Erstes Kapitel Rezeption Des Neorealismus 1946-1961
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42 Erstes Kapitel Rezeption des Neorealismus 1946-1961 1 Fiera letteraria 1946-1951 1.1 Profil der Zeitschrift Seit April 1946 erscheint wöchentlich Fiera letteraria unter der Leitung von Giovanni Battista Angioletti (1896-1961).1 Der Titel wird von einem Vorläufer übernommen: Im Dezember 1925 gründet Umberto Fracchia2 in Mailand eine gleichnamige Wochenzeitschrift. Fiera im Sinne von Messe, Ausstellung zeigt den Anspruch Fracchias an, einerseits dem Leser einen Überblick über das aktuelle Angebot italienischer und ausländischer Literatur zu verschaffen; andererseits junge, aufstrebende und ältere, etablierte Schriftsteller über einen publizistisch ausgetragenen, regen Gedankenaustausch zusammenzuführen.3 1929 übernehmen Angioletti und Curzio Malaparte (Pseudonym von Kurt Erich Suckert 1898- 1957) die Direktion.4 Im selben Jahr verlagert die Redaktion ihren Sitz von Mailand nach Rom.5 Unter dem veränderten Titel L’Italia letteraria besteht das Periodikum bis 1936 fort. Als Fiera letteraria über zehn Jahre später im April 1946 unter Angiolettis Ägide 1 Angioletti debütiert als Schriftsteller 1927 mit einem Band von Gedichten und Erzählungen, La terra e l’avvenire. Für die 1927 veröffentlichte Sammlung von Mythen und phantastischen Geschichten, Il giorno del giudizio, erhält er 1928 den Premio Bagutta. 1932 interveniert er mit seinem Artikel Funzione della letteratura für Educazione fascista in eine Kontroverse über das Verhältnis zwischen Politik und nationaler Literatur. Sein Standpunkt lautet, weder Prosa noch Poesie dürften weltanschaulichen Propagandazwecken dienen. Eine staatliche Auftrags- und Tendenzkunst würde die Künstler je nach ihren politischen, moralischen und ästhetischen Idealen in rivalisierende Lager spalten, vgl. Ben-Ghiat 2001, 62 u. 233 (Fußnote 70). Nach weiteren Erzählungen und dem Roman Eclissi di luna (1943) wird ihm 1949 der Premio Strega für den Roman La memoria zuerkannt. Ab 1945 entwickelt und leitet er die Radiosendung L’Approdo. Unter diesem Titel publiziert Angioletti seit 1952 eine Zeitschrift. Daneben schreibt er Aufsätze und Artikel für diverse italienische Zeitschriften und Tageszeitungen wie La Stampa. Für Cinema (Nr. 86, 25. Januar 1940, 42-43) schildert Angioletti unter dem Titel Pubblico parigino. Un film romantico fra i colpi di cannone seine Eindrücke beim Besuch einer Pariser Vorstellung von Wuthering Heights (William Wyler 1938) nach Emily Jane Brontës gleichnamigem Roman, publiziert 1847 unter dem Pseudonym Ellis Bell. 2 Vgl. Umberto Fracchia (1889-1930) gründet 1912 die Zeitschrift Lirica. Von 1925 bis 1927 leitet er Fiera letteraria. 3 Vgl. Giovanni Titta Rosa, Gli anni milanesi della Fiera letteraria, Fiera letteraria, Nr. 3, 25. April 1946, 2. Titta Rosa (1891-1972) gehört zu Fracchias Mitarbeitern der ersten Stunde. Von 1925 bis 1935 ist er Chefredakteur der Zeitschrift. 4 An seine Wiederbegegnung mit Angioletti 1928 erinnert sich Carlo Emilio Gadda, in: Lo rividi direttore alla Fiera, Fiera letteraria, Nr. 33, 2. September 1951, 3. 5 Laut Titta Rosa (Gli anni milanesi della Fiera Letteraria, Fiera letteraria, Nr. 3, 25. April 1946, 2) habe der Staat gedroht, das Periodikum zu verbieten, doch der Umzug der Redaktion von Mailand nach Rom sei primär finanziell motiviert gewesen. Fracchia habe von einem ungenannten faschistischen Parteifunktionär die Zusage erhalten, am neuen Redaktionssitz unter einem neuen Titel für die Überwindung der Geldnöte Sorge zu tragen. 43 wiedererscheint6, begründet der Schriftsteller und Journalist das Motiv für seine Initiative in dem Leitartikel Dal fanatismo alla libertà im Rekurs auf Goethe. Der Dichter erfülle eine patriotische Pflicht, wenn er seine Mitbürger aufkläre, ihr ästhetisches Empfinden schule. Nicht mehr Jung und Alt, sondern Volk und Schriftsteller müssten Eintracht üben, um einem möglichen Rückfall in den Fanatismus vorzubeugen. Unübersehbar ist Angiolettis idealistisches, klassizistisches Literatur- und Kunstverständnis. Wiederholt betont er die ethisch-erzieherische Aufgabe der von ihm verehrten Lyrik.7 Neben Berichten, Essays, Rezensionen, Porträts über die zeitgenössische Prosa und Poesie kommen gelegentlich kurze Erzählungen und Gedichte zum Abdruck. Die nationale Belletristik steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Außerdem findet die amerikanische Prosa Beachtung, worauf gesondert eingegangen wird. Unregelmäßig werden in Länder- und Themenschwerpunkten Werke und Autoren der europäischen und sowjetischen Dichtung vorgestellt. 1946-47 engagiert sich die Zeitschrift für ein Bündnis europäischer Intellektueller, um einen erneuten Hass unter den Völkern zu verhindern. Italien und nicht minder Deutschland tragen hierbei besondere Verantwortung, da das Hegemoniestreben ihrer Führer und der ihnen skrupellos dienstbereiten Volksmassen unzählige menschliche Opfer hervorgebracht, Europa in Schutt und Asche gelegt hat. Jeglichem neuaufkommenden Chauvinismus gegenüber gilt die Devise: Wehret den Anfängen! Angiolettis 1947 ausgesprochener Invito agli intellettuali d’Europa kommt einem Appell gleich, eine kontinentale, übernationale Republik des Geistes zu konstituieren: „Il nemico d’Europa è […] l’orgoglio delle nazioni; e la sola salvezza è nella parità. Russi, inglesi, tedeschi, francesi: quale sale il popolo eletto? Nessuno. Questa deve essere la grande novità che porta con se l’Europa. Nessuno è più grande degli altri, nessuno ha diritto di dominare sugli altri. Possono dirle per primi gli italiani, che avevano commesso l’errore di credere ciecamente in un primato, e si erano, in parte almeno, tanto infatuati da sognare imperi, grandezze e glorie senza fine“.8 6 Von Nr. 1, 11. April 1946 bis Nr. 16, 25. Juli 1947 steht Angioletti ein Comitato di Direzione zur Seite, dem Corrado Alvaro, Emilio Cecchi, Gianfranco Contini, Gabriele Pepe und Giuseppe Ungaretti angehören. 7 Angioletti weist der Poesie die Aufgabe zu, in einer säkularisierten, modernen Gesellschaft den Umschlag in die Barbarei zu verhindern: „se il nostro secolo parve destinato a ritrovare nella poesia la purezza e nei sentimenti la verità; a fermare le apparenze del sogno, a farsi interprete della solitudine umana, della pena di vivere, e nello stesso tempo ad esaltare l’innocenza della materia, la felicità dell’immagine, a cercare analogie, armonie commozioni segrete nell’umile e nello sgraziato: se a tutto questo parve destinato nostro secolo, quasi a compenso della sanguinosa, mortale esperienza cui lo trascinavano l’intolleranza, il fanatismo e una moralità provvisoria, allora l’artista non poteva tradire se stesso prendendo altro cammino“, Giovanni Battista Angioletti, Dal fanatismo alla libertà, Fiera letteraria, Nr. 1, 11. April 1946, 1. 8 Giovanni Battista Angioletti, Invito agli intellettuali d’Europa, Fiera letteraria, Nr. 1, 2. Januar 1947, 2. 44 Intellektuelle gehören Angioletti zufolge zwar zum Volk, heben sich von diesem jedoch durch ihre hohe Bildung und vorbildliche Sittlichkeit ab. Im Unterschied zu den Politikern, welche die Gefolgschaft der Masse für flüchtige, profane, materielle Interessen benötigen, wendet sich der Künstler und Philosoph an den Einzelnen, gibt ihm Antworten auf seine spirituelle Sinnsuche und weist ihm Auswege aus existentiellen Nöten: „Compito dei politici è di operare per la folla, per i molti: ma l’artista e il filosofo sono chiamati ad operare per gli uomini, rivelando ad ognuno le naturali attitudine, infondendo ad ognuno il coraggio di vivere, liberando ognuno dalla paura di ‘essere’ e dall’oscuro senso di colpa che porta con sè l’esistenza“.9 Ohne eigennützige Interessen zu verfolgen, sich entweder zu bereichern oder herrschen zu wollen, sind Künstler und Philosophen prädestiniert, die Idee eines friedliebenden und freiheitlichen Europa zu verbreiten. Nach einer beinahe zwanzig Jahre währenden Diktatur geht es Angioletti mit seiner Initiative um die Reintegration Italiens in die Völkergemeinschaft: „La Fiera vuol [...] essere la voce dell’Italia in Europa, e vuol portare in Italia la voce delle nazioni europee“.10 Corrado Alvaro (1895-1956) konstatiert Mitte 1946, Italien sei weltweit verhasst, insbesondere unter den Menschen ehemals besetzter Länder wie Albanien und Abessinien. Er versteigt sich zu der larmoyanten, den Holocaust verharmlosenden Einschätzung: „gli ebrei del mondo oggi siamo noi“.11 Die meisten Artikel sind entsprechend dem Untertitel Settimanale delle lettere, delle arti e delle scienze12 vorrangig der Literatur, in zweiter Linie Malerei, Bildhauerei, Musik, Philosophie, Psychoanalyse, Theater und ausnahmsweise dem Radio gewidmet.13 Über den Film schreiben 1946 und 1947 einmalig oder in loser Folge Michelangelo Antonioni14, Guido Aristarco15 (bis 1948), André Bazin, Massimo Puccini16, sein Bruder Gianni Puccini17 und 9 Ebd., 1. 10 Giovanni Battista Angioletti, Il nostro impegno, Fiera letteraria, Nr. 38, 26. Dezember 1946, 1. 11 Corrado Alvaro, L’Italia sola contro l’odio straniero, Fiera letteraria, Nr. 14, 11. Juli 1946, 1. 12 Ab Nr. 2, 9. Januar 1947. 13 Den interdisziplinären Anspruch lösen beispielsweise folgende Artikel ein: Pitture di Jean Miro, Nr. 6, 6. Februar 1947, 5; Enrico Gallupi, Renato Guttuso alla [Gallerie] ‘Palma’, Nr. 46, 6. November 1947, 5; Ugo Spirito, L’attualità del materialismo storico nella luce del pensiero italiano, Nr. 16, 17. April 1947, 1-2; Jean Paul Sartre risponde alle accuse della Pravda, Nr. 16, 17. April 1947, 2. Eine Ausgabe (Nr. 16, 25. Juli 1946) enthält Artikel zur Psychoanalyse, darunter Opinioni di due narratori von Alberto Moravia und Guido Piovene. 14 Vgl. Michelangelo