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Sendung vom 29.08.2008, 20.15 Uhr

Klaus Bölling Staatssekretär a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist Klaus Bölling, Journalist, Publizist. Er war Chefredakteur und Intendant, aber vor allen Dingen war er im Range eines Staatssekretärs Chef des Bundespresseamtes und Sprecher der Bundesregierung in den Jahren 1974 bis 1982. Dazwischen gab es eine kurze Unterbrechung, in der er ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der damaligen DDR war. Ich freue mich, den "Meister der gezielten Diskretion", wie er einmal genannt wurde, begrüßen zu dürfen. Herzlich willkommen, Klaus Bölling. Bölling: Guten Tag, Herr Reuß. Reuß: Es gab Zeiten, in denen man Sie täglich auf dem Bildschirm gesehen hat – nicht immer in ganz einfacher Mission. Deshalb die Frage, die sicherlich viele Zuschauer interessiert: Was macht Klaus Bölling heute? Bölling: Ich muss, und das ist eigentlich eine glückliche Fügung, nicht mehr 12 und manchmal 14 Stunden im Dienst sein. Damit will ich nicht renommieren, das war einfach so. Manchmal saß ich sogar noch etwas länger als der Bundeskanzler im Büro. An dem Tag, an dem meine "Dienstfahrt" zu Ende war – auch die des Bundeskanzlers –, rief mich morgens um 6.35 Uhr eine Redakteurin des WDR an und fragte mich: "Wie fühlen Sie sich?" Da habe ich ihr wahrheitsgemäß gesagt: "Ungeheuer erleichtert. Weil ich nämlich von heute an nicht mehr Ihre Fragen zur Scharfrichterzeit beantworten muss!" Ich bin beschäftigt, ich kann gelegentlich noch Vorträge halten, es gibt immer noch Leute, die an meinen Meinungen interessiert sind – vor allem an meiner Meinung über eine gefährliche Entwicklung des deutschen Fernsehens, im Wesentlichen des Privatfernsehens, aber leider auch des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dies darf ich im Hause des Bayerischen Fernsehens dennoch sagen. Die Orientierung der Programmpolitik der ARD an der Quote habe ich seit Jahren für unheilvoll gehalten. Aber ich will den Gastgeber hier in München-Freimann nicht beschimpfen. Reuß: Seit 1947, als Sie Redakteur beim Berliner "Tagesspiegel" waren, haben Sie die politische Entwicklung in immer wieder sehr spannenden Schlüsselpositionen verfolgt. Man darf sagen, Sie sind ein Homo politicus. "Politik ist Kampf um Macht, aber eben auch wertendes Streiten und streitendes Werten darüber, wie wir leben und wie wir dezidiert nicht leben wollen." Dieser Satz stammt von Erhard Eppler, dem ehemaligen Bundesminister und Ihrem Parteikollegen. Würden Sie dem zustimmen? Oder anders gefragt: Was ist, was war Politik für Klaus Bölling? Bölling: Was ich Ihnen darauf antworte, Herr Reuß, ist sehr unoriginell. Es war der große, in Trier geborene Karl Marx, der gesagt hat: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Ich bin kein gläubiger Fortschrittsmensch, ich glaube, dass Fortschritte nur in sehr kleinen Schritten erreicht werden können. Das, was der österreichische Philosoph Karl Popper das social engineering oder peace meal engineering genannt hat, ist auch mir wichtig. Ich bin also davon überzeugt, dass man bei allen Veränderungen und Fortschritten immer auch wieder mit Rückschritten rechnen muss. Viele unserer Journalisten, die sich heute so ein bisschen präzeptoral äußern – zu der Regierung von Frau Merkel und zur Großen Koalition –, haben manchmal sehr gute Ideen. Aber sie verkennen, dass das, was zu ändern ist, was offenkundig schlecht ist in unserer Gesellschaft, eben nicht mit einem einzigen großen Anlauf über Nacht verändert werden kann. Nein, das ist mühsam, das kostet Geduld, das enttäuscht viele Wähler, aber es kommt trotzdem darauf an, Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Die Vorstellung einer absolut gerechten Gesellschaft muss jedoch Utopie bleiben. Neulich ist doch auch erinnert worden an den "Prager Frühling" in den 60er Jahren, an den "Sozialismus mit menschlichem Antlitz": Das hört sich sehr schön an und es wäre wunderbar, wenn es so etwas gäbe. Aber es gibt so etwas nicht. Es war eine wunderbar idealistische Vorstellung, die Dubček und viele Intellektuelle – darunter auch der frühere Präsident Vaclav Havel – damals entwickelt haben. Aber mein Beitrag war ja nicht der eines Politikers, sondern ich bin ein enger Berater eines ganz auf pragmatische Politik orientierten Hamburger Bundeskanzlers gewesen, der sich selbst immer als Kantianer bezeichnete. Ich hatte bereits, bevor ich in den Dienst von Helmut Schmidt getreten bin, Kant gelesen. Und heute noch finde ich es wunderbar, was der Königsberger Philosoph, der ja aus Königsberg nie herausgekommen ist, geschrieben hat in seinem Traktat "Zum ewigen Frieden". Dort stehen Sätze, die heute noch in einem EU-Vertrag, nämlich im Lissabon-Vertrag, stehen könnten. Bei Kant heißt es, kein Friedensschluss soll für einen solchen gelten, der mit einem Dolus eingegangen wird, der also mit der Absicht eingegangen wird, bestimmte wichtige Teile eines Vertrags klammheimlich zu leugnen oder umzudeuten. Ich habe damals einen kleinen Beitrag dazu leisten können, zwar nicht die Politik von Helmut Schmidt primär umsetzen zu können – denn das war die Sache des Parlaments und seiner Minister –, sie dafür aber begreiflich zu machen. Denn viele Irritationen, viele Frustrationen der Wähler rühren ja daher, dass die Probleme so ungemein kompliziert sind, mit denen wir es heute zu tun haben. Und natürlich muss man hier sofort wieder das Thema der Globalisierung einflechten: dass wir heute viele Probleme mit nationalen Regierungen gar nicht mehr lösen können, dass wir angewiesen sind auf die Hilfe, die Unterstützung, die Solidarität der anderen. Es kommt also darauf an, Politik durchsichtig zu machen: Die Modephrase hierzu lautet "Transparenz". Das war meine Aufgabe. Vielleicht ist genau das im Zusammenhang mit der Schröderschen "Agenda 2010" nicht gut genug gelungen, sodass dann manche, die zunächst einmal einem so begabten Politiker wie Gerhard Schröder – auch er ist ja ein wahrer Homo politicus – zugejubelt hatten, gesagt haben: "Das ist ungerecht, was der da macht!" Und dennoch steht bis heute für mich fest – das steht auch für den Bundespräsidenten oder für einen Sozialdemokraten wie Franz Müntefering fest –, dass das der richtige Ansatz war. Es hat auch etwas gebracht; aber das wurde – und nun benutze ich ein Wort, das ich eigentlich gar nicht schätze, Herr Reuß – nicht richtig verkauft, es wurde den Menschen nicht verständlich gemacht. Sie glaubten, das sei ein Anschlag auf die soziale Gerechtigkeit. Aus diesem Grund kam es dann zum Frust bei vielen Wählern. Reuß: Liegt das auch ein bisschen an dem, was Sie eingangs sagten, nämlich an den Medien, die vielleicht eher auf eine Personalisierung der Politik ausgerichtet sind? Die Politiker reagieren darauf z. T. ja auch. Lothar Späth, der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident, meinte einmal auf die Frage, welcher Politiker denn Filmstar werden könnte: "Die meisten, aber in ungewollten Rollen." Und der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD sagte einmal: "Der Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Politiker ist heute graduell, nicht prinzipiell." Würden Sie dem zustimmen? Bölling: Ich habe Peter Glotz sehr geschätzt. Natürlich ist das eine Wahrheit, aber ich würde sie doch relativieren wollen. Mein großer Hamburger Freund, also Helmut Schmidt, hat einmal gesagt: "Ich agiere ja manchmal als Staatsschauspieler." Selbstverständlich macht man das als Politiker – und als Kanzler zumal. Das Fernsehen ist ja auch seit Jahrzehnten das entscheidende Medium. Aber wenn ein Politiker nichts weiter ist als ein talentierter Schauspieler, wenn er nichts weiter ist, als einfach nur gut aussehend oder sehr charakteristisch oder lediglich mit einer Nase wie weiland Cyrano de Bergerac auffällt oder durch besonders geschmackvolle oder geschmacklose Krawatten, dann würde das auf keinen Fall ausreichen: Da muss schon auch Substanz sein. Bei einem Mann wie z. B. Strauß war Substanz und rhetorische Qualität und komödiantische Qualität. All das galt auch für seinen Hamburger Gegenspieler. Aber wenn man dem Publikum nicht Argumente liefert, die das Publikum auch verstehen kann, dann wird das nichts. Die politische Sprache darf dabei natürlich keine populistische Sprache sein, es muss nur eine populäre Sprache sein. Als Protestant kann ich sagen, die politische Sprache muss im besten Sinne so sein, wie Luther gesprochen hat. Denn Phrasen werden sehr bald durchschaut. Nein, allein mit komödiantischen Talenten kann man keine Wähler gewinnen und Fernsehzuschauer beeindrucken. Reuß: Wir werden gleich noch einmal zur Politik zurückkommen, aber für den Moment würde ich gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen und den Zuschauern den Menschen Klaus Bölling näher vorstellen. Sie sind am 29. August 1928 in Potsdam geboren, Ihr Vater war Verwaltungsjurist. Sie kommen aus einer deutsch-jüdischen Familie, Ihre Mutter wurde ihrer jüdischen Herkunft wegen von den Nazis verfolgt und nach Auschwitz deportiert. Sie waren fünf Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen, und knapp 17, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Wie erinnern Sie Ihre frühe Kindheit? Wie war Ihr Elternhaus? Wie sind Sie aufgewachsen? Bölling: Wie viele andere Eltern in Deutschland, bei denen ein Elternteil aus einer jüdischen Familie kam, hat man die Söhne – denn es ging diesbezüglich wesentlich um die Söhne – sich so entwickeln lassen wie alle anderen Jungs auch. Das heißt, ich bin mit zehn oder elf Jahren ins Deutsche Jungvolk gekommen, also nicht in die HJ, sondern zu den Pimpfen. Ich habe dort dann offenbar gewisse "Führungsqualitäten" gezeigt: So stieg ich rasch auf zum Jungenschaftsführer der "Jungenschaft Totila". Ich wusste nichts von den jüdischen Vorfahren meiner Mutter und war einfach nur ein ganz normaler deutscher Junge. Von Verfolgung habe ich bis kurz vor Ende des Krieges nichts gemerkt. Denn ich kam zur Flak – so wie auch Benedikt XVI. oder Hans-Dietrich Genscher – und erst dort wurde ich, nachdem meine Mutter verhaftet worden war, für wehrunwürdig erklärt. Das muss man sich einmal vorstellen: Was für ein großes Wort für einen 16-Jährigen: "wehrunwürdig"! Das heißt, ich musste den Luftwaffen-Flakhelferrock ablegen. Ich habe dann den Einmarsch der Roten Armee in Berlin erlebt und war mitten in diesem zertrümmerten Berlin so wie andere Menschen meines Alters entschlossen, die Trümmer wegzuschaffen: "Neues Leben blüht aus den Ruinen!", lautete damals die Phrase. Aber für uns damals war das mehr als nur eine Phrase, für uns damals war das ein Signal, das eben auch lautete: "Nie wieder Krieg! Und jetzt müssen wir Deutschland aufbauen!" Und das haben wir, wie ich glaube, auch ganz gut hinbekommen. Reuß: Sie haben dann in Berlin auch das Zehlendorfer Gymnasium besucht und nach Ihrem Abitur ein Studium begonnen. Bereits 1945 hatten Sie sich im Alter von 17 Jahren den Kommunisten angeschlossen – dies aber nur für kurze Zeit. Bölling: Tja. Reuß: War das ein Reflex auf die Erlebnisse auch in Ihrer Familie mit den Nazis? Bölling: Ja, das hatte ganz bestimmt damit zu tun. Denn ich hatte ja noch nicht ein einziges Buch über den Marxismus-Leninismus gelesen. Das Motiv war: Die Kommunisten werden am entschiedensten den Relikten des nationalsozialistischen Regimes ein Ende bereiten und die Konsequenz ziehen aus dem schrecklichen Desaster, das uns der Hitlerstaat hinterlassen hat. Vom Sozialismus wusste ich damals noch nicht viel. Reuß: Sie haben sich dann ja relativ schnell anders orientiert und im Alter von 19 Jahren in einem Artikel im "Tagesspiegel" im Jahr 1947 recht scharf abgerechnet, wenn ich das so formulieren darf, mit der Politik der SED, die im Jahr 1946 durch einen Zwangszusammenschluss von SPD und KPD gegründet worden war. In diesem Artikel ging es um die Hochschulpolitik der SED. Sie schreiben: "An die Stelle von Wahrheit und geistiger Universalität tritt in zunehmendem Maße politischer Byzantinismus. Ob sie will oder nicht, die Universität erhält den Charakter einer politischen Fortbildungsanstalt… Der Zug nach dem Westen entspringt nur zum geringsten Teil der noch nazistischen Geisteshaltung der Studenten, wie von der SED oft behauptet, er beruht vielmehr auf der Furcht vor Gewissenszwang, auf befohlener Politisierung und einer sich allmählich zur Psychose steigernden Angst vor Überwachung." Das war sehr früh eine sehr scharfe Analyse dessen, was man dann noch über viele Jahrzehnte am Regime in der DDR beobachten konnte. Gab es denn auch Reaktionen auf diesen Artikel? Gab es gegen Sie persönlich Reaktionen? Bölling: Nein, jedenfalls nicht aus Ostberlin. Ich habe diesen Artikel vor einiger Zeit noch einmal durchgelesen und dachte mir: "Das ist vielleicht alles ein bisschen altklug, aber manchmal kann man auch schon in diesem frühen Alter etwas klar sehen und auch zutreffend formulieren." Ich bin aufgrund dieses Artikels damals vom Herausgeber des "Tagesspiegels" gefragt worden, ob ich nicht bei ihnen volontieren möchte. Aber eine weitere Reaktion hat es nicht gegeben. Natürlich haben sich die kommunistischen Studenten und auch die Funktionäre im Studentenausschuss, der von den Kommunisten dominiert war, nicht gerührt. Jedenfalls war das für mich eine tiefe Zäsur, denn ich war wirklich sehr, sehr enttäuscht. Ich hatte mir vom Sozialismus einfach viel, viel mehr erwartet, vom Sozialismus, von dem ich inzwischen dann doch etwas Ahnung hatte. Ich hatte zwar noch nicht das "Kapital" von Karl Marx gelesen, aber ich habe damals, wie viele meiner Generation und der Generation, die aus dem Krieg zurückgekehrt war, Bücher geradezu verschlungen. Wir haben uns auf alles gestürzt, was uns geholfen hat, Klarheit zu gewinnen über das Naziregime. Ja, wir haben damals sehr, sehr viel gelesen. Aber ich war dann nach dieser Enttäuschung entschlossen, gegen diese deutsche Variante des Stalinismus anzugehen, schreiberisch anzugehen. Ich habe das dann auch über Jahre hinweg so gemacht, d. h. ich bin ein ziemlich militanter Antikommunist geworden. Reuß: Sie haben es dann auch am eigenen Leib gespürt, wie Politik gemacht wurde in Ostberlin und auch in Moskau. Denn Sie haben als Redakteur des "Tagesspiegels" über die weiteren Entwicklungen dort berichtet. Diese Jahre 1947 und 1948 waren ja eine spannende Zeit: Es gab weder eine Bundesrepublik noch eine DDR, denn diese beiden deutschen Staaten sind ja erst 1949 gegründet worden. Die CDU hier im Westen hatte damals gerade ihr Ahlener Programm verabschiedet und darin einen christlichen Sozialismus propagiert. Nach der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen im Jahr 1948 hat es dann die berühmte Berlin-Blockade gegeben. Das heißt, die Zufahrtswege nach Westberlin wurden abgeschnitten und es kam dann zu dieser legendären Luftbrücke: Ein Jahr lang wurde Berlin aus der Luft versorgt, nämlich mit sagenhaften und eigentlich kaum vorstellbaren 280000 Flügen. Es gab auch diese berühmte Rede des damaligen Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter … Bölling: "… Ihr Völker der Welt! … Schaut auf diese Stadt! …" Ja, das war wirklich ein großer Bürgermeister. Reuß: Wie haben Sie als junger Journalist, als junger Mensch diese Zeit in Berlin erlebt? Bölling: Ich habe das neulich erst zu einem Redakteur, einem jungen Mann der "Süddeutschen Zeitung" gesagt: Ich war damals tief beeindruckt von der Großzügigkeit der Amerikaner. Sie waren ja noch wenige Jahre vorher Kriegsgegner Deutschlands gewesen, und dass sie nun bereit waren, für die "Krauts", also für die Deutschen, eine so gewaltige Anstrengung zu unternehmen, hat mich sehr beeindruckt. Sie machten das, um das Prinzip der Freiheit auch wirklich glaubhaft zu vertreten, und zwar nicht nur im eigenen Land, sondern nun auch im eingeschnürten und der Willkür der Sowjetunion ausgelieferten Westberlin. Auf diese Weise war dann nämlich Berlin eben gerade nicht erfolgreich der Willkür der Sowjetunion ausgeliefert. Die Amerikaner waren wirklich generös und verhielten sich ganz großartig. Jeder, der nachdenken konnte in Westberlin, hat das nicht für selbstverständlich gehalten. Und dann war es eben ein Mann wie General Clay, damals der wichtigste Amerikaner in Berlin, der das in die Hand genommen hat. Er war durchaus nicht von Anfang an ein großer Deutschlandfreund gewesen. Aber er hatte die politische Bedeutung der Luftbrücke erkannt und hat dafür dann auch sofort die Unterstützung eines zu Beginn mächtig unterschätzten amerikanischen Präsidenten erhalten, nämlich von Harry Truman. Denn als einige Militärs die militärische Konfrontation suchten – ähnlich wie einige Jahre später in der Kubakrise im Gespräch mit Kennedy, als sie forderten, man müsse den Sowjets nun aber auch militärisch eine Harke zeigen –, hat Truman sofort abgewinkt, und zwar zu Recht. Denn es ging einfach nicht darum, hier nun einen neuen, einen dritten Weltkrieg zu evozieren. Wir waren damals jedenfalls tief beeindruckt von den Amerikanern. Wir waren gerührt und wir sind damals in Westberlin wohl wirklich die "besten Amerikaner deutscher Nationalität" gewesen. Das hat sich dann auch über die Jahrzehnte gehalten. Selbst heute fehlt uns älteren Berlinern eigentlich die Präsenz der Amerikaner. Im Sommer 2008 wird George Bush senior in Berlin sein. Das ist ein Mann, dem die Deutschen wirklich eine Menge zu verdanken haben, denn im Unterschied zum verstorbenen französischen Präsidenten Mitterand, der wie fast alle französischen Politiker der Vergangenheit Angst hatte, dass die Deutschen zu stark werden könnten, und auch im Unterschied zu Frau Thatcher, die uns ohnehin wohl nicht so besonders gut leiden mag und die sich auch vor einem zu starken Deutschland fürchtete, hat uns damals Bush senior mit Gorbatschow zusammen zur Seite gestanden. Ohne die beiden hätten wir die deutsche Wiedervereinigung niemals geschafft. Reuß: Ich darf noch einmal zurückkommen auf diese Zeit damals in den 50er Jahren, die ja auch für einen jüngeren Menschen, der diese Zeit selbst gar nicht miterlebt hat, hoch spannend ist. 1953/54 waren Sie Kommentator und Redakteur beim RIAS, also beim "Rundfunk im amerikanischen Sektor". Chefredakteur war damals, wenn ich das richtig nachgelesen habe, , der spätere Bundesminister im Kanzleramt. Sie haben dann den Aufstand der DDR-Bürger 1953 in Berlin erlebt. Diesem Aufstand sind ja ein paar Dinge vorausgegangen: Es hatte Versorgungsprobleme gegeben, dann gab es die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent, was bei gleichbleibendem Lohn eine echte Lohnkürzung bedeutet hätte. Es gab dann zunächst einmal Protestaktionen gegen diese wirtschaftlichen Dinge. Wie jedoch die Stimmung insgesamt war, konnte man daran erkennen, dass sich das ganz schnell politisiert hat, dass dann auch sehr schnell freie Wahlen gefordert wurden. Irgendwann war die DDR-Führung offenbar so verunsichert und irritiert, dass sie nicht mehr wusste, wie es weitergehen soll. In diesem Moment hat dann die Sowjetmacht eingegriffen: Sie hat den Ausnahmezustand verhängt und diesen Aufstand mit Panzern blutig niedergeschlagen. Sie haben darüber berichtet und Sie haben das alles hautnah erlebt. War Ihnen damals die Dimension bewusst, wie nah man auch hier wieder einmal vor einer militärischen Eskalation stand? Bestand so ein bisschen die Gefahr, dass man damals als Kommentator aufpassen musste, kein Öl ins Feuer zu gießen? Bölling: Das ist absolut richtig, Herr Reuß. Egon Bahr, fünf oder sechs Jahre älter als ich, war damals der Chefredakteur. Die Situation wurde am 18. Juni 1953 deshalb sehr kritisch, weil einige der Demonstranten – unterstützt von den Westberliner Gewerkschaften – forderten, dass wir im RIAS, der ja unter Kontrolle des amerikanischen Außenministeriums stand, zu einem Generalstreik aufrufen sollten. Da war nicht nur Egon Bahr, sondern auch uns anderen, jüngeren Redakteuren klar: Das können wir auf keinen Fall machen! An diesem 18. Juni wurde daher eine eingelaufene Weisung des amerikanischen Außenministeriums gar nicht mehr notwendig, in der es geheißen hat: "Nein, um Gottes willen, macht das ja nicht!" Die Situation war wie ein paar Jahre später in Budapest: So etwas hätte in der ohnehin hoch gespannten Atmosphäre zwischen Ost und West der Zündfunke für einen großen militärischen Konflikt werden können. So bitter das war – aber wir haben dann stattdessen gedämpft, wir mussten einfach dämpfen. Reuß: Hatten Sie dieses Eingreifen der Sowjets erwartet? Bölling: Ja, denn ein Mann wie Ulbricht war ja abhängig von dem, was die Sowjets ihm sagten. Später dann hat er einmal versucht, sich ein wenig zu emanzipieren von der Sowjetunion, aber damals, im Jahr 1953, ging es um seinen Machterhalt. Und die Macht von Ulbricht konnte in diesem Moment nur gesichert werden durch die Unterstützung der sowjetischen Truppen. Und so ist es ja auch gekommen. Es gab aber auch einige Kommunisten in hohen Rängen, die damals Konsequenzen ziehen wollten, die also selbstkritisch waren, die sich aber nicht durchsetzen konnten: Sie sind sehr schnell isoliert worden. Ich meine damit Männer wie Rudolf Herrnstadt und einige andere. Der eiserne Stalinist Ulbricht war ja auch einer von denen, die dann 1968 bereit waren, in der Tschechoslowakei mit deutschen Truppen einzumarschieren. Da hatten jedoch die Russen den richtigen Instinkt und habe auf ihre prosowjetisch-tschechischen Freunde gehört, die gesagt haben: "Um Gottes willen! Damit kämen ja innerhalb von 30 Jahren zum zweiten Mal deutsche Soldaten in unser Land!" Aber Ulbricht wäre das völlig egal gewesen. Ich war damals auf dem Potsdamer Platz, als man anfing zu schießen. Zusammen mit meinem Freund Klaus Harpprecht habe ich dann schon 1954 ein Buch darüber geschrieben. Harpprecht und mich hat es sehr gefreut, als vor wenigen Jahren die FAZ gesagt hat, das sei eigentlich immer noch ein ganz gutes Buch. Mich haben jedenfalls diese Ereignisse im Jahr 1953 ungeheuer beeindruckt, das ist klar. Reuß: Ich darf der Chronistenpflicht gerecht werden und darauf hinweisen, dass Sie dann mehrere berufliche Stationen durchliefen: Sie waren beim SFB, wo Sie außenpolitischer Redakteur waren und auch zeitweilig kommissarischer Chefredakteur; Sie waren Korrespondent der ARD in Südosteuropa; Sie waren beim WDR und kamen 1962 zum NDR, wo Sie auch Chefredakteur waren. Schließlich wurden Sie dann 1969 Leiter des ARD-Studios in Washington. Auch das war ja wiederum eine spannende Zeit, denn das war die Zeit der ersten bemannten Mondlandung durch Apollo 11. Aber eines der beherrschendsten, wenn nicht das beherrschende Thema überhaupt, war der Vietnamkrieg. Richard Nixon hatte die Kriegstaktik geändert und ging zu Flächenbombardements über; es kam u. a. zum Einsatz von Napalmbomben. Sie waren relativ schnell erklärter Gegner des Vietnamkrieges. Sie haben als Korrespondent – damals gab es ja nur den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – durch Ihre Berichterstattung sicherlich auch das Amerikabild hier in Deutschland stark geprägt. Wie war denn die Stimmung in den USA? War Ihnen die Verantwortung als Korrespondent bewusst, die Sie für das Amerikabild hier in Deutschland hatten? Bölling: Oh ja, die war mir bewusst. Ich war ja nicht mehr im Jünglingsalter, sondern ich war 41 Jahre alt, als ich nach Washington ging. Sie haben vorhin liebenswürdigerweise und auch nicht ganz falsch gesagt, dass ich von Anfang an ein durch und durch politischer Journalist gewesen bin: Ja, über diese Verantwortung habe ich sehr wohl nachgedacht. Ich erinnere mich, als ich dann später in Bonn angefangen habe, hat Franz Josef Strauß, Gott hab' ihn selig, im Bundestag gesagt: "Herr Bundeskanzler, es ist sehr aufschlussreich, dass Sie sich als Regierungssprecher einen Mann geholt haben, der die Beziehungen zu unseren amerikanischen Freunden durch seine polemische Berichterstattung belastet hat." Das ging im Wesentlichen natürlich an die Adresse von Helmut Schmidt. Wiederum einige Jahre später habe ich mich dann mit dem bayerischen Ministerpräsidenten gut verstanden: Wir hatten ein angenehmes Verhältnis zueinander. Aber ich bekam damals in meiner Zeit in Washington eben auch einen Brief des amtierenden Bundesverteidigungsministers Georg, genannt Schorsch Leber, SPD. Er schrieb mir sinngemäß nach Washington: "Lieber Klaus, ich beobachte mit Sorge deine überkritische, manchmal feindselige Berichterstattung über den Kampf unserer amerikanischen Freunde in Vietnam. Du bist doch Berliner, begreifst du nicht, dass in Vietnam auch die Freiheit deiner Vaterstadt Berlin verteidigt wird?" Ja, so sah ich das eben nicht mehr. Vielleicht hatte ich es als Berliner einige Jahre vorher noch so gesehen: "Durch dick und dünn, right or wrong, unsere amerikanischen Freunde machen alles richtig!" Aber es war dann ganz offenkundig, dass Nixon und eigentlich auch schon Kennedy die Dimension, die Risiken dieses Kriegs, den bereits die Franzosen nach Dien Bien Phu verloren hatten, nicht richtig erkannt haben. Sie haben dann immer mehr junge Amerikaner dort im Dschungel kämpfen lassen gegen einen meist unsichtbaren Feind. Der Krieg war einfach nicht zu gewinnen. Es kam dann gegen Ende der 60er Jahre ja auch die Studentenbewegung auf, gegen die Nixon sogar seine Polizisten in Marsch setzte. Daraufhin begannen aber auch die Eltern der Studenten, also die Mittelklasse, nachzudenken, sodass Nixon mehr und mehr an Rückhalt verlor. Und heute muss man sagen, dass selbst ein so großer Geist wie Henry Kissinger eine Mitverantwortung daran trägt, dass der Vietnamkrieg so lange gedauert hat. Und ein paar Jahre später hat der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara in seinen Erinnerungen gesagt: "We committed a terrible mistake", "wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht". Damit soll das ausgestanden sein? Und was ist heute mit Afghanistan? Auch Obama will in Afghanistan weiterkämpfen, obwohl das ein Krieg ist, der nach Meinung intelligenter Militärs – hoher Generäle – verloren ist. Kein Bundeswehrgeneral darf dies zwar in der Öffentlichkeit sagen, aber auch sie wissen: Dieser Krieg ist verloren. Die Engländer haben ihn vor vielen, vielen Jahrzehnten schon einmal verloren, die Russen haben ihn später ebenfalls verloren: Bildet sich heute der Westen mit der NATO oder ein möglicher amerikanischer Präsident ein, dass dieser Krieg tatsächlich noch gewonnen werden kann? Selbst dann, wenn man darauf verzichtet, amerikanische bzw. westliche Demokratiemuster in Afghanistan durchsetzen zu wollen, wird dieser Krieg nicht zu gewinnen sein. Ich bin kein Pazifist, Herr Reuß, denn so eine Haltung halte ich für unpolitisch, aber ich kann nicht begreifen, dass der Westen aus der Geschichte keine Konsequenzen zieht. Reuß: Man merkt nach wie vor, dass Sie durch und durch ein Homo politicus sind. Noch einmal kurz zurück: Obwohl Sie bereits Intendant bei Radio Bremen waren, wurden Sie nach dem Rücktritt Willy Brandts vom neuen Bundeskanzler Helmut Schmidt nach Bonn "berufen". Wenn ich den Satz richtig nachgelesen habe, dann sagte der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann bei der Aushändigung der Ernennungsurkunde an Sie: "Gehen Sie stets pfleglich mit der Wahrheit um! Bedenken Sie, dass Ihr Amt wichtiger ist als das mancher Minister!" Sie trugen damit also eine große Verantwortung und Sie selbst haben einmal gesagt, als Regierungssprecher seien Sie hin und wieder auch genötigt gewesen, die Wahrheit zu dosieren. Hand aufs Herz: Gab es auch Situationen, in denen Sie Dinge dementieren mussten, von denen Sie wussten, dass Sie so sind? Oder mussten Sie gelegentlich sogar die Unwahrheit sagen, um z. B. Menschenleben nicht zu gefährden? Bölling: Nein. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen selbstzufrieden, und kokett soll es schon mal gar nicht wirken, aber ich glaube tatsächlich, dass ich Gustav Heinemanns Ermahnung all diese Jahre – es waren ja letztlich über sieben Jahre – ernst genommen habe. Geschwindelt habe ich nie, aber Sie haben mich korrekt zitiert: Ich habe manchmal die Wahrheit dosiert. Denn selbstverständlich gab es z. B. Konflikte zwischen den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten in dieser Regierung Schmidt/Genscher. Ich hätte meine Aufgabe damals ja völlig missverstanden, wenn ich in der Bundespressekonferenz einigen Hundert Journalisten sozusagen zitiert hätte, was meinetwegen der Graf Lambsdorff gesagt hat und was ihm der Kanzler darauf erwiderte. Darum kann es bei der Arbeit eines Pressesprechers selbstverständlich nicht gehen, denn … Reuß: Entschuldigen Sie mich bitte, wenn ich so unhöflich bin und Ihren Gedanken unterbreche. Sie waren ja nicht "nur" Pressesprecher der Bundesregierung, Sie waren ja auch Vertrauter und Berater von Helmut Schmidt: Waren Sie denn auch in den Kabinettssitzungen mit dabei? Waren Sie also nirgends ausgeschlossen, konnten Sie überall zuhören? Bölling: Ja, das war in den Regierungen vorher schon ähnlich gewesen. Aber meine Vorgänger, darunter der mit mir damals und bereits Jahre vorher in Hamburg befreundete Conrad Ahlers oder Rüdiger von Wechmar, der vor Kurzem hier in München gestorben ist, hatten bei den Kabinettssitzungen noch am so genannten "Katzentisch" sitzen müssen. Helmut Schmidt führte dann ein – und das war sehr ehrenvoll für mich –, dass ich direkt am Kabinettstisch Platz nehmen konnte. Das hat dann Schröder beibehalten und auch Angela Merkel macht das mit dem sehr sympathischen Bayern und Juristen Ulrich Wilhelm so. Meine Beratung Helmut Schmidts fand aber nicht in den Kabinettssitzungen statt, denn dort hatte ich ja kein Mitspracherecht – allenfalls wenn ich zu medienpolitischen Fragen gefragt worden bin vom Kanzler. Die Beratung hat stattdessen immer wieder im so genannten "Kleeblatt" stattgefunden: mit Schmidt als Vorsitzendem, mit Manfred Schüler als dem Kanzleramtschef, mit "Ben Wisch", wie wir ihn genannt haben, also mit Hans-Jürgen Wischnewski, und mir. Da erwartete Helmut Schmidt dezidiert Widerspruch. Dieser Widerspruch musste jedoch immer sehr gut begründet sein. Man konnte also nicht einfach so aus dem Bauch heraus irgendein Unbehagen an einer Kanzlermeinung artikulieren. Wenn man etwas Kritisches sagte, dann wollte er sehr streng wissen, wie man das begründen könne. Und wenn die Kritik richtig begründet war, dann hat er das auch akzeptiert. Im anderen Fall hat er dann z. B. gesagt: "Klaus, das haben Sie nicht ganz zu Ende gedacht!" Ja, das ist auch passiert, mehr als einmal. Reuß: Das war damals in den 70er Jahren ja eine ganz, ganz schwierige Zeit: Sie gehörten zu dieser "Kleeblattrunde" und waren bei allen internen Beratungen mit dabei. Zu den größten Problemen gehörte damals der Terrorismus. 1977 zählt sicherlich zu den schwierigsten Jahren der Geschichte der Bundesrepublik. In diesem Jahr ermordete die RAF, also die Rote Armee Fraktion, zuerst den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Begleiter und dann den Vorstandssprecher der "Dresdner Bank" Jürgen Ponto. Schließlich wurde der Arbeitgeberpräsident entführt, wobei seine Begleiter brutal erschossen wurden. Sie gehörten damals auch zum kleinen Krisenstab im Kanzleramt. Auch die Opposition wurde mit eingebunden: Das war tatsächlich eine echte Notstandssituation. Wie sind diese Sitzungen abgelaufen? Wie streng kann man denn in solchen Situationen das Rationale vom Emotionalen trennen? Bölling: Das kann man nicht, Herr Reuß, weil dafür die Unmenschlichkeit der RAF zu groß war. Von einem "ideologischen Gegner", wie die Meinhof fabulierte, von einem "gerechteren Deutschland", von der "Befreiung der Unterdrückten" zu sprechen, verbat sich. Es hat in der Geschichte der Neuzeit immer wieder idealistische Vorstellungen, Projektionen von einer besseren Welt gegeben. Aber als es dann bei dieser Bewegung umkippte in nackte Brutalität, in mit moralischen Kategorien überhaupt nicht mehr verbundene Mordtaten, waren wir alle selbstverständlich auch mit unseren Emotionen beteiligt. Das hatte einfach mit der Infamie der RAF zu tun, mit ihrer Rücksichtslosigkeit und auch mit ihrer Anmaßung, sich als Organisation über die Justiz zu erheben, eine eigene Rechtssprechung vollziehen zu können. Denn die RAF mordete ja nicht nur, sondern richtete die Menschen hin, so als sei dem ein Prozess vorangegangen. Da konnte man dann Rationalität und Emotionalität nicht mehr säuberlich voneinander trennen. Aber es kam auf unserer Seite selbstverständlich darauf an, das Handeln der Regierung streng an rechtsstaatlichen Kriterien zu orientieren – und die Gefühle, die man dabei im Bauch hatte, zu unterdrücken. Denn diese Gefühle waren ja selbstverständlich da, aber die Rationalität unseres Handelns musste gesichert werden und wurde auch gesichert. Wenn ich daran denke, dass der Mord an einem der begabtesten deutschen Bankiers, nämlich der Mord an Alfred Herrhausen, bis heute nicht aufgeklärt ist, dann macht mich das wütend. Obwohl wir das in unserer Rechtsordnung nicht verlangen können, macht es mich auch wütend, dass sich die Täter – einige jedenfalls – bis heute als heroische Figuren sehen und nicht bereit sind, an der Aufklärung mitzuwirken. Denn Reue kann man heucheln, aber um das Thema "RAF" im Jahr 2008 oder 2009 endgültig aufgeklärt zu haben, müssten diese Menschen eigentlich bereit sein einzusehen, dass sie hierzu die Pflicht haben. Aber sie sehen es nicht ein und wir können uns da keine Hoffnung machen. Reuß: Das klingt heute alles sehr rational. Aber wenn man zurückblickt, dann erinnert man sich, dass das ja wirklich hoch dramatische Situationen waren. In Deutschland hielt man noch den Atem an wegen der bereits Wochen andauernden Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Ungewissheit, ob er überhaupt noch am Leben sei: Es gab da ja Videos, Briefe usw. von den Entführern. Und dann wurde zusätzlich noch eine Lufthansa-Maschine entführt. Man hatte zunächst geglaubt, der Terror sei nun nicht mehr zu steigern, aber man musste erfahren, dass er sehr wohl noch zu steigern war. Es stellte sich nun in dramatischer Weise die Frage, was das richtige Vorgehen ist. Die Regierung hatte ja einige Jahre vorher bereits einmal nachgegeben bei einer Erpressung durch Terroristen: Das war die Entführung des damaligen Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz durch die "Bewegung 2. Juni". Bölling: Richtig. Reuß: Die Terroristen, die dabei freigepresst worden waren, wurden dann aber wieder straffällig und haben auch wieder Morde begangen. Das war sicherlich ein Grund, warum die Regierung bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer Härte zeigte. Aber das war eine äußerst schwierige Güterabwägung. Sie kannten Schleyer persönlich, Sie kannten seine Familie. Man konnte sich halbwegs ausmalen, welche Seelenqualen die Familie Schleyer durchleiden musste. Bölling: Ja, das stimmt. Wenn ich selbst an der Stelle der Söhne von Schleyer gewesen wäre, dann hätte ich ganz sicherlich auch versucht, was die Familie Schleyer versucht hat, nämlich durch eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichts die Freilassung der "Stammheimer", also der in Stammheim einsitzenden Terroristen durchzusetzen, um das Leben des Vaters bzw. des Ehemanns zu retten. Wir waren uns des großen Risikos beim Sturm auf die Lufthansamaschine "Landshut" in Mogadischu bewusst: Das hätte auch schiefgehen können. Wir hatten überhaupt keine Gewissheit, dass das von Erfolg gekrönt sein wird. Reuß: Ist es denn richtig, dass Helmut Schmidt im Falle eines Scheiterns zurücktreten wollte? Bölling: Ja, das stimmt. Aber, lieber Herr Reuß, es wäre ganz normal gewesen, dass er nach einem Scheitern der Aktion in Mogadischu zurückgetreten wäre – auch wenn das am Tod von dann fast 100 Menschen nichts mehr geändert hätte. Er wäre dann halt zurückgetreten: Na und? Das wäre eine nur selbstverständliche Konsequenz gewesen, denn er hatte ja die entscheidende Verantwortung – und nicht die Oppositionspolitiker wie Kohl und Strauß, die im großen Krisenstab ja ebenfalls mit dabei waren und dort ihre Meinungen geäußert haben. Ja, das hätte schiefgehen können. Aber wir hatten wirklich keine andere Wahl, denn der Anführer der Terroristen an Bord der Lufthansamaschine, Mahmud, war ja ein psychiatrischer Fall. Dieser Mann hat damals, wie sich sicherlich viele unserer Zuschauer erinnern werden, z. B. mit seinen Kumpanen über die Passagiere Alkoholika ausgeschüttet. Statt noch zu warten, als wir gesagt haben, wir würden die Terroristen in Stammheim freilassen, hätte er genauso gut die Maschine in die Luft sprengen können. Dieses Risiko gab es eben auch. Das heißt, die Risiken insgesamt waren letztlich nicht zu kalkulieren. Gut, die Männer von Herrn Wegener, also die Männer der GSG 9, waren hervorragend trainiert. Sie waren, wie wir erst später erfuhren, interessanterweise an genau diesem Typ der Lufthansamaschine ausgebildet worden: Das war ein Vorteil für sie, denn sie kannten diese Maschine ganz genau. Trotzdem hätte diese Aktion schiefgehen können. Vielleicht hat ja der liebe Gott hier einen wohlwollenden Blick getan. Und dann kam die Nachricht vom Suizid der "Stammheimer". Es ist traurig, dass bis heute, dass wirklich bis heute – obwohl das Gott sei Dank immer seltener der Fall ist – in manchen linksintellektuellen Kreisen die Vorstellung herumwabert, sie seien "liquidiert" worden, der Staat habe die Terroristen in Stammheim umgebracht. Diese "RAF-Dolchstoßlegende" ist aber nichts als reine Phantasterei. Damit müssen wir uns nicht weiter aufhalten. Ja, es war eine sehr, sehr kritische Situation damals. Wir können uns nur dringend wünschen, dass uns im Zusammenhang mit islamistischen Fundamentalisten nicht irgendwann eine ähnliche Situation beschert wird. Denn wir wissen ja nicht, ob so etwas nicht doch passieren kann. Klar ist jedenfalls aufgrund unserer Erfahrungen, dass der Staat in solchen Situationen nicht nachgeben darf. Denn Sie haben es ja bereits erwähnt: Die Terroristen, die damals durch die Entführung von Peter Lorenz freigekommen waren, wurden später erneut aktiv als Terroristen. Nachgeben im Zeichen von Humanität und Liberalität ermuntert Terroristen nur. Das wird von Terroristen in aller Regel als Eingeständnis der Schwäche des demokratischen Rechtsstaates interpretiert, was sie wiederum mit neuen Motiven versorgt. Reuß: Ich würde gerne noch einen kleinen Sprung machen – auch wenn es schwer fällt, sich von diesem Thema zu lösen. Ich lasse jetzt mal weg, dass Sie auch ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR waren, und zwar ebenfalls in einer politisch sehr schwierigen Zeit: Man muss ja nur an die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, an den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 denken usw. Sie haben sicherlich auch den Besuch Helmut Schmidts bei Erich Honecker im Dezember 1981 mit vorbereitet. Ich würde stattdessen gerne noch zum Ende der sozialliberalen Koalition im Jahr 1982 kommen. In der Öffentlichkeit hat sich ja der Eindruck festgesetzt, es sei das damalige Lambsdorff-Papier, also ein Reformpapier des damaligen Bundeswirtschaftsministers der Auslöser für diesen Bruch gewesen, ein Papier, in dem er tiefe Einschnitte ins soziale Netz gefordert hatte. Sie haben jedoch in einem Buch, das Ihnen sicherlich nicht nur neue Freunde geschafft hat, geschrieben: "Sicher, der Graf ist prominenter Mittäter, mehr noch ist er aber für Genscher" – dem damaligen Vizekanzler – "ein Medium gewesen." War es also Ihrer Meinung nach der Vizekanzler, der das Ende der Koalition betrieb? Denn man konnte in Ihrem Buch lesen, dass es bereits Geheimverhandlungen zwischen Genscher und Kohl gegeben hat, während die sozialliberale Koalition noch arbeitete. Bölling: Ich glaube, dass der frühere Außenminister selbstverständlich Kontakte zu Kohl gehabt hat. Er hat nämlich gespürt, dass der von ihm sehr geachtete Helmut Schmidt von Monat zu Monat mehr die Unterstützung der eigenen Parlamentsfraktion zu verlieren begann. Mein damaliges Buch "Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt. Ein kleines Tagebuch" hat das aber nicht verschwiegen. Ich habe also keineswegs ignoriert, dass Widerstände gegen Helmut Schmidt aus den Reihen der eigenen Partei kamen, und zwar nicht nur aus der Bundestagsfraktion, sondern aus der Partei im Ganzen. Reuß: Das hatte mit dem NATO-Doppelbeschluss zu tun. Bölling: Ja, absolut, das stand klar im Zusammenhang mit dem NATO- Nachrüstungsbeschluss, von dem Gorbatschow einige Jahre später gesagt hat, das wäre genau die richtige deutsche Antwort gewesen auf die Über- Rüstung der Sowjetunion mit den uns bedrohenden SS-20 Raketen mit ihren atomaren Sprengköpfen. Genscher hat wohl gespürt, dass das nicht mehr lange dauern würde, und so hat er präventiv gesagt: Ehe dieser Kanzler von seiner eigenen Partei demontiert wird und damit auch für uns nicht mehr interessant ist, werden wir selbst aktiv. Sie haben das Lambsdorff-Papier angesprochen: Das trug meiner Meinung nach nur zum geringsten Teil die "Originalhandschrift" von Graf Lambsdorff, der fraglos ein hoch gescheiter Mann ist. Nein, das stammte wohl hauptsächlich vom späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer und dem damaligen Staatssekretär Otto Schlecht: Das waren die zwei Neoliberalen damals, wenn ich das mal so verkürzt sagen darf. Wobei aber in diesem "Scheidungspapier", wie wir das damals genannt haben, auch einige – wohl gemerkt nur einige – Forderungen mit drin waren, von denen Helmut Schmidt sagte: "Darüber könnten wir doch reden!" Aber es gab darin eben auch eine ganze Ladung von ordnungspolitischen Forderungen der FDP, die nicht zu erfüllen waren. Wenn die SPD das hätte akzeptieren wollen, hätte sie sich vorher selbst auflösen müssen. Reuß: Wir sind leider bereits ganz am Ende der Sendung angelangt, auch wenn es sehr, sehr vieles gäbe, was ich gerne noch gefragt hätte. Ich darf mich zunächst einmal ganz herzlich bedanken für dieses so offene wie angenehme Gespräch. Ich möchte gerne, wenn Sie erlauben, mit zwei kurzen Zitaten über Sie enden. Das erste Zitat stammt vom Südwestrundfunk; dort hieß es in einem Radioportrait über Sie: "Viele alte Hasen unter den Parlamentsjournalisten sagen bis heute, Klaus Bölling sei der Beste in der langen Reihe der Regierungssprecher gewesen." Peter Boenisch, lange Jahre Chefredakteur der "Bild-Zeitung" und später unter selbst Regierungssprecher, sagte einmal knapp, kurz und bündig: "Klaus Bölling war und ist der beste Regierungssprecher aller Zeiten." Dem kann man nicht viel hinzufügen. Noch einmal ganz, ganz herzlichen Dank, Herr Bölling. Bölling: Vielen Dank, Herr Reuß. Reuß: Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Klaus Bölling, dem ehemaligen Regierungssprecher. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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