Infoblatt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 1 THÜRINGEN BLÄTTER ZUR LANDESKUNDE truktur und Ge- fach als Geschichte der schichte der Bezir- „alten“ Länder ver- Ske der ehemaligen standen, die nach 1952 Deutschen Demokrati- immerhin de iure wei- schen Republik haben ter existierten, auch im öffentlichen Be- wenn auf ihrem Terri- wusstsein bis heute ein torium bis 1990 Bezir- relativ verhaltenes In- ke eingerichtet worden teresse gefunden. Sie waren. Darüber hinaus gelten als künstlich- gelten vor dem Hin- konstruierte Verwal- tergrund des Struktur- tungseinheiten, als prinzips des „demokra- Fremdkörper in der tischen Zentralismus“ natürlichen Entwick- sowie der Tatsache, lung der Länder, als dass bei den Planungs- Instrument der Herr- entscheidungen die Be- schaftssicherung eines lange von Wirtschafts- auf Machterhalt be- zweigen und Kombi- dachten diktatorischen (Foto: Stadtarchiv Erfurt) naten häufig Vorrang Systems, das seinen gegenüber dem „Ter- Bürgern ihre regional- ritorium“ hatten, die spezifische Identität ha- Bezirke als „Regionen be nehmen wollen. Re- ohne Macht“. Eine sol- gionalgeschichte in der che Sichtweise ver- DDR wird daher viel- kennt jedoch die Exis-

Zur Geschichte des Bezirkes Erfurt (1952 – 1990)

tenz regionaler Eigeninteressen. Hier sen. Der große Bereich der Kultur kann kam es auf die Machtbasis der betref- aus Platzgründen keine Berücksich- fenden Funktionäre an, auf ihre Prä- tigung finden. (Zu den Bezirken Gera senz in zentralen Parteigremien, auf und Suhl liegen gesonderte Betrach- Netzwerke. tungen in den „Blättern zur Landes- Die folgenden Ausführungen werden kunde“ vor.) sich in einer groben, einführenden Der Bezirk Erfurt nahm im Hinblick Skizze, quasi in Form von „Streif- auf flächenmäßige Ausdehnung und lichtern“, mit dem Bezirk Erfurt befas- Wohnbevölkerung einen vorderen Mit- Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 2

telplatz unter den Bezirken der DDR den 13 Landkreisen Apolda, Arnstadt, ein. Mit seinen etwa 7.350 km2 Fläche Eisenach, Erfurt, Gotha, Heiligenstadt, und 1.240.000 Einwohnern (Stand 1987) Langensalza, Mühlhausen, Nordhau- war er fast so groß wie die beiden sen, Sömmerda, Sondershausen, Wei- anderen thüringischen Bezirke, Gera mar und Worbis sowie den beiden und Suhl, zusammen. Er bestand aus Stadtkreisen Erfurt und .

Herrschaftsstrukturen

ie Durchsetzung einer Bezirks- aber drei Stadtbezirke der Bezirkstadt struktur erfolgte mit der offizi- Erfurt standen ebenfalls im Range von Dellen Begründung einer größe- KPO. Im Regierungs- und Verwaltungs- ren Bürgernähe. Tatsächlich ist die zentrum des Bezirkes waren Ende 1988 Einführung der neuen Struktur unter insgesamt fast 34.500 Genossinnen herrschaftspolitischen Aspekten erfolgt: und Genossen organisiert, die größten Kleinräumige Verwaltungseinheiten Kreisparteiorganisationen, Nordhausen sind leichter kontrollierbar als große. und Gotha, zählten zu dieser Zeit knapp Ein schneller, einheitlicher Befehlszug 18.000 bzw. über 15.000 Mitglieder und sollte zur besseren Umsetzung zen- Kandidaten. traler Beschlüsse von der Spitze der Der Chefposten der SED wurde im Staatsmacht bis in die Gemeinden ge- Bezirk Erfurt wie in den beiden ande- schaffen werden. An die Stelle der alten ren thüringischen Bezirken häufig von Landtage und Landesregierungen tra- Männern besetzt, die für ihren extrem ten daher seit 1952 die Bezirkstage autoritären Führungsstil bekannt wa- sowie die Räte der Bezirke, die Teil ren. Im Zeitraum von 1958 bis 1980 einer hierarchisch geordneten „Rätepy- leitete Alois Bräutigam, ein enger Ver- ramide“ waren, an deren Spitze der trauter Walter Ulbrichts, die SED-Be- Ministerrat stand. Parallel dazu und in zirksparteiorganisation Erfurt. Zuvor die Parteihierarchie eingebettet exi- hatte er für drei Jahre an der Spitze der stierten die neuen Organe der SED, also Gebietsparteiorganisation Wismut ge- SED-Bezirksdelegiertenkonferenz, Be- standen. Bräutigam verfügte vor seiner zirksleitung sowie Büro und/oder Sek- Tätigkeit als Erster SED-Bezirkssekre- retariat der Bezirksleitung. Hier lag die tär über langjährige Leitungserfahrun- eigentliche Macht auf Bezirksebene, gen im Bezirk Erfurt als Erster Sekre- natürlich vor dem Hintergrund zentra- tär der SED-Kreisleitungen Arnstadt ler Beschlüsse. Die staatlichen Organe (1949 – 1950) und Weimar (1950 – 1951) wurden darüber hinaus durch die in sowie der Stadtleitung Erfurt (1953 – ihnen angesiedelten Parteigruppen von 1954). Mit zunehmender Amtszeit ent- innen heraus kontrolliert. zündete sich immer stärkere Kritik an Der SED gehörten in der Bezirks- der Führungstätigkeit Bräutigams so- parteiorganisation Erfurt im Jahr 1989 wie einiger SED-Kreissekretäre. Der über 156.000 Mitglieder und Kandi- neue Mann, Gerhard Müller, kam aus daten an. In den genannten Kreisen dem und hatte existierten Kreisparteiorganisationen dort die Funktion des Zweiten SED- (KPO) der SED. Die Parteiorganisatio- Bezirkssekretärs bekleidet. Müller wur- nen der fünf (Fünfzigerjahre), zumeist de im April 1980 im Bezirk Erfurt als Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 3

Hoffnungsträger, der für einen morali- ligenstadt und Worbis, verfolgte Müller schen Neuanfang stand, begrüßt. Als aus Anlass des Karl-Marx-Jahres (1983) ihm im November 1985 der Sprung in einen politischen Kurs, der sogar über das Politbüro des Zentralkomitees die Vorgaben der Zentrale hinausging: (Kandidatenstatus) gelang, verfügte er Nicht nur diejenigen Bürger, die als über eine Machtfülle, die im Hinblick Kandidat in die SED eintreten wollten, auf die thüringischen Bezirke viel- sollten in ideologischer Hinsicht Klar- leicht nur mit der Position Erich Mü- heit schaffen, wem sie denn dienen ckenbergers verglichen werden kann. wollten (dem Papst oder der Partei), Mückenberger war als Erster Sekre- und folgerichtig aus der Kirche austre- tär der SED-Landesleitung Thüringen ten. Vielmehr habe Gleiches für die (1949 – 1952) im Jahr 1950 ebenfalls Funktionäre der SED auf dem Eichsfeld Kandidat des Politbüros geworden und zu gelten. Dieser Kurs, der wenig Ein- dies auch als SED-Parteichef des neu- fühlungsvermögen bezüglich der für gegründeten Bezirkes Erfurt (1952 – seine Partei komplizierten Verhältnisse 1954) geblieben. Anschließend gehörte vor Ort bewies, ließ sich jedoch nicht er dem de facto einflussreichsten Par- durchhalten, und Müller wurde von teigremium als Mitglied an (1954 – Berlin aus bedeutet, er möge seine Po- 1989). litik wieder ändern. Spätestens seit Mit- Den Hoffnungen ließ Müller bald te der Achtzigerjahre und dem weiteren Taten folgen: Insbesondere in Kader- Ausbau seiner Macht entwickelte Mül- fragen griff er hart durch und erwarb ler jedoch ein Herrschaftsgebaren, das sich ganz folgerichtig Beinamen wie sich nur schwer vereinbaren ließ mit „Sägemüller“, „Sensenmüller“, „Kano- den hohen Erwartungen, die mit sei- nenmüller“ und „Eisenmüller“. In den nem Amtsantritt verbunden gewesen beiden Eichsfeldkreisen mit einer ka- waren. tholischen Bevölkerungsmehrheit, Hei- Wirtschaftliche Strukturen und Probleme

eine wirtschaftliche Prägung er- sowie in den Achtzigerjahren forciert hielt der Bezirk Erfurt nicht durch die Mikroelektronik zählten zu den Seinen dominanten Wirtschafts- profilbestimmenden Industriezweigen. zweig wie zum Beispiel Halle („Che- Etwa ein Viertel der gesamten Indus- miebezirk“) und Cottbus („Energiebe- trieproduktion des Bezirkes entfiel al- zirk“). Bestimmend war vielmehr eine lein auf die Bezirksstadt Erfurt. Hier industrielle Vielfalt, wobei es unter den waren wichtige Betriebe u. a. des Ma- verschiedenen Sparten im Verlaufe der schinenbaus (VEB Kombinat Umform- Jahre Verschiebungen gab. Maschi- technik), der Elektrotechnik und der nen-, Anlagen- und Fahrzeugbau, Fein- Konsumgüterindustrie vertreten. Der mechanik/Optik, Elektrotechnik, Ka- VEB Robotron Optima Büromaschinen- libergbau, Zementproduktion, Textil-, werk war DDR-weit alleiniger Produ- Möbel- und Lederwarenindustrie, die zent von elektronischen Schreibma- Nahrungs- und Genussmittelindustrie schinen, und der VEB Schuhfabrik Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 4

„Paul Schäfer“ galt als größter Her- nationalen Vergleich sehr hohen Pro- steller von Damenschuhen. Der VEB duktionskosten und den geringen Ent- Funkwerk Erfurt wurde Stammbetrieb wicklungsstand dieser Technik. des 1978 gebildeten Kombinates Mik- Herausragende Industriestandorte roelektronik mit über 50.000 Beschäf- waren neben Erfurt die Städte Eisen- tigten in mehr als zwanzig Betrieben. ach, Mühlhausen, Nordhausen und Neben neuen Produktionsstätten ent- Sömmerda. Der VEB Automobilwerk stand in Erfurt-Südost ein neues, gro- Eisenach, in dem der PKW „Wartburg“ ßes Wohngebiet. Das Kombinat Mikro- produziert wurde, galt als zweitgrößter elektronik Erfurt bildete gemeinsam Betrieb des Bezirkes – nach dem VEB mit den Kombinaten Carl Zeiss Jena Robotron Büromaschinenwerk „Ernst () und Robotron Dresden Thälmann“ in Sömmerda, in dem Ende die industrielle Basis des Elektronik- der Achtzigerjahre 13.000 Menschen Hochtechnologieprogramms der DDR. eine Beschäftigung gefunden hatten. In Der Bezirk Erfurt entwickelte sich zu- Mühlhausen waren Industriezweige sammen mit den Bezirken Gera und der Textil- und Elektroindustrie und ein Suhl (Kombinat Technisches Glas Ilme- großer Zulieferbetrieb für den Fahr- nau) im Verlaufe der Achtzigerjahre zeugbau angesiedelt; die Produktpa- zum Zentrum der Mikroelektronikin- lette von Nordhausen umfasste u. a. den dustrie der DDR sowie des gesamten Schwermaschinenbau und die Spiri- RGW. Bei einer Zusammenkunft mit tuosenherstellung. Profilbestimmende Erich Honecker wurde dem General- Betriebe existierten auch in bzw. bei sekretär des ZK der SED am 14. August Apolda (Textilindustrie), Arnstadt (Che- 1989 von Werktätigen des Kombinates mieanlagenbau), Gotha (Maschinen- Mikroelektronik ein Funktionsmuster und Fahrzeugbau), Sondershausen (Sitz eines 32-Bit-Mikroprozessors über- des Kalikombinates) und Weimar (Bau reicht. Das propagandistisch herausge- von Landmaschinen). Durch den so- stellte Ereignis verklärte die im inter- genannten „Eichsfeldplan“ im Jahr

Erfurt: Lowetscher Straße, 1975 (Foto: Stadtarchiv Erfurt) Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 5

1959 erfuhren insbesondere die beiden zigerjahre, in denen sich die Bezirke Eichsfeldkreise Heiligenstadt und Wor- verpflichteten, Bauprojekte in Berlin zu bis eine stark beschleunigte industriel- erfüllen, während die Kreisstädte sich le Entwicklung u. a. durch den Bau in den betreffenden Bezirksstädten einer großen Baumwollspinnerei in engagieren sollten, konnten die Prob- Leinefelde (Kreis Worbis). Demgegen- leme des Verfalls der Innenstädte allen- über waren die Landkreise Bad Lan- falls punktuell lindern helfen, keines- gensalza sowie von Erfurt und Weimar wegs lösen, und die Gemeinden und bis zuletzt landwirtschaftlich geprägt. kleineren Städte am unteren Ende die- Das grob skizzierte wirtschaftliche ser Hierarchie waren praktisch auf sich Profil des Bezirkes Erfurt verstellt den allein gestellt. Blick auf die ökonomischen Probleme, Einiges Kopfzerbrechen bereitete die jenseits der propagandistisch ge- den Verantwortlichen auch die Her- färbten Erfolgsmeldungen gegen Ende stellung von weltmarktfähigen Produk- der DDR als immer bedrückender emp- ten, durch deren Verkauf die dringend funden wurden: Der unter beständi- benötigten Devisen beschafft werden gem Zeitdruck vollzogene Bau der rie- sollten, nachdem zu Beginn der Acht- sigen Trabantenstädte insbesondere in zigerjahre die Rohstoffpreise explo- Erfurt, aber auch in kleineren Städten, dierten, die Sowjetunion ihre Liefer- führte nicht selten zu Planrückständen verpflichtungen an Rohstoffen nicht und einer mangelnden Abstimmung einhielt, und die DDR zusehends am zwischen Hoch- und Tiefbau mit der finanziellen Tropf insbesondere der Folge, dass Wohnungen nicht bzw. erst Bundesrepublik hing. Gerhard Müller verspätet bezogen werden konnten, führte beständig Klage darüber, dass weil ein Anschluss an Gas- und Was- „der Anteil echter Spitzenleistungen in serleitungen oder der Ausbau einer unserem Bezirk viel zu gering“ sei. entsprechenden Infrastruktur (Wege, Wichtige Betriebe des Bezirkes hätten Einkaufsmöglichkeiten) mit der ei- auf der Leipziger Messe erneut gezeigt, gentlichen Errichtung der riesigen „dass das Fehlen weltmarktgerechter Wohnblöcke nicht Schritt zu halten Spitzenerzeugnisse sich negativ auf die vermochten. Gleichzeitig verfiel die Alt- Absatzfähigkeit in das nichtsozialisti- bausubstanz. Der Bezirk Erfurt ver- sche Wirtschaftsgebiet auswirkt.“ Das fügte über einen überdurchschnitt- Streben nach „harten“ Devisen, der lich hohen Anteil an Altbauten im „Ausverkauf der DDR“, die übermäßige Verhältnis zum gesamten Wohnungs- Konzentration und Zentralisation der bestand. Über 44 Prozent der Woh- Produktion gingen zu Lasten von Qua- nungen waren zu Beginn der Acht- lität und Sortimentsvielfalt bei Produk- zigerjahre über 80 Jahre alt. Bei ten für die heimische Bevölkerung. Und 4.800 Wohnungen hatte die Staatliche der verstärkte Einsatz von Braunkohle Bauaufsicht aufgrund ihres schlechten verringerte zwar die Abhängigkeit von Erhaltungszustandes eine Sperrung Heizölimporten, führte aber in den verfügt, 1.300 Wohnungen waren Achtzigerjahren zu einer dramatischen schwer vermietbar. Besonders ange- Verschlechterung der Luftqualität. spannt gestaltete sich die Situation in Zusammenfassend lässt sich jedoch den Städten Erfurt, Weimar, Mühl- sagen, dass der Bezirk Erfurt neben den hausen, Gotha, Bad Langensalza und Bezirken Gera und Suhl sowie Berlin Arnstadt. Großangelegte Rekonstruk- (Ost), Rostock und Dresden (Oberes tionsmaßnahmen ab Mitte der Sieb- Elbtal) zu den „Vorzugsregionen“ der Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 6

DDR zählte. In den thüringischen Be- gut, die Luftqualität im Allgemeinen zirken waren neue, moderne Indus- nicht so schlecht wie in anderen Bezir- trien entstanden, die Wohnbedingun- ken, und auch das natürliche sowie kul- gen aufgrund eines sehr hohen Anteils turelle Lebensumfeld befanden sich auf an privatem Eigentum verhältnismäßig einem attraktiven Niveau.

Die „andere Seite“

rotz beständiger Propagierung schen Grenze auch im Bezirk Erfurt von Höchstleistungen, die von ereigneten, unternahmen Bürger im- Tder Überlegenheit des Sozialis- mer wieder waghalsige Anstrengun- mus zeugen sollten, bewahrten sich gen, um ihren Staat für immer zu nicht wenige Bürger einen Blick dafür, verlassen. Im Jahr 1984 wollten bei- dass dieses System eben auch für man- spielsweise zwei Ehepaare mit Hilfe gelnde Entscheidungsfreiheit, Zwang von zwei Motordrachen die Flucht in und Unterdrückung stand. (Von den all- die Bundesrepublik wagen. Testflüge in täglichen Erfahrungen der Mangelwirt- einem abgelegenen Waldgebiet wurden schaft ganz zu schweigen.) jedoch von Wanderern entdeckt, die Die Abriegelung der DDR gegenüber Verdacht schöpften und die staatlichen dem „Westen“ durch die Errichtung Organe informierten. Personen, die eines stark befestigten Grenzstreifens Fluchtgedanken hegten oder durch kri- im Mai 1952 und die damit verbun- tische Äußerungen auffielen, gerieten denen Umsiedlungsmaßnahmen und schnell ins Fadenkreuz des Staats- strengen Auflagen für Bewohner im sicherheitsdienstes. Allein zwischen Sperrgebiet sowie schließlich der Bau 1975 und 1989 wurden in der MfS- der Berliner Mauer im August 1961 ver- Untersuchungshaftanstalt der Erfur- ursachten unsägliches Leid. Trotz der ter Andreasstraße gegen mehr als Tragödien, die sich bei gescheiterten 2.400 Personen Strafermittlungen ge- Fluchtversuchen an der innerdeut- führt.

Volksaufstand und Umsturz

chwerpunkt des Aufstandes um jedoch auch Gotha, Nordhausen, Wei- den 17. Juni 1953 war im Bezirk mar und ganz besonders Sömmerda SErfurt die Bezirksstadt. In den (Rheinmetall). Hier versammelten sich Großbetrieben Pels, Funkwerk und am 17. Juni etwa 10.000 Bürger auf dem Optima wurde zu Streiks aufgerufen, Marktplatz, verlangten u. a. den Rück- allerdings weniger am 17. Juni, son- tritt der Regierung und sangen die drit- dern in den darauf folgenden ein bis te Strophe des Deutschlandliedes. Die zwei Tagen. Die Staatsmacht hatte sich Kreisstadt Mühlhausen steht vor allem zwischenzeitlich vom ersten Schre- für einen Protest der Bauern. 3.000 cken erholt, die Betriebe umstellt und Personen hatten sich auf dem Markt- für Ruhe gesorgt. Zentren waren platz zu einer Kundgebung eingefun- Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 7

den und forderten u. a. „Gesamt- Beistand der Sowjetunion im Herbst deutsche freie und geheime Wahlen“ 1989 aus. Die stark anschwellende sowie den „Wegfall der Sperrzonen“. Ausreisewelle, die Massendemonstra- Die Verkündigung des Ausnahmezu- tionen, aber auch tiefe Unzufriedenheit standes in Verbindung mit dem Auf- und Orientierungslosigkeit von SED- fahren sowjetischer Panzer setzten die- Parteibasis und Funktionärsschicht sen Aktivitäten ein Ende. Die Staats- nötigten die ehemals Mächtigen zum macht schlug unbarmherzig zurück Abtritt von der politischen Bühne und und verhängte häufig mehrjährige setzten schließlich der Existenz der Haftstrafen. Bekannt sind außerdem Deutschen Demokratischen Republik vier Bürger aus den Bezirken Erfurt ein Ende. und Gera, die in den Tagen vom 18. bis Beispielsweise hatten sich am 3. und 20. Juni 1953 standrechtlich erschos- 9. November in Erfurt etwa 80.000 sen wurden, darunter Axel Schläger, Menschen zu einer friedlichen Pro- ein 17jähriger Schüler aus Apolda, und testkundgebung versammelt. Bei einer Günter Schwarzer, Unterleutnant der Wohnbevölkerung von etwa 16.500 KVP aus Gotha. Menschen gingen in dem eher „be- Die SED-Parteiorganisation war bei schaulichen“ Heiligenstadt am 6. No- den Juniunruhen auch im Bezirk Erfurt vember 25.000 Bürger auf die Straße. in eine tiefe Krise geraten. Viele führen- In der Bezirksparteiorganisation Erfurt de SED-Funktionäre gehörten bereits der SED waren Ende Juni 1989 gegen- einer jungen Generation an. Dem- über Dezember 1988 bereits 585 Per- gegenüber wurden die älteren Funk- sonen aus ihrer Partei ausgetreten, und tionäre, die aktiv gegen den National- das war erst der Anfang, an dessen sozialismus gekämpft und für ihre Ende sich zurückgegebene Mitglieds- Überzeugungen lange Jahre in Zucht- bücher „waschkörbeweise“ in den SED- haus oder Konzentrationslager ver- Kreisleitungen stapelten. Auch die Ge- bracht hatten, fortwährend aus ihren winnung neuer Kandidaten für die SED Funktionen verdrängt. Einige der jun- geriet ins Stocken. Mitte Oktober 1989 gen Funktionäre, die an den Schalt- lag die Parteiorganisation im Bezirk hebeln der Macht saßen, waren mit der Erfurt mit über 1.000 Personen hinter Ausnahmesituation überfordert. Her- der Zielstellung eines Normaljahres mann Stange, Erster Sekretär der (4.000) zurück. Die Parteiführung rea- SED-Kreisleitung Sömmerda, zählte gierte zunächst mit unnachgiebiger allerdings zu den relativ erfahrenen Härte auf abweichende Meinungen. Funktionären, war in der NS-Zeit für Eine innerparteiliche Großaktion, der seine politischen Anschauungen ver- Umtausch der Parteidokumente, sollte folgt und inhaftiert worden. 1953 legte im Spätsommer und Herbst 1989 die man ihm zur Last, er habe in den Ta- SED von schwankenden Genossen gen der Unruhen in Sömmerda seine „befreien“. Bereits von Dezember 1988 Bewährungssituation nicht bestanden. bis Ende Juni 1989 waren in der Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Bezirksparteiorganisation Erfurt 525 Rates des Kreises wurde er seiner Personen aus der SED ausgeschlossen Funktion enthoben. worden. Gelang es im Juni 1953 der Staats- Auf einer Sitzung der SED-Bezirks- und Parteiführung der DDR mit Hilfe leitung Erfurt vom 5. November 1989 sowjetischer Panzer den Staat in ihrem glaubte Gerhard Müller, seine Ge- Sinne zu stabilisieren, so blieb der treuen hinter sich gebracht zu haben Infoblatt Erfurt 14.12.2004 14:45 Uhr Seite 8

und für die Auseinandersetzung mit von Verteidigungsminister und Po- seinen Gegnern gerüstet zu sein. Doch litbüromitglied Heinz Keßler. Der von Funktionären aus den Sekretaria- Rückendeckung durch seinen mächti- ten von SED-Stadtleitung und FDJ-Be- gen Verwandten verlustig gegangen, zirksleitung wurden öffentlich Rück- kam für Keßler das politische Aus, und trittsforderungen laut, und auf der auch der Ratsvorsitzende des Kreises Tagung des Zentralkomitees vom 8. bis musste seinen Abschied nehmen. 10. November fand Müller keine Unter- Mit dem hohen Wahlsieg der „Allianz stützung für die erneute Wahl ins für Deutschland“ (CDU, DSU, DA) aus Politbüro. Das Plenum der SED-Be- Anlass der Volkskammerwahlen am zirksleitung Erfurt, das am 11. Novem- 18. März 1990 und der Wahl einer ber erneut zusammentrat, entzog dem demokratisch legitimierten Regierung einst so mächtigen „Bezirksfürsten“ das wurden die Weichen zum Beitritt der Vertrauen. DDR zum Geltungsbereich der Bun- Das große Stühlerücken setzte sich desrepublik Deutschland am 3. Oktober auch auf Kreisebene fort, so in Son- und damit zur „Wiedervereinigung“ dershausen, Gotha, Worbis, Mühlhau- gestellt. Die alten Organe der Staats- sen, Bad Langensalza, Erfurt-Land, wo macht wurden auch auf Bezirksebene bis Mitte November die Ersten SED- zum „Auslaufmodell“: Der Bezirkstag Kreissekretäre ausgewechselt wurden. Erfurt hatte am 18. Mai zuletzt getagt, Anfang Dezember folgten die Ersten und die Räte der Bezirke wurden Sekretäre der Stadt- sowie der drei durch provisorische Bezirksverwal- Stadtbezirksleitungen Erfurt der SED. tungsbehörden ersetzt. Zum Regie- Den Anfang hatte im Hinblick auf die rungsbevollmächtigten für den Bezirk drei thüringischen Bezirke bereits am Erfurt war am 8. Juni vom Minister- 31. Oktober Manfred Keßler, Erster präsidenten der DDR Josef Duchacˇ Sekretär der SED-Kreisleitung Son- bestimmt worden. Am 3. Oktober dershausen, gemacht, dessen Herr- wurde neben , Mecklen- schaftsgebaren weithin Anstoß erregt burg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und hatte. Bei dem hohen Funktionär Sachsen das Land Thüringen wieder handelte es sich um einen Neffen gegründet. Dr. Heinz Mestrup Einführende Literatur:

Best, Heinrich, Heinz Mestrup (Hg): Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Weimar, Jena 2003. Grundmann, Siegfried: Territorialplanung in der DDR. In: Annette Herausgeber: Becker (Hg.): Regionale Strukturen im Wandel. Landeszentrale für politische Bildung Opladen 1997, S. 105 – 148. THÜRINGEN Marek, Dieter: Regierungsstraße 73, 99084 Erfurt Bezirke statt Länder: Die DDR-Verwaltungs- www.thueringen.de/de/lzt reform 1952. Erfurt 2002. [Thüringen: Blätter Autor: Dr. Heinz Mestrup, zur Landeskunde 24] Historisches Institut, FSU Jena Rauch, Birgit: Druck: Druckerei Sömmerda GmbH Der Bezirk Erfurt. In: Best/Mestrup, S. 31 – 42. 2004 (45)