Infoblatt Erfurt
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Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 1 THÜRINGEN BLÄTTER ZUR LANDESKUNDE truktur und Ge- fach als Geschichte der schichte der Bezir- „alten“ Länder ver- Ske der ehemaligen standen, die nach 1952 Deutschen Demokrati- immerhin de iure wei- schen Republik haben ter existierten, auch im öffentlichen Be- wenn auf ihrem Terri- wusstsein bis heute ein torium bis 1990 Bezir- relativ verhaltenes In- ke eingerichtet worden teresse gefunden. Sie waren. Darüber hinaus gelten als künstlich- gelten vor dem Hin- konstruierte Verwal- tergrund des Struktur- tungseinheiten, als prinzips des „demokra- Fremdkörper in der tischen Zentralismus“ natürlichen Entwick- sowie der Tatsache, lung der Länder, als dass bei den Planungs- Instrument der Herr- entscheidungen die Be- schaftssicherung eines lange von Wirtschafts- auf Machterhalt be- zweigen und Kombi- dachten diktatorischen (Foto: Stadtarchiv Erfurt) naten häufig Vorrang Systems, das seinen gegenüber dem „Ter- Bürgern ihre regional- ritorium“ hatten, die spezifische Identität ha- Bezirke als „Regionen be nehmen wollen. Re- ohne Macht“. Eine sol- gionalgeschichte in der che Sichtweise ver- DDR wird daher viel- kennt jedoch die Exis- Zur Geschichte des Bezirkes Erfurt (1952 – 1990) tenz regionaler Eigeninteressen. Hier sen. Der große Bereich der Kultur kann kam es auf die Machtbasis der betref- aus Platzgründen keine Berücksich- fenden Funktionäre an, auf ihre Prä- tigung finden. (Zu den Bezirken Gera senz in zentralen Parteigremien, auf und Suhl liegen gesonderte Betrach- Netzwerke. tungen in den „Blättern zur Landes- Die folgenden Ausführungen werden kunde“ vor.) sich in einer groben, einführenden Der Bezirk Erfurt nahm im Hinblick Skizze, quasi in Form von „Streif- auf flächenmäßige Ausdehnung und lichtern“, mit dem Bezirk Erfurt befas- Wohnbevölkerung einen vorderen Mit- Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 2 telplatz unter den Bezirken der DDR den 13 Landkreisen Apolda, Arnstadt, ein. Mit seinen etwa 7.350 km2 Fläche Eisenach, Erfurt, Gotha, Heiligenstadt, und 1.240.000 Einwohnern (Stand 1987) Langensalza, Mühlhausen, Nordhau- war er fast so groß wie die beiden sen, Sömmerda, Sondershausen, Wei- anderen thüringischen Bezirke, Gera mar und Worbis sowie den beiden und Suhl, zusammen. Er bestand aus Stadtkreisen Erfurt und Weimar. Herrschaftsstrukturen ie Durchsetzung einer Bezirks- aber drei Stadtbezirke der Bezirkstadt struktur erfolgte mit der offizi- Erfurt standen ebenfalls im Range von Dellen Begründung einer größe- KPO. Im Regierungs- und Verwaltungs- ren Bürgernähe. Tatsächlich ist die zentrum des Bezirkes waren Ende 1988 Einführung der neuen Struktur unter insgesamt fast 34.500 Genossinnen herrschaftspolitischen Aspekten erfolgt: und Genossen organisiert, die größten Kleinräumige Verwaltungseinheiten Kreisparteiorganisationen, Nordhausen sind leichter kontrollierbar als große. und Gotha, zählten zu dieser Zeit knapp Ein schneller, einheitlicher Befehlszug 18.000 bzw. über 15.000 Mitglieder und sollte zur besseren Umsetzung zen- Kandidaten. traler Beschlüsse von der Spitze der Der Chefposten der SED wurde im Staatsmacht bis in die Gemeinden ge- Bezirk Erfurt wie in den beiden ande- schaffen werden. An die Stelle der alten ren thüringischen Bezirken häufig von Landtage und Landesregierungen tra- Männern besetzt, die für ihren extrem ten daher seit 1952 die Bezirkstage autoritären Führungsstil bekannt wa- sowie die Räte der Bezirke, die Teil ren. Im Zeitraum von 1958 bis 1980 einer hierarchisch geordneten „Rätepy- leitete Alois Bräutigam, ein enger Ver- ramide“ waren, an deren Spitze der trauter Walter Ulbrichts, die SED-Be- Ministerrat stand. Parallel dazu und in zirksparteiorganisation Erfurt. Zuvor die Parteihierarchie eingebettet exi- hatte er für drei Jahre an der Spitze der stierten die neuen Organe der SED, also Gebietsparteiorganisation Wismut ge- SED-Bezirksdelegiertenkonferenz, Be- standen. Bräutigam verfügte vor seiner zirksleitung sowie Büro und/oder Sek- Tätigkeit als Erster SED-Bezirkssekre- retariat der Bezirksleitung. Hier lag die tär über langjährige Leitungserfahrun- eigentliche Macht auf Bezirksebene, gen im Bezirk Erfurt als Erster Sekre- natürlich vor dem Hintergrund zentra- tär der SED-Kreisleitungen Arnstadt ler Beschlüsse. Die staatlichen Organe (1949 – 1950) und Weimar (1950 – 1951) wurden darüber hinaus durch die in sowie der Stadtleitung Erfurt (1953 – ihnen angesiedelten Parteigruppen von 1954). Mit zunehmender Amtszeit ent- innen heraus kontrolliert. zündete sich immer stärkere Kritik an Der SED gehörten in der Bezirks- der Führungstätigkeit Bräutigams so- parteiorganisation Erfurt im Jahr 1989 wie einiger SED-Kreissekretäre. Der über 156.000 Mitglieder und Kandi- neue Mann, Gerhard Müller, kam aus daten an. In den genannten Kreisen dem Bezirk Neubrandenburg und hatte existierten Kreisparteiorganisationen dort die Funktion des Zweiten SED- (KPO) der SED. Die Parteiorganisatio- Bezirkssekretärs bekleidet. Müller wur- nen der fünf (Fünfzigerjahre), zumeist de im April 1980 im Bezirk Erfurt als Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 3 Hoffnungsträger, der für einen morali- ligenstadt und Worbis, verfolgte Müller schen Neuanfang stand, begrüßt. Als aus Anlass des Karl-Marx-Jahres (1983) ihm im November 1985 der Sprung in einen politischen Kurs, der sogar über das Politbüro des Zentralkomitees die Vorgaben der Zentrale hinausging: (Kandidatenstatus) gelang, verfügte er Nicht nur diejenigen Bürger, die als über eine Machtfülle, die im Hinblick Kandidat in die SED eintreten wollten, auf die thüringischen Bezirke viel- sollten in ideologischer Hinsicht Klar- leicht nur mit der Position Erich Mü- heit schaffen, wem sie denn dienen ckenbergers verglichen werden kann. wollten (dem Papst oder der Partei), Mückenberger war als Erster Sekre- und folgerichtig aus der Kirche austre- tär der SED-Landesleitung Thüringen ten. Vielmehr habe Gleiches für die (1949 – 1952) im Jahr 1950 ebenfalls Funktionäre der SED auf dem Eichsfeld Kandidat des Politbüros geworden und zu gelten. Dieser Kurs, der wenig Ein- dies auch als SED-Parteichef des neu- fühlungsvermögen bezüglich der für gegründeten Bezirkes Erfurt (1952 – seine Partei komplizierten Verhältnisse 1954) geblieben. Anschließend gehörte vor Ort bewies, ließ sich jedoch nicht er dem de facto einflussreichsten Par- durchhalten, und Müller wurde von teigremium als Mitglied an (1954 – Berlin aus bedeutet, er möge seine Po- 1989). litik wieder ändern. Spätestens seit Mit- Den Hoffnungen ließ Müller bald te der Achtzigerjahre und dem weiteren Taten folgen: Insbesondere in Kader- Ausbau seiner Macht entwickelte Mül- fragen griff er hart durch und erwarb ler jedoch ein Herrschaftsgebaren, das sich ganz folgerichtig Beinamen wie sich nur schwer vereinbaren ließ mit „Sägemüller“, „Sensenmüller“, „Kano- den hohen Erwartungen, die mit sei- nenmüller“ und „Eisenmüller“. In den nem Amtsantritt verbunden gewesen beiden Eichsfeldkreisen mit einer ka- waren. tholischen Bevölkerungsmehrheit, Hei- Wirtschaftliche Strukturen und Probleme eine wirtschaftliche Prägung er- sowie in den Achtzigerjahren forciert hielt der Bezirk Erfurt nicht durch die Mikroelektronik zählten zu den Seinen dominanten Wirtschafts- profilbestimmenden Industriezweigen. zweig wie zum Beispiel Halle („Che- Etwa ein Viertel der gesamten Indus- miebezirk“) und Cottbus („Energiebe- trieproduktion des Bezirkes entfiel al- zirk“). Bestimmend war vielmehr eine lein auf die Bezirksstadt Erfurt. Hier industrielle Vielfalt, wobei es unter den waren wichtige Betriebe u. a. des Ma- verschiedenen Sparten im Verlaufe der schinenbaus (VEB Kombinat Umform- Jahre Verschiebungen gab. Maschi- technik), der Elektrotechnik und der nen-, Anlagen- und Fahrzeugbau, Fein- Konsumgüterindustrie vertreten. Der mechanik/Optik, Elektrotechnik, Ka- VEB Robotron Optima Büromaschinen- libergbau, Zementproduktion, Textil-, werk war DDR-weit alleiniger Produ- Möbel- und Lederwarenindustrie, die zent von elektronischen Schreibma- Nahrungs- und Genussmittelindustrie schinen, und der VEB Schuhfabrik Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 4 „Paul Schäfer“ galt als größter Her- nationalen Vergleich sehr hohen Pro- steller von Damenschuhen. Der VEB duktionskosten und den geringen Ent- Funkwerk Erfurt wurde Stammbetrieb wicklungsstand dieser Technik. des 1978 gebildeten Kombinates Mik- Herausragende Industriestandorte roelektronik mit über 50.000 Beschäf- waren neben Erfurt die Städte Eisen- tigten in mehr als zwanzig Betrieben. ach, Mühlhausen, Nordhausen und Neben neuen Produktionsstätten ent- Sömmerda. Der VEB Automobilwerk stand in Erfurt-Südost ein neues, gro- Eisenach, in dem der PKW „Wartburg“ ßes Wohngebiet. Das Kombinat Mikro- produziert wurde, galt als zweitgrößter elektronik Erfurt bildete gemeinsam Betrieb des Bezirkes – nach dem VEB mit den Kombinaten Carl Zeiss Jena Robotron Büromaschinenwerk „Ernst (Bezirk Gera) und Robotron Dresden Thälmann“ in Sömmerda, in dem Ende die industrielle Basis des Elektronik- der Achtzigerjahre 13.000 Menschen Hochtechnologieprogramms der DDR. eine Beschäftigung gefunden hatten. In Der Bezirk Erfurt entwickelte sich zu- Mühlhausen waren Industriezweige sammen mit den Bezirken Gera und der Textil- und Elektroindustrie und ein Suhl (Kombinat Technisches Glas Ilme- großer Zulieferbetrieb für den Fahr- nau) im Verlaufe der Achtzigerjahre zeugbau angesiedelt; die Produktpa- zum Zentrum der Mikroelektronikin- lette von Nordhausen umfasste u. a. den dustrie der DDR sowie des gesamten Schwermaschinenbau und die Spiri- RGW. Bei einer Zusammenkunft