen, sodass eine einig, dass das passieren muss. Deshalb freue ich mich Pflegekraft fünf Kilometer weiter von einer anderen nicht ebenfalls auf eine konstruktive, eine streitbare Diskus- das Gefühl hat, sie sei Pflegekraft zweiter Klasse. sion – warum nicht? –, aber alle bitte mit dem gleichen Ziel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Danke schön. Ich werfe mal einen Stein ins Wasser: Man muss viel- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie leicht auch einmal über unpopuläre oder unorthodoxe bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Lösungen reden. Es stellt sich nämlich zum Beispiel die GRÜNEN) Frage nach der Finanzierung der medizinischen Behand- lungspflege in stationären Einrichtungen durch die Kran- kenversicherung. Wenn an einem Tag etwas zu einem Vizepräsidentin Claudia Roth: ganz bestimmten Satz bezahlt wird, am nächsten Tag aber Vielen Dank, Dr. Roy Kühne. – Manche von Ihnen derselbe Patient mit derselben Leistungsvorsorge, wahr- erwarten jetzt, dass redet. Aber sie redet scheinlich sogar mit denselben Mitteln, kommt, aber eine nicht, weil sie leider erkrankt ist. Von hier aus gute Bes- unterschiedliche Bezahlung stattfindet, dann müssen wir serung! Die Redezeit wurde aber natürlich auf die Kol- die Frage stellen: Ist das richtig? Ich denke, in dieser legen der CDU/CSU-Fraktion verteilt. Frage kann man durchaus mit den Krankenkassen spre- chen. Damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/14827 an (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- SES 90/DIE GRÜNEN) schlagen. – Sie sind mit diesem Überweisungsvorschlag einverstanden. Dann verfahren wir so. Um eine in meinen Augen ungünstige Formulierung zu wählen, die übrigens kein Unternehmen aus der Wirt- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 sowie den Zusatz- schaft so benutzt: Mir wird oftmals zu sehr von „Kosten“ punkt 11 auf: geredet. Keine Firma, die von Verbesserungen von Know-how, von Verbesserungen von Leistungen und 32 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ von Verbesserungen von Effektivität redet, spricht von CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- „Kosten“. Wir lesen in allen Zeitungen: Die und die Fir- setzes über einen nationalen Zertifikatehandel 15624 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) für Brennstoffemissionen (Brennstoffemis- dustriestandorts Deutschland, unserer Grund- (C) sionshandelsgesetz – BEHG) stoffindustrie, und das können wir als Sozialdemokratin- nen und Sozialdemokraten auf gar keinen Fall Drucksache 19/14746 unterstützen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) (Beifall bei der SPD) Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ich freue mich, dass auch unser Koalitionspartner diese Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Einsicht teilt und dass wir hier einen Gesetzentwurf für Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft einen nationalen Emissionshandel für die Bereiche Ver- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur kehr und Gebäude einbringen. Die Kernbotschaft, die von Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen diesem Gesetzentwurf ausgeht, ist: Fossiles CO2 be- Haushaltsausschuss kommt jetzt überall einen Preis. Das ist ganz entschei- ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten dend. Dr. Lukas Köhler, Frank Sitta, Grigorios (Beifall bei der SPD – Dr. Lukas Köhler [FDP]: Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- Der nichts bringt und verfassungswidrig ist!) tion der FDP – Herr Kollege, dazu komme ich gleich. – Wir wollen Klimaschutz braucht ein CO2-Limit – Klima- einen Wirtschaftskreislauf, der fossiles CO2 reduziert. ziele durch die Ausweitung des EU-Emissions- Wir wollen eine Low Carbon Economy. Wir wollen eine handels in Deutschland garantiert erreichen zukunftsfähige Wirtschaft schaffen. Drucksache 19/14782 (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Ich hoffe es!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Und wir wollen der Industrie, dem Gewerbe und den Ver- Ausschuss für Wirtschaft und Energie braucherinnen und Verbrauchern die notwendige Über- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gangszeit geben. Und das tun wir. Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der Herr Kollege Mindrup, erlauben Sie eine Zwischenfra- Debatte teilnehmen wollen, Platz zu nehmen, die ande- ge? ren, möglichst zügig den Raum zu verlassen. (B) (D) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Klaus Klaus Mindrup (SPD): Mindrup für die SPD-Fraktion. Nein, wir führen die Debatte ja noch im Ausschuss. Das mache ich jetzt nicht. Die Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei der SPD) wollen ja irgendwann auch noch mal nach Hause.

Klaus Mindrup (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und CSU und der LINKEN) Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Die Einnahmen, die wir aus dem Emissionshandel er- dass wir heute beim Klimaschutz wieder einen Schritt zielen, fließen an die Bürgerinnen und Bürger zurück: in vorankommen. Bevor ich aber zum Gesetzentwurf der Investitionsprogramme, in die Senkung der EEG-Umla- Regierungskoalition komme, möchte ich erst mal etwas ge, in das Wohngeld, in die Unterstützung bei den Fahrt- zum Antrag der FDP sagen. kosten. Es ist ja gerade schon vom Kollegen Dr. Köhler angesprochen worden: Es wird hier behauptet, dieses Ge- (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Hervorragend!) setz sei verfassungswidrig. Ich habe großen Respekt vor Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum wiederholten dem Bundesverfassungsgericht. Die Art und Weise, wie Mal diskutieren wir jetzt hier über Ihren Vorschlag, den das Bundesverfassungsgericht hier instrumentalisiert europäischen Emissionshandel sofort auszuweiten auf die wird, halte ich für überhaupt nicht tragfähig, meine Da- Bereiche Verkehr und Gebäude. Wir haben in der Ver- men und Herren! gangenheit – ich denke, das sollten Sie auch tun – mit Praktikern geredet, (Beifall bei der SPD – Dr. Florian Toncar [FDP]: Also, Verfassungsrechte darf man nicht (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Tun wir! Durchge- prüfen in der Gesetzgebung!) hend!) Das Gesetz soll mindestens bis 2050 wirken, und Sie mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit Gewerk- nehmen die Einführungsphase heraus und schließen von schaften und Betriebsräten. Auch die Wissenschaft sagt: der Einführungsphase auf die gesamte Laufzeit des Ge- Die Vermeidungskosten sind sehr unterschiedlich. – Was setzes. Nur diesen Zeitraum zu betrachten, ist ein fataler passiert, wenn wir Ihren Vorschlag umsetzen würden? Fehler. Das ist absolut falsch. Der Fahrer oder die Fahrerin eines großen Autos kann sich einfach freikaufen; aber die Industrie kann nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schnell genug reagieren. Das, was Sie an dieser Stelle der CDU/CSU – Dr. Lukas Köhler [FDP]: Das machen, ist nichts anderes als eine Gefährdung des In- tun Sie doch selber!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15625

Klaus Mindrup (A) Das wäre so wie beim Fußball. Der BVB hat 0 : 2 gegen stützt – auf große Buttons und Sticker verzichten. Ich bitte (C) Mailand zurückgelegen. Mein Bruder war im Stadion und Sie, diesen Button abzunehmen. – Vielen Dank. hat gesagt, er geht nach Hause. Wäre er nach Hause ge- gangen, wäre es ein fataler Fehler gewesen. Das Spiel (Karsten Hilse [AfD]: Wenn Sie mich als Prä- dauert 90 Minuten. Der Betrachtungszeitraum ist ent- sidentin darum bitten, mache ich das!) scheidend. – Ich bitte Sie. Wenn ich schon mal so nett zu Ihnen bin. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Heiterkeit) Timon Gremmels [SPD]: Die FDP geht ja gar Vielen Dank, Herr Hilse; ich danke Ihnen sehr. nicht erst auf das Spielfeld!) Also, wie Sie sehen, der nächste Redner steht schon da: – Das ist übrigens das Einzige, wo ich Schwarz-Gelb gut Karsten Hilse für die AfD-Fraktion. finde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der An- Karsten Hilse (AfD): hörung herausgearbeitet: Der europäische Emissionshan- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe del hat zwölf Jahre gebraucht, bis er ein wirksames Preis- Landsleute! Endlich ist die nächste Stufe der Ausplünde- signal gesendet hat. Wir wollen das in sechs Jahren rung eingeläutet: Klimaschutzgesetz, Brennstoffemis- schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen sionshandelsgesetz. Die Einführung der gesetzlichen und werden in diesem Bereich erfolgreich sein. Wir brin- Grundlagen zur Besteuerung der Atemluft steht kurz gen viele Dinge nach vorne. Wir stocken die Mittel für die bevor. Bahn auf – Rekordinvestitionen. Wir schaffen ein moder- nes Gebäudeenergierecht, damit wir vorankommen. Wir (Beifall bei der AfD) erhöhen die Zuschüsse in diesem Bereich. Wir stärken die „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem steuerliche Förderung. Wir machen ein Gebäudeenergie- Fegefeuer springt“ – ein beliebter Spruch im Mittelalter, recht, wo die Photovoltaik endlich als erneuerbare Ener- um den Ablasshandel zu begleiten. Auch hier wurde eine gie angerechnet werden kann. Gefahr – die, im Fegefeuer zu verbrennen – frei erfunden, um die Menschen gnadenlos auszuplündern. Und auch (Beifall bei der SPD – Sylvia Kotting-Uhl heute macht man sich Gedanken, wie man die Ausplün- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaubst derung forcieren, wie man sie perfektionieren kann und du doch selber alles nicht!) wie man die Menschen dazu bringt, dass sie sich freiwil- Das ist ganz entscheidend. Beim 52-Gigawatt-Deckel lig – freiwillig! – einen nicht unerheblichen Teil ihres hart (B) geht es voran. Und wir werden die Mittel für die Bürger- erarbeiteten Geldes abpressen lassen. Bemerkenswerter- (D) energie aufstocken. Das machen wir alles parallel zur weise ist es auch heute wieder das Fegefeuer, vor dem Einführung des Emissionshandels; denn der Emissions- man den Menschen Angst macht, diesmal geht es aber handel allein wird es nicht schaffen. Der Emissionshandel nicht nur um die einzelne Seele, sondern um den Unter- muss flankiert werden von Innovation, von Forschung, gang der ganzen Welt, quasi um das finale Fegefeuer. von Anreizen und von Ordnungsrecht. Dann werden wir Mit einem Priester auf der Kanzel ist es bei solchen gemeinsam erfolgreich sein. Dimensionen natürlich nicht getan; da muss man schon Herzlichen Dank. größere Geschütze auffahren. So konnten wir in den letz- ten Jahren, vor allem im zurückliegenden Jahr, eine gut (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja geplante, hoch emotionale und professionell durchgezo- Weisgerber [CDU/CSU]) gene Kampagne erleben, losgetreten von Neomarxisten, Neostalinisten, teilweise finanziert von Multimilliardä- ren, begleitet von Leitmedien, vor allem von den Öffent- Vizepräsidentin Claudia Roth: lich-Rechtlichen. Diese hämmerten ihren Lesern und Zu- Herzlichen Dank, Klaus Mindrup. – Liebe Kolleginnen schauern tagtäglich ein, dass sie für das nahende, finale und Kollegen, es kam gerade die Frage nach Zulassung Fegefeuer verantwortlich seien. einer Kurzintervention. Ich möchte Ihnen sagen, warum ich sie nicht zugelassen habe. Wir sind im Moment in der Mit genügend finanziellen Mitteln ausgestattete Orga- Abarbeitung der Tagesordnung bei 19.00 Uhr für den nisationen nahmen dann Kinder und Jugendliche ins Vi- Schluss der Sitzung angelangt – Freitagabend. Deswegen sier und missbrauchten diese für ihre Ziele. Als Vorbild werde ich, ähnlich wie bei Abend- und Nachtsitzungen, galt die Kulturrevolution in China und die damaligen keine Kurzintervention mehr zulassen. Kommunisten, die die Kinder gegen ihre Eltern aufhetz- ten. Damals war es der Große Sprung mit Millionen von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Toten. Heute ist es die Große Transformation. SPD und der LINKEN) (Beifall bei der AfD – Gökay Akbulut [DIE Sie haben ja die Möglichkeit, die Debatte in den Aus- LINKE]: Was haben Sie getrunken?) schüssen fortzusetzen. Unter der Anführerschaft von Greta Thunberg zogen Herr Hilse, Sie wissen, was jetzt kommt. Ich bitte Sie hüpfend und schreiend Tausende Kinder und Jugendliche herzlich, auf optische Aussagen zu verzichten. Es gibt durch die Straßen und forderten, den Wohlstand, den ihre eine Übereinkunft, dass wir Argumente austauschen, Eltern mit ihrer Hände Arbeit geschaffen hatten, für die aber – das wurde gerade von Ihrer Fraktion stark unter- Rettung der Welt zu vernichten und den bösen Kapitalis- 15626 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Karsten Hilse (A) mus doch endlich zu überwinden und endlich weltweit Mehrere Juristen gehen übrigens davon aus, dass das (C) den Übergang zum Sozialismus einzuläuten. Ich bin im Gesetz nicht verfassungskonform ist, vor allem deshalb, Sozialismus aufgewachsen. Ich habe Plan- und Mangel- weil die Abgabe, die faktisch eine CO2-Steuer ist, aus wirtschaft erlebt. Ich habe Meinungsdiktatur erlebt und Angst vor Gelbwestenprotesten nicht als solche benannt die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Ich möchte wird. keinen Sozialismus, egal ob er im braunen, roten oder im grünen Gewand daherkommt. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So was war mal Polizist!) (Beifall bei der AfD – [AfD]: Das klang in der Anhörung im Ausschuss an. Nie wieder Sozialismus!) Alles in allem ist es ein weiteres Gesetz, das aufgrund Um Greta ist es in den letzten Wochen etwas ruhiger einer absurden, nicht bewiesenen Hypothese erlassen geworden. Das hat sicherlich damit zu tun, dass sich die wird, das dazu dient, erstens das Volk noch effektiver Amis eher nicht um falsche Weltuntergangspropheten auszuplündern und zweitens die Gesellschaft in eine öko- kümmern. Von hier aus: Herzlichen Glückwunsch, Herr sozialistische Diktatur zu transformieren. Trump, zum Aussteigen aus dem Pariser Klimaüberein- kommen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Damit, liebe Genossen, verlassen Sie den Boden Allerdings interessieren sich die deutschen Leitmedien (Timon Gremmels [SPD]: Wir sind nicht Ihre dafür, wie Frau Thunberg jetzt CO2-neutral nach Madrid Genossen! Mein Genosse sind Sie nicht und kommt. Wenn Frau Göring-Eckardt – sie ist heute nicht werden Sie nicht!) da, schade - der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und wer- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den dafür zur Verantwortung gezogen werden. Ich hoffe Wo ist denn Herr Gauland?) für Sie: nach Artikel 20 Absatz 2 und nicht nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz. und der Berliner Bischof recht behalten, die sie mit einem Propheten und Jesus verglichen haben, wird sie wohl Vielen Dank. übers Meer gelaufen kommen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) Kommen wir zum Gesetz. Mit der Einführung eines (D) nationalen Emissionshandelsgesetzes wird ein weiteres Können Sie bitte den Button mitnehmen? – Danke Bürokratiemonster geschaffen, das die Menschen weiter schön. ausplündert. Die Kosten werden gewohnheitsgemäß von Danke, Karsten Hilse. – Nächste Rednerin: Dr. Anja den Unternehmern direkt oder indirekt auf die Kunden Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. umgelegt werden. Gleichzeitig schafft man die nächste Abteilung bzw. Behörde – oder wie auch immer man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- das nennen will –, in der die Grünen und Sozialisten ihre ordneten der SPD) Studienabbrecher hochbezahlt unterbringen können. Die Plätze hier im Bundestag sind ja durchaus begrenzt. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und (Beifall bei der AfD) Kollegen! Wir erreichen die Klimaziele 2030 – sie sind Wahrscheinlich werden auch einige der externen Berater sehr ehrgeizig – nur, wenn wir in allen Sektoren ansetzen darunter sein, für die das Umweltministerium seit 2014 und den CO2-Ausstoß überall senken. Deswegen haben mal eben schlappe 614 Millionen Euro ausgegeben hat. wir ein umfassendes Klimapaket auf den Weg gebracht, das zum einen aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE über 70 Maßnahmen, besteht, die wir jetzt Stück für Stück GRÜNEN]: Hauptsache, keine Nazis!) in den Bundestag bringen, und das zum anderen einen Kontrollmechanismus vorsieht, der absolut wirksam ist In § 10 werden die Preise für die Zertifikate festgelegt, und den wir im Klimaschutzgesetz verankern. allerdings mit der Maßgabe, sie jährlich verändern zu können. Der Startpreis von 10 Euro zeugt von der Angst (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Bundesregierung vor Massenprotesten. Wegen dieser Zum Dritten enthält das Klimapaket eine CO2-Beprei- Angst heißt diese faktische – faktische! – CO2-Steuer auch nicht „Steuer“, sondern „Bepreisung“. Ich persön- sung. Ich bin richtig stolz, dass wir diese CO2-Bepreisung lich hoffe, dass die Verkaufszahlen von Gelbwesten nach jetzt auch auf den Weg bringen. Ein Großteil der Strom- der Verabschiedung dieser Gesetze nach oben schnellen erzeugung und der Industrie ist ja bereits im europäischen werden. Emissionshandel erfasst. (Beifall bei der AfD – Sylvia Kotting-Uhl (Martin Hebner [AfD]: Das war mal eine kon- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht servative Partei!) Ihnen ähnlich! Und Sie mit der Fackel vorne Bislang nicht erfasst sind aber die Bereiche Wärme und dran!) Verkehr. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15627

Dr. Anja Weisgerber (A) Wir sind eines der ersten Länder in der Europäischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) Union, das einen nationalen Emissionshandel für diese ordneten der SPD) Bereiche auf den Weg bringt mit dem Ziel, auch die ande- ren EU-Mitgliedstaaten dazu zu bringen, dass der EU- und die ist auch durchaus vernünftiger als die der Op- position. Emissionshandel auch auf diese Bereiche ausgeweitet wird. Das hat Kommissionspräsidentin Ursula von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Leyen ja bereits angekündigt. der SPD)

Wir machen neben der CO2-Bepreisung ein umfassen- Uns ist bei dem Gesetz wichtig, dass wir die Unter- des Maßnahmenpaket, das Anreize beinhaltet, um den nehmen, die bereits im europäischen Emissionshandel Bürgern den Umstieg auf klimafreundliche Technologien aufgenommen sind, die da schon belastet sind, nicht dop- zu ermöglichen. pelt belasten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der SPD) Wie stellen Sie das denn sicher?) Das, meine Damen und Herren, ist in unseren Augen ein Unser Ziel ist, im Rahmen der Gesetzgebung Doppelbe- wirksames Gesamtpaket, um die Klimaziele zu erreichen. lastungen möglichst von Anfang an auszuschließen Gerade mit dem Kontrollmechanismus können wir näm- lich immer wieder, Jahr für Jahr, überprüfen, ob wir auf (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kurs sind. Wie machen Sie das? Das ist nicht geklärt!) Ich würde mir sehr wünschen – aber wahrscheinlich ist und so den Liquiditätsentzug und die Bürokratie bei der und bleibt es eine Wunschvorstellung –, dass die Kolle- Rückabwicklung zu vermeiden. Das ist durchaus mög- ginnen und Kollegen der Opposition, vor allem der Grü- lich. Wir werden die Details diesbezüglich im Gesetzge- nen, auch mal anerkennen, dass wir diesen großen Schritt bungsverfahren auch noch regeln. jetzt gehen, und nicht damit drohen, dieses Paket im Bun- (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: desrat zu blockieren. So kommen wir unserem gemein- Wann denn?) samen Ziel, nämlich die Klimaschutzziele zu erreichen, keinen einzigen Millimeter näher. Das können auch Sie – Wir sind mitten in dem Gesetzgebungsverfahren, das nicht wollen, meine Damen und Herren. wir schneller abschließen werden, als Sie sich das jemals vorstellen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) ordneten der SPD) (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Und schlechter! (D) Schneller und schlechter!) Wir gehen den Einstieg, den Schritt in den Emissions- handel zu Beginn bewusst behutsam. Der Einstiegspreis Wir werden trotzdem fundiert arbeiten, lieber Herr Köhler, im Unterschied zur Opposition und im Unter- von 10 Euro pro Tonne CO2 hat uns Kritik eingebracht. Aber der Anfang ist doch nicht das Entscheidende, son- schied zur FDP, zu der auch ich nur sagen kann: Sie sind dern der glaubwürdige Aufwuchspfad ja nicht mal auf das Spielfeld gegangen. Dann hätten wir das mit Ihnen jetzt verhandeln können. (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Den gibt es doch nicht! Der ist doch nicht festgeschrieben!) (Grigorios Aggelidis [FDP]: Sie sind drauf und spielen nicht! – Dr. Lukas Köhler [FDP]: Sie und auch das Ende dieses Aufwuchspfades. Im Endeffekt spielen nicht, Sie stehen nur am Rand und gu- sehen wir bei der Preisentwicklung einen Korridor vor. cken zu!) Bis 2025 wird der Preis verdreifacht. Dann, werter Herr Kollege Köhler, Das möchte ich an der Stelle auch mal sagen. (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Gibt es ein Revi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sionsverfahren!) Dr. Florian Toncar [FDP]: Ihr Spiel ist schon lange abgepfiffen! Aber Sie haben es noch bildet sich dieser Preis am Markt. nicht gemerkt!) (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Dann gibt es erst mal Es gibt mittelständische Unternehmen, die nicht im ein Revisionsverfahren!) europäischen Emissionshandel sind. Es ist unser Ziel, ei- nen angemessenen Schutz für diese Unternehmen vorzu- Es ist vorgesehen, dass sich der Preis nach dem Aufwuchs sehen, die auch im internationalen und europäischen im Korridor von 35 bis 60 Euro vollkommen frei am Wettbewerb stehen. Auch für diesen Carbon-Leakage- Markt bilden und der Höchstpreis dann auch wegfallen Schutz – das ist der Fachbegriff – werden wir uns stark- kann. Meine Damen und Herren, dann sind wir bei den machen; denn wir spielen Ökologie und Ökonomie eben Preisen, die die Wissenschaft fordert. Aber wir wollen die nicht gegeneinander aus, meine sehr geehrten Damen und Menschen dabei mitnehmen. Wir wollen die Unterneh- Herren. men nicht so stark belasten. Wir wollen, dass sie sich auf diese CO2-Bepreisung einstellen. Wir wollen den Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen jetzt sagen, dass sie umsteigen müssen, bevor die der SPD – Dr. Lukas Köhler [FDP]: Sie spielen Preise dann ansteigen werden. Das ist unsere Politik, einfach gar nicht!) 15628 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Anja Weisgerber (A) Wir haben noch ein weiteres Kernanliegen, nämlich die nicht festgeschrieben, es ist ja vorher ein Revisionsver- (C) Beteiligung des Bundestages am Vollzug des Gesetzes fahren geplant. durch Verordnungen. Der Gesetzentwurf sieht an einigen Stellen vor, dass Verordnungen erlassen werden, um das (Beifall bei der FDP – Klaus Mindrup [SPD]: Gesetz im Detail umzusetzen. Wir werden hier darauf Das ist im Gesetz festgeschrieben! – Timon drängen, dass die Beteiligung des Bundestages an den Gremmels [SPD]: Die FDP ist doch schon vor wichtigen Stellen der Ausgestaltung dieser entscheiden- dem Anpfiff vom Platz gegangen!) den Rechtsverordnungen auch garantiert ist; denn das Es gibt sicherlich Kolleginnen und Kollegen, die Borus- sind wichtige Detailregelungen, wo wir an Bord sein sia Dortmund wünschen würden, dass sie mit 15 Spielern müssen. Es ist auch für das Ministerium politisch wichtig, spielen; aber de facto hält man sich an Regeln. dass es die breite demokratische Basis des gesamten Bun- destages hat. Das ist ein wichtiges Kernanliegen von uns. (Beifall bei der FDP) Für uns ist essenziell, dass man eine klare Differen- Liebe Anja, liebe Frau Weisgerber, du hast dir was zierung zwischen fossilen und nichtfossilen Brennstoffen gewünscht. Der Bundestag ist kein Wunschkonzert. Aber bzw. Brennstoffanteilen vornimmt. Bei E 10 müssen wir ich wünsche mir auch was. Ich wünsche mir, dass die zum Beispiel sicherstellen, dass nur für 90 Prozent, eben Union dieses absurde Gesetz stoppt, bevor es zu spät ist. für den fossilen Anteil, eine Bepreisung vorgenommen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ wird und eben nicht für den 10-prozentigen Anteil der DIE GRÜNEN) biogenen Beimischung. Es ist doch eine Farce, was hier gemacht wird. Ich kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verstehen, dass die SPD das Klimaschutzgesetz durch- peitscht. Das braucht man für den Parteitag. Das muss Das ist deswegen wichtig, weil wir die Biokraftstoffe und durchgesetzt werden. perspektivisch auch die synthetischen Kraftstoffe voran- bringen wollen; denn sie werden uns auch dabei helfen, (Timon Gremmels [SPD]: Wir brauchen das für die CO2-Ziele einzuhalten. die Menschen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aus parteitaktischen Gründen Dinge schnell und schlecht zu machen, halte ich zwar für nicht gut, aber es ist okay, Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. dass die SPD das möchte. Aber, liebe Union, Geschwin- Ich werde nicht müde, zu betonen, dass wir ein umfassen- digkeit darf doch nicht vor Qualität gehen, des Paket auf den Weg bringen, das es so in der Form in (B) Deutschland noch nie gegeben hat. Mir ist es wirklich (Beifall bei der FDP) (D) wichtig, dass unsere Kinder und Enkel in einer gesunden und lebenswerten Welt leben können und wir dem Klima- und das ist das, was mit diesem Brennstoffemissionshan- wandel entgegentreten. Ich appelliere an Sie: Lassen Sie delsgesetz hier gemacht wurde. uns mal endlich fraktionsübergreifend und parteiüber- (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Wir arbei- greifend an diesem Ziel arbeiten. Das sind wir auch un- ten schnell und gut!) seren Kindern und Enkeln schuldig. Mit diesem Gesetz wird Millionen von Bürgerinnen und (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Wo ist denn der Kli- Bürgern in die Tasche gegriffen, und es bringt fürs Klima makonsens? – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE noch nicht mal irgendwas. Das ist doch die Absurdität in GRÜNEN) Papierform. Ich zähle auf Ihre gute Zusammenarbeit im Bundesrats- (Beifall bei der FDP) verfahren. Sie haben es geschafft, ein Gesetz zu schreiben, das die Danke schön. Mittelschicht über Gebühr belastet und das Geld so ver- teilt, dass nur die Reichsten und die Ärmsten entlastet (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- werden. Das kann doch nicht das Ziel Ihrer Gesetzgebung ordneten der SPD) sein. Dabei bringt es noch nicht mal was. Sie haben einen Preis gewählt, der ganz sicher keinen Klimaeffekt haben Vizepräsidentin Claudia Roth: wird. Vielen Dank, Dr. Anja Weisgerber. – Nächster Redner: (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Hat der Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. Preis keinen Klimaeffekt, wenn er zwischen (Beifall bei der FDP) 35 und 60 Euro liegt? Das kann doch keiner von Ihnen betonen! Das ist der Wahnsinn!) Dr. Lukas Köhler (FDP): Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Landes sagen, dass das Nonsens ist. Damen und Herren! Lieber Klaus, Borussia Dortmund darf auch nicht bis zur Halbzeit mit 15 Spielern spielen. (Beifall bei der FDP) Es ist doch völlig absurd, zu sagen: Wir machen jetzt ein Sie haben es geschafft, ein Gesetz zu schaffen, das nur Gesetz, das verfassungswidrig ist, und hoffen dann da- so vor Bürokratie strotzt und das sogar verfassungswidrig rauf, dass es ab 2025 verfassungsgemäß ist; denn es ja ist. Liebe Union, ich kann verstehen, dass die SPD nicht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15629

Dr. Lukas Köhler (A) viel für die Landwirte übrig hat. Aber Sie stellen sich Jahr es eben kein Emissionshandel ist! Es hat keine Mengen- (C) für Jahr hierhin und sagen, dass Sie die Anwälte der begrenzung, die wirkt. Es hat gar keine Mengenbegren- Landwirte sind, und dann beschließen Sie ein absurdes zung. Gesetz, das die Bürokratie erhöht. (Klaus Mindrup [SPD]: Es bekommt eine! (Timon Gremmels [SPD]: Das ist doch erst 2027!) eingebracht, das Gesetz! Wartet mal ab!) Es hat noch nicht mal eine Handelbarkeit. Beides wäre Ich möchte Ihnen erklären, warum. Das Problem dieses notwendig gewesen, um dieses Gesetz nicht verfassungs- Gesetzes ist, dass jeder Hersteller, jeder Landwirt, der widrig zu machen. Biomethan herstellt, die gleiche Bürokratie hat. Und was passiert dann? Am Ende wird das Gesetz für (Timon Gremmels [SPD]: Wartet doch erst mal nichtig erklärt, und wenn es für nichtig erklärt wird, dann ab!) hat die SPD kein Problem mehr, Natürlich ist Biomethan auf „null Emissionen“ gesetzt. (Timon Gremmels [SPD]: Sind Sie Verfas- Natürlich ist das richtig. Aber trotzdem muss er bürokra- sungsrechtler?) tisch am Emissionshandel teilnehmen. Das ist eine Farce. weil Sie dann im nächsten Jahr keinen Finanzminister Sie belasten die Landwirte dieses Landes über die Maßen, mehr haben. die ja nicht gerade unter Bürokratieentlastung leiden. (Beifall der Abg. Grigorios Aggelidis [FDP] (Beifall bei der FDP – Dr. Anja Weisgerber und Karsten Hilse [AfD]) [CDU/CSU]: Die werden überhaupt nicht be- lastet!) Aber Sie, liebe Union, die Sie immer an der Regierung sind, Sie hatten die Ex-post- und die Ex-ante-Belastung der Industrie angesprochen. Was heißt das? Die Industrie (Timon Gremmels [SPD]: Immer war die muss am bürokratischen Emissionshandel auch dann teil- Union nicht an der Regierung!) nehmen, wenn sie doppelt belastet wird. haben dann das Problem, dass Sie das Geld zurückzahlen (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Nein! müssen, und zwar nicht an die Bürgerinnen und Bürger, Nein! Sie haben mich nicht verstanden!) sondern an die Unternehmen, die das längst weiter- gegeben haben. Sie belasten die Menschen. Sie machen Das ist im Moment das Problem. Man kann es ändern. Sie keinen Klimaschutz. Sie setzen das Gesetz nicht sinnvoll werden weiterhin bürokratisch belastet werden, nur jetzt um. Bitte ändern Sie das, und sorgen Sie dafür, dass man (B) ist der Fall, dass sie das Geld, das sie dringend für Inves- (D) Klimaschutz sinnvoll macht! Wir haben dafür einen Weg titionen benötigen, erst mal an den Staat überweisen und vorgezeichnet. Den gilt es umzusetzen. dann darauf hoffen müssen, dass sie es irgendwann zu- rücküberwiesen bekommen. Vielen lieben Dank. (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Vorab! Ich (Beifall bei der FDP – Klaus Mindrup [SPD]: habe gesagt „vorab“!) Das ist eine Sackgasse! – Gegenruf des Abg. Auch das ist ein Problem, mit dem Sie umgehen müssen. Dr. Lukas Köhler [FDP]: Das Gesetz ist eine Sackgasse! – Gegenruf des Abg. Grigorios (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen Aggelidis [FDP]: Die SPD ist eine Sackgasse!) wir!) Und da hoffe ich darauf, dass Sie das ändern können. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Lukas Köhler. – Nächster Redner: für die Man könnte es ändern, wenn das Gesetz nicht inner- Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin. halb einer Woche durch diesen Bundestag gepeitscht wer- den würde, (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lorenz Gösta Beutin (DIE LINKE): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Der Staatssekretär wir! Wir ändern das doch!) im Wirtschaftsministerium Thomas Bareiß hat am Wo- wenn Sie die Verbände eingebunden hätten, wenn Sie den chenende getwittert, die Umweltverbände in der Bundes- Verbänden nicht nur einen halben Tag, und zwar am republik Deutschland seien schuld, wenn in der Automo- Sonntag, Zeit gegeben hätten. bilindustrie Arbeitsplätze verloren gehen. Das heißt: Thomas Bareiß aus dem Wirtschaftsministerium versucht Aber, meine Damen und Herren, das Schlimmste an tatsächlich, das Versagen der Bundesregierung den Um- diesem Gesetz ist: Es ist verfassungswidrig. weltverbänden anzulasten. Das ist ein Skandal. (Timon Gremmels [SPD]: Darüber entscheidet (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- das Verfassungsgericht und nicht Sie!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Lisa Badum [BÜND- Das ist ganz klar, und das haben die Experten im Aus- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Herr schuss auch exakt so aufgezeigt. Warum ist das so? Weil Bareiß?) 15630 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Lorenz Gösta Beutin (A) Müsste es nicht eher um eine wirksame Industriestrate- Und es kommt letztlich noch absurder: Für Menschen, (C) gie dieser Bundesregierung gehen? Müsste es nicht um die mit der Bahn pendeln, gilt eine Höchstgrenze von Ideen für die Zukunft gehen, wie wir die Wirtschaft um- 58 Kilometern bei der Pendlerpauschale. Diese Höchst- gestalten werden? Ist es nicht längst überfällig, dass diese grenze, die für die Bahn gilt, gilt nicht für den Privat-Pkw. Bundesregierung mit den Gewerkschaften gemeinsam ei- Das heißt, Menschen, die vielleicht überlegen, auf die ne Strategie entwickelt, wie wir gute Arbeitsplätze in Bahn umzusteigen, aber eine längere Strecke haben, die Deutschland erreichen können, wie wir im Zuge des so- sie pendeln müssen, werden dazu ermutigt, einen privaten zial-ökologischen Wandels gute Arbeit erhalten, wie wir Pkw zu nutzen und nicht die Bahn. Arbeitsplätze umbauen, wie wir eine Konversion von Ar- beitsplätzen erreichen? Wir müssen gute Arbeit schaffen (Klaus Mindrup [SPD]: Das machen wir und gleichzeitig Klimaschutz machen. billiger!) – Das macht die Bahn billiger? Ich bitte Sie! (Beifall bei der LINKEN) Aber Ihr Emissionshandel bringt an dieser Stelle keine (Klaus Mindrup [SPD]: Wir machen die Bahn Fortschritte. Wir hatten am Mittwoch eine Anhörung im billiger!) Umweltausschuss zum Emissionshandel. Beide juristi- – Genau das wäre der richtige Weg. – Es ist der falsche schen Experten, die dort vertreten waren, haben noch ein- Weg, eine Höchstgrenze für die Nutzung der Bahn fest- mal genau erläutert, warum dieses Gesetz verfassungs- zulegen und Menschen anzureizen, den privaten Pkw zu widrig ist: weil diese Art der CO2-Bepreisung über den nutzen. Emissionshandel, wie Sie ihn gestalten, nicht funktio- niert. Das bestätigen bis jetzt alle juristischen Gutachten, (Beifall bei der LINKEN – Timon Gremmels die auch Ihnen vorliegen. Wir sagen: Sie gefährden Kli- [SPD]: Falsch!) maschutz, wenn Sie hier ein Gesetz vorlegen, das nicht Das heißt: Wagen Sie Regelungen, die für alle gelten, nur unwirksam und sozial ungerecht, sondern auch noch und weisen Sie dieses Emissionshandelsrecht zurück. verfassungswidrig ist; denn damit verzögern Sie wirksa- men Klimaschutz noch weiter. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen sagen wir: Es ist nicht nur unwirksam – das bestätigen alle Wissenschaftlerinnen, das bestätigen die Vizepräsidentin Claudia Roth: Umweltverbände –, es ist auch sozial ungerecht, und es Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächste Redne- (B) kann im Verkehrsbereich sogar die gegenteilige Wirkung (D) von dem, was Sie wollen, erreichen. Ich gebe Ihnen da rin: für Bündnis 90/Die Grünen Lisa Badum. gerne zwei Beispiele. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Familie mit zwei Kindern hat ein Einkommen von, sagen wir, 2 000 Euro monatlich. Sie hat ein kleines Lisa Badum (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auto, einen älteren Kleinwagen. Diese Familie wird unter Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen dem Strich belastet; denn sie kann über die Pendlerpau- und Herren! In diesen düsteren Novembertagen des Kli- schale nur einen geringen Anteil von ihrer Steuer abset- mapaketes habe ich mir vorgenommen, was für mein gu- zen, wird aber durch die steigenden Benzinpreise über- tes Karma zu tun und in jeder Rede auch was Positives zu proportional belastet. Einkommensschwache Haushalte, sagen. Deswegen: Was war das Gute in diesem Jahr? Wir das ist das Problem. haben hier über alle demokratischen Fraktionen hinweg ganz viel diskutiert – aus der Ecke wurde meistens das (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!) Thema verfehlt –: Ein Single, Monatseinkommen, sagen wir, 25 000 Eu- (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) ro – das ist schon sehr viel –, fährt einen SUV. Der würde deutlich entlastet; denn die höheren Benzinpreise würde darüber, wann wir die Kohlekraftwerke abschalten sollen, er auf der einen Seite kaum in seinem Portemonnaie über den Ausbau erneuerbarer Energien und auch über spüren. Auf der anderen Seite wird er, da er den Höchst- den CO2-Preis, über den wir heute sprechen. steuersatz zahlt, durch die Erhöhung der Pendlerpauscha- Und wir haben auch in weiten Teilen der Bevölkerung le deutlich entlastet. eine Auseinandersetzung über den Klimaschutz, die an- Das heißt: Mit dem Klimapaket, das Sie hier vorlegen, dauert. Alle bringen sich mit ganz viel Engagement ein. belasten Sie einkommensschwache Haushalte. Sie spit- Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen liefern uns zen die soziale Spaltung zu, und Sie reizen reiche Haus- Expertisen. Es sind Fridays-for-Future-Aktivisten, die ih- halte tatsächlich dazu an, mehr mit dem Auto zu fahren re Zukunft in die Hand nehmen und auf die Straße gehen. und größere Autos zu fahren. Diese soziale Spaltung soll- Es sind Unternehmer, die sich überlegen: Wie können wir ten gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CO2-freien Stahl produzieren, oder wie kann das saubere SPD, zurückweisen. Sie sollten dieses Gesetz wieder kas- Auto der Zukunft in Deutschland hergestellt werden? Al- sieren. le diese Menschen tun ihre Arbeit. Daher frage ich mich: Woran merkt man eigentlich, woran merken wir eigent- (Beifall bei der LINKEN – Timon Gremmels lich, dass die Bundesregierung ihre Arbeit macht und gut [SPD]: Das ist doch zeitlich befristet!) macht? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15631

Lisa Badum (A) Schauen wir uns das am Beispiel des heutigen Brenn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) stoffemissionshandelsgesetzes an, im Volksmund auch Timon Gremmels [SPD]: Der steigt doch von CO2-Bepreisung genannt. Erst einmal wäre es gut, finde Jahr zu Jahr! – Dr. Anja Weisgerber [CDU/ ich, handwerklich gesehen, wenn ein Gesetz verfassungs- CSU]: Aber der steigt doch von Jahr zu Jahr!) konform wäre. Wie wir gehört haben, gibt es da etliche In unserer Anhörung zum CO -Preis-Gesetz haben alle Bedenken. Juristen sind der Meinung, dass ein Fixpreis 2 Experten gesagt, dass dieses Gesetz keinen relevanten für die Tonne CO nicht den Anforderungen des Verfas- 2 Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten kann. sungsgerichts an ein Emissionshandelssystem genügt. Daher: Wenn Sie einen Emissionshandel aufsetzen wol- Für mich, für uns Grüne lautet das Fazit: Auch dieses len, dann lesen Sie doch die Urteile des Bundesverfas- Gesetz ist durch die schreckliche GroKo-Mühle gewan- sungsgerichts. Aber das machen Sie nicht. dert, um bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt rauszu- kommen, völlig wirkungslos und stumpf. Dann denke (Klaus Mindrup [SPD]: Wollen Sie die Preise ich mir: Es wäre doch eigentlich selbstverständlich, dass sofort nach oben durch die Decke schießen las- diese Regierung wie auch die Wissenschaftler und Wis- sen?) senschaftlerinnen wie die Unternehmer und Unterneh- Sie präsentieren stattdessen hier – du, Klaus, du, liebe merinnen einfach mal ihre Arbeit macht. Anja – ohne Scham ein absolut schludriges Gesetz, ein zusammengewürfeltes Zufallsprodukt aus dem hekti- (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Machen schen Hin und Her dieser beiden Regierungsfraktionen. wir doch!) Deswegen – ich habe versucht, positiver zu sein; ich (Klaus Mindrup [SPD]: Oh Gott!) komme darauf zurück – kann ich Ihnen nur das Gleiche Das ist wirklich schamlos, muss ich sagen. raten: Machen Sie Ihre Arbeit! Geben Sie uns ein Gesetz, das den Namen „CO2-Preis-Gesetz“ verdient! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Der zweite Punkt. Wir machen hier Politik, sozial ge- recht, um alle mitzunehmen, um Verbraucher und Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) braucherinnen und Industrie beim Klimaschutz gleicher- maßen mitzunehmen. Was schaffen Sie? Sie haben keines Vizepräsidentin Claudia Roth: von beiden geschafft. Das ist gerade von Gösta Beutin Vielen Dank, Lisa Badum. – Nächster Redner: für die ausgeführt worden. Der CO2-Preis belastet diejenigen, SPD-Fraktion Timon Gremmels. die weniger verdienen, mehr als die Spitzenverdiener (B) (Beifall bei der SPD) (D) (Timon Gremmels [SPD]: Quatsch! – Klaus Mindrup [SPD]: Deswegen soll der Preis höher Timon Gremmels (SPD): sein?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten und gibt den Unternehmen keine Möglichkeit, zu planen. Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte nicht um Das macht mich deswegen rasend, weil die soziale Ge- das Karma von Frau Badum oder der Grünen, sondern es rechtigkeit bei euch zu einer Schutzbehauptung wird für geht darum, dass wir endlich CO2 einen Preis geben. Und euren Pillepalleismus, für eure klimapolitische Verzagt- das ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren. heit. In realitas macht ihr überhaupt nichts für soziale Gerechtigkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Hilse, wir hatten am Mittwoch eine Anhörung im und bei der LINKEN – Dr. Anja Weisgerber Umweltausschuss Sie haben einen Experten benannt. Ich [CDU/CSU]: Wir haben eine Aufwuchsphase! zitiere mal, was er gesagt hat: Planungssicherheit könnte nicht besser sein!) Drittens sollte dieses Gesetz ein klares Zeichen dafür Seit 1915 sind mehr als 2 Millionen Immigranten setzen, dass erneuerbare Energien wie Strom aus Wind nach Deutschland gekommen, die … für 20 Millio- und Sonne nicht länger schlechtergestellt sind gegenüber nen Tonnen CO2 stehen, die sonst Deutschland nicht dreckigen Energien. Diese Idee hatte auch Frau Schulze. emittieren würde. Sie sagt: Ehrlich gesagt: Menschen ein CO2-Preisschild umzu- Das Ziel ist, dass sich mehr Menschen beim nächs- hängen, erinnert mich an die schwärzeste, die braunste ten Autokauf oder beim nächsten Heizungstausch Zeit unserer Geschichte. Schämen Sie sich für solche für die klimafreundliche Variante entscheiden – weil Experten! Schämen Sie sich für solche Aussagen, meine sie sich auch für den Geldbeutel lohnt. sehr verehrten Damen und Herren! Das ist ja ein schöner Traum, Frau Schulze, aber das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einfach nicht die Realität. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Beatrix von (Timon Gremmels [SPD]: Falsch!) Storch [AfD]: Bingo!)

Ein CO2-Preis von 10 Euro pro Tonne ist einfach nur Zurück zu den Grünen. Ich sage Ihnen eines ganz deut- lächerlich. lich: Erinnern wir uns mal an die Jamaika-Sondierungs- 15632 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Timon Gremmels (A) verhandlungen und an das, was Sie dort herausbekommen glichen Klimaschutz und um einen sozialverträglichen (C) haben. CO2-Preis, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD) Oh Gott! Das war November 2017!) Der „unsanierte Pendler“, der, wie ich, aus dem ländli- – Ja, jetzt winken Sie ab, Frau Badum. Das ist Quatsch. chen Raum kommt, wird mit der SPD nicht die Zeche Sie haben damals überhaupt nichts geliefert. Sie sind in zahlen. diesem Bereich blank gewesen. Sich jetzt hierhinzustel- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len und uns Vorwürfe zu machen, wir seien mal zu NEN]: Dass man so ein Gesetz verteidigen schnell, mal zu langsam, würden nicht genug tun, ist völ- muss!) lig falsch. Das geht völlig an der Sache vorbei, meine sehr verehrten Damen und Herren. Mit diesem CO2-Preis haben wir die Architektur für CO2-Bepreisung festgelegt. Natürlich muss auch nachge- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja schärft werden, Weisgerber [CDU/CSU] – Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Koalition, die aktuell im Amt ist! – Steffi NEN]: Wir kommen der Wahrheit auf die Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt Spur!) was zu Bundesregierung!) aber das Grundgerüst steht, und das ist ein großer Epo- Sie müssen mal sehen: Ja, auch diese Große Koalition chenwandel. Erstmals werden wir CO2 einen Preis geben. Das ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren. hatte am Anfang beim Thema CO2-Bepreisung ihre Pro- bleme. Im Koalitionsvertrag stand: Wir wollen das ir- Das haben wir gemacht. Sie haben dazu nichts beigetra- gendwann mal auf G-20-Ebene regeln. gen. (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was ist denn passiert?) der CDU/CSU – Lisa Badum [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und danach die Sintflut!]) Aber nachdem gestern vor einem Jahr Svenja Schulze, unsere Umweltministerin, in der Humboldt-Universität Ich sage aber auch – das haben wir von Anfang an zur Umweltpolitik der Bundesregierung das Thema gesagt; Svenja Schulze und alle, die daran mitgewirkt haben –: Eine CO2-Bepreisung ist kein Allheilmittel. Es CO2-Bepreisung erstmalig auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist nicht die eierlegende Wollmilchsau. Wir müssen deut- (B) lich mehr tun, auch im Bereich des Ausbaus der erneuer- (D) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: baren Energien. Deswegen sage ich Ihnen: Wir haben hier Die hat das Gesetz doch kritisiert, die Frau geliefert. Unsere Umweltministerin hat geliefert. Jetzt Schulze! Sie will doch, dass es verbessert muss auch der Bundeswirtschaftsminister liefern. wird!) (Beifall bei der SPD) liegt hier binnen eines Jahres ein Gesetzentwurf vor. Das Ich sage Ihnen ganz klar: 1 000-Meter-Abstände, so zeigt: Wir sind handlungsfähig, und wir haben die richti- wie es die Union definiert hat, wird es mit uns in der gen Instrumente, meine sehr verehrten Damen und Her- Art und Weise nicht geben. ren. (Grigorios Aggelidis [FDP]: Dann behaupten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie sich doch mal! – [CDU/ der CDU/CSU) CSU]: Dann gibt es gar nichts!) Deswegen sage ich: Vielen Dank, Svenja, für deine Be- Wir wollen auch den PV-Deckel abschaffen – das haben harrlichkeit. wir vereinbart –, aber ohne Vorbedingungen. Ich sage auch: Wir als Sozialdemokratie werden darauf (Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann gibt es gar achten, dass dieser CO2-Preis sozialverträglich ist. nichts!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Und wir wollen noch in diesem Jahr, dass wir beim Mie- GRÜNEN]: Ha, ha!) terstrom vorankommen. Hier haben wir die Zusage von Herrn Altmaier. Da muss er liefern. In diesem Sinne freue Wir machen Bahnfahren billiger. Wir schaffen eine Pend- ich mich auf die fachlichen Beratungen im Ausschuss. Es lerpauschale, Herr Beutin, die zeitlich befristet ist, bis wird ein gutes Gesetz. 2026. Glück auf! Auf Wiedersehen! (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Besserverdienende!) (Beifall bei der SPD) Wir sorgen für eine Mobilitätsprämie für diejenigen, die nicht pendeln. Wir schaffen einen Wohngeldzuschuss. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir senken die EEG-Umlage. Wir haben Milliarden in Vielen Dank, Timon Gremmels. – Letzter Redner in die Bahn investiert. Das zeigt: Wir kümmern uns um eine dieser Debatte: Dr. Christoph Ploß, für die CDU/CSU- sozialverträgliche Energiewende, um einen sozialverträ- Fraktion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15633

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Dann ha- (C) ben Sie Ihre Meinung auch schon geändert! Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Die ganze Zeit haben Sie gesagt: Der Mensch Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ist überhaupt nicht beteiligt! Jetzt sprechen sie Wir beraten heute über das Brennstoffemissionshandels- von „maßgeblich beteiligt“! Sie weichen Ihre gesetz. Zugegebenermaßen gibt es Wörter in der deut- eigene Position immer wieder auf!) schen Sprache, die wahrscheinlich etwas mehr Sexappeal Ich bitte Sie, das endlich zur Kenntnis zu nehmen. ausströmen als dieses Wort. Aber dieses Gesetz ist ein enorm wichtiges; denn es wird für die nächsten Jahre, Vielen herzlichen Dank. – Das war kurz, oder? möglicherweise für die nächsten Jahrzehnte, einer der (Beifall bei der AfD) zentralen Eckpfeiler unserer Klimaschutzpolitik sein. Es wird enorm wichtig sein, wenn wir die Klimaschutzziele Deutschlands, aber auch Europas oder am Ende der ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: samten Welt erreichen wollen. Machen Sie in Ihrer Rede weiter. Unser Ziel als CDU/CSU-Fraktion ist dabei klar. Wir Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): wollen im Jahr 2050 klimaneutral werden. Aber anders als andere Fraktionen – vor allem die Grünen muss man Man hört zu dem Bereich von der AfD eigentlich jeden da nennen – wollen wir das nicht über apokalyptische Tag etwas anderes. Sie haben da solche und solche Mein- Horrorszenarien erreichen. Wir sind auch anders als die ungen. Aber man kann schon zur Kenntnis nehmen, dass AfD, die den Klimawandel insgesamt leugnet Sie sich gegen 90 Prozent der wissenschaftlichen Er- kenntnisse aussprechen. Das ist das Fatale. (Martin Hebner [AfD]: Nein! Nein! – Abg. (Zurufe von der AfD) Karsten Hilse [AfD] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage) Wir können nur die Daumen drücken und hoffen, dass Sie hier niemals Verantwortung bekommen; und sagt: Wir müssen gar nichts tun. – Wir sagen: Wir wollen Klima- und Umweltschutz aktiv vorantreiben, vor (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: allem über Anreize und auch, indem wir die entsprech- Sie können noch mehr machen als Daumendrü- enden Technologien entwickeln. cken!) denn das wäre für dieses wichtige Thema genau das Fal- Vizepräsidentin Claudia Roth: sche. (B) Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder (D) -bemerkung des Abgeordneten Hilse? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Zurück, meine Damen und Herren, zum Thema. Wir Eigentlich haben wir uns darauf verständigt – – sollten viel weniger über die AfD sprechen und mehr darüber, wie wir den Klimaschutz in Deutschland tatsäch- lich bewältigen und die Klimaschutzziele erreichen kön- Vizepräsidentin Claudia Roth: nen. Wenn wir über Deutschland im Jahr 2040 oder 2050 Wir haben uns über die Kurzinterventionen verstän- sprechen, dann ist für uns klar: Wir wollen, wenn wir an digt. der Nordsee stehen, aufs Wattenmeer schauen. Wenn wir auf der Zugspitze stehen, wollen wir die schneebedeckten Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Alpen sehen. Bitte schön, dann gerne. (Karsten Hilse [AfD]: Auf haufenweise Wind- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ räder!) DIE GRÜNEN: Oh nee!) – Lieber Kollege, ich weiß, Sie haben Probleme mit de- mokratischen Prozessen und können andere Meinungen Vizepräsidentin Claudia Roth: nur schwer akzeptieren, aber wir haben Ihnen zugehört, Aber schnell, Herr Hilse, bitte. und es wäre freundlich, wenn Sie nun auch mir zuhören würden. Karsten Hilse (AfD): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Okay, alles klar. – Ich möchte es auch für Sie noch mal klarstellen – ich habe es in der letzten Woche schon ge- Es kann nicht schaden, wenn Sie andere Sichtweisen zu- macht –: Wir leugnen nicht den Klimawandel. mindest mal hören; ob Sie die dann aufnehmen, wage ich zu bezweifeln. – Wir wollen, dass im Jahr 2040 oder 2050 (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in unserer Wohnung oder in unserem Haus das Heizen Na klar leugnet ihr den! Jetzt leugne doch nicht nicht klimaschädlich ist. Das ist unser Ziel. Das muss das noch deine eigene Position!) Deutschland im Jahr 2040, 2050 prägen.

Wir stellen nur infrage, dass der Mensch mit seinen CO2- So wichtig es ist, dass wir in unserem Land klimaneut- Emissionen an diesem Klimawandel maßgeblich beteiligt ral werden: Wir werden die Klimaschutzziele am Ende ist. nur erreichen, wenn wir das auch auf europäischer Ebene 15634 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Christoph Ploß (A) angehen, am besten sogar weltweit. In Deutschland sind brauchen Elektromobilität, wir brauchen Wasserstoff, (C) wir nur für gut 2 Prozent der CO2-Emissionen verant- und wir brauchen synthetische Kraftstoffe wie E-Fuels. wortlich, was aber wiederum nicht heißt, dass wir in Wir brauchen mehrere Pfade, um die Klimaschutzziele zu Deutschland nichts tun müssten. erfüllen. (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Sagen Sie noch was zum Gesetz?) Wir als CDU/CSU wollen das Fliegen nicht verbieten, Wir müssen in Deutschland alle Anstrengungen unter- wie das hier einige wollen. nehmen, aber gleichzeitig das Thema international immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Das ist der Ansatz (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wer will das denn verbieten?) Es ist wichtig, dass wir in diesen Tagen im Deutschen Wir wollen Fliegen klimaneutral machen. Das ist unser Bundestag einen Paradigmenwechsel beschließen, näm- großes Ziel und unser Ansatz. lich dass wir CO2 einen Preis geben; denn dadurch schaf- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fen wir marktwirtschaftliche Anreize, Butter bei die Fische! Wer?) (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Wind, Sonne und Wasser können wir es schaffen, Das ist der Paradigmenwechsel?) Ökostrom zu erzeugen und damit den Antrieb für Flug- sodass Mechanismen in Gang kommen, um in umwelt- zeuge, für Schiffe, für Lkw und Pkw bereitzustellen. freundliche Technologien zu investieren. Ich will in diesem Zusammenhang auch noch sagen: (Jan Ralf Nolte [AfD]: Hat keinen Effekt aufs Der Gesetzentwurf wurde in der Tat schnell auf den Weg Klima!) gebracht. So schaffen wir auch Anreize für die Menschen, sich (Lisa Badum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: umweltfreundlicher fortzubewegen, auf den öffentlichen Ja, allerdings! Schnell und schludrig!) Nahverkehr zu setzen. Diejenigen, die sich beim nächsten Auch das Gesetzgebungsverfahren verläuft schnell. Wir Mal ein umweltfreundliches wasserstoffbetriebenes Auto werden an ein, zwei Stellen in den Beratungen im Deut- oder ein Elektroauto kaufen, werden belohnt, schen Bundestag sicherlich noch nachjustieren. Zum Bei- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE spiel sollten wir die Biogase von der CO2-Bepreisung GRÜNEN]: Sie träumen doch!) ausnehmen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Hier- (B) zu habe ich auch schon viel Zustimmung von den Regie- (D) während diejenigen, die sich klimaschädlich verhalten, rungsfraktionen vernommen. nicht belohnt werden. Das ist der Grundgedanke dieses Gesetzes. Das wird sehr wichtig sein, wenn wir über die Mit diesen Ansätzen, meine Damen und Herren, kön- Klimaschutzziele reden. nen wir aus Deutschland heraus sogar Vorbild für andere Staaten werden. Wir können zum Vorbild in der Welt (Karsten Hilse [AfD]: Keine Ahnung von Tech- werden, indem wir die Technologien, die wir hier entwi- nik! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE ckeln, für andere Länder bereitstellen. Die sagen dann: So GRÜNEN]: Ja, wenn es ein anständiger CO2- wie die Deutschen machen wir es auch. Preis wäre! – Gegenruf der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) (Beatrix von Storch [AfD]: Und die Chinesen lachen sich kaputt!) – Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob Sie mal – – Das schaffen wir aber nicht über Verbote, und das schaf- fen wir auch nicht, indem man einfach sagt, man macht Vizepräsidentin Claudia Roth: Benzin und alles sofort enorm teuer; denn am Ende – – So, Moment! Hier vorne wird gerade debattiert. – Gut. – Herr Ploß. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin, es ist wirklich schwierig. Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Man merkt immer wieder: AfD und Grüne bilden die Extreme der Debatte ab. Wir als CDU/CSU gehen den Vizepräsidentin Claudia Roth: Mittelweg und versuchen, die breiten Schichten der Be- Ja, aber Sie sind stark genug, dagegenzureden. völkerung mitzunehmen, (Heiterkeit – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ein Mikro, Herr Kollege!) indem wir einen technologieoffenen Ansatz wählen. (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Das Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): stimmt!) Ja, aber es wäre prima, wenn Sie bei den Grünen auch so konsequent einschreiten würden. Die einen versteifen sich auf rein batteriebetriebene Elektroautos – vor allem die Grünen. Sie von der AfD (Dr. Lukas Köhler [FDP]: Das kann man ihr sagen: Es soll gar nichts passieren. – Wir sagen: Wir wirklich nicht vorwerfen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15635

Dr. Christoph Ploß (A) Ich glaube, Demokratie zeichnet sich nicht dadurch aus, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die (C) dass man am meisten schreit, sondern dadurch, dass man Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen den Argumenten der anderen zuhört. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Johannes Wenn man Fakten vertritt!) Huber für die AfD-Fraktion. Das, was für die AfD gilt, gilt auch für Sie, liebe Grüne. (Beifall bei der AfD) Ich will Ihnen zum Abschluss sagen: Klimaschutz wird nicht erfolgreich sein, wenn wir am Ende Gelbwesten- Johannes Huber (AfD): proteste haben, wenn das Land sozial gespalten ist oder Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe wenn Arbeitsplätze vernichtet werden. Klimaschutz wird Bürger! vielmehr erfolgreich sein, wenn wir in Deutschland Ex- portschlager entwickeln, die wir in andere Länder expor- ( [SPD]: Und Bürgerinnen! tieren können, Frauen gibt es auch!) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Öffentliche Petitionen sind aktuell auf Bundesebene der Dann machen Sie mal!) einzige Ansatz von direkter Demokratie. Sie sind die ein- zige Möglichkeit der Bürger, direkt Einfluss auf die und wenn wir hier Arbeitsplätze damit schaffen. So ver- Gesetzgebung zu nehmen. Die AfD will dieses große binden wir eine kluge Wirtschaftspolitik mit einer klugen Demokratiedefizit beheben und idealerweise Volksab- Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und mit einer klugen stimmungen auf Bundesebene einführen. Umweltpolitik. (Beifall bei der AfD) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Windkraft vergraulen Sie gerade! Solarkraft Solange das jedoch Ihretwegen hier keine politische haben Sie schon vergrault!) Mehrheit im Bundestag findet, müssen wir als Volksver- treter sicherstellen, Vizepräsidentin Claudia Roth: (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Als Volksvertre- So, Herr Dr. Ploß, jetzt sind wir am Ende. ter? Unglaublich!) dass zumindest das Petitionsrecht reibungslos funktio- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): niert. (B) Das wird das Ziel der CDU/CSU-Fraktion sein. (D) Jedermann hat nach Artikel 17 Grundgesetz das Recht, Herzlichen Dank. Petitionen in den Bundestag einzugeben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der AfD: Danke, Frau Präsidentin!) (Timon Gremmels [SPD]: Und jede Frau auch!)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Öffentliche Petitionen, also Eingaben, die man mitzeich- Vielen Dank, Dr. Ploß. – Ich schließe die Debatte. nen kann, werden aber derzeit nur in einer Richtlinie des Petitionsausschusses geregelt. Wir fordern, dass öffent- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf liche Petitionen verbindlicher gestaltet werden, und den Drucksachen 19/14746 und 19/14782 an die in der schlagen dazu vor, öffentliche Petitionen in der Ge- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – schäftsordnung des Deutschen Bundestages zu veran- Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. kern. Dann verfahren wir so. (Beifall bei der AfD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Das würde öffentliche Petitionen stärker legitimieren, ih- Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas ren Wert erhöhen und damit die Demokratie in Deutsch- Seitz, Johannes Huber, Andreas Bleck, weiterer land insgesamt ein gutes Stück stärken. Abgeordneter und der Fraktion der AfD Die originäre Aufgabe von Ihnen im Bundestag ist es – Bürgereingaben ernst nehmen – Änderung der sollte man jedenfalls meinen –, die Regierung zu kontrol- Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- lieren. In diesem Sinne dürfen bei der Frage, welches ges – Verbindliche Regelungen für öffentliche Bürgeranliegen zur Mitzeichnung veröffentlicht wird Petitionen und welches nicht, nicht nur jene berücksichtigt werden, Drucksache 19/14762 die der Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit gefallen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) (Timon Gremmels [SPD]: Stimmt doch gar Petitionsausschuss nicht! Das macht doch auch keiner! Unterstel- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, möglichst lung! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE rasch die Plätze zu tauschen. GRÜNEN]: Das ist völliger Unfug!) 15636 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Johannes Huber (A) Das erweckt den Anschein willkürlicher Entscheidungen, wir werden im Dezember eine öffentliche Anhörung dazu (C) und das nehmen wir als größte Oppositionsfraktion nicht haben. länger hin. (Timon Gremmels [SPD]: Das Argument (Beifall bei der AfD) spricht doch dafür, dass alles richtig läuft!) Jeder Bürger hat das Recht auf ermessensfehlerfreie Jetzt kommt es: Das Novum, dass ein Antrag der AfD Entscheidungen. angenommen wurde, kann uns zwar freuen – das ist ei- nerlei –, aber dass eine Abstimmung darüber überhaupt (Timon Gremmels [SPD]: Die Bürgerinnen notwendig war, zeigt das strukturelle Problem. auch!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Darin sind wir uns doch hoffentlich einig. Deshalb haben GRÜNEN]: Es geht gar nicht um den Antrag wir in unserem Antrag die schwammigen Ablehnungs- der AfD!) gründe durch klar definierte ersetzt. Natürlich berück- sichtigen wir weiterhin die Menschenwürde und die frei- Lassen Sie uns als politische Entscheidungsträger mit heitliche demokratische Grundordnung. Das Hickhack verbindlichen Regelungen dem Ausschussdienst helfen, um die Veröffentlichung der Petition zum globalen Mi- sichere und bürgerfreundliche Entscheidungen zu treffen. grationspakt – Sie werden sich erinnern –, (Beifall bei der AfD) (Konstantin Kuhle [FDP]: Bingo!) Damit folgen wir auch dem Rat zweier Experten, die in der letzten Wahlperiode zu genau diesem Thema öffent- hatte aber als Ursache unbestimmte Rechtsbegriffe in der lich angehört wurden. Diese Experten erinnerten uns an aktuellen Richtlinie. Niemand kann neutral definieren, das britische System, nach dessen Vorbild unser öffentli- welche Petition einen interkulturellen Dialog belastet ches Petitionswesen errichtet wurde und das solche un- und welche nicht; spezifischen Zulassungskriterien eben nicht kennt. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Schaffen Sie deshalb – das ist meine Einladung an Sie – GRÜNEN]: Man hätte nur die Petition lesen mit uns gemeinsam heute ein Petitionsrecht, das die Mei- müssen, dann wüsste man sofort Bescheid!) nungsfreiheit einerseits und den gegenseitigen Respekt mal abgesehen davon, dass ein Dialog nur dort entstehen andererseits berücksichtigt und klare, transparente Re- kann, wo Diskussionen und Meinungen auch zugelassen geln schafft. Verankern wir diese in der Geschäftsord- werden. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe dürfen keine nung des Deutschen Bundestages und stärken wir diese wertvolle Form der Bürgerbeteiligung. (B) Rechtfertigung mehr sein für solch weitreichende Ein- (D) griffe in das Petitionsrecht der Bürger. Ich bedanke mich. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen wir sie aus den Ablehnungsgründen heraus und schaffen Vizepräsident : endlich Rechtssicherheit. Vielen Dank, Herr Kollege Huber. – Als nächster Red- ner spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Gero (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Storjohann, GRÜNEN]: Sie entwerten den Petitionsaus- schuss!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die aktuelle Richtlinie spricht davon, dass der Aus- Schleswig-Holstein. Der amtierende Wirtschaftsminister schussdienst im Hinblick auf die Veröffentlichung einen aus Schleswig-Holstein ist übrigens auch anwesend. strengen Bewertungsmaßstab anlegen muss. Ich kann Ihnen gerne sagen, was das in der Praxis bedeutet. Es (Katja Suding [FDP]: Wirklich? Wo ist er bedeutet, dass auch eine Petition nicht veröffentlicht wer- denn?) den sollte, welche die Bundesrepublik Deutschland hin- weist, diplomatische Beziehungen mit Taiwan aufzuneh- Gero Storjohann (CDU/CSU): men. Unabhängig davon, wie man inhaltlich zu der Frage Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die steht, kann es doch nicht sein, dass die Bürger hierüber Aufgaben eines Parlamentariers sind ziemlich einfach ge- nicht auf der Plattform des Bundestages diskutieren dür- regelt. Er hat Gesetze zu machen, er hat die Regierung zu fen. kontrollieren, und er hat Wahlkreisarbeit zu machen, und nicht nur zu kritisieren. (Beifall bei der AfD) (Marianne Schieder [SPD]: Und die Leute Daher hat die AfD eine Veröffentlichung beantragt. Und aufzuhetzen!) siehe da: Diese wurde einstimmig beschlossen. Herr Kollege, herzlichen Dank für Ihren Antrag. Ich (Timon Gremmels [SPD]: Also, hat doch glaube schon, dass wir im Petitionsausschuss eine gute funktioniert! Was ist denn noch?) Arbeit machen. Weiter noch: Es wurde sogar das Quorum von 50 000 Mit- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP zeichnern erfüllt – das wissen Sie, Herr Gremmels –, und und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15637

Gero Storjohann (A) Wir sind 27 Mitglieder, und wir haben an die 13 000 waltungsmitarbeitern sehr intensiv darüber sprechen kön- (C) Petitionen zu bearbeiten. Das erfordert – das können Sie nen, was man ändern kann. Alle Fraktionen sind sich sich ausrechnen – einen hohen Abstimmungsbedarf. einig gewesen, dass wir die IT aufrüsten müssen: eine Wenn Sie hier Einzelfälle herausgreifen, werden Sie sechs- bis achtfache Verbesserung. Trotzdem kann es vor- dem, was wir insgesamt zu tun haben, nicht gerecht. kommen, durch die Art des Systems, dass es blockiert wird. Es geht dabei nicht darum, dass die Leute sich nicht (Martin Hebner [AfD]: Das hat der Kollege anmelden können, sondern darum, dass jedes System zu- auch nicht gesagt! Er hat gesagt „verbessern“!) sammenbricht, wenn Hunderttausende alle drei Minuten Wir haben 36 Prozent Onlinepetitionen. Das heißt, viele schauen, ob sich irgendetwas verändert hat. Das wissen Petitionen werden noch handschriftlich eingereicht. Sie; das weiß die ganze Verwaltung. Wir haben ja Petitio- nen gehabt, die viel mehr Unterstützer gehabt haben als Ich bin seit 2002 Mitglied des Petitionsausschusses, Ihre Petition gegen den UN-Migrationspakt. Die Petition insofern aktuell der Dienstälteste, und kann die Entwick- zum Terminservice- und Versorgungsgesetz hat 50 000 lung des Petitionsausschusses daher ganz gut beschrei- Unterstützer mehr gehabt. Da ist das System nicht zusam- ben. Wir haben uns gerne und auch oft gestritten – in mengebrochen. Dieser Einzelfall macht es also nicht not- der Sache. Und uns hat immer der Wille geeint, das beste wendig, dass wir exorbitant viel Geld in die Hand neh- Ergebnis für die Petenten und Petentinnen zu erreichen. men, um hier Verbesserungen zu erreichen. In dieser Legislaturperiode haben wir einen Wandel der Diskussionskultur erlebt, Herr Huber. Die Rede- und De- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- battenkultur wandelte sich von einer Konsens- und Küm- SES 90/DIE GRÜNEN) mererkultur Was machen wir zurzeit? Zurzeit sind wir parteiüber- (Beatrix von Storch [AfD]: Genau! Konsens ist greifend dabei, zu überprüfen, was wir besser machen plötzlich nicht mehr da! Es gibt plötzlich Wi- können, wie wir das Petitionswesen insgesamt besser dar- derspruch! Das kennen Sie nicht! Das ist das stellen können, auch gegenüber anderen Plattformen. Da Problem!) arbeiten wir eigentlich hervorragend zusammen. Und plötzlich kommt dieser Antrag, zu einem Kampfausschussformat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Johannes Huber [AfD]: Wie angekündigt!) Frau von Storch war noch nie im Petitionsausschuss, mit dem man sich eigentlich – der Zug ist abgefahren – hinter den abgefahrenen Zug wirft. Das kann man ma- (Timon Gremmels [SPD]: Das ist auch gut so! – chen, bringt aber nichts. Wir sind uns einig, dass wir das (B) Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ein Segen für Petitionswesen auf der Internetseite des Deutschen Bun- (D) den Petitionsausschuss!) destages besser und moderner darstellen wollen, damit aber kann sehr gut mitreden. Insofern herzlichen Dank! man es gleich findet. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist alles unstrittig. Die Petitionen, die wir bearbeiten, sind sehr unter- Das Onlinepetitionsportal ist der erfolgreichste Teil des schiedlich, von einfach strukturiert bis sehr kompliziert. Onlineauftritts des Deutschen Bundestages. Wir sind ger- Deswegen haben wir uns Regeln gegeben, nach denen wir ne diejenigen, die für Zug auf dieser Homepage sorgen. sie beurteilen. Der Ausschussdienst – das sind über 80 Mitarbeiter – macht uns Vorschläge, wie eine Petition zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD – behandeln ist, öffentlich oder nichtöffentlich. Da gibt es Dr. Matthias Bartke [SPD]: So ist es!) durchaus manchmal unterschiedliche Auffassungen. In diesem laufenden Prozess möchten Sie jetzt gerne (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist ja nicht zu starre Regeln in der Geschäftsordnung festlegen. Wir ha- fassen!) ben Regeln, die wir auch immer anpassen können. Dann gibt es die Obleute, die das beurteilen. Bei der (Johannes Huber [AfD]: Warum nicht in der Taiwan-Petition – darauf haben Sie eben hingewiesen – Geschäftsordnung?) war uns Obleuten sofort klar, dass wir sie öffentlich be- raten. Es wird einen öffentlichen Beratungstermin geben. Wenn die immer durch den Bundestag geändert werden Das jetzt hier anzuführen, Herr Huber, das passt nun gar müssten, wäre das nicht hilfreich, eher kontraproduktiv. nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir als Petitionsausschuss kümmern uns um viele klei- Aber in Ihrem Antrag sprechen Sie ja auch etwas ande- ne Dinge. Oft konnten wir helfen. Das berühmteste Bei- res an. Da geht es darum, inwieweit Petitionen, die öffent- spiel – es ist witzig, es ist nicht verständlich – ist der lich ins Netz eingestellt sind, bearbeitet werden, ob da Telekomschaltkasten vor einem Fenster: Oma guckt aus etwas unterdrückt wird, ob der Server noch ausreichend dem Fenster und sieht plötzlich einen neu gebauten Tele- ist. Wir haben mit den IT-Mitarbeitern und anderen Ver- fonschaltkasten davor, und keiner war bereit, das zu än- 15638 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Gero Storjohann (A) dern. – Wir haben es geschafft, dass die Telekom sich Viele Petitionen können allerdings nicht ins Internet (C) bewegt hat. gestellt werden. Das hat seinen Grund. Das ist auch nach- vollziehbar. Die Persönlichkeitsrechte der Petenten müs- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP sen gewahrt werden. Wenn jemand ein persönliches An- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – liegen hat, können und wollen wir das nicht öffentlich Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das will was hei- machen. Genauso ist es, wenn Aufrufe zu Straftaten kom- ßen!) men. Die dürfen auch nicht veröffentlicht werden. Wir kümmern uns in ganz Deutschland um Lärm- schutzfragen, Bahnlärm, Autolärm. Da wird nachgebes- (Timon Gremmels [SPD]: Das ist auch gut so!) sert. Das sind Dinge, die letzten Endes bewegen, die auch Das Bundesverfassungsgericht hat 2017 geurteilt, dass es die Verwaltung bewegen. So werden Verwaltungsent- keinen Anspruch auf Veröffentlichung einer Petition auf scheidungen beschleunigt. Das ist das, worüber wir uns der Internetseite des Petitionsausschusses gibt. in erster Linie unterhalten wollen. Das ist auch das Leit- bild der CDU/CSU-Fraktion. Wir möchten nicht den Pe- Natürlich wollen wir, die wir die Arbeit machen, so titionsausschuss umwandeln in ein Kampagneninstru- viele Petitionen wie möglich veröffentlichen. Dafür hat ment, sondern wir möchten uns um die kleinen Dinge sich der Petitionsausschuss – das haben wir gerade schon kümmern und hier Lösungen erarbeiten. gehört – verbindliche Richtlinien gegeben. Sie gelten, seit es Onlinepetitionen gibt. Jeder kann sie auf der Webseite (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Bundestages nachlesen und sich informieren. In den der SPD) Richtlinien steht, dass nichtöffentliche Petitionen ebenso behandelt werden müssen wie öffentliche Petitionen. Es Deswegen werden wir Ihren Antrag im Ausschuss bera- kommt also jeder zu seinem Recht. ten, aber wir werden ihn höchstwahrscheinlich ablehnen müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die AfD for- dert im Titel ihres Antrags, der Bundestag solle „Bürger- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD sowie bei begehren ernst nehmen“. Was machen wir denn? Natür- Abgeordneten der FDP – Carsten Müller lich nehmen wir Bürgerbegehren ernst. [Braunschweig] [CDU/CSU]: „Ausschuss“ passt da ganz gut!) (Beifall bei der der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. – Nächster Jeder von meinen Kollegen, egal von welcher Fraktion, (B) Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Manfred ist mit Herzblut und Überzeugung dabei. Das sieht man (D) Todtenhausen. an den Diskussionen, die wir in den Ausschüssen und in den Vorgesprächen haben. Dabei sind uns die Belange der (Beifall bei der FDP) Bürger extrem wichtig. Wir nehmen jede Petition ernst. Manfred Todtenhausen (FDP): In diesem Antrag geht es um eine Petition, die sogar Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- veröffentlicht wurde, nur nicht so schnell, wie es der Pe- ren! Artikel 17 des Grundgesetzes garantiert jedermann tent gerne gehabt hätte und wie es die AfD gern gesehen das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an den Deut- hätte. Das hatte aber seinen Grund. Die Richtlinien ver- schen Bundestag zu wenden. Das ist verankert. Dabei ist langen von uns, streng zu prüfen, ob die Voraussetzungen es völlig egal, wo man lebt, welche Nationalität man hat für eine Veröffentlichung erfüllt sind. Dadurch soll zum und ob man einen Brief schreibt oder eine Onlinepetition Beispiel verhindert werden, dass Lügen, Hass, Falschin- startet. formationen im Internet verbreitet werden. Seit 2008 kann man auf der Webseite des Petitionsaus- Die AfD behauptet ferner, dem öffentlichen Petitions- schusses auch Onlinepetitionen von anderen unterschrei- verfahren fehle es an Rechtssicherheit. Das ist auch Un- ben lassen, also mitzeichnen lassen. Wenn eine Petition – sinn. In Wirklichkeit wollen Sie den Teil der Richtlinie wir haben es gerade schon gehört und werden es vielleicht aufheben, der Ihnen nicht passt. noch öfter hören – mehr als 50 000 Unterstützerunter- schriften bekommt, wird sie öffentlich beraten. Das haben (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir dieses Jahr schon reichlich gemacht, und wir werden der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- das so weitermachen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Im letzten Jahr musste ein Diskussionsforum auf der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Webseite des Petitionsausschusses geschlossen werden, der CDU/CSU) weil dort eine sachliche Debatte nicht mehr möglich Das Grundgesetz verlangt von uns, von Ihnen und von war. Die AfD hatte damals zugestimmt, dass das Forum mir, dass wir jede Petition annehmen und uns mit jeder geschlossen wird. Heute tut sie so, als wenn sie selber der Petition beschäftigen, egal ob sie diese 50 000 oder mehr Hüter der Diskussionskultur im Internet wäre. Liebe Kol- Unterschriften hat oder ob sie von einem einzigen gest- legen, das ist wirklich dreist. artet wird. Genau das tun wir. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE der SPD) GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15639

Manfred Todtenhausen (A) Woran lag es denn, dass der Server des Petitionsausschus- Gremmels [SPD]: Das ist auch gut so! – Wider- (C) ses damals kurzfristig überlastet war? Die Ursache war, spruch des Abg. Johannes Huber [AfD]) dass die AfD eine Kampagne für eine Petition unterstützt und geführt hat, Und das ist auch gut so. Nach § 110 der Geschäftsordnung des Bundestages stellt der Petitionsausschuss die soge- (Johannes Huber [AfD]: Nein, weil die Technik nannten Grundsätze für die Behandlung von Petitionen nicht funktioniert hat!) auf. Das sind die Verfahrensgrundsätze, die mit einer Richtlinie für öffentliche Petitionen ergänzt werden. Die die ein Mitarbeiter auf den Weg gebracht hat. Das nennen bisherige Praxis ist, dass der Petitionsausschuss die Ver- Sie „Bürgereingaben ernst nehmen“. Das kann ich Ihnen fahrensgrundsätze zu Beginn der Legislaturperiode über- nicht glauben. nimmt. Der Ausschuss kann sie aber jederzeit mit einer (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Mehrheitsentscheidung ändern. Nur so hat der Petitions- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE ausschuss die nötige Freiheit, auf Veränderungen mög- GRÜNEN) lichst flexibel reagieren zu können. Gerade die Einführung der öffentlichen Petition hat Vizepräsident Wolfgang Kubicki: doch gezeigt, wie wichtig das ist. Wenn wir ein neues Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. System einführen, müssen wir in der Lage sein, Verfah- rensregeln schnell anzupassen; der Kollege Storjohann Manfred Todtenhausen (FDP): hat das eben sehr beredt ausgeführt. Sie wollen aber ge- Ja, leider muss ich zum Schluss kommen. – Das Peti- rade keine Flexibilität. Sie wollen in der Geschäftsord- tionsrecht ist kostbar. Wir werden es nicht zulassen, dass nung des Bundestages die Regeln starr festschreiben. mit politischen Kampagnen auf dem Grundrecht der (Johannes Huber [AfD]: Klare Regeln!) Bürger herumgetrampelt wird. Wir lehnen diesen Antrag ab. Nach den geltenden Regeln wird eine Petition in einer öffentlichen Ausschusssitzung behandelt, wenn sie das (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Quorum von 50 000 Unterzeichnern erreicht. Der Peti- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tionsausschuss kann aber von einer öffentlichen Aus- Timon Gremmels [SPD]: Ich habe noch nie so schusssitzung mit Zweidrittelmehrheit absehen. Sie wol- applaudiert bei einem FDP-Redner!) len das Zweidrittelquorum abschaffen und durch eine 100-Prozent-Mehrheit ersetzen. Unsere Verfassung kann Vizepräsident Wolfgang Kubicki: man mit einer Zweidrittelmehrheit ändern. Aber die Ent- (B) (D) Da kann man noch dazulernen. scheidung über nichtöffentliche Sitzungen soll einer 100- Prozent-Mehrheit bedürfen? Ja gehtʼs denn noch? (Heiterkeit) (Beifall bei der SPD – Carsten Müller [Braun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner schweig] [CDU/CSU]: Nein, geht nicht mehr! hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Frak- Schon seit langer Zeit!) tion. Die parlamentarische Arbeit basiert auf Mehrheitsent- (Beifall bei der SPD) scheidungen; das sollten Sie einfach einmal akzeptieren. Was Sie mit Ihrem 100-Prozent-Quorum erreichen wol- Dr. Matthias Bartke (SPD): len, ist, dass letztlich Sie entscheiden, ob eine Petition Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Huber, öffentlich behandelt wird. im Titel Ihres Antrags heißt es: „Bürgereingaben ernst nehmen – Verbindliche Regelungen für öffentliche Peti- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tionen“. SES 90/DIE GRÜNEN – Manfred Todtenhausen [FDP]: Genau das ist es!) (Johannes Huber [AfD]: Richtig! – Beatrix von Storch [AfD]: Sehr schön gelesen! Herzlichen Denn wenn Sie nicht zustimmen, werden die 100 Prozent Glückwunsch!) ja nicht erreicht. Aber ich sage Ihnen: Einer solchen Lex AfD bedarf es nicht. Der Petitionsausschuss entscheidet Um es gleich klar zu sagen: Die bestehenden Regeln sind sehr verantwortungsvoll darüber, welche Petitionen öf- durchdacht. Sie nehmen die Bürger ernst, und sie sind fentlich behandelt werden und welche nicht; Herr verbindlich. Storjohann hat das eben klug ausgeführt. Selbst Ihre zu- tiefst demagogische Migrationspetition wurde öffentlich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP behandelt. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Timon Gremmels [SPD]: So ist es!) Ihr Antrag sieht außerdem eine Frist für die Veröffent- Eines gewährleisten sie allerdings nicht, nämlich dass lichung von Petitionen vor. Die Frist soll das Ende der jede unsinnige völkische Initiative der AfD eine große Sitzungswoche sein, die auf die Einreichung der Petition Bühne bekommt. folgt. Danach soll der Petitionsausschuss verpflichtet sein, die Petition zu veröffentlichen. Aber, meine Damen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem und Herren, täglich erhält der Bundestag etwa 50 Petitio- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Timon nen, und jede ist anders. Der Ausschuss braucht schon 15640 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Matthias Bartke (A) etwas Zeit, um sich zu überlegen, wie man die jeweilige schuss schlecht behandelt, da einige Petitionen nicht ver- (C) Petition behandelt. öffentlicht werden. Dafür hat sich aber der Petitionsaus- schuss klare Regeln gegeben. Ich darf aus den Richtlinien (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- des Petitionsausschusses für die Behandlung von öffent- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichen Petitionen einmal zitieren: Öffentliche Petitionen sowie des Abg. Manfred Todtenhausen [FDP]) werden dann nicht zugelassen, wenn erstens eine Petition Herr Kollege Todtenhausen hat es eben dargestellt: Es „gegen die Menschenwürde verstößt“, zweitens wenn sie ist definitiv nicht sinnvoll, auf die Zulassungsprüfung zur „sich einer der Würde des Parlaments nicht angemesse- Veröffentlichung zu verzichten, nur damit eine Petition nen Sprache bedient“, drittens wenn sie geeignet ist – das möglichst schnell veröffentlicht wird. Nach Ziffer 4c der ist eben zitiert worden – „den sozialen Frieden, die inter- Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen nationalen Beziehungen oder den interkulturellen Dialog kann der Ausschuss davon absehen, Petitionen zu veröf- zu belasten“. fentlichen, nämlich dann, wenn sie geeignet erscheinen – Zitat –, „den sozialen Frieden, die internationalen Bezie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- hungen oder den interkulturellen Dialog zu belasten“. neten der SPD) Ich denke, die überwältigende Mehrheit des Hauses (Johannes Huber [AfD]: Was ist das?) wird diesem Teil der Grundsätze zustimmen. Dass die Ihr Vorschlag? Die Ermessensnorm muss abgeschafft Damen und Herren von der AfD genau den dritten er- werden, und alle Petitionen müssen veröffentlicht wer- wähnten Punkt aufs Korn nehmen, überrascht nicht. Es den. Es ist natürlich klar, dass Sie nicht allzu viel von geht Ihnen auch mit diesem Antrag darum, Ihre Hetzkam- sozialem Frieden, den internationalen Beziehungen und pagnen, so wie im Streit um die Massenpetition zum dem interkulturellen Dialog halten. „Global Compact for Migration“ geschehen, auch über den Petitionsausschuss führen zu können. Wozu das ge- (Beatrix von Storch [AfD]: Und von der De- führt hat, haben wir gesehen – bis hin zur Bedrohung mokratie und dem Rechtsstaat!) einer Mitarbeiterin des Ausschussdienstes des Petitions- Werte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, der ausschusses. Petitionsausschuss ist dazu da, dass Bürger sich für ihre Anliegen im Bundestag Gehör verschaffen können. Was (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Ganz schlimm! Sie machen wollen, ist, den Petitionsausschuss für Ihre Ganz schlimm!) eigenen Zwecke zu missbrauchen. Initiiert war diese Kampagne – wir erinnern uns – von einem Mitarbeiter eines Abgeordneten der AfD. Das ist (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN (B) schändlich und der Bedeutung, die dem Petitionsaus- (D) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schuss zukommt, unwürdig. bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie wollen einen rechtlichen Rahmen schaffen, damit der ([Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Petitionsausschuss und damit auch der Bundestag mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. noch mehr Hetze und noch mehr Hass überflutet werden. Manfred Todtenhausen [FDP]) Ich ergreife aber gern die Gelegenheit, die Kritik mei- (Johannes Huber [AfD]: Stimmt doch gar ner Fraktion, Die Linke, am Petitionswesen sachlich deut- nicht!) lich zu machen. Anders als die AfD, die einmal mehr nach Ich sage Ihnen ganz klar: Wehret den Anfängen! Mit uns außen klappert, haben wir in den Petitionsausschuss in nicht! dieser Legislaturperiode acht Anträge zur Änderung der Verfahrensgrundsätze eingebracht, die dringend notwen- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem dig sind, um die Rechte der Petentinnen und Petenten zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- stärken. ordneten der CDU/CSU und des Abg. Manfred Todtenhausen [FDP]) (Beifall bei der LINKEN) Wir haben Kritik am Umgang mit den öffentlichen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Petitionen, die sich gegen ein viel zu hohes Quorum rich- Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartke. – Als nächster tet, das zur Durchführung öffentlicher Beratungen not- Redner hat das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns, wendig ist. Petentinnen und Petenten können ja dann in Fraktion Die Linke. öffentlichen Sitzungen des Petitionsausschusses ihr An- liegen direkt vortragen und müssen von der Regierung (Beifall bei der LINKEN) gehört werden. Wir fordern eine Senkung dieses Quo- rums von 50 000 Unterzeichnenden auf 25 000. Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und (Beifall bei der LINKEN) Herren! Wieder einmal machen die Vertreterinnen und Wir plädieren darüber hinaus auch für die Teilnahme Vertreter der AfD ein Problem auf, das keines ist. von Petentinnen und Petenten an den sogenannten Be- (Manfred Todtenhausen [FDP]: Genau!) richterstattergesprächen, sofern dies von den Antragstel- lerinnen und Antragstellern gewünscht wird. Es geht Ihnen einmal mehr darum, sich in der Opferrolle zu sehen. Diesmal wird man gefühlt vom Petitionsaus- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15641

Friedrich Straetmanns (A) Auch sollte der Zustand beendet werden, dass die Ein- sowie bei Abgeordneten der FDP – Johannes (C) reicherinnen und Einreicher einer Petition die bei der Huber [AfD]: Das stimmt doch gar nicht! Das Regierung stets eingeholte Stellungnahme nicht einsehen ist Hetze! – Gegenruf des Abg. Timon dürfen. Da fragt man sich doch: Warum eigentlich nicht? Gremmels [SPD]: Mit Hetze kennen Sie sich Was soll hier verborgen werden? aus, Herr Huber! – Beatrix von Storch [AfD]: Kommen Sie doch mal mit Argumenten und (Beifall bei der LINKEN) nicht immer nur mit Moral!) Eine weitere Forderung ist mir aber ein wirkliches Her- Die Frage ist doch: Was will die AfD eigentlich errei- zensanliegen. Der Petitionsausschuss verfügt über keiner- chen? Der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“ – lei finanzielle Mittel, um in Härtefällen direkt helfen zu Bernd Ulrich ist sein Name – hat letzte Woche geschrie- können. Wir fordern deshalb die Finanzierung eines Här- ben: Der Zweck, den die AfD verfolgt, ist die Enthem- tefonds aus dem Bundeshaushalt, mung. – Ich glaube, das ist die Erfahrung, die viele hier (Beifall bei der LINKEN) von uns mit der AfD in der Vergangenheit gemacht haben. Nun möchte die AfD auch den Petitionsausschuss miss- über den unter strenger Kontrolle der Abgeordneten in brauchen, um diese gesellschaftliche Enthemmung vo- Einzelfällen direkte Hilfe an die Petentinnen oder Peten- ranzutreiben. Das ist der einzige Grund, warum wir heute ten geleistet werden könnte. überhaupt über die Veränderung von Regeln sprechen. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sehr gut!) Weil es so schön ist, möchte ich Artikel 17 unseres Im Plenum des Bundestages nehmen wir Petitionen Grundgesetzes zitieren, nach dem wir arbeiten: aber leider kaum wahr. Das liegt unter anderem daran, J edermann dass lediglich in sogenannten Sammelübersichten abge- stimmt wird. Hand aufs Herz: Wer von uns macht sich die – damit ist natürlich auch jede Frau gemeint - Mühe, wirklich die Petitionen zu lesen, über die hier ent- schieden wird? Das haben Petentinnen und Petenten nicht (Beatrix von Storch [AfD]: Und alle Diversen!) verdient. Die hier im Hause abzustimmenden Beschluss- – und alle Diversen - empfehlungen müssen deshalb mit Begründungen verse- hen werden. Warum gehen wir nicht noch einen Schritt (Timon Gremmels [SPD]: Sie sind divers, Frau weiter? Warum scheuen wir uns, über Petitionen, deren von Storch!) Anliegen von einer großen Anzahl Menschen geteilt hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit wird, eine Debatte im Plenum zu führen? anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Lassen Sie uns daher gemeinsam im Petitionsaus- schuss unsere Regularien ändern, um zu einem transpa- Das ist, wie gesagt, ein wertvolles Grundrecht, und das renten Verfahren zu kommen, das sich auch hier im Ple- ist der Kern dessen, womit wir es jede Woche im Peti- num niederschlägt. Der hier vorliegende Antrag der AfD tionsausschuss zu tun haben. hilft nicht weiter. Im Grundgesetz steht eben nicht, dass jedermann oder (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. auch jede Frau oder jede Diverse oder jeder Diverse das Dr. Matthias Bartke [SPD]) Recht hat, Hass und Hetze zu verbreiten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: bei der SPD und bei der LINKEN sowie bei Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat Abgeordneten der FDP) die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen, das unwahre Behauptungen in die Welt zu setzen, andere Wort. Meinungen zu beschimpfen und Menschen zu diskredi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Demokratinnen und der LINKEN – Johannes Huber [AfD]: und Demokraten! Wir haben in den letzten Jahren hier Sie beschimpfen damit die Bürger!) im Parlament und auch außerhalb des Parlamentes erlebt, dass die AfD wirklich keinen Zugang zu politischem An- Das ist aber genau das, was die AfD beabsichtigt. Sie stand und Respekt hat. Was die AfD mit ihrem Antrag wollen Hass und Hetze verbreiten und das Vertrauen in heute macht, ist der Versuch, die Regeln des Anstands die öffentliche Debatte, in demokratische Verfahren und und Respekts aus den Regeln des Petitionsausschusses auch in dieses Parlament, in dem wir hier arbeiten, unter- zu streichen, und das lassen wir ihr einfach nicht durch- graben. Das haben wir doch anhand der Petition zum UN- gehen. Das haben ja auch die Vorrednerinnen und Vor- Migrationspakt erlebt; insofern ist das hier keine Speku- redner so gesehen. lation. Darauf verweisen Sie dann auch in der Begrün- dung dieses Antrags ganz ausdrücklich. Sie haben sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch hierhingestellt und darauf verwiesen, worauf es bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN Ihnen ankommt, nämlich darauf, diese hetzenden Petitio- 15642 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Corinna Rüffer (A) nen in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen, anstatt Ansgar Heveling (CDU/CSU): (C) den Bürgerinnen und Bürgern unter die Arme zu greifen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Anträgen der AfD-Fraktion können wir mittlerweile (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schon ein gewisses Muster feststellen: Erstens. Man bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- nimmt ein Problem, das keins ist. Zweitens. Man versieht ordneten der CDU/CSU und der FDP) es mit Signalworten wie „Bürgereingaben ernst nehmen“. Ich zitiere aus dem „Tagesspiegel“ vom 14. April 2019: Das klingt bedeutungsschwer. Drittens. Man camoufliert, was man eigentlich erreichen will. Ob man eine Lösung Dieser Abgeordnete für die Probleme der Menschen findet, ist der AfD gleich- gültig. Es geht nur darum, für sich selbst ein öffentliches – gemeint ist Martin Hebner; ich weiß nicht, ob er heute Forum zu schaffen. da ist - (Beatrix von Storch [AfD]: Und außerdem ist Mitglied des Petitionsausschuss, und aus seinem Hass und Hetze! Nie vergessen!) Büro wurde erfolgreich eine Petition gegen den Mi- grationspakt lanciert und begleitet. Bewusst wurden Der jetzige Antrag entlarvt dies bereits im ersten Satz im Zuge der Petitionskampagne Zweifel gesät und seiner Begründung: „Das Petitionsrecht ist ein traditio- Debatten mit Falschnachrichten und inszenierter nelles Rechtsinstitut des Parlamentarismus.“ Nein, das ist Stimmungsmache vergiftet. falsch. Das Petitionsrecht ist kein Rechtsinstitut für uns im Parlament; es ist ein Grundrecht – ein Grundrecht für (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Ganz schlimm!) die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Ausschussmitarbeiter – Mitarbeiter, nicht Abgeordne- te – wurden hier öffentlich an den Pranger gestellt, der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Ausschussvorsitzende wurde bedroht und beschimpft mit der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Wörtern, die man eigentlich nicht wiederholen möchte; GRÜNEN) aber ich tue das hier einmal, damit alle verstehen, worum Darum geht es. Das kann man auch schon erkennen, wenn es hier geht: „Migrationsfaschist“, „Merkel-Dreckstück“ man in Artikel 17 des Grundgesetzes hineinschaut; denn usw. Das lassen wir uns als Parlament, als Vertretung der da ist davon die Rede, dass man sich nicht nur an die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, nicht länger Volksvertretungen wenden kann, sondern an alle zustän- gefallen! digen Stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Johannes Huber [AfD]: Und den Bundestag!) (B) bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der (D) LINKEN) – Volksvertretungen. Bundestag: Volksvertretung! Ich möchte sagen, wohin das führt; denn es bleibt eben (Heiterkeit bei der LINKEN) nicht bei diesen Beschimpfungen und Beleidigungen und Verleumdungen. Der Artikel im „Tagesspiegel“ endet Sie haben auch gesagt, das Petitionsrecht sei das ein- mit: zige direktdemokratische Institut, das wir hätten. Auch da: Nein. Es ist ein Grundrecht. Es ist ein Recht, das Und es geht keineswegs nur um bloße Worte, denn jedem Einzelnen vermittelt ist. Es hat nichts mit Mehr- diese können schnell zu Waffen werden. Als Mitte heiten, mit demokratischen Entscheidungen zu tun, son- März ein Mann im neuseeländischen Christchurch dern jedem steht dieses Recht zu, sich mit Bitten und 50 Muslime erschießt, steht auf seiner Maschinen- Beschwerden an die zuständigen Stellen zu wenden. pistole: „Hier ist euer Migrationspakt.“ Wenn Ihr direktdemokratisches Verständnis natürlich ist, dass Bitten und Beschwerden ausreichen, ist es viel- Wir haben es mit Leuten zu tun, die tatsächliche Ge- leicht eher obrigkeitsstaatlich orientiert; aber es ist ein walt provozieren. Darüber reden wir heute, und deswegen Grundrecht und kein direktdemokratisches Institut. lehnen wir alle, hoffentlich, diesen Antrag ab. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, NISSES 90/DIE GRÜNEN) bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Die AfD versucht, das Petitionswesen von einem LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Hass und Grundrecht der Bürger zu einem Partei- und Fraktions- Hetze! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE instrument in der politischen Auseinandersetzung zu ma- GRÜNEN]: Sie reden von Hass und Hetze? – chen, und nichts anderes ist Hintergrund dieses Antrags. Gegenruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]: Dabei gibt der Bundestag den Menschen bereits seit Das war Hetze, liebe Kollegin! – Gegenruf der 15 Jahren, seit September 2005, die Möglichkeit der öf- Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ fentlichen Petitionen, die beispielsweise im Forum des DIE GRÜNEN]: Da kommen mir die Tränen!) Bundestages kommentiert und mitgezeichnet werden können. Das zusätzliche Angebot soll ein Forum zu einer Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sachlichen Diskussion wichtiger allgemeiner Anliegen Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ansgar schaffen. Der Petitionsausschuss selbst hat den Anspruch, Heveling, CDU/CSU-Fraktion. dass ein breites Themenspektrum auf seiner Internetseite Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15643

Ansgar Heveling (A) angeboten wird und dass möglichst viele Petenten ihre des Petitionsausschusses. Sie haben eine verfassungsmä- (C) Anliegen vorstellen können. ßige Grundlage, nämlich den vom Bundestag in Aus- übung der Kompetenz aus Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 Es ist ein gutes Instrument geworden. Es existieren für des Grundgesetzes erteilten und in § 110 der Geschäfts- die Frage der Veröffentlichung klare Regeln, und es führt ordnung weitergeführten Auftrag an den Petitionsaus- in der Tat nicht jeder Antrag auf eine öffentliche Petition schuss, sich selbst Grundsätze für die Behandlung von am Ende tatsächlich auch dazu, dass es eine öffentliche Bitten und Beschwerden aufzustellen und diese zum Aus- Petition wird. Wird eine Petition nicht veröffentlicht, be- gangspunkt seiner Entscheidung im Einzelfall zu ma- handelt der Ausschuss sie aber gleichwohl selbstver- chen. ständlich als normale Petition ganz regulär weiter. Kei- nem Petenten entsteht ein Nachteil in seinem Grundrecht. Wir halten daran fest, dass das Petitionswesen ein Es gab im Übrigen auch schon zu diesen Fragen Aus- wichtiges Grundrecht der Menschen ist, um ihre Anliegen einandersetzungen vor den Verwaltungsgerichten und dem Parlament oder den zuständigen Stellen anzuvertrau- vor dem Bundesverfassungsgericht, in denen die Regel- en. Die Menschen haben einen Anspruch auf eine ernst- ungen des Bundestages und die Einzelfallentscheidungen hafte Beratung ihrer Anliegen, ohne dass diese von Frak- zu öffentlichen Petitionen durchweg bestätigt wurden. tionen instrumentalisiert werden. Mit der öffentlichen Petition hat der Bundestag bereits eine Möglichkeit ge- Viele Regelungen, die in den Verfahrensgrundsätzen schaffen, bestimmte Anliegen auch öffentlich zu beraten. des Petitionsausschusses stehen, hat die AfD in ihrem Durch den Antrag der AfD erhält aber kein Bürger mehr Antrag einfach abgeschrieben. Allerdings garniert sie Rechte. Wir werden ihn ablehnen. die mit der Einführung von neuen Rechten im öffentli- chen Petitionsverfahren, aber nicht für die Bürger, son- Vielen Dank. dern für die Fraktionen. Wohlgemerkt: Es geht darum, nicht neue Rechte für die Bürger zu schaffen, sondern (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP für die Fraktionen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: NEN]: So ist es!) Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Die AfD stellt den Antrag damit für sich selbst und nicht Tagesordnungspunkt ist der Kollege Timon Gremmels, für die Menschen. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, (Beifall bei der SPD) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (B) (D) GRÜNEN) Timon Gremmels (SPD): So fordern Sie, auf Antrag einer Fraktion müssten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- künftig Petitionen veröffentlicht werden, über die in der ren! Es gibt nicht viele Debatten im Deutschen Bundes- Wahlperiode bereits entschieden wurde und die über- tag, bei denen ich jede einzelne Rede der anderen Fraktio- haupt gar keine weiteren neuen Gesichtspunkte vortra- nen – bis auf die der AfD – einfach so unterschreiben gen. Auch fordern Sie, dass der Petitionsausschuss abso- könnte. Was wir hier gerade gehört haben, kann ich alles lut inhaltsgleiche Petitionen nicht mehr zusammenfassen unterschreiben, auch die Punkte, mit denen man angeregt könne, wenn eine Fraktion widerspricht. Es geht also in hat, wie wir unser Petitionswesen noch verbessern kön- dem Antrag an keiner einzigen Stelle um eine echte Stär- nen. Da ist in der Tat eine große Übereinstimmung. Inso- kung des Petitionsrechts, sondern es geht darum, dass die fern ist die Debatte, wenn man die AfD abzieht, eine AfD neue Foren für sich selbst schafft. Werbestunde für den Petitionsausschuss. Alles, was die AfD in dem Antrag fordert, hätte sie im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Übrigen auch im Petitionsausschuss vorbringen können. der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Manfred Todtenhausen [FDP]: Ja!) Ich möchte, weil wir hier auch viele Schülerinnen und All das hätte man mit einem Antrag auf Änderung der Schüler haben, deutlich sagen: Gucken Sie sich den Arti- Verfahrensgrundsätze im Petitionsausschuss erreichen kel 17 des Grundgesetzes – wenn Sie hier mit einer Besu- können. Allerdings hätte es dann zugegebenermaßen die chergruppe unterwegs sind, kriegen Sie bestimmt auch Bühne im Plenum nicht gegeben, alle eine schöne Ausgabe des Grundgesetzes – genau an. Das ist nämlich ein wirklich tolles Recht, das Sie, (Timon Gremmels [SPD]: So ist es! – Manfred auch wenn Sie noch nicht mal volljährig sind, nutzen Todtenhausen [FDP]: Genau so!) können. Auch Sie können schon Petitionen schreiben. keine Videos für YouTube und Co. Politik für die Bühne, Sie müssen noch nicht mal deutscher Staatsbürger sein. das ist der einzige Grund für diesen Antrag. (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Das stört die da drüben am meisten!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Insofern ist das wirklich eine tolle Sache, die wir im GRÜNEN) Grundgesetz, das dieses Jahr 70 Jahre alt wird, haben. Die Verfahrensgrundsätze sind bereits jetzt Geschäfts- Darauf können wir stolz sein. Meine sehr verehrten Da- ordnungsrecht, speziell zugeschnitten auf die Bedürfnisse men und Herren, nutzen Sie Ihre Rechte! 15644 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Timon Gremmels (A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Dafür müssen Sie sich in der Tat schämen. Das ist keine (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Glanzleistung, die Sie hier präsentieren. ordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen natürlich – da sind sich alle Fraktionen hier Ich möchte auch sagen: Es gibt im Internet Campact, im Hause einig – das Petitionsrecht moderner gestalten; change.org oder andere Plattformen mit Angeboten, die wir müssen voranschreiten. Dazu gibt es auch intensive sie auch als Petitionen bezeichnen. Nein, das sind keine Gespräche. Erst vor zwei Wochen haben wir zusammen- Petitionen; das sind Kampagnenplattformen. Die haben gesessen. Da gab es Punkte, bei denen wir uns einig wa- sicherlich auch ihre Berechtigung; aber verwechseln Sie ren, bei denen wir aber, da sie ein bisschen mehr Geld die nicht mit Artikel 17 Grundgesetz. kosten, noch das Bundestagspräsidium überzeugen müs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) sen, und es gab Punkte, bei denen wir unterschiedliche Auffassungen hatten. Aber wir haben das ordentlich und Mit dem Petitionsrecht hier kümmern sich die Abgeord- fair in der Obleuterunde miteinander besprochen. neten und ihre Mitarbeiter – das muss man auch sagen; denn sie bereiten unsere Petitionen vor – nämlich wirk- Auch Die Linke hat in der Tat Anträge in den Petitions- lich intensiv um Ihre Rechte und Anliegen. Wir prüfen die ausschuss eingebracht, um unsere Verfahrensgrundsätze ganz gewissenhaft. Deswegen: Das Schöne an dem Peti- zu ändern. Von der AfD habe ich da nie etwas gehört. tionsrecht ist, dass das ein Jedermannsrecht ist. Nutzen Sie es! Nehmen Sie diese Plattform! Nutzen Sie sie und (Johannes Huber [AfD]: Sie waren doch in der werben Sie für Ihre Rechte! Kümmern Sie sich um Poli- Obleuterunde dabei! Und Sie wissen es besser! tik, meine sehr verehrten Damen und Herren! Unglaublich!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Es geht Ihnen nicht um die Sache. Es geht Ihnen nicht um BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. die Inhalte. Es geht Ihnen nicht um die Bürgerinnen und Manfred Todtenhausen [FDP]) Bürger. Es geht Ihnen schlicht und einfach darum, eine Kampagnenplattform für Ihre rechtspopulistischen Dinge So. Das war meine Grußbotschaft an die noch zahlreich auf den Weg zu bringen. Dafür steht – und das ist auch gut anwesenden – wenn ich ihnen in die Augen gucke – Ju- so – dieser Bundestag, dieses Haus nicht zur Verfügung. gendlichen. Freut mich, dass man die Debatte dafür nut- Dafür müssen Sie andere Mittel und Wege finden. zen kann. Zur AfD ist eigentlich schon alles gesagt worden. Al- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) les, was die Kollegen gesagt haben, ist richtig. Ich bin froh, dass wir den Leuten, die uns heute noch (B) (Johannes Huber [AfD]: Dann lassen Sie es!) gefolgt sind, das deutlich machen können. (D) – Ich lasse es eben nicht, Herr Huber. Sie müssen das Alles Gute und Glück auf! schon aushalten. Wenn Sie hier so eine Debatte vom Zaun brechen, müssen Sie sich auch anhören, was für einen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Schmarrn Sie da verzapft haben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Vizepräsident Wolfgang Kubicki: bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herzlichen Dank, Herr Kollege Gremmels. Da Sie er- Ich sage Ihnen: Wenn es Ihnen wirklich um die Stär- neut, wie andere Redner auch, aufgefordert haben, das kung von Petitionsrechten geht, warum haben Sie sich Grundgesetz zu lesen, was immer gut ist, will ich darauf genau diesen Punkt ausgesucht? Nutzen Sie doch erst hinweisen, dass Artikel 17 nicht lautet: „Jeder Mann hat mal die Rechte, die Sie als Abgeordnete haben. Ich bin das Recht“, sondern: „Jedermann hat das Recht“, was zu zwei Jahre im Petitionsausschuss. Ich frage mal: Wie lesen ist wie „jeder Mensch“. viele Berichterstattergespräche hat denn Ihre Fraktion be- antragt? Ich kann mich an keine erinnern. Wie viele Orts- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten termine haben Sie denn beantragt? Ich kann mich an kei- der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- nen erinnern. Ja, eben, weil es nicht in Ihre Masche passt. SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Götz Sie wollen das Petitionsrecht sozusagen umstrukturieren Frömming [AfD]) in eine Kampagnenplattform für AfD-Kampagnen. Da- rum geht es. Interfraktionell wird mit dem Schluss der Debatte Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/14762 an (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schlagen. Sind Sie mit dem Überweisungsvorschlag ein- bei Abgeordneten der CDU/CSU) verstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Es geht Ihnen nicht um die Rechte der Bürgerinnen und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Bürger. Es geht Ihnen nicht darum, dass Sie hier die Bür- gerinnen und Bürger stärker beteiligen wollen. Sie wollen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- eine Kampagnenplattform für die AfD bauen, und dann richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu machen Sie das auch noch so plump und so dreist, dass dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und das jeder merkt, meine sehr verehrten Damen und Herren. SPD Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15645

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Invictus Games – Das Sportereignis der ver- an den Invictus Games teilgenommen, und auch nächstes (C) sehrten Soldatinnen und Soldaten als ein deut- Jahr wird in Den Haag eine deutsche Mannschaft starten. liches Zeichen der Anerkennung und Wert- schätzung nach Deutschland holen Warum wollen wir nun, dass diese Spiele in Düssel- dorf, in Deutschland stattfinden? Es gibt viele gute Drucksachen 19/8262, 19/13992 Gründe. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Zum einen haben wir in der Rehabilitation unserer Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Soldatinnen und Soldaten, die mit einem Schaden aus Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dem Einsatz zurückkommen, einen eigenen Ansatz, auch Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- bei diesen Spielen. Es geht nicht um sportliche Höchst- ner für die Bundesregierung Herrn Parlamentarischen leistung, sondern es geht um die Frage, ob diesen Men- Staatssekretär Dr. Peter Tauber das Wort. schen mit dem Sport wieder eine Perspektive, Mut zum Leben, Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vermittelt werden kann.

Dr. Peter Tauber , Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Es geht zum anderen auch um Wertschätzung und Res- ministerin der Verteidigung: pekt für die Soldatinnen und Soldaten unserer Freunde und Verbündeten, mit denen unsere Soldatinnen und Sol- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine daten gemeinsam in den Einsätzen sind. Auch sie werden Herren! Wenn wir über die Invictus Games sprechen und nach Düsseldorf kommen, und auch sie verdienen unse- die Frage, ob Deutschland diese Spiele 2022 ausrichten ren Respekt. wird, dann sollten wir auch erinnern an die 111 in den Auslandseinsätzen gefallenen Soldaten. Wir sprechen Darüber hinaus geht es eben nicht nur um Sport. Es über viele, die in diesen Auslandseinsätzen Schaden an geht um ein Rahmenprogramm, um die Frage, wie wir in Leib oder Seele genommen haben. unserer Gesellschaft über diese Einsätze sprechen. Das kann durchaus auch kontrovers geschehen, aber eben bit- Dieses Parlament beschreibt die Bundeswehr oft als te mit Respekt. Parlamentsarmee. Und, ja, wir schicken die Soldatinnen und Soldaten in die Einsätze; aber wir schaffen auch die Es geht auch um die Frage der ganz konkreten Unter- gesetzlichen Grundlagen für die Fürsorge für Veteranen, stützung für die Athletinnen und Athleten, für die es da- für kriegs- und einsatzgeschädigte Soldaten. Wenn wir rum geht, etwas zu überwinden, eigene Grenzen neu zu „Parlamentsarmee“ sagen, dann heißt das natürlich nicht, definieren, Vertrauen zurückzugewinnen in das eigene (B) dass das allein die Armee des Parlaments ist. Es ist die Können und das eigene Sein. Und es geht auch um die (D) Armee unseres Landes und damit die der Bürgerinnen Unterstützung der beteiligten Familien und Freunde, die und Bürger. Die Abgeordneten sind spiegelbildlich als ebenfalls in großer Zahl an diesen Spielen teilnehmen. Volksvertreter im besten Sinne des Wortes diejenigen, die das Bild unserer Streitkräfte im Parlament widerspie- Die Spiele werden also einerseits fröhlich sein, aber sie geln. haben andererseits natürlich einen sehr ernsten Hinter- grund; denn es geht am Ende um die Soldatinnen und Wenn Sie die Deutschen fragen, wie sie zu unserer Soldaten, die bereit sind, für ihre jeweilige Heimat, für Armee stehen, dann hören Sie die unterschiedlichsten ihr Land, für ihre Gesellschaft das im Zweifel größte Meinungen. Da gibt es welche, die stehen den Streitkräf- Opfer zu bringen: Verwundung und Tod hinzunehmen. ten kritisch gegenüber. Dann gibt es welche, die sagen: Deswegen ist es wichtig, dass wir darüber reden, warum Streitkräfte sind ein sicherheitspolitisches Instrument zur diese Spiele überhaupt notwendig sind. Durchsetzung und Wahrung deutscher Interessen in der Welt und auch, um unseren internationalen Verpflichtun- Es gibt einen weiteren, letzten Grund. Alle Soldatinnen gen nachzukommen. – Und dann gibt es welche, die sa- und Soldaten sehen sich als festen Bestandteil dieser Ge- gen: Soldaten sind Ausdruck der Verantwortung für Staat sellschaft. Was sie sich wünschen, ist Anerkennung und und Gesellschaft, im besten Sinne Staatsbürger in Uni- Wertschätzung. Diese Spiele nach Deutschland zu holen, form. – So vielfältig diese Meinungen sind, so sehr sind wäre ein starkes Signal der Anerkennung und Wertschät- sich hoffentlich alle in einer Frage einig: dass die Männer zung. und Frauen, die in Uniform für unser Land in die Einsätze (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gehen, unseren Respekt und unsere Unterstützung ver- ordneten der SPD) dient haben, Bei der Präsentation der deutschen Bewerbung in Lon- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- don bin ich begleitet worden von Hauptfeldwebel Stefan neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Huss und von Christiane Reppe. Christiane Reppe, eine SES 90/DIE GRÜNEN) junge Frau, ist amtierende Europameisterin im Paratriath- und zwar unabhängig von der Frage, wie wir zu den ein- lon. Sie hat am Ende unserer Präsentation Folgendes ge- zelnen Einsätzen, in die sie gehen, jeweils stehen. sagt – ich möchte sie gerne zitieren –: Die Invictus Games sind Ausdruck des Respekts vor Ich habe persönlich erfahren, was es bedeutet, mit diesem Dienst. Die Initiative von Prinz Harry soll nun einer harten Diagnose konfrontiert zu werden. Für auch in Deutschland eine Heimat finden. Deutsche Sol- mich wurde mein Sport der Schlüssel zur Überwin- datinnen und Soldaten haben schon in der Vergangenheit dung meiner Behinderung. 15646 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Parl. Staatssekretär Dr. Peter Tauber (A) Vor Jahren, als ich selbst hart trainierte, um ein Spit- (Dr. [FDP]: Zur Sache! – Ottmar (C) zenathlet zu werden, hat Stefan Huss, der Teamchef von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo der deutschen Invictus Games Mannschaft 2018 für habt ihr eigentlich alle diese Abgeordneten ge- unsere Werte in Afghanistan gegen den Terrorismus funden?) gekämpft. … Nach seinem zweiten Einsatz wurde er Die Invictus Games nach Deutschland zu holen, war krank. Die Diagnose war Posttraumatisches Stress- Inhalt eines guten Antrages der FDP vom 26. September Syndrom, seine Seele war im Krieg verletzt worden. 2018, der auch unsere Unterstützung fand. Beifall im Ich konnte nur trainieren, weil er für mich den Kopf Parlament, später Ablehnung im Sportausschuss. Diese hingehalten hat. Er und seine Kameraden haben es Idee griff allerdings dann auch die Große Koalition auf verdient, die Spiele nach Deutschland zu holen. Da- und beantragte im März 2019 im Parlament – hört! hört! –, rum unterstütze ich die Bewerbung. die Invictus Games nach Deutschland zu holen. Dieser Und darum sollten wir es auch tun. Antrag wurde dann im Sportausschuss beschlossen, und auch die AfD stimmte dafür. Es ist ein typisches politi- Unseren Soldaten in den Einsätzen wünsche ich allzeit sches Spielchen der Großen Koalition, gute Ideen abzu- Soldatenglück, und Sie bitte ich um herzliche Unterstüt- kupfern und als eigene politische Errungenschaften zu zung. feiern. Danke. Prinz Harry vom englischen Königshaus hat die Invic- tus Games ins Leben gerufen, und ihm gilt auch Dank und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Anerkennung für diese geniale Idee, Menschen, die nie- bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- mals aufgeben, zu ehren. SES 90/DIE GRÜNEN) Die AfD klagt aber dennoch mit dem ihr zur Verfügung stehenden parlamentarischen Schwert in der Hand die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: deutsche Regierung an – wenn man noch von einer Re- Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Red- gierung sprechen kann. ner hat das Wort der Kollege Andreas Mrosek, AfD-Frak- tion. ( [CDU/CSU]: Kann man! Geht ganz gut!) (Beifall bei der AfD) Was suchen unsere Soldaten im Ausland? Was suchen unsere Soldaten in Afghanistan? Verteidigen sie dort un- Andreas Mrosek (AfD): sere deutsche Heimat, unsere Werte, unsere Kultur? Viele (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Die Invic- kehren als Verwundete, als Kriegsversehrte in die Heimat (D) tus Games sind eine internationale Multisportveranstal- zurück, viele werden getötet. tung, an der Verwundete, Verletzte und kranke Angehö- Mit Sicherheit erfüllt die Truppe dort unter Führung rige der Streitkräfte und deren Veteranen an neun ihrer Kommandeure ihre Kampfaufträge, ist tapfer, sou- Sportarten teilnehmen dürfen, zum Beispiel Rollstuhlbas- verän und mutig. Besser wäre es, unsere deutschen Solda- ketball, Sitzvolleyball, Rudern in der Halle usw., benannt ten würden unsere deutschen Grenzen schützen. Das wäre nach „invictus“, lateinisch für „unbesiegt“. Ja, meine Da- eine sinnvolle Aufgabe, die zu erfüllen dringend notwen- men und Herren, diese Helden sind in der Tat unbesiegt. dig ist. Aber sie werden in Kriege geschickt, die niemals Trotz erfahrenen Leids und dauerhafter gesundheitlicher zu gewinnen sind. Wo seit Jahrtausenden die Scharia Schäden geben diese Menschen nicht auf, und das ver- herrscht, der Islam regiert, wird man auch mit deutschen dient Lob und Anerkennung. Soldaten keine Demokratie einführen. (Beifall bei der AfD) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber hinter jedem dieser Einzelschicksale stehen Krie- NEN]: Ihr habt echt keine Ahnung!) ge, Gewalt und Zerstörungen. Gesunde Menschen wur- Es bleibt zu hoffen, dass unsere Soldaten gesund nach den von Regierungen in den Krieg geschickt und kehrten Hause kommen. Kriege sind schlimm, aber noch schlim- als Kriegsversehrte zurück – sehr traurige Menschens- mer ist es, Menschen in Kriege zu schicken, wo sie nichts chicksale. Auch jetzt werden wieder deutsche Soldaten zu suchen haben. Damit muss endlich Schluss sein! als Bodentruppen in Syrien ins Spiel gebracht. Dabei le- ben in Europa und in Deutschland doch genug syrische Noch ein Hinweis: In anderen Staaten werden Kriegs- Männer im besten wehrpflichtigen Alter, die eigentlich heimkehrer als Helden gefeiert, erst recht, wenn sie als ihre eigene Heimat verteidigen müssten. Kriegsversehrte heimkommen. In Deutschland bleibt da noch viel zu wünschen übrig. (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Geht es noch? – Andreas Rimkus Ein paar Worte zu mir. Auch in meiner sportlichen [SPD]: So etwas am Thema vorbei! Setzen! Laufbahn als Powerlifter gab es Athletinnen und Athleten Sechs! – Weiterer Zuruf des Abg. Timon mit Behinderung, deren Leistungen enorm und Weltklas- Gremmels [SPD]) se waren. Ich habe auch deren Trainingseinheiten und die damit verbundenen Schwierigkeiten beobachten können. Dort sollten sich die jungen Syrer behaupten und Lorbee- Ich kann nur sagen: Hut ab vor solchen Leistungen! Ich ren sammeln und nicht durch Straftaten in Deutschland sage Ihnen das als vierfacher Weltmeister, als vierfacher glänzen. Europameister und ehemaliger Leiter der deutschen Na- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15647

Andreas Mrosek (A) tionalmannschaft im Kraftdreikampf. Man konnte richtig schen, die für ihr Land unter großem Risiko Höchstleis- (C) den physischen Willen spüren, körperliche Bestleistun- tungen erbracht haben. gen zu bringen, Kampfgeist strahlte aus den Augen. Schon allein beim Aufwärmen, vor dem eigentlichen Die Invictus Games sind ein würdevoller sportlicher Wettkampf, kam der Siegeswille so richtig zum Aus- Wettbewerb und ein international geachtetes Groß- druck. ereignis, bei dem verwundete oder verletzte Soldatinnen und Soldaten durch die Kraft des Sports in rund zehn (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Disziplinen zu neuen Höchstleistungen kommen und über NEN]: Interessiert uns nicht!) sich hinauswachsen können. Auch der gemeinsame Aus- tausch mit verletzten Angehörigen anderer Streitkräfte Wir wünschen uns, dass die Invictus Games nach macht die Invictus Games so wertvoll. Deutschland kommen und die Teilnehmer unfallfrei Best- leistungen vollbringen. Wir fordern aber auch, dass un- Als Düsseldorfer Abgeordneter bin ich dem Bundes- sere betroffenen deutschen Soldaten noch mehr Unter- verteidigungsministerium und der Landesregierung von stützung von ihrer Heimat bekommen, von der Heimat, NRW dankbar, dass sie auf die Landeshauptstadt Düssel- die sie in den Krieg geschickt hat, nämlich von Deutsch- dorf zugekommen sind, um eine deutsche Bewerbung für land. die Invictus Games einzureichen. Mein Dank gilt dem Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf, Ich danke für die Aufmerksamkeit. Thomas Geisel, seiner Verwaltung und dem Düsseldorfer (Beifall bei der AfD) Stadtrat für die hervorragenden Vorarbeiten für die Be- werbung um die Invictus Games und für den entsprech- enden Ratsbeschluss im Juli dieses Jahres. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Düsseldorf im Herzen von NRW und als lebenswerte, Rimkus, SPD-Fraktion. attraktive und soziale Stadt in der Metropolregion Rhein- land hat in den letzten Jahren mehrfach bewiesen, dass es (Beifall bei der SPD) ein würdevoller und herzlicher Gastgeber ist: mit dem Grand Départ, dem Start der Tour de France im Jahr Andreas Rimkus (SPD): 2017, der Tischtennis-WM im gleichen Jahr sowie – erst Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- kürzlich – mit der Ausrichtung der internationalen Ober- men und Herren auf den Rängen! Liebe Kolleginnen und bürgermeisterkonferenz „Living Together“. Auch die Kollegen! Zu den Aufgaben, die einem Mitglied des Tatsache, dass Düsseldorf im Jahr 2024 Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft im Gastgeberland (B) Deutschen Bundestages am meisten Demut, Verantwor- (D) tungsbewusstsein, Reflexion und einen moralischen Deutschland sein wird, zeigt die Expertise und die Qua- Kompass abverlangen, gehört sicherlich die Entschei- lität des Standorts für Ereignisse von Rang. Im Rahmen dung, wann und unter welchen Umständen sowie zu wel- des Projekts „Rhein-Ruhr-City 2032“ wird zudem aktuell chen Bedingungen die Angehörigen der Bundeswehr als eine gemeinsame Olympiabewerbung mit den Nachbar- Parlamentsarmee in internationale Einsätze oder bewaff- städten in der Region vorangetrieben. nete Konflikte und Kriege entsandt werden. Die Be- Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn wir es reitschaft der Soldatinnen und Soldaten, diesen verant- schafften, die Invictus Games nach Düsseldorf und damit wortungsvollen Dienst zu leisten, verdient unsere nach Deutschland zu holen. Wenn in wenigen Wochen die ausdrückliche Anerkennung und unseren Respekt. Damit Entscheidung über die Vergabe fällt, sollten wir alle ge- meine ich uns als Abgeordnete, aber auch die Öffentlich- meinsam die Daumen drücken. Und wenn wir mit der keit und die Zivilgesellschaft. Bewerbung Erfolg haben, sollten wir alles dafür tun, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Soldatinnen und Soldaten gut vorbereitet werden und der CDU/CSU) die Öffentlichkeit an diesem wichtigen Ereignis teil- nimmt und partizipiert. Neben dem sportlichen Wettbe- Die Soldatinnen und Soldaten geraten bei der Erfüllung werb und der Anerkennung der Soldatinnen und Soldaten ihres Dienstes natürlich auch in Situationen, in denen sie können wir mit den Invictus Games auch das soziale Mit- einem sehr großen Risiko für ihre Unversehrtheit und ihr einander und die gegenseitige Wertschätzung in unserer Leben ausgesetzt sind. Wir wissen, dass nicht alle Bun- Gesellschaft stärken. deswehrangehörigen, die von uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern in den Einsatz geschickt werden, ge- Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte Sie um sund und unverletzt zurückkommen. Unterstützung für unser Anliegen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Invictus Ga- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mes, die wir mit dem heutigen Antrag im Parlament in der CDU/CSU) unser Land holen möchten, schaffen die Sichtbarkeit der Versehrten. Neben einem Maximum an Unterstützung bei Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ihrer gesundheitlichen und auch seelischen Rehabilitation Vielen Dank, Herr Kollege Rimkus. – Als nächste Red- für ein Leben in Alltagsnormalität verdienen die kriegs- nerin hat die geschätzte Kollegin , FDP- versehrten Soldatinnen und Soldaten auch öffentliche Fraktion, das Wort. Anerkennung – Anerkennung nicht nur als Opfer einer Kriegsverletzung, sondern auch Anerkennung als Men- (Beifall bei der FDP) 15648 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

(A) Britta Katharina Dassler (FDP): und Soldaten den Rücken stärken; denn bei den Invictus (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr Games geht es nicht nur um den sportlichen Wettstreit. Es geehrte Damen und Herren! Der Weg von verwundeten geht doch um viel, viel mehr. Es geht um Wertschätzung, Soldatinnen und Soldaten zurück ins Leben, in einen und es geht darum, Mut zu verbreiten, Kraft zu geben, geordneten Alltag kann lang und oftmals sehr steinig sein. Zuversicht zu schenken und auszustrahlen. Für all dies, Zur körperlichen Verwundung kommen oftmals seelische meine Damen und Herren, ist der Sport genau das richtige Schäden hinzu. Mittel: um Menschen zusammenzubringen und dabei die gesellschaftliche Solidarität mit unseren Soldatinnen und Der Deutsche Bundestag hat in besonderem Maße eine Soldaten zu stärken und sie aus dem Schattendasein he- Fürsorgepflicht gegenüber den Versehrten der Auslands- rauszuholen. einsätze, da ja schließlich wir es sind, die über die Ent- sendung der Bundeswehrsoldaten entscheiden. Unsere (Beifall bei der FDP) Soldatinnen und Soldaten bestmöglich zu unterstützen, Deshalb lassen Sie uns hier und heute gemeinsam an meine Damen und Herren, sollte deshalb nicht nur innere einem Strang ziehen! Lassen Sie uns gemeinsam Verpflichtung sein, sondern vor allem von einem tiefen Deutschland zum Gastgeberland der Invictus Games Verantwortungsbewusstsein aller Abgeordneten hier in 2022 machen und damit einen weiteren Baustein der ge- diesem Parlament getragen werden. sellschaftlichen Akzeptanz setzen, auf den sich unsere (Beifall bei der FDP) Soldatinnen und Soldaten auch verlassen können. Des- halb stimmen wir Freie Demokraten diesem Antrag aus Mit Unterstützung verbinde ich aber nicht nur die ge- vollem Herzen und mit Überzeugung zu. sundheitliche Versorgung der Soldatinnen und Soldaten, ich meine damit vor allem, dass es Aufgabe der Politik ist, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten durch parlamentarische Initiativen dafür zu sorgen, dass der CDU/CSU und des Abg. Andreas Rimkus unseren Soldatinnen und Soldaten Anerkennung und [SPD] – Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Sehr Wertschätzung entgegengebracht werden. Es sind doch gut!) gerade die Streitkräfte, meine Damen und Herren, die sich im wahrsten Sinne des Wortes für unsere Gesell- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: schaft aufopfern, um unsere Freiheit und damit die frei- Vielen Dank, Frau Kollegin Dassler. – Als nächster heitlich-demokratischen Werte zu verteidigen. Redner hat der Kollege Dr. André Hahn, Fraktion Die (Beifall bei der FDP) Linke, das Wort. Deshalb, meine Damen und Herren, haben wir Freie (Beifall bei der LINKEN) (B) Demokraten durch meinen Kollegen Herrn Dr. Marcus (D) Faber bereits im vergangenen Jahr einen entsprechenden Dr. André Hahn (DIE LINKE): Antrag eingebracht, der vorsah, die Invictus Games nach Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- Deutschland zu holen. Im November 2018 allerdings deswehr hat nicht nur wegen des Verdachts des Bestehens wurde dieser Antrag mit den Stimmen der Union, der rechtsextremer Netzwerke ganz offenkundig ein Image- SPD und auch der Linken abgelehnt. Leider! problem. Anstatt im Falle einer Gefahr die Heimat hier- zulande zu verteidigen, hat sich die Bundeswehr zu einer (Dr. [FDP]: Merkwürdig!) weltweit operierenden Armee entwickelt. Doch nun plötzlich die Kehrtwendung der Großen Koali- tion! (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das haben wir gerade schon von der AfD gehört!) (Dr. Martin Neumann [FDP]: Sehr sonderbar!) Vermeintlich deutsche Interessen werden immer noch am Denn heute, meine Damen und Herren, liegt uns ein An- Hindukusch verteidigt, trag vor, der sich in Richtung und Ziel kaum vom dama- ligen Antrag der Freien Demokraten unterscheidet. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hat schon die AfD beigetragen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und das führt zu Verletzten und Toten auch in den Reihen der AfD) der Bundeswehr, zu sinkender Akzeptanz bei der Bevöl- Ich kann mich deshalb auch nicht des Eindruckes erweh- kerung und einem Mangel an Nachwuchs für die Armee. ren, dass es sich hierbei um ein klares Bekenntnis der Der Sport hat nicht zuletzt deshalb für die Bundeswehr Großen Koalition zu Taktiererei und Profilierung handelt, und das, meine Damen und Herren, leider auf Kosten der in doppelter Hinsicht einen hohen Stellenwert. Zum einen Einsatzversehrten. braucht eine Armee sportliche, leistungsfähige Soldaten, und zum anderen gilt auch hier, dass Sport verbindet. Er (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Andreas bringt Menschen zueinander, schafft Sympathie. Dies Mrosek [AfD]) muss man sich meines Erachtens immer wieder verge- genwärtigen, wenn man über die Sportförderung des Da wir Freie Demokraten uns als konstruktive Opposi- Bundes und auch über den heute zur Abstimmung stehen- tion verstehen, leisten wir gerne unseren Beitrag, damit den Antrag der Koalition diskutiert. etwas vorankommt und Sie heute Ihre Fehlentscheidung von damals korrigieren können. Deshalb ist es auch gut, Die Bundeswehr ist mit ihren Sportfördergruppen nicht dass wir mit dieser Initiative den versehrten Soldatinnen nur der größte Förderer des Spitzensports in Deutschland, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15649

Dr. André Hahn (A) sondern auch in anderen Bereichen aktiv. Gerade erst gung von Invictus Games in Deutschland lösen. Versehrte (C) gingen die 7. Militärweltspiele im chinesischen Wuhan Soldatinnen und Soldaten benötigen ganz andere Unter- zu Ende, an denen die Bundeswehr mit rund 370 Sport- stützung. Die Linke lehnt den vorliegenden Antrag daher lern, Trainern und Betreuern teilnahm. Da muss man – ab. gerade auch mit Blick auf die Invictus Games – schon die Frage stellen dürfen, ob es hier vor allem um die versehr- Herzlichen Dank. ten Menschen geht oder nicht doch eher um die Nutzung (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ des Sports und der Sportler zur Rechtfertigung von Krie- CSU: Eine Fehlentscheidung!) gen als Mittel der Politik. Letzteres wäre jedenfalls aus Sicht der Linken ein völlig falscher Weg. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Selbstverständlich haben auch in Kriegseinsätzen ver- Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat sehrte Soldatinnen und Soldaten das Recht, aktiv Sport zu das Wort der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die treiben – so sie es können – und an Wettkämpfen teilzu- Grünen. nehmen. Hierfür gibt es in Deutschland in Tausenden Sportvereinen des Olympischen Sportbundes, des Behin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dertensportverbandes, bei den Special Olympics und dem Gehörlosen-Sportverband schon jetzt zahlreiche Mög- Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lichkeiten. Die Linke setzt sich dafür ein, dass es noch Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und deutlich mehr Angebote für Menschen mit Behinderung Kollegen! Wenn Frauen und Männer für unser Land einen gibt, gleichberechtigt Sport zu treiben; denn Sport ist ge- Dienst leisten, dann verdient das natürlich Respekt und rade für sie ein gutes Mittel, gesellschaftliche Teilhabe Anerkennung. Wenn sie in der Ausübung dieses Dienstes und Anerkennung zu erfahren und etwas für das persön- an Körper oder Seele Schaden erleiden, dann erlegt uns liche Wohlbefinden zu tun. das eine Verantwortung auf. Diese Verantwortung ist um- so größer, wenn dieser Schaden an Körper oder Seele (Beifall bei der LINKEN) unter Umständen nicht mehr heilbar ist. An dieser Stelle – Nach Auffassung der Linken werden aber eher symbo- Herr Kollege Hahn, da würde ich Ihnen widersprechen – lische Handlungen, wie die Ausrichtung von Invictus Ga- sind die Invictus Games kein Symbol, sondern ein Bau- mes, den Geschädigten und ihren Angehörigen nur wenig stein, wie man dieser besonderen Verantwortung nach- helfen, zumal der größte Teil dieser Personengruppe kommen kann. durch ein derartiges Event objektiv überhaupt nicht er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- reicht wird. Deshalb möchte ich noch einmal betonen: (B) wie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU (D) Das Verteidigungsministerium hätte diverse andere Mög- und der FDP) lichkeiten, um Betroffene wirksam zu unterstützen. Psy- chisch geschädigte und versehrte Soldaten benötigen Ich selbst bin als Mitglied des Verteidigungsausschus- dringend mehr Anlaufstellen und stationäre Behand- ses im Jahr 2016 mit Ihrem Vorgänger, Herr Tauber, zu lungsplätze. den Invictus Games in die Vereinigten Staaten gereist und habe dort unsere Soldatinnen und Soldaten, die teilge- (Beifall bei der LINKEN – Helin Evrim nommen haben, besucht. Dieser Besuch lässt bis heute Sommer [DIE LINKE]: Die müssen ein halbes bei mir bleibende Eindrücke zurück. Bei einem solchen Jahr warten!) Sportereignis geht es natürlich zum einen um Anerken- Statt die Wiedereingliederung traumatisierter Soldatin- nung. Aber es geht um viel mehr: Sport, sportlicher Wett- nen und Soldaten an ehrenamtlich Engagierte outzusour- kampf, wieder etwas leisten zu können, veränderte diese cen, muss der Bund endlich deutlich mehr Mittel für psy- Frauen und Männer, die bei ihrem Dienst verletzt worden chosoziale und finanzielle Hilfen bereitstellen. sind. – Deswegen wird meine Fraktion heute den vorlie- genden Antrag der Koalition unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Leider wurden auch meine Fragen, die ich bereits in der wie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD ersten Lesung im März gestellt hatte, bis heute nicht be- und der FDP) antwortet, zum Beispiel warum an den Invictus Games nur NATO-Armeen und ihre in Kriegseinsätzen Verbün- Ich will noch eines hinzufügen: Es ist doch gut, dass deten teilnehmen oder warum diese Sportler nicht auch in wir jetzt eine Debatte darüber führen. Wenn ich an 2016 die Paralympics intergiert werden können. Auch liegt zurückdenke: Damals haben mich viele, als ich den Rei- noch immer kein Finanzplan für die geplanten Spiele seantrag gestellt habe, ganz komisch angeguckt und ge- vor. Der Bundestag erteilt also mit der Zustimmung zu fragt: Invictus Games? Was ist das überhaupt? Geht es diesem Antrag dem Verteidigungsministerium einen darum, Prinz Harry zu treffen? Blankoscheck, obwohl gerade dieses Ministerium dafür Frau Kollegin Dassler, es ist gut, dass wir heute hier bekannt ist, sehr sorglos mit Steuergeldern umzugehen. eine Debatte darüber haben, wer der geistige Urheber dieses Antrages ist. Es ist gut, dass sich Staatssekretär (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ Tauber mit so viel Verve dafür einsetzt. Wir haben an CSU: Sie wissen genau, dass das nicht so ist!) vielen Stellen Meinungsverschiedenheiten und Unter- Mein Fazit: Das unbestreitbar existierende Imageprob- schiede, und ich kann Ihnen an zahlreichen Stellen wider- lem der Bundeswehr lässt sich nicht durch die Austra- sprechen; aber an dieser Stelle ist es gut, mit welchem 15650 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Tobias Lindner (A) Herzblut Sie sich in die deutsche Bewerbung hineinknien Jens Lehmann (CDU/CSU): (C) und dafür sorgen, dass diese auf internationaler Ebene Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bewer- Unterstützung erfährt. Deswegen ist es zu begrüßen, dass ben uns mit Düsseldorf um die Invictus Games 2022. vor einer Entscheidung über die Vergabe der Spiele heute Diese würden dann erstmalig in Deutschland stattfinden. hier im Deutschen Bundestag die zweite Beratung dieses Das Votum für Deutschland wäre eine hervorragende Antrags stattfindet. Nachricht für die deutschen Athletinnen und Athleten, welche an den Spielen teilnehmen, und für all jene, wie Ich habe am Anfang gesagt, die Invictus Games seien auch mich, die sich mit Leidenschaft dafür eingesetzt kein Symbol, aber ein Baustein, und ich möchte natürlich haben. hinzufügen: Wir dürfen das Ganze bei aller Anerkennung und Bewunderung auch nicht überhöhen. Sie sind ein In unserem Lande wird oft zu wenig gedankt und Leis- Baustein, wenn es darum geht, Soldatinnen und Soldaten, tung gewürdigt. Deshalb geht mein ausdrücklicher Dank die an Seele oder Körper verwundet worden sind, zu hel- an Staatssekretär Peter Tauber, an Düsseldorfs Oberbür- fen. Wir müssen in diesem Parlament, glaube ich, viel germeister Thomas Geisel und an ihre Delegation, die in häufiger darüber diskutieren, wie wir bei einer Parla- London die Bewerbung der Landeshauptstadt zur Aus- mentsarmee unserer Verantwortung an dieser Stelle nach- richtung der Games erfolgreich präsentiert haben. Im kommen können. Bundesministerium der Verteidigung danke ich Herrn General Laubenthal stellvertretend für die vielen, die sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Hintergrund mit großem Engagement für die Invictus sowie bei Abgeordneten der SPD) Games und die Förderung des Spitzensports einsetzen. Dabei geht es natürlich immer auch um die Frage: Ha- ben wir genug Mittel, wenn es zum Beispiel darum geht, Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist der posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln? Es größte Förderer des Spitzensports. In der Regel sind es geht aber natürlich auch um die Frage: Haben wir die Sportsoldatinnen und Sportsoldaten, die unser Land mit richtigen Strukturen innerhalb und außerhalb der Bundes- Höchstleistungen erfolgreich bei internationalen Wett- wehr, und haben wir auch die richtige Kultur innerhalb kämpfen vertreten. Bei den Invictus Games geht es je- der Bundeswehr, wenn Soldatinnen und Soldaten nach doch nicht nur um den sportlichen Wettkampf und um einem Einsatz einen Schaden erlitten haben, insbesondere Erfolg, sondern buchstäblich auch um den Kampf zurück wenn der Schaden an der Seele aufgetreten ist? ins Leben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Entscheidung zur Ausrichtung der Spiele in Deutschland wäre ein großartiger Erfolg in doppelter (B) Ich will abschließend hinzufügen, um doch ein biss- Hinsicht: einerseits für die Bundesrepublik Deutschland (D) chen Wasser in den Wein zu gießen: Es geht bei dieser als Sportnation und Austragungsort sportlicher Groß- Debatte natürlich auch darum, dass wir uns hier ehrlich ereignisse. Düsseldorf hat dafür eine hervorragende Inf- machen und keine Scheindebatten führen. In den letzten rastruktur. Deutschland könnte seine Organisationsfähig- Monaten habe ich mitbekommen, wie man versucht, die keiten erneut unter Beweis stellen und so Werbung für Veteranendebatte zu lösen. Dabei geht es um die Frage: andere Sportgroßveranstaltungen machen. Andererseits – Wann ist eine deutsche Soldatin oder ein deutscher Soldat und dieser Punkt ist für mich genauso wichtig – würden eine Veteranin oder ein Veteran? Da gibt es einen ordent- die Spiele ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein, indem lichen Debattenbedarf – auch in den Verbänden. Die früh- sie eine Debatte über den Respekt gegenüber unseren ere Ministerin hat dann entschieden, dass jede Frau und Sicherheitsbehörden anstoßen. Dazu gehören die Streit- jeder Mann, die bzw. der auch nur einen Tag in unseren kräfte, aber auch die Polizei, die Feuerwehr, das Techni- Streitkräften gedient hat, jetzt Veteran ist. sche Hilfswerk und alle Hilfs- und Blaulichtorganisatio- nen. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Als jemand, der fünf Tage in unseren Streitkräften gedient hat, habe ich ein In unserer Gesellschaft leben glücklicherweise immer seltsames Bauchgefühl damit, mich als Veteran zu be- mehr Menschen, die selbst noch nie einen Krieg miter- zeichnen, so wie das Menschen tun, die in Afghanistan leben mussten, für die Frieden, Freiheit, Sicherheit und oder an anderer Stelle auf unserem Planeten für das Recht Wohlstand ganz selbstverständlich sind. Die Spiele wer- und die Freiheit eingetreten sind. Lassen Sie uns darüber den das Schicksal der im Einsatz versehrten Soldaten ins noch einmal diskutieren. Rampenlicht der öffentlichen Debatte rücken. Sie werden die Zuschauer hier in Deutschland daran erinnern, dass es Herzlichen Dank. die Angehörigen der Bundeswehr sind, die bei ihrem Dienst für unsere Freiheit und unseren Wohlstand ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundheit und ihr Leben riskieren. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Seit der Aussetzung der Wehrpflicht hat ein Prozess Vizepräsident Wolfgang Kubicki: begonnen, der die Streitkräfte leider immer weiter aus Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat dem Blick unserer Gesellschaft drängt. Das ist ein Um- das Wort der Kollege Jens Lehmann, CDU/CSU-Frak- stand, den Soldatinnen und Soldaten sehr wohl wahrneh- tion. men, wie mir meine Truppenbesuche immer wieder zei- gen. Heute ist es eher Zufall, wenn jemand jemanden (Beifall bei der CDU/CSU) kennt, dessen Nachbar nach Dienst in Uniform die Kinder Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15651

Jens Lehmann (A) von der Schule abholt oder wieder einmal mehrere Mo- Soldaten in Auslandseinsätze. Tagtäglich riskieren sie (C) nate aufgrund eines Auslandeinsatzes nicht zu Hause war. dort für unser Land und den internationalen Frieden ihr Leben. Dafür gebührt ihnen Respekt und Dank. Nachrichten über verletzte Soldaten oder immer mehr PTBS-Neuerkrankungen werden zur Kenntnis genom- (Beifall bei der SPD) men. Ohne Bewusstsein der zentralen Bedeutung des Sol- datenberufes in einer Demokratie gehen diese Meldungen Zur Einsatzrealität gehört jedoch auch, dass dieser über menschliche Schicksale, die sich ereignet haben, Dienst mit persönlichen Opfern verbunden ist und sogar damit wir in Frieden in diesem Land leben können, jedoch Verletzung, Verwundung und Tod bedeuten kann. Viele, in der Masse der Nachrichten unter. Wir tragen deshalb die an Körper oder Seele verletzt worden sind, leiden ein Verantwortung für diese Männer und Frauen, für die Ve- Leben lang an den Folgen. Wir, die Mitglieder des Deut- teranen der Bundeswehr. schen Bundestages, sind uns des Risikos und der Verant- wortung bei jeder Mandatierung eines Einsatzes bewusst. Die Bilder der zurückliegenden Invictus Games haben Diese Verantwortung endet nicht mit dem Einsatz. Des- gezeigt: Jedes ausrichtende Land setzt ein starkes Zei- halb ist es nur folgerichtig, denjenigen, die Hilfe benöti- chen, diese Verantwortung ernst zu nehmen und den Sol- gen, auf allen Ebenen die bestmögliche Hilfe zukommen daten zuteilwerden zu lassen, was sie verdient haben: Be- zu lassen. achtung, Wertschätzung und Anerkennung ihrer Leistung durch die Gesellschaft. In den letzten Jahren wurde im Bereich Hilfe und Ver- sorgung von Einsatzgeschädigten und ihren Angehörigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schon viel erreicht. Als ein Beispiel ist das erst im Juni ordneten der FDP) dieses Jahres verabschiedete Bundeswehr-Einsatzbereit- Diese Anerkennung ist im wahrsten Sinne des Wortes schaftsstärkungsgesetz zu nennen. Eine Maßnahme Medizin für die Teilnehmer der Invictus Games. Sie ver- dieses Gesetzes ermöglicht es, dass nun auch Familien- leiht neue Energie und Lebensfreude. Gleichzeitig geben angehörige in die therapeutische Behandlung Einsatzge- auch die persönliche Vorbereitung, das Ziel, die Anstren- schädigter einbezogen werden. Gerade die Familie ist ein gung und die Freude, die man in dieser Zeit und im Wett- wichtiger Faktor für die Genesung. kampf spürt, jedem Sportler ein Glücksgefühl. Ich habe mit vielen Teilnehmern der Invictus Games gesprochen. (Beifall bei der SPD) Alle erleben durch den Sport Zufriedenheit, Stolz, und sie Ein anderer Baustein, um das Leiden zu überwinden ziehen Kraft daraus. Als ehemaliger Leistungssportler und zurück ins Leben zu finden, ist der Sport. Die Sport- kann ich dieses Gefühl sehr gut nachvollziehen. schule der Bundeswehr und das Zentrum für Sportmedi- (B) (D) Deshalb freue ich mich sehr über das ausgesprochen zin in Warendorf leisten hier großartige Arbeit. Gerade positive Votum im Verteidigungsausschuss zu unserem um diese Bedeutung aufzuzeigen, wurden 2014 die Invic- Antrag. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und Teilneh- tus Games ins Leben gerufen, ein Wettbewerb von und für mern viel Kraft und Erfolg bei ihren Vorbereitungen auf Soldatinnen und Soldaten aus aller Welt, die im Einsatz die Invictus Games im nächsten Jahr in Den Haag. Ich verwundet oder verletzt worden sind. Von Beginn an sind gehe fest davon aus, dass wir uns hoffentlich 2022 oder bei allen Wettkämpfen auch deutsche Sportlerinnen und spätestens 2024 in Deutschland wiedersehen. Sportler an den Start gegangen. An den letzten Invictus Games in Sydney nahmen mehr als 500 Soldatinnen und Als Abgeordneter der Sportstadt Leipzig gestatten Sie Soldaten aus 18 Staaten teil, darunter erneut 20 Frauen mir, den Düsseldorfer Kollegen die Daumen zu drücken. und Männer aus Deutschland, die mit ihren Familien und Entscheidend ist, dass ganz Deutschland ein Zeichen der Freunden nach Australien gereist waren, um dort in sie- Verbundenheit mit den Sportlerinnen und Sportlern setzt ben Disziplinen zu starten. und dass eine breite gesellschaftliche Debatte für mehr Respekt für ihren Dienst angestoßen wird. Deshalb bitte In Großbritannien und den USA wird dieser Wettkampf ich Sie, unserem Antrag mit großer Mehrheit zuzustim- mit großem öffentlichem Interesse verfolgt. Hier in men. Deutschland hat bis jetzt kaum jemand davon gehört. In der breiten Öffentlichkeit kommen die Diskussion und Danke. die Wertschätzung gegenüber unseren Soldatinnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Soldaten, die ihren Dienst schließlich für uns alle leisten, ordneten der SPD) oftmals zu kurz. Mit den Invictus Games in Deutschland rücken wir die Lebenssituation der Soldatinnen und Sol- daten in den Fokus der Öffentlichkeit und machen sie Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sichtbar. Gleichzeitig zeigen wir, wie wichtig der Um- Herzlichen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Als letzter gang mit den psychischen und körperlichen Belastungen Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der von Auslandseinsätzen ist. Wir können erlittenes Leid Kollege Dirk Vöpel, SPD-Fraktion. nicht ungeschehen machen, müssen aber alles uns Mög- (Beifall bei der SPD) liche zur Bewältigung beitragen. Vielen Dank. Dirk Vöpel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fast 30 Jahren entsenden wir deutsche Soldatinnen und der CDU/CSU) 15652 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die (C) Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache 27 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Aussprache. Widerspruch. Dann verfahren wir so. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Ich darf darum bitten, jetzt die Ruhe im Haus wieder- fehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktio- herzustellen. nen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Invictus Ga- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- mes – Das Sportereignis der versehrten Soldatinnen und ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Soldaten als ein deutliches Zeichen der Anerkennung und Thomas Rachel für die Bundesregierung. Wertschätzung nach Deutschland holen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- (Beifall bei der CDU/CSU) che 19/13992, den Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD auf Drucksache 19/8262 anzunehmen. Thomas Rachel , Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ministerin für Bildung und Forschung: stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stim- Kollegen! Alle jungen Menschen verdienen bestmögliche men der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Bildungschancen. Internationale Bildungsvergleichsstu- dien wie zum Beispiel PISA zeigen uns aber, dass es in Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Deutschland bisher noch nicht in ausreichendem Maße Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gelingt, auch die Potenziale von Schülerinnen und richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Schülern aus sozioökonomisch schwachen Familien aus- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) reichend zu fördern. Das wollen wir gemeinsam ändern. Wir wollen die Lehrkräfte unterstützen, mit der Vielfalt – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU der Herausforderungen und der zunehmenden Heteroge- und SPD nität der Schülerschaft zielgerichtet umzugehen. Aufbau- end auf dem Koalitionsvertrag von Christdemokraten und Gemeinsame Initiative von Bund und Län- Sozialdemokraten, hat das Bundesministerium für Bil- dern zur Förderung von Schulen in benach- dung und Forschung deshalb am 23. Oktober mit den teiligten sozialen Lagen und mit besonderen Ländern die neue Initiative „Schule macht stark“ be- Aufgaben der Integration schlossen. Denn gute Bildung muss es überall im Lande geben, auch an den Orten, wo es Familien nicht so gut – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Götz geht. (B) Frömming, Nicole Höchst, Dr. Marc Jongen, (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und AfD der SPD) Bildungsgerechtigkeit wiederherstellen – Wir wollen dafür sorgen, dass auch Schulen in schwie- Leistungsgedanken stärken riger sozialer Lage ihre Schülerinnen und Schüler ent- sprechend ihrer Potenziale fördern und ihnen damit gute – zu dem Antrag der Abgeordneten , Chancen auf einen erfolgreichen Bildungs- und Berufs- Katja Suding, Dr. (Rhein- weg geben. Für diese Initiative werden der Bund und die Neckar), weiterer Abgeordneter und der Frak- Länder gemeinsam über zehn Jahre 125 Millionen Euro tion der FDP investieren. Chancengerechtigkeit ernst nehmen – Leis- Wie genau wird „Schule macht stark“ die Schulen un- tungsfähigkeit des Bildungssystems voran- terstützen? Zunächst wird in der ersten Phase eine vom bringen BMBF finanzierte Wissenschaftlergruppe vor Ort die Entwicklungspotenziale an den bundesweit 200 teil- – zu dem Antrag der Abgeordneten Birke Bull- nehmenden Grund- und weiterführenden Schulen identi- Bischoff, Dr. Petra Sitte, Doris Achelwilm, fizieren. Diese interdisziplinäre Wissenschaftlergruppe weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE wird gemeinsam mit den Schulen Strategien und pädago- LINKE gische Konzepte entwickeln für besseren und aktivieren- Für eine gemeinsame Bildungsstrategie zum den Unterricht, der auf die besonderen Bedürfnisse ge- Abbau sozialer Ungleichheit rade dieser Schüler eingeht. Hier werden vor allem der Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen, aber auch – zu dem Antrag der Abgeordneten Margit von Basiskompetenzen in Mathematik im Fokus stehen. Stumpp, Kai Gehring, Beate Walter- Die Schulleitungen erhalten Hinweise, wie sie Schulen Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der effektiver managen können. Lehrkräfte werden unter- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stützt, zur eigenen Entlastung schulübergreifend zu kooperieren. Gemeinsam werden wissenschaftlich fun- Nationaler Bildungsbericht 2018 – Zeit für dierte Konzepte entwickelt, die die soziale Kompetenz einen bildungspolitischen Aufbruch und die Motivation in der Schule stärken. Drucksachen 19/7027, 19/7041, 19/7031, 19/ Durch diese gemeinsame Arbeit von Wissenschaft und 7026, 19/4632, 19/11082 Praxis entsteht quasi ein Werkzeugkasten mit ganz kon- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15653

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel (A) kreten Instrumenten für die Schulpraxis. In der zweiten Lehrer ist zu beklagen und damit einhergehend ein mas- (C) Phase werden diese Instrumente dann weiteren Schulen siver Leistungsverfall quer über die Schultypen hinweg. zur Verfügung gestellt, sodass in Zukunft noch viel mehr Schulen von diesem Wissen insgesamt profitieren kön- Meine Damen und Herren, diese Studie und auch das, nen. Mit dieser Initiative werden wir den Zusammenhang was dann an wenigen ausgewählten Schulen – 300 sollen zwischen Herkunft und Bildungserfolg weiter reduzieren es sein, von 33 000 übrigens – gemacht werden soll, ist und unser Bildungssystem insgesamt in den nächsten Jah- nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein ren besser und gerechter gestalten. wenn wir uns den Sanierungsbedarf einmal angucken, dann sehen wir – dies hat eine Studie der Kreditbank ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zeigt –, dass allein dafür 47,7 nicht Millionen, sondern Milliarden Euro notwendig wären. Sehr geehrte Damen und Herren, ja, jedes Kind hat Potenziale. Auch in schwierigen sozialen Lagen wollen Meine Damen und Herren, ich selbst habe viele Jahre wir diese Potenziale entdecken, sie im Schulalltag heben an Schulen in benachteiligten sozialen Lagen, wie Sie es und fördern. Das ist die Grundidee, die uns in der Koali- nennen, gearbeitet. Ich kann Ihnen sagen: Sie verschlie- tion verbindet. Denn der einzelne Mensch steht im Mittel- ßen vor den eigentlichen Problemen das Auge. Wie sieht punkt unserer Politik. die Realität aus? An diesen Schulen haben wir praktisch keine deutschen Kinder mehr. Genauer oder, wenn Sie Herzlichen Dank. möchten, der politisch korrekte Ausdruck: Die Schüler (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mit NDH-Vermerk, also nichtdeutscher Herkunft, sind in der absoluten Mehrheit. Wenn Integration an diesen Schulen stattfindet, dann nur noch in der umgekehrten Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Richtung. Die wenigen verbliebenen Schüler mit soge- Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist nanntem biodeutschem Hintergrund werden in die Mehr- der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. heit der Schüler nichtdeutscher Herkunft integriert. (Beifall bei der AfD) (Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: „Biodeutsch“ gibt es nicht!) Dr. Götz Frömming (AfD): Wir als AfD-Fraktion haben deshalb den einzigen mu- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- tigen und mittel- und langfristig zielführenden Vorschlag nen und Kollegen! Liebe Abgeordnete der Regierungs- gemacht, insbesondere bei der Migrationspolitik und bei fraktionen von CDU/CSU und SPD, dieser vor uns lie- der Gestaltung eines Einwanderungsgesetzes - gende Antrag zeigt, wie wenig Ahnung Sie offenbar von (B) der Realität haben. (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Oliver Kaczmarek [SPD]: Was?) Kommen Sie zum Schluss, bitte. Ich meine das gar nicht vorwurfsvoll; ich stelle das ein- fach nur fest. Wir haben es eben auch in dem Beitrag des Dr. Götz Frömming (AfD): Herrn Staatssekretärs gehört: Sie wollen der Misere an – die Bildungsfähigkeit der zu uns kommenden Men- unseren Schulen nicht abhelfen, sondern Sie wollen sie schen zu berücksichtigen und zum entscheidenden Krite- vor allen Dingen erforschen, erforschen lassen und dann rium zu machen. Pläne und Konzepte entwickeln, was zu tun ist. Ich danke Ihnen. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich kurz aus dem vorliegenden Antrag: Sie wollen also ein Konzept für die (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LINKEN: „Förderung von Schulen in benachteiligten sozialen La- Lange Jahre an Brennpunktschulen: So ein gen und mit besonderen Aufgaben der Integration“ ent- Quatsch!) wickeln lassen. Dazu ist dann geplant die „Förderung der begleitenden Forschung“ in Millionenhöhe und natürlich Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auch abschließend die „Evaluierung der Wirksamkeit der Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die SPD-Frak- getroffenen Maßnahmen“. Dafür sind 5 Millionen Euro, tion die Kollegin Marja-Liisa Völlers. später dann in der zweiten Phase noch einmal 7,5 Millio- nen Euro vorgesehen. Es besteht die Hoffnung, dass die (Beifall bei der SPD) Länder sich beteiligen. Auch das ist offenbar noch nicht vereinbart worden. Aus dem Digitalpakt wissen wir, wie Marja-Liisa Völlers (SPD): schwer das sein kann. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sprachdefizite, Fehlzeiten, Drohungen: An Meine Damen und Herren, das, was uns hier vorliegt, Schulen in sozial schwierigen Lagen ist dieses Bild ist ein Placebokonzept. Das brauchen wir nicht. Wir brau- durchaus trauriger Alltag. Die Konsequenz: überlastete, chen endlich Taten statt Worte. Denn die Situation an ratlose Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche, die hinter unseren Schulen ist wirklich dramatisch. Wir haben über- ihren Potenzialen zurückbleiben. füllte Klassen, marode Gebäude, Mobbing und Gewalt sind an der Tagesordnung, und zwar nicht nur an den Diese Schulen stehen vor extremen Herausforderun- Schulen hier in den Sozialen-Brennpunkt-Gebieten. Anti- gen. Sie brauchen unsere Hilfe. Die SPD hat dafür ge- semitismus breitet sich aus. Der Autoritätsverlust der sorgt, dass wir sie verstärkt in den Fokus rücken. 15654 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Marja-Liisa Völlers (A) (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. (C) Mit der neuen Initiative „Schule macht stark" unterstüt- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zen Bund und Länder diese Schulen in den nächsten zehn Jahren gemeinsam mit 125 Millionen Euro. Wir machen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: die Schulen stark, damit sie unsere Kinder und Jugend- lichen stärken. Vielen Dank, Frau Kollegin Völlers. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich darauf hinweisen, Wir alle wissen um den akuten Handlungsdruck. Das dass nach meiner Einschätzung die Präsenz der Regie- sehen wir auch an der Fülle der vorliegenden Anträge. rung im Deutschen Bundestag ausbaufähig ist. Deshalb haben wir in der SPD-Bundestagsfraktion nicht nur auf das Programm, sondern auch auf eine zeitnahe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Umsetzung gedrängt. Mit dem gemeinsamen Koalitions- der CDU/CSU, der AfD und des BÜNDNIS- antrag und der Anschubfinanzierung haben wir die Initi- SES 90/DIE GRÜNEN) ative auf den Weg gebracht. Anders als der Kollege Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Peter Frömming das gerade dargestellt hat, stehen seit drei Wo- Heidt, FDP-Fraktion, mit seiner, wie ich sagen muss, ers- chen die Unterschriften von Bund und Ländern unter der ten Rede in diesem Hohen Haus. Vereinbarung. Die Länder haben sich hier also commit- ted. (Beifall)

(Beifall bei der SPD) Peter Heidt (FDP): Der Startschuss zur konkreten Umsetzung ist gefallen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zum Schuljahr 2021/22 wird die Initiative an den Schulen Kollegen! Liebe Zuschauer! Wir Freien Demokraten un- starten. Das Programm ist in zwei Phasen gegliedert: In terstützen das Anliegen der Regierungskoalition, Schulen den ersten fünf Jahren – Staatssekretär Rachel hat es aus- in sozialen Brennpunkten eine besondere Förderung zu- geführt – werden an bundesweit 20 ausgewählten Modell- kommen zu lassen. Das ist richtig und wichtig, aber auch schulen die Konzepte entwickelt und erprobt. Auf sie längst überfällig; das sagen Sie letztendlich selbst, Frau folgen fünf Jahre, in denen die funktionierenden Maß- Kollegin Völlers. nahmen, die man erprobt hat, sprichwörtlich an die Wir Freien Demokraten, sehr geehrter Herr Staatssek- Schulen gebracht werden, wo sie dann eben Schule ma- retär Rachel, nehmen sehr interessiert zur Kenntnis, dass chen. Der Bund sorgt für die wissenschaftliche Begleit- Ihre eigene Fraktion Ihnen auf den Füßen herumtreten forschung und unsere Länder für die Auswahl und För- musste, damit Sie endlich etwas liefern. (B) derung der teilnehmenden Schulen. (D) (Beifall bei der FDP) Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen – das tue ich vor allem mit Blick auf die Beiträge der Op- Allerdings müssen wir auch feststellen, liebe Kolleginnen positionsfraktionen –: Gemessen am Investitionsvolumen und Kollegen von Union und SPD: Ideenlos und ohne scheint das Programm vielleicht nicht das spektakulärste Inspiration ist nicht nur Ihre Ministerin, sondern auch zu sein. Aber das Besondere – gut zuhören! – an dem der zugrundeliegende Antrag. Aber immerhin: Sie haben Programm ist ja auch nicht, dass die Milliarden fließen, erkannt, dass es einen dringenden Handlungsbedarf gibt, sondern dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- dass bei Brennpunktschulen endlich etwas geschehen ler die Maßnahmen in den Schulen begleiten, sie evaluie- muss. Wir haben nun eine Verwaltungsvereinbarung – ren und dann aufbereiten, damit alle davon profitieren immerhin. Leider fehlt es an einem Konzept. Konkret können. wurden Sie einzig bei den Summen, die für die Entwick- lung einer Strategie und deren Umsetzung bereitgestellt (Beifall bei der SPD – Dr. Götz Frömming werden sollen. Aber immerhin haben Sie erkannt, dass es [AfD]: Subventionen für die Forschung!) ein Konzept benötigt. Die Entwicklung und die Umset- zung des Vorhabens kostet Geld. Viele Länder haben sich übrigens schon mit eigenen Programmen erfolgreich auf denselben Weg gemacht. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen Sie Aber fundierte Erkenntnisse, was unter welchen Bedin- gerne bei diesem in die richtige Richtung gehenden Vor- gungen funktioniert und was nicht, fehlen noch in weiten haben. Wir Freien Demokraten haben schon lange er- Teilen. Viele Schulen warten noch auf eine Erfolgsge- kannt, dass es eine viel zu starke Abhängigkeit des Bil- schichte, auf ihre Erfolgsgeschichte. Deshalb wollen dungserfolges vom Elternhaus gibt, dass Potenziale, wir ihnen mit diesem Programm einen guten Baukasten Talente und Einsatzbereitschaft und der Leistungswille bereitstellen, um tolle Maßnahmen zu haben, damit die entscheidenden Rollen für die Erfolge eines jeden Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter Einzelnen spielen müssen. Sozialer Aufstieg in Deutsch- passgenau auf die schwierigen Herausforderungen rea- land muss aus eigener Kraft realisierbar sein, gieren und vor allem auch frühzeitig agieren können. (Beifall bei der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen in unse- unabhängig davon, wo jemand geboren ist und inwieweit rem Land kein Kind zurücklassen. Das sage ich nicht nur er Unterstützung bekommt. als Sozialdemokratin, sondern weil ich es für eine ge- samtgesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe hal- Wir Freien Demokraten haben daher auch bereits Kon- te. Ich möchte, dass es jedes Kind packt. zepte für Schulen in sozialen Brennpunkten entwickelt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15655

Peter Heidt (A) Gerne dürfen Sie sich von uns inspirieren lassen. Diese (Manfred Grund [CDU/CSU]: Da kommt ja (C) Projekte gibt es bereits, sie sind erfolgreich: das soge- alles zusammen!) nannte Sozialindex-Projekt in Hessen, das unsere dama- Sie leben oft konzentriert in Stadtvierteln, in denen die lige FDP-Kultusministerin auf den Weg gebracht hat, Mieten so niedrig sind, weil eben die Wohnungen nicht oder das nun von der FDP-Ministerin Yvonne Gebauer oder nur sehr spärlich saniert sind. Auf diese Art und praktizierte Modell der Talentschulen in Nordrhein-West- Weise werden Probleme konzentriert, und sie vervielfa- falen. chen sich. So werden Brennpunktschulen geschaffen: (Beifall bei der FDP) durch Stadtentwicklung, die Menschen in Arm und Reich sortiert, durch Sozialpolitik, die Menschen letztlich in Chancengerechtigkeit, Leistungsfähigkeit des Bil- Armut zurücklässt und durch Bildungspolitik, die Kinder dungssystems – wollte man das tatsächlich voranbringen, oft genug genau nach diesen Kriterien sortiert. hätte es des großen Wurfs bedurft. Es muss schon bei der frühkindlichen Bildung angesetzt werden; denn hier wer- Junge Leute werden auf diese Art und Weise ein wei- den die Grundlagen für den späteren Erfolg oder eben teres Mal stigmatisiert: durch das Viertel, in dem sie le- Misserfolg gelegt. ben, durch ihre Wohnadresse und auch durch die Schule, in der die Kinder und Jugendlichen lernen. Es sind (Beifall bei der FDP) Schulen, die wenig bis gar nicht saniert worden sind, in denen kaum Lehrkräfte arbeiten möchten und in die Fa- Die Eigenverantwortung der Schulen muss gestärkt wer- milien mit halbwegs auskömmlichen Einkommen ihre den. Die Schulen vor Ort wissen am besten, was notwen- Kinder am besten gar nicht schicken möchten und auch dig ist. nicht schicken. Sogenannte Brennpunktkinder bleiben so Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs- unter sich. Genau das sind die Mechanismen, die den fraktionen, lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Wir Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil- Freien Demokraten reden uns in Sachen lebenslanges dungserfolg immer wieder in Gang halten. Lernen, Eigenverantwortung der Schulen seit Jahren Was braucht man, um dem Phänomen Brennpunkt- den Mund fusselig. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam schule entgegenzutreten? Man braucht eine Stadtent- der Ministerin Druck machen, dass hier etwas passiert? wicklung und eine Schulentwicklungsplanung, die auf Handeln ist überfällig. Unsere Unterstützung wäre Ihnen soziale Mischung setzt sicher. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. und nicht nach sozialen Kriterien sortiert. Man braucht (B) (Beifall bei der FDP) eine Schule, in der Kinder und Jugendliche gemeinsam (D) lernen, voneinander und miteinander. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kollege Heidt. – Als nächste Red- nerin hat das Wort die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff, Man braucht multiprofessionelle Teams, Schul- Fraktion Die Linke. sozialarbeiterinnen, pädagogische Mitarbeiter und über- haupt erst mal genügend Lehrkräfte. Wir brauchen eine (Beifall bei der LINKEN) Pädagogik, die sensibel ist, um auf Ausgrenzung und Stigmatisierung reagieren zu können. Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): (Marianne Schieder [SPD]: Das ist eine Rede Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr für den Landtag!) Präsident! Ich war vor vier Wochen Gast in einer soge- nannten Brennpunktschule. Sie wurde seit 30 Jahren nicht Bei öffentlichen Mitteln brauchen wir einen sogenannten saniert, durch kein Förderprogramm. Im Speisesaal brö- Sozialindex. Das Geld muss dorthin, wo es am meisten ckelte der Putz von den Wänden. Beim Gehen erzählte nötig ist, eben in diese sogenannten Brennpunktschulen. mir dann der Schulleiter, dass in der kommenden Woche die Fassade gestrichen wird, aber nur zur Hälfte, weil das (Beifall bei der LINKEN) Geld nicht reicht. Das kann man sich nicht ausdenken, Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kol- und das habe ich mir nicht ausgedacht. Nach seinen Wor- legen: Man kann sagen: Es ist ein Schritt in die richtige ten ist das eine Schule, die eigentlich ein DDR-Museum Richtung. Aber man muss auch sagen: Es ist nur ein war. Es war kein Gymnasium und keine Schule in irgend- winziger Schritt. Ein Tropfen auf den heißen Stein. einer Exzellenzinitiative. (Beifall bei der LINKEN) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo war sie denn?) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Was macht eigentlich eine Schule zu einer Brennpunkt- Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, schule? Dort lernen Schülerinnen, die zu wenig Geld ha- bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, nehme ben, dort lernen Schüler, die zu wenig Wertschätzung er- ich die Gelegenheit wahr, die Kollegin Domscheit-Berg fahren haben in ihrer Bildungsbiografie, die zu wenig unmittelbar anzusprechen. Frau Kollegin Domscheit- Erfolgserlebnisse hatten und die viel zu viele Probleme Berg, Sie haben getwittert, dass die Ausübung des Bun- in ihrem Lebensgepäck haben. destagsmandates menschenfeindlich sei. Das ist Ihre 15656 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Wertung; das mag in Ordnung sein. Aber Sie haben da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) rauf hingewiesen, dass insbesondere im Plenarsaal des Es liegt auf der Hand, wie Abhilfe zu schaffen ist. Deutschen Bundestages Wassermangel herrsche, was Wenn Schule stark machen soll, müssen wir zuerst Schule Sie erheblich bedauern. Ich möchte Sie darauf hinweisen, stark machen. Umgehendes Handeln tut not. Doch was dass 20 Meter von Ihnen entfernt ein Wasserspender geschieht tatsächlich? Ministerin Karliczek braucht mehr steht, an dem Sie sich kostenlos bedienen dürfen. Hier als die halbe Wahlperiode, um sich der Schulen in be- muss niemand verdursten im Plenarsaal. nachteiligten sozialen Lagen überhaupt anzunehmen, (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der und dann tut sie es nur zum Schein. Es gibt doch Studien FDP) zuhauf. Begleitforschungen und Evaluierungen alleine helfen den Schulen nicht. Wir haben kein Erkenntnis-, Es war mir wichtig, darauf hinzuweisen, weil ich und wir sondern ein Umsetzungsdefizit. alle eine Vielzahl von Mails bekommen, warum wir als Präsidium sozusagen zur Dehydrierung der Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten beitragen würden. Ich möchte noch einmal sagen: Das Noch einmal fünf Jahre Forschung sind wieder fünf machen wir nicht. Jahre verlorene Zeit für Schulen und Kinder. Der Bund (Zuruf von der LINKEN) muss endlich einen wirklichen Beitrag für beste Schulen und Chancengerechtigkeit leisten. Aber den Hauptteil, – Das können Sie gerne mal über Ihre Fraktion im Ältes- die Umsetzung, die finanziellen Brocken, überlassen tenrat besprechen lassen. Wir möchten hier keine Fla- Sie wieder vollständig den Ländern. schen auf den Tischen stehen haben: weder Wasserfla- schen, noch Bierflaschen, noch Weinflaschen, noch ( [CDU/CSU]: Zuständig- Werbung für Coca-Cola. keit! – Marianne Schieder [SPD]: Die sind auch dafür zuständig!) (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der FDP) Wozu haben wir einem mühsam verhandelten Konsens – Stichwort Artikel 104c Grundgesetz – eigentlich zuge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Margit Stumpp, stimmt? Nutzen Sie endlich die Möglichkeiten! Er ist Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort. nicht nur für den Digitalpakt da. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Wir haben Vorschläge gemacht. Bereits im letzten (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Haushaltsverfahren habe ich gemeinsam mit der Grünen- nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! bundestagsfraktion ein Sonderinvestitionsprogramm in „Schule macht stark“, wieder mal eine plakative Über- Höhe von 500 Millionen Euro jährlich gefordert. Deswe- schrift im Reigen der Einfache-Sprache-Titel für Initiati- gen: Ministerin Karliczek, nutzen Sie endlich die Chan- ven der GroKo, die allesamt denselben Impuls auslösen: cen, die Ihnen die Grundgesetzänderung bietet, und legen Schön wär’s. Denn sämtliche Studien und Berichte der Sie ein echtes Programm für Schulen in benachteiligten vergangenen Jahre – und davon gibt es viele – sagen: In Quartieren auf: Deutschland entscheidet noch immer die soziale, ethni- sche und regionale Herkunft oder eine Behinderung maß- geblich über die Zugangs- und damit die Zukunftschan- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: cen von Menschen. Oder einfacher: Gerade die Kinder, Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss. die Förderung am dringendsten brauchen, macht Schule eben nicht stark. Das ist kein Vorwurf an die Schulen. Im Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegenteil: Ich habe größten Respekt vor der Leistung vor Schulen stark machen, damit die kommenden fünf Jah- allem der Lehrkräfte, die unter diesen Umständen wirk- re keine verlorenen Jahre sind! lich Erstaunliches leisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sowie des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]) Es ist eine Schande für unser Land, dass die Bildungs- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ausgaben der Bundesrepublik immer noch unter dem Herzlichen Dank, Frau Kollegin Stumpp. – Als nächste Durchschnitt der OECD liegen, es sind knapp 5 Prozent. Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann, Das selbstgesteckte Ziel von 7 Prozent wird Jahr für Jahr CDU/CSU-Fraktion. gerissen. Unter diesen Umständen kann Schule nicht mehr leisten. Denn wer sich die Schulen anschaut, die (Beifall bei der CDU/CSU) beim Starkmachen die größten Herausforderungen zu be- wältigen haben, sieht: Schulen in benachteiligten Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): Stadtquartieren und Regionen sind oft nicht annähernd Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dafür gerüstet, ihren Anforderungen gerecht zu werden, Kollegen! Liebe Frau Bull-Bischoff, liebe Frau Stumpp, weder was Räume noch was Ausstattung oder was Per- ich muss an dieser Stelle etwas vorwegschicken: Wir le- sonalumfang angeht. ben den Föderalismus, und wir dürfen nicht immer ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15657

Dr. Dietlind Tiemann (A) suchen, ihn auszuhebeln, wenn es uns vielleicht gerade Das, was wir Ihnen heute zum Beschluss vorlegen, soll (C) passt. sich an der Realität orientieren. Wir haben die Unterstüt- zung für begabte Kinder und Jugendliche auf den Weg (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gebracht. Jetzt ist es unsere Aufgabe, den Kindern und In erster Linie sind die Länder für Bildung zuständig. Jugendlichen zu helfen, die insbesondere in den Schulen ihre Bildung erfahren, in denen wir Nachholbedarf sehen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Leider arbeiten dort an verschiedenen Stellen noch immer Die Länder sind auch dafür verantwortlich, dass die Kom- Quer- und Seiteneinsteiger, die nicht unbedingt die ent- munen entsprechend ausgestattet sind, damit sie ihre Auf- sprechende Qualifikation haben. Auch darauf muss ein gaben auch wahrnehmen können. Augenmerk gelegt werden, aber bitte schön von den Län- dern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha! Ein- Das föderale System mit seiner Initiative „Schule fach mal ins Grundgesetz schauen!) macht stark“ soll Abhilfe schaffen. Der Bund bringt sich über einen Zeitraum von zehn Jahren mit insgesamt Darüber hinaus möchte ich Ihnen folgende Gedanken 125 Millionen Euro ein, um dieses gemeinsame Aufga- darlegen: Immer mehr Menschen in Deutschland sind bengebiet zu bewältigen. Es ist ein nachhaltiges Pro- leider für populistische Parolen empfänglich. Das kann gramm; denn es ist doch ganz bemerkenswert, wie viel man so im Raum stehen lassen; denn es ist natürlich nicht Geld hier über zehn Jahre in die Hand genommen wird, aus der Luft gegriffen. Vielmehr macht das die Shell-Ju- und zwar zugunsten der Bildung und zugunsten der Län- gendstudie deutlich. Die Erhebung, die seit 1953 durch- der, um dort Unterstützung zu leisten. Das heißt aber geführt wird, zeigt, auf welche Weise junge Menschen auch, dass die Länder das Geld auch im Bewusstsein ihrer mit Herausforderungen umgehen, welche Verhaltenswei- Verantwortung verwenden müssen. sen, Einstellungen und Mentalitäten sie herausbilden. Wir haben hierbei eine gesamtgesellschaftliche Verantwor- Wir schließen an vorhandene Programme an, die in den tung; das wird ganz deutlich. 16 Bundesländern bereits existieren. Wir wollen helfen, den manchmal hier und da vorhandenen Flickenteppich in Ich zitiere aus den Kernergebnissen der Shell-Jugend- der Bildungspolitik damit ein bisschen einheitlicher zu studie aus dem Jahr 2019: gestalten. In der Shell-Jugendstudie wurden die Jugendlichen Liebe Frau Völlers von der SPD, herzlichen Dank für auch zu ihrer Position zu bestimmten populistischen unsere tolle Zusammenarbeit. Ich glaube, wir freuen uns Aussagen befragt. alle über den baldigen Start und über die Auswahl der (B) (D) Wir alle hier merken, dass es wichtig ist, sich damit aus- 200 Schulen für die Modellphase. Kein Kind und kein einanderzusetzen, Jugendlicher darf aufgrund seiner oder ihrer Herkunft, des Wohnortes oder sozialer Rahmenbedingungen struk- dass 39 Prozent der Jugendlichen eher weltoffen turell benachteiligt werden. Wir handeln und beschließen orientiert sind, während 33 Prozent eher populistisch heute „Schule macht stark“. orientiert sind. 28 Prozent sind nicht eindeutig posi- tioniert. Herzlichen Dank. Das macht zwar deutlich, wo die Sorgen und Probleme (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- liegen, zeigt aber auch, dass sich der überwiegende Teil ordneten der SPD) der Jugendlichen weltoffen orientiert. Nach wie vor besteht ein starker Zusammenhang zwi- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: schen Bildungserfolg und sozialer Herkunft; auch das Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tiemann. – Letzter macht die Studie noch einmal deutlich. Genau dort setzen Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege wir an: Wir wollen die politische und zivilgesellschaft- Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion. liche Bildung in Elternhäusern, Schulen und im Ehrenamt stärken. Nur so ermöglichen wir es den Kindern und Ju- (Beifall bei der SPD) gendlichen, kritisches Denken und Hinterfragen von ver- meintlichen Fakten zu erlernen. Nur so machen wir sie Oliver Kaczmarek (SPD): möglichst immun gegen Verschwörungstheorien. Das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht im- sollte unsere Aufgabe sein; darauf sollten wir unser Au- mer, aber manchmal ist es sehr hilfreich, sich außerhalb genmerk richten. dieses Plenarsaals gute Informationen zu holen. So sind meine Kollegin Marja Völlers und ich nach Hamm ge- Soziale Herkunft und Lebensort haben allerdings noch fahren, wo die Schule des Jahres, die Gebrüder-Grimm- immer einen zu großen Einfluss auf den Bildungserfolg. Schule, ihren Sitz hat, die den Hauptpreis beim Deut- Das wird auch gar nicht geleugnet, aber es geht darum, schen Schulpreis gewonnen hat. die Verantwortung auch dort zu suchen, wo sie liegt. Wir machen mit dem, was wir heute zum Beschluss vorlegen, Sie liegt in einem Stadtteil mit besonderen Herausfor- einmal mehr deutlich, dass es uns als Bund darum geht, derungen, was die Armutsquote, den Migrantenanteil den Föderalismus zu leben, aber an einigen Stellen auch usw. betrifft. Was wir dort erlebt haben, ist nicht Weh- Verantwortung zu übernehmen, indem wir sagen: Ja, wir klagen und auch kein Zerrbild, wie Herr Frömming von gehen Hand in Hand gemeinsam mit den Ländern. der AfD es gerade skizziert hat. Wir haben vielmehr Of- 15658 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Oliver Kaczmarek (A) fenheit und Wertschätzung für Schülerinnen und Schüler, Deshalb, meine Damen und Herren: Wenn wir über- (C) Experimentierfreude, Tatkraft und Anpacken, pädagogi- winden wollen, dass die soziale Herkunft, der Wohnort sche Innovation und ganz viel Demokratielernen für eines Kindes, der Stadtteil eines Kindes, der Geldbeutel Grundschülerinnen und Grundschüler erlebt. der Eltern über den Lebensweg von Kindern und Jugend- lichen entscheiden, dann müssen wir gerade dahin gehen, (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wo die größten Potenziale sind, wo noch nicht 70 Prozent NEN]: Das war inklusiv vielleicht?) eines Jahrgangs im Stadtteil Abitur gemacht haben, son- Deswegen will ich sagen: Die Gebrüder-Grimm- dern weniger. Dort finden wir die größten Potenziale. Schule steht an dieser Stelle stellvertretend für alle Diese Schulen brauchen besondere Unterstützung. Dazu Schulen mit tollen Schülerinnen und Schülern, die sich trägt „Schule macht stark“ bei. in einem herausfordernden Umfeld befinden, die sich je- Herzlichen Dank. den Tag für ihre Schülerinnen und Schüler starkmachen, weil es sonst keiner macht. Diese Schulen gehören zu den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten besten Schulen, die wir in diesem Land haben, meine der CDU/CSU) Damen und Herren. (Beifall bei der SPD – Corinna Rüffer [BÜND- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die inklusi- Vielen Dank, Herr Kollege Kaczmarek. – Damit schlie- ven Schulen!) ße ich die Aussprache. „Schule macht stark“ leistet einen Beitrag zur Unter- Nun kommen wir zu einer Reihe von Abstimmungen. stützung dieser Schulen. „Schule macht stark“ soll Mut machen, sich auch auf den Weg zu machen, und soll die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Vernetzung mit dem sozialräumlichen Umfeld in den schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Blick nehmen. Das bedeutet, zu schauen, was im Umfeld schätzung auf Drucksache 19/11082. Der Ausschuss der Schule dazu beitragen kann, die Schule besser zu empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung machen. die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/7027 mit dem Titel „Ge- Ich möchte an dieser Stelle einmal dem Ministerium meinsame Initiative von Bund und Ländern zur Förde- und der Kultusministerkonferenz dafür danken, dass es rung von Schulen in benachteiligten sozialen Lagen und gelungen ist, die Ausschreibung innerhalb eines Jahres mit besonderen Aufgaben der Integration“. Wer stimmt auf den Weg zu bringen und das Projekt jetzt schon zu für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (B) starten. Das macht uns froh; denn das ist eine Vorgabe aus Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung (D) dem Koalitionsvertrag, die wir ausgehandelt haben. Dass gegen die Stimmen der AfD-Fraktion bei Enthaltung der das in einem Jahr gelungen ist, ist gut. Fraktionen der FDP, von Bündnis 90/Die Grünen und Linke mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und SPD angenommen. der CDU/CSU) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Ich will aber auch sagen: Natürlich gliedert sich fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der „Schule macht stark“ in das ein, was die Länder machen. Fraktion der AfD auf Drucksache 19/7041 mit dem Titel Herr Heidt, Sie haben recht mit dem Hinweis auf die „Bildungsgerechtigkeit wiederherstellen – Leistungsge- Talentschulen in Nordrhein-Westfalen. Ich freue mich, danken stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- dass sich die Landesregierung auf den Weg gemacht lung? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist diese Beschluss- hat. 60 Schulen sind bei über 6 000 Schulen, die wir im empfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit Land haben, ein bescheidender Beitrag. Aber es ist im- den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- merhin besser als das, Frau Stumpp, was in Baden-Würt- nommen. temberg passiert. Da haben wir überhaupt kein Sozial- indexmodell, Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- (Marianne Schieder [SPD]: Hört! Hört!) trags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7031 mit überhaupt noch keine Zuteilung zusätzlicher Ressourcen dem Titel „Chancengerechtigkeit ernst nehmen – Leis- für besonders belastete Schulen. tungsfähigkeit des Bildungssystems voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Schauen wir uns das sozialdemokratische Hamburg an. dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschluss- Da gibt es schon seit Jahren ein Sozialindexmodell, mit empfehlung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei dem Schulen bei der Personal- und Mittelausstattung bis Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit zu 30 Prozent bessergestellt werden, wenn sie belastet den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- sind. In der Tat: Es gibt große Unterschiede zwischen nommen. den Bundesländern, und es ist gut, dass der Bund an die- ser Stelle mithilft, einen Beitrag für diese Schulen zu Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- leisten. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 19/7026 mit dem Titel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten „Für eine gemeinsame Bildungsstrategie zum Abbau so- der CDU/CSU) zialer Ungleichheit“. Wer stimmt für diese Beschluss- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15659

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesund- (C) sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die heitsausschuss, wie Sie wissen, ist diese Entwicklung Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Frak- keineswegs ein Hirngespinst der Linken. Es ist die Be- tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- fürchtung vieler, zuallererst der niedergelassenen Ärztin- gen Fraktionen des Hauses angenommen. nen und Ärzte. Aber die Öffentlichkeit bekommt von diesem Prozess, seiner Brisanz und seiner rasanten Ge- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e schwindigkeit so gut wie nichts mit. Es ist unsere gemein- seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags same Aufgabe, das zu ändern, meine Damen und Herren. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/ 4632 mit dem Titel „Nationaler Bildungsbericht 2018 – (Beifall bei der LINKEN) Zeit für einen bildungspolitischen Aufbruch“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Auch die Bundesregierung hat kaum Informationen dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschluss- über die Folgen dieses Geschäftsmodells im Gesundheits- empfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ bereich. Das geht aus ihrer Antwort auf unsere Kleine Die Grünen bei Enthaltung der Fraktionen von FDP und Anfrage hervor. Sie kann fast keine Zahlen liefern, wie Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des groß der Einfluss der Private Equity Fonds in der ambu- Hauses angenommen. lanten Gesundheitsversorgung schon ist. Ich frage Sie: Weshalb unternimmt die Bundesregierung nichts, um hier Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: Licht ins Dunkel zu bringen? Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Private-Equity-Gesellschaften haben ihren Sitz häufig Fraktion DIE LINKE in Steueroasen, sind also Briefkastenfirmen auf Inseln, Kapitalinteressen in der Gesundheitsversor- die wesentlich mehr Briefkästen als Einwohner haben. gung offenlegen Meine Damen und Herren, es sind die Beiträge der Ver- sicherten, die in diesen Briefkästen landen. Das ist nicht Drucksache 19/14372 hinnehmbar. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Gesundheit (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Das Geschäftsmodell von Private Equity sieht vor, Un- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ternehmen zu kaufen und nach spätestens fünf Jahren mit (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die größtmöglichem Gewinn wieder zu verkaufen. Die (D) Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen durchschnittliche Rendite liegt bei 18 Prozent – pro Jahr Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wohlgemerkt. Diese Wertsteigerung erreichen sie durch Kündigung, durch Arbeitsverdichtung, Lohndumping, Liebe Kolleginnen und Kollegen, verabschieden Sie durch Zukäufe und durch die Spezialisierung auf teure sich ins Wochenende dann draußen. Das gilt für die Behandlungen. Geschäftszweck ist also nicht die Ge- Unionsfraktion genauso wie für die FDP-Fraktion. sundheitsversorgung, sondern die Spekulation mit dem Unternehmen selbst. Konkret kaufen Private-Equity-Ge- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- sellschaften kleine Krankenhäuser auf, um damit dann ner dem Kollegen Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke, Medizinische Versorgungszentren gründen zu können. das Wort. Um diese dann zu vergrößern, kaufen sie einen Arztsitz (Beifall bei der LINKEN) nach dem anderen auf.

Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): Die ganze Dramatik wird aber erst deutlich, wenn wir uns bewusst machen, dass ein Drittel der Hausärztinnen Herr Präsident! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Her- und Hausärzte über 60 sind. Diese Praxen werden in den ren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Die ambulante Versor- nächsten fünf Jahren frei und sind bei den Private-Equity- gung durch Haus- und Fachärzte ist akut gefährdet. Wenn Heuschrecken heiß begehrt. Inhabergeführte Arztpraxen wir nicht sofort entschlossen eingreifen, werden soge- werden so zu Ketten Medizinischer Versorgungszentren, nannte Private Equity Fonds – das sind Kapitalgesell- die von Heuschrecke zu Heuschrecke weiterverkauft wer- schaften mit vielen Milliarden Dollar im Rücken – die den. Wenn eine Kette von Medizinischen Versorgungs- Arztpraxen aufkaufen, zu Ketten Medizinischer Versor- zentren durch die Optimierungsprozesse mehrerer Private gungszentren umbauen und schließlich weiterverkaufen. Equity Fonds hintereinander gegangen ist, bleibt von der Medizinische Versorgungszentren wurden eingeführt, um ambulanten Versorgung so gut wie nichts übrig. Ich frage unterversorgte Gebiete versorgen zu können. Das ist aber Sie: Wollen Sie dem wirklich tatenlos zusehen? nicht das Ziel von Private-Equity-Gesellschaften. Ihr Ziel ist die Gewinnmaximierung durch Kostensenkung. Leid- (Beifall bei der LINKEN) tragende werden vor allem die Patientinnen und Patienten sein, besonders in ländlichen und wirtschaftsschwachen Wollen Sie eine Monopolisierung der ambulanten Ge- Regionen. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen sundheitsversorgung? Ich kann Ihnen ganz klar sagen: und Herren. Die Linke will das nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 15660 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Achim Kessler (A) Deshalb fordert Die Linke in einem ersten Schritt Dann kann man auch die Frage stellen: Ist die medizini- (C) Transparenz durch die Einführung eines öffentlich zugän- sche Versorgung schlechter oder nicht? Nein, sie ist auf glichen Registers für Medizinische Versorgungszentren. keinen Fall schlechter durch Medizinische Versorgungs- Das ist ja nicht gerade die Revolution. Wir wollen wissen, zentren, wenn die einen privaten Geldgeber haben. Das was Sache ist. ist ganz klar erwiesen und keine Frage. (Beifall bei der LINKEN) Sie sprechen noch ein anderes Problem an: dass es bei diesen Medizinischen Versorgungszentren Stellenstrei- Mit dieser Forderung nach der Offenlegung von priva- chungen und Dumpinglöhne gäbe. ten Eigentümerstrukturen sind wir übrigens nicht alleine. Dass Ärzte- und Zahnärzteverbände auf der einen Seite, (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie auf der anderen Seite aber auch Gewerkschaften diese doch mal was zu den Private Equity Fonds!) Entwicklung ebenfalls scharf kritisieren, sollte Ihnen al- Entschuldigung, im medizinischen Bereich, wo wir len eigentlich zu denken geben. 10 000 Ärzte suchen, wo wir 40 000 Pflegekräfte suchen, da gibt es doch keine Stellenstreichungen. Jeder Arzt oder Vizepräsident Wolfgang Kubicki: jede Krankenschwester, die entlassen werden würden, Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. bekämen an der nächsten Hausecke wieder ein Jobange- bot, welches sie annehmen könnten.

Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Birke Bull- Die ambulante Versorgung darf keine Sekunde länger Bischoff [DIE LINKE]: Haben Sie eine Ah- dem Geschäftsinteresse von gewinnorientierten Private- nung!) Equity-Heuschrecken überlassen bleiben. Dann höre ich das Wort „Dumpinglöhne“. Entschuldi- gung, die Worte „Dumpinglohn“ und „Arzt“ passen für Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. mich genauso wenig in einen Satz wie Bayern München (Beifall bei der LINKEN) und zweite Fußball-Bundesliga. Das gehört einfach nicht zusammen.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat wie der Abg. [FDP]) das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es keine Alexander Krauß. Missverständnisse gibt: Mir ist es lieber, wenn es nieder- (B) gelassene, freiberuflich tätige Ärzte gibt, die bei uns im (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Land die medizinische Versorgung sichern. Das hat einen Grund: Alexander Krauß (CDU/CSU): (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Dann stim- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- men Sie doch unserem Antrag zu! Das ist doch ren! Die Linke beschreibt ein Problem, das es in der Rea- genau richtig!) lität nicht gibt. Es gibt nicht das Problem, dass Unterneh- men im Gesundheitssektor erworben werden und dann Ein niedergelassener Arzt arbeitet 49 Stunden pro Woche. ganz schnell, nach einem halben Jahr oder sonst wie, Er beutet sich in gewisser Weise selbst aus. Ein Arzt, der wieder verkauft werden. Sie konnten weder in Ihrem An- im MVZ arbeitet, arbeitet im Durchschnitt weniger als die trag noch jetzt in Ihrer Rede auch nur ein einziges Bei- Hälfte: 23 Stunden. spiel nennen, wo das der Fall war. In der Tat haben wir im (Manfred Grund [CDU/CSU]: Weniger Be- Gesundheitswesen private Geldgeber, die sich einbrin- gen, die aber ein langfristiges Interesse haben und mit- handlungsfälle!) helfen, wie andere auch, wie Ärzte auch, dass die medi- Deswegen ist es mir lieber, wenn es Ärzte gibt, die sagen: zinische Versorgung bei uns im Land gesichert ist. Ich mache mich selbstständig, ich arbeite in diesem Be- reich. – Aber jedem ist es selbst überlassen, wie er arbei- Keine Frage: Im Gesundheitswesen wird auch Geld ten möchte. Wenn jemand angestellt arbeiten möchte, verdient. Jeden Tag wird in diesem System mehr als 1 Mil- dann ist das sein gutes Recht. Wenn er sagt: „Ich möchte liarde Euro ausgegeben. Niemand bringt Geld mit, wenn mehr Zeit für die Familie oder meine Hobbys haben“, er auf Arbeit geht, alle verdienen. Ich finde das in Ord- dann ist das sein gutes Recht. Wir erleben derzeit in der nung, solange eine Leistung dafür erbracht wird und so- gesamten Gesellschaft einen Wandel: von einer Work- lange die Qualität stimmt. Mich interessiert nicht, wem Life-Balance hin zu einer Life-Work-Balance. Da verän- ein MVZ, ein Medizinisches Versorgungszentrum, ge- dert sich etwas. Das müssen wir akzeptieren. Insofern ist hört, sondern mich interessiert: Welche Leistung bringen es mir lieber, es gibt ein Medizinisches Versorgungszent- Medizinische Versorgungszentren? Liefern sie hochwer- rum, auch im ländlichen Bereich, auch von einem priva- tige Medizin? Ich möchte sie gern an dem messen, was ten Geldgeber gegründet, als dass es dort überhaupt kei- hinten rauskommt. nen Arzt gibt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler Jetzt will ich einmal zu den Rahmenbedingungen kom- [DIE LINKE]: Sagen Sie mal was konkret zum men. Ein Arzt hat Therapiefreiheit, egal wo er arbeitet. Er Thema!) entscheidet, was das Beste für den Patienten ist, nicht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15661

Alexander Krauß (A) irgendjemand anders. Hier ist die Rechtslage ganz klar. zugsbereich von Patienten mehr haben. Sie haben sich (C) Dagegen darf nicht verstoßen werden. Die meisten MVZ- vielleicht auf eine Branche spezialisiert, die nicht nach- Ärzte haben übrigens auch ein Festgehalt, was ich für gefragt ist, oder sie sind gebäudemäßig nicht mehr aus- richtig halte. Für ihn ist der Umsatz weniger wichtig als reichend aufgestellt. Dann gibt es natürlich die Möglich- für jemanden, der selbstständig tätig ist. Den interessiert keit, dass dies als Medizinisches Versorgungszentrum der Umsatz ein wenig mehr als den, der ein festes Gehalt weiter bestehen kann. Das Problem dabei – insofern ha- bezieht. Insofern wird es nicht dazu kommen, dass er ben die Linken recht – ist, dass Privatinvestoren ohne besonders darauf achtet, wie viel Umsatz er macht. fachlichen Bezug über den Aufkauf berechtigter Leis- tungserbringer diese MVZ gründen können. Das ist der Es gibt ein richtiges Argument, das wir auch beim Hintergrund. Terminservice- und Versorgungsgesetz betrachtet haben. Es geht darum, dass es keine Monopole geben darf. Das Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an die Ak- gilt zum einen für die allgemeine Wirtschaft. Ich möchte, tion – ich habe es mitgebracht - dass kein Autohaus ein Monopol in einer Region hat. Ich möchte zum anderen aber auch nicht, dass ein Medizin- (Der Redner hält eine Karte hoch) isches Versorgungszentrum ein Monopol in einer be- „Rote Karte“ erinnern. Diese haben Sie sicher alle noch in stimmten Region hat oder dass ein Frauenarzt ein Mono- Erinnerung. Die kam von den zahnärztlichen Vereinigun- pol hat. Der Patient muss Wahlfreiheit haben. Deswegen gen. Die zahnärztlichen Vereinigungen haben sich in das haben wir die kluge Entscheidung getroffen, dass wir Gesetzgebungsverfahren sehr aktiv eingebracht. Sie ha- vorsorglich eine Regelung in das Terminservice- und Ver- ben dabei auch Erfolg gehabt. Die sind ganz zufrieden. sorgungsgesetz aufgenommen haben, damit es zu keinen Wenn Sie sich das ansehen, stellen Sie fest, dass sie einige Konzentrationen kommt. Noch ist das aber nicht nötig; Sachen zu ihrem Schutz haben aufbauen können. Bei der denn wir haben auch ein Kartellrecht, das gilt. Man kann Regierungsbefragung habe ich – Frau Staatssekretärin auch nachvollziehen, in wie vielen Fällen das Kartellamt Weiss ist auch hier – gefragt, wie die Bundesregierung geprüft hat. Das Kartellamt – ich habe das vor einem Jahr das sieht. Sie hat gesagt: Die Bundesregierung sieht das gefragt – hat die Fälle aufgezählt und gesagt: Es gibt in all Problem, hat es im Griff. – So wie Herr Krauß das sagt, ist diesen Fällen für die Patienten genügend ambulante Aus- es scheinbar nicht. Die Bundesregierung sieht hier tat- weichalternativen im lokalen Umfeld. sächlich ein Problem. Sie hat es mir zumindest so in der Deswegen ist ganz klar: Wir haben hier kein Problem. Anhörung gesagt. Deswegen können wir guten Herzens auf Ihren Antrag verzichten. Unser Vorschlag, meine Damen und Herren, ist, dass man überprüfen sollte, ob eine Verfahrensweise analog (B) Vielen Dank. § 95 Absatz 1 SGB V, der für die zahnärztlichen Zentren (D) gilt – Ergebnis der „Rote Karte“-Aktion, die ich eben (Beifall bei der CDU/CSU) nannte –, in Betracht kommt. Der Versorgungsgrad des jeweiligen Planungsbereiches sichert sowieso eine gewis- Vizepräsidentin : se Steuerung. Das war auch das Ziel, das mit dieser Ak- Das Wort hat der Abgeordnete Detlev Spangenberg für tion erreicht werden sollte. die AfD-Fraktion. Aber, meine Damen und Herren, wir als AfD sehen das (Beifall bei der AfD) Problem auf einem ganz anderen Gebiet, was natürlich dazu gehört: der Ärztemangel im ländlichen Raum. Ich Detlev Spangenberg (AfD): habe schon 2015 im Sächsischen Landtag den Vorschlag Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und eingebracht –aber wie immer: AfD-Vorschläge werden Herren! Der Antrag der Linken lautet: „Kapitalinteressen abgelehnt –, dass man erstens einmal den Numerus cla- in der Gesundheitsversorgung offenlegen“. usus überprüft und den Studenten, die ewig in der Warte- schleife sind und auf jeden Fall Arzt werden wollen, einen (Marianne Schieder [SPD]: Das haben wir ge- Studienplatz anbietet über eine Vertragsgestaltung mit der lesen!) Verpflichtung, nach Abschluss des Studiums eine Praxis im ländlichen Raum zu betreiben. Das hat den Vorteil, – Ja. – Es ist ein interessanter Antrag, der einiges bein- dass sie vielleicht jemanden kennenlernen und dortblei- haltet, was man beachten sollte. ben. Es könnte Ihnen sogar gefallen. Wir haben eine Ver- Die Medizinischen Versorgungszentren im Allgemei- sorgung, sie haben eine Perspektive und kommen schnel- nen sind eine feine Einrichtung. Sie sind aus dem Osten ler zum Studium. Zweiter Vorschlag. Investitionshilfen unter dem Begriff „Poliklinik“ bekannt. Ich habe mich für diese Studenten. Die Ärzte finden das gar nicht gefreut, dass Professor Hecken, Chef des G-BA, auch schlecht. Ich habe es ihnen auch vorgetragen. diesen Begriff verwendete und meinte: Sie alle nach der Wende plattzumachen, war auch nicht die beste Idee. – Vielleicht sollte man auch Medizinische Versorgungs- Die Krankenhausärzte verwenden den Begriff „Polikli- zentren in kommunaler Trägerschaft ausbauen. Da haben nik“ auch schon. Er wird mittlerweile wieder bekannt. wir die Sicherheit, deren Fehlen bei Private-Equity-Ge- sellschaften hier mit Recht kritisiert wird. Das geht aber Was bedeutet MVZ? Es ist eine Chance für insolvente nur, wenn die MVZ im Bedarfsplanungsbereich liegen. und bedrohte Krankenhäuser, die aus irgendwelchen Das ist auch die ursprüngliche Forderung im TSVG ge- Gründen nicht mehr existieren können, die keinen Ein- wesen, meine Damen und Herren. 15662 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Detlev Spangenberg (A) Als Letztes ein Satz zu den Forderungen der Linken. so zum Beispiel den Bedürfnissen von jungen Ärztinnen (C) Der erste Satz der Begründung ist ein bisschen kurios. Sie und Ärzten. Hier bieten MVZ optimale Bedingungen. sagen dort, ambulante Gesundheitsversorgung darf nicht Einstieg in den Beruf und Familienphase fallen oft zu- denen überlassen werden, deren Geschäftszweck nicht im sammen. Hier haben die MVZ den Vorteil, dass sie eine dauerhaften Betrieb der Einrichtungen besteht. Das ist Teilzeittätigkeit in Anstellung und garantierte Arbeitszei- natürlich richtig, aber sie werden es Ihnen kaum sagen. ten bieten können. Überstunden, lästige bürokratische Ich denke mir, das ist ein Wunsch, aber es wird nicht Pflichten und wirtschaftliches Risiko fallen weg. Das ist funktionieren. sehr attraktiv für junge Ärztinnen und Ärzte. Das Register, das Sie wollen, finde ich gut. Man kann (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das stimmt es gebrauchen. Sie sehen hier den Unterschied: Wir kön- alles, aber nicht bei den Private Equity Fonds!) nen auch anderen Fraktionen zustimmen, wenn etwas Und natürlich sollte für uns Gesundheitspolitiker die Vernünftiges gesagt wird. Qualität der Versorgung im Vordergrund stehen. Auch Recht vielen Dank. hier können MVZ punkten. (Beifall bei der AfD) Die Möglichkeit, Fremdkapital heranzuziehen, erlaubt eine medizinische Versorgung auf dem neuesten Stand. Mittlerweile sind moderne Geräte in einigen Fachrichtun- Vizepräsidentin Petra Pau: gen so teuer, dass Berufseinsteiger sie kaum finanzieren Für die SPD-Fraktion hat nun Bettina Müller das Wort. können, zum Beispiel in der Radiologie. Die Nutzung der teuren Geräte durch mehrere Ärzte ist durchaus sinnvoll (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Erwin und sorgt für eine optimale Auslastung. Rüddel [CDU/CSU]) (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) Bettina Müller (SPD): Aus Sicht der Patientinnen und Patienten, liebe Kolle- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ginnen und Kollegen, sind auch die langen Öffnungszei- Steueroase, Kaimaninseln, Private Equity: Das alles in ten vieler MVZ hoch attraktiv. Wie die Situation mitt- Verbindung mit Medizinischen Versorgungszentren? wochmittags und freitagmittags in Einzelpraxen Das lässt aufhorchen und verfehlt seine Wirkung nicht. aussieht, das wissen wir ja alle. Für mich steht fest: Die medizinische Versorgung ist Ich möchte noch auf einen Punkt zu sprechen kommen: ein wichtiger Bereich der Daseinsvorsorge und natürlich Auch ein Arzt mit eigener Praxis hat nicht nur einen Hut (B) kein Markt wie jeder andere. In diesem Punkt, liebe Kol- auf, er ist Arzt und Unternehmer. Ich gebe zu bedenken, (D) leginnen und Kollegen von der Linken, sind wir uns völ- dass auch hier nicht immer das wirtschaftlich Notwendige lig einig. konfliktfrei mit dem ethisch Richtigen verbunden wird, oder kurz gesagt: Auch die Einzelpraxis verfolgt wirt- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schaftliche Interessen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Muss machen wir auch mit!) sie ja auch!) Grundsätzlich finde ich die Idee richtig, Licht ins Dun- Hier wird zum Beispiel kräftig „ge-IGeLt“. Auf lukrative kel zu bringen, Transparenz zu schaffen. Aber warum Kataraktoperationen spezialisieren sich nicht nur die sollen wir hier MVZ anders behandeln als Krankenhäuser großen Augen-MVZ, sondern durchaus auch Einzelpra- oder Pflegeheime? Wer welche Einrichtung besitzt und xen. Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden: Wir Rendite abschöpft, ist nicht nur bei MVZ interessant. brauchen beides in einem vernünftigen Rahmen – MVZ und Einzelpraxis. (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Stimmen Sie denn zu, wenn wir es für alle beantragen?) (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) Deswegen meine Bitte: Wenn schon, dann sollten wir hier Dass es nicht um ein Entweder-oder geht, wird auch ein bisschen mehr Sorgfalt walten lassen; denn hier ste- beim Blick in die moderne Arztbiografie deutlich. hen viele Mutmaßungen im Raum. Das Bundeskartell- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das ist gar amt – das ist schon angeklungen – hat zum Beispiel in nicht das Thema!) der Frage der Marktmacht 2017 den großen MVZ-Ketten noch Unbedenklichkeit attestiert. Der ungebrochene Trend zur Anstellung bedeutet nicht, dass die Ärzte sich nicht niederlassen wollen. Vielmehr Generell können wir feststellen: Die weite Verbreitung ist es oft so, dass der Nachwuchs wertvolle praktische der MVZ tut der ambulanten Versorgung gut. Sie sind Erfahrungen im MVZ sammelt, bevor er sich mit der eine sinnvolle und zeitgemäße Ergänzung bestehender eigenen Praxis niederlässt, und die Älteren – kurz vor Versorgungsmodelle, die momentan vielen Bedürfnissen der Rente – bereiten ihren Ausstieg vor und lassen sich entgegenkommt, in der eigenen Praxis als Arzt anstellen. (Beifall bei der SPD – Dr. Achim Kessler [DIE Insofern sollten wir die Situation ganz genau analysie- LINKE]: Aber nicht bei den Private Equity ren, bevor wir die Medizinischen Versorgungszentren im Fonds!) Schnellschuss mit massiven Berichtspflichten, die vorge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15663

Bettina Müller (A) schlagen wurden, die aber zum Teil nicht umsetzbar sind, für die zahnärztlichen MVZ der ausufernde Aufkauf be- (C) überziehen. Dabei können wir auch gerne zusammenar- grenzt. beiten. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber nur für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – die Zahnärzte! Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Ich würde gerne etwas über die Private Equity Fonds hö- Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Das ging uns nicht ren! Das ist doch das Thema!) weit genug. Eine fachliche und räumliche Begrenzung wäre für uns der bessere Weg gewesen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall des Abg. [FDP]) Für die FDP-Fraktion hat nun Christine Aschenberg- Dugnus das Wort. In Ihrem Antrag differenzieren Sie aber überhaupt nicht zwischen zahnärztlichen MVZ und anderen MVZ. (Beifall bei der FDP) Ich habe nichts gegen Transparenz, ganz im Gegenteil, aber was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, das ist der Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): reinste Bürokratiewahnsinn. Sie fordern erstens eine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und halbjährliche Meldefrist des MVZ-Betreibers gegenüber Kollegen! Für uns als Fraktion der Freien Demokraten dem Ministerium, zweitens eine Meldung des Betreibers sind die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung, drittens soll Zahnärzte auch in Zukunft die erste Anlaufstelle für die das Bundesministerium für Gesundheit dann auch noch beste Versorgung, für die qualitativ hochwertigste Ver- abgleichen, ob alle Meldungen ordnungsgemäß erfolgt sorgung vor Ort. Wir wollen die Freiberuflichkeit för- sind; viertens fordern Sie die Bundesregierung auf, darü- dern, um die freie Arztwahl und die Therapiefreiheit im ber auch noch halbjährlich zu berichten. Liebe Kollegin- Sinne der Patientinnen und Patienten zu stärken. nen und Kollegen, Sie scheinen von Bürokratieaufwand (Beifall bei der FDP) in der Versorgung keine Ahnung zu haben. Im Zweifels- fall geht dieser Bürokratieaufwand nämlich zulasten der Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz aus dem Versorgung der Patientinnen und Patienten, und das wol- Jahr 2012 – das war die schwarz-gelbe Zeit – wurde die len wir doch wohl nicht haben. Gründungsberechtigung für Medizinische Versorgungs- zentren für diejenigen Leistungserbringer ausgeschlos- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen, die ohne fachlichen Bezug zur medizinischen Ver- der CDU/CSU) (B) sorgung waren. Meine Damen und Herren, ich fand, das (D) war ein guter Schritt. Ich möchte an dieser Stelle anmer- Vor allen Dingen: Der hier vorgeschlagene Bürokratie- ken, meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken: wahnsinn würde genauso die hausärztlichen und internis- Sie haben damals dem Gesetz nicht zugestimmt. Ziel war tischen Medizinischen Versorgungszentren treffen. Die es damals, im Patienteninteresse die Unabhängigkeit me- laufen aber gar nicht Gefahr, von Private-Equity-Gesell- dizinischer Entscheidungen weiterhin zu gewährleisten. schaften übernommen zu werden – das habe ich letztens Investoren ohne fachlichen Bezug zur medizinischen Ver- auf einer Veranstaltung gehört –, was auch daran liegt, sorgung sollten von der Gründung eines MVZ ausge- dass sie einfach viel zu wenig Umsatz und Gewinn ma- schlossen werden. chen. Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir bei den MVZ benö- Apropos Gewinn. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass tigen, sind eindeutige Regelungen, die sicherstellen, dass Beitragsmittel für private Gewinne zweckentfremdet die dort tätigen Ärzte und Zahnärzte in medizinischen werden. Oh mein Gott! Ich erkläre es Ihnen: Gewinn ist Fragen völlig weisungsfrei handeln dürfen; denn das ist nichts Schädliches. Ganz im Gegenteil: Ohne Gewinn der Vorteil der Freiberuflichkeit. würde keine Praxis in Deutschland existieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ihr Antrag löst eine Bürokratiewelle auch bei den vie- ordneten der FDP) len Medizinischen Versorgungszentren aus, die im Pa- tienteninteresse unabhängige medizinische Entscheidun- Die Weisungsfreiheit – da gebe ich den Linken ein wenig gen treffen. Das ist die Mehrzahl der Medizinischen recht – war im Bereich der zahnärztlichen MVZ tatsäch- Versorgungszentren, und dass Sie das über einen Kamm lich fraglich, da Fremdinvestoren über den verschachtel- scheren, ist nicht in Ordnung. ten Kauf einer Klinik beliebig viele zahnärztliche MVZ eröffnen konnten. Aber wir müssen hier differenzieren, Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. meine Damen und Herren; denn Medizinische Versor- gungszentren sind ein wichtiger Teil der Versorgung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie können hier nicht alles über einen Kamm scheren. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜND- Vizepräsidentin Petra Pau: NIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Wort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es wurde schon angesprochen: Durch die Quotenrege- lung im Terminservice- und Versorgungsgesetz wurde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15664 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

(A) Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE dem Bade auszuschütten, das wäre ganz sicher falsch. (C) GRÜNEN): Stattdessen müssen wir diese Zentren weiterentwickeln. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für viele Menschen ist, wie für die meisten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – von uns, Gesundheit ihr höchstes Gut. Der Zugang zu Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Es geht nur guter Gesundheitsversorgung muss selbstverständlich um ein Transparenzregister!) sein und darf nicht zum Spielball privater Kapitalgruppen Wirksame Verbesserungen in der Versorgung erreichen werden. wir nur, wenn wir Mauern im Gesundheitssystem einrei- ßen. Die strikte Trennung von ambulanter und Kranken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- hausversorgung bringt uns eben nicht weiter. wie des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]) Da ist schon was dran: Seit einiger Zeit beobachten wir, (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche dass Akteure an Einfluss auf die ärztliche Versorgung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gewinnen, die eher wirtschaftliche Interessen verfolgen Wir brauchen mehr Kooperation zwischen den Gesund- als dem Wohl der Patientinnen und Patienten dienen wol- heitsberufen. Es macht die Versorgung besser, wenn Ärz- len. Das ist tatsächlich ein Problem. Es ist sehr bedauer- tinnen und Ärzte, Pflegekräfte und all diejenigen, die in lich, dass Spahns selbst ernanntes Opus magnum, das anderen Heilberufen tätig sind, Hand in Hand zusammen- TSVG, dieser Problematik kein wirksames Instrument arbeiten. Stärkere Teamarbeit und familienfreundlichere entgegenstellen konnte – oder wollte. Arbeitsbedingungen, wie wir sie in den MVZ an vielen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Stellen finden, sorgen dafür, dass diese auch bei Ärztin- wie des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]) nen und Ärzten und Pflegekräften hoch im Kurs stehen. Das ist eine gute Sache. Wir brauchen mehr Transparenz bei der Frage, wer welche Gesundheitseinrichtung besitzt und Rendite ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schöpft. Dabei allerdings ausschließlich die Versorgungs- zentren in den Blick zu nehmen, greift unserer Meinung Medizinische Versorgungszentren sind also nicht das nach viel zu kurz. Ich glaube, dass das gegen den Problem, sondern Teil der Lösung. Lassen Sie uns diese Gleichheitssatz verstößt und zu massiven Abgrenzungs- kooperativen Strukturen im Sinne der Patientinnen und problemen führen würde. Patienten stärken und gleichzeitig überzogenen Renditeinteressen zulasten des Gesundheitssystems eine Ganz sicher braucht es einen Blick auf das große Gan- Absage erteilen. Dann kommen wir in der Sache weiter. ze. Wir alle wissen: Ökonomische Fehlanreize stehen in (B) unserem Gesundheitssystem leider auf der Tagesordnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Wir haben an vielen Stellen Über-, Unter- und Fehlver- Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss. sorgung. Zum Beispiel bekommen Ältere häufig zu viele Medikamente mit gefährlichen Wechselwirkungen: ein Vielen Dank. Mittel gegen Bluthochdruck von der Hausärztin, ein an- deres gegen Rückenbeschwerden vom Orthopäden. Bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht abgestimmter Medikation – das ist leider die trau- rige Wahrheit – landen Menschen schnell mal im Kran- Vizepräsidentin Petra Pau: kenhaus. Je besser sich die Behandelnden untereinander Das Wort hat der Abgeordnete Erwin Rüddel für die absprechen, desto besser ist es für die Patientinnen und CDU/CSU-Fraktion. Patienten, und da kommen wir zur Idee der Medizin- ischen Versorgungszentren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Die Idee der MVZ ist an sich genau richtig: an einem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Ort Hausärztinnen und -ärzte, Fachärzte und -ärztinnen, und Herren! Ich freue mich, dass ich gerade jetzt, nach Physiotherapie und andere therapeutische Gesundheits- diesem engagierten Plädoyer für die MVZ, sprechen darf, fachberufe unter einem Dach zu vereinen. Das bedeutet weil auch ich der Meinung bin – da spreche ich für meine erstens kurze Wege für die Patientinnen und Patienten Fraktion –, dass die MVZ gerade im ambulanten Bereich und zweitens zumindest die Möglichkeit der direkten eine wichtige Ergänzung unserer medizinischen Versor- Kommunikation zwischen den Behandelnden; sie müssen gung sind. Sie ermöglichen es Ärztinnen und Ärzten, im es zwar auch nutzen, aber immerhin besteht die Möglich- Angestelltenverhältnis zu arbeiten, und sie fördern die keit. Interdisziplinarität. Das ist ganz wichtig. Das wurde Was aber sicherlich keinen Sinn macht – das ist auch von Frau Dr. Kappert-Gonther ja eben herausgestellt. schon angeklungen –, ist, viele, viele Zahnärztinnen und (Beifall des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE -ärzte unter einem Dach in einem Ballungsgebiet zu ver- LINKE]) sammeln und dadurch die Versorgung im ländlichen Raum zu gefährden. Was sicherlich keinen Sinn macht, Gerade jenseits der Ballungsräume können MVZ ergän- ist die Versorgung von Dialysepatientinnen und -patien- zend zur Struktur der niedergelassenen Ärzte einen wich- ten Private-Equity-Gesellschaften zu überlassen. Da gibt tigen Beitrag zur besseren Versorgung leisten. Die MVZ es ein substanzielles Problem. Aber das Kind MVZ mit haben sich teilweise als wichtiges Bindeglied bei der Ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15665

Erwin Rüddel (A) zahnung von ambulanter und stationärer Versorgung er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) wiesen. ordneten der SPD) Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz und dem Wenn die Sorge besteht, dass unser Gesundheitssystem -Versorgungsstärkungsgesetz wurden damals die Mög- die gute Patientenversorgung in Gefahr bringt, dann soll- lichkeiten zur Gründung von MVZ bewusst erweitert. ten wir uns über Qualitätsstandards aussprechen. Ziel war neben der Stärkung und Förderung kooperativer Versorgungsformen unter anderem, für junge Ärzte fle- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Ich hoffe, xible Arbeitsbedingungen und -möglichkeiten zu schaf- dass die Ärzteverbände das alle hören!) fen. Zuletzt wurden die Rahmenbedingungen für die Teil- Solange Versorgungssicherheit und Patientenzufrieden- nahme von MVZ an der vertragsärztlichen Versorgung heit gegeben sind, sind mir die Eigentumsverhältnisse durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz weite- gleichgültig oder eher zweitrangig. Wichtig sind gute rentwickelt, um die Anbietervielfalt in der vertragszah- Versorgungssicherheit und Patientenschutz. närztlichen Versorgung zu erhalten Vielen Dank. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie doch bitte mal was zu den Private Equity (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Fonds!) Grigorios Aggelidis [FDP]) und Übernahmeprozesse durch Beteiligungsgesellschaf- ten ohne originäres Versorgungsinteresse zu begrenzen. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Zahlen zeigen uns, dass die Entwicklung der MVZ zu Das Wort hat der Kollege Dirk Heidenblut für die SPD- immer größeren Einheiten unterbrochen wurde und seit Fraktion. einigen Jahren stagniert. Zudem bleibt der Anteil der Ver- tragsärzte in den Trägerschaften konstant. Grundsätzlich (Beifall bei der SPD) sagen die Eigentümerstrukturen nichts über die Qualität der Gesundheitsbehandlung des einzelnen Patienten aus. Dirk Heidenblut (SPD): Eine gute Patientenversorgung ist in vielfältigen Träger- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schaften möglich – öffentlich, privat oder genossen- Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zunächst einmal muss schaftlich. ich sagen: Ich habe den Eindruck, dass wir uns in einem (Beifall des Abg. Alexander Krauß [CDU/ Punkt alle einig sind, nämlich dass das MVZ-System ein CSU]) wichtiges, richtiges und auch vernünftiges System im Rahmen der Gesundheitsversorgung ist. (B) Diese Vielfalt sollten wir bewahren. (D) Ihre Forderung nach einer halbjährlichen Meldepflicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Trägerschaften und darüber hinausgehenden Daten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ist mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbun- GRÜNEN) den – das ist schon dargestellt worden – und verfehlt auch Da ich mit Zwischenbemerkungen schon bombardiert die angestrebte Wirkung. Die von Ihnen geforderten In- wurde, möchte ich sagen, dass ich glaube, dass wir uns formationen über die Trägerstrukturen bietet das Trans- zumindest noch an einem weiteren Punkt alle einig sind: parenzregister in Verbindung mit dem Handelsregister Wir wollen, dass weder MVZ noch andere Einrichtungen bereits heute. primär Kapitalinteressen dienen und im Zweifel Qualität und Versorgung in den Hintergrund geraten; wir wollen, (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber wa- dass sie primär der Sicherstellung der Qualität und der rum sagt die Bundesregierung dann, dass sie Versorgung der Patienten dienen. Und Kapitalinteressen es nicht weiß?) sollen, wenn überhaupt, in den Hintergrund geraten, wo- Daher kann man nicht davon sprechen, dass die Transpa- bei auch ich der Auffassung bin, dass Gewinn als solcher renz nicht gegeben ist. Aber darum geht es Ihnen ja auch nicht schädlich ist, sondern unser Gesundheitssystem nicht in erster Linie. Alle im Gesundheitssystem tätigen triggert. Er darf aber nicht im Vordergrund stehen, und Freiberufler erwirtschaften im Idealfall Gewinne, und das er darf das, was wir mit Qualität meinen, nicht überlagern. ist auch gut so. Insofern, Herr Kessler, geht Ihr Antrag sicherlich in die (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja!) richtige Richtung – was die Frage betrifft, dass wir uns Wenn man Gewinne im Gesundheitssystem grundsätzlich das Treiben von Private-Equity-Fonds mal anschauen ablehnt, dann sollte man sich ehrlich machen und eine müssen –, wobei Ihr Antrag auf vielen Vermutungen be- Verstaatlichung unseres Systems fordern. Die Länder, ruht und weniger eine konkrete Basis hat. die ein staatliches Gesundheitssystem haben, sind unse- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das stimmt! rem guten Gesundheitssystem gnadenlos unterlegen, rest- Deswegen unser Antrag!) los alle. – Ja. Aber Sie schütten das Kind mit dem Bade aus, indem (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Richtig! – Sie die gesamte MVZ-Landschaft, und zwar ausschließ- Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das lich die gesamte MVZ-Landschaft, mit einem hoch büro- stimmt!) kratischen Modell überziehen wollen. Und das gefährdet Insofern halte ich von diesem Gedanken nichts. aus unserer Sicht im Zweifel die wichtigen und vernünf- 15666 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dirk Heidenblut (A) tigen MVZ-Entwicklungen, und das wollen wir eben Also, alles in allem ist das ein Antrag, der durchaus in (C) nicht. eine vernünftige Richtung zeigt, aber er überzieht und nimmt nur die MVZ in den Blick. Ich glaube, es lohnt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sich dennoch, darüber zu reden, vielleicht auch über das der SPD und des Abg. Grigorios Aggelidis Gesamtsystem und unsere Zielsetzung. Ich bin gespannt [FDP] – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: auf die weitere Diskussion. Dann machen Sie doch einen besseren Vor- schlag!) Vielen Dank. Wir müssen bei den MVZ – das will ich auch noch mal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sehr deutlich sagen – allerdings zwischen den arztgrup- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) pengleichen, die ja erst eingeführt worden sind, und den arztgruppenübergreifenden, also denjenigen, bei denen viele Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtun- Vizepräsidentin Petra Pau: gen zusammensitzen, unterscheiden. Die Kollegin hat das Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich vorhin sehr deutlich ausgeführt. Die arztgruppenüber- Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. greifenden MVZ bringen einen großen Nutzen für die (Beifall bei der CDU/CSU) Patientinnen und Patienten, weil sie Wege ersparen, weil sie das ständige Warten auf den nächsten Termin ersparen und weil sie den Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit Erich Irlstorfer (CDU/CSU): geben, miteinander schnell in Austausch zu kommen. Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Ihr Antrag hat in meinen Augen keine sachliche Auf die arztgruppengleichen MVZ müssen wir auch Begründung, und die Ausführungen, die Sie hier vorbrin- noch mal gucken; denn mit diesen arztgruppengleichen gen, sind schon tendenziös. MVZ hatten wir eigentlich die Erwartung verbunden – deswegen haben wir übrigens den Kommunen die Mög- Ich möchte ganz klar feststellen: Medizinische Zentren lichkeit gegeben, solche MVZ einzurichten –, dass wir sind nicht das Problem, sondern oftmals die Lösung. Es die Versorgungsprobleme in den ländlichen Regionen – gibt vielleicht auch schwarze Schafe. Das mag sein, das also in den Regionen, in denen wir Versorgungsprobleme möchten wir gar nicht kleinreden. Aber das ist nicht die haben, weil die Freiberuflichkeit nicht mehr zieht –, in Regel. Die Zentren sind wichtig für die Versorgung in den Griff bekommen. Deswegen haben wir auch arzt- unserem Land. gruppengleiche MVZ ermöglicht. (Zuruf des Abg. Dr. Achim Kessler [DIE (B) (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther LINKE]) (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Hören Sie doch mal bitte zu. – Ich möchte ganz klar Ob das bei Zahnärztinnen und Zahnärzten überhaupt feststellen, dass wir die Propagandameinung, die Sie hier ein geschickter Schachzug ist, das lasse ich jetzt mal da- vertreten, nicht verallgemeinern dürfen. Wir wissen doch hingestellt. auch, dass es in gewissen Fachrichtungen Bedenken ge- gen die MVZ gibt. Das ist so. Das nehmen wir auch ernst. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: War es Aber wenn man hier davon spricht, dass das alles unan- nicht!) ständig sei, dann kann ich nur sagen: Geld verdienen ist Daher haben wir das ja auch ein wenig eingegrenzt. Aus weder unanständig noch anrüchig. den Zahlen ergibt sich, dass genau dieses Ziel nicht er- reicht wurde. Das heißt, wir haben eine deutliche Ballung (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das habe der arztgruppengleichen MVZ in den Städten, und wir ich auch nicht gesagt!) erreichen relativ wenig im ländlichen Bereich. Politisch unhygienisch ist, wie Sie die Situation darstel- Vor dem Hintergrund muss man meines Erachtens len. Das ist der Punkt. Das passt nicht. noch mal auf die Zielsetzung des Ganzen schauen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) müssen schauen, ob das, was wir erreichen wollten – da- mit meine ich ausdrücklich nicht die arztgruppenüber- Die Linke versucht hier wieder ohne Grundlagen, In- greifenden MVZ –, so wirklich zu erreichen ist oder ob vestoren zu vergraulen. Sie versucht hier auf diesem Weg das Ziel statt durch einen Umbau des Systems vielleicht auch, Investitionen auszuschließen. mit einer Stärkung des vorhandenen Systems zu erreichen ist; denn das, was wir an freiberuflicher Leistung gerade (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie im Bereich der Zahnärztinnen und Zahnärzte haben, ist ja doch mal was zu Private Equity!) Ausdruck eines starken und guten Systems. Ich kann Ihnen nur sagen: Private Investitionen sind not- Ich finde aber, an der Stelle muss sich auch das System wendig. Wir sind froh, wenn hier private Geldgeber Ver- bewegen. Es gibt natürlich viele junge Ärztinnen und antwortung übernehmen. Das ist begrüßenswert. Ärzte, die gerne in einem Anstellungsverhältnis arbeiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen. Da sind KZBV und Zahnärztinnen und Zahnärzte gefragt, Angebote außerhalb von MVZ zu machen, damit Hier zu kriminalisieren oder sonst irgendetwas in der Art gute und vernünftige Arbeitsbedingungen erreicht wer- zu machen: Das ist der falsche Weg. Hier liegen Sie den. falsch. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15667

Erich Irlstorfer (A) (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sagen Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) doch mal einen Satz zu Private-Equity-Fonds!) der CDU/CSU und der AfD und der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Deshalb kann ich nur sagen: Wir werden diesen Ver- sorgungsmix weiterhin benötigen. Natürlich brauchen Aber das Thema dieser Aktuellen Stunde ist ja nicht wir auch die niedergelassenen Ärzte. Aber es gibt genü- Rechtserkenntnis – das wussten wir in Wahrheit schon gend Regionen, in denen wir über medizinische Versor- vorher –, sondern es ist die Frage, wie wir dieses Recht gungszentren froh sind. Dass das Ganze natürlich in ei- dann auch durchsetzen. nem ordentlichen Rahmen ablaufen muss, ist doch die (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Grundlage. Darum sind wir hier tätig. Aber das, was GRÜNEN]: Meine Herren!) Sie hier darstellen, ist nicht redlich. Deshalb sind wir mit Ihrem Antrag nicht einverstanden und werden Sie Diese Frage taucht nicht erst heute auf. Sie taucht auch hier auch nicht unterstützen. nicht erst im Fall Ibrahim Miri auf, nicht erst, seit er wieder in Deutschland ist. Der Fall Ibrahim Miri ist doch Herzlichen Dank. viel älter. Die erste Ausreiseverfügung gegen Ibrahim (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Miri wurde 1998 erlassen. 1998! Danach gab es wieder Grigorios Aggelidis [FDP]) eine und immer wieder eine. Trotzdem wurde er geduldet. In der Zwischenzeit

Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Ich schließe die Aussprache. GRÜNEN]: Hat die FDP regiert!) wurde er zum Oberhaupt einer Organisation mit über Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 1 000 Menschen, die wegen diverser krimineller Machen- Drucksache 19/14372 an die in der Tagesordnung aufge- schaften im Visier der Polizei stehen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie mit diesem Überweisungsvorschlag einverstanden? – Das ist der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Fall. Dann verfahren wir so. GRÜNEN]: Vier lange Jahre! – Gegenruf des Abg. Konstantin Kuhle [FDP]: Aber nicht in Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: !) Aktuelle Stunde 2019 wurde er dann abgeschoben. auf Verlangen der Fraktion der FDP Meine Damen und Herren, der erste Skandal im Zu- (B) sammenhang mit Ibrahim Miri ist doch nicht der Wieder- (D) Durchsetzung des Rechtsstaats im Fall Ibra- eintritt auf deutsches Staatsgebiet. Der erste Skandal im him Miri Fall Ibrahim Miri ist, dass angesichts dieser kriminellen Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den Karriere zwischen der ersten Ausreiseverfügung und der Fraktionen zügig vorzunehmen. Abschiebung (Dr. Eva Högl [SPD]: Machen wir!) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Haben Sie ge- schwiegen! Die FDP hat jahrzehntelang ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege schwiegen!) Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. 21 Jahre vergangen sind. Das kann uns doch nicht kalt (Beifall bei der FDP) lassen. (Beifall bei der FDP) Dr. Marco Buschmann (FDP): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Deshalb sollten wir hier endlich darüber sprechen, wie legen! Liebe Zuschauer! Der Fall Ibrahim Miri hat die wir das Recht gesamtstaatlich schneller und effektiver deutsche Öffentlichkeit aufgewühlt, und das zu Recht, bei Kriminellen durchsetzen. weil er geeignet ist, das Vertrauen der Bürgerinnen und Meine Damen und Herren, Ibrahim Miri ist ja kein Bürger in die Durchsetzung des Rechtsstaates zu gefähr- Idiot. Er wusste doch, wie die Rechtslage ist. Die Frage den. Das hat sich auch nicht durch die heutige Entschei- ist hier: Warum hat er sich trotzdem getraut, den Weg dung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge er- nach Deutschland zu gehen? Vermutlich weil er darüber ledigt, wie wir möglicherweise gleich hören werden. informiert war, wie es hier um die Durchsetzung des Rechtsstaates bestellt ist. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Ich finde es gut, wie schnell hier entschieden wurde und dass auch in Lieber Herr Minister Seehofer, ich freue mich, dass Sie der Sache richtig entschieden wurde, weil immer wieder da sind. Ich habe bei der Halbzeitbilanz der Großen Koa- der Versuch gemacht wird, die Akzeptanz des Asylrechts lition vermisst, dass Sie auf die Fakten hinweisen. Die zu unterspülen, indem es zu einem Schutzschild für Kri- Fakten lauten nämlich: Die Zahl der ausreisepflichtigen minelle erklärt wird. Das BAMF hat klargemacht: Wenn Personen in Deutschland ist um 5,2 Prozent auf 246 737 ein libanesischer Staatsbürger auf libanesischem Staats- Personen gestiegen. Die Zahl der Abschiebungen – man gebiet von libanesischen Kriminellen bedroht wird, dann könnte annehmen, sie müsste auch steigen – ist faktisch ist das Sache der libanesischen Sicherheitsbehörden und gesunken: von 12 266 auf 11 496 Fälle, also um 6,3 Pro- kein Freifahrtschein für Deutschland. zent. Wenn die Zahl der ausreisepflichtigen Menschen 15668 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Marco Buschmann (A) steigt und die Zahl der Abschiebungen sinkt, dann stimmt (Lachen bei der AfD – Beatrix von Storch (C) etwas bei der Durchsetzung des Rechtsstaates nicht. Da- [AfD]: Das AfD-Programm!) für tragen auch Sie die Verantwortung, Herr Minister See- Es würde einfach reichen, wenn Sie das tun, was Sie hofer. öffentlich ankündigen, statt nur PR zu machen. (Beifall bei der FDP – Dr. Bernd Baumann Herzlichen Dank. [AfD]: Sie haben jahrzehntelang mitgemacht als FDP! – Weiterer Zuruf von der AfD: Das (Beifall bei der FDP – Dr. Konstantin von Notz ist Ihr Versagen!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz dünne Suppe! – Dr. Eva Högl [SPD]: Ganz dünn!) Jetzt kann man sagen: Das ist doch nur eine Problem- beschreibung. Was schlägt denn die FDP vor? – Das ist eine berechtigte Frage. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Bundesminister des Innern, für Bau (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, das ist interessant!) und Heimat, Horst Seehofer. Ich schlage Ihnen einfach vor: Tun Sie doch einfach end- (Beifall bei der CDU/CSU) lich das, was Sie sagen. Stattdessen machen Sie ein PR- Knallhartprogramm, wie es in der „Bild“-Zeitung heißt. Horst Seehofer , Bundesminister des Innern, für Bau (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist doch su- und Heimat: per!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mich jetzt an den Tatsachen orientieren und darf zualler- Ich prognostiziere Ihnen, was passiert. Sie kennen die erst feststellen, dass in kürzester Zeit das Bundesamt für Zahl der Überstunden bei der Bundespolizei. Dieses Migration und Flüchtlinge eine Entscheidung über den Knallhartprogramm der Bundespolizei wird in drei bis Asylantrag von Herrn Miri getroffen hat und den Antrag vier Monaten sang- und klanglos, ganz still und heimlich als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt hat, auslaufen. (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist ja super!) (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Wir schaffen doch neue Stellen!) eine richtige Entscheidung, eine schnelle Entscheidung, die die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates zeigt. Wir werden nachfragen, ob das passiert, Herr Minister. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Was wäre stattdessen erforderlich? Tun Sie doch ein- Beatrix von Storch [AfD]: Bravo! Da sind wir fach, was Sie sagen. Sie haben uns Rückführungsabkom- (B) echt froh!) (D) men mit den Herkunftsstaaten versprochen. Es ist kaum etwas passiert, außer für diejenigen Personen, die über die Der Betroffene hat die Möglichkeit, Rechtsmittel ein- iberische Halbinsel via Österreich nach Deutschland ein- zulegen reisen. Sonst ist nichts passiert. Sie haben uns verspro- chen, dass Sie die Länder, die nicht mit Deutschland (Lachen bei Abgeordneten der AfD – Gegenruf kooperieren, beim Visazugang unter Druck setzen. Wo der Abg. Ute Vogt [SPD]: Ja, das ist Rechts- ist das passiert, Herr Minister? staat!) gegen die Entscheidung des BAMF und gegen den sofor- Sie haben den Bundesländern versprochen, dass Sie tigen Vollzug. Es zeichnet unseren Rechtsstaat aus, dass Verbesserungen bei der Abschiebung durch Charterflüge wir auch den Feinden des Rechtsstaats Gelegenheit ge- vornehmen. Wo sind diese Verbesserungen, die Sie uns ben, das rechtsstaatliche Handeln zu überprüfen. versprochen haben? (Beatrix von Storch [AfD]: Die dürfen gar nicht (Beatrix von Storch [AfD]: Abschiebungen bei erst einreisen!) offenen Grenzen bringen nichts! Grenze dicht: Das muss der Fall sein!) Auch das ist ein Qualitätsmerkmal für diesen Rechtsstaat, Herr Minister, Sie haben den Bundesländern und den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kommunen versprochen, dass Sie Verbesserungen bei der SPD) der Beschaffung von Passersatzpapieren vornehmen. auch wenn sich die Feinde des Rechtsstaats nicht an un- (Dr. Eva Högl [SPD]: Wie heißt der Integra- sere Regeln halten. Das trifft besonders im Falle Miri zu. tionsminister in NRW, und in welcher Partei Man muss es hier noch mal konzentriert vortragen: ist er?) Herr Miri ist Oberhaupt eines kriminellen libanesischen Im Fall Ibrahim Miri war die Abschiebung Zufall: Ein Verbrecherclans. Spitzenbeamter aus Deutschland hatte zufälligerweise gute Kontakte in den Libanon, sodass wir überhaupt an (Beatrix von Storch [AfD]: Mit positiver So- die Passersatzpapiere gekommen sind, Herr Minister. zialprognose!) Deshalb: Tun Sie etwas für die Durchsetzung des Rechts- Von 1989 bis 2014 wurde er insgesamt 19-mal rechts- staates! Tun Sie etwas für das Vertrauen der Bevölkerung kräftig verurteilt, unter anderem wegen Raubes, schweren in die Durchsetzung des Rechtsstaates! Dafür müssen Sie Diebstahls, Hehlerei, Unterschlagung und bandenmäßi- nicht mal das Programm der FDP umsetzen. gen Drogenhandels. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15669

Bundesminister Horst Seehofer (A) (Dr. Christian Wirth [AfD]: Gute Sozialprog- (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Was machen (C) nose!) Sie bei den Charterflügen? Was machen Sie Vor seiner Abschiebung verbüßte er eine sechsjährige bei den Passersatzpapieren? Nichts!) Haftstrafe, aus der er im März 2019 vorzeitig entlassen – Schön langsam. wurde, Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Abschiebung. Da könnte (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Mit guter Sozial- uns der Herr Stamp – in Klammern: FDP –, NRW, massiv prognose!) mehr unterstützen. und am 10. Juli 2019 wurde er in den Libanon abgescho- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ben. Zuvor wurde er mit einer Wiedereinreisesperre be- legt. Ein Ausländer, gegen den eine solche Wiedereinrei- Wir stellen 2 000 Bundespolizisten zur Verfügung. sesperre verhängt wurde, darf, wie der Name schon sagt, nicht erneut einreisen. (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Der schiebt ab!) (Beatrix von Storch [AfD]: Das setzt Grenz- – Herr Buschmann, darf ich Sie mal aufklären über unsere kontrollen voraus! Ohne Grenzkontrollen ist föderalen Zuständigkeiten? das doch lächerlich!) Erstens. Für die Abschiebung sind die Bundesländer Tut er es dennoch, ist dies ein Tatbestand, der mit bis zu zuständig. drei Jahren Freiheitsstrafe belangt werden kann. (Beatrix von Storch [AfD]: Der darf doch gar Am 30. Oktober 2019 tauchte Herr Miri wieder in un- nicht einreisen! – Stephan Thomae [FDP]: Wo serem Lande auf, waren Sie im Fall Sami A.? – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Der schiebt so konsequent (Beatrix von Storch [AfD]: Ups!) ab! Vom dem können Sie was lernen!) stellte eine Selbstanzeige wegen unerlaubter Einreise und Wir bieten den Bundesländern 2 000 Polizeibeamte an, beantragte Asyl. Nach eigenen Angaben reiste er mithilfe die die Länder bei der Abschiebung unterstützen. von Schleppern aus der Türkei auf dem Landweg nach Deutschland ein. Zweitens. Bei der Bund-Länder-Institution „Passe- Zusammenfassend zu diesem Sachverhalt der Person rsatzbeschaffung“ hier in Berlin war ich zu Besuch. Diese Miri sage ich Ihnen: Behörde arbeitet ganz hervorragend mit anderen zusam- men. Aber weder die Unterstützung durch die Bundes- (B) (Beatrix von Storch [AfD]: Ein Wort: Staats- polizei – im Grunde macht die Bundespolizei in der Flug- (D) versagen!) begleitung vieles ganz alleine – noch die Beschaffung von Passersatzpapieren kann wirksam sein, so wie wir uns das Da versucht jemand, der über lange Strecken seines Le- vorstellen, wenn die Bundesländer – dazu gehört auch bens mit dem Rechtsstaat in keiner Weise im Einklang NRW – uns die Abzuschiebenden nicht zuführen. stand, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ach!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der immer wieder und nachhaltig die Regeln unseres de- Das ist die Realität. mokratischen Rechtsstaats verletzt hat, und zwar schwer- (Beatrix von Storch [AfD]: Wenn man jeman- wiegend, vorsätzlich und missbräuchlich die Rechte, die den nicht einreisen lässt, dann kann man sich für rechtstreue Bürger gedacht sind, zu missbrauchen. die Abschiebung doch sparen!) Das kann sich ein Rechtsstaat nicht gefallen lassen. Herr Buschmann, ich werde dem Parlament in wenigen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wochen eine Liste vorlegen: „Abschiebung“, „ausreise- Beatrix von Storch [AfD]: Und was ist die Kon- pflichtig“, „nicht abgeschoben“ und „in welchen Bundes- sequenz? Kann nicht, darf nicht, soll nicht?) ländern“. Dann können wir gerne eine Diskussion darü- Ich bin sehr gespannt, Herr Buschmann, ber führen. (Dr. Eva Högl [SPD]: Wir sind alle gespannt! – Was uns dieser Fall lehrt, sind zwei Dinge, die wir Martin Erwin Renner [AfD]: Wir sind sehr ge- offen aussprechen müssen: spannt! – Gegenruf der Abg. Helin [DIE LINKE]: Hören Sie mal zu! (Dr. Christian Wirth [AfD]: Die Grenzen sind Vielleicht können Sie was lernen!) offen!) wie sich die FDP dazu einlassen wird, wenn die Regie- In Europa funktionieren die Grenzkontrollen nicht oder rung weitere Dinge diesem Parlament vorlegt. nicht ausreichend. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beatrix von Storch [AfD]: Ah! Jetzt!) ordneten der SPD) Alle sind für den Außenschutz der europäischen Grenzen; Wir haben schon eine gewisse Erfahrung mit dem Mi- aber wir müssen deutlich sagen: Die Europäische Union grationspaket, das bei Ihnen ja auch nicht besonders be- ist mit dem Außenschutz noch weit von dem entfernt, was liebt war. wir verantworten können, 15670 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Bundesminister Horst Seehofer (A) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Da sind Sie doch (Beifall bei der CDU/CSU) (C) mitverantwortlich!) Das wird weder auf eine Woche noch, Herr Buschmann, nämlich von dem Versprechen, dass wir an den Außen- auf vier Monate begrenzt. Das wird jetzt nachhaltig grenzen Europas die Sicherheit unserer Bevölkerung ge- durchgeführt. währleisten. Deshalb wird es eine prioritäre Aufgabe der neuen Kommission sein, diesen Außenschutz für die Be- (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Jetzt!) völkerung zu gewährleisten. Das ist die eine Konsequenz, die wir ziehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die zweite Konsequenz ist: Menschen mit einer Ein- neten der SPD – Beatrix von Storch [AfD]: Das reisesperre, die an der Grenze erscheinen, werden direkt ist Ihre Aufgabe, die Binnengrenzen zu an der Grenze zurückgewiesen. Wenn sie auf irgendeinem schützen! Machen Sie doch mal was!) Wege doch in unser Land kommen und Asyl beantragen, bin ich explizit der Auffassung, dass wir Leute mit Wie- Nun ist es ja wunderschön, wenn mir bei der Binnen- dereinreisesperre, grenzkontrolle so leichte Kritik entgegengeschlagen ist. Es gibt niemanden, der in den letzten drei Jahren - (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie machen ja keine!) (Beatrix von Storch [AfD]: Mehr leere Wort- hülsen als Sie produziert hat!) die trotz aller Grenzkontrollen über irgendeine Grenze illegal kommen, im Inland sofort in Haft nehmen müssen ich könnte auch sagen: fünf Jahre – so für die Binnen- und für die Zeit des Asylverfahrens in Haft behalten müs- grenzkontrollen in Deutschland eingetreten ist wie der sen. heutige Bundesinnenminister. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Bernd neten der FDP – Martin Erwin Renner [AfD]: Baumann [AfD]: Aber Sie haben nichts er- Das ist der Ankündigungsminister!) reicht! – Beatrix von Storch [AfD]: Bla, bla!) Mir ist ziemlich egal, welche Bezeichnung ein solches Niemand! Und da fanden ganz andere Diskussionen statt. Programm bekommt. Sie wissen, dass Zeitungsredaktio- nen sich das nicht diktieren lassen. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Sie haben doch resigniert!) (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Aber wichtig Deshalb habe ich die Bundespolizei angewiesen – ich ist, dass man es macht!) (B) bin dankbar, dass der Präsident der Bundespolizei anwe- Aber eines dürfen Sie mir glauben: Nächste Woche werde (D) send ist und dieser Diskussion folgt; die Leute dort ma- ich einen entsprechenden Gesetzentwurf für die Haft bei chen nämlich einen schweren Dienst –, Wiedereinreise trotz Wiedereinreisesperre – Haftandro- hung drei Jahre – vorlegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Weiß die SPD dass wir jetzt an allen deutschen Grenzen, nicht nur an der schon davon?) deutsch-österreichischen Grenze wie seit einigen Jahren, die Grenzkontrollen massiv verschärfen. Es geht darum, dass diese Menschen, wenn sie Asyl be- antragen, in Haft kommen. (Martin Erwin Renner [AfD]: Besonders an der dänischen Grenze! Das ist wichtig!) Ich sage Ihnen, warum ich da ganz nachhaltig dranb- leibe, hartnäckig und ohne jede Kompromissbereitschaft: Jetzt sage ich Ihnen: Diese Maßnahme, die nicht ein- Es gibt ja noch einige, die in meiner Zeit abgeschoben mal 24 Stunden in Kraft ist, zeigt bereits jetzt ihre Wir- worden sind, zum Beispiel ein ehemaliger Leibwächter. kung. (Konstantin Kuhle [FDP]: Wer hat das ge- (Beatrix von Storch [AfD]: Ist nicht zu fassen!) macht?) Wir haben bis jetzt mit gleicher Begründung – Wieder- Wenn solche Leute wieder erscheinen – ich glaube, wir einreisesperre – zehn Fälle. haben parteiübergreifend einen großen Konsens, dass Straftäter mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die ein (Dr. Christian Wirth [AfD]: Warum nicht frü- bestimmtes Strafmaß, nämlich sechs Monate, in der Ver- her?) urteilung überschreiten, in unserem Lande nichts zu su- Sechs Personen wurden zurückgeschickt, und vier Fälle chen haben –, werden noch bearbeitet – in nicht einmal einem Tag, meine Damen und Herren. (Beatrix von Storch [AfD]: Auch die mit posi- tiven Sozialprognosen?) (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Mehr als an der müssen sie ausgewiesen werden. österreichischen Grenze im Monat!) Das zeigt, wie notwendig das ist. Solange die Europä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ische Union nicht in der Lage ist, die Außengrenzen wirk- der SPD) sam zu schützen, so lange müssen wir Binnengrenzkon- Wir müssen das mit allem Nachdruck machen, und trollen durchführen. zwar rechtsstaatlich einwandfrei und in einer seriösen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15671

Bundesminister Horst Seehofer (A) Diskussion. Der Herr Miri ist von zwei hochqualifizierten tig, hier auf höchster Ebene der deutschen Politik und so, (C) Entscheidern des BAMF angehört worden – intensiv an- dass es das ganze Land hört. gehört worden –; die sind extra dorthin gefahren. Das heißt, wir achten sehr darauf, dass Recht und Gesetz ein- Kaum drei Wochen später raffte sich die Bundesregie- gehalten werden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, rung endlich auf. Mit großem medialem Getöse wurde wir müssen in unserem Lande den Konsens haben, dass erstmals ein Clanchef abgeschoben. Sie sehen, meine Da- solche Personen außer Landes gebracht werden müssen, men und Herren: Die AfD ist die treibende Kraft hier im Land. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ich glaube, da ist keiner dagegen!) (Beifall bei der AfD – Thorsten Frei [CDU/ CSU]: So ein Quatsch! Einbildung ist auch eine weil wir sonst das Vertrauen der Bevölkerung in die Bildung! – Stephan Thomae [FDP]: Sie fehlten Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaats zerstören. uns noch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir decken Ihr Versagen auf, wie es Millionen Wähler Ich sage Ihnen noch eines hinzu: Wenn solche Fälle wollen. weiterhin passieren würden – es muss unser gemeinsames Interesse sein, sie zu verhindern –, dann wird, ob wir es Bei dem jetzt abgeschobenen Clanchef handelt es sich wollen oder nicht – ich möchte es nicht –, früher oder um Ibrahim Miri aus dem Miri-Familienclan aus dem später die Diskussion aufkommen, ob wir unser liberales tiefsten Orient. Allein in Bremen hat der 3 000 Mitglieder, Asylrecht so belassen können, wie wir es heute haben. davon ist über die Hälfte bereits straffällig geworden. Umsatz mit Drogen: 50 Millionen Euro, dazu Einnahmen (Beatrix von Storch [AfD]: Nein, das können aus Raub, Schutzgelderpressung, Zwangsprostitution, wir eben nicht! Sehr schöne Erkenntnis! Ge- Waffenhandel, obendrein noch Mord, zusätzlich 7 Millio- nau, das muss weg!) nen Euro durch Plünderung deutscher Sozialkassen. Was für eine Verachtung für Deutschland und seine Gesetze! Das sehe ich als Gefahr. Deshalb müssen alle wahrhafti- Und Sie alle haben jahrzehntelang zugeschaut. gen Demokraten zusammenstehen, um solche Fälle nicht im emotionalen Gegeneinander, sondern im demokrati- (Marianne Schieder [SPD]: Das ist eine Un- schen Miteinander zu lösen. verschämtheit!) Ich danke Ihnen. Was für eine peinliche Kapitulation vor diesen interna- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tionalen Verbrecherbanden, meine Damen und Herren! (B) bei Abgeordneten der SPD – Beatrix von (Beifall bei der AfD) (D) Storch [AfD]: Asyl ist ein Gnadenrecht!) Wenige Wochen nach meiner Bundestagsrede wurde Vizepräsidentin Petra Pau: Clanchef Ibrahim Miri endlich in einer Nacht-und-Ne- bel-Aktion aus dem Land geworfen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bernd Baumann für die AfD-Fraktion. (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der AfD) NEN]: Nur deswegen, nicht?) Zwölf Polizisten waren nötig, die ihn aus dem Land ge- Dr. Bernd Baumann (AfD): worfen und nach Beirut ausgeflogen haben, im Privatjet. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fünf Das hat alleine 65 000 Euro gekostet. Monaten sprach die AfD, sprach ich selber das Thema der kriminellen Großclans hier an. Bis dahin hatten alle Par- (Ute Vogt [SPD]: Na, hätte man mit ihm mit- teien das Problem hier im Bundestag totgeschwiegen, laufen sollen?) über Jahrzehnte. Miri bekam obendrein eine strikte Wiedereinreisesperre, (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist Quatsch! – praktisch totales Deutschland-Verbot. Herr Innenminister Thorsten Frei [CDU/CSU]: Quatsch!) Seehofer, Sie feierten sich vor Kameras als Held der Stun- de und jubelten: Ein spektakulärer Erfolg. – Die „Bild“- Dabei ging es um Mahmoud Al-Zein, den Chef einer Zeitung triumphierte: Deutschlands gefährlichster Clan- orientalischen schwerkriminellen Großfamilie mit über chef verhaftet. – Und selbstgerecht sagten Sie noch, Herr 15 000 Mitgliedern. Er hatte seinen ersten Abschiebebe- Seehofer: Das ist der Rechtsstaat. scheid erhalten vor – 31 Jahren. Kein Einzelfall: Schwerstverbrecher werden hier nicht abgeschoben. (Dr. Eva Högl [SPD]: Den Sie verachten! – Ge- Mehr noch: Die Bundesregierung ließ bewusst zu, dass genruf des Abg. Dr. Christian Wirth [AfD]: die mafiaartigen arabischen Großclans auf über Den Sie kaputtgemacht haben!) 200 000 Mitglieder anschwellen konnten, durch offene Und nur wenige Wochen später spaziert ein gut erholter Grenzen, Herr Seehofer, und Ihre Familienzusammenfüh- Ibrahim Miri fröhlich zurück über Deutschlands Grenze. rung. Eine gigantische Zahl! Bedenken Sie nur einen Mo- Mehr noch: Er meldet sich auch noch frech beim Amt, ment: Die gesamte deutsche Polizeimacht hat zusammen 270 000 Kräfte, wenn Sie alle zusammenzählen. Wir, die (Ute Vogt [SPD]: Genau, und sitzt jetzt in AfD, haben Sie eindringlich gewarnt, und zwar rechtzei- Haft!) 15672 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Bernd Baumann (A) klagt über Verfolgung, fordert Asyl und beschimpft die Bevor ich zu den Herausforderungen komme, möchte (C) Polizei. Er verhöhnt unseren Staat, er verhöhnt unsere ich drei Dinge positiv hervorheben. Ich möchte für die Gesetze, und er verhöhnt auch Sie, Herr Seehofer. Denn SPD-Bundestagsfraktion die Gelegenheit wahrnehmen, das ist Ihr Rechtsstaat: eine Farce, impotent und insge- Ihnen, Herr Präsident Romann, und der gesamten Bun- samt wehrlos. despolizei ganz herzlich für das unglaubliche und vor- bildliche Engagement in dem gesamten Sachverhalt Miri, (Beifall bei der AfD) sowohl bei der Abschiebung als auch jetzt bei der weite- Der Fall Miri – das müssen wir uns klarmachen – ist ren Verhandlung, sowie dem Bundeskriminalamt und al- doch nur die Spitze eines Eisbergs. Über ein Drittel – über len beteiligten Sicherheitsbehörden zu danken. ein Drittel! – aller mühsam Abgeschobenen kommt gleich wieder zurück. Wie wollen Sie die denn draußenhalten, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der die Verbrecher? Das Urübel der deutschen Migrations- FDP – Dr. Christian Wirth [AfD]: Trotz Ihrer politik ist, wie auch jüngst der Chef der Deutschen Poli- Politik!) zeigewerkschaft sagte – wörtlich –, dass „wir die Kon- Auch wenn bei diesem Fall viel schiefgelaufen ist: An der trolle über unsere ... Grenzen nahezu vollständig Bundespolizei lag es jedenfalls nicht. aufgegeben haben“. Das ist das Problem. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Das ist richtig!) (Beifall bei der AfD) Und: Er ist in Haft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Solange Sie, Herr Seehofer, die Grenzen nicht Das Amtsgericht Bremen hat einen ganz hervorragenden schützen, können Sie die Verbrecher nicht wirksam drau- Beschluss gefasst. Der Mann ist in Haft auf der Basis ßenhalten; die kommen immer wieder herein, und das unserer Grundlagen und im Rahmen unserer rechtsstaat- Volk muss es ausbaden. Und da wundern Sie sich, wenn lichen Möglichkeiten. Auch das BAMF hat entschieden, die Bürger Sie im Zorn mit Wutmails überkübeln, wun- nämlich dass der Asylantrag offensichtlich unbegründet dern sich, wenn die Emotionen im Netz hochkochen, ist. Das zeigt: Unser Rechtsstaat funktioniert. wundern sich, wenn Polizisten und Soldaten die AfD wählen. Für Ihre Fehler müssen Bürger leiden und Sicher- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem heitskräfte bluten. Sie alle fühlen sich verraten – zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Recht, Herr Seehofer! Natürlich haben wir noch Themen, an denen wir arbei- (Beifall bei der AfD) ten müssen. Das große Thema ist das Thema Grenzen. Wir haben heute Morgen in der Vereinbarten Debatte erst Dabei haben die Deutschen eine Alternative, nämlich über den Mauerfall diskutiert und über die Errungen- (B) den Weg der AfD: Grenzen schützen, Gangster und Ille- schaft, in Europa offene Grenzen zu haben. (D) gale ausweisen. Alle zivilisierten Staaten dieser Welt ma- chen das so. Sie nennen das „rechtsradikal“; wir nennen (Beatrix von Storch [AfD]: Verwechseln Sie das den einzig vernünftigen Weg zurück zu Frieden, Ord- doch bitte nicht die Mauer mit der Grenze! nung und Sicherheit in Deutschland. Das ist doch lächerlich! Das hat doch nichts miteinander zu tun! Die Bildungskatastrophe (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Deutschland war in diesem Land zeigt sich hier! Mauer und noch nie so sicher wie heute!) Grenze!) Das letzte Wort haben Gott sei Dank die Wähler. Das ist ein Zeichen des geeinten Europas; Freiheit und (Beifall bei der AfD – Thorsten Frei [CDU/ Freizügigkeit sind ein hohes Gut. CSU]: Märchenerzähler!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle, wie wertvoll und wichtig die offenen Grenzen sind; aber wir Vizepräsidentin Petra Pau: wissen auch, dass diese offenen Binnengrenzen nur zu Das Wort hat Dr. Eva Högl für die SPD-Fraktion. bewahren und zu erhalten sind, wenn wir endlich sichere EU-Außengrenzen bekommen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Christian Wirth [AfD]: Ach, wirklich?) Dr. Eva Högl (SPD): Darüber sprechen wir eigentlich schon viel zu lange. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Fall Miri ist Anlass für politischen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie rechtlichen und auch gesetzgeberischen Handlungsbe- bei Abgeordneten der AfD) darf. Denn wenn ein rechtskräftig verurteilter abgescho- Der Hauptauftrag für die neue EU-Kommission ist, diese bener Straftäter mit Einreise- und Aufenthaltsverbot of- Aufgabe jetzt endlich zu erledigen. Das ist eine gemein- fensichtlich ohne größere Schwierigkeiten wieder nach same Aufgabe und eine gemeinsame Kraftanstrengung Deutschland einreist, dann haben wir ein Problem; das für uns alle. Wenn wir die offenen Grenzen bewahren muss man ganz klar so adressieren. wollen, dann muss die EU-Außengrenze klar gesichert (Beatrix von Storch [AfD]: Ist nicht wahr? sein und kontrolliert werden. Meine Güte!) Wir als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen den Aber Ihre Vorschläge sind weder eine Alternative noch Bundesinnenminister auch darin, die deutschen Grenzen ein Beitrag zur Lösung. jetzt besser zu kontrollieren. Wir haben keine andere Al- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15673

Dr. Eva Högl (A) ternative. Das ist eine konsequente Reaktion; das unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) stützen wir. Ich sage aber auch direkt dazu: Wir müssen der CDU/CSU) alles dafür tun, dass das nur eine vorübergehende Maß- nahme ist. Daran haben wir alle gemeinsam ein Interesse, Vizepräsidentin Petra Pau: wenn wir die offenen Grenzen bewahren wollen. Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Linke. der CDU/CSU und des Abg. Grigorios (Beifall bei der LINKEN) Aggelidis [FDP]) Zu dem anderen Komplex „Asylrecht, Aufenthalts- Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): recht“ möchte ich zunächst betonen, dass das humanitäre Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Asylrecht, unser Rechtsstaat, die sorgfältige Prüfung der und Herren! Rechtsstaatlichkeit bedeutet unter anderem, Behörden, die unabhängigen Entscheidungen der Gerich- sich für ein rechtsstaatliches Verfahren unabhängig von te, dass all das ein ganz hohes Gut ist. Das alles genießt zu der Person einzusetzen. Herr Miri gibt an, dass ihm im Recht viel Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. Libanon von schiitischen Milizen aufgrund einer Blut- Aber genau deshalb dürfen wir es nicht zulassen – und Sie fehde Gefahr für Leib und Leben drohe. Deswegen habe haben genau das Richtige gesagt –, dass uns eine Person er nach seiner Rückkehr einen Asylantrag in Deutschland wie Miri oder andere Straftäter auf der Nase herumtan- gestellt. zen. Genau das dürfen wir nicht zulassen. Was auch immer Herr Miri in der Vergangenheit getan (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat: Er beruft sich hier auf ein Menschenrecht nach der der CDU/CSU) Europäischen Menschenrechtskonvention. Und selbst- verständlich müssen die ihm drohenden Gefahren in ei- Deswegen müssen wir hier gemeinsam auch die Lücken nem rechtsstaatlichen Verfahren sorgfältig geprüft wer- identifizieren, die wir gegebenenfalls im Aufenthalts- den – was denn sonst? recht, im Asylrecht, im Strafrecht und im Verfahrensrecht noch haben. Das werden wir sorgfältig prüfen, aber wir (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch werden es auch zügig prüfen und hier gegebenenfalls Vor- [AfD]: Und wie oft?) schläge machen und diese beraten. Es geht hier um die Unteilbarkeit der Menschenrechte. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Da gibt es nichts zu Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention prüfen!) verbietet jegliche Form der Folter oder der unmenschli- chen Behandlung. Diese Norm gilt selbst in Notstands- (B) Ich möchte hervorheben, dass das Amtsgericht Bremen und Kriegszeiten, und sie gilt auch für schwere Verbre- (D) bei seinem Beschluss über die Sicherungshaft bereits die cher. neuen Rechtsgrundlagen angewandt hat, die wir hier im Juni gemeinsam beraten und beschlossen haben. Es hat (Beifall bei der LINKEN) nämlich als Haftgrund sowohl die Fluchtgefahr als auch Das ist ein Kern unserer europäischen Menschenrechts- die unerlaubte Wiedereinreise bejaht. Das sind die Grund- ordnung. Und wenn ein Herr Wendt von der Polizeige- lagen, die wir hier gelegt haben. In diesem Sinne müssen werkschaft erklärt, es müsse mit solchen Rechten „auch wir auch weiter daran arbeiten. mal gut sein“, dann positioniert er sich selbst außerhalb Ein Punkt bleibt, Herr Seehofer – das ist ein politischer der Rechtsordnung, die er durch Herrn Miri bedroht sieht. Punkt, über den wir auch sprechen müssen –: Wir müssen Es spricht gerade für unseren Rechtsstaat, dass auch ein natürlich die Abschiebungen intensivieren – Bund und Herr Miri einen Asylantrag stellen kann Länder sind da gemeinsam gefragt; wir müssen da noch (Beatrix von Storch [AfD]: Es spricht für un- besser werden –, und wir müssen auch Gespräche mit den sere Dämlichkeit!) Heimatländern führen über die Ausstellung von Pässen und Reisedokumenten. Auch das ist ganz oben auf unse- und dieser ebenso gewissenhaft geprüft werden muss wie rer politischen Agenda. der von jeder anderen Person auch. Wenn die FDP dies infrage stellt, dann trägt sie damit zur Delegitimierung (Beifall bei der SPD) und Unterminierung des Rechtsstaates bei. Dafür sollten Sie sich schämen! Zum Schluss möchte ich für die SPD-Bundestagsfrak- tion betonen, dass uns eins ganz wichtig ist: Auch so ein (Beifall bei der LINKEN) gravierender Fall wie der Fall Miri – es gibt ja weitere Fälle – darf niemals ein Grund dafür sein, dass wir unsere Nach allem, was ich gehört habe, war Herr Miri in der Grundsätze über Bord werfen: weder offene Grenzen Vergangenheit bestimmt kein Chorknabe. noch rechtsstaatliche Prinzipien. Aber das Vertrauen in (Beatrix von Storch [AfD]: „Kein Chorknabe“! den Rechtsstaat, in Behörden, in unabhängige Gerichte, Meine Güte!) auch in uns als Politikerinnen und Politiker, in die Politik, hängt natürlich davon ab, dass der Rechtsstaat handlungs- Doch eine rechtlich fragwürdige Nacht-und-Nebel-Ab- fähig ist, und dazu wollen wir alles, was uns hier möglich schiebung eines Staatenlosen in den Libanon ist mit Si- ist, auch beitragen. cherheit der falsche Umgang damit. Denn Herr Miri hat seine Strafe für frühere Verbrechen abgesessen. Wenn er Vielen Dank. weiterhin Straftaten begehen sollte, dann gehört er dafür 15674 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Friedrich Straetmanns (A) selbstverständlich erneut zur Rechenschaft gezogen – Ihrer Fraktion vermitteln. Auch wenn es im Einzelfall (C) aber bitte in Deutschland; denn hier lebt er seit seinem manchmal schwerfällt: Die Grundsätze des Rechtsstaates 13. Lebensjahr. Er ist in gewisser Weise auch ein Produkt müssen unverrückbar sein. Was Sie hier veranstalten, ist unserer Gesellschaft. einer Partei, die sich auf den Liberalismus beruft, zutiefst unwürdig. (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach, so ein Quatsch! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU – (Beifall bei der LINKEN – Thorsten Frei Lachen bei Abgeordneten der AfD) [CDU/CSU]: Das ist gesunder Menschenver- Staatenlose Familien wie die von Herrn Miri kamen in stand! Das versteht Die Linke natürlich nicht! – den 70er- und 80er-Jahren als Bürgerkriegsflüchtlinge Dr. Christian Wirth [AfD]: 30 Jahre Mauerfall!) aus dem Libanon nach Deutschland. Mit dieser Aktuellen Stunde zeigt die FDP nicht ihre Sorge um den Rechtsstaat, sondern – so sehe ich es – nur (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist ja unglaub- ihre Sorge um schwindende Zustimmung unter den Wäh- lich! – Zuruf von der AfD: Auf so was muss lerinnen und Wählern. man erst mal kommen! – [CDU/ CSU]: Ist er jetzt auch noch ein Opfer? Das (Konstantin Kuhle [FDP]: Das sagen die Rich- ist ja unglaublich!) tigen! Wartet mal ab! – Thorsten Frei [CDU/ Doch viele bekamen wegen ihrer ungeklärten Staatsange- CSU]: Eine Schwalbe macht noch keinen Früh- hörigkeit nur eine Duldung. Das heißt, sie haben seit ling!) Jahrzehnten keine Aussicht auf einen gesicherten Aufent- Und deswegen fischt sie tief in der trüben Brühe des haltsstatus, kein Recht auf Arbeit und Ausbildung. Wer rechten Populismus. Was Sie hier finden werden, wird aber Menschen jahrzehntelang in die Kettenduldung Sie auf Dauer aber nicht glücklich machen. zwingt, muss sich nicht wundern, wenn einige aus Man- gel an Perspektiven in die Kriminalität abgleiten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beatrix von Storch [AfD]: Ja, klar! Die armen (Beifall bei der LINKEN – Konstantin Kuhle Opfer! Die müssen Clankriminelle werden!) [FDP]: 78 Stimmen drüber in Thüringen! – Ge- genruf der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ Das sind Folgen des Versagens der bundesdeutschen In- DIE GRÜNEN]: Da seid ihr aber nicht stolz tegrationspolitik seit den 70er-Jahren. Lassen Sie uns we- drauf, oder? – Gegenruf des Abg. Konstantin nigstens heute nicht die gleichen Fehler wiederholen! Kuhle [FDP]: Besser als 5!) (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund (B) (D) [CDU/CSU]: Genau das passiert! – Weitere Zu- Vizepräsidentin Petra Pau: rufe von der CDU/CSU – Dr. Christian Wirth Das Wort hat Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion [AfD]: Wir sind dran schuld, dass die kriminell Bündnis 90/Die Grünen. sind! Aha!) Dass Sie von der FDP mit dieser Aktuellen Stunde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) billige antidemokratische und antirechtsstaatliche Res- sentiments befördern, ist kein Ausrutscher, das ist nur Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die schäbige Krönung Ihres aktuellen Kurses. NEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Grigorios Aggelidis [FDP]: Ich weiß ja nicht, Herren! Es gibt unendlich viele spannende Themen hier in welcher Welt Sie groß geworden sind! Aber im Deutschen Bundestag, zum Beispiel das ernste Prob- echt! Das muss auf dem Mond gewesen sein!) lem der Clankriminalität oder menschenverachtende Ich erinnere nur an Ihre unheilige Allianz mit der AfD für Schlepperbanden. Um all das, Herr Kollege Buschmann, einen Anti-Merkel-Untersuchungsausschuss zur Flücht- geht es Ihnen in der Aktuellen Stunde heute leider nicht; lingspolitik oder aktuell an den Vorwurf von Frau (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sie haben nicht Teuteberg an Innenminister Seehofer, dieser ermutige zugehört!) „zur Wirtschaftsmigration“, weil er ein Viertel der aus Seenot geretteten Flüchtlinge übernehmen möchte. Wer das kann man schon am Titel ablesen. Dass Sie die Zeit hätte gedacht, dass sich Horst Seehofer einmal vor rech- Ihrer Regierungsverantwortung überspringen, indem Sie ten Angriffen aus den Reihen der FDP von uns in Schutz bei 1998 anfangen, spricht Bände, meine Damen und nehmen lassen muss? Herren. (Heiterkeit der Abg. Dr. Eva Högl [SPD] – Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ruf von der FDP: Kabarett! – Beatrix von und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Storch [AfD], an Bundesminister Horst Seeho- der SPD – Konstantin Kuhle [FDP]: Aber nicht fer gewandt: Der Mann stellt sich schützend vor in Bremen! – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sie!) Wann haben wir denn in Bremen regiert, Herr Kollege?) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, im Rechtsausschuss halten Sie doch stets die Rechtsstaat- Wir diskutieren hier einen singulären Fall, und der ist lichkeit hoch, und das begrüße ich ausdrücklich. Diesen für die Legislative nie ein guter Ratgeber. Oft werden Maßstab sollten Sie jedoch dringend einmal dem Rest solche Debatten für den vermeintlich schnellen populisti- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15675

Dr. Konstantin von Notz (A) schen Punktgewinn geführt; aber es sind genau diese illegal in dieses Land einzureisen bzw. wieder einzurei- (C) Symboldebatten, die unsere Gesellschaft spalten und sen, Frau von Storch. Aber es lehrt uns eben auch, dass uns alle keinen Deut voranbringen, liebe Kolleginnen unser Rechtsstaat funktioniert. und Kollegen. (Beatrix von Storch [AfD]: Er bricht zusam- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men!) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Denn wer das Gesetz in dieser Weise überschreitet, kann der SPD) festgenommen werden. Der Rechtsstaat funktioniert so- Ihr durchsichtiges Ziel, liebe Kolleginnen und Kolle- gar so gut, dass Herr Miri auch noch einen Asylantrag gen der FDP, war es, den Innenminister hier heute vorzu- stellen darf – der dann aber selbstverständlich auch zügig, führen. sehr zügig, abgelehnt werden kann. (Konstantin Kuhle [FDP]: Das ist unsere ver- (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) fassungsmäßige Aufgabe!) So funktioniert das im Rechtsstaat, liebe AfD – willkom- Doch Horst Seehofer nimmt Ihre Vorlage dankbar auf und men hier! setzt seine Dauererzählung von den notwendigen natio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nalen Grenzkontrollen im Schengenraum darauf. In aus- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- drücklich beide Richtungen sage ich im Namen meiner ordneten der CDU/CSU) Fraktion: Dieser Fall eignet sich sowohl für populistische Grenzkontroll- als auch für populistische Asyldebatten Man kann das alles abschaffen wollen. Aber ich sage überhaupt nicht, meine Damen und Herren. Ihnen in aller Deutlichkeit: Ich bin dankbar für diesen Rechtsstaat, in dem wir heute nach all den Verwerfungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der deutschen Geschichte und bei der LINKEN) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das musste ja In der Sache geht es nämlich um den Fall eines kommen!) Mannes, der wegen Drogenhandels zu sechs Jahren Haft verurteilt worden ist und der vom Oberlandesgericht Bre- leben, meine Damen und Herren. Der Minister hat es ge- men nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Haftstrafe sagt: Der Rechtsstaat gilt auch für seine Feinde. – Frau auf Bewährung entlassen wurde. Bald nach dieser Ent- von Storch, weil Sie hier die ganze Zeit hereinrufen: Ich lassung wurde er abgeschoben und ist dann – leider ge- sage Ihnen: Sie sägen an dem Ast, auf dem Sie sitzen. nauso bald – wieder illegal nach Deutschland eingereist. (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, genau!) (B) Bei seinem Besuch des BAMF, wo er Asyl beantragt hat, (D) wurde er festgenommen und sitzt derzeit in Abschiebe- Ich sage Ihnen auch: Wir verteidigen den Rechtsstaat – haft. auch für seine Feindinnen und Feinde. (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der AfD) NEN]: Wo hat denn die FDP da ein Problem?) Natürlich müssen wir wissen, wer in unser Land ein- Es könnte übrigens auch Strafhaft sein; aber über diese reist und wer hier Asyl beantragt, und wir müssen die Fragen entscheiden richtigerweise nicht wir, sondern die Einreiseverbote durchsetzen, und Verstöße müssen sank- Justiz. tioniert werden. Genau das ist hier geschehen. Wenn die- ser Fall für Horst Seehofer ein Lackmustest für die wehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hafte Demokratie ist, dann kann man nur sagen: Der Test bei der SPD und der LINKEN) ist bestanden. Diese Systematik nennt man Gewaltenteilung, und sie ist (Beifall der Abg. Dr. [CDU/ ein bewährtes rechtsstaatliches Prinzip, meine Damen CSU]) und Herren. Aber dann, Herr Minister, ist es schlicht widersprüch- So weit die Fakten. Was lehrt uns das? Es lehrt uns lich, wenn man unseren Rechtsstaat ständig madig macht erstens, dass Clankriminalität und Drogenhandel in un- mit Begriffen wie „Herrschaft des Unrechts“ oder der serem Rechtsstaat zu sehr empfindlichen Haftstrafen füh- Forderung nach einem Zurück zu innereuropäischen ren, zweitens, dass unser Rechtsstaat auch diesen zu lan- Grenzregimen, die den Schengenraum bis zur Unkennt- gen Haftstrafen verurteilten Menschen die Chance zur lichkeit zerschneiden. Meine Damen und Herren, wer die Rehabilitierung und Bewährung bietet. Es lehrt uns drit- Debatte so führt, agiert rechtspolitisch und europapoli- tens, dass Abschiebungen, auch im rot-rot-grünen Bre- tisch unter seinem Niveau. men, durchgeführt werden, und viertens, dass es aller Grenzkontrollen und Schleierfahndungen zum Trotz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beatrix von Storch [AfD]: Welche Grenzkon- Wir sollten intensiv und konstruktiv – den Ball nehme trollen?) ich gerne auf, Herr Seehofer – miteinander über die Be- einigen Menschen tatsächlich immer noch gelingt, kämpfung der organisierten Kriminalität und Clankrimi- nalität, über die Beschleunigung von Asylverfahren und (Zurufe von der AfD: Allen!) über die entschiedene, effektive und rechtsstaatliche Ver- 15676 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Dr. Konstantin von Notz (A) besserung des Schutzes der europäischen Außengrenzen Mit diesem Gesetz haben wir in § 62 des Aufenthaltsge- (C) diskutieren. Aber überlassen wir doch bitte die Einzel- setzes die Voraussetzungen geschaffen, dass jemand wie fälle Herr Miri auch tatsächlich in Sicherungshaft genommen werden kann. Lieber Herr Bundesminister, wir schauen (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist ein Clan, uns ganz genau an, ob wir weitere gesetzgeberische kein Einzelfall!) Schritte gehen müssen, damit wir für derartige Fälle auch unserer Justiz und unserem Rechtsstaat! Er ist dafür sehr, in der Zukunft gerüstet sind. sehr gut gerüstet. (Beifall bei der CDU/CSU) Ganz herzlichen Dank und einen schönen Abend. Das ist die Botschaft, die vom heutigen Abend ausgehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, soll. bei der SPD und der LINKEN) Ich will an dieser Stelle auf eines hinweisen: Ich glau- be, eine Botschaft muss auch sein, dass wir alles dafür tun Vizepräsidentin Petra Pau: müssen, dass wir gar nicht erst an den Punkt kommen, an Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/ dem wir heute sind. CSU-Fraktion. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie regieren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) doch!) Figuren wie einem Ibrahim Miri darf es nicht erlaubt sein, Thorsten Frei (CDU/CSU): in Deutschland über Jahre und Jahrzehnte hinweg mit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! seinem kriminellen Familienclan Strukturen aufzubauen Zunächst einmal: Ich bin dem Bundesinnenminister sehr und diese anzuführen, zu versuchen, unserem Rechtsstaat dankbar, dass er den Fall Miri von Anfang an zur Chef- auf der Nase herumzutanzen. sache gemacht hat. Ich kann für unsere Fraktion nur sa- gen: Alles das, was der Bundesminister – nicht nur heute, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sondern auch in den vergangenen Tagen – angekündigt Beatrix von Storch [AfD]: Spricht der Vertreter hat, findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. der Regierungsfraktion!) Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich fand es sehr gut, Im Übrigen brauchen wir dafür nicht die AfD. dass insbesondere Sie, Frau Högl, in der Debatte einmal (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wir haben das klargestellt haben, was es mit dem Grenzschutz eigentlich Thema eingebracht!) (B) auf sich hat. Da muss man einfach die Dinge auch ein (D) Stück weit geraderücken: Die Europäische Union ist an- Nein, lieber Herr Baumann, wir brauchen Sie nicht dafür. getreten mit dem Versprechen, die Außengrenzen gegen Wir haben mehrfach Debatten auch hier im Deutschen irreguläre Migration, gegen Kriminelle zu schützen. Das Bundestag gehabt. Die CDU/CSU-Fraktion hat im Sep- war die Geschäftsgrundlage dafür, dass stationäre Bin- tember einen Zwölf-Punkte-Plan verabschiedet gegen nengrenzkontrollen abgeschafft wurden. Clankriminalität, (Beatrix von Storch [AfD]: Ergo?) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ach was!) Damit ist doch klargestellt, dass diese beiden Dinge zu- weil wir ganz genau wissen: Wir müssen im Familien- sammenhängen. Wenn wir es nicht schaffen, einen effek- recht ansetzen, im Sozialrecht, im Aufenthaltsrecht, im tiven, einen starken, einen effizienten Schutz der EU-Au- Strafrecht. ßengrenzen hinzubekommen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der AfD) Wir brauchen einen gesamthaften Ansatz. Und vor allen dann brauchen wir den Schutz der Binnengrenzen, weil es Dingen müssen wir da ansetzen, um den Schutz unserer Bevölkerung geht, und dem wer- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie haben nirgend- den wir gerecht werden, meine sehr verehrten Damen und wo angesetzt! Sie versagen auf ganzer Linie!) Herren. wo es am effektivsten ist. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Wann? – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wie? – Beatrix von Storch (Dr. Christian Wirth [AfD]: Artikel 16a [AfD]: Kompletter Grenzschutz!) Grundgesetz! Machen Sie die Grenzen zu!) Der zweite Punkt. Wenn man über die Frage des funk- Wir müssen der Spur des Geldes folgen. Und da gibt es tionierenden Rechtsstaats spricht, dann ist zu Recht auch weitere Notwendigkeiten. Seit dem 1. Juli 2017 gilt darauf hingewiesen worden: Ja, der Rechtsstaat funktio- das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögens- niert. Das zeigt dieser Fall auch. Ich fand nur interessant, abschöpfung. Da müssen wir nachschärfen, beispielswei- dass diese Aussage auch von Fraktionen gekommen ist, se indem wir die Katalogstraftatbestände weiter auswei- die im Juni dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchset- ten, indem wir die Regelungen für die Beweislastumkehr zung der Ausreisepflicht hier nicht zugestimmt haben. nachschärfen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Christian Wirth [AfD]: Wird Zeit!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15677

Thorsten Frei (A) indem wir Richter und Staatsanwälte entsprechend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) schulen. ordneten der SPD) (Dr. Christian Wirth [AfD]: Und schützen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das sind die Ansatzpunkte, um die wir uns kümmern Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hess für die müssen. Dann ist der Einzelfall auch eine Lehre für die AfD-Fraktion. Zukunft, dass wir daraus konstruktiv etwas weite- rentwickeln können. Und genau das machen wir. (Beifall bei der AfD)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Martin Hess (AfD): der SPD – Beatrix von Storch [AfD]: Die Frage Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- ist, wann Sie das machen! – Weiterer Zuruf von nen und Kollegen! Herr Frei, falls Sie es noch nicht mit- der AfD: Jahrelang versagt!) bekommen haben: Sie stellen seit ewigen Zeiten den In- – Also, dieser Blödsinn, der da immer reingerufen wird, nenminister und hätten all das, was Sie hier vorgebracht der regt mich wirklich auf. Wenn Sie sich mal an den haben, schon lange umsetzen können. Handeln statt Re- Fakten orientieren, dann wissen Sie, dass wir im sicher- den ist das Gebot der Stunde! sten Deutschland aller Zeiten leben. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wi- Der Fall Miri belegt für jeden klar erkennbar, meine derspruch bei der AfD) sehr verehrten Damen und Herren: Diese Bundesregie- Orientieren Sie sich an den Fakten, bevor Sie so einen rung ist nicht in der Lage, unsere Grenzen zu schützen. Blödsinn hier die ganze Zeit reinreden! Sie erzählt den Bürgern unseres Landes die Unwahrheit, Ich möchte mich wirklich nicht zu sehr mit Ihnen ab- (Marianne Schieder [SPD]: Das tun Sie!) geben – es lohnt sich überhaupt nicht –, ich will mich wenn sie das Gegenteil behauptet. Ihre hochgelobte lieber konstruktiv mit der Zukunft beschäftigen. Deswe- Schleierfahndung, Herr Innenminister, hält keinen einzi- gen finde ich es gut, dass die FDP eine solche Debatte gen Migranten auf. Denn wenn ein Illegaler bei dieser aufgesetzt hat. Ich würde einfach nur darum bitten, dass Fahndung angetroffen wird, in diese Kontrolle kommt, wir wirklich diese Gemeinsamkeit, die sich hier ja durch- kann er überhaupt nicht mehr zurückgeschickt werden, aus auch gezeigt hat, auch durchhalten, wenn es darum weil er sich schon im Inland befindet. geht, der Bundespolizei und den Sicherheitsbehörden (B) auch die Instrumente an die Hand zu geben, die sie brau- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (D) chen, um solcher Kriminalität auch tatsächlich habhaft Ihre bilateralen Abkommen bringen auch nahezu werden zu können. nichts. Seit Sommer 2018 wurden nur 34 Personen zu- rückgewiesen, aber fast 30 000 abgeschobene Migranten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind nach Deutschland zurückgekehrt und haben erneut Wir wissen doch, dass wir es gerade im Bereich der Clan- einen Asylantrag gestellt. Diese Zahlen zeigen das volle kriminalität mit einem Maß an Konspiration zu tun haben, Ausmaß Ihres Versagens beim Grenzschutz. Der Fall Miri das beispielsweise den Einsatz von V-Leuten nicht er- ist dabei nur die oberste Spitze des Eisbergs. möglicht und vieles andere auch nicht, dass beispielswei- se heute schon präzise Technologien, Verschlüsselungs-, (Marianne Schieder [SPD]: Bei so einem Un- Anonymisierungstechnologien, eingesetzt werden, die zu sinn fällt einem gar nichts mehr ein!) knacken den Behörden größte Mühe bereitet. Im Zeitalter Wenn sich jetzt hier alle Altparteien hinstellen und neuer Mobilfunktechnologien – 5G-Standard und mehr – ernsthaft diesen Einzelfall beklagen, aber gleichzeitig brauchen wir eine Neuaufstellung auch für die Sicher- weiter für eine Politik der offenen Grenzen eintreten, heitsbehörden. dann ist das an Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbieten. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN]: Schreiben Sie einen Brief an den Unsere Grenzen – das ist die Realität – sind offen wie ein BGH!) Scheunentor. Jeder Terrorist und jeder Gewaltverbrecher Das ist nicht das Aufwärmen alter Platten, das ist eine kommt mit dem Zauberwort „Asyl“ in unser Land, und Notwendigkeit in neuen Zeiten. Sie wissen das und lassen es weiter zu. Also hören Sie auf, der Bevölkerung nur Beruhigungs- Vizepräsidentin Petra Pau: pillen zu verabreichen Kollege Frei. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Wer gibt Ihnen denn eine Beruhigungspille?) Thorsten Frei (CDU/CSU): Lassen Sie uns da auch gemeinsam voranschreiten, wie Ihre neuerliche Anordnung zur angeblichen Ver- damit wir wirklich für die Zukunft etwas verbessern kön- schärfung des Grenzschutzes. Auch diese wird wieder nen. mal nicht mehr Sicherheit bringen, weil die Grenzkon- trollen viel zu lückenhaft sind und nicht von langer Dauer Herzlichen Dank. sein werden. Werden Sie endlich Ihrer Verantwortung für 15678 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Martin Hess (A) die Sicherheit und den Schutz unserer Bürger gerecht, greift nur: Fahrerlaubnis entziehen, Fahrzeuge einziehen (C) und beenden Sie diesen Irrsinn! und Strafverfahren mit einem Hard-Time-Urteil folgen lassen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Ihre Politik der offenen Grenzen befeuert die Clankri- minalität. Innenminister Reul aus Nordrhein-Westfalen, Das ist die einzige Sprache, die diese Kriminellen ver- immerhin ein Parteikollege, warnt vor neuen Clans, die stehen. von kriegserfahrenen Kämpfern gegründet werden könn- Wir brauchen auch keine Strategie der 1 000 Nadel- ten. Und das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen stiche, wie in Nordrhein-Westfalen praktiziert. Denn die- warnt vor Verteilungskämpfen zwischen Clans und Asyl- se beeindruckt die Rechtsstaatsverachter nicht. Wir brau- bewerbern. chen eine Strategie des Vorschlaghammers. Wir müssen Aber statt auf diese massiven Gefahren für unsere endlich mit der devoten Zurückhaltung gegenüber Bürger zu reagieren, lassen Sie weiterhin massenhaft Per- Schwerverbrechern aufhören, die das staatliche Gewalt- sonen ohne Identitätspapiere in unser Land. Schluss mit monopol und unsere Gesetze ablehnen, und unseren diesem sicherheitspolitischen Amoklauf! Rechtsstaat offensiv und entschlossen mit allen erforder- lichen Mitteln verteidigen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Bei der Bekämpfung der Clankriminalität sind die Alt- parteien ohnehin schon – man muss das in dieser Deut- Dazu müssen wir ausländische Clankriminelle konse- lichkeit sagen – ein Totalausfall. Die Schwerverbrecher quent abschieben. Die Ausrede, es gebe Abschiebehin- aus den berüchtigten Clans bedrohen Richter, Staatsan- dernisse, gilt hier nicht. Denn diese müssen wir unver- wälte, Polizisten und Zeugen. So machen sie ein rechts- züglich beseitigen. Bundespolizeipräsident Romann hat staatliches Verfahren unmöglich und erschüttern unseren vorgemacht, wie es geht, und ich bedanke mich explizit Rechtsstaat in seinen Grundfesten. für Ihr außerordentliches Engagement. Unter widrigen politischen Rahmenbedingungen machen Sie das, was (Marianne Schieder [SPD]: Wissen Sie eigent- möglich ist. Für diese Leistungen herzlichen Dank! lich, was das ist, ein Rechtsstaat?) (Beifall bei der AfD) Und unser Rechtsstaat, meine sehr verehrten Damen und Herren, erodiert nicht nur; er hat in Teilen schon aufge- Es muss der Grundsatz gelten: „Unser Land, unsere hört zu existieren. Schuld sind einzig und allein die Alt- Regeln“. Wer sich nicht daran hält und unseren Rechts- staat missachtet oder ihn sogar aktiv bekämpft, (B) parteien mit ihrer fatalen Zurückhaltung bei der Bekämp- (D) fung der Clankriminalität. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN]: Das machen Sie!) Sie haben das ganze Ausmaß der Gefahr für unseren der darf nicht länger Teil unserer Gesellschaft sein, der Staat und unsere Gesellschaft offensichtlich immer noch muss unser Land wieder verlassen. nicht vollumfänglich erfasst. Wachen Sie endlich auf, (Beifall bei der AfD) bevor es zu spät ist! Sie bekämpfen Clankriminalität nicht, Sie verwalten sie, und das nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Hess, achten Sie jetzt bitte auf die Zeit. Ihnen fehlt es an Entschlossenheit und Mut, angesichts der herausragenden Bedrohung robuste Maßnahmen zu Martin Hess (AfD): ergreifen. Illegales Clanvermögen muss stärker als bisher unver- (Marianne Schieder [SPD]: Sie sind eine ro- züglich eingezogen werden. buste Maßnahme!) Der Fall Miri hat Ihr Totalversagen in der Sicherheits- Sie reden zwar von Nulltoleranz, aber Sie machen genau politik für jeden klar erkennbar bewiesen. Jetzt muss end- das Gegenteil. In unserem Staat wird zum Beispiel nicht lich gehandelt werden. Tun Sie, was Ihre originäre Auf- verhindert, dass Hochzeitskorsos unsere Autobahnen blo- gabe ist! Schützen Sie die Bevölkerung vor kriminellen ckieren und Schüsse aus scharfen Waffen abgefeuert wer- Clans! den. Stattdessen werden Flugblätter verteilt und die Clan- mitglieder zur Zurückhaltung aufgefordert. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geben Sie sich doch mal Mühe! Das war nix!) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für eine schwache Rede! Mein Gott! Eine Vizepräsidentin Petra Pau: schwache Rede von vorne bis hinten!) Kommen Sie bitte zum Schluss. Das hat nichts mit Nulltoleranz zu tun, das ist lächerlich. Martin Hess (AfD): (Beifall bei der AfD) Setzen Sie das staatliche Gewaltmonopol durch, und Das müssen wir beenden, indem wir endlich effektive sorgen Sie endlich für einen effektiven Grenzschutz, der Maßnahmen ergreifen. Bei illegalen Hochzeitskorsos seinen Namen auch verdient! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15679

Martin Hess (A) (Beifall bei der AfD) Trotzdem ist es richtig, wenn es gefährlich wird, wenn (C) es Probleme gibt, wenn es keine Sicherheit an den EU- Vizepräsidentin Petra Pau: Außengrenzen gibt, dass wir dann eben, wie jetzt auch vom Herrn Innenminister angekündigt und vorgegeben, Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Frak- genauer hinschauen und besser kontrollieren, wenn die tion. Sicherheit an den Außengrenzen so nicht funktioniert. (Beifall bei der SPD) Ziel muss es aber sein, diese offenen Grenzen auch weiter zu erhalten und zu bewahren. Denn kein vernünftig Ute Vogt (SPD): denkender Mensch, liebe Kolleginnen und Kollegen, will Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen doch heute zurück in die Zeit der Nationalstaaten und der und Kollegen! Herr Kollege Hess, es blutet einem das Abschottung, Herz, wenn man bedenkt, dass jemand mit einem so ver- zerrten Weltbild, wie Sie es haben, und mit einer solchen (Beatrix von Storch [AfD]: Was für ein Unfug!) Brutalität in der Sprache noch bis vor Kurzem in meinem in die Zeit, in der jeder für sich sein musste und die am Heimatland Baden-Württemberg Polizistinnen und Poli- Ende dazu geführt hat, dass Staaten gegeneinander Krieg zisten unterrichtet hat. Das haben diese Kolleginnen und führten und Völker aufeinandergehetzt wurden, Kollegen der Polizei wahrlich nicht verdient. (Beatrix von Storch [AfD]: So ein Schwach- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sinn!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weil jeder nur geguckt hat, dass er selbst sich als Stärkster Aus meiner Sicht ist es eine der wichtigsten Heraus- fühlt. forderungen der Innenpolitik, dass wir Sicherheit für die Bevölkerung gewährleisten, gleichzeitig aber auch Frei- Diese Zeiten wünschen sich die einen oder anderen heit für die Bürgerinnen und Bürger bewahren. Ich finde, vielleicht wieder zurück. Aber schauen Sie mal mit offe- es ist Zeichen einer guten Innenpolitik, dass man diese nen Augen ehrlich auf unser Land! Dann sehen Sie ein Balance täglich neu ausrichtet, täglich überprüft und auch Land, das davon lebt, dass wir offene Grenzen haben, immer wieder diese beiden Ziele, Sicherheit auf der einen dass die Wirtschaft weltweit floriert, dass wir weltweit und Freiheit und freiheitliches Leben auf der anderen organisiert sind Seite, in Einklang bringt. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Reden Sie mal von Warum hier von manchen so verzweifelt argumentiert den Clans!) (B) wird, dafür ist vielleicht auch der Grund, dass es jetzt der und dass wir exportieren und importieren. Das bedeutet (D) Bundesregierung gerade am Fall Miri gelungen ist, zu natürlich auch, dass wir keine Mauern um unser Land zeigen, dass wir genau diese Balance im Griff haben. bauen können, sondern, im Gegenteil, dass wir mit allen (Lachen bei der AfD) europäischen Staaten zusammen gefordert sind, unsere gemeinsame europäische Freiheit zu erhalten und ent- Es gibt die rechtsstaatlichen Wege, die wurden ihm sprechend zu stärken. auch offeriert, aber gleichzeitig gibt es den starken Staat, der zügig gehandelt hat. Herr Miri kam sofort in Haft, das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Asylverfahren wurde zügig behandelt, der CDU/CSU) (Jürgen Pohl [AfD]: Einzelfall!) Wenn wir davon sprechen – davon war heute vielfach die Rede –, dass wir diese Sicherheit und die Kontrolle an und der Asylfolgeantrag wurde abgelehnt. Damit kann den Schengen-Außengrenzen entsprechend erhalten und auch die Abschiebung in Kürze vollzogen werden. Das stärken müssen – keine Frage –, dann bedeutet das sicher ist ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert Gespräche und Vereinbarungen, aber ich glaube, noch wichtiger als das, was man mit anderen Ländern verein- (Beatrix von Storch [AfD]: Genau! Und sich bart, ist, dass wir uns auch bewusst sein müssen, dass es lächerlich macht!) im Zweifel darauf ankommt, dass wir dem einen oder und dass es gut ist, wie wir organisiert sind. anderen Land praktisch helfen müssen, das an der Außen- grenze seine Aufgabe vielleicht nicht alleine bewältigen (Beifall bei der SPD) kann. Denn wir sitzen da in Deutschland recht bequem, Die offenen Grenzen von Europa sind eine wichtige umgeben von Freunden und auch mit Grenzen innerhalb Errungenschaft, gerade wenn es darum geht, den Frieden der EU. in Europa zu erhalten. Insofern ist es, glaube ich, ein guter Plan, wenn wir (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die offenen jetzt mit der neuen EU-Kommission dieses Thema zügig Grenzen eine wichtige Errungenschaft?) angehen. Aber ich glaube, liebe FDP, wir hätten diese Zeit heute Abend auch anders füllen können. Denn diese Stun- Dass Menschen sich begegnen und frei reisen können, ist de war eine Stunde für den Innenminister und die Bun- ein ganz, ganz hoher Wert, den wir nicht aufs Spiel setzen desregierung und nicht eine Stunde für die FDP. dürfen. Insofern: Überlegen Sie nächstes Mal gut, ob Sie als (Zuruf von der AfD: Machen Sie aber!) Opposition wirklich solche Dinge beantragen müssen! 15680 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Ute Vogt (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Laschets schwarz-gelbe Regierung verfolgt seit ih- (C) der CDU/CSU) rem Antritt vor einem Jahr einen wesentlich härteren Asylkurs im bevölkerungsreichsten Bundesland ... Vizepräsidentin Petra Pau: Im Jahr 2017 wurden aus NRW 6 308 Personen ab- geschoben – mehr als aus anderen Bundesländern, Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die sogar mehr als aus Bayern, in dem Seehofers CSU FDP-Fraktion. regiert. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. [CDU/CSU]) Konstantin Kuhle (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ibrahim Meine Damen und Herren von der Union, vielleicht Miri ist im Juli 2019 aus Bremen abgeschoben worden, sollten Sie ein kleines bisschen stolzer darauf sein, was und gerade mal vier Monate später steht er in Bremen wir gemeinsam in Nordrhein-Westfalen erreichen. Viel- wieder auf der Matte. Angehörige des Miri-Clans sind leicht sollten Sie sich ein bisschen mehr an dem orientie- strafrechtlich in Erscheinung getreten in den Bereichen ren, was in Nordrhein-Westfalen gemacht wird, beispiels- Waffenhandel, Drogenhandel, in bestimmten Bereichen weise auch an dem, was im Bereich der Passersatzpapiere des Rotlichtmilieus und der Schutzgelderpressung. Wir gefordert wird, was im Bereich der Rückübernahmeab- müssen uns in diesem Haus darüber im Klaren sein, wie kommen gefordert wird und was im Bereich der diploma- sehr ein solcher Fall geeignet ist, das Gefühl mit Blick auf tischen Zusicherung gefordert wird. Da könnte der Bun- die Sicherheit und mit Blick auf das Vertrauen in den desinnenminister auch einfach mal auf die erfolgreiche Rechtsstaat der Bürgerinnen und Bürger und übrigens schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen auch der Polizistinnen und Polizisten in diesem Land zu hören. beeinträchtigen. (Beifall bei der FDP) (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich will eine zweite Bemerkung machen. Lieber Kolle- NEN]: Es hat doch funktioniert!) ge Frei, Sie haben – das war richtig – angesprochen, dass Das sollte hier klar sein, und das muss die Grundlage wir hier eigentlich gar nicht über ein Asylthema sprechen, einer Auseinandersetzung mit dieser Frage sein. sondern über ein Kriminalitätsthema, nämlich über die Bekämpfung der Clankriminalität. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: So ist das!) (D) Deswegen ist es gut, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jetzt schnell entschieden hat, dass der Ich will deutlich darauf hinweisen, dass es völlig welt- Asylantrag offensichtlich unbegründet ist. Als Nächstes fremd ist, davon auszugehen, dass das Bundesland Bre- muss dann die erneute Abschiebung folgen. men allein in der Lage wäre, die Clankriminalität zu be- kämpfen. Es ist wie im Bereich der Bekämpfung von (Ute Vogt [SPD]: Ja!) Extremismus und Terrorismus auch: Der Föderalismus darf nicht zu einem Sicherheitsrisiko werden. Deswegen Ich finde aber, wir müssen uns vor dieser erneuten Ab- braucht es eine Föderalismusreform im Bereich der inne- schiebung schon noch mal genau angucken, wie die erste ren Sicherheit. Abschiebung gelaufen ist. Die erste Abschiebung ist möglich gewesen, weil der Präsident der Bundespolizei (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und übrigens auch der Berliner Innensenator besondere der AfD) Beziehungen zu den Behörden im Libanon aufgebaut ha- ben. Das will ich auch ganz klar sagen: lieber eine Ab- Ich glaube, dass es auch einer gemeinsamen Strategie schiebung, die durch persönliche Beziehungen zustande zur Bekämpfung der Clankriminalität bedarf. Sie, lieber kommt, als gar keine Durchsetzung des Rechtes. Trotz- Kollege Frei, haben das Thema Vermögensabschöpfung dem darf es nicht vom Zufall abhängen, von persönlichen angesprochen. Ich stimme Ihnen da zu. Man muss die Beziehungen und Mauscheleien, ob eine Abschiebung Clans beim Geld packen. Es ist obszön, wie sich teilweise zustande kommt, sondern es muss eine strukturelle Ver- damit gebrüstet wird, dass man gegen die Regeln des besserung der Durchsetzung der Ausreisepflicht geben. Rechtsstaats verstößt. Deswegen muss man sie beim Geld packen. Deswegen ist es auch richtig, dass es neue Regeln (Beifall bei der FDP) zur Vermögensabschöpfung gibt. Deswegen wäre der richtige Schritt, dass man darüber Wir als Freie Demokraten haben vor einigen Monaten nachdenkt, wie man sich an dem orientieren kann, was gefragt, welche Bundesländer eigentlich von den neuen andere Länder schon machen. Regeln zur Vermögensabschöpfung Gebrauch machen, also entweder eine Sicherstellung oder sogar eine Einzie- Ich fand es bemerkenswert, lieber Herr Bundesinnen- hung des Vermögens vornehmen. Ergebnis: Alle machen minister, dass Sie so auf den Kollegen Stamp eingedros- davon Gebrauch – mit einer Ausnahme, und das ist Bre- chen haben. Ich habe mal nachgeguckt, was die Tages- men. zeitung „Die Welt“ im vergangenen Jahr zum Asylkurs unserer gemeinsamen schwarz-gelben Landesregierung (Grigorios Aggelidis [FDP]: Unter Rot-Rot- in Nordrhein-Westfalen geschrieben hat. Da hieß es: Grün!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15681

Konstantin Kuhle (A) Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es gefragt, Herr Dr. Baumann oder Herr Hess, was Sie vor (C) besserer föderaler Abstimmung bei der Bekämpfung der solch einer Rede eigentlich rauchen oder was Sie da neh- Clankriminalität bedarf, er wäre hiermit erbracht. Wir men. Aber ich habe es jetzt erfahren. Herr Hess hat ja von brauchen eine Reform des Föderalismus auch im Bereich der Strategie des Vorschlaghammers gesprochen. Ich ver- der inneren Sicherheit und bei der Strategie zur Bekämp- mute, den wenden Sie innerhalb der Fraktion an. Nur so fung der Clankriminalität. kann ich mir den Dachschaden, den Sie haben müssen, erklären. Sie glauben, erst wenn Sie hier reden, entwirft (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Bundesregierung eine Strategie zur Bekämpfung der der AfD) Clankriminalität. Diese fahren wir aber schon seit Mona- Ich will eine letzte Bemerkung machen, lieber Kollege ten. Straetmanns, weil Sie hier das Thema der Entstehung von Clankriminalität angesprochen haben. Ich will ganz deut- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Seit Jahrzehnten!) lich sagen: Egal welcher Religion man angehört, egal Sie glauben, nur weil Sie hier reden, würde sich der BKA- woher man eingereist ist, egal woher die Eltern einge- Chef mit den LKÄ-Chefs zusammensetzen und eine Of- wandert sind, mit Blick auf Kriminalität hat man immer fensive zur Bekämpfung der Clankriminalität fahren, eine Wahl. Deswegen darf es keinen Rabatt bei der Be- strafung von Clankriminalität geben, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Weil Sie Angst vor dem Wähler haben! Nur deswegen! Sie haben (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jahrzehnte nichts gemacht! Sie haben ge- der CDU/CSU und der AfD – Widerspruch bei pennt!) der LINKEN – Grigorios Aggelidis [FDP], an und nur weil Sie reden, haut Herr Reul in Nordrhein- DIE LINKE gewandt: Ihre Rede dazu war so Westfalen eine Offensive raus. Herr Kuhle, das ist der zynisch!) richtige Minister in NRW, den Sie nennen müssen. Herr auch trotz der Erkenntnis, dass es Versäumnisse der deut- Reul ist der Grund dafür, warum es diese Abschiebungen schen Integrationspolitik gegeben hat. gibt; starker Mann, starker Politiker. Jetzt warten Sie einmal ab. Ich bin durchaus der Mei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nung, dass wir alle miteinander eine Verantwortung dafür Konstantin Kuhle [FDP]: Der ist dafür gar nicht haben, dass zukünftig keine neuen Clanstrukturen in zuständig!) Deutschland entstehen. Bekämpfung der Clankriminalität ist ein Schwerpunkt (Stephan Thomae [FDP]: Ganz wichtig!) der Bundesregierung, dieses Ministers in ganz Deutsch- land. (B) Das hat auch etwas zu tun mit aktiver Integrationspolitik, (D) mit schnellen Verfahren, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Seit wann denn?) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des Ich nenne auch bewusst Innensenator Geisel in Berlin. Er Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ gibt richtig Gas. DIE GRÜNEN] – Zurufe von der LINKEN) Jetzt will ich mal den Fall Miri wenden. Wer jemals in mit der Abschaffung von Kettenduldungen, mit einem seinem Leben beruflich mit OK, Mafia und Clans zu tun Zugang zum Arbeitsmarkt, mit einem Zugang zu Sprach- hatte, weiß: Das sind Machtproben, die bei denen an der kursen, mit einem Zugang zum Bildungssystem. Das ist Tagesordnung sind. Dem deutschen Staat aufs Dach zu die Vermeidung von Clankriminalität in der Zukunft. steigen, gehört bei denen zum Tagesgeschäft. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Keine Ahnung (Stefan Keuter [AfD]: Soll das jetzt eine von Clans!) Rechtfertigung sein?) Bei denen, die schon den Clans zugehörig sind, bringt das Warum sage ich das? Miri ist kein unnormaler Fall. Die nichts mehr. Aber wir haben die gemeinsame Verantwor- Frage ist, wie wir reagieren. Deswegen möchte ich von tung, dass wir uns nicht die nächste Generation von Clan- diesem Pult aus sagen und ein politisches Signal an die kriminellen hier heranziehen. Behörden da draußen senden: Ein liberaler Staat muss bei Vielen Dank. diesen Typen stark sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ihr Staat ist es der CDU/CSU) nicht!) Wir müssen ein starkes Signal senden, so wie es die Bun- Vizepräsidentin Petra Pau: despolizei mit der Abschiebung gemacht hat, so wie es Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die CDU/ das BAMF mit dem Verfahren in Nürnberg jetzt im Fall CSU-Fraktion. Miri gemacht hat, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie haben 200 000 reingelassen! Die Mafia gab es nie in Deutsch- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): land! – Konstantin Kuhle [FDP]: Sami A.!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und so wie es der Amtsrichter in Bremen gemacht hat, der das Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich Kreuz hatte, sofort bis 2. Dezember eine Sicherungshaft 15682 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) anzuordnen. Ich hätte mir gewünscht, er hätte es wegen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Bernd (C) eines Bewährungsrücknahmeverfahrens gemacht; aber Baumann [AfD]: Wir warten darauf!) das ist eine andere Sache. Die Entscheidung des BAMF Herr Buschmann, das nehme ich persönlich. Unter- will ich gar nicht kommentieren; wir Politiker dürfen eine schätzen Sie bitte nicht Einsatzbereitschaft und Einsatz- Entscheidung des BAMF nicht kommentieren. Aber dass willen der Bundespolizei. sie es schnell gemacht haben und dass Herr Sommer das nach Nürnberg gezogen hat, das ist das starke Signal, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – worauf solche Kriminelle reagieren. Dr. Marco Buschmann [FDP]: Das hat niemand getan!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie sind vielleicht nicht gut im Training, aber die schon. GRÜNEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die kommen gleich wieder zurück!) (Dr. Christian Wirth [AfD]: Das wollten wir schon 2015!) Wer dies mit falscher Humanität und Liberalität angeht, wird von solchen Typen als naiv empfunden. Deshalb, Bei der Schengen-Renaissance wird immer eins ver- meine Damen und Herren, ist das Paket, das der Minister gessen. Jetzt erzählen alle – das hat auch mein Kollege vorgestellt hat, Thorsten Frei gemacht –, die Außengrenzen und die Bin- nengrenzenabbau-Aktion stünden in unmittelbarem Zu- (Beatrix von Storch [AfD]: Super!) sammenhang. zielführend und maßvoll. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Das ist so zum Herr Dr. Buschmann, Pech gehabt! Der Zwischenruf Kotzen, echt!) war: Weiß die SPD eigentlich davon? Sie weiß davon. Die Ja. Es gibt einen dritten Aspekt; der wird nie genannt. Wir GroKo hat mit dem Minister zu einem sehr frühen Zeit- haben damals gesagt: Wenn alle 28 Schengen-Staaten für punkt alles besprochen. sichere Schengen-Außengrenzen und für Schengen- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) Schleierfahndung sorgen, haben wir ein derart großes Si- cherheitsnetz, dass die Grenzen ohne Weiteres offen blei- Grenzkontrolle, Haftgrund „Verstoß gegen Wiedereinrei- ben können. Schengen-Schleierfahndung heißt ja: offene sesperre“, Klarstellung, dass eine Wiedereinreisesperre Grenzen. Wenn das 27 tun – plus sichere Außengrenzen –, auch eine Bewährungsauflage tangieren könnte – all das haben wir kein Problem. Wir haben aber nicht nur keine wurde in der GroKo besprochen. Deswegen gibt es da Außengrenzensicherheit; wir haben auch kaum noch Bin- keinen Dissens. Da muss ich Sie leider enttäuschen. (B) nengrenzfahndung. Das ist die echte Problembeschrei- (D) bung. So lange müssen wir das tun, was wir tun. (Zuruf des Abg. Dr. Marco Buschmann [FDP]) Ich bin dankbar, dass wir in der bewährten Zusammen- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Na endlich mer- arbeit genau so reagieren. ken Sie es! – Dr. Christian Wirth [AfD]: Das sagen wir seit vier Jahren!) Wir haben in der Fraktion gerade noch überlegt, ob wir Sie den Gewinner der Woche nennen. Das mache ich Schlusssatz: Herr Miri ist hier nicht willkommen, nicht. Gewinner dieser Woche ist der Rechtsstaat. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ach was!) (Beifall bei der CDU/CSU) nach wie vor nicht, und ich hoffe, dass eine ähnliche Ab- Ich hätte es getan, wenn Sie bei der Frage „Wer fordert schiebung stattfindet, in bewährter Form, Herr Dr. Ro- hier seit fünf Jahren Grenzkontrollen?“ gesagt hätten: mann, wie wir es im Sommer hatten, nur nicht aus seiner Schuster und ich. Wohnung, sondern aus der JVA heraus. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Danke schön. CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Das haben Sie aber nicht, Herr Minister. Das hat mich ein wenig enttäuscht. Vizepräsidentin Petra Pau: Das ist eine minimalinvasive, aber äußerst wirkungs- Für die SPD-Fraktion hat nun Helge Lindh das Wort. volle Methode: 6 000 Zurückweisungen an drei bayeri- schen Grenzübergängen, wenn Sie alle Fälle nehmen und (Beifall bei der SPD) nicht nur die 34 Spanier und Griechen. 6 000 Zurück- weisungen! Jetzt können Sie sich das selber hochrechnen; Helge Lindh (SPD): Dr. Romann hat ja schon 10 in 24 Stunden geliefert. Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In macht das valide. Wenn man 6 000 im Jahr an drei Grenz- Momenten der Schwäche wünschte ich mir manchmal übergängen hat, dann können Sie sich vorstellen, was in das Schuster’sche Selbstbewusstsein. den nächsten zwölf Monaten an allen deutschen Grenzen passiert. (Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]: 150 Euro die Stunde!) (Beatrix von Storch [AfD]: Ist ja super!) Also, davon kann man noch lernen. Das Selbstlob ist eine Das ist richtig, meine Damen und Herren. Kunst, in der auch ich mich künftig zu üben versuche. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15683

Helge Lindh (A) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der zum Rechtsstaat. Wenn eine Partei so sinistere Parteifi- (C) CDU/CSU – Tino Sorge [CDU/CSU]: Das nanzierung pflegt, wenn sie dann in Thüringen mit so funktioniert schon ganz gut bei Ihnen!) merkwürdigen Wahlkampforganen, bei denen keiner Kommen wir zum gebotenen Ernst. Vor ein paar Minu- weiß, wer wirklich die Herausgeber sind und wie das ten fuhr ich – gefühlt 100 Meter von hier – im Fahrstuhl finanziert ist, auftritt mit einem Ehepaar, begleitet von einem wissenschaftli- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ach du liebe Gü- chen Mitarbeiter. Die Diskussion war ungefähr folgende: te! – Beatrix von Storch [AfD]: Diese ganzen Was ist denn jetzt mit ihm? – Die Antwort war: Entscheid Fraktionen müssen Geld zurückzahlen!) ist da, und er wird rausmüssen. – Die Bemerkung der Frau war: Dann ist das doch in Ordnung. – Das war sehr ent- und wenn sie dann im Parlament und in den Ausschüssen schieden, aber auch mit einer gewissen Gelassenheit, und auch noch den Verfassungsschutz zur Disposition stellt, es bezog sich genau auf Miri. Ich glaube, der Ausdruck „Das ist doch in Ordnung“ ist passend. Denn das, was wir (Dr. Christian Wirth [AfD]: Der wurde gerade jetzt erlebt haben, ist Ausdruck dessen, dass Ordnung abgestraft!) funktioniert und dass der Rechtsstaat handlungsfähig ist dann sollte sie nicht vom Rechtsstaat sprechen, sondern und funktioniert. sollte einfach schweigen. Einfach schweigen! (Beatrix von Storch [AfD]: Und er immer (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem wieder einreisen kann!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich deute diese Aktuelle Stunde mit dem Titel „Durch- Der Rechtsstaat, von dem wir hier heute ganz entschie- setzung des Rechtsstaates im Fall Ibrahim Miri“ deshalb den, aber auch berechtigterweise unaufgeregt und souve- als eine der Regierungskoalition von der FDP gegebene rän sprechen, hat nämlich etwas vom blinden Seher Tei- Möglichkeit, ihre Handlungsfähigkeit überzeugend dar- resias und auch von der blinden Justitia. Denn er zustellen. Vielen Dank dafür! funktioniert ohne Ansehen der Person, ungeachtet der (Beifall bei der SPD) Herkunft. Es geht hier um Ahndung organisierter Krimi- nalität und um Verbrechen, die Opfer haben, egal woher Darüber hinaus verneige ich mich vor Herrn Romann, der Täter oder die Täterin kommt; das ist das eine Ent- den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, dem scheidende. BAMF, der Justiz, vor all denjenigen, die diesen Rechts- staat zur Realität machen. Denn wir schaffen nur die Be- Das andere Entscheidende ist – ich sprach von Teire- dingungen, aber sie setzen es um. Vielen Dank dafür! sias –: Gute Innenpolitik und Rechtspolitik hat in ihren (B) stärksten Momenten auch die Fähigkeit, sozusagen sehe- (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) risch zu sein und vorauszuwirken. Nachdem ich jetzt den Kräften der Ordnung gedankt (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Am Ende wa- habe, muss ich mich jetzt doch auch kurz den Kräften der ren Kreon und Antigone!) Unordnung zuwenden. Deshalb denke ich – bei uns in der Regierungskoalition (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – gehört zum Glauben ja auch immer etwas Zweifel –, dass Beatrix von Storch [AfD]: Darauf warten wir wir in vollem Selbstbewusstsein sagen können: Bei allen schon! – Dr. Christian Wirth [AfD]: Haben Sie Anfeindungen, die wir angesichts des Migrationspaketes mal in den Spiegel geschaut?) erlebten – die kann es ja geben; man kann zu Recht fra- – Herr Hess, Frau von Storch, bitte verzeihen Sie mir, gen, ob das zu harsch war, welche Konsequenzen das im dass ich das jetzt sage, aber ich bitte Sie: Lächeln Sie Einzelfall hat –, müssen die Kritiker sich doch auch fra- einfach mal, und Sie werden wieder glücklichere Men- gen: War das so falsch? schen. Das wäre für uns alle angenehm. (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, genau!) (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und der Denn die Punkte, die da diskutiert werden – Identitäts- LINKEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE feststellung, ungeklärte Identität, Fragen der Abschie- GRÜNEN]: Das wird nicht helfen!) bungshaft, Durchsetzung etwa von Wiedereinreisesper- Der zweite Punkt – angesichts Ihrer Zwischenrufe sage ren und Verschärfungen –, sind doch genau die Punkte, ich das in vollem Selbstbewusstsein, mit Schuster’schem die in diesem Fall eine Rolle spielen. Selbstbewusstsein, als Sozialdemokrat –: Wir hatten mal den sozialdemokratischen Innenminister ; alle (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundespolizistinnen und Bundespolizisten bekommen da Insofern haben wir – seherisch sozusagen – vernünftig leuchtende Augen. Otto Schily, der machte Innenpolitik. gehandelt und klug entschieden und können darauf stolz Die AfD macht höchstens Geräusche. Insofern gibt es sein. Man kann sagen – ohne dass das eine Gewissheit keinen Grund für Sie, sich hier so aufzuspielen. wäre –: Hätte es vor längerer Zeit ein solches ausgewo- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der genes Migrationspaket gegeben, womöglich gäbe es nicht CDU/CSU) solche Fälle wie den Fall Miri. Auch das gehört zur Wahr- heit. Der dritte Punkt – ich lasse mal den Aspekt „Altpar- teien“ weg; da rege ich mich zu sehr auf –: Kommen wir (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sehr gut!) 15684 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Helge Lindh (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es gibt rungshaft genommen – übrigens auf der Basis von Instru- (C) einen Dreiklang im Bereich der inneren Sicherheit, im menten, die wir noch im Sommer gemeinsam auf den Bereich der Asylpolitik und auch im Bereich unseres Weg gebracht haben; Kollegin Högl hat es zu Recht ge- Handelns: Das ist der Dreiklang aus Humanität, Pragma- sagt –, entschlossen und konsequent, das vom Betroffe- tismus und Konsequenz. nen missbräuchlich angestrengte Asylverfahren inner- halb einer Woche abgeschlossen und den Asylantrag Erstens: Humanität. Wir haben Opfer, die im Zentrum abgelehnt. Ich danke in diesem Zusammenhang ganz be- unserer Innenpolitik stehen müssen. Der Schutz vor Kri- sonders den Mitarbeitern des BAMF und im Speziellen minalität ist primär Opferschutz und auch Herstellung auch seinem Präsidenten Dr. Sommer, der die Prüfung des von Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Das ist das Asylantrags zur Chefsache erklärt und damit ermöglicht eine; das ist Humanität. hat, dass die Sache so gelaufen ist. Zweitens: Pragmatismus. Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss und wird der nächste Schritt folgen, nämlich die Aufenthaltsbeen- Vizepräsidentin Petra Pau: digung, die Abschiebung aus der Haft heraus in den Li- Kollege Lindh, fassen Sie sich bitte kurz und kommen banon oder die Türkei. Damit ist der Versuch gescheitert, Sie zum Schluss. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Er kommt doch wieder zurück, und dann taucht er eben einfach Helge Lindh (SPD): ab!) Wir orientieren uns an der Realität und nicht an Wunschträumen; denn wir müssen die Bevölkerung für und die Botschaft ist klar: Wer bei uns Chaos und Unheil diese Politik gewinnen. anrichten will, kann sich nicht darauf berufen, dass ihm im Herkunftsland Unheil droht. Drittens – und damit schließe ich –: Konsequenz. Es gibt Regeln, die setzen wir durch, und das ist das Beste, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) was wir diesem Rechtsstaat antun können. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Selbstver- Vielen Dank. ständlichkeit. Das eigentlich Interessante an dem Fall ist doch, wel- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) che Konsequenzen wir darüber hinaus für die Zukunft ziehen müssen und ziehen. Denn natürlich – das sage Vizepräsidentin Petra Pau: ich Ihnen ganz offen – wäre es besser gewesen, wenn (B) Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Michael der Spuk nicht nach einer Woche, sondern nach ein paar (D) Kuffer das Wort. Minuten vorbei gewesen wäre, indem solche Personen überhaupt nicht die Chance bekommen, unser Staatsge- (Beifall bei der CDU/CSU) biet noch einmal zu betreten. Michael Kuffer (CDU/CSU): (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Also Grenzen Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Über die kontrollieren!) Causa Miri können wir irgendwann aufhören zu spre- Es ist und bleibt ein wesentlicher Beitrag zur Sicher- chen. heit, wenn wir die Möglichkeiten ausschöpfen, um jene Personen, die kriminell bzw. gefährlich sind, Personen, (Beatrix von Storch [AfD]: Bis er wieder da deren Identität wir nicht eindeutig feststellen können, und ist!) auch solche, die von vornherein keine Bleibeperspektive Ich sehe auch – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dass die haben, bereits an der Grenze zurückzuweisen. Ausländer- Diskussion irgendwann ausgereizt ist. Ich will Ihnen ei- recht – das sage ich auch in Ihre Richtung, Herr Kollege nes ganz klar sagen: Leider wird es immer wieder Fälle Straetmanns – ist auch Sicherheitsrecht. Rechtsstaat heißt geben, in denen Menschen unsere Hilfsbereitschaft und nicht: Verzicht auf präventive Maßnahmen und reine Be- das Asylrecht schamlos zu missbrauchen versuchen. schränkung auf repressive Maßnahmen, wie Sie sie pos- tulieren. (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) Es wird immer zwielichtige Personen und Gestalten ge- (Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Habe ben, die versuchen, sich bei uns aufzuhalten, um hier ihr ich nicht behauptet!) Unwesen zu treiben. Das wird es immer geben – leider. Ich sage es noch mal: Ausländerrecht ist auch Sicher- Aber: Entscheidend ist, dass wir den Rechtsstaat so auf- heitsrecht und ist auch Prävention. Und es ist richtig, dass stellen, dass es beim Versuch bleibt, liebe Kolleginnen wir die Möglichkeiten ausschöpfen, um unsere Bürger- und Kollegen. innen und Bürger dadurch zu schützen. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Es bleibt aber (Beifall bei der CDU/CSU) nicht beim Versuch! Abertausende kommen Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es unver- zu uns!) meidbar, dass wir beim Thema Binnengrenzkontrollen Ich sage dazu letztlich: Es ist hier der Fall gewesen. jetzt in konsequenter Fortschreibung der Beschlüsse der Das BAMF hat auf diesen Fall, wie ich meine, hervor- Koalition vom Sommer 2018 die nächsten Schritte gehen, ragend reagiert. Es hat den Betroffenen sofort in Siche- so wie wir sie gemeinsam verabredet haben: nämlich die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15685

Michael Kuffer (A) Ausweitung der Binnengrenzkontrollen auf alle Luft-, viel Glück und Erfolg bei dem, was Sie zukünftig in (C) Land- und Seegrenzen, verbunden mit einem klaren Man- diesem Fall hoffentlich noch alles vorhaben! dat für die Bundespolizei, die Möglichkeiten zur Zurück- weisung auszuschöpfen. Ich bin dem Bundesinnenminis- (Beifall bei der CDU/CSU) ter wirklich dankbar, dass er dafür in dieser Woche so Ja, der Fall Miri ist sicherlich ein Extremfall angesichts konsequent die nötigen Weichen gestellt hat. der Länge der Kettenduldungen, angesichts der Schwere der Strafen, angesichts der Prominenz als bekannter Clan- Lieber Herr Präsident Romann, ich möchte mich an chef und auch aufgrund der Impertinenz, innerhalb von dieser Stelle an Sie und an Ihre Beamtinnen und Beamten drei, vier Monaten wieder in Deutschland aufzutauchen. der Bundespolizei wenden und sagen: Tun Sie, was nötig ist, und tun Sie, was möglich ist. Sie haben dafür unsere (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Es gibt Hunderte Rückendeckung. Clans und Clanchefs! Das ist nur einer davon!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ul- Aber er ist beileibe kein Einzelfall. Das heißt – das will rich Freese [SPD]) ich auch sagen –, wir dürfen heute nicht nur über die Extremfälle sprechen, über diejenigen, die wirklich Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab- Schwerstverbrecher sind, schließend noch sagen: Das ist kein Widerspruch zu eu- ropäischen Maßnahmen. Wir als CSU stehen unverändert (Beatrix von Storch [AfD]: Die gibt es tau- für die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Ra- sendfach! Das ist wahr!) tes im vergangenen Sommer. Wir wollen hier schnellst- sondern wir müssen generell über das Problem sprechen, möglich zu einer gesamteuropäischen Lösung kommen. dass Menschen, die wir nach rechtskräftigen Verfahren Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, lieber abgeschoben haben, wieder ins Land einreisen. Insofern Herr Kollege Hess, fuchteln Sie ruhig mit dem Vorschlag- müsste man fast dankbar sein, dass dieser Fall gewisser- hammer in der Luft herum. Wir bedienen uns zeitgemäßer maßen ein Scheinwerferlicht auf diese Problematik wirft. Methoden. Deswegen noch mal herzlichen Dank, dass Sie die Grenz- kontrollen verstärkt haben! Das hat schon entsprechende (Beatrix von Storch [AfD]: Das sehen wir! – Erfolge gezeigt. Herzlichen Dank, dass Sie, was die Si- Dr. Christian Wirth [AfD]: Sie versagen!) cherheitshaft anbelangt, nochmals an das Gesetz heran- Wir statten unsere Polizei mit dem Modernsten zeitgemäß gehen wollen. aus und bringen damit den Dampf auf den Kessel, der bei Liebe Kollegen der FDP, nun haben Sie es in dieser Ihnen lediglich als heiße Luft entweicht. (B) Debatte auch darauf angelegt – man hat es bei Herrn (D) Buschmann und beim Kollegen Kuhle gemerkt –, ein Vielen Dank. bisschen in der Wunde zu bohren und Kritik an der Regie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung zu üben. neten der SPD – Dr. Christian Wirth [AfD]: Seit (Konstantin Kuhle [FDP]: Klar!) vier Jahren sind die Grenzen offen! Hervorra- gend!) Das ist kräftig danebengegangen. (Konstantin Kuhle [FDP]: Gar nicht!) Vizepräsidentin Petra Pau: Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- Also ich glaube, hier im Plenum sind sich alle – mit Aus- lege Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion. nahme der Kollegen der FDP – relativ einig. (Dr. Christian Wirth [AfD]: Na, na, na! – (Beifall bei der CDU/CSU) Stephan Thomae [FDP]: Gerade eben waren Sie noch dankbar für die Aktuelle Stunde!) Alexander Throm (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Ich war im Oktober mit dem Entwicklungshilfeaus- Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ich schuss in Marokko. Es gab viele Gespräche mit der ma- möchte zunächst die Gelegenheit nutzen und mich bei rokkanischen Seite, aber auch mit Vertretern deutscher Ihnen für diese Aktuelle Stunde bedanken, die Sie für Organisationen und Behörden. Da wurde durchaus ge- heute beantragt haben. sagt, dass in Marokko eine große Bereitschaft besteht, von Deutschland Rückführungen anzunehmen, Passpa- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) piere auszustellen, die Menschen auch aus den entsprech- enden Linienflügen anzunehmen. Es gibt nur eine Bitte: Das nämlich gibt mir die Gelegenheit, diesen Dank vor Man möchte Informationen über diese Personen haben. allem an diejenigen weiterzureichen, die ihn in dieser und Jetzt gibt es vor allem, nicht ausschließlich, ein Bundes- in der letzten Woche wirklich verdient haben. Das ist in land – das ist das Bundesland, in dem die meisten erster Linie unser Innenminister. Herr Seehofer, herzli- Marokkaner leben –, das sich aus Datenschutzgründen chen Dank dafür, dass Sie diesen Fall zur Chefsache ge- weigert, diese Informationen herauszugeben. Andere macht haben! Und herzlichen Dank – bitte leiten Sie das Bundesländer tun das. Jetzt raten Sie mal, welches das ist! weiter an Herrn Sommer und seine Mitarbeiter im BAMF – für die schnelle und gute Entscheidung! Dank (Konstantin Kuhle [FDP]: Wahrscheinlich auch an die Bundespolizei, aber vor allem, Herr Romann, CDU-regiert!) 15686 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

Alexander Throm (A) Das ist das Bundesland, wo Ihr FDP-Minister für die Jetzt möchte ich noch einen Satz zu Herrn Straetmanns (C) Rückführungen Verantwortung trägt und aus Daten- sagen. Ich schätze Sie sehr aus dem Geschäftsordnungs- schutzgründen diese Daten dem Staat Marokko nicht ausschuss. Aber das, was Sie heute hier abgeliefert haben, zur Verfügung stellt. Ihr Minister Stamp ist der größte Herrn Miri quasi als Opfer unserer Kettenduldungen dar- Verhinderungsminister – zumindest was Marokko anbe- zustellen, langt; bei anderen Ländern macht er das auch –, was Rückführungen betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen (Manfred Grund [CDU/CSU]: Der muss noch der FDP. Schmerzensgeld bekommen!) ist wirklich neben der Sache. Auch völlig unabhängig von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kettenduldungen: Man kann im Ausländerrecht nur dann Konstantin Kuhle [FDP]: Das schockt uns gar in einen anderen Rechtsstatus kommen, wenn man rechts- nicht!) treu ist. Und Herr Miri war das schon in jungen Jahren Wir haben das Geordnete-Rückkehr-Gesetz – es ist nicht. schon mehrfach angesprochen worden – in diesem Juni bei großer Kritik beschlossen. Wir haben dort auch einen (Andrea Lindholz [CDU/CSU]: So ist es!) neuen Tatbestand eingeführt bei der Sicherungshaft, § 62 Das heißt, nach keiner Vorstellung, die ich je hier im Absatz 3a Nummer 4 Aufenthaltsgesetz, nämlich dass bei Parlament gehört habe, noch nicht einmal von den Lin- verbotener Wiedereinreise auch eine entsprechende ken, wäre ein solcher Fall geeignet, um Kettenduldungen Fluchtgefahr vermutet wird. zu vermeiden. Das war wirklich neben der Sache. Und ich weiß auch nicht, ob das wirklich im Interesse von (Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Genau!) Deutschland ist. Genau aus diesem Umstand konnte das Amtsgericht Bre- men – auch hier ein herzliches Dankeschön! – die Siche- Abschließend noch ein Satz. Ich muss dem Kollegen rungshaft erlassen. Wenn wir dieses im Juni nicht be- Schuster widersprechen. Lieber Armin, du hast davon schlossen hätten, würde Herr Miri heute gemütlich auf gesprochen, dass wir in der Fraktion vorhin durchaus seiner Couch im Wohnzimmer sitzen und nicht in Haft. ernsthaft und nicht nur scherzhaft vom Gewinner der Woche gesprochen haben. Das war falsch. Wir haben (Beatrix von Storch [AfD]: Wenn wir regieren vom Helden der Woche gesprochen. würden, würde er gar nicht im Land sein!) Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. Ich wäre schon bereit, von allen Kolleginnen und Kol- legen, die diesem Gesetz nicht zugestimmt haben – Grü- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin (B) ne, Linke; Sie von der FDP haben sich zielsicher und von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt (D) entschieden enthalten; aber schnell ins Wochenende! Mann!) (Konstantin Kuhle [FDP]: Weil Sie die Zahl der Abschiebehaftplätze nicht erhöhen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Aktuelle Stunde ist beendet. die AfD im Übrigen auch; auch Sie haben sich enthalten –, ein herzliches Dankeschön an uns, an die Regierungskoa- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- lition, entgegenzunehmen, dafür nämlich, dass wir dieses nung. Gesetz verabschiedet haben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tages auf Mittwoch, den 13. November 2019, 13 Uhr, ein. neten der SPD – Dr. Konstantin von Notz Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie dahin alles Gute, auch ausdrücklich den Mitarbeiterinnen mal was Gutes zu Herrn Kretschmann! – Ge- und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung. genruf der Abg. Marianne Schieder [SPD]: Da fällt uns nichts ein!) (Schluss: 18.58 Uhr) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019 15687

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Barrientos, Simone DIE LINKE Marwitz, Hans-Georg von der CDU/CSU Bleck, Andreas AfD Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU Bluhm-Förster, Heidrun DIE LINKE Meiser, Pascal DIE LINKE Bülow, Marco fraktionslos Mittag, Susanne SPD Busen, Karlheinz FDP Möhring, Cornelia DIE LINKE Christmann, Dr. Anna BÜNDNIS 90/ Müller (Chemnitz), Detlef SPD DIE GRÜNEN Petry, Dr. Frauke fraktionslos Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Poschmann, Sabine SPD Elsner von Gronow, Berengar AfD Roth (Heringen), Michael SPD Espendiller, Dr. Michael AfD Rüthrich, Susann SPD Fischer (Karlsruhe-Land), CDU/CSU Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ Axel E. DIE GRÜNEN Föst, Daniel FDP Schlund, Dr. Robby AfD Freihold, Brigitte DIE LINKE Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN (D) Gauland, Dr. Alexander AfD Schmidt, Uwe SPD Gerdes, Michael SPD Schmidtke, Dr. Claudia CDU/CSU Gerster, Martin SPD Schneidewind-Hartnagel, BÜNDNIS 90/ Gottberg, Wilhelm von AfD Charlotte DIE GRÜNEN Haase, Christian CDU/CSU Schnieder, Patrick CDU/CSU Hahn, Florian CDU/CSU Schulz, Jimmy FDP Hauer, Matthias CDU/CSU Schummer, Uwe CDU/CSU Heßenkemper, Dr. Heiko AfD Schwartze, Stefan SPD Jensen, Gyde * FDP Solms, Dr. Hermann Otto FDP Kamann, Uwe fraktionslos Strack-Zimmermann, FDP Dr. Marie-Agnes Kemmerich, Thomas L. FDP Veith, Oswin CDU/CSU Kolbe, Daniela SPD Weber, Gabi SPD Kühn (Dresden), Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Kulitz, Alexander FDP Lämmel, Andreas G. CDU/CSU Maas, Heiko SPD Marks, Caren SPD 15688 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 125. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. November 2019

(A) Anlage 2 Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der (C) Bundesregierung Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Drucksache 19/6221 Die Fraktion der AfD hat mitgeteilt, dass sie die fol- – Unterrichtung durch die Bundesregierung genden vier Vorlagen zurückzieht: Berufsbildungsbericht 2019 – Antrag „Für eine neue Syrienpolitik – Frieden sichern, Wiederaufbau fördern“ auf Drucksache 19/14767, Drucksache 19/9515 – Wahlvorschlag „Wahl eines Mitglieds des Vertrauens- – Unterrichtung durch die Bundesregierung gremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushalts- ordnung“ auf Drucksache 19/14327, Strategie der Bundesregierung zur internationalen Berufsbildungszusammenarbeit – Wahlvorschlag „Wahl von Mitgliedern des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes“ auf Drucksachen 19/10425, 19/10763 Nr. 4 Drucksache 19/14328 und Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- – Wahlvorschlag „Wahl von Mitgliedern des Sondergre- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdo- miums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmecha- kumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- nismusgesetzes“ auf Drucksache 19/14329. tung abgesehen hat.

Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Ausschuss für Inneres und Heimat gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von Drucksache 19/8458 Nr. A.4 einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Ratsdokument 6248/19 Drucksache 19/8458 Nr. A.5 absehen: Ratsdokument 6249/19 Drucksache 19/8458 Nr. A.6 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ratsdokument 6251/19 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/8458 Nr. A.7 Ratsdokument 6253/19 Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Absatz 1 Satz 4 des Gesetzes gegen Wettbe- Haushaltsausschuss Drucksache 19/11257 Nr. A.10 werbsbeschränkungen Ratsdokument 10025/19 Die Buchpreisbindung in einem sich ändernden Drucksache 19/13202 Nr. A.11 Ratsdokument 10021/19 (B) Marktumfeld Drucksache 19/13202 Nr. A.12 (D) Ratsdokument 10024/19 Drucksache 19/2444 Drucksache 19/13202 Nr. A.13 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 10026/19 Drucksache 19/13202 Nr. A.14 Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätig- Ratsdokument 10032/19 Drucksache 19/13202 Nr. A.15 keit in den Jahren 2017/2018 sowie über die Lage Ratsdokument 10033/19 und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet Drucksache 19/13202 Nr. A.17 Ratsdokument 10067/19 und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 19/13202 Nr. A.18 Ratsdokument 10070/19 Drucksachen 19/10900, 19/13175 Nr. 2 Drucksache 19/13202 Nr. A.21 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 11055/19 Drucksache 19/13655 Nr. A.6 7. Sektorgutachten Energie der Monopolkommis- Ratsdokument 11919/19 Drucksache 19/14239 Nr. A.5 sion gemäß § 62 des Energiewirtschaftsgesetzes Ratsdokument 11921/19 Wettbewerb mit neuer Energie Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksachen 19/13440, 19/14232 Nr. 1.7 Drucksache 19/910 Nr. A.61 Ratsdokument 12131/17 – Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregie- Drucksache 19/13202 Nr. A.24 rung Ratsdokument WK7925/19 INIT

Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft schen Einheit 2019 Drucksache 19/13202 Nr. A.30 Ratsdokument 10186/19 Drucksache 19/13500 Drucksache 19/13655 Nr. A.7 Ratsdokument 11814/19 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolge- nabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 19/5665 Nr. A.14 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 13302/18

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