Von Graz in Die Welt – Grazer „Nachtigallen“ Und Deren Verortungen

Von Graz in Die Welt – Grazer „Nachtigallen“ Und Deren Verortungen

Ute Sonnleitner Von Graz in die Welt – Grazer „Nachtigallen“ und deren Verortungen Darstellenden Künstlerinnen und Künstler1 des 19. Jahrhunderts bewegten sich in einem ambivalenten Spektrum verschiedener Selbst-/Wahrnehmungen. Ihnen kam einerseits immense Bewunderung zu: Die Gastauftritte berühmter Stars wurden be- jubelt. Andererseits schlug ihnen massive Ablehnung entgegen: Der „unstete“ Le- bensstil wurde nicht gutgeheißen, immer wieder wurden Verdächtigungen laut, die Künstlerinnen und Künstler in die Nähe von Kriminalität rückten. Im Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern, in deren Hofierung und Diffamierung wird das Kom- plexe Wechselspiel diverser Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, Klasse, Eth- nizität Religion – um nur einige wenige zu nennen – offenkundig. Die folgende Un- tersuchung rückt den Faktor Geschlecht in den Mittelpunkt der Betrachtungen, wobei die Bedeutung von „Bewegungen“ im künstlerischen Lebenslauf besondere Berück- sichtigung erfahren.2 Im vorliegenden Text werden darstellende Künstlerinnen und Künstler und deren Arbeitsumfeld in Graz in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert, wobei der Schwerpunkt der Quellenanalyse auf die Jahre 1860 und 1870 gelegt wird: aus der Zusammenschau diverser Theaterkritiken der Tageszeitung „Tagespost“ sowie zweier Autobiografien werden Muster der Selbst-/Verortung abgeleitet und hinterfragt. Theaterraum – Theaterzeit Theater bildete im 19. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht ein bedeutsames Element gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Es war – unabhängig von Zuschreibungen aus gegenwärtiger Perspektive, die ein „bildungsbürgerlich“ gefärbtes Bild des Theaters in die Vergangenheit projizieren – das zentrale Medium für Unterhaltung.3 Zahllose neue Theatergebäude entstanden, wurde kein eigenständiges Theaterhaus etabliert, kam es dennoch vielerorts zur Adaptierung von Räumlichkeiten, die teils in der Form 147 von „Mehrzweckräumen“ genutzt wurden. So auch in der Steiermark, wo in nahezu jeder Ortschaft Auftrittsmöglichkeiten gegeben waren.4 Bespielt wurden diese Büh- nen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von wandernden Theater- und Unterhal- tungs-Truppen. Fixe Ensembles, die – mit Ausnahme der üblichen Sommerpausen5 – das ganze Jahr über spielten, bildeten in diesem System die Ausnahmen.6 Bereits an dieser Stelle wird somit offenkundig, welch große Bedeutung Bewegung(en) im Umfeld des Theaters einnahmen. Mobilitäten stehen auch im Zentrum des Interes- ses der folgenden Ausführungen, obwohl, so paradox dies im ersten Augenblick auch erscheinen mag, mit Graz und seinen Theatern einer jener Orte besondere Aufmerk- samkeit erfahren wird, die im 19. Jahrhundert über ein stehendes Theater verfügten.7 In Graz existierten mit den Bühnen für Schauspiel und Oper an wechselnden Orten „große Häuser“, die durchgehend bespielt wurden – daneben waren zahllose weitere (Vorstadt-)Bühnen vorhanden, die wechselnden Kunstgattungen und deren Exponen- tinnen und Exponenten Auftrittsmöglichkeit boten.8 Die Geschichte der Theaterhäu- ser wurde an anderer Stelle bereits mehrfach dargestellt9 und soll hier nicht nochmals referiert werden, zumal das Wissen um die Genese der Räumlichkeiten nur indirekt zum Verständnis des gewählten Fokus beitragen würde. Neben der Unterhaltung lässt sich eine Reihe weiterer Bedeutungsinhalte dem Theater zuschreiben. Politik und Herrschaft fanden deutlichen Niederschlag, Macht- demonstrationen wurden im Theaterraum greifbar. Gerade in Graz entwickelten sich Theater als Orte der Nationalismen – dies war etwa 1860 deutlich bemerkbar: Ein Theaterskandal entwickelte sich entlang der Frage, ob an einem bestimmten Datum die „nichtswürdige“, „welsche Traviata“ zur Aufführung gelangen dürfe.10 Theater war Ort der Repräsentation, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bil- deten sich beispielhaft im Theaterraum ab.11 Die Begeisterung für das Medium Theater und seine gesellschaftliche Bedeutung spiegeln sich auch in der Aufmerksamkeit wider, die ihm in anderen Medien geschenkt wurde: die Berichterstattung über das Geschehen in und rund um das Theater war ausgeprägt; neben „klassischen“ Theaterkritiken und Berichten zu künstlerischen und operativen Fragestellungen finden sind auch zahlreiche Darstellungen, die Künstlerin- nen- und Künstlerpersönlichkeiten in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Klatsch und Tratsch und Society-Berichterstattung waren auch im 19. Jahrhundert bereits wohlbekannt, wohingegen Formate wie Interviews oder auch Home-Storys erst im be- ginnenden 20. Jahrhundert Verbreitung fanden.12 Ergriffen Künstlerinnen und Künst- ler selbst das Wort, so erfolgte dies zumeist in Form von autobiografischen Texten beziehungsweise, in weit geringerem Ausmaß erhalten, da nicht zur Veröffentlichung gedacht, in Selbstzeugnissen wie Briefen oder Tagebüchern.13 Damit ist bereits die Frage von Quellen direkt angesprochen, wobei für den vorliegenden Text neben zweier Autobiografien, die als Beispielfälle ausgewählt wurden, in erster Linie die Berichter- stattung der Zeitung „Tagespost“ zur Analyse herangezogen wurde. Theaterzettel und Theateralmanache wurden genutzt, um das Bild zu komplettieren.14 Künstlerinnen und Künstler stellen damit eine jener Personengruppen dar, die quellentechnisch besonders gut greifbar ist. Diese Feststellung ist allerdings mit Ein- schränkungen zu versehen, die direkt an zentrale Überlegungen heranführen: Denn 148 das vielfältige erhaltene Material zeichnet keineswegs ein vollständiges Bild der Theaterlandschaft des 19. Jahrhunderts. Bestimmte Gruppen von Künstlerinnen und Künstlern erfuhren besondere Hervorhebung, während andere Persönlichkeiten nur kurze oder überhaupt keine Aufmerksamkeit genossen. Die Trennlinie bewegte sich deutlich entlang einer Reihe intersektional miteinander verwobener Differenzkatego- rien, wobei der Faktor Geschlecht in besonderem Maße hervorzuheben ist.15 Geschlecht auf der Bühne Besonders überraschend mag im Zuge einer ersten Betrachtung die Tatsche erschei- nen, dass eine Umkehrung der sonst „üblichen“ Geschlechterverhältnisse gegeben war. Denn die wahren, alles überragenden Stars des Bühnengeschehens waren im 19. Jahrhundert Frauen. Den Status strahlender Lichtgestalten konnten nahezu aus- schließlich Künstlerinnen erringen. Sie genossen Ruhm und erzielten Aufmerksam- keit, die von Männern auf der Bühne kaum jemals erreicht wurde.16 Der besondere Status, der Frauen auf der Bühne zukam, stand auch in engem Zu- sammenhang mit der von ihnen ausgeübten Berufstätigkeit: Sie verdienten Geld, in- dem sie sich im Lichte der Öffentlichkeit präsentierten – und widersprachen damit in mehrfacher Hinsicht dem Idealbild bürgerlicher Geschlechterbilder des 19. Jahrhun- derts. Sie überschritten eindeutig die Sphären der ihnen zugeschriebenen Häuslich- keit und schritten im übertragenen wie im wörtlichen Sinne über eine Reihe weiterer Grenzen hinweg. Gerade die Vorstellung weiblicher Sesshaftigkeit wurde von Künst- lerinnen massiv herausgefordert und kann als einer der Hauptgründe dafür verstanden werden, weshalb Künstlerinnen und Künstler bis zum heutigen Zeitpunkt als außer- halb der gesellschaftlichen Ordnung Stehende wahrgenommen werden. Dies trifft auch auf Männer zu, die den Schritt auf die Bühne vollzogen: Gerade in Fragen der Stabilität und Sesshaftigkeit widersprachen auch sie dem gängigen Ideal. Andererseits war ein gewisses Maß an Reisetätigkeit durchaus vorgesehen. Gerade in jungen Jahren ermöglichte etwa das Beispiel wandernder Handwerker eine Anbin- dung an anerkannte Vorbilder beruflicher Bewegung. In jedem Fall setzten sich Männer wie Frauen, die auf der Bühne tätig waren, besonderer Beobachtung aus, was ihre Geschlechtlichkeit wie auch ihre Körperlich- keit betraf.17 „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ wurden als unveränderlich wahrge- nommen, als Referenzgrößen, die keinerlei weiterer Erklärung bedurften. Ein Sänger wurde etwa besonders gelobt, weil er in den Partien des Stücks „Ernani“ seinen Mann gestellt habe.18 Ein „männlich starkes Organ“ bedurfte ebensowenig wie die „mütterli- che Wärme“ näherer Ausführungen.19 Einem der Direktoren, die auch als Schauspieler tätig waren, wurde „imponierende Männlichkeit“ attestiert – jedoch nicht näher aus- geführt, was darunter zu verstehen sei.20 Erfolge und Misserfolge auf der Bühne waren stark davon abhängig, ob das Er- scheinungsbild und das Auftreten einer Person mit dem zugeteilten Rollenfach über- einstimmten beziehungsweise jenen Vorstellungen entsprach, die Publikum wie auch Kritik damit in Zusammenhang brachten. Selbst wenn diese Passgenauigkeit nicht 149 bestand, war ein Wechsel des „Rollenfachs“ kaum möglich. Menschen wurden be- stimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben, die mit dem Äußeren korrespondier- ten. So wurde einer Sängerin bescheinigt, ihr fehle für die Traviata die „imponieren- de Persönlichkeit, die Kraft des Organs und das zündende Feuer“.21 Herrn Lewinsky wurden „geistige Kraft, das Göttlich im Menschen“ als entscheidende Aspekte seines Erfolges zugeschrieben.22 Beispielhaft kann auch die Kritik einer Aufführung im Jahr 1870 angeführt werden, in der formuliert wurde: „Wenn die tumultuarischen Scenen stellenweise zur Parodie wurden und im Gewande der Senatoren Leute steckten, die nun einmal ihr dazu nicht geborenes Wesen zu maskieren nicht im Stande waren, so ist das ein Erbfehler der Aufführung aller großen Tragödien auf Provinzbühnen, den man hinnehmen muß, will man derlei Stücke überhaupt ermöglichen.“23 Die übersteigerte Wahrnehmung und Deutung von Körperlichkeit wird im Fall eines Debuts deutlich – der Kritiker

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