Zwischen Bekenntnis und Ideologie

Zwischen Bekenntnis und Ideologie

100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Thomas Martin Schneider, Joachim Conrad und Stefan Flesch

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Leipzig Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig Coverabbildungen (von links oben nach rechts unten): Johannes Rau (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Hans Lachmann), Hannelotte Reiffen und Ernst Flatow (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland); Annemarie Rübens und Paul Schneider (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland), Hans Iwand. (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Hans Lachmann); Dorothee Sölle und Gustav Heinemann (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Hans Lachmann), Heinrich Oberheid (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland); (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland), Karl Jarres (ã Bundesarchiv, Bild 102-01175), Wilhelm Menn (ã Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland) Satz: Michael Hofferberth, Düsseldorf Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-374-05617-0 www.eva-leipzig.de Inhalt

Einleitung ...... 7

100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus ...... 13

Prägung im Kaiserreich (ca. 1860–1890) ...... 13 Frontgeneration (ca. 1890–1900) ...... 109 Kriegsjugendgeneration (ca. 1901–1910) ...... 221 Nachkriegsgeneration (ca. 1910–1920) ...... 295 Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (ca. 1921–1934) ..... 321

100 Lebensbilder – Versuch einer Bilanz ...... 343

Personenindex ...... 353

Abkürzungen ...... 362

Abbildungsnachweis ...... 363

Autorinnen und Autoren ...... 365

Einleitung

Nur etwas mehr als zwölf Jahre, nämlich die kurze Zeitspanne von Ende Janu- ar 1933 bis Anfang Mai 1945, drückten wie wohl keine andere Epoche dem gesamten 20. Jahrhundert den Stempel auf. Das gilt für Deutschland, für Eu- ropa, ja für die ganze Welt. Und das gilt für die allgemeine Geschichte wie für die Geschichte der Kirchen, auch für die evangelische Kirchengeschichte im Rheinland. Aus der sicheren Warte von heute versucht man nicht nur zu verste- hen, was in der Zeit des Nationalsozialismus selbst geschah, sondern auch für die Zeit davor zu ergründen, wie es dahin kommen konnte, wer den Nazis den Weg gebahnt hat oder – umgekehrt – wer frühzeitig gewarnt hat, und für die Zeit danach, wie die NS-Zeit nachwirkte, welche unmittelbaren und mittelbaren Folgen sie hatte, ob und wie sie erinnert wurde, welche Lehren man meinte ziehen zu müssen. Die nationalsozialistischen Staatsverbrechen, u. a. die millio- nenfache Judenverfolgung und -ermordung, bedeuteten insbesondere auch für die evangelische Kirchengeschichte eine tiefe Zäsur, die der Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild zu Recht als »moralische Katastrophe« bezeichnet hat.1 Die Frage drängt sich auf, wie sich insbesondere die Christinnen und Christen, von den Amtsträgern bis zu den einfachen Gemeindegliedern, vor, während und nach der NS-Zeit verhalten haben. Personenzentrierte Geschichtsschreibung galt in den vergangenen Jahr- zehnten vielfach als verpönt, da es nicht einzelne Gestalten, erst recht nicht bloß Männer seien, die Geschichte machten, sondern vielmehr Strukturen, Mentalitäten u. ä. Neuerdings erleben biografische Ansätze in der Geschichts- und Kirchengeschichtswissenschaft dagegen geradezu eine Renaissance. Wenn geschichtliche Persönlichkeiten nicht losgelöst vom jeweiligen historischen Kontext betrachtet werden, sondern vielmehr als verwickelt in Geschichte, dann ermöglichen sie häufig einen spannenden, konkreten Zugang zur Geschichte. Theologiegeschichte ist sogar schlechterdings nicht ohne personenorientierte Historiografie vorstellbar, denn theologische Positionen sind nicht selten eng mit biografischen Besonderheiten verwoben bzw. nur vor deren Hintergrund wirklich verständlich. In dem hier vorliegenden Band sind 100 Kurzbiografien rheinischer Prote- stantinnen und Protestanten versammelt, die neben ihrer zumindest zeitweisen Zugehörigkeit zur rheinischen evangelischen Kirche eines verband, nämlich dass sie unmittelbar vor, während oder in den Jahrzehnten nach der NS-Zeit gelebt und gewirkt haben und in irgendeiner Weise mit ihrer Kirche enger verbunden waren oder sich mit ihr auseinandersetzten. Abgesehen von diesen

1 Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, Gütersloh 1999, 906. 8 Lebensbilder

Gemeinsamkeiten handelt es sich um einen kunterbunten Strauß ganz unter- schiedlicher Persönlichkeiten, verfasst von mehr als drei Dutzend Autorinnen und Autoren. Zwar können und wollen wir keinen Anspruch auf Repräsentativi- tät oder gar Vollständigkeit erheben – und so wird ganz sicher manche Leserin/ mancher Leser mit guten Gründen die eine oder andere Person vermissen und umgekehrt die eine oder andere berücksichtigte Person stattdessen womöglich für entbehrlich halten –, aber dennoch war bei der Auswahl der Personen das Bemühen leitend, den rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert zumin- dest exemplarisch in seiner ganzen Breite abzubilden. Berücksichtigung fin- den sollten also etwa unterschiedliche theologische und (kirchen-)politische Richtungen (liberal, konservativ, pietistisch-evangelikal, lutherisch, reformiert, uniert, Bekennende Kirche [BK], »Deutsche Christen« [DC], Linksprotestantis- mus etc.), die im 20. Jahrhundert meist noch stark unterrepräsentierten Frau- en, neben den Pfarrerinnen und Pfarrern etwa auch Nicht-Theologinnen und Nicht-Theologen, also sogenannte Laien (ein Begriff, den die reformatorischen Kirchen auf Grund des »Priestertums aller Gläubigen« eigentlich gar nicht ken- nen), Universitätstheologinnen und -theologen, Religionspädagoginnen und -pädagogen und Menschen aus anderen kirchlichen Betätigungsfeldern, vor allem auch aus dem diakonischen Bereich, sowie aus dem gesellschaftlichen Leben allgemein. Schließlich sollten alle Regionen, also etwa auch Diasporage- genden wie das Saarland, in hinreichendem Maße vorkommen. Die Ordnung der Biografien erfolgte nicht alphabetisch, sondern nach Al- terskohorten und innerhalb dieser wiederum nach dem Lebensalter. Auf diese Weise können einerseits Personen historisch angemessener miteinander ver- glichen werden, andererseits wird beim Lesen eine historische Entwicklung er- kennbar. Ein alphabetisches Verzeichnis im Anhang ermöglicht gleichwohl das rasche Auffinden bestimmter Personen. Die rheinische evangelische Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert ist ins- besondere mit Hilfe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte sowie der landeskirchlichen Kommission für Kirchengeschichte (früher: Ausschuss für rheinische Kirchengeschichte und kirchliche Zeitgeschichte) gründlich wissen- schaftlich aufgearbeitet worden. Davon zeugen u. a. dutzende einschlägige Bü- cher der Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte (SVRKG), zahlreiche Aufsätze in den Monatsheften bzw. (seit 2013) Jahrbüchern für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes (MEKGR bzw. JEKGR) und der von Günther van Norden im Jahre 1990 herausgegebene Band V: »Das 20. Jahrhundert« der Quellen zur rheinischen Kirchengeschichte. Einen Überblick auf der Grundlage aktueller Forschungen bieten die 2013 bzw. 2008 erschiene- nen Bände 4 und 5 der handbuchartigen Evangelischen Kirchengeschichte im Rheinland: »Krise und Neuordnung im Zeitalter der Weltkrieg 1914–1948« (hg. von Thomas Martin Schneider) und »Kirche in der Öffentlichkeit – Die Transfor- mation der Evangelischen Kirche im Rheinland 1948–1989« (verfasst von Uwe Kaminsky). Die wichtigsten Informationen, knapp zusammengefasst, finden sich in dem großformatigen, mit zahlreichen Abbildungen, Kartenmaterial und Einleitung 9

CD-ROM versehenen Bildband »Evangelisch am Rhein« aus dem Jahre 2007 (hg. von Joachim Conrad, Stefan Flesch, Nicole Kuropka und Thomas Martin Schnei- der). Seit Ende 2016 ist schließlich der rheinische Regionalteil der EKD-Online- Ausstellung www.evangelischer-widerstand.de zum Verhalten evangelischer Christinnen und Christen im Nationalsozialismus mit vielen Text- und Bilddo- kumenten freigeschaltet. Wer sich über die kirchenhistorischen Hintergründe informieren möchte, hat dazu also reichlich Gelegenheit. Hier beschränken wir uns deswegen auf einige wenige grundlegende Aspekte, die der groben Orien- tierung dienen sollen. Bis 1948 war das protestantische Rheinland eine Provinz der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. An der Spitze dieser großen Landeskirche stand bis 1918 als »oberster Bischof« (summus episcopus) der preußische Kö- nig, der ja seit 1871 zugleich deutscher Kaiser war. Das landesherrliche Kir- chenregiment versah der König mit Hilfe des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin und im Rheinland mit Hilfe des Konsistoriums am Sitz der preußischen Provinzialregierung in . Oberster evangelischer Geistlicher der Rhein- provinz war der vom König eingesetzte Generalsuperintendent, der ebenfalls in Koblenz residierte. Neben den obrigkeitlichen Institutionen gab es auch ge- wählte Synoden, die preußische Generalsynode und – schon seit 1835 – die rheinische Provinzialsynode. Mit dem Ende der Monarchie 1918 fiel zugleich das landesherrliche Kir- chenregiment weg. Die Synoden traten gewissermaßen an dessen Stelle, auch wenn bestimmte Strukturen und etwa das Amt des Generalsuperintendenten noch bis 1948 beibehalten wurden. In der Umbruchphase 1918/19 befürch- tete man kirchlicherseits einen großen Schlag gegen die Stellung der Kirchen gemäß dem laizistischen Modell in Frankreich oder gar entsprechend der har- ten Unterdrückung im bolschewistischen Russland. Zwar wurde 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung die Trennung von Staat und Kirche beschlossen, jedoch erhielten die Kirchen den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts und behielten auf diese Weise mancherlei Privilegien, wie das Recht der Kirchensteuererhebung oder die Garantie konfessionellen Religionsunter- richts in den öffentlichen Schulen. Trotzdem konnten sich viele Kirchenver- treter mit der ersten Demokratie auf deutschem Boden nicht anfreunden und sehnten sich nach einem christlichen Staat mit autoritären Strukturen zurück. Das gilt sicher besonders auch für das Rheinland, das auf Grund der alliier- ten Besetzungen mehr als viele andere deutsche Regionen unter den Kriegs- folgen zu leiden hatte. Hinzu kam das traditionell gespannte Verhältnis zur katholischen Bevölkerungsmehrheit, die die rheinischen Protestantinnen und Protestanten oft pauschal mit der ungeliebten preußischen Herrschaft identifi- zierten. Der separatistische Versuch der Gründung einer rheinischen Republik 1923 hat solche Spannungen verschärft. Es wäre freilich viel zu undifferen- ziert zu meinen, in der rheinischen evangelischen Kirche hätte man nach 1918 rückwärtsgewandt nur dem Alten nachgetrauert. Vielmehr gab es daneben vielfältige Innovationen, wie die Durchführung von rheinischen Kirchentagen 10 Lebensbilder

1924, 1926 und 1930, die Einrichtung von besonderen Provinzialpfarrämtern, etwa für Studentenseelsorge oder für soziale Fragen, oder die Expansion und Neustruktur­ ierung der diakonischen Arbeit und des kirchlichen Pressewesens. Viele Kirchenvertreter entwickelten sich mit der Zeit zwar nicht zu überzeugten Demokraten, aber immerhin zu Vernunftrepublikanern. In der sich öffnenden Gesellschaft der Weimarer Republik kam es auch in der rheinischen Kirche zunehmend zu Pluralisierungen. In den kirchlichen Gremien reichte das Spek- trum von den konservativen Pietisten und den nicht minder konservativen An- hängern der »Positiven Union« über mittlere Gruppierungen bis hin zu den religiösen Sozialisten, wenn auch die Rechte ein deutliches Übergewicht hatte. Nicht zuletzt ist auf theologische Aufbrüche wie die Dialektische Theologie hin- zuweisen. Deren führender Vertreter, Karl Barth, war von 1930 bis 1935 Pro- fessor an der rheinischen Landesuniversität in und hat eine ganze Gene- ration angehender Pfarrer nicht nur im Rheinland nachhaltig geprägt. Auch die Anfänge der ökumenischen Bewegung gingen an der rheinischen Kirche nicht spurlos vorüber; an der Weltkirchenkonferenz in Stockholm 1925 etwa nahmen sechs rheinische Delegierte teil. In der Zeit des »Dritten Reiches« dominierten in der rheinischen Kirche zunächst die sich fortschrittlich gebenden und weithin auch so wahrgenom- menen »Deutschen Christen« (DC), die offen mit den Nationalsozialisten sym- pathisierten und die kirchlichen Strukturen und Lehren ganz dem neuen Zeit- geist anpassen wollten. Allerdings gab es auch einzelne frühe Mahnerinnen und Mahner, wie die Kölner Theologin Ina Gschlössl. Bei den freilich nicht ganz freien Kirchenwahlen im Juli 1933 erlangten die DC im Rheinland mehr als zwei Drittel der Sitze in den kirchlichen Gremien. Mit Heinrich Oberheid wur- de ein glühender Nationalsozialist zum Bischof des Bistums Köln-Aachen – so nannte man die Provinzialkirche jetzt – bestimmt. Er machte sich daran, die rheinische Kirche völlig in die neu geschaffene und von den DC beherrschte Reichskirche einzugliedern. Die gewaltsamen Methoden der DC stießen gera- de auch im Rheinland allerdings schon bald auf Widerspruch, der u. a. Anfang 1934 auf Freien Synoden geäußert wurde, die mit dem rheinischen Bruder- rat auch eine alternative Kirchenleitung errichteten. Von diesen Freien Syn- oden führte eine direkte Linie zur Barmer Reichsbekenntnissynode vom Mai 1934, die einmütig die maßgeblich von Barth formulierte Barmer Theologische Erklärung verabschiedete, die als das Gründungsdokument der BK über die Zeit des Nationalsozialismus und über die Grenzen Deutschlands hinaus kir- chengeschichtliche Bedeutung erlangt hat. Spätestens seit Anfang 1934 galt auch die rheinische Kirche als eine »zerstörte Kirche«, in der es neben dem staatlich anerkannten DC-Kirchenregiment eine parallele bekenntniskirchli- che Leitungsstruktur gab, die zunehmend staatlicherseits bedrängt wurde. In der Mitte zwischen DC und BK gab es wie auch im übrigen Deutschland eine beträchtliche Anzahl von Pfarrern und Gemeindegliedern, die sich weder der einen noch der anderen Richtung zuordnen lassen, vielmehr aus dem Kirchen- streit heraushalten wollten. Das schloss, wie auch bei den BK-Anhängerinnen Einleitung 11 und -Anhängern, eine grundsätzliche Zustimmung zum NS-Staat keineswegs aus. Man muss im Gegenteil davon ausgehen, dass nicht nur die DC-Mitglieder, sondern auch große Teile der Neutralen und der BK-Leute politisch dem NS- Staat loyal gegenüberstanden, auch wenn man nicht unbedingt dessen Rassen­ ideologie in allen Teilen befürwortete und bestimmte politische Entscheidungen durchaus kritisch sah, insbesondere natürlich, wenn sie die Kirchen betrafen und auf deren organisatorische und lehrmäßige Gleichschaltung abzielten. Zu einer offenen Konfrontation und einer politischen Frontalopposition, die sich auch auf Menschenrechtsverletzungen bezog, die die Kirche nicht unmittelbar betrafen, haben sich auch in der rheinischen Kirche dagegen nur einige wenige durchringen können, die dann mitunter ihre Haltung und ihr Engagement mit harten Sanktionen oder gar mit dem Leben bezahlen mussten. Zu nennen sind hier u. a. der Hunsrücker Dorfpfarrer Paul Schneider und der Idar-Obersteiner Religionslehrer Georg Maus. Nach dem Ende des »Dritten Reiches« ergriff der rheinische Bruderrat unter dem Vorsitz des Düsseldorfer Pfarrers und späteren Präses die Initiative für die kirchliche Neuordnung. Dabei bezog man verfassungsmä- ßige Kontinuitätsträger durchaus mit ein, so den seit 1928 amtierenden Gene- ralsuperintendenten Ernst Stoltenhoff, der in der NS-Zeit zeitweilig von seinem Amt suspendiert war, zwei schon vor 1933 gewählte Mitglieder des Provinzial- kirchenrates sowie den als gemäßigt geltenden Konsistorialrat Helmut Rößler. Eine neue vorläufige Kirchenleitung wurde gebildet. 1948 tagte die rheinische Synode dann erstmals als Landessynode. Sie wählte den BK-Pfarrer Heinrich Held zum Präses der neuen Landeskirche. Das Präsesamt umfasste nunmehr sowohl den Vorsitz der Synode als auch den Vorsitz der Kirchenleitung als auch den Vorsitz der kirchlichen Verwaltung, des Landeskirchenamtes. Das Amt des Generalsuperintendenten wurde nach dem Eintritt des Amtsinhabers in den Ruhestand abgeschafft; auch seine Befugnisse und Funktionen als ober- ster Geistlicher bzw. »pastor pastorum« (Hirte der Hirten) gingen auf das Prä- sesamt über. Von den Alliierten hatten die neuen Kirchenleitungen das Privileg erhalten, selbst für die Entnazifizierung der Kirchen zu sorgen. Entgegen dem ursprünglichen Anspruch, bei dieser »Selbstreinigung« keinerlei Kompromis- se einzugehen, beließ man es faktisch bei geringfügigen Maßregelungen, wie Versetzungen und vorzeitigen Pensionierungen. Lediglich einige wenige, wie der frühere DC-Bischof Oberheid, wurden endgültig aus dem kirchlichen Dienst entlassen. 1952 gab sich die neue Landeskirche eine neue Kirchenordnung. Danach ist die rheinische Landeskirche weder eine Konfessionskirche noch eine konsensusunierte Kirche, vielmehr eine Kirche, in der unterschiedliche Bekenntnisse miteinander in Geltung stehen und Abendmahlsgemeinschaft be- steht. Nach dieser dynamischen Ekklesiologie schloss also ein Ja zur Union ein Ja zur Konfession keineswegs aus und umgekehrt. Themen, die die rheinische Kirche nach 1945 beschäftigten, waren u. a. das Taufverständnis, ausgelöst durch Barths theologische Kritik an der Kindertau- fe, politische Fragen, wie die Wiederbewaffnung, das Entmythologisierungs- 12 Lebensbilder programm des einflussreichen Marburger Neutestamentlers Rudolf Bultmann, gegen das sich auch im Rheinland eine evangelikale Gegenbewegung formierte, sowie die weltweite Ökumene, einschließlich der wirtschaftlichen und politi- schen Probleme in der sogenannten »Dritten Welt« und im südlichen Afrika – hier insbesondere die Apartheidpolitik. Im Gefolge der sogenannten 68er-Bewe- gung und der neuen sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahre kam es in der rheinischen Kirche, wie in anderen Kirchen, zu einer Linkspolitisierung zahlreicher Pfarrer und Gemeindeglieder, die man auch als einen gewissen Re- flex auf die Rechtspolitisierung zu Beginn des Jahrhunderts begreifen kann. Der von 1958 bis 1971 amtierende rheinische Präses Beckmann ging sogar so weit, die maßgeblich von der Literaturwissenschaftlerin und Theologin Doro- thee Sölle geprägten »Politischen Nachtgebete«, die ab Ende 1968 regelmäßig in der Kölner Antoniterkirche stattfanden, mit der politischen Theologie der DC zu vergleichen. Beckmanns Nachfolger standen der oft poetisch artikulierten poli- tischen Theologie Sölles, die Einsichten Bultmanns mit marxistischem Engage- ment zu verbinden suchte, dagegen aufgeschlossener gegenüber. Insbesondere gilt das sicher für den von 1989 bis zu seinem plötzlichen Tod 1996 amtieren- den charismatischen Präses Peter Beier, der sich u. a. stark in der Friedensbe- wegung der 1980er Jahre engagiert hatte. Schon seit der Weimarer Republik hatten sich vor allem auch im Rheinland Theologinnen für die Einführung der Frauenordination eingesetzt. Die volle rechtliche Gleichstellung der Theologin- nen mit ihren männlichen Kollegen wurde indes erst Anfang der 1970er Jahre erreicht. Wie auch in anderen Bereichen folgte die Kirche hier der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Große überregionale Beachtung fand der rhei- nische Synodalbeschluss zur Neuordnung des Verhältnisses von Christen und Juden aus dem Jahre 1980, in dem sich die rheinische Kirche u. a. endgültig von der Judenmission verabschiedete. Fragen, die die Kirche am Ende des 20. Jahr- hunderts umtrieb, waren u. a. der notwendige Strukturwandel auf Grund des Mitgliederschwunds infolge der demographischen Entwicklung sowie von Kir- chenaustritten, die Ökumene mit der katholischen Kirche und der interreligiöse Dialog mit dem Islam. Auch der Dreiklang »Frieden, Gerechtigkeit und Bewah- rung der Schöpfung« spielte angesichts alter und neuer politischer, sozialer und ökologischer Herausforderungen auf regionaler wie auf globaler Ebene für die Kirchenleitenden wie für die Gemeinden eine wichtige Rolle. Solche Themen haben die traditionellen dogmatischen Probleme überlagert.

Thomas Martin Schneider Prägung im Kaiserreich (ca. 1860–1890)

Karl Viktor Klingemann (1859–1946) ...... 15 Hubert Nold (1861–1935) ...... 18 Karl Imig (1864–1939) ...... 21 Emil Pfennigsdorf (1868–1952) ...... 25 Walther Wolff (1870–1931)...... 28 Wilhelm Reichard (1871–1951) ...... 31 Karl Hermann (1871–1940) ...... 34 Heinrich Forsthoff (1871–1942) ...... 37 Hermann Röchling (1872–1955) ...... 40 Georg Fritze (1874–1939) ...... 43 Karl Jarres (1874–1951) ...... 47 Ida Obenauer (1875–1957) ...... 50 Friedrich Horn (1875–1957) ...... 53 Heinrich Grillo (1875–1941) ...... 57 Karl Mensing (1876–1953) ...... 59 Hermann Albert Hesse (1877–1957) ...... 62 Siegfried von Lüttichau (1877–1965) ...... 66 Wilhelm Goeters (1878–1953) ...... 70 Philipp Bleek (1878–1948) ...... 73 Paul Humburg (1878–1945) ...... 76 Carl Frowein (1878–1954) ...... 79 Ernst Stoltenhoff (1879–1954)...... 82 Robert Pferdmenges (1880–1962) ...... 85 Rudolf Harney (1880–1965) ...... 89 Friedrich Graeber (1884–1953) ...... 92 Hermann Klugkist Hesse (1884–1949) ...... 96 Karl Roderich Richter (1885–1965) ...... 100 Karl Barth (1886–1968) ...... 103 Magdalene von Waldthausen (1886–1972) ...... 106

Karl Viktor Klingemann * 29. November 1859 in London † 1. Februar 1946 in Bonn

Karl Viktor Klingemann war von 1913 bis 1928 Generalsuperintendent der rheinischen Provinzialkirche. Der glänzende Redner und begabte Organisator engagierte sich politisch im Alldeutschen Verband und zählte zu den aggres- sivsten Exponenten in der nationalistisch-monarchistischen Hauptrichtung der evangelischen Pfarrerschaft vor 1933. Der Sohn des gleichnamigen hannoverschen Legationsrates in London (1798–1862) wuchs in einer musisch begabten Familie auf. So publizierte er 1909 eine Edition des Briefwechsels zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und seinem Vater. Nach dessen frühem Tod kehrte die Familie nach Deutsch- land zurück. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Bonn und Mar- burg absolvierte Klingemann bis 1883 die theologischen Prüfungen in Koblenz. Bereits dem jungen, frisch ordinierten Theologen, der die englische und französische Sprache fließend beherrschte, war eine gewisse diplomatische Weltläufigkeit zu eigen. Dies äußerte sich in der Wahl seiner ersten Pfarrstelle, der deutsch-französischen evangelischen Gemeinde im ägyptischen Alexand- ria. Die Erfahrung der guten Zusammenarbeit mit den Kaiserswerther Diako- nissen, die das dortige Krankenhaus betreuten, führte zu einer fortdauernden Verbundenheit mit dem Mutterhaus. Ein kurzes, aber prägendes Intermezzo bildete seine erste Pfarrstelle nach der Rückkehr in Deutschland. 1890–1891 amtierte er als Vereinsgeist- licher und Reiseprediger des rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission in Langenberg. Hierdurch erwarb er sich ein vertieftes Verständnis der Sozialen Frage und engagierte sich fortan für die evangelischen Arbei- tervereine. In Langenberg heiratete er Margarethe Conze (1866–1956), die 16 Lebensbilder

Tochter eines dort ansässigen Seidenfabrikanten. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Es war nur konsequent, dass er sich für die nächste Berufsstation in die rasch wachsende Großstadt Essen orientierte. In Essen-Altstadt erwarb er sich durch seine geschickte Verhandlungsführung rasch einen guten Ruf in den kirchlichen und kommunalen Gremien. Allseits gerühmt wurden seine Kinder- gottesdienste, zu denen sich in der Pauluskirche (1944 zerstört) bis zu 1.300 Kinder mit etwa 50 Helferinnen und Helfern einfanden. Darüber hinaus hatte Klingemann zahlreiche überregionale Funktionen inne, wie etwa den Vorsitz im Rheinischen Kirchengesangverein, dem Dachverband der evangelischen Kirchenchöre. In Essen selbst rief er einen Bach-Verein ins Leben. Weitere Her- zensanliegen waren ihm die Diasporaarbeit des Gustav-Adolf-Vereins sowie die Tätigkeit der Rheinischen Mission in Afrika und Asien. Seine lebhafte Publika- tionstätigkeit begründete er 1898 mit der Schrift »Buddhismus, Pessimismus und moderne Weltanschauung«. Als im Jahr 1900 von der überdimensionierten Ruhrsynode der Bereich der Großstadt Essen mit elf Kirchengemeinden abge- trennt wurde, wurde der gerade 40-Jährige zum Superintendenten des neuen Kirchenkreises gewählt. Im gleichen Jahr sprang Klingemann kurzfristig – und erfolgreich – als Redner bei einer Kundgebung des Alldeutschen Verbandes am Niederwald- denkmal ein. Aus dieser Zeit datiert die lebenslange Freundschaft mit dem Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß (1868–1953), der 1908 den Vorsitz des Verbandes antrat und Klingemann zu seinem Stellvertreter bestimmte. Im Vor- stand bearbeitete er speziell die Ressorts Englandfragen, Kultur und Grenzland- Deutschtum. In letzterer Zuständigkeit polemisierte er 1911 mit zahlreichen Eingaben gegen den Plan von Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–1921), im bisherigen Reichsland Elsass-Lothringen eine Verfassung ein- zuführen. Die seit 1908 von Claß propagierte gesteigerte aggressive und ex- pansionistische Ausrichtung des Verbandes trug der strenge Lutheraner voll mit, wobei er in seiner intensiven politischen Agitation offensichtlich keinen Widerspruch zur Zwei-Reiche-Lehre sah. 1913 wurde Klingemann, der nun zu den profiliertesten rheinischen Pfar- rerpersönlichkeiten zählte, zum neuen Generalsuperintendenten der Provinzi- alkirche ernannt. Damit war er Dienstvorgesetzter aller Pfarrer im Rheinland, von denen er in den nächsten 15 Jahren viele anlässlich von Jubiläen oder be- sonderen Gemeindeereignissen in ihren Pfarrhäusern besuchte. Neuer Dienst- sitz war nun Koblenz, wo auch der preußische Oberpräsident amtierte. Aus dem Vorstand des Alldeutschen Verbandes zog sich Klingemann wegen Arbeitsüber- lastung zurück, er blieb aber Mitglied. Ganz im Sinne der Verbandsdoktrin begrüßte er 1914 den Kriegsausbruch »als ein Mittel zur Erreichung göttlicher Ziele«. Sein beim Evangelischen Preß- verband erschienener Traktat »Wofür kämpfen wir?« stellte unmissverständlich den Kampf um deutschen Lebensraum in den Mittelpunkt der Kriegsziele: »Der Gewinn menschenarmer oder menschenleerer Gebiete [...] für unsere Kriegs- Karl Viktor Klingemann 17 verstümmelten, soweit sie für Landarbeit und ländlichen Kleinbetrieb sich eig- nen [...]«. Im Sommer 1915 folgte seine Schrift »Das Heldentum in der Bibel«. Wenige Wochen nach Erscheinen fiel der einzige Sohn Hermann an der Ost- front. In dem Buch »Vaterleid« (1918) suchte Klingemann seine Trauer litera- risch zu bewältigen. Die Weimarer Republik lehnte der weiterhin monarchistisch gesinnte Ge- neralsuperintendent scharf ab. Dies manifestierte sich bereits 1919 mit sei- nem Flugblatt »Wer verschuldete den Schmach- und Hungerfrieden?« Aber das nunmehrige DNVP-Mitglied arrangierte sich mit den neuen politischen Verhält- nissen und stellte gemeinsam mit Präses Walther Wolff die Weichen für die neue Kirchenverfassung. Auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm 1925, einem Meilenstein der ökumenischen Bewegung, zählte er zu den Wortführern der 80-köpfigen deutschen Delegation. Seine dortige Rede, in der er seiner Skepsis über den Völkerbund und der Not der besetzten Rhein- lande Ausdruck verlieh, führte zu einer heftigen politischen Kontroverse. Der bekannte Ökumeniker Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969) sprach in diesem Zusammenhang gar von »Terrorismus einer nationalistischen Gruppe«. 1928 trat Klingemann hochgeehrt von Kirche und Politik in den Ruhestand. Mehrere Jahre nahm er noch eine Honorarprofessur an der Universität Bonn wahr. Er näherte sich wieder dem weiterhin bestehenden Alldeutschen Verband an, dessen Vorsitzender Claß ihm attestierte, dass Klingemann in den folgen- den Jahren »einer der führenden Männer der Nationalen Opposition gegen die schwarz-rote Systemherrschaft« gewesen sei. Seine 1929 erschienene Schrift über »Rasse und Volkstum in ihrem Verhältnis zu Religion und Glauben« re- zipiert weitgehend die zeitgenössischen Rasselehren. An die Herrschaftsüber- nahme der Nationalsozialisten 1933 knüpfte er folgerichtig hohe Erwartungen, trat aber publizistisch nur noch 1937 mit einer Würdigung von Ernst Moritz Arndt in Erscheinung. Klingemann verstarb am 1. Februar 1946 in Bonn. Gemäß testamentari- scher Verfügung trug sein dortiger Grabstein die Inschrift: »Ein deutscher Zeu- ge der Auferstehung Jesu Christi.«

Literatur

Roger Baecker, Klingemann, Karl. In: BBKL IV (1992), 61–64 (mit vollständiger Bibliografie). Stefan Flesch, Karl Klingemann, evangelischer Theologe und Generalsuperin- tendent, URL: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ karl-klingemann-/DE-2086/lido/57c9359edcc264.22887285 (zuletzt abge- rufen 20.04.2018). Albert Rosenkranz, D. Karl Klingemann. Zum hundertjährigen Geburtstag am 29. November 1959. In: MEKGR 9 (1960), 1–6. Stefan Flesch Hubert Leopold Christian Nold * 5. September 1861 in Wetzlar † 16. Mai 1935 in Saarbrücken-Burbach

»Die letzte große Freude seines Lebens war die Heimkehr des Saarlandes in das deutsche Vaterland, seine letzte Sorge die Erhaltung der Saarsynoden bei der rheinischen Kirche. Sein Name steht unvergeßlich in unser Herz geschrieben. Er war Säule des Deutschtums im Saarland, tragender Pfeiler in der evange- lischen Kirche des Rheinlandes.« (AEKR 1 OB 009 Pers 51 Nr. N 030 ) So äu- ßerte sich Rudolf Harney als Vertreter des rheinischen Provinzialkirchenrates anlässlich der Beisetzung des Saarbrücker Superintendenten Dr. Hubert Nold auf dem Burbacher Waldfriedhof am 19. Mai 1935. Tatsächlich sicherte Nold die Interessen der ev. Kirche im Saargebiet gegenüber dem Völkerbund, der das Land regierte. Tatsächlich war Nold immer deutschnational, aber unter seinem Schirm konnte die Bekennende Kirche einigermaßen sicher agieren. Nold ge- hörte der Bekennenden Kirche an der Saar nie an, war aber ihr Schutzpatron. Hubert Nold verbrachte seine Jugend in seiner Geburtsstadt Wetzlar; hier besuchte er das Gymnasium. Am 10. Mai 1883 immatrikulierte er sich in Mar- burg, nahm sein Theologiestudium auf, wechselte nach Berlin (1883) und Bonn (1885) und legte das Examen »ziemlich gut« ab. Seine Feuertaufe bestand er in dem Industrieort Sulzbach; er wurde dann zur Entlastung des Synodalassessors Julius Fechner nach Malstatt geschickt, in eine Stadt, die durch den Hütten­ standort Burbach rasant an Bevölkerung zugelegt hatte. 1889 übernahm er die zweite Pfarrstelle und kümmerte sich um zwei Männer- und Jünglingsvereine. Als Gustav Adolf Zillessen 1913 im Alter von 83 Jahren auf sein Superin- tendentenamt verzichtete, wählte die Saarbrücker Synode Hubert Nold. Des- sen Aufgabenfeld wuchs unaufhörlich. Im August 1925 tagte in Stockholm die »Weltkonferenz für Praktisches Christentum« mit über fünfhundert Delegier- Hubert Nold 19 ten; Nold gehörte zu ihnen. Themen wie die Soziale Frage, aber auch die christ- liche Erziehung ließen ihn nie mehr los. Seit 1919 war das Saargebiet besetzt und seit 1920 unter Mandat des Völ- kerbundes. Damit war ein Teil der Rheinischen Kirchenprovinz für das Kon- sistorium nicht mehr direkt zu leiten. Am 20. Juli 1919 tagte die Kreissynode Saarbrücken in Brebach unter Vorsitz von Nold und in Anwesenheit von Präses Dr. Walther Wolff. Die Synode hielt fest, dass eine Trennung der rheinischen Ge- meinden an der Saar von der Rheinischen Kirchenprovinz nicht in Frage käme. General Charles Mangin akzeptierte diese Entscheidung nicht, weil nach seiner Auslegung von § 49 des Versailler Vertrages ein Kirchenregiment außerhalb des Saargebietes nicht zulässig sei. Er forderte Nold am 22. Juli 1919 auf, in Wochenfrist eine Verfassung für ein eigenes Kirchensystem an der Saar vorzu- legen. Das Konsistorium reagierte mit einer Denkschrift und wies das franzö- sische Anliegen zurück. Aber erst die Abberufung von Mangin am 11. Oktober beendete die Konfrontation. In ihrer Proklamation zur Amtsübernahme am 26. Januar 1920 erklärte die Regierungskommission, dass »unter der hohen Auf- sicht der Regierungskommission« die Einwohner »ihre religiösen Freiheiten ausüben können«. Hubert Nold musste in der Folge beständig vermitteln: So wurde die von der Regierungskommission eingeführte Frankenwährung von den meisten Einhei- mischen als Gehaltszahlung abgelehnt. Es kam von Monat zu Monat zu einer Wertminderung. Für Vikare und Pfarrer im Saargebiet waren die preußischen bzw. bayerischen Dienststellen zu gewissen Ausgleichszahlungen bereit, doch war die Wirkung bei der allgemein inflationären Entwicklung nicht von Dauer. Daneben errichteten die französischen Kommissionsmitglieder Domanialschu- len. Grubenbedienstete wurden gezwungen, ihre Kinder in diese französischen Schulen zu schicken. Aus religiösen und nationalen Motiven heraus bezog Nold mit der evangelischen Pfarrerschaft klare Stellung gegen diese Schulreform. Daraufhin ließ die Regierungskommission immer wieder Pfarrer zur Rechen- schaft ziehen. Nolds Engagement indessen würdigte die Bonner Fakultät 1922 mit der theologischen Ehrendoktorwürde. 1929 wurde Hubert Nold schließlich zum stellvertretenden Vorsitzenden des Provinzialkirchenrates ernannt. Nold war die uneingeschränkte Autorität der evangelischen Kirche an der Saar, als die Kirche im Abstimmungskampf 1934/35 erneut in politische Macht- kämpfe verstrickt wurde: Die »Deutschen Christen« warben massiv für die Rück- kehr des Saargebietes in das Deutsche Reich. Es kam zu Auseinandersetzungen der Bekenntnistreuen um Otto Wehr mit den Deutschen Christen, was als Verrat an nationalen Interessen ausgelegt wurde. Superintendent Nold verwahrte sich in einem Brief vom 17. Juni 1933 an Hitler persönlich. Er stützte sich dabei auf keine theologischen Begründungen, sondern erläuterte die innenpolitische Ent- wicklung an der Saar und betonte die Verdienste der Saarbevölkerung um die nationalen Belange seit der Trennung. Der Konflikt brachte die evangelischen Pfarrer an der Saar in ständige Erklärungsnot, wenn sie national, aber nicht nationalsozialistisch dachten. 20 Lebensbilder

Die Einsetzung der Staatskommissare führte zu einer neuen Eskalation. Noch war sich Nold sicher, dass die Regierungskommission einen Übergriff von Außen auf die Rechte der Saarsynoden nicht hinnehmen würde. Die Anordnung der Beflaggung kirchlicher Gebäude mit der Staats- und Parteiflagge gab Nold nur unter Protest weiter. Er wollte »den schwer erkämpften Zusammenhang mit der rheinischen Kirche, der preußischen Landeskirche und der neuen Deutschen Kirche unbedingt [...] erhalten.« (Conrad, 1136). Als das Koblenzer Konsistorium auch für das Saargebiet für den 23. Juli 1933 Kirchenwahlen anordnete, erfolgte am 19. Juli prompt die Reaktion: Die Regierungskommission untersagte die Wahlen und ließ dies am folgenden Tag in der »Saarbrücker Zeitung« bekannt machen. Zugleich sammelten sich 24 Pfarrer hinter Hubert Nold, Otto Wehr und Philipp Bleek und verbreiteten unter der Losung »Für Evangelium und Kirche im Deutschen Volk« ihre Ablehnung. Es bildete sich auch an der Saar eine Pfarrerbruderschaft; im Laufe der Zeit stützte sich die Bekenntnisbewegung auf drei Fünftel der Pfarrerschaft. Otto Wehr, der an der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 teilgenommen hatte, lud zu einer ersten Saarbrücker Bekenntnissynode am 1. Juli 1934 in die Saarbrücker Schlosskirche ein. Die bekenntnistreuen Pfarrer wandten sich am 17. September 1934 nun direkt an Hitler, und Superintendent Nold leitete dieses Schreiben weiter. In diesem Brief heißt es: »Wir wollen heim ins Reich. Wir haben bereits einmal im Jahr 1918 den Kampf gegen die Abtrennung der Evangelischen Kirche an der Saar durch die kluge und weisheitsvolle Führung des Superintendenten D. Nold geführt und gesiegt. [...] Die Wirklichkeit in dieser Kirche des Reichsbischofs und Rechtswalters ist wider deren Behauptung nicht eine wachsende Befriedung, nicht Einheit, sondern sich vollendende Zerstörung.« (Conrad 1137) Hitler, der die nahende Saarabstimmung überlegen gewinnen wollte, verlegte seine Politik darauf, dass an der Saar Ruhe zu halten war. Er sollte sein Ziel in der Abstimmung des 13. Januar 1935 auch erreichen. Kurz darauf starb Nold. Im Saarbrücker Stadtteil Burbach erinnert der Nold-Platz an den Theologen.

Literatur

Klaus Altmeyer, Saardiözese und Evangelische Landeskirche des Saarlandes? Versuche zur Verselbständigung der Kirchen an der Saar nach den beiden Weltkriegen. In: Die evangelische Kirche an der Saar gestern und heute, hg. von den Kirchenkreisen Ottweiler, Saarbrücken und Völklingen. Saarbrü- cken 1975, 261–278. Joachim Conrad, Art. Nold, Hubert (1861–1935). In: BBKL 24 (2005), 1132– 1138. Fritz Jacoby, Die evangelische Kirche an der Saar im Abstimmungskampf. In: Die evangelische Kirche an der Saar gestern und heute, hg. von den Kir- chenkreisen Ottweiler, Saarbrücken und Völklingen, Saarbrücken 1975, 279–285. Joachim Conrad Karl Peter Imig * 26. März 1864 in Leideneck † 21. November 1939 in Saarbrücken

Am 19. Oktober 1930 feierte die Kirchengemeinde Sulzbach das 40-jährige Ortsjubiläum ihres Pfarrers Karl Imig, der seinen Bergarbeitern ein treuer Seelsorger war. Als er als vierter Superintendent des neu gegründeten Kir- chenkreises St. Johann zehn Jahre zuvor eingeführt worden war, hatte sich seine Welt bereits völlig verändert: Das Saargebiet stand seit 1920 unter der Verwaltung des Völkerbundes und die evangelischen Gemeinden hatten um ihre Anerkennung zu kämpfen. Bald kamen die Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen hinzu, die Karl Imig ablehnte, deren Bekämpfung ihm aber durch sein fortgeschrittenes Alter schwer fiel. Am Ende wurde der Mann, dem von Jugend an nichts geschenkt wurde, von den Entwicklungen zur Seite gedrückt. Als Sohn eines Lehrers am 26. März 1864 in Leideneck im Hunsrück gebo- ren, besuchte Karl Imig 1877 zuerst das Gymnasium in Trarbach und wechselte dann 1880 auf das Gymnasium an Marzellen in Köln. Da starb der Vater 1882. Es gelang der Mutter, den Jungen auf dem Gymnasium zu halten, wo er am 20. März 1885 Abitur machte. Karl Imig nahm das Studium der Theologie auf, zuerst in Bonn und dann in . Bereits 1888 legte er sein Erstes Examen in Koblenz ab. Das Konsistorium verfügte seine Einweisung in das Vikariat nach Kappel, 1889 wechselte er nach Sulzbach, damals noch Kirchenkreis Saarbrü- cken. Bei dem dortigen Pfarrer Ferdinand Wagner verblieb er auch nach dem Zweiten Examen im Hilfsdienst. Superintendent Gustav Adolph Zillessen ordi- nierte Karl Imig am 5. August 1890 in Neunkirchen (Saar). Als Pfarrer Wagner 1893 seinen Dienst in Sulzbach beendete, wählte das Presbyterium Karl Imig zum Nachfolger. 22 Lebensbilder

Am 18. Dezember 1894 heiratete Karl Imig Klara Schaffberg; den Eheleuten wurde zwei Kinder geschenkt: Karl 1895 und Gertrud 1899. Sohn Karl sollte Jura studieren und als Richter jenem Prozess vorsitzen, den der Superintenden- turverwalter Karl Roderich Richter gegen Pfarrer Richard Braun um die Heraus- gabe der Kreissynodalkasse führte. Vom Vater her vertraut mit den Ordnungen der Kirche und misstrauisch gegen das neue DC-Kirchenregiment, sollte Karl Imig jun. den BK-Pfarrer Braun stützen. Seit 1897 gab es im Bereich des heutigen Saarlandes zwei Kreissynoden; Sulzbach gehörte nun zur neu gegründeten Synode St. Johann. 1909 und 1915 wurde Karl Imig zum Assessor gewählt. Nach Ende des Ersten Weltkrieges war das Saargebiet unter französischer Verwaltung und unterstand ab 1920 dem Völkerbund. Die französische Besatzungsmacht versuchte rasch, im eigenen In- teresse Fakten zu schaffen. In einer ersten Besprechung am 21./22. Mai 1919 ließen die Franzosen keinen Zweifel daran, dass sie die evangelischen Kirchen- gemeinden von Koblenz bzw. Speyer getrennt sehen wollten und lockten mit der Errichtung einer Universität in Saarbrücken samt einer Theologischen Fakul- tät. Konsistorialrat Dr. Herbert du Mesnil legte indessen eine Denkschrift vor und erläuterte die Position der Kirchen, was die Franzosen wenig beeindruckte. Die Abberufung des federführenden Generals Charles Mangin am 11. Oktober 1919 beendete diese erste Krise. Kaum hatte Karl Imig das Amt als Superintendent von St. Johann ange- treten – die Bestätigung erfolgte am 20. September 1920 –, als die zweite Krise die evangelischen Kirche erschütterte: Die Gehaltszahlungen für die Pfarrerschaft kamen ins Stocken, und durch den Währungsverfall der Mark ergaben sich für die Pfarrfamilien erhebliche wirtschaftliche Probleme. Die Gemeinden an der Saar wurden gedrängt, die Gehaltszahlungen in Franken vorzunehmen. Dazu sollte eine eigene Kasse vor Ort gegründet werden. Es kam das Gerücht auf, Msgr. Alexander Subtil, Dechant von Saarlouis, habe bereits am 24. April für den katholischen Klerus im preußischen Teil des Saargebietes zugestimmt. Die Superintendenten Nold und Imig suchten um- gehend das Gespräch mit Dechant Aloys Echelmeyer in Saarbrücken, der Sub- tils Verhalten nicht nachvollziehen konnte. Die Superintendenten empfanden die Lage als so problematisch, dass die beiden Kreissynoden in gemeinsamer Tagung zusammentraten. Der Ausnahmezustand sollte anhalten, denn die Ge- setzgebung in Preußen wirkte sich beständig negativ für das Saargebiet aus. Karl Imig erläuterte in einem Schreiben am 28. Juli 1932, dass die Pfarrfami- lien existenziell gefährdet waren. Die dritte Krise entstand durch den Umstand, dass der Versailler Vertrag dem französischen Staat erlaubte, im Saargebiet eigene Schulen für seine Be- schäftigten zu unterhalten. Als die Grubenverwaltung ihre Schulen auch deut- schen Volksschulkindern öffnete, schlugen die Wogen hoch. Und obwohl nur höchstens 4,5 % aller Volksschüler die sog. Domanialschule besuchten, wurde der Schulkampf neben dem Bergarbeiterstreik und der französischen Beset- zung einer der Hauptkonflikte während der Völkerbundszeit. Aus den beiden Karl Imig 23

Saarkirchenkreisen traten am 16. Januar 1923 zuerst eine Pfarrer- und Pres- byterkonferenz und am 5. März die Kreissynoden zu gemeinsamer Tagung zu- sammen. Man warnte die Eltern, die ev. Volksschulen mit ihrem deutsch-pro- testantischen Charakter aufzugeben. Frankreich lockerte den Druck jedoch erst, als die Saarabstimmung nahte. So konnte der Geheime Kommerzienrat Hermann Röchling im Oktober 1934 Superintendent Imig Entwarnung mel- den, denn die Schülerzahlen waren im Sinken begriffen. Imig meldete dies dem Konsistorium weiter. In Imigs Synode St. Johann häuften sich die Probleme, denn zu den wich- tigsten Kontaktpersonen der »Saar-Vereine“ zählte Heinrich Becker, der seit 1897 in Neunkirchen/Saar zuerst als Hilfsprediger, dann bis zur Emeritierung 1937 als Pfarrer Dienst tat. Becker kämpfte vehement gegen die französische Schulpolitik und verfasste dazu zahlreiche Artikel für den »Saar-Freund“, das Publikationsorgan der Saar-Vereine. Er engagierte sich außerdem als Vortrags- redner; auf Bundestagungen in Würzburg (1927) und in Münster (1929) und wurde – nicht unerwartet – wegen seines Engagements in der Saarfrage zum Ehrenmitglied des Bundes ernannt. Diesem agilen Kollegen war Imig nicht ge- wachsen. Eine so vehemente Vermengung politischer und kirchlicher Interes- sen war neu für ihn; die Einflussnahme der Deutschen Christen war mit Händen zu greifen. Parallel wurden Kirchenwahlen vorbereitet, die den Deutschen Christen nun auch den Zugang zu den Presbyterien und Synoden ermöglichen sollten. Die Regierungskommission des Völkerbundes verbot diese Wahlen am 19. Juli 1933, weil sie von Reichsbehörden angeordnet waren, die auf das Saargebiet keinen Zugriff hatten. Und während die Pfarrer des Kirchenkreises Saarbrü- cken sich mit einer Zeitungsanzeige am Tage der Kirchenwahlen im Reich von den Deutschen Christen distanzierten, hielten sich die St. Johanner Pfarrer zu- rück, so dass Superintendent Imig alleine dastand. Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Deutschen Christen soll- ten die beiden saarländischen Superintendenten nicht mehr im Amt erleben. Der St. Johanner Superintendent Karl Imig war mit Erreichen der Altersgrenze im März 1934 als ein im Grunde resignierter Mann in den Ruhestand getreten; der Saarbrücker Superintendent D. Hubert Nold starb überraschend ein Jahr darauf am 16. Mai 1935. So führten in beiden Saarsynoden die Synodalassesso- ren die Geschäfte, Philipp Bleek in Saarbrücken und Hermann Alsdorf in St. Jo- hann. Karl Imig starb mit 75 Jahren am 21. November 1939 in Saarbrücken und wurde auf dem Hauptfriedhof bestattet. Die einzige Anerkennung für seinen Dienst, die er je bekommen hatte, war die Rote-Kreuz-Medaille III. Klasse am 6. Mai 1920. 24 Lebensbilder Literatur

Joachim Conrad, Der saarländische Sonderweg 1919–1955. In: Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland. Bd. 4 Krise und Neuordnung im Zeitalter der Weltkriege 1914–1948, hg. von Thomas Martin Schneider. Köln 2013 (SVRKG 173), 207–250. Joachim Conrad Emil Pfennigsdorf * 10. Juni 1868 in Plötzkau † 7. April 1952 in Bonn

Emil Pfennigsdorf zählt zu jenen Vertretern einer älteren Generation, deren fes- te deutsch-christliche Überzeugungen sie gegenüber den politischen Zielen des Dritten Reiches aufgeschlossen sein ließen. Mit seinem Namen verbinden sich die heftigen fakultätspolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Evan- gelisch-Theologischen Fakultät in Bonn ab 1932 und deren spätere »Gleich- schaltung«. Geboren 1868 in Plötzkau bei Bernburg an der Saale, übernahm Pfennigsdorf nach Studium, Promotion und Vikariat zunächst verschiedene Aufgaben innerhalb der Anhaltinischen Landeskirche, um dann im April 1912 zum Pfarrer der Düsseldorfer Matthäikirche ernannt zu werden. Bereits nach einem Jahr verließ Pfennigsdorf die Düsseldorfer Pfarrstelle und übernahm zum 1. April 1913 eine ordentliche Professur für Praktische Theologie in Bonn, wenig später dort auch die Funktion eines Universitätspredigers. Zudem wur- de Pfennigsdorf in kirchenleitende Aufgaben eingebunden: ab Februar 1923 als Konsistorialrat nebenamtliches Mitglied des Konsistoriums in Koblenz, von Mai 1925 an schließlich Konsistorialrat der Evangelischen Kirche der Altpreu- ßischen Union. Ende der zwanziger Jahre war die Bonner Fakultät durch verschiedene Va- kanzen auf lediglich vier Professuren und einige Dozenturen geschrumpft. Ne- ben Pfennigsdorf lehrten als Professoren in Bonn noch der Neutestamentler und Systematiker Hans Emil Weber, der Kirchenhistoriker Wilhelm Gustav Goeters sowie der Kirchenhistoriker und Neutestamentler Erik Peterson. Ein Theologie- studium schien in Bonn nicht mehr sonderlich attraktiv zu sein, was sich auch in den sinkenden Studentenzahlen deutlich zeigte. Die notwendige personelle wie inhaltliche Erneuerung der Fakultät begann im Sommer-Semester 1929 mit 26 Lebensbilder der Berufung des liberalen Alttestamentlers Gustav Hölscher und des von der dialektischen Theologie beeinflussten Neutestamentlers Karl Ludwig Schmidt. Schmidt machte für die Annahme seines Rufes zur Bedingung, dass Karl Barth ebenfalls nach Bonn berufen werde. So trat zum Sommer-Semester 1930 Barth seinen Dienst in Bonn an, zudem konnten der Kirchengeschichtler Ernst Wolf, der Orientalist Fritz Lieb und als Assistent Schmidts Ernst Fuchs für die Bonner Fakultät gewonnen werden. Mit diesen Berufungen wurde die Fakultät perso- nell wie inhaltlich erneuert, die Studierendenzahlen stiegen sprunghaft an. Die Kehrseite dieses Erfolgs war jedoch die faktische kirchenpolitische Spaltung der Fakultät: Eine Minderheit um Pfennigsdorf zeigte bereits zu Beginn der dreißiger Jahre deutlich Sympathien für den Nationalsozialismus, während unter den der NS-Bewegung kritisch eingestellten Dozenten kirchenpolitisch unterschiedliche Positionen eingenommen wurden: Die Bandbreite reichte von den deutschnational gesinnten Weber und Goeters über den liberalen Hölscher hin zu den von dialektischer Theologie und Sozialdemokratie geprägten Barth und Schmidt. Diese Spaltung sollte sich nach der sog. Machtergreifung für die Kritiker des Nationalsozialismus unter den Fakultätsangehörigen als verhängnisvoll er- weisen, zumal sich auch die Studentenschaft erheblich radikalisiert hatte. »Die deutschchristlich und pronationalistisch eingestellten Mitglieder der engeren und weiteren Fakultät obsiegten über die sozialdemokratisch orientierten und schließlich auch über die deutschnational-konservativen älteren Fakultätskol- legen. Die theologisch-kirchliche Neuorientierung in der gesamten Arbeit der Fakultät, in der wesentliche Voraussetzungen für die Bekennende Kirche ge- legt wurden, unterlag dem völkisch-politischen Wollen im Rahmen der mit dem Dritten Reich gleichgeschalteten Universitäten und Fakultäten.« (Faulenbach, Album 19 f.) Die treibende Kraft einer konsequenten Umsetzung der nationalsozialisti- schen Hochschulpolitik innerhalb der Bonner Fakultät war Emil Pfennigsdorf, der in der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät einen hohen Einfluss besaß. Obwohl Pfennigsdorf sich nicht der NSDAP anschloss, näherte er sich als DC-Mitglied (bis 1938) und als förderndes Mitglied der SS (bis 1937) der nationalsozialistischen Bewegung auch institutionell an. Seine Wahl am 27. Ap- ril 1933 zum Dekan und »Fakultätsführer« erfolgte mit drei Ja-Stimmen und sechs Enthaltungen, da die beiden zuvor gewählten Kandidaten Hölscher und Barth ihre Wahl mit der Begründung, keinerlei Verantwortung für die befohlene Gleichschaltung übernehmen zu wollen, strikt ablehnten. Vom Mai 1933 an bis zum 30. September 1936, auch über seine Emeritierung am 1. April 1936 hinaus, übte er damit nun bereits zum dritten Mal das Amt eines Dekans aus. Offen vertrat Pfennigsdorf den nationalsozialistischen Willen zur Gleich- schaltung der Fakultät und forcierte die Entlassung aller dem neuen Regime kritisch gegenüber eingestellten Kollegen wie beispielsweise Karl Barth, Karl Ludwig Schmidt oder Fritz Lieb, aber auch die spätere Versetzung von Ernst Wolf, Gustav Hölscher, Hans Emil Weber und Wilhelm Goeters. Zufrieden kon- Emil Pfennigsdorf 27 statierte Pfennigsdorf Ende 1935, dass sich die Fakultät in einem Zustand »fortschreitender Gesundung« befinde. (Faulenbach, Album 20). Die kirchenpo- litische Spaltung der Bonner Fakultät war nach 1933, maßgeblich durch Pfen- nigsdorf verantwortet, durch Entfernung unbotmäßiger Kollegen und durch Neuberufung von NS-Sympathisanten tatsächlich überwunden worden. Aus Sicht der Bekennenden Kirche jedoch galt Bonn als »zerstörte Fakultät«, an der nicht Theologie studiert werden sollte. Nach dem Krieg wurde Pfennigsdorf Ende 1945 von der britischen Mili- tärregierung auf die Liste der suspendierten Hochschullehrer gesetzt. Gegen diese Entscheidung erhob Pfenningsdorf mit dem Argument Einspruch, dass er als ein Opfer des Dritten Reiches zu betrachten sei, das Widerstand geleistet hätte. Aufgrund weiterer Gutachten, in denen Pfennigsdorfs fakultätspolitische Rolle in den Jahren 1933 bis 1936 in für ihn günstigem Licht geschildert wurde, ordnete die Militärregierung schließlich Pfennigsdorfs Emeritierung und die Zahlung eines Ruhegehaltes als Emeritus an. Die Bonner Fakultät verzichtete ihrerseits darauf, im Entnazifizierungsverfahren von Pfennigsdorf über sein politisches Verhalten Auskunft zu geben, da es ihn schädigen würde und er für eine weitere Beeinflussung der Studenten aufgrund seines hohen Alters nicht mehr in Frage käme. Die Fakultät war jedoch nicht mehr bereit, den als »sehr belastet« in die Kategorie V Eingestuften als Emeritus im Personalteil des Vorlesungsverzeich- nisses weiter aufzuführen. Pfennigsdorf starb am 7. April 1952 in Bonn.

Literatur

Heiner Faulenbach (Hg.), Das Album Professorum der Evangelisch-Theologi- schen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1818– 1933. Bonn 1995. Ders., Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte seit 1945. Bonn 2009. Wolfram Kinzig, Gottes Wort in Trümmern. Karl Barth und die Evangelisch- Theologische Fakultät vor und nach dem Krieg. In: Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im »Dritten Reich« und in der Nachkriegs- zeit, hg. v. Thomas Becker. Göttingen 2008, 23–57.

Andreas Mühling Walther Wolff * 9. Dezember 1870 in Neuwerk bei Mönchengladbach † 26. August 1931 in Aachen

»Die evangelische Kirche hat die ungeheure Bedrohung ihres Daseins lebens- kräftig überwunden«, dieser Satz des rheinischen Präses Walther Wolff war es, der Karl Barth, zu dieser Zeit Professor an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität in Bonn, zu seinem aufsehenerregenden Aufsatz »Quousque tandem […]« bewegte. Der Herausgeber des einflussreichen »Kirchlichen Jahrbuchs«, Jo- hannes Schneider, rief Barths Widerspruch hervor, als er sich so zustimmend auf den rheinischen Präses bezog. Wolff steht, wie Schneider selbst und andere führende kirchenleitende Persönlichkeiten dieser Zeit – allen voran Otto Dibeli- us – für etwas, das Barth als »kirchlichen Triumphalismus« bezeichnet und den er in aller Entschiedenheit ablehnt. Abseits dieser Anekdote – wer war Walther Wolff? Geboren wurde er am 9. Dezember 1870 im heute zu Mönchengladbach gehörigen Neuwerk. Sein Vater war Volksschullehrer. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Mönchengladbach studierte Wolff evangelische Theologie in Greifswald, und Halle. Sei- ne erste Pfarrstelle übernahm er 1894 im niederrheinischen Otzenrath, 1901 wechselte er dann nach Aachen. Während des Ersten Weltkrieges stand er auf der Seite derer, die bis zum Ende einen deutschen Sieg erwarteten und sämt- liche Friedensbemühungen strikt ablehnten. Noch 1917 erschien eine Schrift aus seiner Feder, die den bezeichnenden Titel »Alles, alles für unser Vaterland!« trug. Es ist somit nicht überraschend, dass Walther Wolff wie viele seine Zeit- genossen – nicht nur, aber gerade auch innerhalb des Protestantismus – die Kriegsniederlage als einen katastrophalen Einschnitt deutete. Mit dem Ende der Monarchien und Fürstentümer auf dem Gebiet des Deutschen Reiches ende- Walther Wolff 29 te das landesherrliche Kirchenregiment, welches sich im Zuge der ausgebildet hatte. Für die rheinische Provinzialkirche bedeutete das, dass ihr summus episcopus, nämlich Wilhelm II. mit seiner Absetzung ins Exil abhand- engekommen war. Die folgenden Monate bis zur Verabschiedung der Weima- rer Reichsverfassung waren von großer Unsicherheit für die Kirchen geprägt. Einerseits war ungewiss, wie sich das Verhältnis zum neuen, demokratischen Staat gestalten würde, die Trennung von Kirche und Staat stand im Raum. An- dererseits entstand innerhalb des Protestantismus eine flächendeckende Debat- te über das kirchliche Selbstverständnis, die vor allem unter dem Schlagwort der »Volkskirche« geführt wurde und auch die kirchliche Verfassungsgebung in der Folgezeit beeinflusste. Mit Walther Wolff wählte die rheinische Synode nun ganz bewusst einen Mann zum Präses, der als energischer Vertreter der Volkskirche verstanden werden kann (nicht zuletzt brachte ihm ja auch dieser Punkt die Kritik Karl Barths ein). Wolff sah die Kirche, wie der Wuppertaler Historiker Volkmar Witt- mütz betont, »als feste Burg und Bollwerk im Sturm der Zeit« (Wittmütz). Hans Helmich hat 1987 Wolffs Kirchenverständnis gründlich untersucht. Einige As- pekte desselben seien hier genannt. Wolff konzentrierte seine Arbeit auf die empirische Kirche, der sein ganzes Denken und Tun gewidmet war. Die Liebe zur Kirche war demnach auch das Hauptthema seines öffentlichen Wirkens. Die Aufgabe der Kirche besteht darin, die Botschaft des Evangeliums zu vermitteln, auf diesem Wege trägt sie zur sittlichen Erneuerung des Volkes bei. Darüber hi- naus sieht er die Kirche wie schon angedeutet als eine feste Burg: »Seitdem der Schutz des landesherrlichen Kirchenregiments weggefallen ist, muß sie sich auf ihre Kraft besinnen und ein Hort gegen den Katholizismus, den Sozialis- mus und die Säkularisation sein. Diese Aufgaben, die Wolff der Kirche zumißt, drängen darauf, eine starke, eine große Kirche zu bauen. Die große Kirche als Fluchtburg vertritt Wolff mit Pathos und unter dem Beifall seiner Hörer auf Synoden und Kirchentagen.« (Helmich, 209). In diesen Kontext gehört auch das von ihm geprägte Schlagwort: »Der Protestantismus wird Kirche sein, oder er wird nicht sein!« In dieser Hinsicht war Wolff sicherlich eine für die Weimarer Jahre typische kirchenleitende Persönlichkeit, die mit großer Energie an dem institutionellen Fortbestand der Kirche arbeitet und ihre gesamtgesellschaftlichen Einfluss- möglichkeiten zu sichern respektive auszubauen versucht. Ein Vergleich mit dem berühmten Otto Dibelius liegt nahe. Die Erfolge dieser Persönlichkeiten sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Allerdings waren die staatskir- chenrechtlichen Maßnahmen der Weimarer Reichsverfassung durchaus nicht nachteilig für die Kirchen. Und doch stellt sich die Frage – die noch einer aus- führlichen Beantwortung aussteht – warum die evangelischen Landeskirchen den neuen nationalsozialistischen Machthabern 1933 zum Teil so wenig entge- genzusetzen hatten. Erwin Mühlhaupt sieht das Verdienst Walther Wolffs in zwei Akzenten, die er gesetzt habe: »erstens [gelang es ihm] dem Begriff der Kirche im rheinischen 30 Lebensbilder

Protestantismus Geltung und Würde zu verschaffen, und zweiten[s] dem Protes- tantismus in der allgemeinen Öffentlichkeit Gehör und Respekt zu erwerben.« (Mülhaupt, 371). Gerade deshalb ist die Beschäftigung mit Walther Wolff und seinem Leben und Werk auch heute noch von Bedeutung. Was es bedeutet, evangelische Kir- che zu sein und welche Aufgaben im Einzelnen damit verbunden sein sollen, ist eine bleibende Anfrage an die Kirche. Dies gilt in Zeiten, in denen weiterhin fundamentale Veränderungen und Herausforderungen auf die Kirchen warten, wohl umso mehr.

Literatur

Hans Helmich, D. Walther Wolff, Präses der Rheinischen Provinzialsynode 1919–1931. In: MEKGR 36 (1987), 185–230. Erwin Mülhaupt, Rheinische Kirchengeschichte. Von den Anfängen bis 1945. Düsseldorf 1970 (SVRKG 35). Volkmar Wittmütz, Walther Wolff (1870–1931), Präses der Synode der Rhein- provinz (1919–1931), URL: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/ persoenlichkeiten/W/Seiten/WaltherWolff.aspx [zuletzt abgerufen am 14. Februar 2018].

Benedikt Brunner Wilhelm Reichard * 6. Januar 1871 in Kempfeld † 14. August 1951 in Saarbrücken

Er war offensichtlich ein Mann mit Ecken und Kanten. Das erste außergewöhn- liche Datum im Lebenslauf des Sohnes eines Schulrektors, der sein Abitur in Trier absolviert und danach Theologie in Bonn, Berlin, Heidelberg und Tübingen studiert, ist eine kurze Festungshaft 1893 wegen Beleidigung des Trierer Bi- schofs. Nach Hilfsdienst in der Berliner Jesus-Gemeinde der Freien evangelisch- lutherischen Kirche und Synodalvikariat in Bonn wird Reichard 1898 Pfarrer in Grumbach, ehe er 1904 in die Saarbrücker Gemeinde St. Johann wechselt. Dort bleibt sein Name mit dem Bau des Gemeindezentrums »Wartburg« verbunden, einem monumentalen Bauwerk, in Stil und Name ein nationales und konfessio- nelles Bekenntnis – »ein steingewordener Ausdruck trotziger Kraft« (so Reich- ard in der Festschrift zur Einweihung 1928). Reichard leistet keinen Militärdienst, bekommt jedoch 1917 das Verdienst- kreuz für Kriegshilfe, 1920 die Rote Kreuz-Medaille und 1942 die Kriegsver- dienstmedaille verliehen. Bereits früh engagiert er sich politisch. Er schreibt, dass er sich »vor dem Kriege dem [...] rechten Flügel der alten national-liberalen Partei [... und] gegen Ende des Krieges der damals neugegründeten Vaterlandspartei an- geschlossen und für dieselbe in Gemeinschaft mit dem verewigten Grossadmiral [Alfred] von Türpitz[!], dessen Bildnis mit eigenhändiger Unterschrift ich besitze, gearbeitet [habe]. Nach dem Kriege bin ich [...] zur Deutschnationalen Volkspar- tei übergegangen.« (Schreiben an das Konsistorium, 2. November 1932) Von 1928 bis 1932 vertritt er als Vorsitzender und deren einziger Abgeordneter die DNVP im Landesrat, dem Parlament des Saargebiets während der Völkerbundszeit. Bei einer Reihe von vaterländischen Veranstaltungen tritt Reichard reichs- weit als Redner auf. Im Rahmen einer Fahrt des Männer-Gesang-Vereins Saar- 32 Lebensbilder brücken 1927 wird er in Potsdam von Reichspräsident Paul von Hindenburg empfangen. Er berichtet, »dass es mir damals gelungen ist bei vielen Tausenden die Zweifel an der Treue des Saargebietes zu beseitigen und das Band zwischen dem Saarland und der alten Heimat stärker zu knüpfen [...]. Bei diesem Anlass brachte ich dem Herrn Reichspräsidenten das Treuegelöbnis des Saargebietes zum Ausdruck und erhielt [...] die Zusage dass er, wenn Gott ihm das Leben lasse, anlässlich der Befreiung des Saargebietes im Jahre 1935 das Saargebiet besuchen werde« (Schreiben an das Konsistorium, 2. November 1932). Obwohl die DNVP die erste Partei ist, die sich 1933 zugunsten der NS-geführten »Deut- schen Front« selbst auflöst, tritt Reichard nicht unmittelbar in die NSDAP über. Er selbst resümiert seine politische Betätigung: »Politisch bin ich niemals agita- torisch oder aggressiv hervorgetreten [...] oder persönlich irgendwie herausfor- dernd oder verletzend« (undatierte persönliche Notiz). In der Gemeinde ist seine Position von Anfang an von Widerständen be- gleitet. Diese eskalieren offensichtlich, wie mehrere hundert Seiten überliefer- ter Akten von Verfahren vor kirchlichen und öffentlichen Instanzen belegen. Reichard wehrt sich juristisch erfolgreich gegen Vorwürfe wie Trunkenheit, Ehebruch, finanzielle Vorteilsnahme, üble Nachrede und politische Agitation im Konfirmandenunterricht. Obwohl dabei Artikel in der sozialdemokratischen »Volksstimme« eine Rolle spielen, und Reichard den Beistand von einem seiner Widersacher, Pfarrer Georg Ebers, als »jüdisch-sozialdemokratischen Rechtsan- walt« tituliert (Schreiben an das Konsistorium, 10. September 1932), scheinen die Ursachen der Anfeindungen eher in persönlichen als in politischen oder kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zu liegen. Im Saarland finden die letzten Kirchenwahlen vor 1945 bereits im Novem- ber 1932 statt. In St. Johann treten vier Listen an – neben »Deutsche Christen« und »religiösen Sozialisten« zwei, die den Lagern der streitenden Pfarrer ent- sprechen. Als im Sommer 1933 der sog. Kirchenkampf ausbricht, vermeidet Reichard zunächst eine Positionierung. Er liegt vermutlich auf der Linie des Presbyteriums, das insgesamt mit seiner »beachtlichen Minderheit der DC« (Schreiben an Oberkonsistorialrat Spieß, 19. Mai 1938) sympathisiert. Den Deutschen Christen wird die »Wartburg« regelmäßig für deren Veranstaltungen zur Verfügung gestellt. Später erhält selbst deren radikaler nationalkirchlicher Flügel für Amtshandlungen und Versammlungen Gastrecht in der Gemeinde. Dieses wird nur 1938 kurzzeitig für den Leiter der Landesgemeinde der nati- onalkirchlichen Einung, Pfarrer Dr. Carl Wippermann, vorübergehend infrage gestellt. Dieser hat eine Pfarrwahl des Presbyteriums zu Ungunsten eines DC- Hilfspredigers mehrfach »als eine durch und durch jüdisch-jesuitische Haltung gebrandmarkt«. (Schreiben Dr. Carl Wippermanns an Pfr. Franz Georg Schmitt, St. Johann, 16. August 1936) Auch das Verhältnis zu seiner Frau beinhaltet kirchenpolitische Aspekte. Diese steht der Bekennenden Kirche nah, besucht häufig die Gottesdienste von Pfarrer Otto Wehr in der Ludwigskirche zu Alt-Saarbrücken. Weil die Frauenhil- fe auf DC-Linie liegt, beantragt sie Räume für eine eigene Gruppe. Reichard bit- Wilhelm Reichard 33 tet daraufhin den Vorsitzenden des Presbyteriums, diesen Wunsch zu versagen, wobei er jeglichen Zusammenhang mit dem Kirchenkampf leugnet: »Ich betone, dass es sich in der Angelegenheit meiner Frau um eine rein biblische Arbeit handelt, und um gar nichts anderes.« (Schreiben an Pfr. August Blanke, 20. No- vember 1940). Als seine Frau später von der Gestapo wegen Verbreitung eines Protestschreibens von Bischof Theophil Wurm gegen die Vernichtung unwerten Lebens festgenommen wird, ist ihre Haltung offensichtlich. Auch Reichard selbst wird im Sommer 1939 zweimal von der Gestapo vor- geladen – wegen eines als »staatsfeindliche Äußerung« qualifizierten Witzes. Laut einem Vermerk in seiner Personalakte übermittelt die Gestapo folgende Einschätzung: »Er sei seit 1936 Parteianwärter, habe sich im Kirchenkampf neutral gehalten und sich nicht irgendwie zur BK gehalten. Er sei einer der wenigen Geistlichen, die in ihren Predigten die Verdienste des Führers um das deutsche Volk offen hervorhöben und dankbar würdigten.« (Aktenvermerk durch Konsistorialpräsident Walter Koch, 8. Juli 1939) Reichard rückt 1938 zum Superintendenturverwalter auf, nachdem Asses- sor Hermann Alsdorf als amtierender Superintendenturverwalter emeritiert wird. Einen Kirchenausschuss hat es für Gemeinde und Kreissynode St. Johann nie gegeben. 1941 wird er vom Konsistorium zum Superintendenten ernannt. Auch hierbei vertritt Reichard offiziell einen Kurs der Mitte, der faktisch al- lerdings politisch durch die Nähe zum Nationalsozialismus und kirchenpoli- tisch durch Antipathie gegen die Bekennende Kirche geprägt wird. Selbst im Krieg erbittet er Geld, um der »geradezu aufdringlichen Betätigung des Pfarrers Wehr aus Alt-Saarbrücken unsererseits eine intensive Betreuung unserer eva- kuierten Heimatgenossen entgegenzustellen«. (Schreiben an Rendant Ludwig Eisenbeis, 2. Januar 1940). Andererseits hält er Fürsprache für den BK-Pfarrer Friedrich Wardenberg aus Neunkirchen, als dieser denunziert wird, weil er in seiner Predigt am Heldengedenktag den Mut des inhaftierten Pastors Martin Niemöller hervorhebt. Wilhelm Reichard wird 1945 mit 74 Jahren emeritiert; er stirbt am 14. Au- gust 1951 in Saarbrücken. Er ist seit 1901 mit Elisabeth de Wyl verheiratet. Aus dieser Ehe entstammt eine Tochter.

Literatur

Festschrift zur Vollendung und Einweihung des Evangelischen Gemeindehau- ses »Wartburg« zu Saarbrücken-St.- Johann, hg. von Wilhelm Reichard. Saar- brücken 1928. Fritz Kloevekorn, Geschichte der evangelischen Gemeinde St. Johann zu Saar- brücken. Saarbrücken 1953, bes. 52–76.

Jörg Rauber Karl Hermann * 21. Januar 1871 in Saarbrücken † 9. November 1940 in Koblenz

Karl Hermann, der Begründer und Spiritus Rector der Koblenzer Bekenntnis- gemeinde, entstammte dem nationalprotestantischen Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts. Bis ins Alter deutete in seiner persönlichen wie in seiner beruflichen Biographie nur wenig darauf hin, dass er einmal widerständiges Verhalten an den Tag legen würde. Erst im fortgeschrittenen Alter kam er mit der Theologie Karl Barths in Berührung und orientierte sich in der Folge zur Bekennenden Kirche. Der am 21. Januar 1871 in Saarbrücken geborene Karl Hermann stammte aus einer ursprünglich am Niederrhein ansässigen Pastoren- und Kaufmanns- familie. Sein Vater war Pfarrer im saarländischen Friedrichsthal, wurde 1876 Militärpfarrer und 1881 in dieser Funktion ins elsässische Straßburg versetzt, wo Sohn Karl seine Jugendjahre verlebte und sich 1890 an der Universität im- matrikulierte. Der Familientradition entsprechend, doch ohne wirkliche Begeis- terung, begann er zunächst ein Theologiestudium, in dem ihn vor allem die li- berale Theologie ansprach. Seine geistige Heimat fand er nach eigener Aussage aber eher im Idealismus als im kirchlichen Christentum, und so wechselte er nach einigen Semestern zum Studium der Philologie, seiner eigentlichen Nei- gung. 1899 wurde er für 20 Jahre Gymnasiallehrer in Weißenburg im Elsass. Seiner Ehe mit Johanna Poensgen entsprossen fünf Kinder. Nach der Abtretung des Elsasses an Frankreich, die er aus nationalen wie auch aus persönlichen Gründen als äußerst schmerzhaft empfand, erhielt er 1919 eine Stelle am Kai- serin-Augusta-Gymnasium in Koblenz. In den 1920er Jahren war er kirchlich wie politisch dem Liberalismus zu- zurechnen. Er war Mitglied der Deutschen Volkspartei und engagierte sich bei Karl Hermann 35 den »Freunden der evangelischen Freiheit«, deren Koblenzer Ortsgruppe er für einige Jahre leitete. In dieser Zeit begegnete er auch der Theologie Karl Barths, die ihn tief beindruckte und ein entscheidendes Bindeglied zwischen seiner kulturprotestantischen Prägung im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Zeit und seinem Engagement in der Bekennenden Kirche wurde. 1934 bildete sich auf Initiative Karl Hermanns, der Ende Mai an der Be- kenntnissynode von Barmen teilgenommen hatte, die Koblenzer Bekenntnisge- meinde. Bei der Gründung waren zunächst erhebliche Widerstände zu überwin- den. In der Koblenzer Pfarrerschaft wie auch im Presbyterium der Gemeinde hatten die Deutschen Christen die Mehrheit und ließen nichts unversucht, durch Verleumdungen, wie etwa dem Vorwurf der mangelnden Vaterlandsliebe und der politischen Unzuverlässigkeit, die Arbeit der Bekenntnisgemeinde zu hintertreiben. Hermann setzte gegen diese Denunziationen eine gezielte Auf- klärungsarbeit. In seinen Ansprachen und den von ihm verfassten »Berichten zur Lage« betonte er, dass die Bekenntnisgemeinde konsequent auf dem Boden des Glaubens an Jesus Christus stehe und es die Deutschen Christen seien, die sich mit ihrer Auffassung, dass das Volk selbst eine Glaubensgrundlage sei und es demnach außer Christus noch andere Quellen der Offenbarung gebe, vom Fundament des christlichen Bekenntnisses entfernt hätten. Hermann gab der Koblenzer Bekenntnisgemeinde nicht nur geistliche Orientierung, sondern er war auch ein geschickter Organisator. Das Gemein- degebiet teilte er in 13 Bezirke ein, suchte Helfer aus, die in diesen Bezirken die Gemeindeglieder regelmäßig besuchten, und veranstaltete Schulungsaben- de, zu denen er regelmäßig prominente Redner wie Ernst Stoltenhoff, Joachim Beckmann oder Heinrich Held einlud, die die Vorgänge des Kirchenkampfs er- läuterten. Zur Abwehr der DC-Polemik gegenüber dem Alten Testament holte er mehrfach den Alttestamentler Friedrich Horst zu Vorträgen nach Koblenz. Hermann selbst referierte über die Bedeutung der Bekenntnisse in der Kirche. Die Leitung der Koblenzer Bekenntnisgemeinde war für Karl Hermann nicht ohne persönliche Risiken. Mehrfach wurde seine Wohnung von der Gesta- po durchsucht, ohne dass die Gemeindegliederkartei der Bekenntnisgemeinde entdeckt wurde. Er war sich, wie aus seinen Aufzeichnungen hevorgeht, der Ge- fahr sehr bewusst, die ihm drohen konnte, und setzte sich sehr persönlich und selbstkritisch mit der Frage auseinander, ob seinem Eintreten für die Wahrheit womöglich aus Opportunitätsgründen Grenzen gesetzt sein könnten. Zu einer Situtation, wo seine aufrechte und integere Haltung tatsächlich auf die Probe gestellt wurde, kam es glücklicherweise nicht. Als enttäuschend empfand er es, dass das protestantische Koblenzer Bil- dungsbürgertum in der Bekenntnisgemeinde stark unterrepräsentiert war. Von dieser Seite hätte er sich mehr Unterstützung gewünscht, sowohl in finanzieller Hinsicht, bei der Unterstützung der von der Amtskirche nicht bezahlten jungen Bekenntnispfarrer, wie auch in organisatorischer Hinsicht, insbesondere bei der Durchführung der Schulungsabende. Durch seine regelmäßige Teilnahme an den rheinischen Bekenntnissynoden wusste er, dass es andernorts um den 36 Lebensbilder

Zusammenhalt und die Organisation der Bekenntnisgemeinden teilweise bes- ser bestellt war als in Koblenz. Als leidenschaftlicher Pädagoge sah er es mit Sorge, dass die heranwach- sende Jugend mehr und mehr von der nationalsozialistischen Propaganda ver- einnahmt wurde, und versuchte dieser Entwicklung gegenzusteueren, indem er den Eltern hilfreiche Literatur zur christlichen Erziehung vermittelte. In seinen letzten Lebensjahren von gesundheitlichen Problemen geplagt, ließ er es sich doch nicht nehmen, bis zuletzt an den rheinischen Bekennntnis- synoden teilzunehmen und den Kampf um das rechte Bekenntnis fortzuführen. Kampf war für ihn freilich nie Selbstzweck – darin unterschied er sich prinzipi- ell von der NS-Ideologie. In einer seiner letzten Ansprachen vor der Koblenzer Gemeinde wurde das noch einmal deutlich, als er sagte: »Der Kirchenkampf ist nicht das Eigentliche, worum es uns geht. Nicht die gleiche Front ist es, was uns bindet, sondern der gleiche Grund, auf dem wir stehen, der gleiche Geist, das gleiche Stehen zu demselben Herrn und Halten zu seiner Kirche. Was uns zusammentreibt ist im Grund doch nur, daß wir Gemeinde Christi sein wollen.« Am 9. November 1940 starb Karl Hermann und wurde unter großer Anteilnah- me von Freunden und Weggefährten auf dem Koblenzer Hauptfriedhof bestattet.

Quellen und Literatur

Hans Pfeifer, »Er beugte sich nicht der Macht und dem allgemeinen Geschwätz«: Karl Hermann, Schulprofessor und Leiter der BK-Gemeinde Koblenz. In: Sie schwammen gegen den Strom, hg. von Günther van Norden. Köln 2006, 137–140. Hans Pfeifer, Karl Hermann (20.01.1871–09.11.1940). Schulprofessor und Begründer der Bekennenden Kirche in Koblenz (unveröffentlichtes Manu- skript im Nachlass Karl Hermann im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland).Nachlass Karl Hermann (AEKR, Bestand 7NL 056B).

Andreas Metzing