Ute Sonnleitner

Von in die Welt – Grazer „Nachtigallen“ und deren Verortungen

Darstellenden Künstlerinnen und Künstler1 des 19. Jahrhunderts bewegten sich in einem ambivalenten Spektrum verschiedener Selbst-/Wahrnehmungen. Ihnen kam einerseits immense Bewunderung zu: Die Gastauftritte berühmter Stars wurden be- jubelt. Andererseits schlug ihnen massive Ablehnung entgegen: Der „unstete“ Le- bensstil wurde nicht gutgeheißen, immer wieder wurden Verdächtigungen laut, die Künstlerinnen und Künstler in die Nähe von Kriminalität rückten. Im Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern, in deren Hofierung und Diffamierung wird das Kom- plexe Wechselspiel diverser Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, Klasse, Eth- nizität Religion – um nur einige wenige zu nennen – offenkundig. Die folgende Un- tersuchung rückt den Faktor Geschlecht in den Mittelpunkt der Betrachtungen, wobei die Bedeutung von „Bewegungen“ im künstlerischen Lebenslauf besondere Berück- sichtigung erfahren.2 Im vorliegenden Text werden darstellende Künstlerinnen und Künstler und deren Arbeitsumfeld in Graz in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert, wobei der Schwerpunkt der Quellenanalyse auf die Jahre 1860 und 1870 gelegt wird: aus der Zusammenschau diverser Theaterkritiken der Tageszeitung „Tagespost“ sowie zweier Autobiografien werden Muster der Selbst-/Verortung abgeleitet und hinterfragt.

Theaterraum – Theaterzeit

Theater bildete im 19. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht ein bedeutsames Element gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Es war – unabhängig von Zuschreibungen aus gegenwärtiger Perspektive, die ein „bildungsbürgerlich“ gefärbtes Bild des Theaters in die Vergangenheit projizieren – das zentrale Medium für Unterhaltung.3 Zahllose neue Theatergebäude entstanden, wurde kein eigenständiges Theaterhaus etabliert, kam es dennoch vielerorts zur Adaptierung von Räumlichkeiten, die teils in der Form

147 von „Mehrzweckräumen“ genutzt wurden. So auch in der Steiermark, wo in nahezu jeder Ortschaft Auftrittsmöglichkeiten gegeben waren.4 Bespielt wurden diese Büh- nen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von wandernden Theater- und Unterhal- tungs-Truppen. Fixe Ensembles, die – mit Ausnahme der üblichen Sommerpausen5 – das ganze Jahr über spielten, bildeten in diesem System die Ausnahmen.6 Bereits an dieser Stelle wird somit offenkundig, welch große Bedeutung Bewegung(en) im Umfeld des Theaters einnahmen. Mobilitäten stehen auch im Zentrum des Interes- ses der folgenden Ausführungen, obwohl, so paradox dies im ersten Augenblick auch erscheinen mag, mit Graz und seinen Theatern einer jener Orte besondere Aufmerk- samkeit erfahren wird, die im 19. Jahrhundert über ein stehendes Theater verfügten.7 In Graz existierten mit den Bühnen für Schauspiel und Oper an wechselnden Orten „große Häuser“, die durchgehend bespielt wurden – daneben waren zahllose weitere (Vorstadt-)Bühnen vorhanden, die wechselnden Kunstgattungen und deren Exponen- tinnen und Exponenten Auftrittsmöglichkeit boten.8 Die Geschichte der Theaterhäu- ser wurde an anderer Stelle bereits mehrfach dargestellt9 und soll hier nicht nochmals referiert werden, zumal das Wissen um die Genese der Räumlichkeiten nur indirekt zum Verständnis des gewählten Fokus beitragen würde. Neben der Unterhaltung lässt sich eine Reihe weiterer Bedeutungsinhalte dem Theater zuschreiben. Politik und Herrschaft fanden deutlichen Niederschlag, Macht- demonstrationen wurden im Theaterraum greifbar. Gerade in Graz entwickelten sich Theater als Orte der Nationalismen – dies war etwa 1860 deutlich bemerkbar: Ein Theaterskandal entwickelte sich entlang der Frage, ob an einem bestimmten Datum die „nichtswürdige“, „welsche Traviata“ zur Aufführung gelangen dürfe.10 Theater war Ort der Repräsentation, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bil- deten sich beispielhaft im Theaterraum ab.11 Die Begeisterung für das Medium Theater und seine gesellschaftliche Bedeutung spiegeln sich auch in der Aufmerksamkeit wider, die ihm in anderen Medien geschenkt wurde: die Berichterstattung über das Geschehen in und rund um das Theater war ausgeprägt; neben „klassischen“ Theaterkritiken und Berichten zu künstlerischen und operativen Fragestellungen finden sind auch zahlreiche Darstellungen, die Künstlerin- nen- und Künstlerpersönlichkeiten in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Klatsch und Tratsch und Society-Berichterstattung waren auch im 19. Jahrhundert bereits wohlbekannt, wohingegen Formate wie Interviews oder auch Home-Storys erst im be- ginnenden 20. Jahrhundert Verbreitung fanden.12 Ergriffen Künstlerinnen und Künst- ler selbst das Wort, so erfolgte dies zumeist in Form von autobiografischen Texten beziehungsweise, in weit geringerem Ausmaß erhalten, da nicht zur Veröffentlichung gedacht, in Selbstzeugnissen wie Briefen oder Tagebüchern.13 Damit ist bereits die Frage von Quellen direkt angesprochen, wobei für den vorliegenden Text neben zweier Autobiografien, die als Beispielfälle ausgewählt wurden, in erster Linie die Berichter- stattung der Zeitung „Tagespost“ zur Analyse herangezogen wurde. Theaterzettel und Theateralmanache wurden genutzt, um das Bild zu komplettieren.14 Künstlerinnen und Künstler stellen damit eine jener Personengruppen dar, die quellentechnisch besonders gut greifbar ist. Diese Feststellung ist allerdings mit Ein- schränkungen zu versehen, die direkt an zentrale Überlegungen heranführen: Denn

148 das vielfältige erhaltene Material zeichnet keineswegs ein vollständiges Bild der Theaterlandschaft des 19. Jahrhunderts. Bestimmte Gruppen von Künstlerinnen und Künstlern erfuhren besondere Hervorhebung, während andere Persönlichkeiten nur kurze oder überhaupt keine Aufmerksamkeit genossen. Die Trennlinie bewegte sich deutlich entlang einer Reihe intersektional miteinander verwobener Differenzkatego- rien, wobei der Faktor Geschlecht in besonderem Maße hervorzuheben ist.15

Geschlecht auf der Bühne

Besonders überraschend mag im Zuge einer ersten Betrachtung die Tatsche erschei- nen, dass eine Umkehrung der sonst „üblichen“ Geschlechterverhältnisse gegeben war. Denn die wahren, alles überragenden Stars des Bühnengeschehens waren im 19. Jahrhundert Frauen. Den Status strahlender Lichtgestalten konnten nahezu aus- schließlich Künstlerinnen erringen. Sie genossen Ruhm und erzielten Aufmerksam- keit, die von Männern auf der Bühne kaum jemals erreicht wurde.16 Der besondere Status, der Frauen auf der Bühne zukam, stand auch in engem Zu- sammenhang mit der von ihnen ausgeübten Berufstätigkeit: Sie verdienten Geld, in- dem sie sich im Lichte der Öffentlichkeit präsentierten – und widersprachen damit in mehrfacher Hinsicht dem Idealbild bürgerlicher Geschlechterbilder des 19. Jahrhun- derts. Sie überschritten eindeutig die Sphären der ihnen zugeschriebenen Häuslich- keit und schritten im übertragenen wie im wörtlichen Sinne über eine Reihe weiterer Grenzen hinweg. Gerade die Vorstellung weiblicher Sesshaftigkeit wurde von Künst- lerinnen massiv herausgefordert und kann als einer der Hauptgründe dafür verstanden werden, weshalb Künstlerinnen und Künstler bis zum heutigen Zeitpunkt als außer- halb der gesellschaftlichen Ordnung Stehende wahrgenommen werden. Dies trifft auch auf Männer zu, die den Schritt auf die Bühne vollzogen: Gerade in Fragen der Stabilität und Sesshaftigkeit widersprachen auch sie dem gängigen Ideal. Andererseits war ein gewisses Maß an Reisetätigkeit durchaus vorgesehen. Gerade in jungen Jahren ermöglichte etwa das Beispiel wandernder Handwerker eine Anbin- dung an anerkannte Vorbilder beruflicher Bewegung. In jedem Fall setzten sich Männer wie Frauen, die auf der Bühne tätig waren, besonderer Beobachtung aus, was ihre Geschlechtlichkeit wie auch ihre Körperlich- keit betraf.17 „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ wurden als unveränderlich wahrge- nommen, als Referenzgrößen, die keinerlei weiterer Erklärung bedurften. Ein Sänger wurde etwa besonders gelobt, weil er in den Partien des Stücks „Ernani“ seinen Mann gestellt habe.18 Ein „männlich starkes Organ“ bedurfte ebensowenig wie die „mütterli- che Wärme“ näherer Ausführungen.19 Einem der Direktoren, die auch als Schauspieler tätig waren, wurde „imponierende Männlichkeit“ attestiert – jedoch nicht näher aus- geführt, was darunter zu verstehen sei.20 Erfolge und Misserfolge auf der Bühne waren stark davon abhängig, ob das Er- scheinungsbild und das Auftreten einer Person mit dem zugeteilten Rollenfach über- einstimmten beziehungsweise jenen Vorstellungen entsprach, die Publikum wie auch Kritik damit in Zusammenhang brachten. Selbst wenn diese Passgenauigkeit nicht

149 bestand, war ein Wechsel des „Rollenfachs“ kaum möglich. Menschen wurden be- stimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben, die mit dem Äußeren korrespondier- ten. So wurde einer Sängerin bescheinigt, ihr fehle für die Traviata die „imponieren- de Persönlichkeit, die Kraft des Organs und das zündende Feuer“.21 Herrn Lewinsky wurden „geistige Kraft, das Göttlich im Menschen“ als entscheidende Aspekte seines Erfolges zugeschrieben.22 Beispielhaft kann auch die Kritik einer Aufführung im Jahr 1870 angeführt werden, in der formuliert wurde: „Wenn die tumultuarischen Scenen stellenweise zur Parodie wurden und im Gewande der Senatoren Leute steckten, die nun einmal ihr dazu nicht geborenes Wesen zu maskieren nicht im Stande waren, so ist das ein Erbfehler der Aufführung aller großen Tragödien auf Provinzbühnen, den man hinnehmen muß, will man derlei Stücke überhaupt ermöglichen.“23 Die übersteigerte Wahrnehmung und Deutung von Körperlichkeit wird im Fall eines Debuts deutlich – der Kritiker diskutierte die Auftritte des Künstlers folgen- dermaßen: Herr Haverström vom Stadttheater Lübeck zähle zu den von „Mutter Natur Bevorzugten“. Eine athletische Figur und ein wohlklingendes Organ wurden ihm zugesprochen, was ihn wohl ermächtige, auch abseits der Bühne Helden darzu- stellen. „Vorzüge, die bei der gegenwärtigen Heldennoth für den geschätzten Gast begreiflicherweise einnehmen mussten.“24 Allerdings störten „fremdartige“ Sitten der Stimmführung und ihm fehle der „edlere Ausdruck der Physiognomie“ sowie auf- grund der „überkräftige(n) Gestalt“ die „Gewandtheit des lebensfrohen Chevaliers“.25 Die Stimme des vom Gast zum Heldenspieler fortentwickelten Herrn Haverström wurde als echtes Problem empfunden, da sie zu geziert wirke und daher dem Äußeren entgegenstehe – Männlicheres sei gefordert.26 Scheinbare Ausnahmen der Übereinstimmung von Physiognomie und Rollenfach riefen Aufsehen hervor. Das Auftreten Hedwig Raabes (1844 Magdeburg – 1905 Ber- lin) sorgte für enormes Echo, da ihr äußeres Erscheinungsbild in keiner Weise den Erfolg zu rechtfertigen schien, den sie genoss: Sie bediente nicht die Schönheitsideale der Zeit, wurde als durchschnittlich beschrieben. Man(n) erklärte sich die Begeiste- rung aus ihrem darstellerischen Talent und der „persönlichen Liebenswürdigkeit“ der Künstlerin – Charaktereigenschaften wurden also als Voraussetzung von Künstlerin- nen- und Künstlerschaft begriffen, Talent oder Ausbildung hingegen fanden keinerlei Erwähnung. „Frl. Raabe ist eine Specialität in ihrem Fache“, lautete die dementspre- chende Bilanz.27 Gleichzeitig dürfte aber sehr wohl die Körperlichkeit der Schauspie- lerin von großer Bedeutung für ihre positive Aufnahme gewesen sein. Die Verkör- perung der Rolle des Lorle fand aufgrund der Darstellung als „reizendes Naturkind mit dem ‚marienhaften‘ Wesen“ lebhafte Zustimmung der Kritik.28 Damit waren aber auch explizite Frauen- und Körperbilder verknüpft. Und tatsächlich wurde in einer der Folgekritiken die Darstellung der Jungfräulichkeit besonders betont.29 Eine „schöne Frauenseele“ wurde mit „kindlich-reinem Gemüth“ gleichgesetzt.30 Raabe hatte außerordentlich großen Erfolg; ihre letzte Vorstellung in Graz sorgte für Begeisterungsstürme: „Seit Jahren hat in Graz kein Gast so glänzende Erfolge errungen und sich die Sympathie des Publikums in so hohem Grade errungen, als die – kleine, herzige Raabe.“31 Ihr Weg wurde auch nach ihrer Abreise aufmerksam verfolgt – der Direktor sah sich veranlasst, in der Zeitung die glückliche Ankunft in

150 zu verkünden, da er allem Anschein nach mit Nachfragen zu ihrem Befinden regelrecht überschwemmt wurde.32 Die enge Verbindung von Geschlecht, Körperlichkeit und damit verknüpften Zu- schreibungen von Charaktereigenschaften wird in der Wahrnehmung des „Fräulein Raabe“ offenkundig. Neben dem Faktor Geschlecht spielten in der Wahrnehmung von Künstlerinnen- und Künstlern auch weitere Differenzkategorien eine nicht zu unterschätzende Rolle: Von einem jungen, zum Probespiel angetretenen Schauspieler wurde berichtet, dass er sich „vorläufig nur durch große Jugendlichkeit“ auszeichne.33 Das schon angesproche- ne „Fräulein Raabe“ erwarb sich besondere Zuneigung, da sie als besonders „deutsch“ interpretiert wurde: „Das höchste Verdienst sehen wir darin, daß die Künstlerin eine Rolle, welche durch und durch französischen Geist atmet, sich so zurecht gelegt hat, daß sie diesen Geist festhaltend, dennoch ihre ganze Darstellung deutsche Anschau- ung und deutschen Verhältnissen näher gerückt.“34 Die politischen und zwischenstaat- lichen Auseinandersetzungen mit der Kulmination im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) fanden direkten Niederschlag in der Aufnahme von Stücken durch die Kritik. Dabei gilt es zu betonen, dass das Publikum lediglich zu einem geringen Teil diese Meinung geteilt haben dürfte.35 Die empörte Zurückweisung von zustimmenden Pub- likumsreaktionen auf als „nicht-deutsch“ wahrgenommene Darbietungen weist dezi- diert darauf hin, dass der Geschmack der Mehrheit der Bevölkerung ein anderer war als jener, der durch die liberal-deutschnational geprägte Theaterkritik vertreten wurde. Deren Ablehnung wurde umso vernichtender formliert. Der Ratschlag „Französi- sche Effectstücke“ wirkten nur auf ein primitives Publikum – Frau Hoffmann-Bau- meister solle die „Pariser Straßen-Tänzerinnen et Consortes“ aus ihrem Repertoire fernhalten, dann würde sie ein erfolgreicheres Gastspiel erleben, könnte kaum deutli- chere Formulierung erfahren haben.36 Neben der Bedeutung, die „Nation“ einnahm, darf auch die Wirkung anderer Differenzkategorien nicht unterschätzt werden: Das Publikum und seine soziale Zu- sammensetzung war, wie auch im vorangegangenen Zitat deutlich greifbar, wichti- ger Faktor gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Als im landschaftlichen Theater die Novität „An der blauen Donau“ zum Besten37 des vielbeschäftigten Schauspielers Martinelli gegeben wurde, kam es zu einer Teilung der Besucherinnen und Besucher: „Während die Gallerien [sic] Einzelnes lebhaft beklatschten, wies das übrige Publi- kum die Novität entschieden zurück. Diesen letzteren Geschmack teilen wir […]“38 Auch Herr Groß wählte zu seinem Besten ein Stück („Die Ritter des Nebels“), das in den Augen der Kritik keinerlei Gnade fand – von Teilen des Publikums aber sehr goutiert wurde: „Derlei Attentate auf den guten Geschmack des Publikums gewinnen auch dadurch nicht, dass sich das Galeriepublikum theilweise [sic!] ereifert Einzelnes desto lebhafter zu beklatschen, je mehr es zur entschiedensten Zurückweisung auffor- dert.“39 Die günstigeren Plätze auf der Galerie sorgten für eine Zweiteilung des Thea­ terhauses. Hier waren die ärmeren Bevölkerungskreise anzutreffen, denen kollektiv schlechter Geschmack und fehlendes Kunstverständnis attestiert wurden.40 (Klassen-)Zugehörigkeit und Herkunft waren auch für die Wahrnehmung und Klassifizierung der auf der Bühne Stehenden bedeutsam. Über eine Debütantin wurde

151 berichtet: „Als Azucena im ‚Troubadour‘ versuchte sich gestern Frl. Lutterotti, eine Dame aus einer distinguirten [sic!] Familie in Linz, zum ersten Male auf einer Bühne und zwar mit äußerst günstigem, viel versprechendem Erfolg.“41 Das Ansehen der Familie und damit die soziale Herkunft war von entscheidender Bedeutung in der Wahrnehmung von Künstlerinnen und Künstlern – insbesondere Anfängerinnen und Anfängern wurde große Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie, wie „Frl. Elisabeth Weinbrenner, Schülerin des Roderich Anschütz“ in „hiesigen distinguierten Kreisen viele Verwandte“ besaß. Das Talent wurde unter ‚ferner liefen‘ verbucht: „neben der hübschen Persönlichkeit“ besitze sie „manche günstige Eigenschaften einer Kunstjün- gerin“ lautete der lapidare Vermerk.42

Theater-/Schulen in Graz

Neben der sozialen, nationalen, geschlechtlichen Verortung nahm somit auch die lo- kale „Abstammung“ eine Schlüsselfunktion in den Zuschreibungen ein, die von und über darstellende Künstlerinnen und Künstler ausgesprochen wurden. Die Grazer Bühnen waren oftmals Startpunkte von Bühnenlaufbahnen „heimischer“ (steirischer/ Grazer) Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Sängerinnen und Sänger. Einige der Frauen und Männer erarbeiteten sich äußerst erfolgreiche Karrieren; in Einzelfäl- len gelang auch der internationale Durchbruch: die Sängerin Amalie Materna (1844 St. Georgen an der Stiefing – 1918 Wien) erlebte große Erfolge an der Metropolitan Opera und galt als eine renommierte Wagner-Interpretin. Die ersten Schritte auf der Bühne hatte sie in Graz unternommen und hier auch ihre Ausbildung erhalten. Ebenso Marie Geistinger (1836 Graz – 1903 ), die als Schauspielerin im deutsch- sprachigen Raum reüssieren konnte und die auf sieben Gastspielreisen auch drei Jahre in den USA verbrachte. Zahlreiche Angebote für Ausbildung in künstlerischen Fächern bestanden, diese bewegten sich – mit wenigen Ausnahmen – im informellen Sektor. Institutionalisierte Formen von Gesangs- und/oder Schauspielunterricht begannen sich erst allmählich zu entwickeln.43 Gerade dies stellte eine wichtige Entscheidungsgrundlage vor allem für viele Frauen dar, die sich dem Theater als Verdienstort zuwandten. Die mangelnden Chancen, die für Frauen im 19. Jahrhundert bestanden qualifizierte Ausbildungen zu erlangen und damit in weiterer Folge einen gut bezahlten Beruf ergreifen zu können, wurden bereits vielfach diskutiert.44 Schauspielerin zu sein, eröffnete Frauen wenigs- tens die theoretische Chance auch ohne formale berufliche Qualifikation einen erfolg- reichen beruflichen Werdegang zu durchleben. Aus der Perspektive des Publikums wurde Künstlerinnen und Künstlern Abend für Abend Applaus gespendet; (scheinbar) bestanden gute Möglichkeiten, einen regelmäßigen Verdienst zu erwerben. Die viel- fach bestehenden Schwierigkeiten, mit denen Künstlerinnen und Künstler konfron- tiert waren, blieben zumeist hinter den Kulissen.45 Dennoch waren oftmals große Bedenken gegeben – vor allem wenn sogenann- te „Töchter aus gutem Haus“ den Schauspielerinnen-Beruf für sich entdeckten. Es schickte sich in keinem Fall zur Bühne zu gehen; eine Schauspielerin in der Familie

152 stellte eine Schande dar.46 Dies begann sich erst im 20. Jahrhundert allmählich zu ändern. Doch selbst in den 1920er-Jahren wurden entsprechende Entscheidungen jun- ger Frauen intensiv diskutiert. So erklärte Lorle Schinnerer-Kamlers (1906 Istanbul – 2003 Wien) Bruder: „Eine Kamler darf nicht zum Theater gehen!“47 Schauspielerinnen wurden tendenziell in die Nähe der Prostitution gerückt: die Präsentation des Körpers wurde als grundsätzliche Bereitschaft gedeutet „sich zu ver- kaufen“. Mütter scheinen große Ängste ausgestanden zu haben – die Töchter sollten unter allen Umständen verheiratet werden und keinesfalls eine Bühnenlaufbahn ein- schlagen.48 In Zeitungen fanden intensive Diskussionen darüber statt, wie kleine Kin- der entsprechend zu erziehen wären, um „Hirngespinste“ zum Theater zu gehen mög- lichst zu vermeiden.49 Gleichzeitig wurden aber bereits kleine Kinder an das Theater als Kunstform herangeführt: Puppenspiele, Kinderaufführungen, Haustheater waren selbstverständliche Bestandteile groß-/bürgerlichen und adeligen Alltags. Wie auch in anderen Zusammenhängen lagen ebenso in der Frage des Theaters Ablehnung und Faszination offenkundig nahe beieinander. Graz bot im 19. Jahrhundert ein vielfältiges Angebot an informellen Schulungen. Vornehmlich waren es Einzelpersonen, die Unterricht erteilten. Dies stellte wiede­ rum für viele Frauen eine Möglichkeit dar, ein Einkommen zu erwirtschaften. Rela- tiv wenige männliche Schauspiel- oder auch Gesangslehrer sind in der öffentlichen Berichterstattung greifbar. Dagegen finden sich in den Tageszeitungen zahllose An- noncen, die Angebote für Unterricht in den verschiedensten Fachrichtungen kommu- nizierten. Im Jänner 1860 wurde beispielsweise folgender Text veröffentlicht: „Eine ästhetisch und wissenschaftlich gebildete Frau wünscht jungen Damen in Declama- tion und Mimik Unterricht zu ertheilen.“50 In den 1880er-Jahren existierte „Caroline Bauer’s Opernschule“ am Mehlplatz.51 Bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges hinein ist der Bestand der Opern- und Schauspielschule Mayr-Peyrimsky nachweisbar. In de- ren Theatersaal fanden Benefiz-Veranstaltungen mit Märchendarbietungen für Kinder und Schauspielaufführungen statt.52 Zumeist handelte es sich um Künstlerinnen, die den Unterricht als Zusatzeinkom- men nutzten oder nach ihrem – oftmals erzwungenen – Abgang von der Bühne sol- chermaßen einen Erwerb für die Pension erwirtschafteten. Graz erwies sich einmal mehr als Anziehungspunkt für Menschen, die nach der Beendigung ihrer Berufskarri- ere einen kostengünstigen, aber gleichzeitig auch attraktiven Wohnort suchten. Die Ausbildung verlief zumeist parallel zu ersten Auftrittsversuchen. Standen jun- ge Künstlerinnen und Künstler aus Graz vor ihrem Debut, fand dies immer wieder besondere Hervorhebung in Ankündigungen und Kritiken. So etwa im März 1870, als eine „Elevin aus Frau Dorville’s Schule“ eine „bedeutende Kinderrolle“ übernahm.53 Frau Dorville war selbst Schauspielerin und im Fach der „komischen Alten“ bekannt.54 Die Schauspielerinnen und Schauspieler gewannen leichter Anerkennung und Zustim- mung, wenn sie aus Graz und den umgebenden Regionen stammten beziehungsweise hier aufgewachsen waren.

153 Bewegungen auf der Bühne

Mit Debütantinnen und Debütanten sowie Lehrerinnen und Lehrern waren Beginn und Ende von Karrierewegen in Graz oftmals besprochene Themen. Trotz des viel- fach beschworenen Postulats der Sesshaftigkeit war ein Verbleib von Künstlerinnen und Künstlern jedoch keine Option im Sinne einer zu zeichnenden Erfolgsgeschichte. Das Ansehen darstellender Künstlerinnen und Künstler bemaß sich an den Erfolgen, die sie in anderen Weltregionen errangen. Jene, die dauerhaft vor Ort verblieben oder über viele Jahre über ein fixes Engagement in Schauspiel oder Oper verfügten, waren durchaus geschätzt und beliebt. Mit Überschwang und Begeisterung wurden sie aller- dings kaum bedacht. Diese waren für die Auftritte von „Stars“ und „Diven“ vorbehal- ten. International anerkannte Künstlerinnen- und Künstlerpersönlichkeiten besuchten Graz immer wieder, um hier Gastauftritte zu absolvieren: Als besonders herausragen- des Beispiel sei auf Sarah Bernhardt (1844–1923 Paris) verwiesen. Eine französische Schauspielerin, die als berühmteste Künstlerin ihrer Zeit galt und die 1882 mehrfach in Graz auf der Bühne stand.55 Zwar war der Abschluss eines dauerhaften Vertrages ab einer gewissen Altersgren- ze für darstellende Künstlerinnen und Künstler Voraussetzung dafür, gesellschaft- liche Anerkennung erlangen zu können: dies sollte jedoch an einem renommierten Haus erfolgen. In der Grazer Eigenwahrnehmung waren die hiesigen Bühnen hierfür nicht ausreichend. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts definierte sich „Österreich“ stark über den Gedanken künstlerischer Alleinstellung – mit Wien als Zentrum, wobei insbesondere im Bereich des Theaters das Burgtheater bereits herausragende Bedeutung erlangt hatte.56 Graz wurde als Ort solider Kunstausübung wahrgenommen beziehungsweise als Ausbildungsstätte, als Ausgangspunkt definiert. Die Bühnen bildeten einen Knotenpunkt im internationalen Theaternetzwerk, waren aber nicht zentrale Orte des Theatergeschehens. Bereits 1863 wurde darauf hingewiesen, dass Graz „ein ganz anständiges Contin- gent für die deutsche Schaubühne“ stellte. Insbesondere die „jungen Damen“ wurden hierbei als Erfolgsträgerinnen erwähnt. Im Beispielfall erfolgte ein Hinweis auf die Sängerin Anna Weik, die in Graz debütiert hatte und in weiterer Folge in Marburg, Pest, Olmütz und Linz in zahlreichen ersten Partien zum Liebling des Publikums avan- cierte.57 Die Künstlerinnen und Künstler firmierten als Export-Artikel. Grundsätzlich ist eine gewisse Verdinglichung feststellbar: Nicht die Persönlichkeit stand im Zent- rum, sondern der „Exportschlager“. Bei der Bezeichnung von Sängerinnen als „Nach- tigallen“ – und damit implizit als „Singvögelchen“ – wird dies besonders deutlich.58 Der Erfolg – künstlerisch wie auch pekuniär – rechtfertigte Bewegungen, insbe- sondere wenn „unsere“ (bereits auf Grazer Bühnen aufgetretenen) Künstlerinnen und Künstler Erfolge feierten. Berichte über Gastspielreisen fanden immer wieder Ein- gang in die Kunstnachrichten:

„Frau Haizinger enthusiasmierte die Breslauer […] Das Publikum überschütte- te den gefeierten Gast mit allen nur erdenklichen Zeichen des Beifalls und der herzlichen Theilnahme.“59

154 Einerseits erfüllt die Karriere „gebürtiger“ Grazerinnen und Grazer mit Stolz, an- dererseits konnte aber im Gegenzug auch die Herkunft aus anderen Regionen für Qualität bürgen, stellte eine Werbebotschaft für Gastspielreisende wie auch für neu zu Engagierende dar. Erfolg von „außen“ bildete – unter Berücksichtigung der zuvor ausgeführten nationalistischen Strömungen durchaus überraschend – in verschiedener Hinsicht eine Empfehlung: Neben den „Stars“, die für begeisterte Reaktionen sorgten, konnten durchaus, wenn etwa ein Stück anderswo einen Erfolg dargestellt hatte, mit der entsprechenden Werbung in Grazer Erstaufführungen volle Häuser erzielt wer- den.60 Neben dem Argument der Qualitätsversprechung durch anderswo erbrachte Leistungen wurde auch das Element der Abwechslung herangezogen, um den Ein- satz von immer neuen Kräften im Theaterwesen zu argumentieren.61 Die „Exotik des Fremden“ und das Versprechen der Novität verkaufte sich besonders gut, wenn Titel beigefügt werden konnten, die auf adelige Fürsprache schließen ließen, so etwa bei einer Truppe von Akrobaten aus Marokko „unter der Leitung des Kas Mustafa vom kaiserlichen Circus in Paris“.62 Auch „kaiserlich-russische Hofschauspielerin“ wie im Falle Hedwig Raabes galt als Qualitätskriterium.63 Die Gastspielenden konnten es sich erlauben, hohe Honorare zu verlangen – was wiederum auf das Publikum mit erhöhten Preisen umgewälzt wurde.64 Hatte sich jemand auf der Bühne bewährt, so erwies sich das Publikum als treu, die Erinnerung an beliebte Kräfte blieb lange und stark aufrecht. Bei einem Auftritt des „Fräulein Sternau“, die als Localsängerin in Graz reüssiert hatte, war das Theater bei ihrer Rückkehr zu einem Gastauftritt so überfüllt, dass Gäste ihre „Sperrsitze“ nicht mehr erreichten.65 Verließen Künstlerinnen und Künstler Graz, wurde ihnen durchaus nachgetrau- ert beziehungsweise mit gewissem Stolz vermerkt, welch „glänzende“ Engagements abgeschlossen werden konnten.66 Die Schauspielerinnen und Schauspieler wiederum nutzten die Ankündigung fortzugehen als Möglichkeit, ihre Positionen zu verbessern, neue Verträge zu ihren Gunsten abzuschließen.67 Mobilitäten fanden aber keineswegs ungeteilte Zustimmung. Neben der grund- sätzlichen tendenziellen Ablehnung gegenüber Instabilität wurde auch in Hinblick auf künstlerische Belange Kritik an den Bewegungen laut. Mangelnde Kontinuität wurde angesprochen: „Die jugendlichen Liebhaber bilden bei unserem Theater fortwährend einen starken Import-Artikel, und wir müßten schon ein bedeutendes Lager davon aufzuweisen haben, wenn nicht die meisten transito behandelt worden wären.“68 Die Diskussionen zum Thema waren vielfältig und rissen über Jahrzehnte hin- weg nicht ab – wie aber positionierten sich die Betroffenen selbst? Welche Bedeutung hatte Graz als Kunstort für sie? Anhand der biografischen Aufzeichnungen zweier in verschiedener Weise mit Graz verbundener Schauspielerinnen und Schauspieler soll eine abschließende, resümierende Betrachtung erfolgen.

155 Zum Abschluss: Selbstverortungen – eine Künstlerin, ein Künstler und Graz

Auch in der Frage biografischer Aufzeichnungen ist eine eindeutige Dichotomie ent- lang der Linie „Geschlecht“ feststellbar. Deutlich weniger Männer veröffentlichten Er- zählungen zu ihrem Leben. Dies dürfte dem Startum geschuldet sein, das, wie bereits geschildert, eindeutige Aufmerksamkeitsmuster zugunsten von Schauspielerinnen und Sängerinnen erkennen lässt. Dies bewirkte auch, dass Schauspieler und Künstler kaum über ihr Leben informierten: Die Tendenz Erfolgsgeschichten zu erzählen, ge- sellschaftlich anerkannte Aufstiegsszenarien zu schildern, hätte nicht erfüllt werden können.69 Berichteten Künstler in zur Veröffentlichung gedachten Selbstzeugnissen über sich, so waren sie zumeist in besonderem Maße anerkannt beziehungsweise ge- nerierten aus anderen – meist nicht-künstlerischen – Feldern das Gefühl spezifischer Sonderstellung. Rudolf Tyrolt (1848 Rottenmann – 1929 Gutenstein) etwa war stu- dierter Jurist. Der erlernte bürgerliche Beruf verlieh Legitimation, die sich über die Verwendung des Doktor-Titels, die Zeit seines Lebens erfolgte, manifestierte. Tyrolts Schilderungen des Grazer Theaterwesens sind auch deutlich von jener – für ihn und sein Selbstverständnis wohl entscheidend wichtigen – Erfahrung des Studentenda- seins bestimmt. Er war Mitglied einer Burschenschaft und arbeitete zudem als Kanz- leihilfe für einen Grazer Anwalt.70 Die geografische Nähe der (alten) Universität zum landschaftlichen Theater wird als Grund für die Hinwendung zum Theater geschil- dert.71 Der stetige Kontakt zu Schauspielerinnen und Schauspielern habe demzufolge anziehend gewirkt und der künstlerischen Begabung zum Durchbruch verholfen: Hier wurde der Zwang „echten“ Künstlertums, der trotz abgeschlossener, sehr guter Aus- bildung und ablehnender Haltung der besorgten Eltern auf die Bühne führte, als ent- scheidendes Kriterium vermerkt. Bereits das erste Auftreten wurde dementsprechend als Erfolg beschrieben, der auf Können und Selbstsicherheit beruhte: „Stürmisch emp- fangen hatte ich bald meine Ruhe gewonnen und mit übermütiger Laune spielte ich die komischen Hauptrollen […].“72 Männern wurde Künstlertum zuerkannt, wohingegen Frauen in ihrem Künstlerinnenwesen stets Hinterfragung erfuhren.73 Schauspielerin oder Sängerin zu sein, fand gerade noch Akzeptanz, wurde doch hier – insbesondere im Verständnis des 19. Jahrhunderts – nicht „selbst geschaffen“ sondern „lediglich“ nachempfunden. Tilly Wedekind (1886 Graz – 1970 München) hatte noch während ihrer Schulzeit in Graz am Theater debütiert und beschreibt das Wohlwollen, das dem „Grazer Kind“ entgegengebracht wurde. Dies stand wohl in engem Zusammenhang mit der „gut- bürgerlichen“ Herkunft der jungen Debütantin, die bei ihrem ersten Auftreten ihre „vollzählige Familie“ und die Kunden ihres Vaters samt deren Familien im Publikum versammelt wusste.74 Wedekinds Vater, ein angesehener Weinhändler, unterstützte seine Tochter in dem Wunsch, Schauspielerin zu werden. Er war es, der sie zu einem ersten Vorstellungsgespräch mit Theaterdirektor Purschian vermittelte. Die Mutter hingegen hegte starke Befürchtungen ob der vermuteten Gefahren und lehnte den Be- rufswunsch ab. Als nach einjährigem Privatunterricht aber der erste Auftritt nahte, setzte auch sie alles daran, die Tochter in bestem Licht erscheinen zu lassen; sorgte etwa für perfekte Ausstattung bei den Kostümen.75 Den Entschluss, Schauspielerin

156 zu werden und dessen Begründung führte Wedekind in ihrer Autobiografie folgen- dermaßen aus: „Meine beiden älteren Schwestern, Dora und Paula, hatten, wie es üblich war, Sprachen und etwas Musik gelernt. Sie konnten Kuchen backen und präch- tige Hausarbeiten machen. Es wurde viel darüber geredet, wann und wen sie heiraten würden. Aber ich sagte: ‚Ich werde doch hier nicht herumsitzen und auf einen Mann warten! Ich will einen Beruf haben und selbst Geld verdienen‘.“76 Der Wunsch nach Selbstständigkeit, die Möglichkeit einen Beruf auszuüben standen bei ihr im Zentrum der Überlegungen. Beide, sowohl Tyrolt als auch Wedekind, erlebten ihr Debut in Graz – und gingen nach relativ kurzer, erster Erfolgsgeschichte hier an andere Häuser.77 Die Schilderun- gen zum Engagementswechsel in den Biografien sind kurz und bündig: Selbstver- ständlichkeiten benötigten keinerlei weitere Ausführungen. Die Verbindung zu Graz blieb bestehen, wobei das Theater eine wichtige Rolle hierbei einnahm:

„Auf unserer Rückreise fuhren wir über Graz […]. Und wir spielten in dem lieben alten Theater, in dem ich angefangen hatte! Aber die Grazer, die mich als Miranda und als Jessica kannten, denen all die holden Mädchengestalten von Shakespeare in Erinnerung waren, konnten sich gar nicht recht damit abfinden, daß ich jetzt als Lulu so viele Männer zur Strecke brachte. Eher verstanden sie mich als Helene im Kammersänger, aber es gab wohl auch da einige, die mich noch als sechzehnjährige Miss Coeurne in dem gleichen Stück gesehen hatten.“78

Mit ihrer Beschreibung sprach Wedekind einige wichtige Punkte an: das Wiederauf- treten des einstmals gefeierten „Grazer Kindes“ sorgte für Unverständnis. Die be- liebte Künstlerin hatte sich beziehungsweise ihr Rollenfach vollkommen verändert. Erinnerung und Erwartungshaltung fanden Erschütterung, das Anknüpfen an alte Er- folge war durch den Rollenbruch verstellt. Zudem stellte die Rolle der „Lulu“ mit ihrer Freizügigkeit eine veritable Herausforderung für die tendenziell stark konservativen Besucherinnen und Besucher der Grazer Theaterhäuser dar.79 Rudolf Tyrolt blieb seinem Fach treu – und konnte damit über Jahrzehnte hinweg auf das Grazer Publikum bauen. Er war und blieb der Grazer Debütant, der anderswo Erfolge gefeiert hatte und ob dieser Tatsache stets gerne wieder auf Grazer Bühnen gesehen wurde. Einmal mehr zeigt sich auch im Zusammenhang mit den Mobilitäten von Künst- lerinnen und Künstlern die Bedeutung von sozialer Anerkennung (pekuniärer Erfolg, gesellschaftlich anerkanntes Verhalten etc.) für die Wahrnehmung von Menschen. Gesellschaftlich erwünschte Mobilität kann in diesem Zusammenhang hohe Aner- kennung genießen.

157 1 Im vorliegenden Text werden Schauspielerin- 355–357; Tagespost, Morgenblatt, 7.5.1916, nen und Schauspieler sowie Sängerinnen und o. S.; Haide-Marie BRANDT: Die Hol­torf- Sänger unter diesem Begriff subsumiert. Truppe. Wesen und Wirken einer Wanderbüh- 2 Vgl. dazu: Anthony ELLIOTT, John URRY: ne, Dissertation Berlin 1960; Arbeiterwille, Mobile Lives, London/New York 2010, 59; 3.6.1923, 6; Friedrich ROSENTHAL: Die Antonia INGELFINGER: Migration – Mo- Wander­bühne. Ein Beitrag zur Not, Rettung bilität – Geschlecht. Eine Einleitung, in: und Genesung des deutschen Theaters, Zürich/ Migration, Mobilität, Geschlecht, Freiburger Leipzig/Wien 1922. GeschlechterStudien, 17/25, 2011, 11–27, hier: 5 Wobei auch der Sommer keineswegs „unter- 13; Janet M. DAVIS: Moral, Purposeful, and haltungsfreie“ Zeit darstellte: Orte, die den Healthful. The Worlds of Child’s Play, Body- neu aufkommenden Massentourismus pfleg- building, and Nation-Building at the American ten, versuchten ihre Gäste stets auch mit einem Circus, in: Emily S. ROSENBERG, Shannon Theaterangebot zu locken. FITZPATRICK (Hgg): body and nation. The 6 In Wahrnehmung und Bewertung allerdings Global Realm of U.S. Body Politics in the waren es genau diese Einrichtungen, die zum Twentieth Century, Durham/London 2014, Standard und damit zum „Normalfall“ erklärt 42–60, hier: 43; Frithjof Benjamin SCHENK: wurden. „Ich bin des Daseins als Zugvogel müde“. 7 Auch Leoben verfügte – allerdings keinesfalls Imperialer Raum und imperiale Herrschaft durgehend durch das 19. Jahrhundert – über in der Autobiographie einer russischen Ade- ein Ensemble. ligen, in: L’HOMME Geschlechtergeschichte 8 Es sei an dieser Stelle auf sogenannte „Lo­cal- global 23/2, 2012, 49–64; Lynn HUNT: Mea- Sängerinnen/Localsänger“ verwiesen, auch suring Time, Making History, Budapest/New Ar­tis­tinnen bzw. Artisten sind in den Quellen York 2008. Zu Bewegungen und Theater siehe immer wieder belegt. auch: Ute SONNLEITNER: Moving German 9 Robert BARAVALLE: 100 Jahre Grazer Speaking Theatre: Artists and Movement Schauspielhaus, hg. von der Stadtgemeinde 1850–1950, in: Journal of Migration Histo- Graz, Graz 1925; Stefan RIESENFELLNER: ry 2/1, 2016, 93–119; Ute SONNLEITNER: Konkurrenzkultur. Anmerkungen zur Grazer Bühnennetzwerke – Künstler_innen in Bewe- Arbeiterbühne, in: Historisches Jahrbuch der gung, in: KRASS kritische assoziationen, #3: Stadt Graz, 15, Graz 1984, 167–181; Rezka Beweg(ung)en und Verknüpf(ung)en, 2015, Theresia KANZIAN: „… von Sinnen“. Das 52–55; Ute SONNLEITNER: Fluchtraum oder Grazer Varieté Orpheum. Katalog zur Ausstel- patriotische Bühne. Das Medium Theater in lung im Stadtmuseum Graz, Graz 1999. der Steiermark 1914–1918: Inklusionen, Ex- 10 Eine nähere Darstellung des Falles findet sich klusionen und das Beispiel Mella Mars, in: Pro unter: Macht-Spiele – Das „Fräulein Hartmann“, Civitate Austriae. Informationen zur Stadtge- die „Tagespost“ und die „nichtswürdige“ „Tra- schichtsforschung in Österreich, Themenheft viata“, in: ACT – Zeitschrift für Musik & Per- „Österreichische Städte im Ersten Weltkrieg“, formance, 7, 2017, online unter: http://www.act. Heft 19, 2014, 57–72. uni-bayreuth.de/de/archiv/201707/index.html 3 Christopher BALME: Stadt-Theater: Eine (abgerufen am 15.10.2017). Nicht allein österrei- deutsche Heterotopie zwischen Provinz und chische Fälle werden geschildert, sondern auch Metropole, in: Burcu DOGRAMACI (Hg.): international wird die Bedeutung des Theaters Großstadt – Motor der Künste in der Moderne, für nationale Belange betont. So sei ein Frl. Berlin 2010, 66–76. Pollack „Opfer der Politik“ geworden, weil sie, 4 Berichte belegen teils sehr skurril anmu- gleich dem „Kunstreiter Renz“, in Dänemark an tende Theaterräume wie Dachböden (Bad eine Siegesfeier zur Erinnerung über den Sieg Aussee) oder Heustadel (Mürztal), die von gegen „die Deutschen“ teilnahm. Tagespost, wandernden Gesellschaften genutzt wurden. Abendblatt, 21.8.1860. In derselben Ausgabe Tagespost Abendblatt, 18.1.1860; Wanda von der Zeitung wird auch von einer Wiener Local- SACHER-MASOCH: Meine Lebensbeichte. sängerin berichtet, die als Unterstützerin ihres Memoiren, Berlin/Leipzig 1906, 312; Peter Mannes zu Garibaldi als Kämpferin ging. ROSEGGER: Heimgärtners Tagebuch (= Ge- 11 Der „3. Österreichische Lehrertag“ etwa wur- sammelte Werke, 33), Leipzig 1916, 36f. und de 1869 in Graz im landschaftlichen Theater

158 begangen: Meyerbeers Oper „Die Afrikane- Auch Schauspieler werden als „Liebling des rin“ wurde in einem komplett überfüllten Haus Publikums“ tituliert – so Herr Remmark, der gegeben. N. N.: Vom Theater, in: Tagespost, 1859 als „Stütze unseres Hauses seinen Ehren- Morgenblatt, 3.9.1869, o. S. Auch die Eröff- abend“ hielt. – Die überschäumende Begeiste- nung des Landtages im September desselben rung, wie sie Frauen erzielten, konnten Männer Jahres wurde mit einer Oper, „welche beson- aber nicht auslösen. N. N.: Theater, in: Tages- ders glänzend ausgestattet werden soll“, eröff- post, Morgenblatt, 14.10.1859, o. S. net. N. N.: Vom Theater, in: Tagespost, Mor- 17 Paul SCHEIBELHOFER: Intersektinalität, genblatt, 4.9.1869, o. S. Männlichkeit und Migration – Wege zur Ana- 1870 wurde im Theater für verwundete deut- lyse eines komplizierten Verhältnisses, in: Sa- sche Krieger eine Theatervorstellung gege- bine HESS, Nikola LANGREITER, Elisabeth ben. N. N.: Theater, in: Tagespost, Abendblatt, TIMM (Hgg.): Intersectionality Revisited: 27.7.1870, o. S. Empirische, theoretische und methodische Er- 12 Eine nach Wien engagierte Sängerin heira- kundungen, Bielefeld 2011, 149–173; Martha tete beispielsweise in den Herzog HODES: Grenzgänge: Hautfarbe, Geschlecht Ernst von Württemberg, was eine eigenstän- und die Macht der Kategorien im späten dige Meldung in der Tageszeitung wert war. 19. Jahrhundert, in: Jürgen MARTSCHUKAT, N. N.: Frl. Frassini, in: Tagespost, Abendblatt, Olaf STIEGLITZ (Hgg.): Väter, Soldaten, 23.8.1860, o. S. Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der 13 Claudia ULBRICH: Europäische Selbstzeug- Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Biele- nisse in historischer Perspektive – Neue Zugän- feld 2007, 123–137. ge (Erstveröffentlichung 2012), online: http:// 18 N. N.: Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/ 28.7.1870, o. S. arbeitsbereiche/ab_ulbrich/media/UlbrichEu- 19 N. N.: Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, rop__ische_Selbstzeugnisse.pdf?1350899276, 22.3.1870, o. S. 1–20, hier: 18 (abgerufen am 25.7.2017). 20 N. N.: Stadttheater, in: Tagespost, Morgenblatt, 14 Die „Tagespost“ befindet sich auf Mikrofilm 4.7.1870, o. S. in der Mediathek der Karl-Franzens-Univer- 21 N. N.: Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, sität Graz; die Sammlung von Theaterzetteln 23.2.1870, o. S. Grazer Aufführungen ist im GrazMuseum 22 Franz WALLNER: Grazer Rundschau, in: Ta- (8010 Graz Sackstraße 18) zugänglich; The- gespost, Abendblatt, 8.3.1870, o. S. ateralmanache der Grazer Häuser sind in der 23 Zu einer Aufführung des Coriolan. N. N.: Thea­ Sondersammlung der Universitätsbibliothek ter, in: Tagespost, Morgenblatt, 22.3.1870, o. S. (Karl-Franzens-Universität Graz) zugänglich; 24 N. N.: Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, Theateralmanache des deutschsprachigen 29.8.1860, o. S. Raums wurden in der Bibliothek des Theater- 25 N. N.: Theater, in: Tagespost, Abendblatt, museums (1010 Wien, Lobkowitzplatz 2) ein- 30.8.1860, o. S. gesehen. 26 N. N.: Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 15 Helma LUTZ, María Teresa HERRERA VI- 4.12.1860, o. S. VAR, Linda SUPIK (Hgg.): Fokus Intersekti- 27 N. N.: Stadttheater, in: Tagespost, Morgenblatt, onalität. Bewegungen und Verortungen eines 4.7.1870, o. S. vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden 22013. 28 N. N.: Stadttheater, in: Tagespost, Morgenblatt, 16 Melanie HINZ: Das Theater der Prostitution: 5.7.1870, o. S. Über die Ökonomie des Begehrens im Theater 29 Ebenda. um 1900 und der Gegenwart, Bielefeld 2014; 30 N. N.: Stadttheater, in: Tagespost, Abendblatt, Rebecca GROTJAHN, Dörte SCHMIDT, 15.7.1870, o. S. Thomas SEEDORF (Hgg.): Diva – Die Insze- 31 Stadttheater, in: Tagespost, Abendblatt, nierung der übermenschlichen Frau. Interdis- 21.7.1870, o. S. ziplinäre Untersuchungen zu einem kulturel- 32 o.T., in: Tagespost, Morgenblatt, 26.7.1870, o. S. len Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, 33 Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 14.10.1859, Schliengen 2011; Renate MÖHRMANN: o. S. (Hg.), Die Schauspielerin – Eine Kulturge- 34 Stadttheater, in: Tagespost, Abendblatt schichte, Frankfurt am Main/Leipzig 2000; 11.7.1870, o. S.

159 35 So wird immer wieder empört der starke Ap- Nachdruck in: Sabine HARK, Dis/kontinuitä- plaus des Publikums vermerkt. Siehe bei- ten: feministische Theorien, Wiesbaden 2007, spielsweise: o.T., in: Tagespost, Abendblatt, 173–196, hier: 191f.; vgl. dazu auch: Walburga 12.12.1860, o. S.; sowie Anmerkung 40 und 41 HOFF, Elke KLEINAU, Pia SCHMID (Hgg.): in diesem Beitrag. Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshis- 36 Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 18.8.1860, torischer Frauen- und Geschlechterforschung, o. S. Köln/Weimar 2008. 37 Die Formulierung „zum Besten“ bedeutet, dass 45 So etwa die fehlende Absicherung in Fällen die Einnahmen des Theaterabends als Reiner- von Krankheit oder auch im Alter; die Not- lös der Künstlerin oder dem Künstler zuflossen. wendigkeit, die gerade Frauen traf, Bühnen- Dieses sogenannte „Benefice“ stand jedem bzw. kostüme selbst zu bezahlen; die kurze Laufzeit jeder wenigstens einmal pro Saison zu. von Verträgen, die ein Leben in beständigem 38 Theater, in: Tagespost, Abendblatt, 26.10.1869, Prekariat erzwang. o. S. 46 Malte MÖHRMANN, Die Herren zahlen die 39 Vom Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, Kostüme. Mädchen vom Theater am Rande der 20.2.1870, o. S. Prostitution, in: Renate MÖHRMANN (Hg.): 40 „Es ist in allen Theatern der Welt üblich, dass Die Schauspielerin – Eine Kulturgeschichte, ein gewisser Teil des Publikums umso lebhaf- Frankfurt am Main/Leipzig 2000, 292–317. ter klatscht, je mehr geschrien wird und wehe 47 Hannes STEKL (Hg.): „Höhere Töchter“ und der Darstellerin, welche darin einen Maßstab „Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend für eine künstlerische Leistung suchen woll- in Monarchie und Republik, Wien/Köln/Wei- te.“ Landschaftliches Theater, in: Tagespost, mar 1999, 204–225, hier: 221. Sie erhielt den- Abendblatt 6.7.1870, o. S. noch Schauspielunterricht, debütierte in Graz, Selbst wenn das gesamte Publikum geschlos- erlebte eine international erfolgreiche Karriere sene Zustimmung zeigte, wurde dies von man- und kehrte 1945 nach Graz zurück, wo sie für chem Kritiker nicht als ausreichendes Qualitäts- die Firma Humanic zu arbeiten begann. kriterium angesehen. „An dieser Überzeugung 48 Jan McDONALD: Die Schauspielerin – ein macht uns auch der lebhafte Beifall nicht irre, Beruf, der einer Frau nicht passt, in: Renate mit dem die Aufführung der Shakespeare’schen MÖHRMANN (Hg.): Die Schauspielerin – Tragödie von Seite des dichtbesetzten Hauses Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main/ begleitet wurde“, lautete das Resümee zu einer Leipzig 2000, 197–234; Anna HELLEIS: Aufführung des „Coriolan“. Theater, in: Tages- Faszination Schauspielerin. Von der Antike post, Morgenblatt, 22.3.1870, o. S. bis Hollywood – Eine Sozialgeschichte, Wien 41 Theater, in: Tagespost, Abendblatt, 15.2.1870, 2006. o. S. 49 Derartige Diskussionen fanden in erster Linie 42 Landschaftliches Theater, in: Tagespost, Mor- in den beliebten „Frauenzeitungen“ Widerhall. genblatt, 5.7.1870, o. S. Vgl. beispielsweise: Ein Schauspieler-Brevier, 43 Die musikalische Ausbildung fand in der in: Iris, 23.2.1859, 31; Ad vocem Haustheater, Steiermark schon früher Verankerung: der in: Iris, 15.4.1859, 99. Musikverein als Vorläufer des Konservato- 50 Tagespost, Morgenblatt, 15.1.1860, o. S. riums und der Hochschule bot instrumen- 51 Siehe den Annoncenteil der Tagespost: Tages- talen und gesanglichen Unterricht. Vgl. post, Abendblatt, 4.9.1882, o. S. Karin M. SCHMIDLECHNER, Anita PRET- 52 So im Dezember 1914 und im Mai 1916. Das TENTHALER-ZIEGERHOFER, Michaela fortgesetzte wohltätige Engagement der Schul- SOHN-KRONTHALER, Ute SONNLEIT- leiterin wurde besonders hervorgehoben. N. N.: NER, Elisabeth HOLZER: Geschichte der Theater und Musik, in: Tagespost, Morgenblatt, Frauen in der Steiermark, Graz 2017. 13.12.1914, o. S.; Theater und Musik, in: Ta- 44 Siehe dazu grundlegende Arbeiten wie: Karin gespost, Morgenblatt, 3.5.1916, o. S. Daneben HAUSEN: Die Polarisierung der „Geschlechts­ bestanden aber weiterhin auch die Schulen von charaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation Einzelpersonen, wie etwa die Gesangsschule von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner des Fräulein Adele Stipetic. Sie veranstaltete im Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in Mai 1916 gemeinsam mit einigen Schülern ei- der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393, nen Vortragsabend, dessen Reinerträgnis dem

160 Fonds für verwundete Krieger zugedacht war. für sie „vortheilhaften Bedingnissen“. Vom N. N.: Theater und Musik, in: Tagespost, Mor- Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 24.3.1870, genblatt, 16.5.1916, o. S. o. S. 53 Vom Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 68 Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 14.8.1860, 12.3.1870, o. S. o. S. 54 Ebenda. 69 Es existieren hierzu auch Ausnahmen, wie die 55 Lysiane Sarah BERNHARDT: Der Le- Aufzeichnungen eines – sich selbst als solchen bensabend Sarah Bernhardts, Leipzig 1927; definierenden – gescheiterten Schauspielers. Sarah BERNHARDT: Mein doppeltes Leben, Der erfolglose Schauspieler Ernst Clefeld be- München 1983; Cornelia OTIS SKINNER: richtet über seine Lebenserfahrungen und Madame Sarah. Das Leben der Schauspie- umfasst die Zeitspanne von seiner Geburt im lerin Sarah Bernhardt, Frankfurt am Main Jahr 1853 in Graz bis in das Jahr 1909. Ernst 1968; Claudia THORUN: Die Schauspielerin CLEFELD: Der philosophierende Vagabund. Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weib- Lebensbeichte eines Wanderkomödianten, lichkeit und Männlichkeit im Fin de siècle, in: Stuttgart o. J. Martina OSTER, Waltraud ERNST, Marion 70 Tyrolt lebte bei seinen Eltern. Sein Vater, ein GERARDS (Hgg.): Performativität und Per- ehemaliger Finanzbeamter, hatte sich – es be- formance. Geschlecht in Musik, Theater und steht die Versuchung festzustellen: „geradezu MedienKunst, Münster 2008, 285–295. typisch“ – für Graz als Ort seines Pensionsauf­ 56 Peter STACHEL: „Das Krönungsjuwel der enthaltes entschieden. Die Familie stammte österreichischen Freiheit“. Die Wiedereröff- aus Rottenmann, wo Tyrolt vor dem beruflich nung der Wiener Staatsoper 1955 als Akt ös- bedingten Umzug des Vaters nach Preßburg, terreichischer Identitätspolitik, in: Sven Oliver auch geboren worden war. MÜLLER, Jutta TOELLE (Hgg.): Bühnen der 71 Dr. Rudolf TYROLT: Aus dem Tagebuche Politik. Die Oper in europäischen Gesellschaf- eines Wiener Schauspielers. 1848–1902 Erin- ten im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/München nerungen und Betrachtungen, Wien/Leipzig 2008, 90–107; Peter STACHEL, Philipp THER 1904, 25. (Hgg.): Wie europäisch ist die Oper? Die Ge- 72 Ebenda, 37. schichte des Musiktheaters als Zugang zu einer 73 Zur vergeschlechtlichten Wahrnehmung des kulturellen Topographie Europas, Wien/Köln/ Kunstschaffens siehe: Melanie Hinz, Das The- Weimar 2009. ater der Prostitution: Über die Ökonomie des 57 Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, 27.4.1863, Begehrens im Theater um 1900 und der Ge- o. S. genwart, Bielefeld 2014, 126; Edgar J. Forster, 58 Eine Nachtigall im Stadtpark, in: Tagespost, Unmännliche Männlichkeit: Melancholie, Ge- Morgenblatt, 5.6.1890, o. S. schlecht, Verausgabung, Wien/Köln/Weimar 59 Notizblätter, in: Tagespost, Abendblatt, 1998, 111. 16.8.1860, o. S. Zur gegenwärtigen Position von Frauen im 60 Vom Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, Kunst-/Kulturwesen vgl.: Künstlerinnen 12.3.1870, o. S. im Vormarsch, Diagonal – Radio für Zeit- 61 Vom Theater, in: Tagespost, Morgenblatt, genossInnen, 4.2.2017, Ö1, http://oe1.orf.at/ 27.2.1870, o. S. programm/20170204/459751 (abgerufen am 62 Akrobaten, in: Tagespost, Morgenblatt, 15.10.2017). 3.10.1860, o. S. 74 Tilly WEDEKIND: Lulu. Die Rolle meines 63 Stadttheater, in: Tagepost, 1.7.1870, o. S. Lebens, Zürich 1969, 21. 64 Landschaftliches Theater, in: Tagespost, Mor- 75 Auch in dieser Frage waren Töchter aus wohl- genblatt, 2.7.1870, o. S. habendem Hause eindeutig bevorzugt: muss- 65 Theater, in: Tagespost, Abendblatt, 7.3.1870, ten doch die – stets nach neuester, historisie- o. S. render Mode – anzufertigenden Kleider von 66 Beispielsweise als das „Fräulein Moser“ als den Künstlerinnen und Künstlern selbst finan- Opernsängerin an das Hoftheater Mainz beru- ziert werden. fen wurde. Vom Theater, in: Tagespost, Mor- 76 WEDEKIND: Lulu, 19. Auch die von Wede- genblatt 14.3.1870, o. S. kind geschilderte Genese des Berufswunsches 67 Das Fräulein Moser etwa verblieb in Graz – zu erscheint „typisch“: Sie erzählt über Theater-

161 spiele in der Kindheit, die, von ihrer Mutter (Stadttheater, Volkstheater, Josephstadt) auf- organisiert, gesellschaftliche Ereignisse dar- trat. TYROLT: Tagebuche. stellten. Vor Freundinnen bzw. Freunden und 78 Ebenda, 113. Bekannten wurden Theaterstücke und „leben- 79 In Graz feierten Künstlerinnen und Künstler de Bilder“ inszeniert. Ebenda, 15. Erfolge mit Stücken, die in Wien keinerlei 77 Tilly Wedekind führte ihr künstlerischer Weg Chancen auf Erfolg – mehr – hatten: Josephi- von Graz nach Köln, Wien, Berlin und Mün- ne Gallmeyer und Alexander Girardi können chen, um nur einige zentrale Stationen ihrer hierfür als Beispiele genannt werden. Die Karriere zu benennen. WEDEKIND: Lulu. von ihnen gegebenen Lustspiele und Possen Rudolf Tyrolt war zunächst in Olmütz/Olo- sorgten für Furore in Graz, während in Wien mouc und Brünn/Brno engagiert, ehe er nach lehre Häuser drohten. Vgl. SONNLEITNER: Wien ging, wo er auf verschiedenen Bühnen Moving Theatre.

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