Ein Gespenst Geht Um in Europa
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Distel Vereinigung Distel Ein Herausgegeben von der 139/140/2018 Nr. Gespenst geht um in Euro 3,50 www.kulturelemente.org [email protected] [email protected] Europa Poste Italiane s.p.a. Spedizione Abbonamento Postale – 70 % NE Bolzano Die Fotostrecke zeigt Aufnahmen von Protesten, Plakaten und Schriftzügen in Prag 1968, nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings.Dokumentiert von Keith Jones Inhalt Südtirol 1968 aus zwei Blickwinkeln von 2 Noch immer geistert 1968 als Mythos Hans Karl Peterlini und Josef Perkmann oder Schreckgespenst durch die politische Trient 1968, Mythos und Schreckgespenst. 5 Sandro Schmid blickt zurück Rhetorik Europas. Hat uns der Geist jener Über gar nicht wilde Jahre in einem Dorf 1968 6 berichtet Gertrud Margesin Zeit stets begleitet oder ist er bloß SAVANNEN: Gerhard Mumelter über die 7 wiedergekehrt als Farce? Ein Streifzug berüchtigte Brixner Rede von N. C. Kaser Christine Kofler spricht mit Sepp Mall 8 durch das globale und lokale, private über sein neues Buch „Hoch über allem” Roland Benedikter über die Grenzen 15 und politische 1968 – auch abseits der von 1968 in Zeiten der Globalisierung. Metropolen – und seine Folgen im Jahr Eine Replik dazu von Roland Psenner Einen politischen Streifzug von 1968 bis 2018 20 2018 führt von nachhaltigen Erinnerungen unternimmt Haimo Perkmann Johannes Drumbl erinnert sich an seine 22 bis zu vorausblickender Polemik. Ablehnung der Diktion der 1968er und ihre Folgen GALERIE Performative Selbstinszenierungen von Egon Rusina aus den Jahren 1969-1972 Ein Gespenst geht um in Europa Wenn wir auf das 20. Jahrhundert zurückblicken, dann werden wir erkennen, dass wir die erste Hälfte des Jahrhunderts vor allem mit Krieg, Tod und Genozid assoziieren, gefolgt von einem zähen Kampf ums Überleben in der Nachkriegszeit – eine mühsame, schwere Zeit mit Millionen Toten, über welcher groß das Verdikt „Nie wieder” prangt. Dagegen erscheinen uns – im Westen – die letzten 50 Jahre als eine existen- Die beinah tiell leichte, beschwingte, bisweilen dümmliche, von Sex, Drogen und elektronischen Klängen geprägte Zeit. Auch heute stehen Spaß und individuelle Erfüllung – analog und digital – hoch im Kurs. Dabei wird immer verpasste Revolution Nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag sind die öffentlichen Plätze der tschechischen Hauptstadt bald mit wieder moniert, dass wir zugleich die Welt für Plakaten und Graffitis übersät, um gegen die Besatzung künftige Generationen ökologisch verbauen. zu protestieren: „Moskau 1800 km in diese Richtung. Insgesamt verdanken wir den Fortschritt dem wirt- Auf Wiedersehen.“ schaftlichen Aufschwung nach dem Krieg, in dessen Folge die erste Nachkriegsgeneration ab 1968 unsere Gesellschaftsordnung auf den Kopf gestellt hat. Die verwundert, wie schnell sie, die ein Jahrzehnt lang und bestanden auf dem Ansässigkeits- und Gewerbe- Verbündeter im Kampf der Benachteiligten wahrge- folgenden Generationen haben sich an ihnen abgear- Gäbe es in irgendeinem Südtiroler Haus und Hof und Kinder durchgeschubst hatten, nun verbot für Juden und Protestanten. Auffallend schwach nommen, sondern – weil weitgehend italienisch – als beitet, in den 70ern wollte man noch radikaler sein, in von einer für natürlich gehaltenen patriarchalen Autori- war dagegen, nach dem Schock der Annexion 1919 privilegierte Gruppe des Staates bekämpft. Eine Uni- den 80ern dann die konservative Wende… und heute, tät wieder in die zweite Reihe zurückgedrängt wurden; durch Italien, der Widerstand gegen den Faschismus. versität, an der sich eine intellektuelle kritische Masse im 21. Jh., wendet das Narrenschiff hart Steuerbord. Weinkeller noch ein autochthones Flaschl manch’ eine war vielleicht auch froh darüber. Dafür mag es viele Gründe geben. Dass sich der bis bilden hätte können, war – weil ebenfalls und lange Der Kurs steht rechts und die 68er, welche für die Von einer Demokratisierung der Hochschulen, einem dahin sprichwörtliche Tiroler Kampfgeist nahezu auf zurecht als geistiges Kolonialisierungsinstrument ver- aktuellen politischen Verfehlungen verantwortlich sein aus dem Jahr 1968, einen Lagrein oder Umsturz politischer Herrschaft, von neuem Geschlech- den geheimen Deutschunterricht beschränkte, das dächtigt – über Jahrzehnte heftig bekämpft worden. sollen, werden wie das Kind mit dem Bade ausge- terverhältnis und freier Liebe, von einer Aufarbeitung System des Faschismus aber kaum in seinem autori- So spielte sich 1968 in Nischen ab, in den begrenzten schüttet. So erging es in der Napoleonischen Ära der NS-Schuld der Väter- und Müttergeneration war tären Gehabe angriff und durchschaute, verweist auf Kreisen der kommunistischen Partei und außerparla- auch schon der Aufklärung, die intellektuell weit einen Pfefferer etwa, dann würde man 1968 höchstens in intellektuellen Zirkeln die Rede. Der tiefe Verbundenheit zu dem, was Adorno und Horkhei- mentarischen Linken, unter Studentinnen und Studen- größeres geleistet hat. öffentliche Diskurs war beherrscht von der Frage, ob mer in ihrer Analyse des Nationalsozialismus den „au- ten, die an italienischen und ausländischen Universitä- Südtirol – oder genauer die Sammelpartei mit ihrer toritären Charakter“ nannten. Als der Aggressor deut- ten mit den Themen ihrer Zeit in Kontakt kamen. Die Der Wohlstand im Kalten Krieg war ohne Zweifel eine darin allerlei Ingredienzen finden, aber 90prozentigen Mehrheit in der deutsch- und ladinisch- sche Uniform trug und deutsche Befehle bellte, lag ihm Südtiroler Hochschülerschaft brauchte lange, um ihre westliche Blase, die erheblich auf Ausbeutung basierte. sprachigen Bevölkerung – Ja oder Nein zu dem mit das Land zu Füßen, es war – wie Alexander Langer konservative Haltung gegen Ende der 1960er Jahre Andere Kontinente befanden sich auf der „heißen” am allerwenigsten wäre das drin, dem Staat ausgehandelten „Paket“ als Grundlage des später aufzeigte – in seinem Widerstandsgeist auf dem zugunsten einer moderaten Modernität zu öffnen. 1969 Seite des Kalten Krieges und kannten weder Wohlstand späteren Autonomiestatutes von 1972 sagen sollte. Die rechten Auge blind. hielt dann der Dichter Norbert C. Kaser seine berüch- Ein Gespenst geht um in Europa Seite 3 noch Frieden. Was sollen jene, die unsere Bomben schillernde Figur, an der sich die Debatten entzünde- Widerstand üben, Rebellion wagen, aufstehen gegen tigte Brandrede gegen den Tiroler Gigger, in anonymen erdulden müssen, von unserem „Humanismus” halten?, was mit ’68 konnotiert ist. ten, war kein linker Sponti, kein hemdsärmeliger Arbei- Unrecht, sich zum Protest zusammenscharen – dies Drohbriefen wurden ihm Mord- und Totschlag ange- fragt Merleau-Ponty schon 1946. Heute müssen wir terführer, kein subversiver Liedermacher, sondern ein alles stand in Tirol/Südtirol traditionell im Dienst der kündigt, der Aufstieg zur Symbolfigur half ihm nicht aus mit den wirtschaftlich begründeten Fluchtursachen Weltkriegsinvalide, der auf Krücken vor sein Publikum Abwehr von fremden Feinden. Eine kritische Auseinan- seiner inneren Verzweiflung und Isolation heraus. Erst zurande kommen. Stattdessen aber sieht man die Hans Karl Peterlini trat. Man versammelte sich nicht zu Straßendemos, dersetzung nach innen, die Aushandlung sozialer Un- sein Tod 1978, als sich sein versprengter Freundeskreis Weltordnung in Gefahr, erlebt die Wiederholung der sondern drückte diszipliniert in Kulturhäusern die Bän- gleichheiten, ökonomischer Interessen und politischer um sein Grab scharte, wurde zum Signal für die politi- Geschichte als Farce vom Untergang des Abendlan- des. Die Probleme rund um Migration, Toleranz und Pazisfismus bis hin zur Geburtenrate und einer über- strapazierten Politischen Korrektheit wird gern den 68ern in die Schuhe geschoben. Aber stimmt das auch? Sind nicht gerade die Vertreter dieser Generati- on politisch unkorrekt geblieben? und sind nicht viele 68er längst auf einen pro-amerikanischen Nato-Kurs eingeschwenkt? Fragen über Fragen, denen wir als „diskutierende Klasse” in dieser kontroversen Ausgabe nachgehen wollen. Hannes Egger / Haimo Perkmann 1968 stand das Land an der Kippe zwischen einem ke, um Silvius Magnago beim angestrengten Erläutern Haltungen fand nahezu keinen Raum. Der Zusammen- sche Bündelung der ’68er Bewegung. Alexander Lan- HERAUSGEBER Distel-Vereinigung ERSCHEINUNGSORT Bozen mehr gefürchteten als erhofften Friedensschluss mit der „Paket“-Paragraphen zu lauschen. bruch der Dynastie setzte in dem bei Österreich ver- ger, den es vom katholischen Musterschüler und Hoff- PRÄSIDENT Martin Hanni einem Staat, dem es in zähen Verhandlungen, begleitet Südtirol war 1968 durchaus Brennpunkt, jedoch ab- bliebenen Nordtirol ansatzweise Kräfte für eine Arbei- nungsträger zur Lotta Continua in Rom verschlagen VORSTAND Johannes Andresen, Peter Paul Brugger, von Anschlägen, Toten und Tränen, ein sperriges Bün- seits der `68er Bewegung. Es war Thema internationa- ter- und Frauenbewegung frei, in Südtirol geriet dage- hatte, rief zur Bildung einer neuen Bewegung auf. Gertrud Gasser, Bernhard Nussbaumer, del an 137 Autonomiemaßnahmen, 25 Submaßnahmen ler Verhandlungen und Mekka für patriotische bis na- gen jede Befassung mit Recht und Unrecht in den Sog In den eingeübten Diskurs, dass Südtirol zum Schutz Reinhold Perkmann, Roger Pycha KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann und 31 Fußnoten abgerungen hatte. Nach und nach tionalistische Bewegungen in Europa, die hier einen des ethnischen Überlebenskampfes. Auch als Ende der von Volk und Heimat geschlossen bleiben muss, VERANSTALTUNGEN öffneten sich für die Attentäter die Gefängnistore.