Kulturpropagandabeilage BETON, Spezialausgabe, 01, Leipzig, März 2011
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KULTURPROPAGANDABEILAGE BETON, SPEZIALAUSGABE, 01, LEIPZIG, MÄRZ 2011 Redaktion: Milos Živanović, Saša Ilić, Tomislav Marković, Saša Ćirić, Jeton Neziraj, Shkelzen Maliqi, Alida Bremer; E-mail: [email protected]; www.elektrobeton.net; Beton Spezialausgabe März 2011 1 Saša Ćirić Arben Atashi Bis zum EndE richtunGEn dEr GEwalt dEr nEuEn Fragmente über die neuesten Erzählungen aus Serbien Prosa im Kosovo Die vor Ihnen liegende Auswahl wird als Antholo- Jeder, der es unternimmt, über die neue Prosa im Koso- gie bezeichnet, auch wenn sie eher einen Überblick vo zu schreiben, steht zweifellos als erstem Problem dem 1oder Querschnitt darstellt. Es handelt sich nicht um Adjektiv „neu“ gegenüber. Zunächst muss geklärt wer- die besten Erzählungen, sondern um eine Sammlung von den, ob unter diesem Adjektiv nur junge Schaffende oder Erzählungen, die am besten zeigen, was die zeitgenössi- allgemein literarisches Schreiben mit neuen Tendenzen sche serbische Erzählung sein könnte und sollte. Kurz vor verstanden wird. Ende des ersten Jahrzehnts des dritten Milleniums stellt Wenn man berücksichtigt, dass gute albanische Prosa erst die Anthologie „Iz Beograda, s ljubavlju / Aus Belgrad, seit wenigen Jahren geschaffen wird, ist es schwer, einen in Liebe“ in der serbischen Literaturszene die erste um- klaren Schnitt zwischen der alten und der neuen Prosa zu fassende Auswahl zeitgenössischer Kurzprosa dar, die sich machen. außer durch zahlreiche Vertreter von Autorinnen und Au- Obwohl die Periodisierung mit zeitlichen Schnitten nicht toren der siebziger und achtziger Jahrgänge dadurch aus- so funktional ist, wie es nötig wäre, kann die heutige alba- zeichnet, dass sie sich bemüht, die multiethnische Vermi- nische Prosa in speziellen Kontexten betrachtet werden, schung, geografische Zerrissenheit, gleiche Herkunft und wie: a) die albanische Prosa der Nachkriegszeit im Koso- poetische Vielfalt der aktuellen serbischen Literaturszene vo, nach den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufzuzeigen. und b) die Prosa der Vorkriegszeit, vor den 90er Jahren. Diese Anthologie hat das Potenzial, in zweifacher Hinsicht Der Krieg der Befreiungsarmee des Kosovo hat zweifels- repräsentativ zu sein: Sie stellt die junge Schriftstellersze- ohne auf die literarische Produktion Einfluss gehabt, da ne dem lesenden Publikum im Kosovo, aber auch in allen der Schaffende ein untrennbarer Teil der Entwicklungen Nachbarländern vor, wo die albanische Sprache verwen- im realen Lebenskontext ist. det wird (Albanien, Makedonien, Montenegro), zudem Es ist bereits bekannt, dass die Pflege authentischer Pro- zeigt sie allen Literaturinteressierten in Serbien, wer und sa im Kosovo ihren Anfang in den 60er Jahren des ver- wie ihre jüngeren Autoren sind. Das ist das Paradox die- gangenen Jahrhunderts nahm und den Höhepunkt in den ser Anthologie und ihrer kulturell-politisch alternativen 80er und 90er Jahren erreichte. Nun, viele der Autoren, Verortung. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigten Bogdan die einen Beitrag zur Entwicklung dieser Prosa geleistet Popović und Jovan Skerlić in ihren kroatischen Litera- haben, sind auch heutzutage noch aktiv, schreiben und turzeitschriften einen Querschnitt serbischer Lyrik und publizieren neue Werke. Ebenfalls sind neben den bereits Prosa, womit sie verdienstvoll die Reichweite serbischer älteren Autoren auch neue Autoren hervorgetreten, die Literatur vergrößerten und die kulturellen Verbindungen die Tradition des literarischen Schreibens parallel fortfüh- zu einer anderen Gesellschaft stärkten. In diesem Sin- ren. Eine Trennung nach dem Alter der Autoren ist nicht ne können sowohl die serbische als auch die albanische zu empfehlen, weil es ältere Autoren gibt, die im neuen Anthologie einen Neuanfang in der authentischen kultu- Geist schreiben, so wie es junge Autoren gibt, die im alten rellen Kommunikation zweier Gesellschaften bedeuten, Geist schreiben. einen Neuanfang, der frei ist vom Erbe von Gewalt und In ihren Anfängen war die albanische Prosa überflutet Diskriminierung, die die Beziehungen zwischen unseren von ausgeprägten Tendenzen der Didaktik und des Mo- beiden Gesellschaften und ethnischen Gemeinschaften ralismus, was qualitativ minderwertige Prosa ist, aber charakterisiert und belastet haben. Diese Auswahl kann daneben wurde auch eine Literatur mit rein literarischen insbesondere als Gegenprojekt zu Fremdenfeindlichkeit Prämissen gepflegt, eine überzeitliche Literatur, die un- und dem Autismus nationalistischer Ideologie aufgefasst abhängig von Zeit und Umgebung gelesen werden kann. werden, die den Hintergrund des in den meisten post- Einzelne Autoren streifen mit ihren singulären Werken jugoslawischen Gesellschaften dominierenden Kulturver- künstlerische Höhepunkte, indem sie universelle Themen, ständnisses bilden. in verschiedenen Formen erprobt, behandeln. Um die neue albanische Prosa des Kosovo zu bewer- Die Auswahl Iz Beograda, s ljubavlju versammelt Er- ten, muss notwendigerweise auch der Kontext der inne- zählungen bereits anerkannter und poetisch gereif- ren und äußeren Kommunikation mit dem Leser geklärt 2 ter Schriftsteller sowie derer, die sich gerade aufge- werden. Die sozial-politischen Entwicklungen im Kosovo macht haben, ein Werk zu schreiben und sich einen Ruf haben zweifelsohne einen starken Einfluss auch auf das zu erobern. Im Verhältnis zu ausgewählten Erzählmustern Gebiet der literarischen Kunst gehabt, insbesondere hin- in der Prosa der vorherigen Generation serbischer Erzäh- sichtlich des Aspektes der Buchveröffentlichung und des ler führen die ausgewählten Erzählungen in dieser Antho- Buchvertriebes. logie die wichtigsten schriftstellerischen Tendenzen fort, Die Aufhebung der Autonomie des Kosovo Ende der 90er die sich im Spannungsfeld von der Erneuerung kritischer Jahre, dann die Schaffung eines Parallelsystems in den Standpunkte bis hin zum literarischen Spiel der Selbst- 90er Jahren und schließlich die Periode des internationa- referenzialität als Selbstzweck bewegten. Neu an den len Protektorats bis zur Ausrufung des Kosovo als unab- neuen Erzählungen ist, dass sie, ohne Rücksicht auf ihre hängiger Staat haben die Herausbildung eines Chaos in poetischen Wurzeln, vom Geist der Gewalt und Intoleranz fast allen Aspekten des Lebens, aber auch des Schaffens charakterisiert, wenn nicht sogar gebrandmarkt sind. Die bewirkt. Infolgedessen wird die heutige albanische Lite- Gewalt manifestiert sich dabei interessanterweise nicht in ratur von einer chaotischen Situation charakterisiert, so- einem Kriegskontext (außer in der Erzählung „Za tuđeg wohl auf dem Gebiet der literarischen Kunst als auch auf gospodara / Für einen fremden Herrn“, die sowohl durch dem Gebiet ihrer Interpretation und Bewertung. Inzwi- einen archaischen Erzählstil wie auch durch den assozia- schen kann von Erfolgen und Misserfolgen der gegenwär- tiven Titel den „Missbrauch des Menschen“ für sinnlose tigen albanischen Prosa gesprochen werden. Spezifische Staatsinteressen, die Hoffnungslosigkeit und die Nie- Entwicklungen der Schaffenden haben jedoch dieser Pro- derlage des pazifistisch orientierten Individuums direkt sa den Stempel von Beständigkeit in Zeit und Raum auf- heraufbeschwört). Der Krieg wird auf das Niveau anspie- gedrückt, entgegen den ästhetischen Anforderungen und 2 Beton Spezialausgabe März 2011 lungsreicher Fragmente und auf die Folgen des begangenen Verbrechens verschoben. Kriterien. Nicht selten passieren im kulturellen und literarischen Leben Zusammenstöße Gewalt zeigt sich vielmehr in zwischenethnischen („Tulumbe ili smrt / Kuchen oder Tod“, zwischen den Schaffenden und den Kritikern, für die der Zusammenstoß in der Mehrzahl „Progonjeni gonilac / Der gejagte Jäger“), generationen- und regionenübergreifenden der Fälle eine Prämisse des politischen Charakters und des persönlichen Grolls ist. Aktuell („Kineska četvrt / Das Chinesenviertel“), intersexuellen („I gabori se nećkaju / Auch die geben die Jungen, die den „Literaturmarkt“ betreten, den Vorzug mehr der Literaturkritik Hässlichen zieren sich“, die Vergewaltigung in der Erzählung „Kapija / Das Tor“) und in- und literarischen Studien als der Prosa. terkulturellen Animositäten („Komarci / Stechmücken“), in Hass und / oder physischen In diesem ganzen Chaos ist es für den gewöhnlichen Leser sehr schwer herauszufinden, Auseinandersetzungen. Oder in einem Terroranschlag („Poletanje / Abflug“). was gute Prosa ist, die es zu lesen lohnt. Die unbewusste Konfrontation mit schlechter Das naturalistische Volk der Vorstädte und Bergwerke amüsiert sich bei Kampfspielen, Prosa hat bewirkt, dass der Leser enttäuscht ist und sich fast vollkommen vom Lesen in denen Ratten die Gladiatoren sind („Igra / Das Spiel“), aber auch der sprichwörtlich zurückzieht. heitere Geist postmoderner Erzählstrategien leidet hier unter den Bildern der Zerstörung Die ungelöste nationale Frage in der Vorkriegszeit hat bewirkt, dass die Literatur dieser („Fragmenti / Fragmente“) beziehungsweise Entmenschlichung, in der der Mensch auf Frage gemeinhin einen großen Raum gewidmet hat. In diesem Kontext kann von Erfolgen ein aussterbendes Museumsexponat reduziert und dem nekrophilen Voyeurismus des und Misserfolgen gesprochen werden. Zweifelsohne hat die soziale Frage nicht von sich Betrachters ausgesetzt ist („Muzej savremene umetnosti / Museum für zeitgenössi- aus den Erfolg garantiert und die Produktion schwacher und vom Wert her diskutabler sche Kunst“). Mehr noch, die Erinnerung der Erzählerin an eine Kinovorstellung wird Prosa beeinflusst. Das passierte der albanischen Prosa vor und nach dem Krieg