FEIERSTUNDE aus Anlass des 10. Jahrestages der konstituierenden Sitzung des ersten frei gewählten Gesamtberliner Parlaments nach der Wiedervereinigung der Stadt am 11. Januar 2001 FEIERSTUNDE

aus Anlass des 10. Jahrestages der konstituierenden Sitzung des ersten frei gewählten Gesamtberliner Parlaments nach der Wiedervereinigung der Stadt am 11. Januar 2001 in der Nikolaikirche Herausgegeben vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Referat Öffentlichkeitsarbeit

10111 Berlin

Redaktion: Karin Brandes und Anja Zieke Herstellung: Verwaltungsdruckerei Berlin Titelfoto: Rainer Gaertner/publicon

2 FEIERSTUNDE

aus Anlass des 10. Jahrestages der konstituierenden Sitzung des ersten frei gewählten Gesamtberliner Parlaments nach der Wiedervereinigung der Stadt am 11. Januar 2001 in der Nikolaikirche

I. Rückblick auf die konstituierende Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin am 11. Januar 1991

Eröffnungsansprache Klaus Franke Alterspräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin Seite 5

Diskussion und Beschlussfassung des Abgeordnetenhauses von Berlin über den Geltungsbereich der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950 Seite 10

Ansprache Dr. Hanna-Renate Laurien Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Seite 32

Aufzählung der Mitglieder des 1. Gesamtberliner Parlaments (12. Wahlperiode) Seite 34

3 II. Festveranstaltung in der Nikolaikirche am 11. Januar 2001

Begrüßung und Ansprache Reinhard Führer Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin Seite 39

Ansprache Klaus Franke Senator a. D. Stadtältester von Berlin Alterspräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 12. Wahlperiode Seite 45

Ansprache Dr. Irana Rusta Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin Seite 48

Festrede Brigitte Grunert Parlamentsberichtserstatterin beim Tagesspiegel Seite 52

4 I.

Rückblick auf die konstituierende Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin am 11. Januar 1991

Klaus Franke

Alterspräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin

Meine Damen und Herren!

Nach Artikel 39 Absatz 5 der Verfassung von Berlin tritt das Abgeord- netenhaus unter dem Vorsitz des ältesten Mitglieds des Hauses zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Ich bin am 11. April 1923 geboren und frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das älter ist; das möge sich dann bitte melden. – Das ist nicht der Fall. Somit werde ich das Amt des Alterspräsidenten wahrnehmen.

Ich eröffne hiermit die 1. Sitzung der neuen Wahlperiode des Abgeord- netenhauses von Berlin.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum ersten Mal seit genau 40 Jahren versammelt sich wieder eine aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung des ganzen Berlin zu einer konstituierenden Sitzung. Ich begrüße die Abgeordneten und alle Gäste sehr herzlich.

Der Ort, an dem wir uns für diese erste Sitzung treffen, nämlich diese alte, ehrwürdige und historisch so bedeutsame Kirche St. Nikolai ist mit Bedacht für die konstituierende Sitzung gewählt worden. Denn diese Kirche dokumentiert in ihrer bewegten Geschichte den Geist und die Offenheit, die für diese Region, in der wir politisch tätig sind, prägend ist. Sie hat die guten und schweren Zeiten erlebt und erlitten, und sie ist unabhängig von ihrer ursprünglichen religiösen Bestimmung ein Ort guter, lebendiger Traditionen.

5 Diese heutige Sitzung hat für Berlin eine herausragende Bedeutung. Das frei gewählte und demokratisch legitimierte Abgeordnetenhaus beginnt seine verantwortungsvolle Tätigkeit. Die Bürger der Stadt setzen in uns hohe Erwartungen. Sie gilt es zu erfüllen. Dass wir dies heute in einem wiedervereinigten Berlin tun dürfen, ist Anlass zu großer Freude und Genugtuung.

Die Absurdität einer geteilten Stadt ist vorbei. Berlin ist endlich wieder eine Stadt, die gemeinsam ihre Probleme lösen und ihre Zukunftserwar- tungen formulieren und gestalten kann.

Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat, einer Anregung Willy Brandts folgend, jahrzehntelang seinen unbeugsamen Willen bekundet, dass die Mauer fallen und dass Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muss. Dies ist geschehen.

Die Geschichte hat manchmal einen langen Atem. Dass die deutschen Hoffnungen sich so überraschend schnell erfüllten, ist ein Geschenk, für das wir dankbar sein sollten. Diese Zuwendung der Geschichte fordert von uns aber auch Verständnis und eine große Sensibilität für die außer- ordentliche Lage, und sie fordert die Bereitschaft, nach mehr als 40 Jahren der Teilung wieder aufeinander zuzugehen. Das, was die Tren- nung an Entfremdung brachte, kann nur mit einer inneren Bereitschaft zur Einheit überwunden werden. Alle Präsidenten des Abgeordneten- hauses von Berlin und die überwältigende Mehrheit aller Abgeordneten haben in der Vergangenheit mit großer Entschlossenheit an dem Gedanken der Einheit festgehalten und damit den Willen der Berliner in Ost und West immer wieder unbeirrt zum Ausdruck gebracht. Es ist gut, dass die beharrliche Behauptung klarer Rechtspositionen nicht vor den Strömungen des Zeitgeistes gewichen ist.

Die Vereinigung beider TeileBerlins stellt uns vor große Aufgaben. Berlin ist nach vier Jahrzehnten der Trennung nicht einfach und von heute auf morgen wieder zusammenzufügen. Mit dem Abriss der Mauer kann nicht an die früheren Bedingungen schlicht angeknüpft werden. Die Entwick- lungen in Ost und West können nicht kurzerhand fortgesetzt werden. Uns allen stellen sich schwere Verbindungsaufgaben. Aber Berlin hat in seiner Geschichte schon schwierigere Zeiten bestanden und durchgestanden.

6 Wir werden auch diese Probe bestehen, zumal sie die Chance für eine hoffnungsvolle, für eine gute Zukunft in sich trägt.

Gestatten Sie mir noch drei Anmerkungen, die mir wichtig erscheinen.

1.

Wir, die frei gewählten Abgeordneten aus dem vereinten Berlin sollten bei unserer Arbeit nicht vergessen, dass wir zwar Angehörige von Fraktionen sind, aber in erster Linie und vor allem Vertreter aller Bürger der Stadt. Wir haben Bürgeranliegen umzusetzen. Nicht das Profil unserer Parteien darf Maßstab unseres Handelns sein, sondern das Wohl der Stadt. Wir haben die allererste Pflicht, die Interessen aller Bürger zu vertreten, insbesondere auch die Interessen derer, die zu den Benachteiligten der Gesellschaft gehören. Wir haben die Aufgabe, die Geschicke der Stadt auf das Beste ordnen zu helfen und damit ihr Ansehen zu mehren. Dazu gehört, dass wir zum Beispiel nicht jede Meinung, die aus einem anderen politischen Lager kommt, gleich von vornherein verwerfen – nur, weil sie der politische Gegner vorträgt. Die scheinbare Gesetzmäßigkeit, einer Meinung schon deshalb zu widersprechen, weil sie vom politischen Gegner kommt, ist ein immer wieder sich einschleichendes Übel der poli- tischen Praxis.

Die Probleme, die vor uns liegen, verlangen ein Zusammenstehen und ein Bündeln aller Kräfte und ein sorgfältiges Prüfen aller Ideen. Es darf nicht sein, dass ein großer Teil der Abgeordneten sich von der konstruktiven Mitarbeit ausgeschlossen fühlt. Wir brauchen das Mitwirken aller und können uns in Zukunft nicht den Luxus leisten, auch nur eine einzige Idee unbeachtet zu lassen.

2.

Zu den Haupttugenden im öffentlichen Leben gehört die Toleranz. Das Wort „Toleranz“ist so leicht dahingesagt – und so schwer zu praktizieren. Sie im täglichen Umgang anzuwenden, möchte ich allen mit besonderer Eindringlichkeit ans Herz legen. Jeder hat Anspruch darauf, dass seine Meinung gehört wird und dass wir ihn in seinem Bemühen ernst nehmen,

7 das Beste für die Stadt zu wollen. Das Zusammenleben in einer großen Stadt fordert vor allem Rücksichtnahme und Respekt voreinander. Zum toleranten Umgang miteinander gehört, die Ideale des anderen zu achten und sie zu respektieren, gerade auch dann, wenn man sie nicht teilt. Voltaires berühmter Satz: „Ich verabscheue, was sie schreiben, aber ich würde mein Leben dafür hingeben, dass sie weiter schreiben können.“ nennt in seinem Kern das, was den toleranten Umgang miteinander aus- macht. Wir gewählten Volksvertreter haben als erste diese Haltung vorzu- leben und sie zu praktizieren, denn in ganz Berlin soll wieder der Satz gelten, dass jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden darf.

3.

Die Zukunft, die vor uns liegt, ist doppelt schwer. Wir haben gewaltige Aufgaben zu lösen, über deren Ausmaß sich wohl nicht alle im Klaren sind, und wir nehmen in diese Zukunft manche Belastungen aus der Vergangenheit mit. In den letzten 40 Jahren hatten die Bürgerinnen und Bürger im Ostteil der Stadt ohne Zweifel den schwereren Teil zu tragen. Wir aus dem westlichen Teilder Stadt sollten uns daher in der Beurteilung mancher Verhaltensweisen in diesem Teil der Stadt eher zurückhalten – es stünde uns gut an. Eine Grundvoraussetzung für das schnelle Zusam- menwachsen beider Stadtteile ist nicht die Kritik übereinander, sondern das Verständnis füreinander. Diejenigen, die in demokratischen Lebens- verhältnissen groß geworden sind, haben denen, die sie erst seit kurzem praktizieren können, vorzuleben und durch beispielhaftes Verhalten zu beweisen, dass die Demokratie die bessere Form des Zusammenlebens von Menschen ist, dass sie besser funktioniert, dass sie wirkungsvoller und vor allem, dass sie bürgernäher ist. Dies ist nicht durch Behauptungen, sondern nur durch Verhalten zu beweisen, und wir sollten uns nicht scheuen, dies zu tun. Wir haben auch zu beweisen, dass der Rechtsstaat die unübertroffene Grundlage für eine funktionsfähige Gesellschaftsord- nung ist. Wir müssen gerade zur Zeit jeder Versuchung widerstehen, aus diesem oder jenem Anlass seine Grundsätze nicht wirklich ernst zu nehmen.

Die Verdächtigung zum Beispiel, für Machtinstrumente des untergegan- genen Regimes gearbeitet zu haben, darf nicht zu vorschnellen Verurtei- lungen führen.

8 Niemand darf in die Schwierigkeit geraten, etwa seine Unschuld beweisen zu müssen. Nur Gerechtigkeit schafft Frieden. Unsere Gesellschaft braucht den äußeren, aber auch den inneren Frieden. Dazu kann jeder beitragen. Unser Land hat die Chance, einer guten Zukunft entgegenzu- sehen und mit einem glücklichen Jahrzehnt dieses Jahrhundert abzu- schließen, das so viel Leid und Tränen gesehen hat.

Wir beginnen heute ein neues Kapitel der Berliner Parlamentsgeschichte. Wir können uns – denken wir nur eineinhalb Jahre zurück – an hoff- nungsvollen Vorzeichen orientieren. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam die großen Aufgaben bewältigen werden. Unsere Probleme sind groß, aber verhältnismäßig gering, wenn wir an die Sorgen der Menschen in Osteuropa und in anderen Krisengebieten denken. Wir bitten deshalb an diesem kirchlichen Ort den Schöpfer unserer Welt, die Menschheit vor der Geißel eines neuen Krieges zu bewahren.

Gewalt und Unfreiheit, Mauer und gegenseitiges Misstrauen in Deutsch- land waren nicht der Geschichte letztes Wort. Der demokratische Wille, der Ruf nach Freiheit und Einheit haben uns ein neues Kapitel ermög- licht, das wir zu schreiben beginnen. Dazu gehört die Verwirklichung unseres Anspruchs, nicht nur Hauptstadt, sondern auch Parlaments- und Regierungssitz des vereinten Vaterlandes zu sein.

Seien wir uns der großen Verantwortung bewusst, die von uns gefordert wird. Es ist an uns, hier in Berlin beispielhaft für alle zu zeigen, dass wir fähig und in der Lage sind, die Einheit auch in den Herzen zu vollenden.

Meine Damen und Herren, gehen wir an die Arbeit zum Wohle unserer geliebten Stadt Berlin!

9 Diskussion und Beschlussfassung des Abgeordnetenhauses von Berlin über den Geltungsbereich der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950

Dr. Finkelnburg (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Berliner Abgeordnetenhaus wird heute, wie ich ver- mute, mit großer Mehrheit beschließen, die Verfassung, die seit 1950 in den zwölf ehemaligen West-Berliner Bezirken gilt, fortan für ganz Berlin in Geltung zu setzen. Wir – die Christlich-Demokratische Union – fassen diesen Beschluss mit Dankbarkeit und mit Freude, denn er vollendet staatsrechtlich die Einheit Berlins.

Was wir heute vollenden, hat mir der Öffnung der Mauer am 9. November begonnen. Die ersten freien Wahlen im damaligen Ostteil der Stadt, die Bildung einer demokratischen Stadtverordnetenversammlung, die Verabschiedung einer freiheitlichen Verfassung für das damalige Ost-Berlin waren die weiteren Schritte. Der Einigungsvertrag, der unser Land wiedervereinigt hat, hat am 3. Oktober die zwölf West-Berliner und die elf Ost-Berliner Bezirke zu einem Land – dem Land Berlin – zusam- mengefügt. Die Einheit Berlins war damit aber noch nicht vollendet. Nach wie vor gab es zwei Verfassungen und zwei Parlamente.

Vor kurzem – am 2. Dezember – haben wir erstmals seit 1946 wieder in freier Wahl ein gemeinsames Parlament gewählt, das sich soeben konsti- tuiert hat. Vollendet ist die Wiedervereinigung Berlins allerdings erst dann, wenn wir beschließen, dass Berlin von jetzt an wieder eine einheit- liche Verfassung hat. Dann haben wir gewissermaßen alles beisammen, was nach der Staatsrechtslehre einen Staat ausmacht: ein einheitliches Staatsgebiet, ein einheitliches Staatsvolk und eine einheitliche Staats- gewalt – nämlich eine Verfassung und ein Parlament. Deshalb ist der heutige Tag,wie heute morgen bereits im ökumenischen Gottesdienst mit Recht gesagt wurde, ein historischer Tag für Berlin. Er wird in die Geschichte unserer Stadt eingehen.

Gleichzeitig tritt mit dem heutigen Tag die Verfassung außer Kraft, die sich die Stadtverordnetenversammlung im Juli 1990 gegeben hat. Sechs Monate hat diese Verfassung das politische Leben im damaligen Ostteil Berlins geprägt. Trotz dieser kurzen Dauer ist dieser Verfassung ein Platz

10 in der Geschichte unserer Stadt sicher. Sie war für den Ostteil der Stadt seit 1948 die erste Verfassung, die sich ein freigewähltes Parlament in freier Entscheidung gegeben hat. Sie ist ein Dokument und ein Monu- ment der nach 40jähriger Unfreiheit wiedergewonnenen Freiheit. Als solches wird sie in unserem Gedächtnis bleiben.

Alterspräsident Franke: Herr Kollege Dr. Finkelnburg, einen Moment, bitte. Es ist eine große Unruhe im Haus. Es ist eine der wichtigsten Abstimmungen, die wir anschließend vornehmen wollen. Ich bitte um Aufmerksamkeit und Ruhe!

Dr. Finkelnburg (CDU): Die heute außer Kraft tretende Verfassung der Stadtverordnetenversammlung spiegelt in bewegender Weise die Entbeh- rungen an Freiheit und Demokratie wider, denen unsere Mitbürger im Ostteil der Stadt über 40 Jahre ausgesetzt waren. Das gibt dieser Ver- fassung verfassungsgeschichtlichen Rang. Ich scheue mich nicht zu sagen, dass sie darin der Paulskirchenverfassung ähnelt, die die Entbeh- rungen der Menschen von 1848 an Freiheit und Einheit noch heute wiedergibt.

Unser heutiger Beschluss ist weit mehr als die Erstreckung der ehema- ligen West-Berliner Verfassung auf das ehemalige Ost-Berlin. Sie ist das Bekenntnis dieses Parlaments und die Feststellung der großen Mehrheit dieses Hauses, dass bis auf weiteres die Verfassung von 1950 – die wir übrigens in den letzten Monaten auf den heutigen Tag vorbereitet haben – unser aller gemeinsame Verfassung sein soll. „Bis auf weiteres“ sage ich, weil wir uns einig sind und es auch in die Verfassung hineingeschrieben haben, dass im Laufe dieser Legislaturperiode die Verfassung einer Über- arbeitung unterzogen wird, wobei die ehemalige Ost-Berliner Verfassung vom Juli 1990 und die Verfassung von 1948 – die letzte frei zustande- gekommene Gesamtberliner Verfassung – herangezogen werden.

Das Verfahren dieser Überarbeitung ist in unserer Verfassung vorge- schrieben. Es ist das Verfahren der Verfassungsänderung mit anschlie- ßender Volksabstimmung. Deswegen ist es weder notwendig noch sach- dienlich, dass wir uns unter einen Termindruck setzen, und deswegen wäre ein Antrag, hierfür eine verfassunggebende oder beratende Versammlung einzuberufen, ein Antrag auf Verfassungsänderung, der nicht im Wege der Feststellung, sondern nur im Wege eines verfassungs-

11 ändernden Gesetzes mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden könnte und dem wir gewiss nicht zustimmen werden.

Die Verfassung von 1950 ist eine in vielen Teilen nach wie vor wort- getreue Fortentwicklung der Verfassung von 1948. Auch die Verfassung der Stadtverordnetenversammlung vom Juli letzten Jahres knüpft an diese 48er Verfassung an. Das ist eine große Gemeinsamkeit zwischen dieser Verfassung des letzten Jahres und der, die wir heute übernehmen. Was wir heute beginnen, die Konstituierung des Gesamtberliner Parla- ments, ist deshalb kein Neuanfang, sondern ist Fortsetzung der demokra- tischen Tradition, die 1946 begonnen hat. Was 1946 mit der freien Wahl eines Gesamtberliner Parlaments begann, was sich 1948 mit der gemein- samen Verabschiedung einer frei beschlossenen Verfassung fortsetzte und was im Sommer 1948 gewaltsam unterbrochen wurde, wird heute in Frei- heit wieder aufgenommen. Wir würden – ich sage das in aller Freimut – die Spaltung nachträglich anerkennen, wenn wir akzeptieren, dass 1948 die demokratische Kontinuität abgebrochen wurde.

Nach unserem Selbstverständnis steht dieses Parlament in der Tradition von 1948 und – Herr Kollege Staffelt, da kann ich Ihnen nicht ganz zustimmen – ist deshalb das 12. freigewählte Berliner Parlament in Folge, das erstmals wieder für Gesamtberlin zuständig ist. Nur so deuten wir unsere Geschichte richtig.

Ein letzter, mich sehr beschäftigender Gedanke: Staatsrechtlich voll- enden wir die Einheit Berlins am heutigen Tage, aber eine Stadt werden wir erst wirklich sein, wenn auch die Lebensverhältnisse in der Stadt ein- ander ähnlich geworden sind. Eine Stadt – lassen Sie mich das in aller Offenheit sagen –, die aus einer armen und einer reichen Hälfte besteht, ist nach wie vor eine gespaltene Stadt. Die Annäherung der Lebensver- hältnisse in Berlin ist auch – deshalb erwähne ich es hier – ein Gebot unserer Verfassung. Die Verfassung von Berlin enthält einen umfangrei- chen Grundrechtskatalog. Grundrechte sind traditionell Freiheitsrechte, die den Bürger vor der Allmacht des Staates schützen. Aber Grundrechte stellen auch eine Wertordnung dar, die dem Staat Ziele setzt; dies erkannt zu haben, ist wahrscheinlich das größte Verdienst des Bundesverfassungs- gerichts.

12 Lassen Sie mich das an einigen wenigen – für Berlin markanten – Beispielen erläutern: Was hat ein Bürger, der nur wenige Habseligkeiten besitzt, davon, wenn ihm die Verfassung mit Pathos sein Eigentum gewährleistet und ihm garantiert, dass er nur zum Wohle der Allgemein- heit und gegen Entschädigung enteignet wird? – Niemand wird daran denken, ihm seine wenige Habe wegzunehmen. Was hat der Obdachlose davon, wenn ihm die Unverletzlichkeit einer Wohnung gewährleistet wird, die er nicht besitzt? Was nützt das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes dem, der gerade arbeitslos geworden ist und keine neue Arbeit findet? – Letztlich bleibt auch der Gleichheitssatz der Verfassung Stückwerk – ich wiederhole mich –, wenn eine Stadt auf Dauer in eine reiche und eine arme Hälfte geteilt ist. Der Satz „Gleicher Lohn für gleiche Leistung“ ist auch ein verfassungsrechtliches Gebot.

Wir – das Parlament dieser Stadt – und der von uns demnächst zu wählende Senat stehen deshalb in der Pflicht, diese aus den Grund- rechten, aus den Freiheitsrechten abzuleitenden Staatszielbestimmungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Wir stehen in der Pflicht, für die Menschen in dieser Stadt Lebensbedingungen zu schaffen oder ihnen Lebensbedingungen zu ermöglichen, die es ihnen gestatten – und zwar allen Bürgern dieser Stadt –, in den Genuss der Freiheitsrechte dieser Verfassung zu kommen. Eigentumsbildung, ein wenigstens bescheidener Wohlstand, eine angemessene Wohnung, ein Arbeitsplatz gehören zu dem, was die Wertordnung unserer Verfassung fordert – als Staatsziel- bestimmung, sicherlich nicht als einklagbares Grundrecht. Dies nimmt uns alle – Regierung wie Opposition – in die Pflicht.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam diese Verfassung beschließen. Sie hat ihre Mängel – wie jede Verfassung auf der Welt –, aber sie ist eine tragfähige und gute Grundlage für einen Neuanfang. Lassen Sie uns dann gemeinsam versuchen, die Werte dieser Verfassung zu verwirklichen, und lassen Sie uns dies tun, damit wir in fünf Jahren, wenn wir gefragt werden, was wir denn in dieser Legislaturperiode geschaffen haben, sagen können: Jetzt ist Berlin wirklich eine einheit- liche Stadt geworden. – Vielen Dank!

Alterspräsident Franke: Das Wort für die SPD-Fraktion hat Herr Abge- ordneter Fechner!

13 Fechner (SPD): Werter Herr Alterspräsident! Werte Damen und Herren! Vor Ihnen liegt der Beschlussfassungsantrag zur Drucksache 12/7 des Abgeordnetenhauses von Berlin, das am heutigen Tage – nach freien und geheimen Wahlen in ganz Berlin – erstmals wieder als Parla- ment der vereinigten Stadt zusammengetreten ist. Der Text stellt in einer nüchternen und juristisch orientierten Sprache die Gültigkeit der Berliner Verfassung vom 1. September 1950 für das gesamte Gebiet des Landes Berlin fest. Dieser Zeitabschnitt, der die Spaltung Berlins und die Teilung Deutschlands umfasst, ist durch die Daten 1948, 1950 und durch das heutige – den 11. Januar 1991 – gekennzeichnet. Mit dem Berlin- Ultimatum der Sowjetunion und mit dem 13. August 1961 möchte ich nur zwei Abschnitte dieser Epoche in die Erinnerung zurückrufen.

Da die PDS in diesem Parlament vertreten ist – die Partei, die sich heute noch als juristische Nachfolgerin der SED versteht – muss sie hier auch befragt werden, wann sie endlich mit dem Prozess der Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte unserer Stadt beginnt. Dazu genügt nicht die Durchführung eines Stalinismus-Seminars und die Rehabilitierung einiger kritischer SED-Mitglieder. Vielmehr gehört dazu die Aufhellung und Offenlegung der Mechanismen und Abläufe der Machtaneignung und Machtsicherung durch die Kommunisten dieser Stadt. Und dazu gehört ein Bekenntnis zur Verantwortung und zur Schuld für das unend- lich vielfältige Leid, das die Menschen dieser Stadt erfahren haben.

West-Berlin hat in enger Bindung an die Bundesrepublik Deutschland – nicht zuletzt auf der Grundlage dieser freiheitlichen Verfassung der Jahre 1948 und 1950 und ihrer zeitgerechten Fortschreibungen – alle Krisen erfolgreich bestanden und sich zu einem attraktiven demokrati- schen Gemeinwesen entwickelt. Hier hat diese Verfassung ihre Bewäh- rung erfahren und ihre Bewahrung legalisiert. Mit der Beschlussfassung zur Übertragung dieser Verfassung auf Gesamtberlin ergeht auch gemäß Artikel 88 Absatz 2 ein Auftrag an dieses Parlament. Dort heißt es: „Die Verfassung ist während der ersten Wahlperiode des Gesamtberliner Abge- ordnetenhauses einer Überarbeitung zu unterziehen. Grundlage der Überarbeitung sind die Verfassungen vom 22. April 1948, vom 1. Sep- tember 1950 und vom 11. Juli 1990. Eine gemäß Absatz 1 überarbeitete Verfassung ist durch Volksabstimmung in Kraft zu setzen.“ – Soweit das Zitat.

14 In der Folge der demokratischen Erneuerung im Herbst 1989 wurde – beginnend am Runden Tisch von Ost-Berlin und vollendet in der aus den Wahlen am 6. Mai 1990 hervorgegangenen Stadtverordnetenver- sammlung von Berlin – die benannte Verfassung vom 11. Juli 1990 erar- beitet. Sie hatte das Ziel, die demokratische Umgestaltung in Ost-Berlin zu sichern und unumkehrbar zu machen, die Einheit dieser Stadt herbei- zuführen und den Anforderungen der heutigen Zeit zu entsprechen. So sind in dieser Verfassung, mit den Staatszielbestimmungen zum Recht auf Arbeit, zum Recht auf Wohnen, zum Schutz der Umwelt politische Auf- gaben benannt, die die Menschen dieser Stadt heute existenziell berühren. Es sind die Aufgaben, deren Lösung die Menschen im Westteil und im Ostteil dieser Stadt wieder zu Berlinern macht. „Ost“ und „West“ sollen dann wieder nur geografische Begriffe sein.

Ich möchte eine kurze Bemerkung an Herrn Professor Finkelnburg richten: Ich komme aus dem Ostteil dieser Stadt und habe am Prozess der Gestaltung dieser Verfassung mitgewirkt. Wir waren uns immer bewusst, das Ziel der Einheit dieser Stadt bedeutet, es wird eine Verfassung von kurzer Lebensdauer sein. Aber durch den heutigen Tag hat auch dieses Gesamtberliner Parlament eine neue Qualität erhalten. Die Zahlenfrage – ob 12. oder 1. Wahlperiode – mag wirklich nicht das wichtigste Problem in unserer Stadt sein. Aber es kann darüber noch einmal nachgedacht werden und wir können es nicht heute entscheiden; dass wir diese Frage heute eventuell durch einen Fehler vorentschieden haben, glaube ich nicht. Ich denke, es wird dazu noch Initiativen geben.

Es ist eine Verpflichtung für dieses Parlament, das Bewährte weiterzu- führen und gleichzeitig eine zukunftsorientierte Grundlage für das politi- sche Handeln zu schaffen. Dieses Parlament sollte dazu eine Verfassungs- Enqueˆte-Kommission einsetzen. Ich bitte alle Mitglieder dieses Hauses, der Beschlussfassung zur Drucksache 12/7 ihre Zustimmung zu geben. – Vielen Dank!

Alterspräsident Franke: Für die PDS hat Frau Dr. Lötzsch das Wort.

Frau Dr. Lötzsch (PDS): Herr Alterspräsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst dem Herrn Kollegen Fechner danken, dass er mir die Gelegenheit gibt, auf das Problem der Geschichtsaufarbeitung kurz einzugehen und die Frage zu stellen, warum Sie fordern, dass sich

15 die PDS allein mit der Geschichtsaufarbeitung befassen sollte. Ich kann Ihnen versichern, dass mehr geschehen ist als einige Stalinismus-Semi- nare. Ich schlage Ihnen vor, sich folgenden Satz durch den Kopf gehen zu lassen: Nicht die deutsche Geschichte ist das Produkt der SED, sondern die SED ist das Produkt der deutschen Geschichte. Und darum sind alle – und nicht nur die PDS – aufgefordert, Geschichtsbewältigung zu betreiben.

Zum Verfassungsantrag: Wir haben dem Antrag zur Annahme der Verfas- sung, der jetzt die Nummer 12/7 trägt, einen Ergänzungsantrag beigefügt, dass das Abgeordnetenhaus bis spätestens zum 1. März 1991 ein Ver- fahren zur Erarbeitung einer Gesamtberliner Verfassung beschließen möge. Ich scheue mich nicht, Frau Kollegin Saß-Viehweger, das Wort „Gesamtberlin“ in den Mund zu nehmen; schließlich steht es in Ihrer Verfassung und auch in der Verfassung der Stadtverordnetenversamm- lung.

Der vorliegende Antrag 12/7 geht nämlich von der falschen Prämisse aus, dass Ost-Berlin West-Berlin beigetreten wäre und daher bereits eine Gesamtberliner Verfassung existierte und diese Gesamtberliner Verfas- sung die West-Berliner – also die Verfassung von 1950 – wäre. Dem ist aber nicht so. Der Einigungsvertrag besagt in KapitelI–Wirkungdes Beitritts – Artikel 1 Absatz 2: „Die 23 Bezirke von Berlin bilden das Land Berlin.“ Über die Bedeutung dieses Satzes ist im Einheitsausschuss ausführlich diskutiert worden. Unsere Auffassung dazu haben wir mehr- mals klar und deutlich geäußert: Ost-Berlin ist nicht beigetreten, da ers- tens eine Stadt einem Land der Bundesrepublik nicht beitreten kann und zweitens die Formulierung „bilden“ die Synonyme „erzeugen, hervor- bringen, schaffen, gründen, einrichten“ – in keinem Fall aber „beitreten“ – hat und deshalb für unsere Begriffe eindeutig eine solche Interpretation des Beitritts ausschließt.

Die beiden Ausschüsse zur Vorbereitung der Einheit Berlins – sowohl der der Stadtverordnetenversammlung als auch der des Abgeordneten- hauses – wären nach der Verabschiedung der Verfassung vom 23. Juli 1990 und des 22. Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin in der Pflicht gewesen, eine wirkliche Gesamtberliner Verfassung zu erarbeiten und diese – und nicht die Verfassung von 1950 – am Tag der konstituie- renden Sitzung des Gesamtberliner Parlaments der ersten Wahlperiode

16 vorzulegen. Diese Aufgabe wurde nicht erfüllt, wie so vieles im Zeitraffer der deutschen Vereinigung nicht erfüllt und geregelt wurde. Mit ganz handfesten Resultaten dieses Zeitdrucks, an dem plötzlich niemand Schuld sein will und der atmosphärisch in der Luft zu liegen scheint, wie z. B. dem erpresserischen Verhalten der Pharmaindustrie und den unge- klärten Kohlesubventionen in Berlin, sind die Menschen im Ostteil Berlins jetzt konfrontiert. Aber auch die entwürdigende Abwicklungs- und Warteschleifenpraxis gehört dazu. Diese Beispiele sind überhaupt nicht weit hergeholt, sondern nicht wegdiskutierbare Resultate des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik und des Anschlusses von Ost-Berlin an West-Berlin, und sie gehören in eine Verfassungsdebatte, weil Verfassungsfragen auch Alltagsfragen sind.

Die konstituierende Sitzung des 1. Gesamtberliner Parlaments nach der staatlichen Vereinigung der DDR und der Bundesrepublik erscheint uns ein angemessener und würdiger Anlass, endlich den Vorwand des Zeit- drucks aufzugeben und eine breite Verfassungsdebatte zu beginnen.

Beide Verfassungen, die Ost-Berliner aus dem Jahr 1990, in die, wie Kollege Finkelnburg in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 16. Au- gust 1990 völlig zu Recht bemerkte, vieles mit Herzblut hinein- geschrieben wurde, und die West-Berliner Verfassung, zuletzt geändert durch das Zweiundzwanzigste Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin, enthalten den klaren Auftrag zur Erarbeitung einer endgültigen Verfassung bzw. zur Überarbeitung der Verfassung – das ist, wie Sie alle wissen, in beiden Verfassungen etwas unterschiedlich formuliert. Die Probleme der Menschen in dieser Stadt erfordern es, dass mit dieser wich- tigen Arbeit unverzüglich und auf breiter Basis begonnen wird. Deshalb schlagen wir in unserem Ergänzungsantrag vor, dass das Abgeordneten- haus möglichst schnell, spätestens jedoch bis zum 1. März 1991, ein Ver- fahren zur Erfüllung dieses wichtigen Verfassungsauftrags bestimmt. Dies könnte beispielsweise regeln, dass das Abgeordnetenhaus nicht lediglich einen Ausschuss einsetzt, sondern einen Verfassungsrat auf breitester Basis ins Leben ruft, der ein lebendiges, konstruktives Gespräch zwischen den verschiedensten Bürgern und Bürgerinnen dieser Stadt ermöglicht. Sicher wäre es auch angebracht, wenn ein solcher Rat mit dem verfas- sungserarbeitenden Organ unseres Nachbarlandes Brandenburg eng zusammenarbeitete. Dies sollte jedoch das Abgeordnetenhaus noch klären.

17 Ich möchte jetzt darlegen, was für uns die Schwerpunkte bei der Erarbei- tung der endgültigen Gesamtberliner Verfassung sind. Vorausschicken möchte ich, dass wir natürlich auf keinen Fall hinter das zurückfallen wollen, was mit der Verfassung vom 11. Juli 1990 bereits festgeschrieben wurde. Das betrifft z. B. den Artikel 7 Abs. 4 unserer Verfassung, der da lautet:

Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, insbesondere das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft entsprechend einer Fristenlösung, wird gesichert.

Das betrifft weiterhin den Artikel 15 Abs. 3, in dem der Anspruch jeder Einwohnerin und jedes Einwohners von Berlin auf angemessenen Wohn- raum festgehalten ist, und den angesichts der erwarteten Zahl von 1 Million Obdachlosen in diesem reichen Deutschland so entscheidenden Satz, dass eine Räumung nur vollzogen werden kann, wenn Ersatzwohn- raum zur Verfügung steht. Das betrifft auch Volksbegehren, Volksent- scheid sowie Fragen der direkten Bürgerbeteiligung. Wesentlich ist auch – das hat die Diskussion heute schon gezeigt –, dass die Verfassung vom 11. Juli 1990 keinerlei Festschreibung von Sperrklauseln enthält.

Dies soll nun aber nicht heißen, dass die Ost-Berliner Verfassung durchweg höher zu bewerten wäre als die Verfassung von 1950. Vieles – und viele die hier sitzen, waren daran beteiligt – ist in gemeinsamer Diskussion erarbeitet und in die West-Berliner Verfassung aufgenommen worden. Dies wollen wir nicht gering schätzen. In der West-Berliner Verfassung ist z. B. in Artikel 12 das Recht auf Arbeit viel eindeutiger und konsequenter formuliert als in der Ost-Berliner Verfassung. Auch zeigt die ursprüngliche Fassung des Antrags zum Zweiundzwanzigsten Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin, dass noch viele Gedanken zur Änderung der Verfassung vorhanden sind. Es geht also darum, die Chance zu nutzen, die aus der Bildung des Landes Berlin für eine neue Verfassung des Gemeinwesens erwächst.

Im Mittelpunkt bei der Erarbeitung der Verfassung wird für uns folgendes stehen: Grundrechte dürfen sich nicht darin erschöpfen, lediglich Staats- ziele zu sein, auch wenn dies bereits einen hohen Anspruch darstellt. Grundrechte können erst dann für die Bürger zu berechenbaren und tatsächlichen Werten werden, wenn sie verbindlich garantiert und

18 gewährleistet werden. Deshalb plädieren wir für ein umfassendes und modernes System der Grundrechte, deren anzustrebende Einklagbarkeit durch die Bürgerinnen und Bürger sowie den unbedingt verpflichtenden Charakter der Staatsziele für die Staatspolitik.

Für lange Zeit wird eines der obersten Gebote für eine bürgernahe Berlin- politik die gleichberechtigte Annäherung des bisherigen Ost- und West- Berlins sein, obwohl für lange Zeit zwischen Ost und West noch gravie- rende Unterschiede bestehen werden. Deshalb treten wir für die Garantie des Gleichheitsgrundsatzes in der Verfassung für alle Fragen der Landes- politik ein. Das betrifft besonders alle Fragen des Zusammenwachsens dieser Stadt, gleiche Tarife bei ähnlichen Tätigkeiten, das Verbot jeglicher Diskriminierung sowie die völlige Gleichstellung von Frauen, Kindern, Jugendlichen, Menschen mit Behinderungen, Ausländerinnen und Ausländern, Schwulen und Lesben.

Wir sind für die Gewaltenteilung, aber gegen eine formale und vonein- ander isolierte Gleichstellung der Gewalten. In der neuen Berliner Landesverfassung muss die Priorität – das wurde heute schon von Rednern verschiedener Fraktionen mehrmals angesprochen – der Legis- lative, als vom Volk direkt gewähltem Organ, im System der Gewalten und auch gegenüber der Exekutive verbindlich und unmissverständlich gere- gelt werden.

Eine neue Berliner Landesverfassung bietet die Chance, demokratische Erfahrungen, die seit dem Herbst 1989 in der ehemaligen DDR gewonnen wurden, zu verankern. Deshalb gilt es zum einen – das scheint mir auf Grund der heutigen Sitzung, die eine besonders feierliche sein sollte, angebracht zu sagen –, eine Entkrustung des Parlamentarismus, z. B. durch verschiedene Formen, beispielsweise ein Rede- und Antragsrecht außerparlamentarischer Organisationen in den Ausschüssen, zu errei- chen, zum anderen treten wir für eine umfassende Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Vorbereitung wichtiger staatlicher Entscheidungen sowie eine Vielfalt plebiszitärer Elemente der Willens- bildung ein, um die tatsächlichen Interessen der Bürgerinnen und Bürger zur Grundlage der Politik werden zu lassen. Der Staat muss desweiteren verpflichtet sein, derartige Prinzipien basisdemokratischer Willensbil- dung zu ermöglichen und zu befördern.

19 Wir sind für eine in der Verfassung festgeschriebene Verpflichtung des Staates zur weitestgehenden politischen Konfliktregelung. Das schließt gesetzliche, parlamentarische und außerparlamentarische Regularien ein, um einen Missbrauch der exekutiven Gewalt zu verhindern – gerade in der letzten Zeit gab es dafür genügend Beispiele. Unter der Vorausset- zung der Annahme unseres Ergänzungsantrags bzw. eines inhaltlich adäquaten Antrags stimmen wir der Annahme des Antrags zu.

Alterspräsident Franke: Das Wort für die FDP-Fraktion hat Frau Abge- ordnete von Braun!

Frau von Braun (FDP): Herr Alterspräsident! Meine Damen und Herren! Die Beschlussfassung über die Verfassung von Berlin, insbeson- dere über ihren Geltungsbereich, ist für die FDP-Fraktion Anlass weniger für die Debatte über Paragraphen als vor allem über die Frage des histori- schen und gegenwärtigen Selbstverständnisses dieses Hohen Hauses und seiner Fraktionen. Die bisherigen Redebeiträge haben dies bereits deut- lich gezeigt.

Eine Verfassung kann, wertfrei ausgedrückt, einen Neubeginn darstellen, sie kann sich bewusst von vorhergegangenen historischen Phasen distan- zieren. Sie kann aber auch Verbindung herstellen, bewusst historische Gemeinsamkeiten betonen und sie zu einer Grundlage für das eigene Demokratie- und Staatsverständnis machen. Die FDP-Fraktion vertritt mit Überzeugung und einstimmig die Auffassung, dass die 1946 in den ersten freien Wahlen nach 1933 gewählte Stadtverordnetenversammlung den Grundstein für die Verfassung gelegt hat, über deren Geltungsbereich wir heute beschließen werden. Dass sie später im Ostteil unserer Stadt nicht in Kraft treten konnte, verstieß entschieden gegen den Willen der damals gewählten Abgeordneten und war das Ergebnis des 2. Weltkriegs und der damit zusammenhängenden Teilung unserer Stadt.

Alterspräsident Franke: Frau von Braun! Ich muss Sie für einen Moment unterbrechen. – Meine Damen und Herren! Ich muss Sie noch- mals bitten, etwas mehr Ruhe zu bewahren und die Privatgespräche, so wichtig sie sein mögen, draußen zu führen.

Frau von Braun (FDP): Bedeutende Persönlichkeiten haben diesem ersten Parlament damals angehört – und ich denke dabei nicht nur an die

20 Liberalen, die Entscheidendes zur Gestaltung dieser Verfassung bei- getragen haben – wie Wilhelm Külz, wie Hans Reif, wie unsere hoch- verehrte Stadtälteste und Ehrenpräsidentin der Berliner FDP Dr. Ella Barowsky – die übrigens heute ihren 79. Geburtstag feiert und der wir von hier aus unsere herzlichsten Glückwünsche übermitteln!

Wer sich ein wenig mit der Entstehungsgeschichte dieser Verfassung befasst, der weiß, unter welch widrigen Umständen sie erkämpft wurde. Prof. – nun nenne ich den Angehörigen einer anderen wichtigen Partei in dieser Stadt –, letzter amtierender Oberbür- germeister Groß-Berlins, beschreibt eindrucksvoll in seinen Memoiren, wie er sich entschließen musste, eine der letzten frei abgehaltenen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung durch 100 junge Freiwil- lige abzusichern, wie er erleben musste, dass eben diese jungen Freiwil- ligen, die durch ihre Ordnerbinden leicht zu erkennen waren, von der Ost-Berliner Polizei unter Polizeipräsident Markgraf verhaftet wurden, wie ein Teil von ihnen sich in die Dienstzimmer der westalliierten Verbin- dungsoffiziere flüchtete, wie der französische Verbindungsoffizier, Capi- taine Ziegelmeyer, seine Schusswaffe zog und damit die Festnahme von etwa 20 jungen Leuten verhinderte, die bei ihm Zuflucht gesucht hatten, dann aber doch nicht verhindern konnte, dass sie später, trotz garan- tiertem freiem Abzug, dennoch verhaftet wurden, wie vieler Wochen erheblichen politischen Einsatzes aller freien Parteien es bedurfte, um diese jungen Freiwilligen frei zu bekommen. Und er beschreibt die enga- gierte und gute Zusammenarbeit zwischen den Parteien, um die Vorar- beiten für diese Verfassung zu ermöglichen. All dies ist unsere gemein- same Geschichte, Bestandteil unserer Verfassungsgeschichte. Eben weil sie von Demokraten aller Parteien so hart und unter Opfern erkämpft wurde, deshalb wurde nie der Anspruch aufgegeben, dass dies d i e Berliner Verfassung sei – auch wenn ihr Anwendungsbereich sich später erzwungenermaßen auf West-Berlin beschränken musste.

Heute nun ist der Tag, an dem dieser Anspruch Erfüllung finden soll. Deshalb, weil wir uns in dieser historischen Verbindung sehen, ist die FDP-Fraktion einstimmig, mit den Stimmen unserer Ost-Berliner Kollegen, der Auffassung, dass dies die 12. und nicht die 1. Legislatur- periode des Berliner Abgeordnetenhauses ist.

21 Wir sind dankbar dafür, dass ein wichtiger Bestandteil der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland überflüssig geworden ist, dass Deutschland und Berlin ihre Einheit in Freiheit vollenden. Das Provisorium mit seinen tragischen und mit seinen absonderlichen Charakteristika gehört nun der Vergangenheit an.

Wir wissen zu würdigen, dass – was selten genug in der deutschen Geschichte vorgekommen ist – eine historische Chance erkannt und energisch und entschieden realisiert wurde. Wir alle wissen, dass die Geschichte nie lange ein Fenster aufhält, und wir sehen mit Besorgnis, dass in den internationalen Beziehungen schon jetzt wieder Fenster und Türen zugehen. Umso dankbarer sind wir für diesen Tag und den Anlass, den wir alle gemeinsam hier feiern können.

Bevor der heutige Tag möglich wurde, bedurfte es großer Zwischen- schritte und Vorarbeiten, an denen etliche frühere Mitglieder der frei gewählten Stadtverordnetenversammlung von 1990 mitgewirkt haben und die heute auch Abgeordnete dieses Hohen Hauses sind. Ihnen allen gebührt unser Dank, denn Ihre Entscheidung – und jetzt spreche ich speziell unsere Kollegen aus dem früheren Berlin (Ost) an –, eine eigene, aber doch an die Verfassung des ehemaligen Berlin (West) angelehnte Verfassung zu erarbeiten, hat erst die Plattform geschaffen, auf der wir uns alle nach 40 Jahren unterschiedlicher Geschichte wiederbegegnen konnten. Sie erst schaffte die Voraussetzungen für eine freiheitliche und demokratische Rechtsordnung, die den neuen Verhältnissen angepasst ist und das Zusammenwachsen der Stadt unterstützen sollte.

Manche Streitpunkte, die bei der Diskussion der Verfassung von Berlin (Ost) im letzten Jahr noch eine Rolle spielten, wie die staatsrechtliche Stellung Berlins, sind inzwischen durch die Ereignisse überholt. Berlin ist erklärtermaßen die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Andere Fragen müssen noch geklärt werden, aber sie bedürfen nach unserer Überzeugung keiner neuen Verfassung. Für andere Fragen muss die Verfassung zu gegebener Zeit tatsächlich einmal durchleuchtet werden. Für uns jedoch ist diese Verfassung ein kostbares Gut, mit dem wir äußerst behutsam umgehen sollen, denn allzu schnell gerät die von den Müttern und Vätern unserer Verfassung so weise austarierte gesellschaftliche Balance aus den Fugen. Deshalb wird die Fraktion der FDP Verfassungs- änderungen nur nach sehr sorgfältiger Prüfung und bei unabweisbarer

22 Notwendigkeit zustimmen. Wir verschließen dabei nicht die Augen vor anstehenden Problemen. So sollte die Klärung der Eigentumsfragen umgehend gelöst werden, um Investitionen in Handwerk, Gewerbe und Handel schnell wirksam werden zu lassen.

Andere Fragen und Probleme werden sich zusätzlich ergeben. Wir begrüßen zum Beispiel ausdrücklich, dass der für den Westteil der Stadt geltende § 218 in dem Ostteil der Stadt nur modifiziert gilt. Wir fordern den Deutschen Bundestag auf, schnellstmöglich ein Gesetz zur Abschaf- fung der unwürdigen und unwirksamen Indikationslösung zu verab- schieden. Dabei ist uns bewusst, dass dieses Gesetz nur mit umfangrei- chen und sozialen flankierenden Maßnahmen und mit einer obligatori- schen Beratung in Karlsruhe akzeptiert werden wird. Auch wenn die obli- gatorische Beratung sicherlich ihre schwierigen Aspekte hat, scheint uns dieses Verfahren immer noch menschenwürdiger und angemessener als der durch die Indikationsregelung erzwungene und unheilvolle Abtrei- bungstourismus zwischen den Bundesländern.

Es gibt viele andere Punkte, die wir als FDP-Fraktion gern im Zusammen- hang mit der Verfassung behandeln würden. Trotzdem haben wir davon Abstand genommen. Da gibt es die Staatszielbestimmung als Kulturstaat, eine Forderung, die gerade für Berlin mit seinem Reichtum an kultu- rellen Institutionen wichtig wäre, die dennoch zur Zeit häufig gefährdet sind. Wir hätten auch gern über bestimmte Tendenzen der Entdemokrati- sierung unserer Gesellschaft diskutiert und auch über die Frage, wie ihnen mit einer weiterentwickelten Verfassung begegnet werden kann. Ich denke da an die zunehmende Allmacht von anonymen Apparaten und Organisationen, denen sich viele Bürger hilflos ausgeliefert fühlen. Robert Jungk schrieb schon 1969:

In Wahrheit weiß der Bürger heute meist weniger als früher über sich anbahnende Veränderungen und die daraus resultierenden Entschei- dungen, die sein Leben und das seiner Kinder beeinflussen. Die von Experten beratenen Ausschüsse, Gremien, Behördenspitzen, Indus- triedirektorien in Staat und Wirtschaft handeln auf Grund von Infor- mationen und Analysen, die der Öffentlichkeit entweder gar nicht oder viel zu spät bekannt werden und, falls dies überhaupt geschieht, von ihnen in ihrer Bedeutung meistens gar nicht erfasst werden können. Da gibt es Fragen der industriellen und wirtschaftlichen

23 Weiterentwicklung. Probleme der Vorsorge und Planung zum Beispiel bezüglich der Infrastruktur und der Umweltbeeinflussung, die ohne Beteiligung der weiteren Öffentlichkeit von den Führungs- eliten in ihren großen Linien festgelegt werden, lange bevor sie wirk- lich vor das Parlament kommen. Obwohl in solchen internen Debatten, in denen Experten und Entscheidungsträger miteinander sprechen, Zukunftsgestaltung vorbereitet wird, die jeden betrifft, ist es ihnen nicht möglich, in diesem wichtigen Vorstadium sich auch nur einigermaßen zu beteiligen.

– So Robert Jungk im Jahre 1969!

Ich fürchte, seit dieser Feststellung von Robert Jungk haben sich die Verhältnisse im Hinblick auf die rechtzeitige Beteiligung von Parlament und von Betroffenen an diesen Entscheidungen nicht verbessert. Es wäre ureigene Aufgabe eines Parlaments, die Verfassung darauf zu überprüfen, ob sie und wie sie diesem berechtigten Beteiligungsanspruch von Bürgern besser als bisher gerecht werden kann.

Ein anderes wichtiges Thema, dass wir gemäß unserem Beschluss heute nicht angemessen behandeln können, ist unsere Forderung nach Einfüh- rung der politischen Bezirksämter. Ebenso wichtig ist uns die wachsende Gemeinsamkeit zwischen Berlin und Brandenburg, die auch die Abfas- sung von gemeinsamen Grundlagen erforderlich macht. Dies alles sind Themen und Forderungen, die im Zuge der regulären Weiterentwicklung einer Verfassung behandelt werden müssen.

Heute steht die Aufgabe an, die Handlungsfähigkeit dieses Hauses und der zukünftigen Regierung herzustellen. Die Probleme und Herausforde- rungen, die wir in absehbarer Zeit bewältigen wollen, wollen und können wir mit dieser Verfassung angehen. Sie hat sich bewährt. Wir Liberalen sind entschiedene Gegner nationalsozialistischer Tendenzen, aber wir sind stolz auf unsere Verfassung. Vielleicht kann man sogar mit Rolf Sternberger sagen, dass wir uns als Verfassungspatrioten sehen. Substan- tielle Verfassungsänderungen, die erkennbar von einem anderen Staats- und Verfassungsverständnis ausgehen, werden niemals unsere Zustim- mung finden. Deshalb haben wir uns mit Änderungsanträgen zur Verfas- sung zurückgehalten. Aus dem gleichen Grund lehnen wir die Anträge der PDS und der Fraktionsgemeinschaft mit den vielen Namen ab.

24 Mit dieser Verfassung treten wir heute aus dem Schatten der Nachkriegs- geschichte heraus. Europa wächst zusammen, und in seinem Mittelpunkt, nicht nur geographisch gesehen, wird Berlin eine völkerverbindende Rolle einnehmen, und zwar im Sinne einer europäischen Friedensord- nung, wie sie Hans-Dietrich Genscher in den vergangenen Jahren ent- wickelt hat. In diesem Sinne verstehen wir Liberalen die Verfassung und unsere Aufgabe im Abgeordnetenhaus. – Ich danke Ihnen!

Alterspräsident Franke: Nunmehr hat Frau Künast das Wort. Bitte!

Frau Künast (Bü 90/Grüne): Da wir uns mit dem Namen vorstellen sollen, will ich das tun. Mein Name ist Künast von der Fraktion Bündnis 90/Grüne(AL)/UFV. Es ist mir eine besondere Ehre, meine Damen und Herren, Herr Alterspräsident, nach der Partei zu reden, die es nötig hatte, wegen der Wende drei Pünktchen in ihren Namen aufzunehmen.

Ich möchte am Anfang einen lobenden Satz zu Herrn Finkelnburg sagen. Er hatte als erster Redner mit dem Satz begonnen, dass mit dem heutigen Beschluss über die Gültigkeit der Verfassung staatsrechtlich die Einheit vollendet werde. Ich will ihn loben, weil er und Herr Diepgen, den das Abgeordnetenhaus möglicherweise bald zum Regierenden Bürgermeister dieser Stadt wählen wird, genau das im letzten Sommer noch nicht einge- sehen haben. Es ist auch ein Lob für das alte Abgeordnetenhaus und die alte Stadtverordnetenversammlung, dass wir es waren, die diesen Beschluss heute erzwungen haben und nicht das passiert, was Herr Finkelnburg und Herr Diepgen uns in einem Sommerloch weismachen wollten, dass die Verfassung von Berlin (West) juristisch und politisch automatisch in ganz Berlin gilt. Ich bin froh, dass wir heute die Chance haben, die Hand zu heben.

Vieles ist hier über die Verfassung gesagt worden, es gab viele Wünsche, es wurde viel über die Frage der Vorläufigkeit der Verfassung gesprochen. Ich will es nicht juristisch ausdrücken, sondern politisch. Wir beschließen heute tatsächlich über den Geltungsbereich einer vorläufigen Verfassung, so wie jede Verfassung angesichts eines solchen Umbruches und ange- sichts dessen, was sich in den letzten Jahren auch im Westen entwickelt hat, vorläufig sein muss und auch nur vorläufig sein kann. Sie ist nicht nur deshalb vorläufig, sondern auch deshalb, weil der Artikel 88 Abs. 2 der alten Verfassung von Berlin (West) davon spricht, dass sie in der ersten

25 Legislaturperiode des Gesamtberliner Parlaments zu überarbeiten ist, sie ist auch vorläufig, weil der Artikel 88 Abs. 4 der alten Verfassung von Berlin (Ost) auch genau diese Bedingungen stellt. Es reicht nicht aus, dass wir im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit den beiden Einheitsaus- schüssen die Verfassung von Berlin (West) an einigen Stellen geändert haben. Das ist eine Verneigung vor dem Osten und zeigt, dass der Wille zur Veränderung im Westen vorhanden war, aber es ist eben nicht mehr.

Wir haben eine Verfassung, über die wir nachher beschließen werden, die dann in ganz Berlin gilt. Das ist eine Verfassung, die ihre Legitimität ver- loren hat. Es ist trotz aller Änderungen des letzten Jahres keine Verfas- sung, die so breit und aktuell auf die Lebenssituation abgestimmt ist und den aktuellen Aufgaben gewachsen wäre, dass man sagen könnte, sie sei für die nächste Zeit legitimiert.

Es gibt einen weiteren Grund, warum diese Verfassung nicht legitimiert ist. Sie ist im wesentlichen im Westen erarbeitet worden, der geographi- sche Osten hatte wenig Möglichkeiten zur Mitarbeit, wenn von der Ände- rung im letzten Jahr abgesehen wird. Sie ist auch aus der Sicht des Westens überholt. Ein Beispiel der Anpassung ist der Umweltschutz. Wir alle wissen, dass in allen Meinungsumfragen und politischen Diskus- sionen der letzten Jahre im Westen gesagt wurde, dass 70 Prozent der Bevölkerung eine stärkere Berücksichtigung des Umweltschutzes wollten. Eine Staatszielbestimmung Umweltschutz haben wir im letzten Sommer hereingebracht. Aber viele andere Dinge sind in dieser Verfas- sung nicht aktualisiert, sind rückständig. Es gibt keine ausreichenden und spezifischen Aussagen zur Situation der Frauen. Es gibt nur den Satz, der behauptet, Männer und Frauen seien gleichgestellt. Es gibt keinen Zwang für den Staat, das auch durchzusetzen. Insofern ist diese Verfassung rück- ständig. Es gibt keine Aussagen zu anderen Lebensweisen, zu anderen sexuellen Orientierungen. Es gibt keine Reaktionen in dieser Verfassung darauf, dass es eine Parteienverdrossenheit gibt, dass die Menschen sich nicht mehr den Parteien, sondern auch politischen Bewegungen zuordnen wollen. Das ist etwas, das die Verfassung von Berlin (Ost) hat, die Verfassung von Berlin (West) – neben vielen anderen Punkten – aber sträflich vernachlässigt. Aus all diesen Gründen ist diese Verfassung nicht legitimiert, über einen längeren Zeitraum zu bestehen und tatsächlich einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen.

26 Die Verfassung reicht auch da nicht aus, wo es um das Abstellen auf die besondere Situation im ehemaligen Berlin (Ost) geht. Ich meine damit die Erfahrungen in der DDR mit dem Runden Tisch, die Erfahrungen mit anderen Formen der Bürgerbeteiligung. Es geht nicht, all das einem Haus wie dem unseren nach dem Motto zu übertragen, sie werden es schon wissen und richten. An diesem Punkt versagt unsere Verfassung, über die wir jetzt bestimmen, kläglich. Sie versagt auch in einem anderen Punkt. Sie hat keinen wirklichen Prozess. Sie ist etwas, was von oben nach einer Wahl durch ein Parlament entschieden wurde. Wir glauben aber, dass ein Staat erst dann wirklich verfasst ist, wenn er d i e s e m Prozess ausgesetzt wurde, wenn mit den neuen Bürgern und Bürgerinnen versucht worden ist, eine neue Verfassung zu schaffen, wenn die Bürger und Bürgerinnen selbst Regeln für das Zusammenleben hergestellt haben. Wahrscheinlich ist gerade das Instrument des Runden Tischs aus der DDR eines der besten Beispiele dafür, wie Politik, angepasst an neue Kriterien und neue Entwicklungen, geschehen muss. Der 9. November 1989 sollte uns auch im Hinblick auf die Frage, wie wir zu Verfassungen kommen, gezeigt haben, dass nicht wir als Abgeordnete, die wir nur ein vom Volk, vom Souverän abgeleitetes Recht haben, der Weisheit letzten Schluss kennen, sondern dass gerade wir rechtlich die Möglichkeit schaffen sollten, dass andere an der Verfassung arbeiten können: eine verfassungsgebende Versammlung, wie sie die Fraktion Bündnis 90/Grüne(AL)/UFV bean- tragt hat und zur Abstimmung stellt.

Es geht dabei nicht um einen Selbstzweck. Die Erarbeitung und Über- arbeitung einer Verfassung ist kein Selbstzweck, sondern sie ist umge- kehrt Mittel zum Zweck. Angesichts der jetzt in unserer Gesellschaft bevorstehenden Probleme auch des Reichtums- und Armutsgefälles zwischen Ost und West und angesichts der Tatsache, dass sich viele im geographischen Osten übervorteilt fühlen – ich denke, zu Recht – und sehen, dass es nur noch um westliche Kriterien und Mechanismen geht, ist die Art und Weise der Verfassungsgebung kein Selbstzweck, sondern erfüllt in besonderem Maß den Zweck, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen, Regeln gemeinsam festzuschreiben, Wege aus und bei Konflikten und Regeln für den Aufbau und das Handeln von Verwal- tungen und die Kontrolle der Verwaltung zu finden – wir alle wissen, dass die Kontrolle, die bisher praktiziert wurde, nicht ausreicht. Angesichts all dieser Probleme ist es wichtiger denn je, die Möglichkeiten des Volkes in der Verfassung auszudehnen, seinen Willen zu bekunden – nicht nur auf

27 dem Weg, dass die Bürger Parteien beitreten oder alle vier oder fünf Jahre ein Kreuz machen.

Der Berliner Verfassung geht es wie dem Grundgesetz. Das Grundgesetz heißt noch nicht einmal Verfassung, sondern hat nur den Namen Gesetz, Grundgesetz, erhalten.

Wer zeigen will, dass etwas Neues entsteht, muss sich hier und heute auch Gedanken darüber machen, wie der Prozess hin zu diesem Neuen ablaufen soll. Bisher habe ich herzlich wenig dazu gehört, dass etwas Neues durch ein neues Instrument, eine verfassungsberatende Versamm- lung, geschaffen werden kann und muss. Ich habe nur von Enqueˆte- Kommission und ähnlichem gehört, was uns doch wieder nur auf den Zirkel der Abgeordneten, der Anwesenden zurückwirft, die schon heute durch vieles Reden und Abwesenheit in ihren Sitzbänken Desinteresse dokumentieren.

Ein paar Worte zum Inhaltlichen. Ich kann es in drei Bereiche aufteilen: Der eine Bereich, den wir inhaltlich verändern wollen, ist der Bereich der sozialen Sicherung, der Grundsicherung. Das betrifft auf jeden Fall den Bereich Arbeit. Da reicht die Formulierung des Rechts auf Arbeit in der jetzigen Verfassung nicht aus. Wenn das nicht einklagbar ist, dann muss mindestens ein Recht auf Arbeitsförderung, Umschulung und ähnliches in die Verfassung. Das Recht auf Wohnung in der jetzt gültigen Verfassung reicht nicht aus. Es reicht ebenfalls nicht, wenn es nicht einklagbar ist, und reicht schon gar nicht, wenn man angesichts steigender Wohnungsnot ohne Ersatzangebote geräumt werden kann. Wir wollen in der neuen Berliner Verfassung auch eine politische Aussage und Auffor- derung für das Grundgesetz zur Streichung des § 218, den Satz, dass Frauen allein und selbstverantwortlich über die Fortführung einer Schwangerschaft entscheiden.

Wir wollen in einem weiteren Bereich eine Überarbeitung der Verfas- sung: im Bereich Demokratie und Dezentralisierung. Wer Föderalismus will und einklagt, in Bonn als Land gestärkt zu werden, muss dies genauso innerhalb des Landes tun. Er muss Entscheidungskompetenzen und Befugnisse von der Hauptverwaltung in die Bezirke geben. Wer Demo- kratie auf seine Fahnen schreibt, muss auch den Volksentscheid, die Volksabstimmung, und umfassende Einsichtsrechte der Bevölkerung in

28 die Verfassung aufnehmen; er muss so etwas wie einen gläsernen Staat schaffen. Der gläserne Staat tut gerade angesichts der Ost-Berliner not, mit denen wir uns heute in diesem Parlament zusammentun. Sie haben dies in ihrer Geschichte besonders schmerzlich erlebt.

Aber ich möchte auch in Abgrenzung zur FDP sagen: Wir wollen nicht nur die Tradition machteingrenzender und -begrenzender liberaldemo- kratischer Verfassungen aufgreifen. Wir wollen eine Verfassung, die dies überschreitet und aktuellen Situationen angepasst und darauf abgestellt ist, dass wir mittlerweile eine technologische, eine Informationsgesell- schaft sind, was neue Machtzentren und neue Wissenskonzentrationen produziert. Wir wollen die informationelle Durchdringung aller gesell- schaftlichen Sphären begrenzen. Wir können gerade in diesem Punkt von unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem geographischen Osten lernen – auch dazu wird eine verfassungsberatende Versammlung gut sein –, und wir müssen von ihnen lernen, denn niemand hat wie sie durch die Stasi erlebt, wie das ist, wenn man in einer Gesellschaft das Wissen auf einige wenige verteilt, ob es nun Geheimdienste sind oder ob es das Geheim- halten ökologischer Daten ist. Alles was zu diesem Punkt der Verfassung im Westen bisher diskutiert wird, ist nicht aktuell. Im Osten macht man uns vor, wie wir auf unsere eigene gesellschaftliche Entwicklung ein- gehen müssen. Das heißt für uns: Wir müssen besondere Formen des gläsernen Staates diskutieren und diesen gegen die Informationsgesell- schaft, gegen die Massierung von Computern, Verdatung und Vernetzung stellen. Und wir müssen auch ganz massiv Bürgerrechte dagegenstellen. Eine Verfassung darf nicht nur im liberalen Sinne sagen: Hier hört das Recht des Staates auf. Sie muss auch den Bürgerinnen und Bürgern ganz massive Rechte auf Eingriff in das Wirken des Staates geben. Der Entwurf des Rundes Tischs sollte für uns hier Vorbild sein.

Ich bitte und werbe für unseren Vorschlag, die Überarbeitung der Verfas- sung durch eine verfassungsberatende Versammlung vorzunehmen. In Abgrenzung zu Herrn Finkelnburg, der den Satz aussprach, eine verfas- sungsberatende Versammlung sei nicht zulässig, möchte ich sagen: Herr Finkelnburg und ich waren im Einheitsausschuss West, und wir wissen beide – so glaube ich –, dass der Einheitsausschuss bewusst gesagt hat, dass die Verfassung w ä h r e n d der ersten Legislaturperiode zu überar- beiten sei; er hat nicht gesagt, durch das Gesamtberliner Parlament.

29 Ein letzter, bildlicher Satz: Das Grundgesetz hat in seiner Präambel den Satz: Das Deutsche Volk hat dieses Grundgesetz kraft seiner verfassungs- gebenden Gewalt beschlossen. – Etwas so Autoritäres wollen wir nicht. Wir – Bündnis 90/Grüne – wollen eine programmatische Alternative dazu: Wir wollen ein wechselseitiges Versprechen der Bürgerinnen und Bürger. Genau das ist eine Verfassung. Deshalb wollen wir das, was der Runde Tisch in seiner Präambel geschrieben hat. Er formuliert, dass die Bürgerinnen und Bürger s i c h diese Verfassung geben, als wechselsei- tiges Versprechen, diese Spielregeln des Zusammenlebens einzuhalten. „Sich geben“ können nicht wir; das kann nur eine verfassungsberatende Versammlung. Genau das braucht Berlin.

Alterspräsident Franke: Als nächster hat Neues Forum/Bürgerbewe- gung das Wort – Herr Pflugbeil!

Dr. Pflugbeil (fraktionslos): Ich bin wie viele in diesem Raum in einem Staat aufgewachsen, in dem die Verfassung nichts wert war. Wir sind durch diesen Zustand ziemlich gebeutelt worden und nehmen vermutlich die Diskussion um dieses Thema ernster als Leute, die es ihr Leben lang als selbstverständlich hingenommen haben, dass es Verfassungen gibt und dass man sich auf sie berufen kann. Ich bin schwer deprimiert über die Kaffeehausatmosphäre, die bei diesem Diskussionsstand hier herrscht. Es liegt mir fern, Sie dabei zu stören.

Ich habe mich über die Gedanken gefreut, die von meinen Vorrednern zur Ost-Berliner Verfassung geäußert worden sind. Ich denke, wir haben mehr zu tun, als sie in guter Erinnerung zu behalten. Die heutige Diskus- sion ist für mich ein zwingender Beleg dafür, dass dieses Parlament nicht der richtige Ort ist, eine neue Verfassung zu konstruieren.

Wir brauchen zur Diskussion einer Verfassung, die den Bürgern zu ihren Rechten verhilft, die aktive Beteiligung der Betroffenen auf den vielfäl- tigen Konfliktgebieten, die es in dieser Stadt geben wird. Deshalb unter- stütze ich den Antrag der AL und bitte Sie, sich uns anzuschließen.

Den Rest der Redezeit bitte ich, auf das Konto eingesparter Redezeit zu buchen. Ich denke, wir könnten alle kürzer reden.

30 Alterspräsident Franke: Meine Damen und Herren, gibt es weitere Wortmeldungen? – Das ist nicht der Fall.

Wir stimmen dann ab über den Änderungsantrag der Fraktion der PDS, Drucksache 12/1-1. Wer dem seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke sehr! Ich bitte um die Gegenpro- be! – Stimmenthaltungen? – Dieser Änderungsantrag ist damit abgelehnt.

Dann lasse ich über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne (AL)/UFV, Drucksache 12/1-2, abstimmen. Wer dem seine Zustimmung zu geben wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke sehr! Ich bitte um die Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist somit abgelehnt.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD, Drucksache 12/7 (neu). Wer diesem Antrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich, da es sich um eine entscheidende Beschlussfassung unseres Hauses handelt, seine Zustim- mung durch Erheben von den Plätzen zu bekunden. – Danke sehr! Das war die eindeutige Mehrheit! Ich kann damit feststellen, dass der Beschluss mit der erforderlichen Mehrheit zustande gekommen ist. Die ursprüngliche Vorlage des Präsidenten – Drucksache 12/1 – wäre damit als erledigt anzusehen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch, so dass so beschlossen ist.

Meine Damen und Herren, damit ist die Verfassung von Berlin ange- nommen.

31 Dr. Hanna-Renate Laurien

Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin

Meine Damen und Herren!

Ich möchte noch einmal ausdrücklich für das Vertrauen danken, das Sie mir bei dieser Abstimmung erwiesen haben. Ich werde mich bemühen, es zu rechtfertigen. – Meinen Amtsbeginn möchte ich mit einem D a n k beginnen, nicht nur mit meinem Dank für die Verhandlungsführung durch den Alterspräsidenten Herrn Franke, sondern auch meinerseits mit dem Dank an Herrn Wohlrabe und seine vorhin genannten Vertreter, und ich möchte nachdrücklich diesem Dank anfügen den Dank an Frau Dr. Bergmann, die Präsidentin der Stadtverordnetenversammlung, und ihre Vizepräsidenten, Herrn Engler, Herrn Süß und Frau Herer.

Mit der Wahl dieses Ortes wird, wie Sie wissen, an die erste Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung 1809 erinnert. Das mag uns in drei großen Bögen zum Vergleich herausfordern. Zwar gilt seit 1794 das Allgemeine Landrecht in Preußen, das Religions- und Gewissensfreiheit für alle Bürger proklamiert, aber – und auch an der Stadtverordnetenver- sammlung damals deutlich erkennbar – die ungleichen Rechte der Stän- degesellschaft bestanden noch.

Gerade im Vergleich mit der damaligen Situation begreifen wir: Rechts- gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger zu wahren, soziale Vergleichbar- keit zu sichern, was Hilfe für Bedrängte einschließt, kennzeichnet unsere Aufgabe. Diese Aufgabe ist nirgendwo intensiver wahrzunehmen als in unserer nun nicht mehr geteilten Stadt. Der Wegfall der Mauer, die vor 30 Jahren errichtet wurde, macht den Vergleich der Lebensbedingungen unausweichlich. Das Ja zur Freiheit führt unmittelbar zur Frage nach der Gerechtigkeit, und diesem Anspruch wollen wir uns stellen.

1809 konnte man den Beginn des von uns meist als Stein-Harden- bergsche Reform bezeichneten Erneuerungsprozesses beobachten, in dem es einmal darum ging, geistige Kräfte zu stärken – sozusagen physi- sche Macht durch geistige Macht abzulösen –, eine effiziente Verwaltung zu sichern und – 1808, 1810 und 1815 angekündigt – die Berufung einer

32 Landesvertretung, damals Landesrepräsentation genannt, auf der Grund- lage einer Verfassung durchzusetzen. Wer sich mit den ständischen und ständigen Widerständen gegen dieses Ziel, mit dem Streit um Privilegien damals, auseinandersetzt, wird auch für unsere heutige Aufgabe erkennen: Politik heißt auch, einander widerstreitende Interessen zur Kenntnis zu nehmen, sie aber unverbrüchlich unter der Verpflichtung des Gemeinwohls gegeneinander abzuwägen und nüchtern zu wissen: Politik ist die Kunst des Möglichen, die immer wieder das Einbeziehen der Meinung des anderen erfordert. Gerade in unserer Situation, in der sehr unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, in der auch – um es vorsichtig zu formulieren – der Bezug und die Erfahrungen mit der Demokratie und ihrer Wirklichkeit unterschiedlich entwickelt sind, haben wir bei aller Notwendigkeit deutlicher Auseinandersetzungen auch die Pflicht, die Versöhnbarkeit der Unterschiede durch unser Ver- halten zu belegen.

1809 war Berlin französisch besetzt, standen die Freiheitskriege, die dann 1815 endeten, bevor, sah man kriegerische Auseinandersetzung noch als ein Mittel an, Freiheit zu gewinnen. Angesichts der weltpolitischen Lage, die uns, unbeschadet unserer Konzentration auf unsere Berliner Auf- gaben, in vielfacher Hinsicht bewegt, wird uns deutlich, welch mörderi- sches Unheil von Diktatoren ausgeht, welche Pflicht, Frieden und Frei- heit zu sichern, in weltweiter Verantwortung besteht. Lassen Sie uns daher in unserem politischen Alltag allen Formen der Gewalt Absage erteilen und dies auch in unseren Formen des Umgangs miteinander deutlich werden.

Die Forderungen des Rechts, der Gerechtigkeit und des Friedens seien in dem dargestellten Sinn für uns leitend zum Wohle unserer Stadt, deren Bürgerinnen und Bürgern wir verpflichtet sind, und zum Wohle unseres Deutschland, das, wenn wir uns so verhalten, keine andere Stadt als Berlin zum Parlaments- und Regierungssitz haben kann.

33 Die Mitglieder des 1. Gesamtberliner Parlaments (12. Wahlperiode) Quelle: 1. Auflage des Taschenbuchs des Abgeordnetenhauses von Berlin, 1991

Fraktion der CDU (101 Mitglieder)

Amtierender Fraktionsvorsitzender: Landowsky, Klaus

Adler, Jürgen Gram, Andreas Apelt, Andreas Greiner, Gisela Dr. Ballke, Dierk-Eckhardt Grieger, Harald Dr. Biewald, Dieter Prof. Dr. Haase, Herwig Erhard Birghan, Ursula Hapel, Dieter Blankenburg, Christa-Maria Dr. Hassemer, Volker Bode, Manfred Dr. Heide, Manuel Borgis, Michael Helias, Siegfried Branoner, Wolfgang Herrmann, Annelies Braun, Franz Dr. Hoffmann, Elke Buchholz, Ingrid Hübner, Beate Buwitt, Dankward Jaroch, Siegmund Delau, Helga Dr. Kalleja, Hartmut Diepgen, Eberhard Kayser, Boto Dormann, Daniel Kittelmann, Marion Ebel, Detlef Kliem, Wolfgang Eichler, Ulrich Kollotschek, Cordula Dr. Engler, Eberhard Kowallek, Christine Ewald, Hein-Detlef Krause, Peter Faber, Horst Krüger, Ulrich F. Fink, Ulf Krüger, Werner Prof. Dr. Finkelnburg, Klaus Landowsky, Klaus Franke, Klaus Dr. Laurien, Hanna-Renate Dr. Franz, Rudolf Dr. Lehmann-Brauns, Uwe Führer, Reinhard Lesnau, Karl-Heinz Gewalt, Roland Liepelt, Volker Gierich, Peter Lummer, Heinrich Giesel, Rainer B. Dr. Luther, Peter Goetze, Uwe Manske, Ulrich

34 Mardus, Günter Schmitt, Ingo Dr. Meier, Ullrich Schnoor, Steffie Meyer-Feltges, Claire Schütze, Diethard Molter, Alfred-Mario Dr. Sermann, Rainer Dr. Müller, Hans Siebenhüner, Thomas Müller, Rudolf Simon, Heinz-Viktor Niedergesäß, Fritz Steffel, Frank Nix, Adrian Straßmeir, Günter Palm, Joachim Toepfer, Günter Pieroth, Elmar Vogel, Hans-Werner Pistor, Bernd Vogt, Hubert Preuss, Manfred Wanjura, Marlies Rathje, Heiner Weitzel, Joachim Rebsch, Peter Werner, Winfried Dr. Reimann, Horst Wiedenhaupt, Rolf-Thorsten Rösler, Hubert Wienhold, Klaus-Hermann Rost, Gabriele Wittwer, Georg Rudolf, Johannes Wohlrabe, Jürgen Saß-Viehweger, Barbara Dr. Wruck, Ekkehard Schlicht, Irina-Cornelia Dr. Zippel, Christian Schmidt, Ekkehard Zuchowski, Christel Schmidt, Uwe

Fraktion der SPD (76 Mitglieder)

Fraktionsvorsitzender: Dr. Staffelt, Ditmar

Barthel, Eckhardt Dr. Flemming, Bert Behrendt, Wolfgang Friedl, Christa Dr. Bergmann, Christine Gardain, Hans-Joachim Blankenhagel, Kurt Grotzke, Gisela Braselmann, Hans Günther, Joachim Brinckmeier, Marianne Hildebrandt, Helmut Böger, Klaus Hillenberg, Ralf Damrat, Anna Hilse, Torsten Drews, Monika Holzhüter, Ingrid Edel, Otto Kampfhenkel, Elga Fechner, Horst Kern, Horst-Achim

35 Kliche, Horst Pickert, Sylvia Klotz, Knut Poschepny, Frank Dr. Krause, Werner Reuther, Anke Kriebel, Jürgen Riebschläger, Klaus Kujath, Rudolf Dr. Riedmüller-Seel, Barbara Lange, Kurt Riedrich, Karin Leyk, Ursula Ristock, Harry Ließfeld, Heike Roß, Reinhard Longolius, Alexander Rusta, Irana Lorenz, Hans Georg Schermer, Gerlinde Luft, Christine Schmidt, Joachim Löhe, Klaus Schneider, Doris Lüdtke, Jürgen Dr. Schulz, Wolf Dr. Mehnert, Dieter Schulze, Gerd Dr. Meisner, Norbert Schuster, Peter Merkel, Petra-Evelyne Schwierzina, Tino Dr. Meyer, Peter Schöttler, Gabriele Momper, Walter Dr. Seitz, Hans-Peter Dr. Mory, Stephan Dr. Staffelt, Ditmar Nagel, Wolfgang Stahmer, Ingrid Neumann, Manfred Stötzer, Utta Neumann, Ulrike Süß, Reiner Dr. Niklas, Joachim Dr. Tannert, Christof Nisble´, Heide Thomas, Helga Nolte, Karlheinz Wolf, Peter Ollech, Ernst Dr. Zillbach, Käthe Pavlik, Dieter von Essen, Gerhard

Fraktion der PDS (23 Mitglieder)

Fraktionsvorsitzende: Dr. Lötzsch, Gesine

Dr. sc. Adolphi, Wolfram Horn, Heiko Dr. Dornberger, Peter Prof. Dr. sc. Kellner, Horst Dörre, Karin Klein, Dieter Freundl, Carola Dr. Lötzsch, Gesine Dr. Girnus, Wolfgang Dr. Meves, Heike Herer, Elke Michels, Martina

36 Dr. Müller, Eva Schneider, Dirk Nuß, Hannelore Seelig, Marion Pech, Bettina Steinborn, Sigrun Pewestorff, Norbert Wolf, Harald Pohle, Dagmar Dr. sc. Zotl, Peter Rudolf Schmidt, Elisabeth

Fraktion Bündnis ’90/Grüne (AL)/UFV (19 Mitglieder)

Fraktionsvorsitzende: Künast, Renate Lehmann, Uwe

Bendkowski, Halina Krause, Arnold Cramer, Michael Künast, Renate Demba, Judith Lehmann, Uwe Detering, Anette Christina Pulz, Christian Prof. Dr. Dürkop, Marlis Dr. Schreyer, Michaele Engler, Brigitte Volkholz, Sybille Dr. Fischbeck, Hans-Jürgen Weißler, Sabine Helms, Reimund Wieland, Wolfgang Dr. Köppl, Bernd Ziemer, Elisabeth Dr. Klotz, Sybill-Anka

Fraktion der F.D.P. (18 Mitglieder)

Fraktionsvorsitzende: von Braun, Carola

Biederbick, Jürgen Loßmann, Erwin von Braun, Carola Mleczkowski, Wolfgang Dr. Gadow, Peter Schiela, Gerhard Hahn, Axel Schmid-Petry, Erika Dr. Hampel, Winfried Seerig, Thomas Hoffmann, Otto Tiedt, Peter Kammholz, Axel Prof. Dr. Tolksdorf, Michael Dr. Klein, Reinhard Wiemann, Werner Dr. Lange, Rolf-Peter Dr. Wolf, Hans-Peter

37 Parlamentarische Gruppe „Neues Forum/Bürgerbewegung“ (4 Mitglieder)

Kukutz, Irena Schult, Reinhard Dr. Pflugbeil, Sebastian Schwenke, Hans

38 II.

Festveranstaltung in der Nikolaikirche am 11. Januar 2001

Reinhard Führer

Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin

Herr Regierender Bürgermeister! Meine Damen und Herren Mitglieder des Senats!

Liebe Frau Dr. Laurien! Sie sind vor zehn Jahren hier an dieser Stelle zur Präsidentin des Abgeordnetenhauses gewählt worden. Deshalb begrüße ich Sie stellvertretend für die anderen ehemaligen Präsidenten ganz besonders herzlich. Seien Sie herzlich willkommen!

Ich begrüße auch alle ehemaligen Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin; ich begrüße auch die, die jetzt Mitglieder des Parlaments sind, ganz herzlich! Aber genauso gilt mein Gruß den Stadtältesten, den Bezirksbürgermeistern und den Bezirksverordnetenvorstehern, die heute an unserer Feierstunde teilnehmen. Seien Sie auch herzlich will- kommen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jahrestage sind Wegmarken. Sie erinnern an den Ausgangspunkt, an die Hoffnungen und Wünsche, mit denen man sich auf den Weg machte, an die Zielvorstellungen von damals. Jahrestage sind Anlass, innezuhalten und sich zu orientieren: ob die Richtung noch stimmt und ob man dem Ziel näher gekommen ist; zu fragen, ob der Kurs korrigiert, ob vielleicht das Tempo beschleunigt werden muss.

Heute ist ein solcher Jahrestag, eine Wegmarke. Wir sind zusammen- gekommen, um an ein bedeutendes Datum der Geschichte Berlins und des Berliner Parlaments zu erinnern. Dazu begrüße ich Sie alle sehr herz- lich.

Heute vor 50 Jahren – am 11. Januar 1951 – fand im Rathaus Schöneberg zum ersten Mal eine Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin statt, das

39 nur im westlichen Teil der gespaltenen Stadt gewählt worden war und auch nur dort tätig sein konnte.

Heute vor 10 Jahren – am 11. Januar 1991 – trat hier in der Nikolaikirche – in der Mitte, dem Herzen unserer Stadt – das erste Gesamtberliner Parlament nach der Öffnung der Mauer und der Wiedervereinigung der Stadt, das Abgeordnetenhaus von Berlin, von ganz Berlin, zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen.

Für alle, die damals dabei waren, wird diese Sitzung unvergesslich bleiben. Sie wurde durch den damaligen Alterspräsidenten, Herrn Klaus Franke, mit einer bedeutenden Rede eröffnet. Ich freue mich, dass Sie, lieber Herr Franke, heute bei uns sind und zu uns sprechen werden. Sie haben dem Abgeordnetenhaus 35 Jahre angehört. Sie sind selbst fast ein Stück Parlamentsgeschichte. In Ihrer Ansprache am 11. Januar 1991 haben Sie die deutsche Einheit – zu Recht – als ein Geschenk bezeichnet, für das wir dankbar sein sollten. Sie sagten dann:

Diese Zuwendung der Geschichte fordert von uns Verständnis und eine große Sensibilität für die außerordentliche Lage, und sie fordert die Bereitschaft, nach mehr als 40 Jahren der Teilung wieder aufein- ander zuzugehen. Das, was die Trennung an Entfremdung brachte, kann nur mit einer inneren Bereitschaft zur Einheit überwunden werden.

Das Abgeordnetenhaus von 1991 war dadurch geprägt, dass ihm damals erstmals auch Parlamentarier aus dem Ostteil der Stadt angehörten: frei gewählt und demokratisch legitimiert, aber mit Lebenslauf und Werde- gang unter anderen politischen Rahmenbedingungen. Viele von ihnen hatten schon der 1990 demokratisch gewählten Stadtverordnetenver- sammlung von Berlin angehört. Eine von ihnen ist Frau Dr. Irana Rusta, die heute ebenfalls zu uns sprechen wird. Sie ist seit damals Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Zuvor war sie von Mai bis Dezember 1990 Stadtverordnete und Stadträtin für Kultur. Sie, liebe Frau Kollegin Dr. Rusta, werden sich mit Ihren politischen Erfahrungen und Perspek- tiven an den 11. Januar 1991 erinnern. Ich begrüße auch Sie sehr herz- lich.

40 Meine Damen und Herren, bei offiziellen Feierstunden behalten wir Poli- tiker es uns meistens selbst vor, Ereignisse und ihre Auswirkungen zu würdigen und zu bewerten. Umso reizvoller finde ich es, dass heute – und soweit mir bekannt ist, zum ersten Mal bei einem solchen Anlass – auch eine Repräsentantin der Medien zu Wort kommt. Ich begrüße sehr herz- lich Frau Brigitte Grunert, die Parlamentsberichterstatterin des „Tages- spiegels“. Seien Sie herzlich willkommen!

Ich freue mich, liebe Frau Grunert, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, zu uns zu sprechen. Sie begleiten die Berliner Landespolitik seit vielen Jahren journalistisch mit Bericht und Kommentar. Ihr Wort findet bei Zeitungslesern und Politikern große Aufmerksamkeit. Im Interview, im persönlichen Gespräch, in Bericht und Kommentar treten Sie den Politikern – gleich welcher Couleur – gut vorbereitet und fragend gegen- über. Ich bin sicher, dass Sie dies auch heute tun werden und Ihrer Linie treu bleiben. Seien Sie also herzlich willkommen!

Meine Damen und Herren, das Abgeordnetenhaus von 1951 konstituierte sich in einer Situation, die heute für viele von uns – insbesondere für die jüngeren – nicht mehr vorstellbar ist: Die gespaltene Stadt litt in beiden Hälften unter den Zerstörungen und Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, wobei der westliche Teil noch die Folgen der Blockade von 1948/49 zu bewältigen hatte. Die wirtschaftliche Situation schien überall nahezu hoffnungslos. Der damalige Alterspräsident des Abgeordneten- hauses, der Abgeordnete Wilhelm Laverrenz, hat dies in seiner Eröff- nungsansprache geschildert. Er verwies auf den Auftrag der Verfassung von Berlin, die am 1. Oktober 1950 in Kraft getreten war, Gemeinschaft und Wirtschaft demokratisch zu ordnen und dem sozialen Fortschritt und dem Frieden zu dienen, und erklärte:

Möge es uns gelingen, die unglaubliche Not, das Elend der Arbeits- losigkeit und so viele andere bedauerliche und betrübliche Erschei- nungen durch unsere gemeinsame Arbeit nach Möglichkeit zu lindern.

So weit Wilhelm Laverrenz.

Otto Suhr, der in der Sitzung am 11. Januar 1951 zum ersten Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt wurde, erinnerte in seiner Antrittsrede

41 an die besondere Situation des Parlaments in der geteilten Stadt und an die Aufgabe, immer auch für die Menschen im Ostsektor zu sprechen. sagte:

Wir alle wünschen, dass eine Lösung gefunden werden möge, dem Ostsektor eine Vertretung in diesem Abgeordnetenhaus zu sichern, denn dieses Haus ist die einzige demokratische Repräsentation des gesamten Volkes von Berlin. Welcher Weg aber immer beschritten werden mag, die Bevölkerung des Ostsektors darf versichert sein, dass dieses Haus in all seinen Beratungen und Bemühungen sich nicht nur immer der besonderen Verpflichtung dem Ostsektor gegenüber bewusst sein wird, sondern sich in seinen Arbeiten von dem Wunsche leiten lassen wird, dem ganzen Osten das Beispiel einer parlamentari- schen Demokratie zu geben.

Zu ergänzen ist heute, dass das Abgeordnetenhaus bis 1990 das einzige frei gewählte Parlament der Stadt blieb. Immer trug es den Namen „Abge- ordnetenhaus von Berlin“ und nicht „West-Berlin“! Und immer wurden symbolisch Plätze für Abgeordnete aus dem östlichen Teil der Stadt frei gehalten.

Ich möchte noch einmal Otto Suhr zitieren. Von den damals 127 Mitglie- dern des Abgeordnetenhauses hatten nämlich 53 bereits der alten Stadt- verordnetenversammlung angehört. Otto Suhr sagte unter Hinweis auf die Verfassung von Berlin von 1950:

Es handelt es sich hier nicht nur um einen Wechsel der Namen von Stadtverordneten in Abgeordnete, sondern hier liegt ein wirklicher Wandel der Funktionen vor. Meine Damen und Herren Abgeord- neten! Sie sind eben nicht mehr nur Mitarbeiter der Selbstverwaltung wie in früheren Jahren dieses Hauses, sondern Sie haben als Abge- ordnete des Landes Berlin vermehrte Rechte und Pflichten. Der Wandel der Rechtsstellung kommt rein äußerlich schon dadurch zum Ausdruck, dass Ihre Verpflichtung durch den Oberbürgermeister fortfällt. Aber jeder von uns sollte sich deshalb umso mehr seinen Wählern, der Bevölkerung von Berlin verpflichtet fühlen.

Am 11. Januar 1951 begann also ein Abschnitt der Berliner Parlaments- geschichte, der sich – über fast vier politisch sehr bewegte Jahrzehnte

42 hinweg – am Willen zur Einheit Berlins orientierte. Blockade, Luft- brücke, Chruschtschow-Ultimatum, Mauerbau, aber auch das Vier- Mächte-Abkommen – diese Ereignisse haben in der ganzen Stadt Spuren und Narben hinterlassen.

Die Nachkriegsgeschichte wird in Berlin noch lange ein politischer Faktor bleiben. Auch deshalb ist manches politische Farbenspiel für viele in unserer Stadt nicht begreiflich. Es haben eben nicht nur die Bürge- rinnen und Bürger im ehemaligen Ostberlin und in der ehemaligen DDR eine eigene Vergangenheit zu bewältigen, sondern auch die Menschen im ehemaligen Westen.

Mit der Erinnerung an die konstituierende Sitzung des ersten Gesamtber- liner Abgeordnetenhauses verbindet sich die Frage, welche Hoffnungen, Wünsche und Vorsätze von damals in den zurückliegenden 10 Jahren Wirklichkeit geworden sind. Zu fragen ist aber auch, was nicht realisiert werden konnte. Wie eng ist – um ein berühmtes Zitat zu gebrauchen –, wie eng ist zusammengewachsen, was zusammengehört?

Hat sich parallel zu der äußeren Einheit, die mit der Dynamik in unserer Stadt und den neuen Konturen überall im Stadtbild so sichtbar wird, auch die innere Einheit entwickelt? Haben die Menschen in Berlin – auf beiden Seiten jener Mauer, die glücklicherweise verschwunden ist – ihre neue Situation, die deutsche Einheit, verarbeitet?

Wer nach der inneren Einheit Berlins fragt, darf selbstverständlich nicht vergessen, dass – wie in der ehemaligen DDR – auch die Menschen im öst- lichen Teil unserer Stadt mit Hochmut und Besserwisserei vieler ihrer westlichen Landsleute konfrontiert wurden. Hinzu kamen vielfach nega- tive Veränderungen der persönlichen Lebensumstände, die harten Konditionen der freien Marktwirtschaft und der erhöhte Anspruch an die Selbständigkeit und die Eigenverantwortung der Bürger. Im westlichen Teil unserer Stadt mussten sich die Menschen darauf einstellen, dass viele Vergünstigungen, die sie vorher erhalten hatten, innerhalb weniger Jahre gestrichen wurden. Die Einheit in den Köpfen hat also auch in Berlin nicht die allergünstigsten Ausgangsvoraussetzungen gehabt.

Berlin stand 1991, beim Arbeitsbeginn des Gesamtberliner Abgeord- netenhauses, vor einer der größten Aufgaben seiner Geschichte: nach

43 40 Jahren Trennung zwei Stadthälften mit gegensätzlicher Prägung und Struktur wieder zusammenzufügen.

Auch heute stehen wir wieder vor einer Herausforderung zur Einheit: diesmal zur Einheit Europas. Wenn auch bei der Zusammenarbeit inner- halb der Europäischen Union und ihrer Erweiterung in den nächsten Jahren noch beträchtliche Schwierigkeiten zu überwinden sein werden, so steht doch schon jetzt fest: Das vereinigte Europa ist für alle seine Mit- glieder und vor allem für Berlin eine in jeder Hinsicht große Chance. Vielleicht wird dies für jedermann, auch für die Zweifler, in den nächsten Jahren sichtbar und verständlich. 10 Jahre deutsche Einheit, auf die wir jetzt zurückblicken, waren eine Etappe nicht nur in der Einheit Berlins, in der Einheit Deutschlands, sondern auch zur Einheit Europas.

Heute können wir – in aller Bescheidenheit – gemeinsam stolz auf das sein, was in 10 Jahren, einem geschichtlich gesehen relativ kurzen Zeit- raum, geleistet worden ist. Berlin ist Bundeshauptstadt. Außer dem Bundesverfassungsgericht haben alle Verfassungsorgane ihren Sitz in Berlin. Die neuen Botschaften sind ein nicht mehr wegzudenkender Teil dieser Stadt geworden. Nach dem alten Grundsatz „Der Handel folgt der Fahne“ haben sich Wirtschaftsverbände und Interessenvertretungen in unserer Stadt niedergelassen, und das freut uns!

An dieser Stelle soll trotzdem nicht geleugnet werden, dass es noch erheb- liche Schwierigkeiten zu bewältigen gibt. Doch bei der Betrachtung der letzten 10 Jahre haben wir allen Grund, mit Optimismus in die Zukunft zu blicken. – Ich danke Ihnen!

44 Klaus Franke

Senator a. D. Stadtältester von Berlin Alterspräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 12. Wahlperiode

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Als wir vor genau zehn Jahren hier zusammenkamen, standen Dankbar- keit im Vordergrund und immer noch das Staunen über die schnellen und positiven Veränderungen in unserem Leben. Dankbarkeit an die vielen, die mit Mut und Verstand das kurz zuvor noch für unmöglich Gehaltene haben Wirklichkeit werden lassen und die diesen Wandel friedlich voll- zogen haben. Und am 11. Januar 1991 war auch unser Staunen noch groß. Wie oft hörte man: „Wenn mir das einer vor zwei Jahren gesagt hätte . . .“. Die Freude ist geblieben und die Dankbarkeit. Das Staunen aber ist in die Jahre gekommen. „Wenn mir das einer vor zwölf Jahren gesagt hätte . . .“, klingt das nicht mehr so überwältigt wie damals. Schließlich reden wir heute über zehn Jahre gemeinsamer Vergangenheit und gemeinsamer Arbeit.

Als Alterspräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin habe ich im Januar 1991 darauf hingewiesen, dass die Erwartungen der Menschen an das neue Berliner Parlament groß sind. Heute sollten wir uns alle mit- einander fragen, wie wir mit diesen Erwartungen umgegangen sind. Ich meine das nicht in einem materiellen Sinne. Wichtiger ist mir die Antwort in den Köpfen und Herzen der Berlinerinnen und Berliner. Mir scheint, dass wir selbstkritisch genug sein sollten, um neben den Stolz auf das Erreichte auch Nachdenklichkeit über die Lücken in der Leistungsbilanz zu stellen. Positiv war sicherlich vor allem, dass der Deutsche Bundestag, wenn auch unangemessen knapp, die über viele Jahre geforderte Selbst- verständlichkeit bestätigt hat, nach der Berlin die Hauptstadt ist. Das war der erwartete Startschuss für gute Entwicklungen und für ein neues Selbstbewusstsein in unserer Stadt.

Berlin ist moderner geworden, ob immer auch schöner, werden kommende Generationen zu beurteilen haben. Internationaler und

45 aufregender ist die Stadt bestimmt geworden. Und es ist durch den Zuge- winn der jeweils anderen Stadthälfte auch reicher geworden, reicher an Lebensläufen, an Erfahrungen und an Träumen. Die Berlinerinnen und Berliner aber sind immer noch das Beste an unserer Stadt.

Ihnen vor allem hat das Engagement der Verantwortungsträger zu dienen, ihnen allein, nicht einer Partei oder einer Berufsgruppe oder einem Teil der Stadt, sei es nun West- oder Nord- oder Süd- oder Ostberlin. Jeder und jede hier möge sich heute fragen, ob er oder sie in den vergangenen zehn Jahren das Allgemeinwohl immer über das eigene Interesse gestellt hat. Ich habe am 11. Januar 1991 gesagt: Dazu gehört, dass wir zum Beispiel nicht jede Meinung, die aus einem anderen politischen Lager kommt, gleich von vornherein verwerfen, nur weil sie der politische Gegner vorträgt. Jeder der hier anwesenden Parlamentarier möge sich fragen, ob er immer danach gehandelt hat. Jeder möge sich fragen, ob er – oder sie – Toleranz nicht nur gepredigt, sondern auch vorgelebt hat, ob er – oder sie – zur Akzeptanz unserer demokratischen Ordnung und der unver- zichtbar mit ihr verbundenen Werte beigetragen hat. Demokratisches Bewusstsein wird eben nicht eingeführt und ist dann vorhanden, es muss immer wieder neu erarbeitet werden, die Verantwortung von Vorbildern, insbesondere Parlamentariern, ergibt sich hier von selbst.

Wir wollen Berlin in all seinen Teilen und in all seinen Bevölkerungs- gruppen zu einem Modell einer toleranten Kommune machen. So wollen wir die Hauptstadt der Deutschen sein, so wollen wir das Bild unseres Landes und unserer Stadt in der Welt prägen.

Wir blicken heute nicht nur mit Freude und Stolz zurück, sondern auch mit der Erkenntnis, dass bisher ungelöste Aufgaben auf uns warten. Vor zehn Jahren konstituierte sich erst das zweite Nachkriegsparlament, das aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Die Jahre demokratischer Entwicklung in einer Stadt, in ganz Berlin, waren bisher kurz. Die Zeiten einer guten Zukunft werden länger sein.

Was können wir tun, um sie positiv zu beeinflussen? Wieder lasse ich materielle Aspekte beiseite, obwohl Sie es vielleicht gerade einem ehemaligen Hauptausschussvorsitzenden nachsehen würden, wenn er auch Haushaltsprobleme für wichtig hält. Trotzdem möchte ich hier ein- fügen: Ich finde, es ist höchste Zeit, dass das Problem der ungleichen

46 Gehälter zwischen ehemals Ost und West endlich gelöst wird. – Das hat der Regierende Bürgermeister kürzlich gesagt.

Nein, ich möchte noch einmal über die Köpfe und Herzen unserer Mitbürger reden. Auch demokratische Gesellschaften, die ihren Bürgern ein Höchstmaß an Selbstentfaltung zubilligen, haben für die Wissens- und Bewusstseinsbildung ihrer jungen Generation eine hohe Verantwor- tung. Ohne Naturwissenschaften, ohne die Beherrschung von Fremdspra- chen wird man in Zukunft keinen Beitrag in einer globalisierten Welt leis- ten können, ohne die Kenntnis von menschlichen Irrungen und ohne die Übung in Toleranz mit Sicherheit auch nicht. Dazu braucht es Pädagogen, Zeit, Gespräche auch außerhalb von staatlichen Rahmenbedingungen, und dazu braucht es den höchstmöglichen Stellenwert von Bildung in einem sehr weiten Sinn.

Dazu gehört meiner Ansicht nach auch, dass wir uns wieder auf den Wert unserer schönen und klaren deutschen Sprache, wie auch auf den Wert einer humanistischen Bildung besinnen. Ich zitiere hier Senator Werthe- bach; er sagte kürzlich:

Wie sind Zuwanderer für die deutsche Sprache zu begeistern, wenn die Deutschen selbst keinen Wert mehr auf ihre sprachliche Zukunft legen?

Wer heute nicht in die Zukunft investiert, wird diese verspielen. Auch das sollte eine Lehre und Verpflichtung sein, die wir aus der Rebellion unserer Landsleute in der ehemaligen DDR ziehen. Der hohe Wert einer freiheitlichen Ordnung, der wir uns gerade an diesem Tag zutiefst ver- bunden fühlen, beruht nicht auf dem Hubraum von Kraftfahrzeugen oder der durchschnittlichen Kaufkraft ihrer Bürgerinnen und Bürger, sondern auf der Bereitschaft ihres Volkes, sich für sie einzusetzen, an die Würde eines jeden einzelnen Menschen zu glauben und sich aktiv für das Allge- meinwohl zu engagieren.

Wir feiern heute einen Tag, der für den Erfolg dieser Haltung ein Symbol ist, und wir danken allen, die ihn möglich gemacht haben. Ich persönlich danke Ihnen für die Ehre, an dem heutigen Tag noch einmal vor dem Berliner Parlament sprechen zu dürfen. Für mich ist dieses Ereignis

47 heute genauso ehrenvoll wie vor zehn Jahren – und ich bin beinahe ver- sucht zu sagen: Auf Wiedersehen in zehn Jahren!

Meine Damen und Herren! Arbeiten wir alle, Parlamentarier und Nicht- parlamentarier, weiter mit Herz, Engagement und Verstand für unsere geliebte Stadt Berlin. – Ich danke Ihnen!

Dr. Irana Rusta

Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Als Mitglied der ersten freigewählten Stadtverordnetenversammlung von Ostberlin möchte ich anlässlich des heutigen Tages einige Worte an Sie richten. Es ehrt mich und fordert mich zugleich heraus, das Zusammen- wachsen der beiden Parlamente im ersten Jahrzehnt zu kommentieren, gerade deshalb, weil dieser Weg erfolggekrönt, aber nicht ohne Probleme war.

Die Presse hatte anlässlich des 10. Jahrestages der deutschen Einheit geschlussfolgert: Nur wenige der Ostberliner Stadtverordneten haben Karriere gemacht. – In der Tat sind von den 91 Stadtverordneten nur 12 dem heutigen Parlament erhalten geblieben. Doch wird uns diese Aus- sage nicht gerecht, denn den meisten von uns ging es nicht um politische Karriere. Es ging uns vor allem darum, die historische Chance zu ergreifen, das menschenverachtende totalitäre Regime der SED durch Freiheit, Demokratie und Einheit abzulösen. Für dieses Ziel sind wir nicht als Politiker, sondern nach langer Unterdrückung als einfache Bürger angetreten, die als Hoffnungsträger das Vertrauen der ersten freien Wähler erhielten.

Meine Damen und Herren! Damals vor zehn Jahren zogen wir mit der neugewonnenen Kultur von Demonstrationen, Runden Tischen und

48 Bürgerbewegungen als parlamentarische Anfänger nur mit den Erfah- rungen von sechs Monaten Stadtverordnetenversammlung ein in das durch Rituale und feste Rollenverteilung geprägte, professionell arbei- tende Parlament des freien Berlins. Die Gesetzgebung sowie auch die politischen Regeln und Gepflogenheiten waren uns nicht vertraut. Sie waren aber Grundlage der uns bevorstehenden politischen Arbeit. Also mussten wir, wie übrigens Millionen von Bürgern der ehemaligen DDR, schnell lernen. Das Einüben der Spielregeln eines Parlaments im wieder- vereinigten Berlin war aber nicht jedermanns Sache. Was wir einzu- bringen hatten, erfüllte uns mit Selbstbewusstsein und Stolz: die Kraft und die Energie einer erfolgreichen und friedlichen Revolution. Das ist in der deutschen Geschichte eine einmalige Erfahrung.

Das erste Berliner Parlament, das hier in der Nikolaikirche 1809 konsti- tuiert wurde, trat übrigens unter napoleonischer Zwangsherrschaft zusammen. Spätere Berliner Parlamente waren Ergebnisse gewaltsamer Auseinandersetzungen und hatten letztlich für das ganze Berlin keinen Bestand. Das 1990 freigewählte Gesamtberliner Abgeordnetenhaus war dagegen das Ergebnis der friedlichen Revolution im Osten. Es war aber auch dem entschlossenen Bewahren des Gedankens der Einheit der Stadt und der Nation zu verdanken. Ich will an dieser Stelle nicht ver- schweigen, dass die historische Leistung der Demonstranten im Osten und ihrer ersten freigewählten Stadtverordneten von manch einem West- berliner Abgeordneten nicht immer und nicht ausreichend gewürdigt wurde. Das hat uns geschmerzt. Eine Klarstellung des historischen Sach- verhalts erfolgte einmal mehr zehn Jahre danach, und nicht zuletzt durch die deutlichen Worte des Bundeskanzlers Schröder anlässlich der Feier- lichkeiten zur deutschen Einheit. Er stellte fest: Die Mauer wurde vom Osten her eingedrückt.

Die Zusammenarbeit der Abgeordneten aus Ost und West war von Anfang an produktiv. Die beiden Parlamente haben damals, um die schwierige Aufgabe des Zusammenwachsens der beiden Stadthälften besser bewäl- tigen zu können, sich freiwillig weit vor dem Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst und ein gemeinsames Parlament gebildet. Wir haben die staats- rechtliche Vereinigung für einen Erneuerungsschub genutzt. Dies gilt sowohl für die Verfassung, in welche wesentliche Merkmale der emanzi- patorischen Verfassung der Ostberliner Stadtverordneten von 1990 eingegangen sind, als auch für die überarbeitete Geschäftsordnung des

49 Parlaments, mit der die Rechte der Opposition gestärkt wurden. Und ich möchte hier auch die Gebietsreform und die Verwaltungsreform nennen.

Wir standen quer durch die Parteien zu den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt, mitunter auch in Korrektur der Auslegungen des Einigungsver- trages, der keineswegs perfekt war – so zum Beispiel bei den Entschei- dungen über das Eigentum an Grundstücken in Berlin. Wir haben uns auch nicht unbedingt besondere Freunde gemacht, in Ost und West, bei dem Kraftakt der Angleichung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst.

Wir haben mehrere politische Hürden genommen: Wir sind Hauptstadt, Regierungs- und Parlamentssitz. Wir sind auf dem Wege zu einem dyna- mischen politischen, medialen, kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum in Europa. Wir sind, was 1990 noch viele befürchtet haben, keine Armutsmetropole geworden. Ich denke, dass hier in Berlin, wo sich die Wiedervereinigung der beiden Stadthälften besonders dramatisch gestaltete, wir ein gutes Stück auf dem Wege der inneren Einheit vorange- kommen sind und ein erfolgreiches Modell des Zusammenwachsens praktiziert haben.

In Berlin ist die Frage der Freiheit entschieden und die soziale Bewäh- rungsprobe bestanden worden. Diese Bedeutung Berlins für das Gelingen der Einheit hatte Richard von Weizsäcker bereits 1990 gesehen. Natür- lich sind nicht alle Blütenträume in Erfüllung gegangen: Einige wichtige Reformen lassen noch immer auf sich warten; so manche Strukturfragen und Finanzfragen des geeinten Berlins sind nicht gelöst. Und wir haben auch die innere Einheit der Probleme erreicht: Die Arbeitslosenzahlen in beiden Teilen Berlins gleichen denen der neuen Bundesländer. Deshalb gilt nach wie vor der Grundsatz: Investiert und geholfen werden muss dort, wo es Not tut, unabhängig davon, ob es sich im Osten oder im Westen abspielt.

Wir können uns auch kaum damit trösten, dass wir kein Tummelplatz der Rechtsextremen sind. Aber die Rechtsextremisten nutzen die Hauptstadt ganz bewusst als ihren Schauplatz, und das vor den Augen der Welt. Deshalb tragen wir gerade in Berlin eine besondere Verantwortung auch als Teil einer Region, in der fast tagtäglich Schreckliches passiert.

50 Trotz der häufig geäußerten und geradezu geschürten Ängste vor der Berliner Republik sind wir auf dem Weg einer akzeptierten und vielleicht irgendwann sogar geliebten Hauptstadt. Das ist ein erfreuliches histori- sches Novum. Nicht zuletzt die Silvesterfeier zum Jahreswechsel, zu der Hunderttausende nach Berlin kamen, ist ein Beweis dafür.

Im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung auf dem Wege zur europäischen Einheit muss das Berliner Abgeordnetenhaus noch weitere Schritte hin zur demokratischen Weiterentwicklung machen. Wir brau- chen das Engagement, das Wissen und die Begabung aller Bürger dieser Stadt. Ich wünsche uns mehr Mut und Willen für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, einer Demokratie der Bürger, das heißt, eine garan- tierte, stärkere Bürger- und Expertenbeteiligung. Politik muss stärker dort stattfinden, wo sie hingehört: im Senat sowie in den Bezirksämtern. Die Berliner Politik braucht mehr Entscheidungskraft. Wir benötigen weniger Verwaltung, dafür mehr sichtbare politische Führung. Wir sollten den Mut haben, nach einer Fusion der beiden Länder Berlin und Brandenburg zum Beispiel den Oberbürgermeister und die Bezirksbür- germeister direkt wählen zu lassen. Und die Berliner Politik braucht vor allem eine Vision von ihrer künftigen Rolle in Europa. Ich glaube, dafür ist weniger eine Leitkultur, sondern ein Leitbild erforderlich. Damit würden auch das geistige Vermächtnis, die Hoffnungen und Wünsche der ersten freigewählten Stadtverordneten von 1990 erfüllt. Ich bin davon überzeugt: Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung kann Berlin einer großen Zukunft entgegensehen.

51 Brigitte Grunert

Parlamentsberichtserstatterin beim Tagesspiegel

Verehrte Festversammlung!

Journalisten sind, wie Sie wissen, immer auf etwas Neues aus. Doch der Mut des Abgeordnetenhauses zu neuen Ideen ist nicht zu übertreffen. Dass jemand von der Presse heute vor Ihnen sprechen darf, das gab es wirklich noch nie – jedenfalls nicht nach meiner Erinnerung. Herr Präsi- dent, ich danke Ihnen für Ihre freundliche Einladung.

Sie begehen heute ein doppeltes Jubiläum. Natürlich lagen Welten zwischen den beiden Konstituierungen des Abgeordnetenhauses von Berlin am 11. Januar 1951 im Rathaus Schöneberg und am 11. Januar 1991 hier in dieser schönen Kirche. Die eine stand im Zeichen der bedrückenden Spaltung und Etablierung Westberlins als Stadtstaat, die andere im Zeichen der glücklichen Wiedervereinigung der Stadt. Was also hatte die erste Zäsur mit der zweiten zu tun? – Im Zeitraffer gesagt: Der Kreis hat sich geschlossen.

In der Rückschau verklärt sich nun alles. In diesen 40 plus zehn Jahren hat das Parlament ernste, komische, tragische und tieftraurige Stunden erlebt. Dazugelernt hat es auch, neuerdings sogar, dass man im Plenarsaal nicht mit dem Handy telefoniert, weil es die empfindliche Technik stört. Mit der Zeit klappt auch der Umgang mit der elektronischen Abstim- mungsanlage. Großes Gelächter, als die Präsidentin Hanna-Renate Laurien bei ihrer Unterweisung schmunzelnd ausrief: „Drücken müssen Se!“

Leere Bänke sieht man heute öfter im Plenum als früher. Warum hört sich jede Fraktion nur noch selber zu? Oder hat das neue Abgeordnetenhaus bloß zu viele Hinterzimmer für Besprechungen und ein zu schönes Casino? Natürlich wurde immer gekungelt. In Schöneberg waren es noch Männerriegen, die in den umliegenden Kneipen des Rathauses bei Skat und Bier und Schnäpschen die Strippen zogen. Heute ist man auch im Casino sparsam mit Alkohol, vom weitgehenden Rauchverbot zu schweigen. Aber wo sind die wahren Sensationen geblieben? Im legen-

52 dären Raum 195 im Schöneberger Rathaus tagten noch hochnotpeinliche Untersuchungsausschüsse. Dort wurden Politiker auf den Schild gehoben oder fallen gelassen. Und als die SPD wegen einer wieder mal schweren rot-grünen Krise abends Sondersitzung hielt, stürzte mein Kollege Michael-Ludwig Müller herbei, stolperte und brach sich ganz böse das Bein. Sie sehen, Politik ist für Presse gefährlich.

Doch zurück zur Konstituierung der ersten echten Legislative am 11. Januar 1951. Es gab nun nach der Verfassung von Berlin von 1950 keine Stadtverordneten mehr, sondern Abgeordnete. Aus dem Magistrat wurde der Senat, aus dem Oberbürgermeister der Regierende Bürger- meister. Und es war eine kurze, feierliche Sitzung der 127 gewählten Abgeordneten unter den Augen der Westalliierten, die ja auch später immer dabei waren. Sie dauerte nur 43 Minuten. Gewählte, sagte ich. Von den mindestens 200 Sitzen wurden 80 für Ostberlin freigehalten; die Verfassung war ja immer auf ganz Berlin bezogen. Hinzu kamen damals aber noch acht Ostberliner mit beratender Stimme. Man nannte sie „Ver- treter der an der Wahl verhinderten Kreise“. Und in der konstituierenden Sitzung waren ruckzuck der Präsident Otto Suhr und das ganze Präsidium einstimmig in einem einzigen offenen Wahlgang bestellt. Ein Ausschuss wurde eingesetzt, der über die richtige „Form der Vertretung des Ostsektors“ beraten sollte.

Die Sprache des Kalten Krieges war im Parlament kaum spürbar. In wohl- gesetzten Worten drückte der Alterspräsident Wilhelm Laverrenz, CDU, alle Nöte und auch Enttäuschung aus. „Wir sind“, sagte er, „leider noch nicht ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Wir leben also in einer Übergangsperiode.“ Die Bundesflagge wehte schon damals vor dem Rat- haus, aber es blieb bis zur Einheit dabei, dass Berlin nach alliiertem Recht eben kein Bundesland war. Das komplizierte Gefüge ist heute kaum noch verständlich. Man kann sich ja auch nicht mehr vorstellen, dass zwei Bundestagsabgeordnete in Ostberlin wohnten. Einer war der spätere Senator Kurt Neubauer, der von 1952 bis 1961, also bis zum Mauerbau, zwischen Friedrichshain und Bonn pendelte. Das war nur bei der SPD möglich, weil sie bis zum Mauerbau Gesamtberliner Landesverband war. Nach dem Mauerbau blieben auch die Ostberliner im Landesparlament fort. Es war die wohl traurigste Plenarsitzung denn je, als der Präsident Willy Henneberg am 17. September 1961 seine Protesterklärung gegen diese „Behinderung“ abgab; er fiel tot um.

53 Große Namen waren damals unter den Abgeordneten. Ich nenne nur , Otto Suhr und , Walther Schreiber, Ernst Lemmer und Joachim Tiburtius, Ella Barowsky, die heute ihren 89. Ge- burtstag begeht, und Hans-Günter Hoppe. Welcher Erfahrungsschatz war dort versammelt, aus der Weimarer Republik oder gar der Kaiserzeit! Im Preußischen Landtag hatten Minister Walther Schreiber und gemeinsam für die DDP gesessen, Wilhelm Pieck für die KPD. Man kannte sich gut in Ost und West, aber man redete nicht mehr miteinander. So mutet es aus heutiger Sicht kurios an, wie sich der Senat 1958 an der Wiederherstellung des Brandenburger Tores beteiligte. Er ließ die Quadriga nach in Westberlin lagernden Gipsabdrücken bei Noack in Friedenau gießen und in feierlicher Prozession vor das Wahrzeichen fahren. Nachts wurde der Tieflader in den Osten gezogen.

In Berlin war eben das Anomale normal. Die bedrängte Lage schweißte das Parlament zur Notgemeinschaft zusammen. Bis 1963 war der Allpar- teiensenat selbstverständlich, sieht man von der kurzlebigen CDU-FDP- Koalition unter Walther Schreiber ab. Doch auch ohne förmliche Opposi- tion konnte man sich wundervoll demokratisch streiten, und das zeigte sich bereits anlässlich der Wahl des ersten Regierenden Bürgermeisters. Es war auch das einzige Mal, dass sie nicht auf Anhieb zustande kam. Schreiber trat am 12. Januar 1951 gegen den überaus populären Ober- bürgermeister Reuter an; es gab ein Patt bei je 62 Stimmen. Nach der Verfassung wäre der Losentscheid fällig gewesen, aber das fanden beim Ernst der Lage der Stadt alle albern. Schreiber hatte die Größe, zu ver- zichten; und am 18. Januar wurde Reuter gewählt. Unter dem Eindruck des Chruschtschow-Ultimatums zwang Willy Brandt seine widerstre- bende Partei trotz ihrer absoluten Mehrheit zur Koalition mit der CDU, obwohl es diesmal im Parlament überhaupt nur zwei Parteien gab. Selbst nach seinem legendären Wahlsieg von 1963 mit 61,9 % legte Brandt Wert auf Partnerschaft. Und damit begann die Zeit der kleinen Koalitionen – erst der SPD und FDP, dann der CDU und FDP. Es gab überhaupt nur zwei Alleinregierungen in diesen 50 Jahren: den SPD-Senat unter Klaus Schütz 1971 bis 1975 und den CDU-Minderheitssenat unter Richard von Weizsäcker 1981 bis 1983.

Anfangs war die Eingliederung Berlins in das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik nicht einfach. Und die SPD wollte nichts von den „Adenauer-Gesetzen“ wissen. Reuter hatte seine liebe Not.

54 Doch ein diplomatisches Meisterwerk mit dem spröden Titel „Drittes Überleitungsgesetz“ half seit 1952. Es besagte mit einem Wort: Geld gegen Bundestreue. Das Abgeordnetenhaus übernahm alle Bundes- gesetze, soweit sie dem Viermächtestatus nicht widersprachen, per Abstimmung als Landesrecht, und bekam dafür die Bundeshilfe zum Landeshaushalt – und übrigens noch viele, viele Extras. Nur die Alter- native Liste, die seit 1981 vierte Fraktion war, hob nicht für jedes Bundes- gesetz die Hand. Eines schönen Sonnabends musste der Präsident bei so einer Übernahmesitzung, die immer Routinesache von wenigen Minuten war, auf Antrag der AL die Beschlussunfähigkeit feststellen. Da brach in der Presse ein Sturm der Entrüstung über das pflichtvergessene Parla- ment los.

Ziel aller Wünsche blieb die Einheit. Seit 1955 eröffnete jeder Parla- mentspräsident – anfangs Brandt – jede Plenarsitzung mit den Mahn- worten zur Wiedervereinigung. 1962 kam der Hinweis auf die Mauer hinzu. Viele von Ihnen haben die Formel noch im Ohr: „Ich eröffne die soundsovielte Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und bekunde unseren unbeugsamen Willen, dass die Mauer fallen und Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin wieder vereinigt werden muss.“ Doch mit der Zeit erhoben sich dabei nicht mehr alle von den Plätzen. Die Hoffnung sank in die tiefsten Herzenswinkel. Es war Heinrich Lummer, der Anfang der achtziger Jahre zu später Plenarstunde spontan ausrief: „Die deut- sche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist.“ Das wurde zum geflügelten Wort der späten Jahre. Aber als die Einheit wirklich nahte, wurden die Mahnworte mit rot-grüner Mehrheit per Plenar- beschluss vom 18. Januar 1990 abgeschafft – sehr zum Ärger der CDU.

Im Schöneberger Rathaus saßen Parlament und Senat bewusst als Unter- mieter des Bezirksamts. Man kann sich nur noch wundern, was zunächst alles Platz unter einem Dach hatte, bis hin zum Schulzahnarzt und zur Säuglingsfürsorgestelle. Und am Schild „Bezirkskasse“ mussten auch die Großen der Welt vorbei. Das Rathaus war weltbekannt, offen für alle, gute Stube für Empfänge und dabei ein ganz ärmliches Provisorium. ließ 1977 eilig ein Klo renovieren, bevor er die Ministerpräsi- denten der Länder empfing. Damit aber war das Bewusstsein für die Veredelung des Rathauses da, die in den achtziger Jahren auch geschah.

55 Der Stoff für stürmische Debatten ging dem Parlament nie aus, so dass der Präsident oft kräftig die Glocke schwingen musste. Aber Berlin war auch anderen immer mit neuen Entwicklungen voraus. Die Studentenrevolte, der Terrorismus, der mit den tödlichen Schüssen auf den Kammer- gerichtspräsidenten Günter von Drenckmann am 10. November 1974 und der Entführung des CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz am 27. Februar 1975, drei Tage vor der Wahl, begann, auch die Hausbeset- zerszene sind Beispiele dafür. Bekanntlich hat Brandt in diesem Rathaus auch die Entspannungspolitik konzipiert.

Dann kam das relativ wetterfeste Dach des Vier-Mächte-Abkommens. Der Osten nannte es verschleiernd das „Vierseitige Abkommen“. Da wandte sich Berlin nach innen und entdeckte allerlei kommunalen Filz und Skandale – vom Steglitzer Kreisel bis zur Bürgschaftsaffäre um den Architekten Dietrich Garski und schließlich zum facettenreichen Korruptionsskandal, der als Antes-Affäre in die Annalen einging. Wie wichtig die Fragestunde sein kann, bewies die letzte Parlamentssitzung vor der Sommerpause 1975: Die Frage des CDU-Abgeordneten Friedrich von Kekule´ nach einer seltsamen Gehaltsgeschichte bei der Königlichen Porzellanmanufaktur KPM markierte den Beginn einer handfesten Affäre.

Keine politische Karriere endete so tragisch wie die von Dietrich Stobbe. Als ihm am 15. Januar 1981 gleich vier SPD-Senatskandidaten im Parla- ment durchfielen, trat er augenblicklich zurück. „Dies ist die Stunde des Parlaments“, rief der Oppositionsführer . Brandt und Weizsäcker traten von Berlin aus ihren Siegeszug nach Bonn an. Reuter und Suhr starben „in den Sielen“. , Schütz und Stobbe stürzten, Schreiber, Hans-Jochen Vogel, Eberhard Diepgen und scheiterten an Parlamentswahlen. Aber Herr Diepgen und Herr Momper sind seit zehn Jahren quitt, denn die „rot-grüne Revolution“ ging rasch vorbei. Und Herr Diepgen hält mit Abstand am längsten durch.

Einmal nur wurde von der Verfassungsmöglichkeit Gebrauch gemacht, Neuwahlen durch Unterschriftensammlungen für ein Volksbegehren zu erzwingen. Das tat die CDU 1981, als die SPD am Ende war. Aber mich hat es doch beeindruckt, was Vogel noch rasch, in nur fünfmonatiger Amts- zeit, zu Wege brachte: Er gab die Schlossbrückenfiguren an Ostberlin

56 zurück und bekam dafür das KPM-Archiv; er gab das Signal zu den S-Bahnverhandlungen und zur einigermaßen friedlichen Lösung des Hausbesetzerproblems.

Richard von Weizsäcker gab der Stadt wieder Ruhe und neue Hoffnung. In diese Ära fiel übrigens die längste Parlamentssitzung. Weizsäcker wollte über seinen Besuch in Washington berichten; daraus wurde eine hochspannende Hausbesetzerdebatte bis zum anderen Morgen, der Weiz- säcker und Vogel Linie gaben. Weizsäcker war auch der erste Regierende Bürgermeister, der sich mit Erich Honecker in Ostberlin traf – „als deut- scher Politiker“, wie er sagte, um allen Statusfragen aus dem Weg zu gehen. Die Schutzmächte waren verärgert. Er hatte sie informiert, aber nicht gefragt. Eberhard Diepgen versuchte es bei Honecker mit Einla- dungsdiplomatie zur 750-Jahr-Feier der Stadt. Da wollten auch alle Frak- tionschefs Einladungen haben, und ein Ostbote brachte sie. Es wurde nur nichts daraus, Honecker kam ja auch nicht nach Westberlin.

Und dann gärte es im Osten. Die Mauer fiel, keiner war vorbereitet. Der 10. November 1989 brachte nach einer so schönen Nacht voller Seligkeit die peinlichste Parlamentssitzung. Das halbe Bundeskabinett reiste mit Helmut Kohl an der Spitze an, Willy Brandt mit SPD-Größen. Ich erin- nere mich gut ihrer konsternierten Blicke. Das Parlament konnte sich nicht mal auf eine gemeinsame Entschließung einigen. Auch deutsch- landpolitisch war Rot-Grün irgendwie zerstritten, zwischen SPD und CDU gab es keine Brücke, und die rechtsradikalen Republikaner grölten plötzlich die Nationalhymne. Dieser verunglückte Tag, an dem doch die Berliner, wie Momper sagte, das glücklichste Volk der Welt waren, war wie ein Vorgeschmack auf die Probleme mit der Einheit. Etwas später waren der Momper-Senat und der rot-schwarze Magistrat unter Tino Schwier- zina ein Herz und eine Seele. Man sprach vom Magi-Senat. Stadtverord- netenversammlung und Abgeordnetenhaus bildeten Einheitsausschüsse. Nur die rot-grüne Koalition zerbrach kurz vor der Gesamtberliner Wahl am 2. Dezember 1990.

Die erste Sitzung des endlich Gesamtberliner Parlaments in dieser Niko- laikirche verlief nun nicht festlich und nicht diszipliniert wie die Konsti- tuierung am 11. Januar 1951. Die 241 Abgeordneten – 41 hatten Über- hang- und Ausgleichsmandate – brauchten 5 Stunden und 35 Minuten. Es fremdelte. Mehrfach musste der Alterspräsident Klaus Franke und später

57 die neue Präsidentin Hanna-Renate Laurien um Ruhe bitten. Gewiss war es ein bewegender Moment, als Oberbürgermeister Schwierzina schlicht seine Aufgabe für erfüllt erklärte. Doch dann hagelte es gleich Geschäfts- ordnungsanträge. Zähe Debatten drehten sich um die Frage: Neuanfang oder Durchzählung der Wahlperioden? – Vor allem Ostler waren für Neuanfang, Westler setzten die Kontinuität durch. Sie hatten ja mit Bedacht die Konstituierung auf den 40. Jahrestag des Abgeordneten- hauses von Berlin gelegt. Mit der Übernahme der Verfassung für ganz Berlin wurde an diesem Tag die Stadt auch staatsrechtlich wiederverei- nigt, wie der CDU-Abgeordnete Klaus Finkelnburg betonte. Aber dass sich Ostberlin noch für kurze Monate eine eigene Verfassung mit Landes- status gegeben hatte, war doch Ausdruck des Wunsches nach Vereinigung statt Anschluss.

Beide Verfassungen gingen übrigens ganz bewusst auf die Verfassung zurück, die noch die Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin am 22. April 1948 gegen das Votum der SED beschlossen hatte.

Die PDS-Abgeordneten waren ungern gesehene Fremdkörper, für die meisten als SED-Ableger ein rotes Tuch, eine Art Stasi-Abteilung, auch für die Ost-Abgeordneten aus den anderen Fraktionen. Einige PDS-Leute erwiesen sich ja auch als Stasi-belastet, folgten aber nicht der Empfehlung des parlamentarischen Ehrenrats zur Niederlegung des Mandats. Erst nach und nach entkrampfte sich das Verhältnis, zumindest im persön- lichen Umgang. Und heute? – Heute wird sogar machtpolitisch über die Frage der Koalitionsfähigkeit der PDS gestritten. Damals fühlten sich auch noch andere fremd, nämlich die vier DDR-Bürgerrechtler, die sich nicht den Bündnisgrünen anschlossen. Sie hielten nur die erste Gesamt- berliner Wahlperiode durch – Verzeihung, die 12. des Abgeordneten- hauses von Berlin.

Zehn Jahre Einheit, zehn Jahre Veränderungen, zehn Jahre große Koali- tion der großen Aufgaben. Anfangs ging es um die Rechtsangleichung, um Abwicklungen und Neuorganisation. Mit Lust hat das Parlament die Verfassung überarbeitet und zur Volksabstimmung gestellt, was wohl eher psychologisch als inhaltlich wichtig war. Für eine kurze Stunde sah man sehr früh, also noch im Rathaus Schöneberg, sogar eine Allparteienkoali- tion der Freude in Partystimmung, als am 20. Juni 1991 der Hauptstadt- beschluss des Bundestages fiel. Einträchtig verabschiedete das Parlament

58 1994 auch die Truppen aller vier Siegermächte mit einem Bürgerfest. Hätte man sich früher die Umarmung mit den Russen träumen lassen? Aber einen Festakt der Dankbarkeit richtete das Parlament nur für die westalliierten Schutzmächte aus; die PDS blieb demonstrativ fern.

Vieles erschien uns sehr zögernd, kleinmütig, wenig selbstbewusst und widerwillig angepackt. Alte Animositäten, ob zwischen Ost und West oder westintern, wurden in die Gegenwart geschleppt. Manches scheiterte, wie die Fusion mit Brandenburg. Manchmal herrschte „hektischer Still- stand“, wie Jörg Schönbohm einmal sagte. Und manche Debatte kommt einem seit anno dunnemals vertraut vor. Den staatlichen Religionsunter- richt zum Beispiel wollte schon Walther Schreiber durchsetzen; SPD und FDP sagten Nein. Doch aufs Ganze gesehen hat sich das Parlament in diesem einen Jahrzehnt zu Modernisierungen, Privatisierungen und nötigen Neuerungen durchgerungen, die es in sich haben, wenn auch mit Ach und Weh unter dem Diktat der Finanznot. Insofern liegen die Mauer- zeiten weit, weit zurück.

Wenn man sich überlegt, wie schwer es war, das Schicksal Berlins zu meis- tern, und wenn man sieht, wo Berlin heute steht, dann kommen einem doch die Probleme, mit denen Sie als Abgeordnete jetzt zu tun haben, ganz, ganz klein vor. Aber gerade deshalb ist dieser 11. Januar 2001 ein Grund zum Feiern.

59 1. Auflage erschienen im Jahr 2001 in einer Auflage von 1 300 Exemplaren

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