Kulturpropagandabeilage BETON, Spezialausgabe, 01, Leipzig, März 2011

Redaktion: Milos Živanović, Saša Ilić, Tomislav Marković, Saša Ćirić, Jeton Neziraj, Shkelzen Maliqi, Alida Bremer; E-mail: [email protected]; www.elektrobeton.net;

Beton Spezialausgabe März 2011 1 Saša Ćirić Arben Atashi Bis zum Ende Richtungen der Gewalt der neuen

Fragmente über die neuesten Erzählungen aus Serbien Prosa im

Die vor Ihnen liegende Auswahl wird als Antholo- Jeder, der es unternimmt, über die neue Prosa im Koso- gie bezeichnet, auch wenn sie eher einen Überblick vo zu schreiben, steht zweifellos als erstem Problem dem 1oder Querschnitt darstellt. Es handelt sich nicht um Adjektiv „neu“ gegenüber. Zunächst muss geklärt wer- die besten Erzählungen, sondern um eine Sammlung von den, ob unter diesem Adjektiv nur junge Schaffende oder Erzählungen, die am besten zeigen, was die zeitgenössi- allgemein literarisches Schreiben mit neuen Tendenzen sche serbische Erzählung sein könnte und sollte. Kurz vor verstanden wird. Ende des ersten Jahrzehnts des dritten Milleniums stellt Wenn man berücksichtigt, dass gute albanische Prosa erst die Anthologie „Iz Beograda, s ljubavlju / Aus Belgrad, seit wenigen Jahren geschaffen wird, ist es schwer, einen in Liebe“ in der serbischen Literaturszene die erste um- klaren Schnitt zwischen der alten und der neuen Prosa zu fassende Auswahl zeitgenössischer Kurzprosa dar, die sich machen. außer durch zahlreiche Vertreter von Autorinnen und Au- Obwohl die Periodisierung mit zeitlichen Schnitten nicht toren der siebziger und achtziger Jahrgänge dadurch aus- so funktional ist, wie es nötig wäre, kann die heutige alba- zeichnet, dass sie sich bemüht, die multiethnische Vermi- nische Prosa in speziellen Kontexten betrachtet werden, schung, geografische Zerrissenheit, gleiche Herkunft und wie: a) die albanische Prosa der Nachkriegszeit im Koso- poetische Vielfalt der aktuellen serbischen Literaturszene vo, nach den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufzuzeigen. und b) die Prosa der Vorkriegszeit, vor den 90er Jahren. Diese Anthologie hat das Potenzial, in zweifacher Hinsicht Der Krieg der Befreiungsarmee des Kosovo hat zweifels- repräsentativ zu sein: Sie stellt die junge Schriftstellersze- ohne auf die literarische Produktion Einfluss gehabt, da ne dem lesenden Publikum im Kosovo, aber auch in allen der Schaffende ein untrennbarer Teil der Entwicklungen Nachbarländern vor, wo die albanische Sprache verwen- im realen Lebenskontext ist. det wird (Albanien, Makedonien, Montenegro), zudem Es ist bereits bekannt, dass die Pflege authentischer Pro- zeigt sie allen Literaturinteressierten in Serbien, wer und sa im Kosovo ihren Anfang in den 60er Jahren des ver- wie ihre jüngeren Autoren sind. Das ist das Paradox die- gangenen Jahrhunderts nahm und den Höhepunkt in den ser Anthologie und ihrer kulturell-politisch alternativen 80er und 90er Jahren erreichte. Nun, viele der Autoren, Verortung. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigten Bogdan die einen Beitrag zur Entwicklung dieser Prosa geleistet Popović und Jovan Skerlić in ihren kroatischen Litera- haben, sind auch heutzutage noch aktiv, schreiben und turzeitschriften einen Querschnitt serbischer Lyrik und publizieren neue Werke. Ebenfalls sind neben den bereits Prosa, womit sie verdienstvoll die Reichweite serbischer älteren Autoren auch neue Autoren hervorgetreten, die Literatur vergrößerten und die kulturellen Verbindungen die Tradition des literarischen Schreibens parallel fortfüh- zu einer anderen Gesellschaft stärkten. In diesem Sin- ren. Eine Trennung nach dem Alter der Autoren ist nicht ne können sowohl die serbische als auch die albanische zu empfehlen, weil es ältere Autoren gibt, die im neuen Anthologie einen Neuanfang in der authentischen kultu- Geist schreiben, so wie es junge Autoren gibt, die im alten rellen Kommunikation zweier Gesellschaften bedeuten, Geist schreiben. einen Neuanfang, der frei ist vom Erbe von Gewalt und In ihren Anfängen war die albanische Prosa überflutet Diskriminierung, die die Beziehungen zwischen unseren von ausgeprägten Tendenzen der Didaktik und des Mo- beiden Gesellschaften und ethnischen Gemeinschaften ralismus, was qualitativ minderwertige Prosa ist, aber charakterisiert und belastet haben. Diese Auswahl kann daneben wurde auch eine Literatur mit rein literarischen insbesondere als Gegenprojekt zu Fremdenfeindlichkeit Prämissen gepflegt, eine überzeitliche Literatur, die un- und dem Autismus nationalistischer Ideologie aufgefasst abhängig von Zeit und Umgebung gelesen werden kann. werden, die den Hintergrund des in den meisten post- Einzelne Autoren streifen mit ihren singulären Werken jugoslawischen Gesellschaften dominierenden Kulturver- künstlerische Höhepunkte, indem sie universelle Themen, ständnisses bilden. in verschiedenen Formen erprobt, behandeln. Um die neue albanische Prosa des Kosovo zu bewer- Die Auswahl Iz Beograda, s ljubavlju versammelt Er- ten, muss notwendigerweise auch der Kontext der inne- zählungen bereits anerkannter und poetisch gereif- ren und äußeren Kommunikation mit dem Leser geklärt 2ter Schriftsteller sowie derer, die sich gerade aufge- werden. Die sozial-politischen Entwicklungen im Kosovo macht haben, ein Werk zu schreiben und sich einen Ruf haben zweifelsohne einen starken Einfluss auch auf das zu erobern. Im Verhältnis zu ausgewählten Erzählmustern Gebiet der literarischen Kunst gehabt, insbesondere hin- in der Prosa der vorherigen Generation serbischer Erzäh- sichtlich des Aspektes der Buchveröffentlichung und des ler führen die ausgewählten Erzählungen in dieser Antho- Buchvertriebes. logie die wichtigsten schriftstellerischen Tendenzen fort, Die Aufhebung der Autonomie des Kosovo Ende der 90er die sich im Spannungsfeld von der Erneuerung kritischer Jahre, dann die Schaffung eines Parallelsystems in den Standpunkte bis hin zum literarischen Spiel der Selbst- 90er Jahren und schließlich die Periode des internationa- referenzialität als Selbstzweck bewegten. Neu an den len Protektorats bis zur Ausrufung des Kosovo als unab- neuen Erzählungen ist, dass sie, ohne Rücksicht auf ihre hängiger Staat haben die Herausbildung eines Chaos in poetischen Wurzeln, vom Geist der Gewalt und Intoleranz fast allen Aspekten des Lebens, aber auch des Schaffens charakterisiert, wenn nicht sogar gebrandmarkt sind. Die bewirkt. Infolgedessen wird die heutige albanische Lite- Gewalt manifestiert sich dabei interessanterweise nicht in ratur von einer chaotischen Situation charakterisiert, so- einem Kriegskontext (außer in der Erzählung „Za tuđeg wohl auf dem Gebiet der literarischen Kunst als auch auf gospodara / Für einen fremden Herrn“, die sowohl durch dem Gebiet ihrer Interpretation und Bewertung. Inzwi- einen archaischen Erzählstil wie auch durch den assozia- schen kann von Erfolgen und Misserfolgen der gegenwär- tiven Titel den „Missbrauch des Menschen“ für sinnlose tigen albanischen Prosa gesprochen werden. Spezifische Staatsinteressen, die Hoffnungslosigkeit und die Nie- Entwicklungen der Schaffenden haben jedoch dieser Pro- derlage des pazifistisch orientierten Individuums direkt sa den Stempel von Beständigkeit in Zeit und Raum auf- heraufbeschwört). Der Krieg wird auf das Niveau anspie- gedrückt, entgegen den ästhetischen Anforderungen und

2 Beton Spezialausgabe März 2011 lungsreicher Fragmente und auf die Folgen des begangenen Verbrechens verschoben. Kriterien. Nicht selten passieren im kulturellen und literarischen Leben Zusammenstöße Gewalt zeigt sich vielmehr in zwischenethnischen („Tulumbe ili smrt / Kuchen oder Tod“, zwischen den Schaffenden und den Kritikern, für die der Zusammenstoß in der Mehrzahl „Progonjeni gonilac / Der gejagte Jäger“), generationen- und regionenübergreifenden der Fälle eine Prämisse des politischen Charakters und des persönlichen Grolls ist. Aktuell („Kineska četvrt / Das Chinesenviertel“), intersexuellen („I gabori se nećkaju / Auch die geben die Jungen, die den „Literaturmarkt“ betreten, den Vorzug mehr der Literaturkritik Hässlichen zieren sich“, die Vergewaltigung in der Erzählung „Kapija / Das Tor“) und in- und literarischen Studien als der Prosa. terkulturellen Animositäten („Komarci / Stechmücken“), in Hass und / oder physischen In diesem ganzen Chaos ist es für den gewöhnlichen Leser sehr schwer herauszufinden, Auseinandersetzungen. Oder in einem Terroranschlag („Poletanje / Abflug“). was gute Prosa ist, die es zu lesen lohnt. Die unbewusste Konfrontation mit schlechter Das naturalistische Volk der Vorstädte und Bergwerke amüsiert sich bei Kampfspielen, Prosa hat bewirkt, dass der Leser enttäuscht ist und sich fast vollkommen vom Lesen in denen Ratten die Gladiatoren sind („Igra / Das Spiel“), aber auch der sprichwörtlich zurückzieht. heitere Geist postmoderner Erzählstrategien leidet hier unter den Bildern der Zerstörung Die ungelöste nationale Frage in der Vorkriegszeit hat bewirkt, dass die Literatur dieser („Fragmenti / Fragmente“) beziehungsweise Entmenschlichung, in der der Mensch auf Frage gemeinhin einen großen Raum gewidmet hat. In diesem Kontext kann von Erfolgen ein aussterbendes Museumsexponat reduziert und dem nekrophilen Voyeurismus des und Misserfolgen gesprochen werden. Zweifelsohne hat die soziale Frage nicht von sich Betrachters ausgesetzt ist („Muzej savremene umetnosti / Museum für zeitgenössi- aus den Erfolg garantiert und die Produktion schwacher und vom Wert her diskutabler sche Kunst“). Mehr noch, die Erinnerung der Erzählerin an eine Kinovorstellung wird Prosa beeinflusst. Das passierte der albanischen Prosa vor und nach dem Krieg und es von den Folgen ideologischer Gewalt und nationalistischer gesellschaftlicher Regression passiert in großem Stil auch jetzt. Das soziale Thema entsteht im Kontext der Ausgren- charakterisiert („Bioskop / Kino“). Andererseits zeigt sich die Gewalt in der Äußerung zung und der Unversöhnlichkeit mit der aktuellen Situation, indem die Problematik des eines verdienstvollen Nihilismus. Tiefe Gleichgültigkeit und zynische Perversion prägen Mangels an Freiheit auf der nationalen und individuellen Ebene überbetont wird. Es kann die Welt der Erzählung, deren Subjekt fahrlässig und verantwortungslos mit fremdem gesagt werden, dass in der gegenwärtigen albanischen Literatur eine Menge globaler Leben umspringt („Loš šegrt / Der schlechte Lehrling“). Dasselbe gilt für eine Welt, in Themen und Motive behandelt werden, die in charakteristischen Situationen und Ver- der Kinderpornographie ein legales Geschäft ist, in der die Kinderschänder über nächste wicklungen rekontextualisiert werden. Anverwandte an ihre Opfer kommen („Budi dobra, Julija / Sei brav, Julia“). Selten sind Als die ersten erfolgreichen Prosaiker im Kosovo kennt man Adem Demaçi, Ramiz Kelmen- Geschichten wie „Razgovor u parku / Gespräch im Park“, ein fantastisch-infantiles Noc- di, Hivzi Sylejmani, Anton Pashku, , Nazmi Rrahmani, Rexhep Qosja, Musa turno, geschrieben in der Selbstgenügsamkeit eines gutmütigen Humors oder wie der Ramadani, Beqir Musliu, Zejnullah Rrahmani, Jusuf Buxhovi, Mehmet Kraja u. a. Einige Anfang von Dana Todorovićs Roman „Tragična smrt Morica Tota / Der tragische Tod des von ihnen leben nicht mehr, während andere weiterhin tätig sind und ihre literarischen Moritz Tot“, in dem der Erzähler im engen Souffleurkasten bewundernd einer Oper in ita- Tendenzen sogar weiter entwickeln. lienischer Sprache lauscht. Insofern ist das Abrücken von der pornografischen Erzählweise Adem Demaçi (geboren 1936), der anfänglich mit seinem sozialkritisch gefärbten Roman in „Porno star / Pornostar“ ein „Hauptgewinn“ einer Geschichte, die sich des Werks von „Blutschlangen“ bekannt wurde, ist auch heute noch sehr aktiv in der Prosa. Es scheint, Apuleius im Hintergrund nicht bewusst ist und die mit der erwarteten Prise Humor aus dass das bevorzugte Gebiet von Demaçi, der auch als einer der bedeutendsten Dissiden- dem animalischen Star des Zoo-Sex ein uns nahes und liebes Wesen macht. ten Europas bekannt ist, weil er rund 28 Jahre in serbischen Gefängnissen gelitten hat, Spielarten der Melancholie sind ein anderer roter Faden, der einige der Erzählungen in soziale Themen sind. dieser Auswahl verbindet. Diese Erzählungen sind komplex komponiert und in einen Exil- Einer der berühmtesten Schriftsteller des Kosovo, Anton Pashku, ist auch heute noch Ge- Kontext Nordamerikas oder den dunklen Bodensatz der Hyperinflation im Serbien der genstand der Literaturkritik. Der Roman „Oh“ (1971), der als ein vielschichtiger psycho- Neunziger ausgelagert, alle männlichen Erzählperspektiven erfahren das Ende langjäh- logischer Roman herausragt, wird als eines der besten jemals im Kosovo veröffentlichten riger Beziehungen und sind zur Einsamkeit verurteilt. Sei es, dass die Erzählung Barton- Werke gewertet. Ein anderer sehr berühmter Schriftsteller, Rexhep Qosja (geboren 1936), Fink’sche Elemente über einen anonymen werdenden Schriftsteller und Referenzen an stärkt die albanische Prosa im Kosovo vor allem mit dem Roman „In solchen Augen liegt serbische Verbrechen in den Kriegen der Neunziger („Sladoled / Eis“) enthält, sei es, der Tod“ (1974). Dieser Roman, der damals einen neuen Geist brachte, diente als Modell dass sie die zeitlichen und psychologischen Dimensionen umformt und ungewöhnlich für viele spätere Schaffende. verwendet („Golubiji izmet / Taubenkot“) oder dass sie aus der Insidersicht heraus Versu- Ein weiterer erfolgreicher Autor ist Musa Ramadani (geboren 1944), der mit seiner Prosa che beleuchtet, auf parapsychologischem Weg bei Verstand zu bleiben und ein Feld für einige spezifische Modelle des literarischen Schreibens geschaffen hat. Mit seinem ersten hermeneutische Untersuchungen zu bereiten („Prustov efekat / Der Proust-Effekt“), alle Roman „Das Unheil“, in dem auf kalte Weise der Schrecken beschrieben wird, den die drei Geschichten beinhalten einen kritischen und satirischen Schutzschild gegen das Hei- Dorfbewohner durch Eroberer erfahren, hat er ein Modell des atmosphärischen Romans matland und den Zeitgeist. In diesem Zeitgeist sind individuelle und kollektive Dimension geschaffen. Ramadani wird mitunter als einer der besten Schriftsteller angesehen, die das deckungsgleich mit dem Ausdruck einer Niederlage. Kosovo aktuell hat. Ein anderer sehr wichtiger Prosaiker der albanischen Literatur ist Zejnullah Ramadani (ge- Man kann sagen, dass die Anthologie Iz Beograda, s ljubavlju die Werke von Au- boren 1952), der in seinen Werken in Varianten den albanischen Widerstand behandelt. torinnen positiv diskriminiert. Unserer Meinung nach ist der mittelbare Einblick in Seine Werke werden oft mit denen Prousts verglichen. 3die Physiognomie und den Inhalt weiblicher Textualität wichtiger als die Zugehörig- Außer den berühmten und bereits von der Literaturkritik behandelten Autoren gibt es keit zu einer Generation, bereits veröffentlichte Bücher oder verfasste Erzählungen. Auch beinahe unbekannte, von der Kritik vernachlässigte Autoren, deren Werke jedoch außer- wenn Ildiko Lovaš auf Ungarisch schreibt und in einem slowakischen Verlag veröffentlicht, ordentliche Schätze für die albanische Literatur sind. Einer von ihnen ist Rexhep Murtez gehören die Themen ihrer Prosa in den zeitgenössischen serbischen Kontext. Von daher Shala, Literaturtheoretiker, der in den letzten Jahren zwei überaus umfangreiche Pro- ist ihre Prosa sowohl im Bereich der Erkenntnis als auch der Ästhetik eine Bereicherung sawerke veröffentlicht hat: „Papa Global Wor(l)d“ (2002) und „Opium alter Wor(l)d“ für diesen Kontext und ein gewinnbringender Orientierungspunkt für die gesamte serbi- (2009), zwei so bis dahin nicht dagewesene Werke. Diese zwei Bücher von Shala sind sche Szene. Die Lebenserfahrung und geistige Herkunft des Autors, der Geist Bernhards von einem völlig anderen Stil und Geist durchzogen als die Tradition der albanischen Lite- und Kafkas, haben bei Barbi Marković und Dana Todorović auf interessante Art und Weise ratur, aber die Kommunikation mit dem Leser blieb bis heute leider mangelhaft, und diese Einfluss auf die Unterscheidbarkeit ihrer Prosa vom gängigen Angebot in Serbien. Das beiden Werke blieben beinahe unbekannt. gilt insbesondere für das Readymade-Experiment in Barbi Markovićs Roman „Izlaženje / Unter den neuen, vom Alter her jungen Prosaikern, im Unterschied zu den oben erwähn- Ausgehen“ (Rende 2005), dem in Serbien das nahezu ungeteilte Wohlwollen der Rezen- ten, von denen die Mehrheit die Fünfzig überschritten hat, ragen Kujtim Rrahmani , Halili senten zuteil wurde. Der Fährte dieser experimentellen Poetik folgt auch ihre Erzählung, Matoshi, Ragip Sylaj, Ilir Gjocaj, Arben Idrizi, Ardijan Haxhaj, Besa Salihu, Gëzim Aliu u. a. mit der sie in dieser Anthologie vertreten ist und die als satirisch-grotesker Scan der hervor. Was Innovationen betrifft, ist es schwer zu sagen, ob die jungen Autoren Neues kollektiven Psychologie der österreichischen Metropole gelesen werden kann, die einen im Vergleich zu den bereits älteren Autoren gebracht haben, auch weil die älteren Autoren Nährboden für Massenhypnose und Manipulation bietet. Biljana Kosomogina ist die ein- noch schreiben und ihre Schreibweise entwickeln. Bei den jungen Autoren ist aber eine zige Autorin, die bereits einen Band mit Erzählungen veröffentlicht hat, die vorsätzlich stärkere Hinwendung zu sich selbst zu bemerken, die Beschäftigung mit sich selbst, eine Mustern des erotischen und Porno-Genres folgen und mit reichlich gut erfundenen Bi- Flucht aus den großen Themen und die Beschäftigung mit den so genannten kleinen zarrerien und ausgewachsener Komik durchtränkt sind. Jelena Đokićs Geschichte gehört Themen. zu den urbanen Chroniken der Zweimillionen-Stadt, sie schreibt aus der Sicht einer zyni- Unter den in den letzten Jahren veröffentlichten Werken der jungen Autoren ragen die schen Außenseiterin, die ständig mit schmuddligen, klapprigen öffentlichen Verkehrsmit- Romane „Hauptchronik des Amselfeldes“ (2006) von Ardian Haxhaj und „Im Klub der teln unterwegs ist und uns einen sozio-psychopathologischen Querschnitt des Alltags in Hässlichen“ (2009) von Gëzim Aliu hervor. Beide sind wunderbare Werke, die von ei- Belgrad zeigt. nem hohen Niveau der albanischen Prosa auch unter den jungen Autoren zeugen. Leider hat sich die Literaturkritik noch nicht ernsthaft mit diesen beiden Werken beschäftigt, um ihre wahren Werte herauszustellen. Ein Charakteristikum des gegenwärtigen „Lite- raturmarktes“ ist eine lärmende und kostenträchtige Werbung für schlechte Werke und für Pseudoschriftsteller, während die echten Werte, die die albanische Literatur ausma- chen, vernachlässigt werden. Der allgemeine Mangel an seriösen Investitionen seitens der Kulturinstitutionen in die Kultur im Allgemeinen und die Buchkultur im Besonderen verlängern bereits seit zwanzig Jahren nur das Chaos. Obwohl das Kosovo als Staat die Unabhängigkeit gewonnen hat, kann von der Kultur nicht das gleiche gesagt werden. Die Kultur im Kosovo ist weiterhin abhängig vom Chaos und in ständiger Gefährdung durch Pseudopolitiker, die an die Macht kommen und von ihr gehen.

Beton Spezialausgabe März 2011 3 Besa Salihu Tomislav Marković Das ABC über 75 (oder noch Radovan mehr) Stunden Karadžić

(signalistische Poesie von Radovan Karadžić, aus der Sammlung Der Ertrinkende ist ein ausgezeichneter Schwimmer)

Die Küchenfenster sind lange nicht geputzt worden – hinausgehen sehe, weil du die Tür auf der anderen Seite kaufen sie nur radovanistische poesie Staub, Fliegendreck vom vergangenen Sommer, Vogelkot hast (jedes Mal verspüre ich einen starken Impuls, raus- von Fischreihern, Tauben und zitternden Spatzen, die zugehen und zu sehen, was du anhast, wenn du nicht im für jedes haus, jedes zwangslager, jede einrichtung! über den Balkon herfallen, um den ganzen Müll (Pizza- Sessel sitzt, aber ich beschließe, mich nicht vom Fleck zu neu auf dem markt des balkans! kartons, Zigarettenschachteln, Servietten, Bierflaschen, rühren; lieber warte ich auf dich). die bereits bekannte todesfabrik zerknülltes Papier) auf dem begrenzten Raum des Bal- Ich weiß, seit kurzem gehst du auch abends raus; du legst „radovan karadžić“ hat mit ein wenig unterstützung kons mit den seit Wochen vollgehängten Wäscheleinen dir einen Schal um die Schultern und tanzt leise mit einer der freunde aus dem „verein zur verteidigung zu zerstreuen und um mir den Rachedurst wegen der Musik, die sich jede Nacht mehr ausbreitet, während sie radovan karadžićs“ missglückten Nahrungssuche hinzuscheißen – oder aber die ganze Szene um uns herum umfasst und in eine äthe- mit der produktion (fabrikation) meine Brille hat sich bei der Erahnung der über dem Feuer rische Färbung übergeht. Dasselbe Lied hörst du immer, modernster poetischer texte begonnen. kochenden Speisen beschlagen und ich sehe die Dinge dann sitzt du eine Weile ohne Lied, heftest den Blick eine poesie von hoher qualität, trüber als normalerweise mit meinen eigenen Augen. irgendwohin in die Ferne, als ob du auf etwas ganz Unbe- die man lesen, betrachten, Wie dem auch sei, erst jetzt, kaum als ich sah, dass du auf kanntes warten würdest – ein Lied, das mir Unwissenden sich anhören, unter die nägel schieben kann, dem Balkon im Sessel saßest, der mir, offen gesagt, mit immer anders vorkommt und mich an etwas erinnert, was mit der man guillotinieren, erschießen, all den bunten Kissen wahnsinnig bequem zu sein scheint, ich nicht erlebt haben kann, was macht, dass ich mich (geräucherte) hälse durchschneiden, eine entbindungs- erinnere ich mich, wie sollte ich es auch vergessen, an je- klein, groß, glücklich, gerührt, still und ganz Schrei fühle, station unter beschuss nehmen kann, nen frischen Sommervormittag, an dem ich dich aufmerk- alles auf einmal – während etwas stehen bleibt und mir in schutt und asche legen, bei lebendigem leibe häuten, sam beobachtet habe, wie du vorsichtig, aber geräusch- nur eine angenehme Leere zurückbleibt, die nur dich, nur auf raue pfähle spießen, voll aus dem Raum, der als Küche dienen müsste (gemäß dich ersehnt. mit pferden in stücke reißen, der Wohnungsgrundrisse in unserem Wohnblock), einen Komisch, dass ich dich heute Abend nicht früher bemerkt mehrmals hintereinander vergewaltigen, großen Blumentopf auf den Balkon zogst, den ich dich habe. Ich sah da unten drei Alte, wie sie zusammen gin- ein kind aus dem mutterleib holen; oft bewässern sah. Seit jenem Tag sehe ich dich früh- gen, still und langsam, in den Einkaufstüten Brot und eine poesie, mit der man morgens im Sessel verschlafen und gedankenversunken Milch, sie blieben stehen, um einen Laster vorbeifahren andere poesiebände verbrennen, schaukeln, mit der Zigarette, die dir zwischen den dün- zu lassen, der in unserer Wohnsiedlung am Tagesende die augen ausgraben, nägel ausreißen, nen Fingern langsam herunterbrennt – mal vergisst du Abfälle abholt; von irgendwo weit rannte ein Kind auf sie ohren abschneiden, elektroschocks versetzen, zu rauchen, mal die Asche abzustreifen, mal lässt du sie zu … Deshalb sah ich dich nicht. massengräber anlegen kann. eine ganze Weile im Kupferaschenbecher neben der gro- Da hast du ein Lied angestimmt, es war ein anderes! an diesen produkten, die, weil sie so ßen dampfenden Kaffeetasse liegen – die Haare fallen dir Weißt du was? Ich komme jetzt zu dir. Diese ganze Zer- rar sind, nicht einmal importiert werden können auf die Schultern, auf ein schwarzes Kleid, das du immer streutheit aus Faulheit ist heute Abend farblos geblieben. herrscht großes interesse trägst, wenn ich dich auf dem Balkon sehe, die Augen Ich komme, wir trinken ein Bierchen, ich erzähle dir ein- im inland wie im ausland. hältst du geschlossen, wie in einer meditativen Verson- zwei Geschichten, die dich zum Lachen bringen, denn einzelpersonen, haushalte, einrichtungen, nenheit, in der du scheinbar ein paar ganz verrückte und ich kann auch mal lustig sein, dann können wir vielleicht militärorganisationen, ministerien der macht, schöne Traumsequenzen vor dich hinflüsterst, die nur du tanzen und lassen den Abend umarmt in deinem Sessel geheimpolizeien, todesschwadronen, verstehen kannst. Dann klingelt das Telefon drinnen und ausklingen, von wo wir über den jämmerlichen Zustand staatliche sicherheitsagenturen, du sitzt für ein paar Augenblicke abwartend da, bevor du meines Balkons lachen können, und du kannst mir erzäh- terrorgruppen, paramilizen dich entschließt, aufzustehen, die Zigarette auszudrü- len, wie du mich bemerkt hast und ich dich. und erwachte völker können noch diesen monat cken, den restlichen Kaffee auszutrinken und hineinzu- Oder … Es reicht, dass ich erfahre, was für Strümpfe du unser neues produkt anfordern, gehen, während ich hier sitze und höre, dass du mit je- an einem Wintertag trägst; ich schlage die Augen nieder, die radovanistische poesie. mandem im gewöhnlichen Tonfall sprichst. Es scheint mir, wenn du die Tür öffnest, falls du die Klingel hörst und das neue produkt dass du danach irgendwohin gehst, obwohl ich dich nicht beschließt, zu öffnen, natürlich! fabriziert auf modernsten geräten, elektronischen rechnern aus urgroßväterlichen knochen und mitgotteshilfe komplizierter mathematischer und anderer exakter methoden, ist von hoher qualität und kein bisschen teurer als bereits veraltete und überholte produkte dieser art, nicht einmal teurer als ein menschenleben.

4 Beton Spezialausgabe März 2011 Miloš Živanović Das ToR Ich sitze vor dem Laden an der Ecke. Die Treppen vor dem die wütenden Grillen, die ihn verfolgen. Ich bin hier nur gorischen Konstruktionen, dicht am Kaminschacht, hoch Eingang setzen sich über den Gehweg und den Bordstein zufällig hängen geblieben, als ich eine Pause brauchte, über dem Boden, gab es eine Betonplattform, zu hoch um hinweg im grafischen Muster des Zebrastreifens fort, ver- eine Auszeit, nichts als langweilige, monotone Tage. Aber sie ohne Treppe, die es nicht gab, zu erreichen, ihre Exis- lieren eine Dimension. Der Zebrastreifen stößt auf die ich habe Boban gefunden, verheddert in einem Knäuel tenz erklärte sich durch eine Metalltür am Kaminschacht. Sträucher der Parkbegrenzung und zielt nun auf zwei aus unterschiedlichsten Komplikationen und Krisen, dem Boban fand ein langes und dickes Brett, das er als Ram- hohe, dicht beieinander stehende Türme hinter dem Park, Kampf ums tägliche Überleben, Familien- und Liebespro- pe benutzte, um auf die Plattform zu kommen, und das die wie ein Tor erscheinen. Wenn ich auf den Treppen sitze, blemen, ethischen und ästhetischen Zweifeln, in Konflikt er an einem gesonderten Ort versteckte. Hinter die Tür gleitet mein Blick auf diesem Streifen heterogenen Raums mit dem Gesetz. Einiges davon floss auch in meine au- des Kaminschachts warf er eine ganze Menge Müll und bis zu seiner Mündung in den Kosmos. Das Stück Him- thentischen Sorgen und autistischen Unternehmungen Dinge, die man auf einer verlassenen Baustelle findet, bis mel im Tor ist wie das Probeexemplar einer riesigen, aber ein, doch den Rest brauchte ich wie einen Furunkel am das Ganze eine entsprechende Höhe erreicht hatte. Über grundsätzlich gleichen Einheit, garantiert, versprochen. Hintern. Die vielen Turbulenzen konnten nicht unbemerkt dem Müll brachte er passgenau eine Metallplatte an, auf Ein Himmel und eine Welt. Aus diesem Himmel ergießt bleiben und ich schaffte es nicht, der unsichtbare Nach- die er seine Pakete legte und diese wiederum mit einer sich Licht auf die Welt, jenes charakteristische Leuchten bar zu bleiben. Die Grillen kehren unverrichteter Dinge Spanholzplatte abdeckte, „ein ideales Versteck für einen durch einen Filter da oben, das ich immer im Herbst sehe, zurück, was ich erleichtert ihren keuchenden Kommen- idealen Job“. Gegenüber der fantasmagorischen Ruine, in dem Gelb überwiegt, als käme es vom Laub, und das taren entnehme, die Ehre irgendeines Mädchens bleibt die von weitem an das Kadinjača-Denkmal erinnert, steht die Farben der Welt seltsam verändert, sie intensiver und ungerächt. Der Arme hockt wahrscheinlich zwischen den ein Gebäude, das vorwiegend von pensionierten Offi- fluoreszent macht. Die Umrisse werden schärfer, streng Mauern eines halbfertigen Gebäudes. Soll er ruhig noch zieren bewohnt wird. Es hätte wirklich idyllisch werden definiert und frisch, als wären sie von innen beleuchtet. ein bisschen schmoren. können, wenn sich hier junge Paare angesiedelt hätten, Dieser eine verfluchte Himmel, der sich der ganzen Welt Als niemand ihm einen Job geben wollte, der seinen Fä- die vor allem mit Kinderkriegen beschäftigt wären. Aber verspricht und dir selbst wie ein zerrissener Lumpen er- higkeiten entsprach und angemessen bezahlt wurde, mit wie es so geht, begann nach einer gewissen Zeit einer scheint. Man braucht immer mehr Mut, um sich dem Licht Beiträgen in die Sozialkassen, entschloss er sich, die Linie der Rentner die Ruine mit dem Fernglas zu beobachten, eines solchen Himmels auszusetzen. zu überschreiten, und begann mit Gras zu dealen. Anfangs weil es ihm so vorkam, als ob die ganzen Leute, die da Dann rennt Boban an mir vorbei, mit nacktem Oberkör- arbeitete er als Zwischenhändler. Kaufte billig, verkaufte reingingen, um sich zu erleichtern, wie er gedacht hatte, per, in Socken, mit wirren Haaren, er macht ein Geräusch etwas teurer, in kleinen Mengen. Dann wollte ein „seriö- doch ein und dieselbe Person waren, immer mit einem wie eine Schnecke, die in siedendes Wasser fällt. Ihm ren- ser Stammkunde“ ein halbes Kilo, und als er es bekom- Rucksack auf dem Rücken. Der Gardeoffizier hatte eine nen Jungs in raschelnden Trainingsanzügen hinterher, sie men hatte, zahlte er die halbe Summe, „die andere Hälfte Abneigung gegen jede Art von Faulheit, Subversion und sind zu viert oder zu fünft, ihre Beine machen Geräusche bekommst du morgen oder übermorgen“. Boban konnte nationalem Nihilismus, und sobald er sich davon über- wie Grillen. Mein Zen-Nachmittag ist zu Ende. die fehlende Hälfte nicht aus eigener Tasche auslegen und zeugt hatte, dass seine Ahnung ihn nicht getrogen hat- Ich bin kein Kind dieser Straße, auch nicht dieses Vier- der Importeur hatte kein Verständnis, am gleichen Abend te, verständigte er die Ordnungshüter. Die Bullerei legte tels, so wie Boban es schon immer gewesen ist, oder wie noch wurde Boban verprügelt und seine Vespa wurde ab- sich auf die Lauer, in Zivil und in einem Zivilfahrzeug. Sie gefackelt, die hatte er gerade erst gekauft, „gebraucht mussten nicht lange warten. Am zweiten Abend tauch- aber ok“. Nach dieser Episode schlug er entschieden den te mein unglückseliger Nachbar mit einem Rucksack auf Weg in die Unabhängigkeit ein. Am Stadtrand im Garten dem Rücken auf. Als er in den Keller hinunterging, fiel der Datsche, die er von seiner Oma geerbt hatte, „was ihm auf, dass er die Taschenlampe vergessen hatte, „fuck, Arben Idrizi soll‘s, Verbrechen lohnt sich, das hätte Oma auch ka- ich hatte keinen Bock zurückzugehen“. Irgendwie zog piert“. Und es lief, die Ausgaben waren im Verhältnis zu er das Brett heraus, lehnte es an die Plattform und stieg den Einnahmen gering, er achtete darauf, niemandem auf hoch. Blind tastete er im Kaminschacht umher und suchte die Zehen zu treten, er überlegte sogar, einem von den nach dem richtigen Paket, aus lauter Nervosität machte großen Bossen von sich aus Schutzgeld zu zahlen und er einen falschen Schritt und fiel runter. Er brach sich bei- Die Tiere „wie ein normaler Mensch zu arbeiten, der nicht ständig de Beine. Er schrie und heulte da unten im Dunkeln, die auf der Hut ist“. Er arbeitete nicht mit Kindern und nicht Bullen rannten herbei und fanden ihn im wahrsten Sinne mit Fremden, nur auf Empfehlung, nur mit vertrauenswür- des Wortes gebrochen vor, mit insgesamt fünf Kilo Ma- lieben das digen Kunden, die regelmäßig zahlten, nur in größeren rihuana, das sich, wie später eine Analyse zeigte, durch Mengen. Über eine Zeitschrift bestellte er Hybridsamen einen außergewöhnlich hohen THC-Anteil auszeichnete. Vaterland aus Holland, der ohne Probleme mit der Post kam. Als die Er rief mich vom Revier aus an und bat mich außer sich, Pflanzen blühten, war er sehr zufrieden mit dem Ergebnis. seinen Cousin anzurufen, mir einen Anwalt empfehlen zu Die Tiere lieben das Vaterland „Wenn nur die Penner das Ganze nicht legalisieren, sonst lassen und mit diesem Kontakt aufzunehmen, ihm alles zu Die Tiere sind die wahren Befreier fällt der Preis, haha.“ Problematisch waren nur Transport erzählen und ihm das ganze Geld zu geben, das ich an der Die unübertroffenen Revolutionäre und Lagerung. Den Großteil des Stoffs lagerte er auf dem Stelle XY finden würde. Da es sich um eine beträchtliche Die Tiere vergießen auch den letzten Speicher der Datsche. Er transportierte nicht viel auf ein- Summe handelte, die verzweifelten Eltern hängten sich Blutstropfen für das Vaterland mal, immer nur, was schon bestellt war, oder eine Menge, noch mit rein, reichte es für den Anwalt und alles andere, Die Tiere schreien sich heiser im Namen des Vaterlands die er in den folgenden Tagen sicher verkaufen würde. Er was nötig war, sodass Boban die Möglichkeit erhielt, in (Der Hund fürchtet dass der Mond sein Vaterland unterwirft kaufte sich ein Motorrad, diesmal ein richtiges, auch wie- Freiheit auf seine Verhandlung zu warten, doch das Geld Deshalb bellt er in seine Richtung!) der „gebraucht aber ok, wirklich günstig“, weil „die Bul- kam nicht schnell genug, um ihn vor den Lieblingsmetho- Die Tiere kratzen sie schlagen die Krallen in dich len nicht auf die Idee kommen, ein Motorrad oder einen den der hiesigen Polizei zu bewahren, an Informationen Sie springen dir an den Hals Biker zu filzen, die wollen nur den Helm sehen, fragen über den Markt zu gelangen, „wir haben uns geeinigt, Wenn du keine Fahne dabei hast nach Kubik und PS, wieviel ich geblecht habe“. Auf dem zum Wohle aller nicht darüber zu sprechen“. Dem Anwalt Erwartet dich das Leichentuch Gepäckträger brachte er ein modernes Plastikköfferchen und seinen Beziehungen war es zu verdanken, dass sich Die Tiere saugen dir das Blut aus wenn du dich nicht an, worin er diese kleinen Mengen transportierte, die er alles unerwartet leicht abwickeln ließ, allerdings wird Bo- In das richtige Lager einreihst dann eine Zeit lang unter dem Bett versteckte, in der ban noch lange im Minus stecken, selbst wenn er die al- Die Tiere jagen beim Kriegsausbruch Wohnung, die er mit seinen Eltern und seiner Schwester ten Aktivitäten mit gleicher Intensität wieder aufnehmen Die Moral das Recht das Gewissen in die Luft teilte. Weil das etwas unpraktisch war, wollte er das Ver- würde. Er bekam drei Jahre auf Bewährung, überirdisch Die Tiere wissen dass der HErr ihnen alles vergibt steck wechseln und seine Wahl fiel auf ein halb fertiges, gut, aber ich hatte das Gefühl, sein Herz würde aufhören Alles was sie tun aber schon ruiniertes Hochhaus, das schon seit Jahren zu schlagen, als wir dort vor dem Verhandlungssaal auf Die Tiere lieben das Vaterland sie verteidigen es in diesem Zustand war, seit die Regierung angekündigt dem Gang saßen, ich in einer Art Kinosessel, er im Roll- Die Tiere sind die heiligen Befreier hatte, Wohnungen für junge Ehepaare zu bauen, „ich stuhl. Er war richtig grün im Gesicht, zitterte, blickte sich Dafür wollen sie zur Belohnung die ganze Macht bin kein junges Ehepaar, aber auf jeden Fall vielverspre- ungläubig um und schnappte einige Wörter und Sätze Und den ganzen Reichtum chend“. Im Hochparterre der Ruine, zwischen fantasma- auf, die vor den anderen Verhandlungssälen gesprochen

Beton Spezialausgabe März 2011 5 wurden, in Erwartung seiner Hinrichtung starrte er dumpf dass sie um so und soviel Uhr online sei. Zur angekün- Wissenschaft widmen oder zumindest einen „anständigen auf seine eingegipsten Beine, Boban, mein Nachbar, für digten Zeit tauchte ich auch an diesem Ort auf, zu einem Wissenschaftler“ heiraten. Alles, was ich über sie wusste Geschäftspartner Bob El Niño, Bob Dylan, outlaw, out- kranken Rendezvous, ich schämte mich vor mir selbst. Ich und die ganzen verworrenen Dinge, die ich aus Bobans cast, how does it feel. Er erlaubte mir nicht, mit hinein- klickte auf ihr Bild und ein Fenster ging auf, durch das ich Andeutungen erahnte, was ich in mir selbst sah und was zugehen, er wollte nicht, dass ich eine noch schlimmere eine Liveschaltung in ihr Zimmer sah, das gleiche Zimmer, von ihr verursacht worden war, das alles wurde zu einem Version von ihm zu sehen bekam, wenn schlimmer über- in dem sie gewohnt hatte, als ich ihren Bruder kennen fantastischen Gebilde aus Fehlern und Gewalt. Ich dach- haupt möglich war. Ich habe nie erfahren, was genau im lernte. Als ich sah, wie sie lachend auf dem Bett saß, in te, dieses Bündel würde mich zu sehr ermüden und von Verhandlungssaal geschehen ist. Als er herauskam, waren knapper Unterwäsche, wurde ich heiß wie ein Köter. Sie ihr entfernen, aber das geschah nicht. Ich verlor zwar den seine Augen blutunterlaufen, er konnte nicht sprechen. Er begann die Stofffetzen auszuziehen und über mir ergoss Wunsch, mich mit ihrem Körper zu vergnügen, weil das zur verabschiedete sich von seinem Anwalt, dann sah er mich sich eine Welle aus einem schrecklichen, widernatürlichen Assoziation mit etwas anderem geworden war, doch ich lange an. Er bat mich um eine Zigarette. Als er den ersten Gemisch. Ein Zittern überkam mich, biss in meinen Ma- hatte ein stilles Gefühl für sie. Für sie ist ein besonderer Rauch ausstieß, flüsterte er: „Danke Aleksander, ich dan- gen, ich war enttäuscht von mir selbst, dachte an Boban, Platz reserviert, wie für jemanden, der einem besonders ke dir wie einem Bruder, bis zu meinem Lebensende stehe erinnerte mich, wie ich sie kennen gelernt hatte. Ich biss nahe steht, auch wenn man ihn nicht richtig kennt, von ich in deiner Schuld.“ Ist in Ordnung, antwortete ich, du auf meine Unterlippe, bis es blutete, und unterbrach die dem man weiß, dass er irgendwo da draußen ist und dass schuldest mir nichts, nur dem Halsabschneider, von dem Verbindung, dabei zerbrach ich fast die Maus. Den Abend es wichtig ist, dass es ihn gibt. Tja, aus meinen langweili- du dich gerade verabschiedet hast. Ich klopfte ihm auf verbrachte ich meditierend. Beki verdiente eine beträcht- gen monotonen Tagen war nichts geworden, dank Boban die Schulter und schob ihn hinaus aus diesem Gebäude, liche Summe, und wer weiß, wieviel sie noch eingestri- und seiner Schwester, oder besser dank der Welt und der dessen Kälte an ein Museum des Völkermordes erinnert, chen hätte, wenn ihr Bruder nicht alles entdeckt hätte. Dinge, die über sie hereinbrachen und unabhängig davon durch dessen dunkle Gänge Menschen mit aufgeklebtem Der Webmaster hatte lange auf sie eingeredet, sich für ein über mich, sie waren wie ein Prisma, durch das die Dinge Lächeln flattern, in metalldurchwirkter Kleidung, die we- Pornomagazin fotografieren zu lassen, was sie abgelehnt auch mich trafen. der Schweiß noch Fürze durchlässt, mit glattrasierten Ge- hatte, doch als er einmal besonders beharrlich gewesen Solange Boban im Rollstuhl saß, besuchte ich ihn oft. Ich sichtern und parfümiert mit Geld. war und eine große Summe angeboten hatte, machte sie erkannte, dass sich seine Welt auf mich und seine Schwes- In Bobans Wohnung zogen Trauer und Jammer ein. Sein mit. Dann fand ein Bekannter die Bilder in der Schulta- ter reduziert hatte. Mit seinen Eltern kommunizierte er Vater wiederholte immer wieder, er wisse nicht, wie er sche seines jüngeren Bruders, er sah sich die Bilder an, nach den finanziellen und emotionalen Brüchen, die sei- die Schulden zurückzahlen solle, sie müssten das Auto erkannte Beki und lief damit zu Boban. Der kam mit der ner Verhaftung gefolgt waren, fast nicht mehr. Sein Vater verkaufen, vielleicht auch die Datsche, er wisse wirklich Nachricht zu mir. Er bereitete sich Tage lang psychisch war früher im Grunde ganz normal gewesen, ehrlich und nicht weiter, er drohte, Boban zu enterben, umzubrin- vor, dann ging er ohne anzuklopfen in das Zimmer seiner fleißig, ein Mann, der mit aller Macht normal sein wollte, gen, seine Mutter kreischte, wollte sich selbst umbrin- Schwester, in der Absicht, ihr eine runterzuhauen und ihr dieses „normal“ aber nicht mehr definieren konnte. Das gen, seine Schwester schluchzte. Boban hielt die Hände etwas Gemeines zu sagen, doch er warf nur die Zeitschrift verursachte wahrscheinlich seine gelegentlichen irratio- seiner Schwester, schaute auf seine gebrochenen Beine aufs Bett und umarmte sie so fest er konnte. Sie weinte nalen Ausfälle und Spinnereien angesichts einiger politi- und schwieg. Seine Schwester nannten alle Beki, ich weiß ein bisschen, und danach brach sie unvermittelt alle Brü- scher Dauerbrenner. So hatte Bobans Vater zum Beispiel nicht, wieso. Sie ist um einiges jünger als wir. Sie schlüpf- cken ins Herz der lokalen Pornoindustrie ab, zur großen auf dem Nachttisch das Buch dieses wahnsinnigen Rus- te in mein Herz, als sie noch ein Kind war. Ihr Wust an Enttäuschung des Webmasters und vieler Porno-Surfer. sen liegen, der auf Sarajevo geschossen hatte, und der Problemen war vielleicht sogar größer als seiner, doch das Sie milderte die Farbe ihrer Haare, setzte eine Brille auf Zweifel an den Grundsätzen des eigenen Lebens flammte meiste kannte ich nur aus Bobans Erzählungen. Als das und schrieb sich an der Uni ein. Sie wollte sich ganz der insbesondere auf, wenn Wahlen anstanden, dann war er süße Kind anfing, sich zu entwickeln, aus sich heraus zu explodieren, ließ das niemanden in ihrer Umgebung unge- rührt, leider auch Bobans Kumpels aus der Kindheit nicht, an deren Anwesenheit sie von klein auf gewöhnt gewesen war und die sie als eine Art Brüder ansah. Auf irgendeiner Möchtegern-Party, nach einigen Schlucken Alkohol zuviel begann die Krankheit der Gehirne sich zu entfalten, und nachdem sie sich etwas freizügig benommen hatte, wurde sie von dreien vergewaltigt. Zuerst lachte sie, um nicht Mitleid zu erregen und ihre wachsende Beliebtheit zu ge- fährden und vor den älteren Jungs wie ein Dummchen zu erscheinen, dann wehrte sie sich immer heftiger, was nur blaue Flecken auf ihren Schenkeln hinterließ, und als der dritte erledigt hatte, was er wollte, schluchzte sie bitter- lich, während ihr Bauch sich in unkontrollierten Krämp- fen wand. Boban tobte später und rächte sich auf jede erdenkliche Weise, dann ließ er es, löschte es irgendwie aus seinem Kopf oder vergrub es, und kam nie wieder auf dieses Thema zurück. Das heißt, eigentlich doch, ein Mal. Viel später, Beki hatte einen Freund, den sie angeblich liebte und mit dem sie es ernst meinte, sie erzählte ihm von dieser Nacht. Ein Akt des Vertrauens, natürlich, doch damit lieferte sie selbst den Vorwand und die Beziehung endete schmerzlich. Sie hatten einen üblen Streit und sie sagte, was in dieser Nacht geschehen sei, sei schmerzhaft und erniedrigend gewesen, doch es sei der „beste Sex ih- res Lebens“ gewesen, besser vor allem als „das, was er Sex nannte“. Sie sah ihn nicht wieder, und er ging in seinem Schock zu Boban und erzählte ihm brühwarm von dem Streit. Der hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen oder irgendwie zu reagieren, dann warf er ihn aus der Woh- nung und trank eine Flasche Schnaps. Beki fühlte sich von dieser Gewalttat gezeichnet und verursachte in der Folge eine ganze Reihe Zwischenfälle und legte ein verrücktes Verhalten an den Tag, sie bot den Leuten das einzige, was sie hatte, und das einzige, von dem sie annahm, dass es diese „Leute“ interessierte. Als ihr die Eltern einen Com- puter kauften, besorgte sie sich eine Webcam, und über eine schlecht gemachte Porno-Webseite fand sie ihren Weg in die echte Industrie. Vor der kleinen Kameralinse tat sie mit ihrem Körper, was die geifernden alten Schlei- mer aus dem Netz von ihr verlangten. Das hat Boban mir alles erzählt, nachdem er es herausgefunden hatte, und es dauerte eine Weile, bis diese Nachricht durch die lan- gen Infokanäle gesickert war. Ihren Körper vor Augen, den ich so oft durch die Kleidung erahnt hatte, konnte ich nicht widerstehen. Ich fand die besagte Seite, sah ihr Bild mit dem Namen Angel darunter. Sie trug die Haare kurz und in einem schrillen Rosa gefärbt, als wäre sie von die- sem ganz bestimmten Herbstlicht beleuchtet. Da stand,

6 Beton Spezialausgabe März 2011 wirklich unerträglich. „Ja, mein Alterchen, da habt ihr uns Morgen ihr Bullen, guten Morgen Geheimagenten“. Rade auszusteigen. Ich suchte mit den Augen jemanden, der wirklich eine wunderbare Welt hinterlassen, du und dein rief „Erwache, du irdischer Friedhof, guten Morgen“, und sich an mich wenden würde, aber jetzt blickte niemand verrückter Russe“, stänkerte Boban. Jetzt gibt es nicht ich schrie „Morgen Kaffee! Morgen Kaffeeee!“. Das spon- mehr zu mir, es sprach auch niemand etwas Verständli- mal mehr Stänkereien, nur Schweigen, dessen Unerträg- tane Voodoo-Völkchen zog gegenüber in die Muschelbar. ches. Das Gejammer im Vorgarten dauerte unaufhörlich lichkeitskoeffizient ständig steigt. Ich bekam meinen Irish Coffee, den ich mit meinem Mor- an, und um mich herum vernahm ich Gemurmel. Ich öff- Zu der Zeit quatschten wir endlos, über alles und jedes, gengruß herbeigerufen hatte, und einen doppelten Whis- nete meinen Frachtraum und unzählige Hände griffen eingeschlossen im Zimmer wie in einer Kapsel, unbewusst ky dazu, um den Mojo-Man zu wecken. Meine Kumpel nach dem Sarg. Dann tauchte auf einmal ein großer Mann annehmend, dass es ein unzerstörbarer Bunker war und hatte ich in der Menge aus den Augen verloren, es war ein mit Schnurrbart auf, mit rotem aufgedunsenem Gesicht, uns für immer beschützen würde vor allem Unbill der einziges Tohuwabohu. Einer der Jungs trank Whisky aus er roch nach scharfem Schnaps. Er warf sich auf den Sarg, Welt, die sich in eine erschreckende Außenzone verwan- meinem Glas und bemühte sich, den Lärm zu übertönen. über die Hände hinweg, die sich panisch zurückzogen. Er delt hatte, das Zentrum von Zerstörung, Strahlung, indi- „Du siehst aus, als würdest du in einem Bestattungsun- schluchzte, eigentlich war es mehr ein Röcheln und äh- vidueller und kollektiver Tragödien, eine Zone, in der das ternehmen arbeiten“, schrie er. „Ich arbeite in einem Be- nelte dann am ehesten einem Knurren. „Die haben ihn Gute ebenso wie das Böse in greifbarer Nähe lag, wo sich stattungsunternehmen“, antwortete ich. „Dann ist es ja umgebracht“, hörte ich, „wegen denen ist er gestorben“, aber unzählige Hände nach dem verführerischen Bösen kein Wunder, dass du aussiehst wie ... Siehst du, wenn es wütend schlugen seine Fäuste auf den Sarg. Während er streckten. Beki kam manchmal vorbei, um mit den beiden dir gut gehen soll, wenn du Lust hast zu tanzen, wie man so gebeugt dastand, sah ich an seinem Rücken eine Pis- „Stalkern auf Urlaub“ Kaffee zu trinken. Wir schlürften sonst nirgendwo tanzt, dann ist eine Lesbenbar genau der tole, die im Hosenbund steckte, und mein Alarmmesser schwarzes Wasser und verstanden uns ohne Worte, einan- richtige Ort.“ Ich entdeckte Rade, der wilde Tanzschrit- bewegte sich in den roten Bereich. „Wegen denen ist er der dankbar für die ruhigen positiven Momente, obwohl te ausführte, am Treppengeländer hinunterrutschte und gestorben, verflucht seien ihre Mutter und ihr Blut“, wie- wir wussten, dass das nicht anhalten konnte, dass die Au- über die Theke sprang, Schweiß strömte über sein Gesicht derholte er unablässig, atmete schwer und richtete sich ßenzone keine Ruhe gab und dass der Teufel früher oder und die Fliege war verrutscht, aber seine Augen blitzten dann auf. Die Hände kamen zurück und zogen den Sarg später in Gestalt eines durchgeknallten Batman-Priesters wild und ungestüm, und seine Lippen verzogen sich im- heraus. „Die sollen sich bloß nicht auf dem Friedhof zei- an die Tür klopfen würde, ein Zeichen, dass wir uns weiter mer weiter zu einem Lachen, das echtes unnachahmliches gen, das hier wird sie richten.“ Ich sah die Pistole in seiner und immer weiter mit der Welt herumschlagen müssten, momentanes Glück ausstrahlte. zitternden Hand, der morgendliche Alkoholkonsum biss bis ans Ende aller Tage. In dem Versuch, uns auf die ver- Irgendwann später verkündete Rade, dass ich „Scheiße sich durch meine Gedärme, den Magen und erzeugte ein flixte Zukunft vorzubereiten, machten wir häufig Pläne nochmal, den ersten Kunden holen“ und in eine Stadt Geräusch, das bis zu meinem Hals hochstieg, als wollte es für die Vernichtung des auf dem Speicher der Datsche hundert Kilometer weit weg fahren müsste. Er war völ- unbedingt bemerkt werden. Ich trat einen Schritt zurück, verbliebenen Stoffs, und da Boban immer davon sprach, lig verknittert, hielt sich kaum auf den Beinen, die Ärmel der Mann sah mich wütend an. „Was?!“, schrie er. „Mein in meiner Schuld zu stehen, weil ich in einer schweren seines Sakkos hatten sich vom Rest gelöst, das Hemd Herr,“ stammelte ich, „er ist jetzt bestimmt an einem bes- Zeit an seiner Seite gewesen sei, sagte ich, er könne mir war zerrissen, die Fliege verschwunden. Auch ich war in seren Ort.“ - „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, helfen, eine anständige Arbeit auf dieser Seite des Ge- keinem besseren Zustand. Boban schlief in einem der du verdammte Schwuchtel!“ Er drückte mir den Lauf in setzes zu finden, denn in dem Moment hatte ich einen Wagen, verflucht. Was sollte man machen, ich sprang den Bauchnabel. Ich ging langsam rückwärts, bis zur ge- Job bitter nötig. Er versprach, alles zu tun, was in seiner schnell unter die Dusche und dann in die Höllenmaschine. öffneten Autotür. Dann sprang ich ins Auto, verriegelte Macht stand. Als endlich sein Gips runterkam, musste er Eineinhalb Stunden später war ich einer anderen Stadt, die Türen und jagte mit quietschenden Reifen die Straße zur Reha, er hatte etwas zugenommen und seine Beine vor dem Haus, wo ich den Verstorbenen abliefern sollte. hinunter. Roadrunner, Roadrunner ... hatten abgenommen und stanken wie zwei besoffene Der Vorgarten war voller Leute, die gebeugt durcheinan- In den nächsten Tagen übernahm ich nur Fahrten inner- Weiber. derliefen. Als ich den Motor ausmachte, hörte ich einen halb der Stadt, und dann transportierte ich eine ganz Ich hatte einen Kater und versuchte steif vor Kälte, mich lauten Klagelaut und die meisten wendeten ihre Schritte spezielle Fracht. Ich hatte mit Boban besprochen, sein im Bett aufzurichten, meine Augen brannten und ich in meine Richtung. Ich erstarrte vor Schreck und wusste verbliebenes Gras im Krematorium zu vernichten, nach hasste aus ganzem Herzen das verdammte Telefon, das nicht, was ich machen sollte, sie kamen wie Zombies auf Rücksprache mit Rade natürlich. Wir fuhren abends zur um fünf Uhr morgens jaulte wie eine Sirene, wie ein Red mich zu, knieten vor dem Wagen nieder und starrten mich Datsche und füllten einen Eichensarg. Dann gondelten Alert. Bobans Stimme klang frisch und fröhlich, als sei er durch die Scheiben an. Jemand machte sich am Gepäck- wir durch dichten Nebel die Serpentinen hinunter, die schon fünfzig Jahre lang wach gewesen und hätte noch raum zu schaffen und mir blieb nichts anderes übrig, als den Bergwald durchschnitten, in einem Leichenmerce- mindestens fünfzig vor sich. Er unterrichtete mich, dass des voller Stoff und zu phantastischer Musik, wir rasten er den idealen Job für mich habe, in einer Stunde soll- der Stadt entgegen und wenn sie uns in dem Moment te ich ihn treffen, am anderen Ende der Stadt in einem erwischt hätten, hätte wahrscheinlich keiner kapiert, dass gottverlassenen Vorort auf der anderen Seite des Flusses. es um einen Kampf gegen Drogen und Kriminalität ging – Er erwartete mich mit meinem möglicherweise zukünf- Arben Idrizi „ohne Tramadol ins 21. Jahrhundert“, wie der verstorbene tigen Arbeitgeber, Kumpel Rade, ein Freund aus Zeiten Fleki Ende des zwanzigsten Jahrhunderts im Radio pro- des Militärdienstes. Sie warteten vor einem grauen unver- pagiert hatte. Rade wartete schon ungeduldig auf uns. putzten Gebäude mit großem schwarzen Metalltor und Wir legten den Inhalt des Sarges auf die Platte, die in den einem hohen Schornstein. Rade begrüßte mich herzlich Ofen geschoben wird, und bespritzten den Haufen mit und erzählte von seinem Geschäft. Der Mann leitete ein Wir nehmen Wasser, damit die Flammen nicht sofort hochschlugen. Krematorium und organisierte den Transport „derer, die Boban und Rade schleppten und verteilten riesige Musik- nicht mehr bei uns sind, Gott sei ihrer Seele gnädig“. Er boxen und ich lief zur Bar, fand die Karnevalsgesellschaft gefiel mir sofort. Er war perfekt zurecht gemacht, mit den Frieden und zitierte sie zum schwarzen Tor. Wir entließen die Mu- schwarzer Fliege, er hatte weiche weiße Hände und ver- sik in die Nacht. Jonathan Richman sang I was dancing in langte für seine Dienstleistungen Preise, dass den trau- als ein not- the lesbian bar, au, au ... Die Jugendlichen kreischten und ernden Hinterbliebenen die Ohren schlackerten. Er hatte hüpften vor dem Tor, sie versuchten zu sehen, was vor sich einen soliden Fuhrpark, bestehend aus speziell herge- ging ... But in this bar things were done my way ... Dann stellten Mercedes-Kombis, „stark, geräumig, gemütlich, wendiges stellte Rade den gigantischen Ofen an, Boban verschlug mit speziellen Kühl- und Belüftungssystemen und einer es bei dem Anblick fast die Sprache. „Verdammt, das ist ausgezeichneten Musikanlage“. Mein Job sollte sein, ei- Übel hin kein Schornstein, sondern eine Abschussrampe.“ Die Ze- nes dieser Schiffe zu fahren, den Verstorbenen zum Kre- remonie begann, wir opferten allen Gottheiten, die dazu matorium zu bringen, wenn er verbrannt werden sollte, geneigt hatten, diesen verfluchten Himmel zu bewohnen oder nur zum Friedhof, wenn er ein „Konservativer“ war. Wir, beide Parteien, haben hier gemeinsam unsere Äcker, – „Hier, das ist für euch alle! Wir wissen, dass es da oben Der reguläre Lohn war mehr als zufriedenstellend, und unsere Häuser, eng ist und dass ihr wilde Orgien feiert!“ Wir brachten dazu noch die Überstunden. Deal? Deal! Wir gaben uns unsere Leben, Gräber und heiligen Häuser. unser Rauchopfer dar, für uns drei, für Bobans Schwes- alle drei nacheinander die Hand und Rade nahm uns mit Das und andere Dinge sind göttliche Ideen, ter, für die Jugendlichen draußen. Wir hatten den naiven rein, um mir meine Arbeitsuniform zu zeigen. Ich zog das die bewirken, dass wir einander bis auf den Tod hassen. Wunsch, das Ende herbeizurufen, indem wir ein großes schwarze Sakko aus Feincord an, die Revers waren mit Wir haben keinen Herrn, dessen beide Parteien bedürfen. Fest veranstalteten für das Ende eines beharrlichen Kon- je einer Rose aus schwarzer Spitze besetzt, und fragte, Aber auch ansonsten gab es nie einen Gott für alle. tinuums, das uns quälte und quetschte wie eine Presse, ob ich auch eine Fliege tragen würde. „Ach nein, nein. Wir wollen einander alles zerstören, was wir haben. Ende, wiederholte ich bei mir, Schluss, Finito, Punkt und Die Chauffeure tragen Cowboybänder um den Hals, das Wir wollen keine Rosen des Wassers und des Lächelns Schnitt. Ich war ehrlich gerührt von diesem feierlichen sorgt für eine kleine Prise Abenteuer.“ Ich band mir den haben, Moment und verspürte das Bedürfnis, genau jetzt alle schwarzen Bändel um und meine Karriere kam mit unbe- sondern aus Blut und Hass. Wir verehren dieses alte Bild, mir lieben Menschen und wichtigen Momente von meiner kanntem Ziel ins Rollen, auf den Reifen eines schwarzen auf das wir uns als Farbe ausbluten. ersten Erinnerung an bis jetzt in einem einzigen Gedan- Mercedes. Wir wollen nicht, dass jedem seine Seele als Altar dient. ken zusammenzufassen. Aus dem Schornstein quoll ein Boban schlug vor, kurz etwas trinken zu gehen, „um die- Wir wollen keine irdische Idee haben, gigantischer Mojo, durchdrang den Nebel und die niedrig sen neuen Anfang zu begießen“. Als wir um die Ecke bo- die bewirkt, dass wir nebeneinander auf dem gleichen stehenden Wolken, die in dieser Nacht auf der Stadt la- gen, trafen wir auf eine Gruppe Jugendlicher, Mädchen Weg gehen. gen. Die Jugendlichen durchschauten die Ereignisse und und Jungs in Karnevalskostümen, geschminkt und mas- Für beide Parteien ist es ein fremder Tag, der Tag eines ihre Bedeutung, und schon tanzten und applaudierten kiert. Eine plötzliche Eruption von Farben und Lachen dritten. sie hysterisch, schlugen gegen das Tor. Glück senkte sich an diesem grauen Morgen bei diesem grauen Wetter. Sie Dieses Land ist unser Zoo. auf diesen gottverlassenen Vorort. Am nächsten Tag er- winkten uns zu und kicherten. „Guten Morgen Vietnam, Wir nehmen den Frieden als ein notwendiges Übel hin wachte ich gegen Mittag, ich lag im Krematorium auf dem guten Morgen Amerika“, riefen sie. Boban schrie „Guten und warten, dass unser Tag kommt. Boden, Boban und Rade sahen aus wie Leichen, die mit

Beton Spezialausgabe März 2011 7 Whisky- und Bierflaschen in der Hand auf ihre Verbren- nung warteten. Ich kochte Kaffee und mit diesem Duft Halil Matoshi erweckte ich die Toten. Als wir wieder zu uns kamen, sag- te ich Rade, ich würde ein paar Tage freinehmen, er gab seine stumme Zustimmung, er nickte mit seinem zerzaus- ten Kopf so voller Verständnis, dass ich annahm, er hege den gleichen Wunsch. Als ich das nächste Mal durch das Die neue schwarze Tor ging, war Rade nicht mehr da. Ein unbekann- ter Mann sagte, Rade habe ihm den Laden verkauft und sei fortgegangen. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Menschen gehen, verschwinden. Es gibt so viele Gründe, die Brücken hinter sich abzureißen und abzureisen. kosovarische Ich sitze auf der Treppe, sehe zum großen Tor und zum Stück Himmel darin. Der dicke dunkelhäutige Besitzer des Drugstores verkündet mit ernster Stimme, dass ich erst wieder anschreiben lassen kann, wenn ich alle mei- Poesie ne Schulden beglichen habe. Ich reiche ihm die Kohle über die Schulter. „Du bist ein anständiger Junge“, sagt er, „willst du bei mir arbeiten?“ - „Nein“, sage ich, „ich Mit dem Autor dieses Aufsatzes und mit Xhevdet Bajraj, also auch Seele und Geist des Menschen sind mit den habe nicht vor, länger zu bleiben, es ist nicht langweilig.“ Arben Idrizi, Avni Rudaku, Shpëtim Selmani u. a. tritt die Dingen ein Fleisch geworden, weil die Dinge sprechen, Er lacht heiser in seinem ramponierten Sessel. „Ein zar- neue kosovarische Poesie, so kann man sagen, in eine Emotionen auslösen, Gefühle, Überdruss, Hass, Ekel, Ver- ter, verweichlichter Weißer“, sagt er. Boban schleicht wie neue Sensibilität ein, in eine Poesie des un-monumen- gnügen, Erholung, Relaxen, Mühe, Erregung und Exit. ein Geist die Straße runter. Er ist halb nackt und barfuß talen Formats, indem sie die große Idee des soziokultu- Also der Ausgang ins Jenseits. und zittert leicht, sein Gesicht ist verkratzt. Er fragt, ob rellen monumentalen Typs meidet, indem sie sich von der Die Situation des Simulacrum (Baudrillard) ist eine vir- ich die Grillen gesehen habe, die hinter ihm her sind. Ich „Pontifizierung“ der gewesenen oder angenommenen tuelle Realität, wenn wir verstehen, dass die Gegenwart sage ihm, dass sie weg sind und es sicher ist. Er tut als sei und imaginierten Werte nationalen Ursprungs losreißt, (Moderne) sich ausgehöhlt und die Zukunft des Morgens er sauer, weil ich ihn nicht gleich gesucht habe. Lachend deren Basis der nationale Mythos und das Ideal des kol- erzeugt hat, die postmodern ist und die zu Ende ist, noch sage ich, dass er sich damals vergeblich vor dem Knast lektiven Widerstandes ist. Diese Poesie tritt somit in eine bevor sie sich als Kulturmodell konstituiert hat. Die Poe- gerettet hat, wenn er sich jetzt erwischen lässt und es ihm Post-Postperiode (insofern wir uns an die Formulierung sie, die wir als Poesie der neuen Welle im Kosovo bezeich- übel ergeht, nur weil er den Schwanz nicht in der Hose post-modern gewöhnt haben!?), von der nicht gewiss ist, nen, bezeugt den Fakt, dass der Modernismus in seinem lassen kann. Er antwortet mit einer idiotischen Grimasse. ob es sie gibt; gewiss ist aber, dass es etwas gibt, das uns Streben nach dem nicht zu Imitierenden gescheitert ist. Er muss heim, ein Nickerchen machen. „Geh nur, mein mitteilt, dass wir auch nach Moderne und Postmoderne Dieses Nachdenken über die Verdinglichung / Materia- Freund,“ sage ich mehr zu mir als zu ihm, „ich mache auch Wesen sind, die dichterisch wohnen (Martin Heidegger), lisierung des Geistigen (der Grundrealität) würde ich als die Fliege, genau durch dieses Tor, genau in diese mäch- lebende Wesen, die fühlen, denken, sich freuen, Schmer- Loslösung von der Postmoderne bezeichnen – so wie tige Leere da oben.“ zen haben und also auch Träume. Jean Baudrillard die Loslösung von der Moderne sah. Die neue kosovarische Poesie zeichnet sich als Lyrik von Diese Loslösung ist gemäß Baudrillard nur als Loslösung Dingen und Augenblicken aus, sie kennzeichnet also: a) in der Theorie möglich, weil die Theorie nicht die Kulmina- das Ende der Metaerzählungen und der großen Archety- tion, sondern die Negation ist, also „das Ende der Kunst“, pen; b) Simulacrum; c) Spot. wenn das Zeichen – das bezeichnende Bild – durch vier Trina Gojani Aber weil die Humanisten die Epoche der avancierten Phasen hindurchgeht: Es ist die Widerspiegelung der Technologie als Depersonalisierung bewerten, denke ich, Grundrealität; es maskiert und verzerrt die Grundrealität; dass uns genau das zum Selbst (zur Individualität) in einer es kennzeichnet den Mangel an Grundrealität und hat Auch so wird entmystifizierten und dekonstruierten Welt zurückführt keine Beziehung mehr zur irgendeiner Realität – es ist ein und dass diese Demythisierung keine Entfremdung, son- reines Simulacrum seiner selbst ... Das bedeutet, dass die nun mal dern im Gegenteil Befreiung ist. Grenze zwischen Kunst und Realität völlig verschwunden Die neue kosovarische Poesie drückt also nicht das kol- ist, weil beide in ein universelles Simulacrum überführt lektive Wesen aus, sondern ist ein Wesen an sich und für wurden. gestorben sich als heiliger Gegenstand. Während gemäß des aristotelischen Konzepts von Zeit Sie ist prosaischer (im Jahrhundert der Nachricht ist sie und Raum als philosophischen Kategorien das Phänomen sogar journalistisch), aber die Arten der Narration und das der Kondensation der erzählten Zeit und der „Kondensa- ... und plötzlich stellst du fest, dass du gestorben bist, Prozedere sind ganz neu, weil mit dieser Art von Poesie tion des Raumes“ als Chronotopie des Romans und des aber du atmest noch. Du steckst dir noch eine Zigaret- die Metaerzählungen (die großen Narrationen) zu Ende Films und auch des Dramas anerkannt ist, ist dieses Kon- te an, die dich an alle Schmerzen erinnert, und am Ende gehen und alles zu einer reinen Physik der kleine Dinge zept bisher nicht als Chronotopie der Poesie anerkannt fließt mit dem Wasser des WC auch das Gute dieses Le- (Gegenstände) in fortwährender Bewegung wird, die das worden, das aber durch die Poetik vom Autor dieses Tex- bens ab Leben, die Privatheit oder das Lebendigbleiben des Men- tes, von Bajraj und Idrizi in die Poesie eingeführt wird. … so wird also auch gestorben, aber auch gelebt schen ausmachen. Die Gedichte dieser drei Autoren sind die ersten dieser … und schon erkältet sich dein Körper, du bekommst Die kosovarische Poesie nach den bereits klassischen Art in der albanischen Sprache im Kosovo, die ein Zei- Fieber ... die Stunde des Todes naht Azem Shkreli, , Sabri Hamiti und Ali Podrim- chen / einen Code in Zeit und Raum darstellen, das / der … aber warum muss ich auf eine Melodie warten, um zu ja als metanarrativer Ausdruck des menschlichen und die kondensierte Sprache über eine längere Zeitperiode sterben? nationalen Selbst (Kollektivschicksal) kennzeichnet eine (Zeitdauer) spricht und diese damit kondensiert … … nein, ich werde meinen Schmerz singen, ich werde brillante Loslösung von starken Metaphern und dem Her- In der Poesie dieser Autoren können eine ganze Epoche, ein Epitaph für mich schreiben, niemand kennt meinen metismus, um das Charakteristikum der Sensibilität für eine durch den aquarellierten Hintergrund oder den Spot Schmerz besser als ich kleine Dinge anzunehmen. entblößte Gewalt „dekodiert“ werden, und durch die … und so wird gestorben, anders als die anderen In der Poesie der neuen Welle tritt der Mensch aus der poetische Sprache wird die Fotografie als Ästhetik der … auch allein wird gestorben Anonymität heraus, um sich in einen Mensch-Gegenstand Traurigkeit evoziert und dargestellt. Die nackte Gewalt … auch beim Atmen zu verwandeln, der kommt. Der technisierte Mensch, „das erscheint als der Geheimcode aller Zeiten, indem der … auch beim Anblick der Augen, die dich schnell verges- kalte Eis“ wie Herr Mersault von Camus. menschliche Schmerz, die Zweifel und „Rollen“, die der sen werden Dieses Experiment verwandelt sich bereits in einen poe- Mensch annimmt oder die er vom Drama der Ewigkeit be- … auch bei der Berührung eines Papiers, auf dem es wi- tischen Code, vielleicht in das Experiment der Schaffung kommt, universal werden. Die Gedichte von Bajraj zeich- derstrebt zu schreiben von emotionalen und geistigen Effekten, mittels der ge- nen sich durch den Geist der stillen Revolte aus, die durch … auch in Begräbniszügen wöhnlichen Sprache und der Allgegenwärtigkeit von In- den „geheimen“ Code der nackten Gewalt die Reparatur … auch beim Verraten formation dank der Vermittlung durch High Tech. der Welt durch die Kunst zum Ziel hat (wir haben Kunst, … auch beim Weinen Der Mensch als globales Wesen ohne Intimität, offen um nicht an der Wahrheit zu sterben, Nietzsche), die den … auch beim Abschied nehmen gegenüber anderen, ohne Komplexe, ohne Vorurteile … Hersteller der schwarzen Binde für die Erschießung iro- … ja auch beim Lächeln wird gestorben Also ein decodierter Mensch (ein großes Kind, gesetzt in nisiert, also die Idee des Augenschließens, und mit dem … unter Schmerz lächelst du, denn niemand kennt ihn den globalen Raum wie in das Auge des Panoptikums, Augenschließen (um das Verbrechen nicht zu sehen, zu besser als du ohne Limits, Grenzen, Staaten, Vaterländer, Nationen). beobachten) öffnet sich ein trübes Fenster oder ein ge- … es wird auch ehrlich gestorben, wenn du um Verge- Und als solcher begegnet er uns auch in der neuen koso- heimes Tor, das der Kindheit, wodurch die Figuren dieses bung bitten willst, aber es ist niemand zum Bitten da varischen Poetik. Ein totaler Mensch. Die neue kosovari- Autors weit in die Vergangenheit fliegen und sich unver- … gestorben wird ja auch vergessen und verachtet sche Poesie ist vor allem das Zeichen einer neuen Epoche, züglich im Hier aufhalten, im Ereignis – im Spot. … es gibt ja allerlei Tode, aber der meine ist am spür- in die wir von uns noch unbemerkt eingetreten sind: in Der Akt des Lesens bestätigt, dass die Sinnhaftigkeit der barsten den Globalismus. poetischen Sprache nicht das Verschmelzen der Bedeu- … ich näherte mich der „Welt“ um mich und starb allein An dieser Poesie beobachten wir, dass auch die sakralen tung und der Stimme ist, sondern die Verschmelzung der … gestorben wird ja auch für die morgige Sonne Dinge bereits vergegenständlicht / materialisiert sind, Sinnhaftigkeit in der Menge der evozierten oder der sti-

8 Beton Spezialausgabe März 2011 mulierten Fotografien, und mit dieser Verschmelzung wird Obwohl die Poesie von Bajraj, Idrizi, Rudaku und Selmani eine „ikonische Sinnhaftigkeit“ geschaffen. von der Beatkultur beeinflusst ist, evoziert und bezeugt Im Unterschied zu der beschreibenden Poesie des Krieges sie, dass jeder Wahnsinn System hat (die Chaosregel), Einst und und der Gewalt mit ihrer „eindeutigen“ Aussage kodifi- wenn der geistig Kranke klar wird, der Hahn kräht, der ziert Idrizi die Sprache je ironischer desto meisterhafter, Mensch – der mächtige (die Herren des Krieges) – Regeln jetzt er kondensiert die erzählte Zeit in eine Spot-Poesie (von für die Dinge beschließt (wie ein Dichter, der eine Regel zwei-drei Minuten), die uns ermöglicht, zu sehen als ob beschließt und die Fotografien kontrolliert, indem er den … Oder er führt uns die ganze Geschichte des albanisch- Anblick in der Ikone kondensiert), aber am Ende sind alle serbischen Konflikts oder jedweden Konflikts in jedwe- sterblich – es bleiben die Feder, die Vernichtung und das der Zeit vor Augen, und es scheint uns, als ob das ganze Nichts. Und aus den ikonischen Worten bilden die Dichter Müde schläfst Du und träumst von den Tagen als wir uns „Spiel“ des letzten Krieges vor unseren Augen ist, statt- neue Wesen … von ein bisschen Brot und ein bisschen Lächeln findet oder live gespielt wird, und lässt uns empfinden, Davon ausgehend sind in der neuen kosovarischen Po- nährten als ob wir mitten drin wären, Figuren eines gewalttätigen, esie das Verbale und das Nonverbale eng gebunden an und in den Himmel kletterte täglich die von ihrem Licht unmenschlichen und wahnsinnigen Dramas. Dagegen das Funktionieren der Sprache zum Schaffen von Fo- geblendete Sonne äußert sich bei Bajraj der Hintergrund einer Gewaltszene tografien, und die poetische Fotografie führt uns zum und Rosenduft wehte durchs offene Fenster der Biblio- durch Schreie, und in diesem Fall evozieren viele Fotogra- Ursprung des sprechenden Wesens. Das Lied gebiert thek fien, indem sie die Ikone des Opfers erschaffen. die Fotografie: Die poetische Fotografie wird zu einem während ich Gedichte über Tage schrieb die nicht kamen Die Poesie von Idrizi und Selmani ist eine Rocklied-Ikone, neuen Wesen unserer Sprache, sie drückt uns aus, in- Ich wartete auf Dich mit einer Flasche Rotwein auf dem die nicht den Anderen / Feind beschimpft, sondern die dem sie uns, gemäß Paul Ricœur, zu dem macht, was sie Tisch unmenschliche Natur des Menschen selbst und die tieri- ausdrückt, oder anders gesagt, sie ist gleichzeitig die und angezündeter Kerze schen Überlebensinstinkte, mit einem Gleichheitszeichen Schaffung des Ausdrucks und die Wiedererschaffung ja dazwischen. unseres Wesens … die Welt war bunt

Als die Sonne unterging wie ein fauliger Apfel und um den Vater Mond die Sterne angingen liebten wir uns und die Zikaden sangen Xhevdet Bajraj Die wilden ein Lied älter als die Menschheit Dann stahl uns der Krieg unser Leben wir entdeckten wie schön es ist die Arbeit zu verlieren Seelenblüte Tauben und zu Hause zu sitzen oder auszugehen der Tod und nicht zu wissen wovon leben oder was beginnen Wir entdeckten wenn man sich Bein Arm oder Rippe bricht Eine junge und schöne bedeutet es dass man lebt Frau dass das Leben schön ist Mit einem schwarzen Kopftuch Erschossen vom Jagdgewehr traurig und schön solange es Frieden gibt Sieht sich im Spiegel an Fielen drei Tauben zu Boden Aber sie erkennt sich nicht Die Schar der wilden Tauben setzte ihren Flug fort Jetzt haben wir eine Bibliothek mit fast denselben Bü- Der Schmerz Vor dem Tod hatten sie keine Angst chern die wir früher hatten Die Seelenblüte Nicht im Geringsten aber in einer anderen Sprache Nimmt ihr die Sicht Aber vor den Schüssen in einer anderen Sprache schreibe ich Verse über die Tage die nie wieder zurückkommen in einer anderen geliebten Sprache das Leben schmerzt

Serienmör- der

Nacht der Besatzung Wie ein Mensch verjagst Du die Angst Wie ein Hund verreckst Du

Die Stadt streckt sich unter einer schwarzen Decke aus Lockt den Traum gebiert die Hoffnung Das Rätsel des neuen Tages

Jene die töten sind Engel Unter der Last der Sünde des Fluchs der menschlichen Scheiße Serienmörder der Träume

Der Morgen kommt weiß gekleidet Wie eine alte besoffene Ballerina Sammelt die getöteten Tauben auf den Plätzen auf

Die Menschen erwachen langsam Wer sich nicht im Traum bepisst hat Bepisst sich jetzt

Die Taube auf dem Asphalt

Auf dem Asphalt schlief eine Taube Nur zwei Federn fehlen ihr Und das Leben

Beton Spezialausgabe März 2011 9 der Filme, des Lebens derart bewandert ist. Oh, der jet- Zuckeräpfel kaufen, mit glänzender, roter Glasur über- Ildikó Lovas zige Film aber, das war etwas ganz anderes. Das war der zogene, grüne Winteräpfel, sie schlüpften aus einem ge- Film der Stadt. Man hatte diese Stadt ausgewählt, damit flochtenen Korb hervor wie winzige Neujahrslampions, der Meister Margarita erblickt. Vielleicht gerade in der die Äpfel linderten mit vermuteter Wärme die Kälte des Rudics-Straße. Vor der Kinokasse keuchten die Gymna- Winters auf den Gesichtern. siasten aufgeregt. „Ein solcher Ort ist die Hölle für den Fantastische Winter und Sommer folgten in der Stadt auf- Lebenden“, sagten sie vor sich hin, denn das Buch steck- einander. Das kann jeder ihrer Bewohner mit ruhiger See- te dort unter ihren Armen. Insgeheim küssten sie sich le behaupten, dessen Seele die farbigen Träume aus dem aber lieber. Wer seine Kinokarte schon gekauft hatte, der Hauptkino und die kalten, zu Spinnweben gefrorenen Das ging lässig die Treppe hinunter, knackte die Sonnenblu- Küsse von der Schlittschuhbahn zu bunt schimmernden menkerne zwischen den Zähnen und zielte dabei mit der Glasfenstern zauberten. So wie unter dem Zelt aus grünen schwarzen Schale auf die breiten Hosenbeine, wie geteil- Laubkronen in der Konditorei der Rudics-Straße das Pis- te, schwarze Löwenmäulchen, so fielen die Schalen auf tazieneis schmolz, das blassgelbe Vanilleeis auf den grau- die seidige Treppe, leblos, doch ins Sonnenlicht stürzend, en Bürgersteig tropfte, so fiel im Winter die Frucht des nicht so wie ihre Gefährten im Dunkel der Stuhlreihen, Weißdorns und des Zürgelbaums in den weißen Schnee, die jedoch zu Bergen anwuchsen, zu Sonnenblumenkern- um dort zertreten zu werden, im weißen Schnee ver- Kino bergen, sogar den Rang erreichten, setz dich nicht in die schmiert, der die Vanilleeistropfen in der Rudics-Straße Eine lange Schlange stand an der Kinokasse. Die ganze erste Reihe, weil du nichts sehen wirst, geh nicht alleine zudeckte, nicht weit vom Hutgeschäft, auf der dem bau- Stadt war neugierig auf den Film, in dem die Straßenbahn hoch, weil sie dir auf einer der dunklen Treppen, die zum fälligen Balkon gegenüberliegenden Seite. Nichts hatte der Stadt zu sehen war, doch nicht nur die, sondern auch Rang hinaufführen, in den Hintern kneifen könnten, das sich in der Stadt der zwischen den lebkuchenartigen Häu- einige Straßen, durch die sich die Straßenbahn schlängel- tuschelten die Mädchen auf dem Weg nach unten, dabei sern dahinfahrenden Straßenbahn geändert, mit der der te. Der Film wurde im Hauptkino gezeigt, was verständlich sahen sie immer wieder aufgeregt die gelbe Kinokarte an, Sumpf des nahegelegenen Badesees beinahe verwachsen war, denn die Rudics-Straße ist nun einmal nicht jeden fünfte Reihe, das ist gut, sehr gut, als würde die Straßen- war, der kleine See, wie die um den Friedhof herum woh- Tag auf der Leinwand zu sehen, die Straße, über der die bahn geradewegs auf uns zu kommen, in uns hineinfah- nenden Menschen den Sumpf nannten, an dem der Zug Bäume, die sich zur Mitte neigen, eine Kuppel bilden und ren, du wirst sehen, so wird es sein, und wir können über vorbeifuhr, die beiden Gleise, in die Welt hinaus, nach Sü- mit Wildtauben gespickt sind, die die lebensgefährlichen die Bäume steigen und von oben auf die Rudics-Straße den und nach Norden, doch davon wussten die Stadtbe- Balkone beschmutzen, mit ihrer Konditorei und ihrem hinabsehen, die Straßenbahn wird unter unseren Röcken wohner nicht, dort fuhr die Straßenbahn im Kreis. Hutgeschäft. Kann es sein, dass ich auch zu sehen sein durchfahren, die Turteltauben werden in unseren Köpfen Der Tod schlich sich langsam ein. Als wäre er gar nicht ge- werde? Dass ich mir selbst auf der Leinwand entgegen gurren. Langsam nahm die Schlange ab, leerte sich die kommen, die Menschen zu holen. Als wäre es nur der Ver- komme? Insgeheim steckte das in den Herzen all jener, Vorhalle, hörte die Tür auf zu schwingen, begann das Le- fall, der die Gegenstände verschlingt. Zuerst verbannte er die hier geduldig warteten, diese Sehnsucht, die Sehn- ben, das wahre, das abenteuerliche, das Filmleben, das die Straßenbahn. Ihr bordeauxroter Körper bog nicht mehr sucht sich zu zeigen. Auch wenn ich nackt wäre, dachten man auch nach dem Abspann weiterleben konnte, wei- in die Rudics-Straße ein, die verliebten Gymnasiasten die Mädchen, ja, vielleicht würde meine Brust unter der terspinnen, weiterträumen, während man sich stumm konnten nicht mehr zwischen zwei Haltestellen ihrer trot- doppelten Perlenreihe hervorschauen, das Licht so fallen, beeilte, die Stuhlreihen zu verlassen, sich der Blick auf zigen Liebsten hinterher rennen, die Tauben wurden dick dass der beim Sonnen verdeckte, daher weiße Teil nicht zu der Treppe, die am Hintereingang zur Schlittschuhbahn und faul, denn sie flogen nicht mehr von den Bäumen auf, sehen wäre, über meinem Kopf eine Taube davonfliegen, hinunterführte, verklärte, die nackten Schultern erschau- wenn die Straßenbahn kam. Dann wurde das Gymnasium dachten die Mädchen und hoben stolz den Kopf. Dann derten: Der Abend war kühl, von dem Park, der sich in geschlossen, als Bote des Klassenunterschiedes. Mein würde ich sie küssen, vor dem Schaufenster, in dem es schamlosem Grün wollüstig vor dem Bahnhof ausbreitete, Gott, wenn sie wüssten, dass die gelbe Farbe des Gebäu- auch einen Spiegel gibt, damit die fiebrig glitzernden wehte ein frischer Wind, und wir mussten zur Straßen- des die Farbe der öffentlichen Gebäude einer vergangenen Goldringe noch besser reflektieren, der Glanz der dicken bahn rennen. Zeit, eines Reiches, einer Welt ist, dann würden sie sei- Ketten, des sechszackigen Schmucks, der mit seinem Der Film wurde im Hauptkino lange gezeigt, doch als die ne Ziegel zertrümmern, zu Staub zertreten. Und auch das Gelb prahlt, dachten die Jungen, ihr Adamsapfel tanzte ersten Schneeflocken an den Scheiben der Straßenbahn Hauptkino blieb nicht bestehen, statt den zwischen den auf und ab, und sie warteten geduldig auf den grauen, kleben blieben, bewegte sich das Leben wieder auf den riesigen Säulen entzifferbaren Filmtiteln verunzieren den abgenutzten, zu seidigem Glanz abgetretenen Stufen der gewohnten Gleisen, die glühenden und schweißtreiben- Platz nur Eisentraverse, darunter nutzen sich die Treppen zur Kasse führenden Treppe. Die träumende Menschen- den Qualen der unerfüllten Sehnsucht verschwanden stumm in ihrer Einsamkeit ab. Die Schwingtüren wahren menge war bereits vom Hauptplatz zu sehen, machte man beim die Rudics-Straße entlang Eilen, dem Aufdrücken das Andenken an die langen Schlangen früherer Zeiten, einige Schritte von dem mit Blumenrohr bepflanzten Beet der Tür im Gymnasium aus den Köpfen. Die Gefühle ver- im Dunkel der auf den Rang hinaufführenden Treppe ver- und ging langsam auf dem Korso in Richtung Konditorei, legten sich auf die Schlittschuhbahn. Im Kreise gleitend, bergen sich leise Schreie, in den leeren Saal dringt die

dann konnte man sehen, dass die Leute dort, am anderen ungeschickt über den feuchten schwarzen Gummiteppich Schlittschuhbahn erfüllende, laute Ziehharmonikamusik Ende der Straße, ins Kino wollten. In der Mitte der Straße im Teeraum trippelnd, der an dem aus roten Ziegeln ge- herein. An dem aus roten Ziegeln gebauten hinteren Teil angekommen waren die Buchstaben schon zu entziffern, bauten hinteren Teil des Hauptkinos haftete, gegen die des Hauptkinos eine versteckte Wendeltreppe, die in eine der Titel des Films, auf der zwischen riesigen Säulen be- faserige Planke schlagend, war jeder glücklich. Die Musik ausgediente Dienstwohnung führt, ins Innere des Kinos. festigten Plane wechselten die Buchstaben wöchentlich, spielte und auf den Wimpern tanzten die Schneeflocken, Von der beinahe in der Luft hängenden Treppe treten wir die Filmtitel, „du, was wird heute gezeigt, kannst du’s das Scheinwerferlicht blendete so stark wie die plötz- in ein Zimmer, das wie ein Keil hinter der Leinwand liegt. von hier aus lesen?“, fragten die jungen Leute einander, lich weiß aufstrahlende Leinwand, wenn die Filmspule Hier wohnt seit langem keiner mehr. Als aus der Haupt- während das Keramitpflaster unter ihren Schritten bereits im Projektor zu Ende war, das zwei Stunden andauern- stadt der Befehl kam, aus dem Hauptkino ein Theater zu zu schmelzen begann, doch nicht von der Sommerhitze, de schwindelnde Gleiten bedeutete die Möglichkeit an machen, konnte man nicht mit der Arbeit beginnen, da sondern von ihren Sehnsüchten und Plänen, die in dem sich, die Möglichkeit, frei zu sein. Und so lange die über jemand die Tür der Dienstwohnung aufgebrochen hatte, Lichtstrahl, der durch das Dunkel brach , auf der riesigen, die Schulter geworfenen Schlittschuhe nicht in der Stra- eingezogen war, jemand, der aus dem Gebiet eines Lan- weißen Leinwand Verwirklichung fanden. Was wird heute ßenbahn auf den Boden tropften, waren die Mädchen des, das es vor langer Zeit gegeben hat, gekommen war, gezeigt, so stellten sie die Frage, immer auf dieselbe Art, und Jungen die wunderschönen Schauspieler der einmal um die neue Heimat einzunehmen. Das Hauptkino hörte dabei wechselten die Filme nur wöchentlich. Das gehörte im Film dargestellten Stadt. Wer sich zu dieser Zeit für auf, Traumfabrik der Stadt zu sein, ebenso wie die Stadt zur Zeremonie. Die Frage. Und dann das Entziffern des das Kino entschied, war nicht gut beraten, denn von der aufhörte, sie selbst zu sein. Die Tauben flohen erschro- Titels. Neben dem mit Herzen von Verliebten übersäten Schlittschuhbahn war die Musik zu hören, und außerdem cken vor dem alles erfüllenden Ziehharmonikaklang, in Bretterzaun des abgezäunten, seit Jahren von Unkraut war es in dem riesigen Saal kalt, der Projektor knackte der Rudics-Straße ist das Fenster der Konditorei blind, der überwucherten Grundstücks stehen, in der Mitte des geradezu. Und es gab keine Sonnenblumenkernberge, Hutmacher verkauft Mützen mit Kokarden. Korsos innehalten, „du, das ist bestimmt ein guter Film, die für weiche Schritte gesorgt hätten. Doch da draußen, Und man sagt, es wird noch viel trauriger. In ihrer Demü- oder?“, den Weg auf dem Bürgersteig fortsetzen, stolz neben der Treppe unterhalb des Kino-Ausgangs, wo sich tigung bekommen die Wände der Lebkuchenhäuser Risse. die Brust herausstrecken, dass man in der Welt des Kinos, der Eingang zur Schlittschuhbahn befand, konnte man Wer weiß.

10 Beton Spezialausgabe März 2011 Halil Matoshi Wie leicht war es die Mutter auf den Schultern zu tragen…

Ich sah die Angst die auf ihren Wimpern lastete Ich bin hundertprozentig sicher sie wollte sagen sterben Als sie im Fernsehen betagte Frauen sah Werde ich nicht aber sie legte die Hand auf den Mund Vom Feind verfolgt Um kein Sakrileg zu begehen Gezogen auf einem Ziegenfellsack oder Um nicht aufzustöhnen Auf dem Arm wie ein steifgefrorenes Kind, in einer Schub- karre mit Sie wurde eine fantastische Mutter und wartete auf mich Plattem Reifen zusammengekrümmt … Und gar nicht zu Um meine Stirn ohne Blut zu sehen und mir die Hände sprechen davon, wenn sie Totenklagen für Hingemetzelte ohne Ketten zu drücken Jungen und Männer hörte Auch ich wurde ein duldsamer Sohn und wartete auf ihren guten Tod Schon nach zehn Schritten war Mutter atemlos Die Schönheit des Leichentuches Ich sah wie leicht es ist die Mutter auf den Schultern zu Als ich in die Hände der serbischen Polizei fiel tragen Und mit der Erschießung rechnete, blieb sie erstaunlicher- Fünf erwachsene Söhne … die sich mit ihren Söhnen ab- weise stumm wechseln (So leicht war Mutter und es scheint als ob deine beiden Erstarrt wie eine Statue aus Ton Beine Der die Archäologen Maß nehmen In der Erde versinken – vielleicht genauso wie wenn sie Und die Größe messen Alter Puls und Widerstandsfähig- Ein Kind im Bauch getragen hat nur dass du jetzt traurig keit gegen bist und sie hat sich gefreut Stöße schätzen Sie trug das Leben!?) Die Anfechtungen der Mutter Erde Und sich bemühen ihren Lebensfaden zu finden Sie sah meine Freiheit Und ihren sehr tragischen Tod zu konstruieren und ihr ei- Ich sah ihren Tod … nen großen Schmerz Wie die Ermordung des Sohnes zu verursachen einen An einem Frühlingsmorgen erinnere ich mich Schrecken grenzenlos wie An die festlich angezogene Mutter Die Weltgeschichte und danach einen literarischen Einfall Sie singt sie schläft nicht … zu spinnen Und ein ewiges Drama zu verfertigen Danach dachte sie und schnell geräuschlos leicht Kam alles auf seinen Platz wie auf der Bühne beim Ballett Aus der stummen Einfalt einer Mutter Mutter machte die Hausarbeiten Ich sah sie plötzlich an Und legte sich schlafen … Und nur ihre Augen haben sich bewegt Im Spätherbst Um mich wissen zu lassen, dass ich sie lebend zurücklasse Warte auf mich Mutter wollte ich ihr sagen Zuletzt flog sie nach oben Und die Stimme versagte mir … Wie ein Schmetterling in der weißen Jahreszeit Mutter die Selige Ich höre sie auch jetzt sagen Ich werde nicht sterben bevor mein Sohn aus der Haft zu- rückkommt

Balsor Hoxha Meine bisexuelle Stadt

Es gibt eine Eiche Geschaffen von vergewaltigten Träumen Tierfiguren Sie sind so sehr existent Gefüllt mit Helium Überqueren furchtbare Ströme Hängen darin wie bizarre Plastikfrüchte Von der vermondeten Sonne Getragen von einer leichten Brise Über den aus der Sonne gefertigten roten Stern Die Giraffe küsst die Ente Zu der UN-Sonne Ein Elefant reitet auf einer Katze Sogar bis dahin oder zu dem, was immer du denkst, worin Voller blauer Punkte sie sich verwandelt hat Knospet die Eidechse wie eine reife Birne … Wir sind müde, es aufzuzählen ...

Prishtina ist eine Stadt starker Jungs … Diese Bäume stehen dort Und deshalb immer im Krieg mit seiner Natur Wie Väter unserer selbst Mit seiner bisexuellen Natur Und dieser Baum inmitten der anderen (denn ich glaube, dass jede Stadt ihrer Natur nach bise- In seinem anderen Teil xuell ist) Dem hinteren Besonders die Bäume, die du hier findest Hält Blätter mütterlich getragen von einer leichten Brise Sind wertvoller als anderswo Die sinnlos aufgehängt bleiben Weil sie Weit außerhalb der Zeit Selten sind wie blaue Nächte Sie berühren einander In der Tat sind alle schönen Dinge, die du hier finden Wie Pinguine kannst Sie umarmen sich beinahe Wertvoller als anderswo in der Welt Sie bedecken einander Weil sie so selten sind Und einige von ihnen fallen Gepackt von der Faust der frankensteinschen Architektur Auf das sauber gefegte Pflaster des Platzes.

Beton Spezialausgabe März 2011 11 Kollegen? Der und seine anderen Quadratschädel. Keine Slobodan Bubnjević Ahnung, wo der seinen Kopf hatte, als er mit der Bagger- schaufel den Eingang von der Verwaltung aufgebuddelt hat. Das geht doch so nicht, Mann, da sitzen doch Leute, arbeiten mit ihrem Hirn. Ich mein, das kann doch nicht jeder. Der Direktor hat es richtig gesagt, „Džombo, sei Fortschritt 1 mir nicht böse, aber dein Alter hat dich in die Scheiße geritten. Er ist ein guter Arbeiter, hat dich in die Firma gebracht, das verstehe ich ja alles, die sind noch an die Zehn Prozent. Das Gehirn ist echt ein Wunder. Gestern was soll‘s verdammt, ich schau‘s mir mal an. Oho, Mann, alten Zeiten gewöhnt, sie stänkern und sie sollen ja auch schau ich fern, Mann, und ein russischer Wissenschaftler ganz schön kühl geworden. „Jasmuhin. Lernen Sie in zwei stänkern, aber jetzt hat es dein Alter übertrieben. Am Ver- erklärt, dass der Mensch nur zehn Prozent seines Hirns Monaten 100 Prozent ihres Gehirns zu nutzen.” Scheiß waltungsgebäude sind die ganzen Holzteile im Arsch. Sein nutzt. Irgendwie muss man es doch hinbekommen, den Leben. Ist das überhaupt möglich? Das Gehirn ist wirklich Glück, dass der Bagger stehen geblieben ist und er nicht Rest zu aktivieren. Ich lümmle mich in den Sitz und glotz ein Wunder. auch noch die Treppe versaut hat. Du bist mein Freund, ein bisschen rum. Im Rückspiegel seh ich meinen Schädel, deshalb werde ich ihn nicht bestrafen, aber er muss in wird langsam kahl. Ich neige den Kopf und schau hinters ZWANZIG PROZENT. Ich verdopple meine geistigen Fä- Rente.” Ich wär‘ am liebsten im Boden versunken. Scheiß Ohr. Wo sind diese zehn Prozent? Vorne, hinten? Ich hab higkeiten. Zum Glück hab ich die Telefonnummer aufge- Leben. Der Alte ist undankbar, will ´ne Abfindung, der die Zeitung gelesen, in Milenas Auftrag Hustensaft für schrieben. Ich schreib mir immer die Nummern von Anzei- Blödmann glaubt, sie wollen ihn übers Ohr hauen. Aber Vukosava gekauft, für Stana Tomaten und Gardinenha- gen auf, man weiß schließlich nie. Ich hab den Kurs nicht mein Direktor, Mann, der hat Wort gehalten, wegen mir, ken, ich glotze, die Polizistin im Kiosk liest Kochrezepte, gleich angefangen, erst dies, dann das, der Kleine macht wahrscheinlich gefällt ihm, wie ich ihn fahre, hat für den in der gleichen Zeitschrift, die Stana liest, Sachen gibt‘s. einen Schulausflug, aber gleich die erste Stunde hat mich Alten auch noch ´ne Invalidenrente klargemacht. Ein Tja, mein Boss lässt sich heute wirklich Zeit. Er kommt erleuchtet. Diese Jasmuhin. Eine geniale Frau. Stana habe Genie. Ich vermute, der benutzt fünfzig Prozent seines einfach nicht raus aus dem Parlament. Er ist aber auch ein ich natürlich noch nichts davon gesagt. Sie hat nicht das Hirns. Keine Chance, Mann, dass es weniger sind. Keinen klasse Mann, ein Genie, mein Direktor. Er wickelt die gan- Karma, um diese Energie zu verstehen, sie würde die ewig Deut weniger, Mann. zen Politiker um den kleinen Finger. Solang es ihn gibt, gleiche Leier anstimmen, den Kühlschrank abtauen und gibt es Arbeit. Ich liebe es, wenn er sich in den Sitz fal- jammern, dass sie einen neuen braucht. Scheiß Leben. FÜNFUNDDREISSIG PROZENT. Durch seelisches Gleich- len lässt, die Tür zuknallt und dann schnauft und stöhnt: Sie hat schon wieder Kopfschmerzen. Jeden Abend. Ich gewicht kann ich Gutes und Schlechtes ausgleichen. Zwei „Fahr zu, Džombo”. Keine Chance, Mann, dass irgendwer ziehe ihr im Bett das Höschen aus und bei ihr – nichts. Prinzipien. Lüge und Wahrheit. Ich holte tief Luft und durchschaut, was der ausheckt, ein echtes Genie. Weißt Hat Kopfschmerzen. Wie immer schläft sie halb, während erzählte Stana, dass die Firma mir einen Kurs in transzen- du, ich mein, das ist nicht jedermanns Sache. Da muss ich sie bumse. „Wann kaufst du dem Kleinen einen Com- dentaler Meditation bezahlt. Sie hat keine Ahnung, was man sich reinfinden. Ich bin auch nicht gerade blöd, aber puter?”, jeden Morgen kocht sie Kaffee und nervt. Ich das ist, kein Wunder, die Welt ist ein Vakuum voller Eitel- für mich wär das nichts. Mir geht es doch hier gut. Klima- sage, dass er keinen Computer braucht. „Milena muss sich keit. Die Arme muss mit halb soviel seelischer Energie zu- anlage, Anzug, ich arbeite im Sitzen, lese Zeitung, gam- ständig bei mir Geld leihen, aber schau, die haben ihrem rechtkommen. Sie hat jetzt fünfundzwanzig Prozent we- mel rum, das reinste Paradies, Mann. Da läuft gerade so Kind einen Computer gekauft.” Sie nervt weiter. Niemand niger Hirn, Mann. Ich habe Riesenfortschritte gemacht. ´ne geile Tussi vorbei, dass ich gleich in den dritten schal- bräuchte einen Computer, wenn er sein gesamtes geisti- Gut, dass Stana überhaupt was von dem versteht, was ich te. Wer die wohl flachlegt? Und ich habe Stana. Scheiß ges Potenzial nutzen würde. Dieses Gehirn ist ein Wunder. sage. Sie fragt, warum sie mir in der Firma nicht Kohle Leben. Die Tussi ist vorbei. Ich seh das Plakat „Gesamtser- Sie bekreuzigt sich bei diesen Worten. Das einzige, worauf geben statt dieser Me-dia-tion. Dann fragt sie, warum ich bische Versammlung – Wir geben das Kosovo nicht her”. sie sich versteht, ist, die Nachbarn zu beobachten. Mann, lache. Idioten. Wie viel Hirn braucht man schon, um zu kapieren, das ist doch alles nur was für Idioten. Ich bin kein Blöd- dass die Sache gelaufen ist? Ich weiß nicht, was „tran- mann wie mein Vater, der hat sein ganzes Leben in einem FÜNFUNDVIERZIG PROZENT. Wer hätte gedacht, dass szendentale Meditation” bedeutet. „Trans-zen-den-tal". Bagger verbracht. Ich scheiß auf den Bagger. Und dann mein Karma mir Fußball auferlegt? Hej Mann, ich hab Ein gelbes Plakat mit irgendeiner Schlampe drauf. Ach immer dieses: Was werden die Nachbarn sagen? Was die mein Mantra entdeckt. Im Kurs trug Jasmuhin uns auf, in uns nach dem zu suchen, was wir sind, was uns von klein auf zu uns macht. Seit der neunten Klasse schreib ich alle Fußballergebnisse in ein Heft. Aber das mach ich einfach so, unbewusst, ohne geistigen Führer. Oh Mann, jetzt er- kenn ich die Tiefe darin. Gestern kam mir die Erleuchtung. Ich fuhr mit dem Dienstwagen des Direktors zur Medita- tion, und auf dem Rückweg fuhr ich Jasmuhin nach Hau- se. Ihre Energie ist so stark, Mann, dass ich das Gefühl hatte, sie würde mich berühren. Sie fließt aus ihr heraus und in sie hinein, um den Kopf, die Taille, ihre Beine. Bei so einer Aura hebst du einfach ab, Mann. So eine Dichte. „Sie haben große Fortschritte gemacht“, sagte sie und berührte mit dem Finger meine Schulter. Ihre Berührung ist Erlösung. Ich badete im Glücksgefühl. Das ist nichts für jedermann. Ich denke an mein Heft mit den Fußball- ergebnissen. Ich geh nie zu Spielen, früher hat Stana es nicht erlaubt, aber dann habe ich erkannt, dass der Kern meines Wesens darin besteht, nur den Teletext zu lesen und die Ergebnisse zu notieren. Was soll ich zwischen all den anderen Fans? Ich bin weit über die physischen Aus- einandersetzungen hinaus. Jasmuhin sagt, meine Aura sei so stark, dass ich schon immer nur Verachtung für die äußeren Dinge gehabt habe.

NEUNUNDVIERZIG PROZENT. Nach zwei Monaten geistigen Wachstums werden meine Fortschritte etwas langsamer. Während ich fahre, stell ich mir mich als Lei- che vor. Das ist der Weg der Erkenntnis. Doch der Direk- tor stört meine Konzentration. Der ist wirklich ein Genie, Mann. Ich meine, das kann nicht jeder. Er will aber auch immer der Chef sein. „Wie fährst du denn, Džombo?”, ruft er. Ich schweige. Ich denke nicht mehr an meine Lei- che. Ich fahr von den Straßenbahnschienen runter, um es ihm recht zu machen. Er sagt nichts mehr und später hat er es ganz vergessen. Der Mann ist eben ein Genie. Aber am liebsten bin ich allein. Ich fahre jetzt immer mit dem Dienstwagen zur Meditation, und anschließend fahr ich Jasmuhin nach Hause. Viele sind abgesprungen. Jasmu- hin sagt, das könne nicht jeder, dass meine mentale Kraft noch wachsen wird. Sie weiß viel mehr über mich, als ich dachte – sie sieht alles, wie es ist, meine Firma, meinen Direktor. Ich warte immer auf den Moment, wenn sie mich berührt. Ein wohliger Schauer durchfährt mich, während

12 Beton Spezialausgabe März 2011 sie aussteigt und ihre Seidenstrümpfe über den Filzbezug Meditation. „Stana heult, der Kleine heult, was machst als sie mir verschlafen die Tür öffnete. Sie roch nach Al- der Sitze streifen. Ihre Aura umgibt sie wie ein schwarzer du da für Mätzchen?”, fragt er. Ich bitte ihn, zu gehen, kohol. „Wie konntest du nur, Jovanka?”, meine Tränen Wickelrock. Sie sagt, ich müsse immer die Farbe meiner weil ich meinen Meditationszyklus beenden muss. Ich kamen aus den tiefsten Tiefen, perlten aus den verbor- Aura spüren, die mich erleuchtet. Bei Jasmuhin ist mei- hab mich schließlich auch nicht in seine Baggergeschich- gensten Schichten meiner inneren Welt hervor. Sie wollte ne Aura immer rot. Wenn ich allein im Wagen bin, wird ten gemischt. Der Alte winkt mit seinen Riesenpranken mich umarmen, ich spürte ihre laxe Berührung, doch ich sie gelb. Sie ist weinrot, wenn ich mit dem Umschlag für ab und geht. Jasmuhin sagt mir später, dass ich richtig riss mich los und floh. Sie wollte mich einholen, stolperte Popović durch den Hintereingang ins Sekretariat gehe. reagiere. „Noch nie hat jemand so schnell Fortschritte ge- aber und fiel auf den Boden. Ich drehte mich nicht um. Die Sekretärin hält mich auf und will die Sendung über- macht”, sagt sie und streichelt mir über die Schulter. So Es gab keine Wut, die mich zur Umkehr gezwungen hät- nehmen, aber ich bin kein gewöhnlicher Chauffeur. „Nein, verbinden sich unsere Auren jeden Abend auf der Fahrt. te. Nur Schmerz. Bis zu meinem Appartement rannte ich. ich kann ihnen das nicht geben, es ist für den Direktor Ich frage sie nach dem Artikel über das menschliche Ge- Ich rannte und jeder Schritt schmerzte. Der Schmerz des persönlich.“ Ich schwebe immer über der trügerischen hirn. „Die armen Journalisten, die das schreiben, begrei- Lebens. Oberfläche. Diese Sekretärinnen sind traurige Geschöp- fen die grundlegenden Dinge nicht”, sagt Jasmuhin. „Die fe. Später kommt Popović dann aus seinem Büro, nimmt sind gekauft von westlichen Konzernen, die den Leuten ACHTUNDNEUNZIG PROZENT. Wohl den Unwissen- den Umschlag, befühlt das Geld, gibt mir die Hand und sinnloses Wissen ins Hirn pflanzen. Als ob die Evolution den, ihr Königreich ist der Himmel. Nach der Szene mit sagt: „Meister Džombo, sag dem dicken Chef, dass alles ein Beweis wäre. Es gibt nur eine innere Evolution, von Jovanka ließ ich mich lange treiben. Ich lag depressiv erledigt wird.” Die Sekretärin kocht vor Wut, weil wir so einem niedrigen Stand des Wesens zu einem höheren”, neben einem Haufen Asche auf dem Parkett – ich hatte miteinander können. Ein trauriges Geschöpf. Mein Karma erklärt mir Jasmuhin. „Kann man den menschlichen Geist alle Bücher über Meditation, die sie mir gegeben hatte, steht über solchen Dingen. Auch Stanas Kopfschmerzen mit Magnetresonanz abbilden?”, fragt sie und blickt mir zerstört. Aber ich brauchte eine Anleitung. Zwei Nächte lassen mich kalt. Was soll in ihrem hirnlosen Kopf schon direkt in die Augen. Ich halte den Wagen an und verliere lang lief ich ziellos umher, dann blieb ich plötzlich stehen. groß weh tun? Die zehn Prozent? Bei unserer Heirat habe mich in ihrem Blick. Ich bin überzeugt, dass das, was sich Im Kiosk vor der Botschaft saß die Polizistin und blätter- ich die falsche Lieferung bekommen, sie ist nicht mal mit darin verbirgt, keine Magnetresonanz der Welt abbilden te in Rezepten. Auf einem Garagentor klebte das Plakat den serienmäßigen zehn Prozent befüllt worden. kann. „Gesamtserbische Versammlung – Wir geben das Kosovo nicht her“. Ein Stück weiter wurde im Kino ein Film über SIEBZIG PROZENT. Die unermüdliche Arbeit an sich FÜNFUNDACHTZIG PROZENT. Meine Fortschritte wer- einen Psychiater gezeigt. Als ich an diesem Filmplakat selbst kann einen Menschen verändern. Ich habe mich den kleiner, doch mit jedem Schritt komme ich dem Ziel vorüberging, entschloss ich mich, endlich zum Arzt zu geistig so enorm weiter entwickelt, dass es keinen Sinn näher. Vollmondnacht. Milchiges Licht auf den Straßen. gehen. Am nächsten Tag holte ich mir die Überweisung mehr macht, bei Stana und dem Kind zu bleiben. Ihre Mondlicht in mir. Jasmuhin und ich haben den Wagen zu einem Spezialisten, doch in der Psychiatrie sagten sie negative Energie zerstört mein inneres Gleichgewicht. zwei Straßen weiter abgestellt und gehen zu Fuß zu ihrer mir, sehr viele würden warten, die verrückter seien als ich. Ich bin ausgezogen. Hab mir ein Appartement gemietet. Wohnung. Zweimal schon sind wir um den Block gelau- Dringendere Fälle. Ganz ohne Möbel, das hilft mir beim Meditationstraining. fen. An einer Ecke, im Schatten eines Baumes, ich erzähle Ich schaue kein Fußball mehr, lese Bücher, die Jasmuhin gerade, dass die Klinke sich immer weiter neigt, ist sie mir NEUNUNDNEUNZIG PROZENT. Ich suche den Journa- mir gibt. Ich sitze auf dem Boden und fixiere Studen lang plötzlich ganz nah. Ich spüre ihren Atem und ihre Berüh- listen auf, der den Artikel über das Gehirn geschrieben die Klinke der Terrassentür. Beharrlich kämpfe ich gegen rung. Sie legt ihre Hand auf meine Brust. Lacht. „Warum hatte. Er kann sich kaum erinnern, welchen Artikel ich den Albtraum abschweifender Gedanken an. Jasmuhin hast du so Herzklopfen?”, fragt sie und dreht sich weg. meine. Er hört mich an und gibt mir den Rat, mit einem sagt, eines Tages werde ich telepathisch die Klinke nach Wie ein Kind und nicht wie eine Frau, voller Energie, ich Geistlichen zu sprechen. Warum mit einem Geistlichen? unten drücken und die Tür öffnen. Ich halte mich an muss fast rennen, um sie einzuholen. Dann setzen wir un- „Mit dem bleibt wenigstens ihr Geist weit weg vom Kör- strenge Diäten und schütze mich vor Träumen. Jasmuhin seren Spaziergang im Mondschein fort. Und wieder tut sie per“, antwortet der Journalist, ohne mich beleidigen zu ist meine Lehrerin. Nur mit ihr kann ich verständnisvolle etwas Ungewöhnliches. Aber das ist Jasmuhin, ihre Hand- wollen, doch ich reagiere heftig. „Idiot, du bist gekauft Gespräche führen. Mit dem Direktor spreche ich eigent- lungen kann man nicht voraussagen. „Ich muss Pipi”, sagt von westlichen Konzernen, die den Leuten sinnloses lich nicht viel. Einmal, als ich Jasmuhin nach dem Kurs sie, hebt den Rock und hockt sich neben mich ins Gras Wissen ins Hirn pflanzen.” Er schaut verwundert. „Ich nach Hause gefahren habe, stand er an der Straße. Es war neben dem Zaun. „Soll ich mich umdrehen?”, frage ich, bekomme hier nicht mehr Gehalt als der Chauffeur des mir egal, ob er bemerkt hat, dass ich den Dienstwagen für doch sie erlaubt es nicht. „Schau zu”, sagt sie. Ich weiß Direktors“, sagt er mehr zu sich selbst und versinkt dann private Zwecke nutze. Mein Lohn geht eh‘ an Stana, für nicht, ob sie lacht. Ich höre, wie ein starker Strahl das in eine tiefe Depression. Oder eine Form von Meditation. mich bleibt nur der Wagen. Solche Kleinigkeiten können Gras wässert. Die Erde saugt gierig ihren Urin auf. Geübt Am Ende gehe ich zu Miladin, dem Popen, der meinen mich nicht mehr aufregen. Ich sehe wieder dieses Plakat in Visualisiserung, trotz Dunkelheit, kann ich von unten Kleinen getauft hat. Er hört mich wortlos an und dann „Gesamtserbische Versammlung – Wir geben das Koso- heraufsehen – wie sich ihre Schamlippen um den gelben betrinken wir uns anständig. Ja, und dann gehe ich zu- vo nicht her“. Solche Kleinigkeiten können mich wirklich Strahl öffnen. Ich begleite sie bis zu ihrer Wohnung und rück zu Stana, nicht weil Miladin mir das geraten hätte, nicht mehr aufregen. bevor ich gehe, streichelt sie mir mit der Rückseite ihrer sondern weil ich mir das Appartement nicht mehr leisten Achtzig Prozent. Ich lese in diesem Artikel, dass der Hand übers Gesicht. kann. Alle sagen: Der Mann ist zur Vernunft gekommen. Mensch seine gesamte Hirnkapazität ausschöpft und Den Kleinen habe ich lange nicht gesehen. Stana hat ihm dass die Geschichte mit den zehn Prozent Nutzung Hum- NEUNZIG PROZENT. Ich bin am Ende. Ich gehe nicht einen Computer gekauft. Der Direktor erfährt, dass es mir bug ist, von dem nur Betrüger profitieren. Der Journalist mehr zum Kurs transzendentaler Meditation. Von Jasmu- wieder gut geht und stellt mich wieder ein, wahrscheinlich des Artikels führt irgendwelche Evolutionstheorien und hin will ich kein Wort mehr hören. Als mein skrupelloser aus Angst wegen der Umschläge für Popović. Vielleicht Magnetresonanzbilder an, die der Nichtausnutzung des und korrumpierter Direktor mich gefeuert hat, um seinen hat ihn auch mein Alter bekniet, keine Ahnung. Ich mei- Gehirns widersprechen. Nur verbohrte Lügen. Ich versteh Neffen als neuen Chauffeur einzustellen, hat er etwas ne, was soll‘s, das ist nicht für jedermann. Der Mann ist nichts von Wissenschaft und Medizin, aber was ist mit Schreckliches über sie gesagt. „Dein kleines Flittchen trotzdem ein Genie. Ich fahre jetzt Bagger, aber, Mann, den vielen tausend Jahren Taoismus und der tiefen östli- heißt Jovanka, die halbe Stadt hat schon mit ihr gevö- solange der da ist, haben wir Arbeit. Nach einiger Zeit chen Tradition? Das lässt der Artikel aus. Und was ist mit gelt”, sagte er und erwartete vergeblich, dass mich das ist alles wieder beim Alten, ich schaue Fußball, Stana hat diesem russischen Wissenschaftler? Auch den erwähnt treffen würde. Dann lachte er wie wild, keuchend und Kopfschmerzen und schläft, während ich sie bumse, der der Journalist mit keiner Silbe. Die Leute picken sich pfeifend in all seiner Fülle. „Aber sie bläst schlecht”, füg- Kleine will irgend so ein Modem für den Computer. Scheiß raus, was ihnen gerade gefällt. Egal, womit sie sich be- te er hinzu, als hätte er es darauf abgesehen, mich zu Leben. Und gestern im Fernsehen, Mann, erklärt so ein schäftigen. „Welche Schlampe fährst du da spazieren?”, verletzen, doch meine psychischen Schutzmauern halten russischer Wissenschaftler, dass der Mensch nur zehn fragt der Direktor. Ich schweige. Stoisch ertrage ich die- so erbärmlichen Angriffen stand. Ich verließ einfach sein Prozent seines Gehirns nutzt. „Wohl den Unwissenden, se Beleidigungen, die Jasmuhin nicht verdient. Er lacht. Büro. Festen Schrittes und erhobenen Hauptes. Als frei- ihr Königreich ist der Himmel”, sagt der Pope Miladin, mit „Džombo, Džombo, ich wusste ja gar nicht, dass du so er Mensch. Doch mit Jasmuhin, das heißt mit Jovanka, dem ich jeden Tag ein Gläschen trinke und Schach spie- ein Stecher bist.” Er versucht, sich mir auf einem äußerst war ich nicht so stark. Ich stellte mir den dicken Direktor le. Ich spiel auf Stellung, Mann. Denke kaum nach, mach primitiven Niveau zu nähern. Eines Nachmittags kommt und sie so lebhaft vor, dass mich dieses Bild bis ins Mark einfach meine Züge. Das Gehirn ist ein Wunderwerk. Ich mein Alter zu mir ins Appartement und unterbricht meine traf. „Wie konntest du nur?“, wiederholte ich hysterisch, mein, das ist nicht jedermanns Sache.

Beton Spezialausgabe März 2011 13 Eine Million Anwesender erstarrte wie unter eiskaltem kann. Diese schreckliche Frau verfolgt mich seit Jahren Barbara Marković Wasser. Eine Million nackter Bürger starrte auf den jeweils auf Schritt und Tritt, späht in meine Einkaufstasche und eigenen Bauch hinunter. Der Mob zerfiel in eine Million steckt ihre verrunzelte Nase alles in allem in mein Jung- einzelner Tollpatsche. gesellenleben hinein. Angewidert schlussfolgerte ich, In Anwesenheit fremder Menschen seid ihr nackt, unbe- dass sie mich wahrscheinlich seit Beginn dieses Durch- deckt. Ihr wollt weglaufen oder euch verstecken, dabei einanders beobachtet hatte und sich an meiner Schande HALB- seid ihr an der Stelle angewurzelt und könnt euch nicht weidete, ebenso an meinem unvollkommenen Körperbau, bewegen. und aus Ohnmacht und Wut begann ich, zum Heiligen Tatsächlich konnten wir unsere Beine nicht bewegen, egal Lynyrd Skynyrd aus dem Sumpf zu beten, woraufhin Nick, wie sehr wir uns bemühten. Keinen Millimeter. Splitter- als ein Vertreter der jüngeren Generation, sofort Kurt Co- nackt. Bestürzt. Mit einem Blick überflog ich die Menge, bain anrief, während der uninformierte Teenager neben TRAUM aus Angst, zufällig einen Bekannten zu erkennen, und ihm, wahrscheinlich derselbe, den ich hatte anschrei- stellte fest, dass ich exakt zwischen der nackigen Christi- en wollen, einen Gesang anstimmte, um den Geist Bob na Stürmer und dem entblößten Präsidenten stand, aber Dylans zu beschwören. Österreicher! meine eigene Schande nahm mich zu stark gefangen, als Damals überraschte mich das, aber heute verstehe ich, dass mir nach Tratschen zumute gewesen wäre. Blasse, wie logisch es war, dass in der Befreiung der Masse ausge- Der ohrenbetäubende Schrei ertönte in ganz Wien und unterernährte Pärchen mit blauen Lippen und räudigen rechnet sie eine Schlüsselrolle spielen sollte: die goldbe- mobilisierte augenblicklich die gesamte Bevölkerung. Kampfhunden, eine Menge so genannter normaler Men- zahnte Personifizierung der sozialen Kontrolle im Namen Als es passierte, war ich meinerseits gerade dabei, einen schen, über die man ohne Kleidung kaum eine Schluss- äußerer Moral, meine unvermeidliche Vermieterin. Es war entgleisten Bio-Teenager anzuschreien, der mich schon folgerung ziehen konnte, Soldaten mit Soldatenmützen kalt geworden, und das Chaos wich punktuell vor der Kol- seit Tagen mit dem Bild eines Koala-Bären in der Hand und Glatzköpfe wie ich, wir alle rotierten um die eigene lektivschuld zurück, die der Redner anstachelte, indem er verfolgte, immer wenn ich gerade zur Arbeit unterwegs Achse, in der Absicht, möglichst viel von unserer schänd- ununterbrochen mit dem Finger auf die, ohnehin katho- war. Ich legte ihm ausführlich auseinander, dass ich pleite lichen Blöße zu bedecken, aber wenn wir den Hintern be- lische, Gemeinde zeigte. Wir verrenkten uns und knieten bin, ich erzählte, meine Frau hat mich verlassen, ich zahle deckten, dann blitzte unsere Vorderseite auf, Brüste und nieder, während er in seiner Propheteneloquenz von einem Alimente. Mann, ich lebe von der Malerei, winselte ich, Genitalien, oder, wenn es uns irgendwie (fragen Sie nicht Thema zum anderen sprang und über die korrupte Moral er faselte weiter über den abgebildeten Zwergbären. Es wie) gelang, gleichzeitig den Hintern und ein wenig von der Stadt sprach sowie über unterschiedliche Sünden aus ist sein Job, nicht nachzugeben, so lange, bis auf dem den Geschlechtsorganen zu bedecken, je nachdem, wer Vergangenheit und Gegenwart. Er hatte uns in der Hand. Formular, das er hinter dem Koala versteckt hält, deine welche hatte, so mussten wir bald feststellen, dass unsere Dabei wussten wir nicht einmal, wer dieser Mann war und Kontonummer aufscheint. Ich war also gerade dabei, bei Brüste ekelerregend hinunterhingen, beziehungsweise, was der Scheiß sollte, wobei Nick behauptete, das Feeling diesem unausgereiften Idealisten einen starken Eindruck dass die Stellung vollkommen unerträglich war, sodass sei wie bei einem Laibach-Konzert, wenn Peter Mlakar zu zu hinterlassen, ihn mit explosiven Konsonanten zu über- wir uns weiterhin herumwanden, unzufrieden und mit ei- seinen Fans spricht. Allerdings zeigte sich, dass die schon schütten, als der monströse Schrei über die Stadt herein- siger Scham überschüttet, den Augenblick verfluchend, seit je gewissensamputierte Vermieterin, deren Leben sich brach: in welchem wir heute das Haus verlassen hatten, ohne um Herd und fremde Schlüssellöcher drehte, immun war die blasseste Ahnung zu haben, solcherart unanständig gegen Scham, wie Kakerlaken gegen die Atombombe. Sie Österreicher! entblößt zu sein. hatte geplant, Bohnen für morgen einzukochen, und so Der Redner goss genüsslich Öl ins Feuer, indem er uns schrie sie los, aus allen Leibeskräften, und rief nach der Sogleich verlor ich den Teenager aus dem Blick, so wie ein drängte, uns zu erinnern, wo überall wir an diesem Tag Polizei, sie solle diesen Hochstapler verhaften, der mitten kleineres Monster sein Opfer aus dem Kiefer fallen lässt, gewesen waren und wem allen wir uns zur Schau gestellt in der Nacht mit seinem Geschrei die anständigen Leute wenn plötzlich Godzilla hinter dem Berg auftaucht. Der hatten. Meine Güte, beim Anwalt!, hörte ich eine Frau sa- störte. Ohne Mikrofon, ohne Telefon gellte sie mit einer Teenager verschwand seinerseits kommentarlos, so wie gen, bevor sie in Ohnmacht fiel. Ich hingegen war in der ungeahnten Kraft, sie wolle eine Anzeige machen, eine die durch das Auftauchen Godzillas für einen Augenblick Früh einkaufen gegangen, anschließend ins Atelier. Aber, Anzeige wegen Lärmbelästigung und Störung der öf- vergessene Kleinmonsterbeute. Etwas Schlimmes war auf verdammt!, ich hatte, als ich zum Café Europa unterwegs fentlichen Ordnung. Wie meine verstorbene Großmutter, der Straße im Gange. Aus allen Ein- und Durchgängen, war, wo ich zu Mittag essen wollte, den erfolgreicheren dachte ich. Widerwärtig, dumm, starrköpfig und durchaus Tabaktrafiken, Winkeln und Bussen rollten Gruppen von langhaarigen Kollegen mit dem teuren Hund getroffen. in der Lage, die Alpen zu versetzen. Bald tauchten auf der Menschen heran und ergossen sich in die Mariahilfer Dieser Teufel war natürlich nicht nackt, er war niemals Bühne tatsächlich zwei Polizisten auf und füllten einen Straße, auf welcher, wie ich feststellte, bereits ein dichter, irgendetwas anderes als eingebildet gewesen! Er hatte Strafzettel wegen Lärmbelästigung aus, zweifellos in der unaufhaltsamer Menschenstrom unterwegs war. Ruf die mich verächtlich angeschaut und die Städte aufgezählt, üblichen Höhe von 60 Euro, woraufhin der Redner gehor- Menschen nur laut genug herbei, dachte ich, und sie wer- in welche er im Laufe der Woche fliegen würde, denn sei- sam von der Bühne verschwand. Und das war’s. Die Beine den dir folgen. Immer schon ein Gegner von Massenver- ne Bilder gingen weg wie warme Semmeln. Dann hatte er tauten wieder auf. sammlungen, ein Mensch, der seinen eigenen Weg geht, sogar angemerkt, ich sei interessant angezogen, und ich, Und das ist alles?, fragte ich Nick, während wir uns vom unangepasst, ein Individualist, einer, der alleine sterben nackter Trottel, hatte mich auch noch bedankt. Am liebs- Platz entfernten, an welchem wir noch vor fünf Minuten wird, versuchte ich irgendwohin zu rennen, in einem ten hätte ich mich in diesem Moment eingegraben, aber fest am Betonboden angewurzelt gewesen waren. Ich war Hauseingang Zuflucht zu finden, aber wohin auch immer ich konnte meine Füße nicht bewegen. Das ist noch gar ein wenig enttäuscht vom lauen Abschluss. Denn irgend- ich mich zurückziehen wollte, alles war verstopft mit Bür- nichts!, meinte einer der Nachbarn, dem es gelungen war, wo tief im Inneren hatte ich immer schon radikale Verän- gern, die in den Eingängen steckengeblieben waren, in meinem ziellosen Gemurmel zu folgen. Schau mich an, derungen herbeigesehnt. der Absicht, alle gleichzeitig und als Erste ihre Wohnein- sagte er, ich habe vergessen, mein Glasauge hineinzutun! Alter, was hast du erwartet?, sagte mein neuer Freund, heiten zu verlassen. Ich rannte zwischen den Menschen Das Loch in seinem Gesicht machte auf mich Eindruck, den ich in diesem ganzen Wahnsinn gewonnen hatte. nach links, nach rechts, vorwärts und rückwärts, rauf und und wir wurden Freunde. Er hieß Nick. runter usw., in immer kürzeren Strecken, so lange, bis die Mit der hereinbrechenden Nacht verbreiteten sich rasch Menschenmenge so dicht wurde, dass ich den Beton un- Nachrichten über jüngste Ereignisse. Die Informationen ter mir nur noch mit einer Fußspitze berühren konnte. Der kamen in Wellen. Zum Beispiel hörte ich, dass Kinder un- Strom der Ereignisse trug mich schließlich in die einzig ter zehn Jahren keine Scham ob ihrer Nacktheit empfan- mögliche Richtung davon. Der Tod war plötzlich hundert den und nicht am Erdboden angewachsen waren, und so Mal näher, als ich das an jenem Morgen ahnen konnte, schwirrten sie herum, kitzelten die Menschen und lach- während ich selbstbewusst den Müll in den Container ten über ihre irrwitzigen Posen. Ich dachte an meinen stopfte. Ich entging ihm um ein Haar, dank eines jungen Sohn. Dieser war zum Glück in Salzburg. Auf die gleiche bebrillten Mannes. Er sah mir sehr ähnlich. Er drehte sich Art verbreitete sich die Geschichte über Einzelne, die sich um und fragte, wohin wir eigentlich unterwegs waren, bereits zurechtgefunden hatten und ihre Körper mit Ge- eine Sekunde, bevor ich dasselbe tat. Statt einer Antwort genständen, die in Griffweite waren, bedeckten, die die drückte ihn ein haariger Arm hinunter, unter die Körper, Rinde von den Bäumen schälten und sich in Zeitungspa- und er fand sich unter tausenden von Schuhsohlen wie- pier wickelten. Ebenfalls hatte der Kollege mit dem Auge, der, verurteilt nach dem Gesetz der Masse. Das fürchter- Nick, angeblich einige Männer gesehen, die Scheren liche Menschenmonstrum brüllte aus seinem kollektiven hatten und sich langhaarige Mädchen schnappten, ihre Hals ein einfaches Lied, während es die Mariahilfer Straße Haare abschnitten, um daraus ein Gewand zu flechten. hinunter marschierte, bis der Vorderteil der Kolonne, in Wir waren ja erst vor Kurzem Freunde geworden, und so welchem auch ich mich befand, den Platz erreichte, wo glaubte ich ihm nicht alles. Jedenfalls war es schrecklich, ein Redner mit Unterstützung einer mächtigen Beschal- und wie zu erwarten wurde es mit der Zeit immer schreck- lungsanlage noch einmal hinausschrie: licher. Nicht nur überwog der Fäkaliengestank schließlich die Wirkung des Adrenalins, nachdem Christina, die noch Österreicher! immer hautnah neben mir stand, nach langem Ausharren und der Möglichkeit wegzugehen beraubt, sich an Ort Und anschließend, nachdem die Menge sich mehr oder und Stelle erleichtert hatte, es kristallisierte sich, als wäre weniger beruhigt hatte: das nicht genug, in der Masse auch noch die abscheuliche Ihr seid ja nackt! Gestalt meiner Vermieterin mit Goldzahn heraus, ohne Innerhalb einer Minute verstummte eine Million Stimmen. die offensichtlich keine einzige Geschichte auskommen

14 Beton Spezialausgabe März 2011 Saša Ilić & Jeton Neziraj korrespondenz

Lieber Jeton, ziehen und eine andere Lösung suchen. Die Suche nach einem Ort, wo man als Albaner am leichtesten das Ge- anderen Lösungen ist seit jeher das einzige Hobby eines wicht der Diskriminierung und der Verachtung erkennen der Sommer kommt in seine kritische Phase, die Politiker jungen Matrosen, eines zhapin, der von allen der Reihe konnte. Es war die Zeit, als das Leben eines Albaners im sind im Urlaub, die Journalisten wissen nicht, worüber sie nach drangsaliert wird. So bestieg ich auch den Kleinbus Kosovo von vielen Dejans genauso wie das Leben eines noch schreiben sollten und kramen in alten Koffern nach nach Prishtina, in dem schon Passagiere mit Erfahrung Straßenhundes behandelt wurde. Artikeln, die sie noch einmal veröffentlichen. Diese Artikel auf dieser Strecke saßen und mich verwundert ansahen. In der vierten und fünften Klasse der Grundschule (die sind nur noch dazu gut, den Leuten Sand in die Augen Du bleibst immer ein zhapin, hatte vor langer Zeit der damals nach Milan Zećar benannt war und später den Na- zu streuen. Vielleicht ist es die ideale Zeit für das Pro- kleine Berisha Beka zu mir gesagt. Und er hatte Recht. men von Kadri Zeka bekam), unterrichtete uns in Serbisch jekt, das wir im März dieses Jahres in Angriff genommen Der Kleinbus machte an einer Straßenwirtschaft bei Po- der serbische Lehrer Bora. Bora war ein guter Mensch: haben, als wir uns auf der internationalen Buchmesse in jate eine kurze Pause. Dort tranken wir Kaffee. Während weise und aufmerksam! Er begnügte sich mit einem: Leipzig trafen. Wo sollten wir uns auch sonst getroffen ich meine SMS schrieb, entdeckte ich an einer Wand in „Lest der Reihe nach diese Unterrichtseinheit vor“, und haben, denn die Kommunikation mit dem Kosovo läuft der Kneipe das Bild eines naiven Malers: das Fürstenmahl danach frönte er in der Klasse sehr oft dem Schlaf. Aber heutzutage vor allem in eine Richtung, den Grenzüber- in dunklen Tönen. Mir kam der Gedanke, dass auf dieser von ihm habe ich solide Grundlagen der serbischen Spra- gang bei Merdar kannst du nur passieren, wenn du serbi- Wegstrecke alles von der Vergangenheit geprägt ist und che gelernt. Ein erschütterndes Ereignis, an das ich mich sche Dokumente vorweisen kannst, in anderer Richtung sich der Suche nach anderen Lösungen widersetzt. Den- aus der Zeit erinnere, verbindet sich gerade mit den ers- musst du einen Umweg wählen. Interessanterweise habe noch setzte ich, wie jeder zhapin, meine Reise fort. Als ich ten Grundschuljahren. Zwei rebellische Schüler aus einer ich diesen Grenzübergang dieses Jahr zum ersten Mal in der Nähe des Busbahnhofs von Prishtina am Straßen- anderen Schule, Rruka und Safet, hatten ihre serbische passiert, als ich nach Prishtina zur Promotion der Sa- rand ausstieg, sagte mir einer der anderen Fahrgäste, dass Lehrerin mit einem Stein angegriffen (die einzige ser- rajevske sveske fuhr. Du weißt selbst, wie das geht: Du das Hotel „Grand“, Arkans ehemaliges Hauptquartier, bische Lehrerin in der Schule). Ich weiß nicht, welchen suchst dir die Nummer eines Minibus-Taxiunternehmens geschlossen habe und er mir davon abrate, Prishtina zu Grund der Angriff gehabt haben könnte, aber ich denke, heraus, das die Route Belgrad-Prishtina bedient, fährst betreten. Ich winkte und nahm meine Tasche. Vor mir lag dass sie als neun- oder zehnjährige Kinder keinen poli- runter zum Hauptbahnhof, von wo das Taxi abfährt, und Prishtina. Als ich ins Taxi stieg, wusste ich eines: Ich war tischen Hintergrund gehabt haben! Die Bestrafung der brichst auf ins Unbekannte. Ich erinnere mich, dass die gekommen, um Geschichten abzuholen, die mir vielleicht beiden Kinder war schrecklich. Und ich wurde Zeuge nur Affäre um das Abschalten der Mobilfunkanbieter auf dem die Welt meines verschwundenen Freundes aus der Ma- eines kleinen Teils dieser Bestrafung. Sie wurden in unsere Höhepunkt war, und so beeilte ich mich, bis Merdar al- rine, Berisha Beka, erklären würden. Geschichten, die ich Schule gebracht (die weiter weg war als die, in der sie len meinen Bekannten Nachrichten zu schicken, bevor ich dann nach Belgrad schmuggeln würde, in dem gleichen vorher gelernt hatten). Die albanischen Lehrer schlugen kein Signal mehr hatte. Ich kann sagen, dass diese Reise Kleinbus, falls er zur verabredeten Zeit erscheinen sollte. sie bestialisch, als ob sie zeigen wollten, dass sie sich von etwas von der Aufregung hatte, die Menschen spüren, den Handlungen der zwei Kinder distanzieren. Sie wurden wenn sie das Gefängnis verlassen oder ein Land, das mit So kam ich zum ersten Mal nach Prishtina ... in unserer Anwesenheit unbarmherzig geschlagen. Aber Sanktionen belegt ist, so wie ich es empfand, als ich 1999 Belgrad, Freitag, den 13. August 2010 ich war damals noch zu klein, um die Schuld der beiden den Grenzübergang Kelebija passierte. Damals verließ ich Freundschaftliche Grüße Schüler zu verstehen, über die alle sagten, dass es „eine zum ersten Mal seit meiner frühen Kindheit, als meine Saša schreckliche Schuld“ war. Die Lehrerin war Serbin und das Eltern mit mir ans Meer nach Griechenland gefahren wa- verzehnfachte die Schuld der zwei Schüler! Solche Strafen ren, das Land. Davor hatte ich große Probleme, einen und vielleicht noch schrecklichere bekamen auch andere Reisepass zu bekommen, weil ich der Schalterbeamtin im Kinder, die es eines Tages gewagt hatten, auf ihre Schul- Innenministerium nicht beweisen konnte, dass ich mei- Lieber Saša, bänke die Parole „K. R.“ (Republik Kosova) zu schreiben. nen Wehrdienst wirklich geleistet hatte und dass der erste Einmal hat uns damals, in der frühen Kindheit, ein Ver- Stempel in meinem Militärausweis fehlte, weil 1991, als auf eine gewisse Weise waren wir alle und sind wir auch wandter ein Paar Parolen beigebracht, die ich und mein ich Rekrut in der Jugoslawischen Volksarmee wurde, der weiterhin „Eidechsen“; Eidechsen im Krieg und Eidechsen Cousin in unserem Hof oben auf einem Holzstapel laut Krieg begann. Und damals, unter dem Deck einer Fregat- heute im Frieden. Dein Freund aus der Armeezeit Bekë aufsagten. Eine der Parolen war „Republik Kosova“. Eine te, habe ich übrigens zum ersten Mal im Leben Albaner (Bekim?) Berisha hat Recht gehabt. Das Eidechsen-Leben längere enthielt Verse, an die ich mich nicht mehr genau kennen gelernt. verfolgt uns weiter, mein Freund … ! Es ist merkwürdig, erinnere, die aber etwa so gingen: „ … Verfassung, Re- dass Du in Deinem Brief über einige Sachen geschrie- publik … sitz unter der Stiege … wenn der Scheißserbe Ich weiß nicht, was die Frau am Schalter mir damals un- ben hast, über die ich unbedingt schreiben wollte, und rauskommt, stich ihn ab … !“ Mein Onkel, der uns hör- mittelbar nach dem Krieg im Kosovo gesagt hätte, wenn die in einer Kommunikation dieses Formats wahrschein- te, warf sich von hinten auf uns und zog uns nach ei- ich ihr das erzählt hätte. Sie hätte mich wohl zum Teufel lich unvermeidlich sind. Eine Kommunikation, die, glaub ner langen Verfolgungsjagd die Ohren lang. Wir mussten gejagt oder die Wache schiebenden Polizisten gerufen, mir, mich gleich im ersten Brief mit einem merkwürdigen ihm sagen, wer uns die Parolen beigebracht hatte. Lange damit sie mich aus der Schlange werfen, in der ich einige Gefühl erfüllt hat, das vielleicht ein Mensch haben kann, Zeit haben wir uns schuldig gefühlt, weil wir unseren Ver- Stunden verbracht hatte. Ich erinnere mich an den klei- der zum ersten Mal in einen Zoo kommt. Ich glaube, dass wandten „verraten“ haben, und es tat uns leid, weil wir nen grünäugigen Berisha Beka, Matrose der 106. Mari- er Freude und Angst und Überraschung und Optimismus ihn nicht mehr besuchen konnten, um bei ihm das leckere neeinheit der Jugoslawischen Kriegsmarine, neben dem empfindet … Aber vor allem Freude. Brot zu essen, das seine Mutter buk. ich unter Deck schlief. Wir hatten Schlafsäcke und teilten Hier, wo ich sitze und schreibe, befindet sich das schöne Ich erinnere mich, dass uns der Opa, bevor wir uns schla- uns einen sehr beengten Raum, während wir darauf war- Restaurant meines Onkels. Vor rund 15 Jahren war das fen legten, fragte, ob wir die Axt reingebracht haben (die teten, dass unser Schiff in Boka Kotorska einlief, wo un- hier Besitz von einheimischen Serben, die hier bis 1999 gewöhnlich tagsüber im Hof lag). Die Axt musste abends sere Odyssee beginnen sollte. Auf der Halbinsel Prevlaka gelebt haben. Jetzt leben hier im Dorf keine Serben; sie immer im Haus sein. Und der Opa hatte dafür eine ein- wurde schon heftig geschossen, und jeden Abend liefen sind entweder nach Serbien oder in andere serbisch be- fache Erklärung: „Wenn die Serben kommen, um uns Kanonenboote aus Tivat in Richtung Dubrovnik und Ploče wohnte Gebiete Kosovos geflohen. Die albanischen Be- nachts im Schlaf zu zerstückeln, sollen sie uns wenigstens aus. Am Morgen danach kamen sie zurück, und wir als wohner sagen mit dem ihnen eigenen Zynismus: „Es ist mit ihrer Axt zerstückeln, nicht mit unserer!“ Dieses Trau- frischgebackene Eidechsen mussten riesige Granathülsen kein Serbe übrig geblieben, nicht einmal für das Gift.“ Das ma meines Opas rührte sicherlich von früheren Ereignis- ausladen. Sie stanken nach Schießpulver und Unglück. Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist nicht weit weg von sen her, als serbische oder albanische Banden in den Dör- Wir stapelten sie auf große Karren und zogen sie zu den diesem Dorf, wo Serben gewohnt haben, aber ich hatte fern der anderen Massaker angerichtet haben. Als Kind rußigen Wartungshallen. Wir waren die Malocher des selten, sehr selten Kontakte mit Serben. Als ich etwa fünf habe ich mir ständig solche Szenen vorgestellt, wie unsere Krieges und zogen diese Karren durch die weit geöffne- Jahre alt war, habe ich mit einer Kindergruppe einen Aus- Männer mit Äxten und Hippen abends, kurz nach dem ten Tore, wo die Hülsen wieder befüllt wurden. Damals, flug nach Bećići in Montenegro gemacht. In der Gruppe Sonnenuntergang, ein serbisches Dorf überfielen und es als ich mit Berisha den Karren schob, lernte ich das erste von etwa 20 Kindern war auch ein serbischer Junge (er entvölkerten. Und danach stellte ich mir auch das Ge- albanische Wort: zhapin (Eidechse). Ich weiß nicht, ob es hieß Dejan), der als Serbe eine Vorzugsbehandlung von genteil vor, wie serbische Männer mit Äxten, Sensen und in der albanischen Standardsprache überhaupt verwendet unseren Erziehern erfuhr. Von Dejan habe ich auf Serbisch Messern kamen und unser Dorf verwüsteten. Und leider wird, doch für uns wurde es in diesen Tagen zum festen nur „ich ficke deine Mutter“ gelernt. Viele Jahre später, in habe ich diese Schreckensszenen, früher als Träume, viele Bestandteil des Matrosenjargons. den 90er Jahren, fing Dejan in der Kommunalverwaltung Jahre später „live“ im Kosovo-Krieg gesehen. zu arbeiten an, in der Abteilung, wo Personaldokumente Ich habe diese Brosamen aus der frühen Kindheit erwähnt, Als zhapin stand ich also vor dem Schalter im Innenminis- ausgestellt wurden (Pässe und Personalausweise), und um zu betonen, dass im Kosovo ein Geist des gegensei- terium, ohne jede Möglichkeit, den staatlichen Organen ich weiß, dass er für die einheimischen Albaner zu einem tigen Misstrauens und der Angst zwischen Serben und irgendetwas zu erklären. Ich konnte nur den Kopf ein- der meist gehassten Serben wurde! Dejan arbeitete an Albanern bestand. Eine Angst, die von einer Generation

Beton Spezialausgabe März 2011 15 an die andere weitergegeben wurde … ! Und diese Angst Sie sorgte für Unruhe und das Kosovo wurde in meiner Süden – Richtung Kosovo. Nach den Kriegen und dem und dieses Misstrauen wurden von den Nationalisten bei- Vorstellung zu einer möglichen Gefahrenzone, aus der Fall Miloševićs bekam ich eine Stelle in Belgrad, im Gym- der Seiten mit viel Hingabe kultiviert. Sie haben einfach die Chiffre „K.R.“ wie der Schatten einer Art „Endlösung“ nasium „Sveti Sava“. Es war die einzige Stelle, die ich über Öl ins Feuer gegossen, dessen Flammen sich hier im Ko- herausragte, der uns eines Tages alle unter sich begraben das Arbeitsamt bekommen konnte. Den Grund begriff ich sovo und wohl auch in Serbien ungestört ausbreiteten. würde. Dann begannen zerlumpte serbische Familien aus sehr schnell. Anfang der Neunziger war diese Einrichtung Es war und bleibt der Raum, der früher und auch jetzt dem Kosovo aufzutauchen, sie waren ärmlich gekleidet zu einer exklusiven Schule für die Kinder von Miloševićs nur „Patrioten“ und „Verräter“ kennt. Nichts darüber hi- und in den Traktoranhängern saßen unzählige Kinder. Sie Funktionären geworden, und als solche galt sie auch naus und auch nichts dazwischen. Entweder warst du mit kauften Land in der Nähe unseres Hauses und ließen ihre noch im Herbst 2001, als ich, Lehrer für serbische Spra- uns oder mit ihnen, aber im Wesentlichen, wie dein Bekë Verwandten nachkommen; bald entstand eine ganze wild che und Literatur, das Klassenzimmer betrat. Die Schule Berisha gesagt hat, waren und sind wir nichts weiter als bebaute Siedlung, der wir den Namen „Chinesenviertel“ war ziemlich angeschlagen, mit Klassen von bis zu fünfzig Eidechsen. gaben. Die Ortsansässigen verkauften ihnen zwar Land, Schülern. An einem Tag im September nahm ich in der Es gibt noch vieles andere aus diesem unseren Eidech- mochten die Neuankömmlinge aber nicht. Auch die „nor- zehnten Klasse des Gymnasiums Sándor Petőfis Gedicht sen-Leben, worüber ich schreiben möchte, aber diesmal malen“ und gut gekleideten Kinder der Ortsansässigen Ein Angsttraum quält mich durch. Seine revolutionäre begnüge ich mich hiermit. Weil dieser Brief, der aus An- mochten die Kinder der Kosovaren nicht. Wir prügelten Romantik und der Imperativ des lyrischen Subjekts, am lass der Anthologie begonnen wurde, die wir vorbereiten, uns häufig mit ihnen, dann kam manchmal einer der äl- Ende mit denen begraben zu werden, die für die Freiheit sonst die Leser traurig stimmt. Ach, mein Freund, ich teren Nachbarn heraus, er schrie und beschimpfte jeden gekämpft hatten, führte unerwartet dazu, dass mich am merke gerade, dass wir uns zur Einführung in eine Lite- von ihnen als Scheiß-Albaner oder als „Shiptar“. Wegen nächsten Tag folgende Aufschrift an der Tafel erwartete: raturanthologie ausgerechnet Geschichten aus der Ver- solchen wie euch, schrie der Nachbar, nehmen sie uns ir- „Die Shiptaren sind in der Romantik, wir bringen sie um gangenheit erzählen! Nun gut, noch ein oder zwei Briefe, gendwann das Kososvo weg! und werfen sie in Massengräber!“ Ich fragte, wer das ge- und ich glaube, dass wir die Vergangenheit in den Müll Da ich in unmittelbarer Nähe zum „Chinesenviertel“ lebte schrieben habe, doch niemand meldete sich. Dann dachte getreten haben, und dann werden wir, glaube ich, zu den und zum Einkaufen geschickt wurde, musste ich oft in ich, ich müsste meinen Unterricht anders aufbauen und Eidechsen und der Eidechsigkeit von heute übergehen. den ersten Laden, den einer von den „Chinesen“ eröffnet mit diesen Kindern über andere Menschen in unserer In der Zwischenzeit warte ich ungeduldig auf Deinen hatte. Und dort, vor der billigen Auslage hinter Glas und Nähe sprechen, über Möglichkeiten der Kommunikati- zweiten Brief. Und ich kündige Dir an (wie in den latein- Aluminiumleisten, saßen die ganzen chinesischen Rotz- on mit anderen Nationen und Religionen. Einmal sagte amerikanischen Fernsehserien, in denen die Geschehnisse löffel, immer in zerrissenen Kleidern und barfuß. Ich erin- ich zu ihnen, stellt euch vor, dass mein Name mit einem der nächsten Episode angekündigt werden), dass ich Dir nere mich, dass ich mir anfangs ihre Namen nicht merken i endet, wie würdet ihr mich dann sehen? Sie schüttelten in meinem zweiten Brief über meine berühmte Reise nach konnte und nicht durchschaute, wer mit wem verwandt die Köpfe und erklärten mir, das sei unmöglich, aber ich Leskovac schreiben möchte, dann ein wenig über die Re- war. Es waren viele, sie sprachen ein Serbisch, das noch insistierte, dass auch ein Albaner sie in serbischer Sprache aktionen „meiner leidgeprüften Patrioten“ (Schriftsteller) unverständlicher war als das von uns Ortsansässigen. Ich unterrichten könnte. Warum nicht. Die Stunde in Tole- auf unsere Anthologie, und ich schreibe Dir auch über kam auf meinem neuen Fahrrad, um das ich immer Angst ranz ging zu Ende. Einige Tage später erwartete mich am das Kulturleben im Kosovo, wenn du willst … Am Schluss hatte, während ich im Laden war. Es passierte immer Eingang zum Klassenzimmer ein junger Mann mit breiten sprechen wir auch über Politik! Pah, hol’s der Teufel, spre- das Gleiche. Einer dieser Rotzlöffel schnappte sich mein Schultern und kurzgeschorenen Haaren. Er versperrte mir chen wir einmal auch über Politik? Um Gottes Willen, sag Fahrrad und raste damit die Straße hinunter. Ich musste den Weg und beugte sich drohend vor. Nie zuvor hat- nicht nein. Den inneren Eidechsen zum Trotz, die aus un- ihn lange verfolgen, das Gejohle der anderen im Rücken. te ich so viel Hass in jemandem gespürt wie in diesem serer Kommunikation und Zusammenarbeit mittels ihrer Manchmal umzingelten sie mich, und ich war gezwungen, Moment in diesem jungen Mann. Seine Freunde hätten konspirativen Theorien notwendigerweise unsere gehei- ihnen das Fahrrad auszuleihen. Ich erinnere mich, dass ihm erzählt, ich sei ein Shiptar und als solcher könne ich men Absichten enthüllen werden, die nachweisen werden ich mich einmal nach einer Keilerei mit ihnen übergeben nicht an einem „serbischen Gymnasium“ unterrichten. (das soll auch die Öffentlichkeit wissen), dass ich ein Spi- musste. Ich konnte mir das nicht erklären. Etwas an ihnen Am Schluss sagte er noch, er werde mich töten. Im ersten on der Serben und du der Albaner bist, oder wir beide verstörte mich zutiefst, bis hin zu einer körperlichen Aver- Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte, ungeschickt zusammen Spione von Amerika oder von Russland sind. sion. Dann kamen wir in die Schule, und die Kinder, die in fragte ich, wer er sei. Er stellte sich mit vollem Namen als der Umgebung der Schule wohnten, begannen mich, weil Schüler der zweiten Jahrgangsstufe dieses Gymnasiums Was sagst Du, Saša, zu der Idee des Gebietsaustausches ich so nah am „Chinesenviertel“ wohnte, wie einen Chine- vor. Ich sagte, dass mir das egal sei und er solle zur Direk- zwischen Kosovo und Serbien? Puh, das hat einen feind- sen zu behandeln. Ein Chinese, aus dem später ein zhapin torin gehen. Eine Zeitlang verlangte er noch meinen Per- seligen Klang. Nun, wenn Du willst, lassen wir es ganz. werden sollte. Ich sah mich um und sah meine Nachbarn sonalausweis zu sehen. Wir standen uns, wie es schien, Treiben wir also lieber Literaturaustausch … ! Denn, wer aus dem Viertel. Und auf einmal, mitten auf dem Schul- eine ganze Ewigkeit gegenüber, während andere Lehrer weiß, wenn wir Literaturaustausch treiben, gibt es später hof, teilte ich mit diesen Menschen eine Gemeinsamkeit: an uns vorbeigingen und Schüler uns vom Gang aus be- vielleicht keinen Bedarf am Gebietsaustausch mehr! das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. obachteten, die offensichtlich an der Vorbereitung dieses Bis zu Deinem zweiten Brief. Viele Jahre später, als ich Berisha Beka kennen lernte und Überfalls beteiligt gewesen waren. Schließlich trat er zur unter dem Deck eines Schiffes mit ihm über das Leben Seite, und ich ging ins Lehrerzimmer. Ich ließ mich auf Samstag, den 14. August 2010. im Kosovo sprach, erkannte ich, dass meine damaligen einen Stuhl fallen und erzählte den Kollegen, was passiert Mit freundlichen Grüßen Chinesen, aus dem Kosovo zugezogene Serben, in den war, worauf sie lachten. Sie sagten, das mich noch eini- Jeton Neziraj Augen der Ortsansässigen etwas von der albanischen Be- ges erwarte. Was würde der nächste Schritt sein, fragte drohung vermittelten, die in der Chiffre „K.R.“ kompri- ich mich. Deshalb meldete ich den Vorfall der Direktorin miert war. Bis heute leben sie ausgegrenzt in ihrem Ghet- und verlangte den Einsatz eines Psychologen, der mit den to. Nur in seltenen Fällen konnten Freundschaften, die in Schülern arbeiten sollte. Doch alles ging sehr schleppend. der Schule geschlossen wurden, diese Barriere zwischen Bald nannte man mich nur noch „Shiptar“, und jeden Mein Freund Jeton, uns einreißen. Sie hatten Kontakt zu Albanern gehabt Tag nach Schulende warteten hinter dunklen Ecken des und es war, als sei bei diesem Kontakt auf unerklärliche Schulgebäudes Schülergrüppchen, hauptsächlich Jungs, schon immer hat mich interessiert, wie die Zeit auf der „magische“ Weise für immer das Wesen des Feindes auf die mich mit lauten Rufen als Scheiß-Albaner beschimpf- anderen Seite der „Mauer“ verging. Dein Brief hat mich sie übergegangen und hätte sie entwertet und in die Iso- ten: Shiptar! Wir töten dich! in die Zeit zurückversetzt, als die „K.R.“ (Kosova Repu- liertheit des Chinesenviertels gepresst. Das war die Ant- Wieder stand ich am Anfang meines Eidechsenlebens. Ich blika) ein Mantra war, das die ohnehin von Politik über- wort der ortsansässigen Gemeinschaft auf die Kosovaren, lief durch das Halbdunkel und erwartete jederzeit, dass sättigte Luft meiner Kindheit erfüllte. Ich wurde in einem und mittelbar auch auf die albanische Forderung nach der jemand aus der Dunkelheit springen und mich schlagen Ort in Zentralserbien geboren, Belgrad war genauso weit „Kosova Republika“. Es war nicht wichtig, wer diese Leute würde. So vergingen in diesem Herbst mitten in Belgrad, weg wie das Kosovo. Alles kam bei uns mit Verzögerung waren. Die Botschaft war deutlich. Und wenn es soweit in unmittelbarer Nähe zur Britischen Botschaft, meine an, Filme, die Popkultur, Bücher und Comics. Doch die wäre, würde man schon anders reden. „Tage als Shiptar“. Vom Lehrerkollegium bekam ich kei- Chiffre „K.R.“ war eine Information, die ihren Weg sogar Auf diese Zeit musste man nicht lange warten. Als ich ne Unterstützung, und dann kamen die Eltern, sie warfen in die Welt der Kinder fand. Wenn ältere Menschen sie volljährig wurde, begannen die Kriege. Alles geriet in Be- mir vor, ich würde ihre Kinder beschuldigen, die in der nach dem Tod Titos aussprachen, klang sie beängstigend. wegung, von Vukovar und Dubrovnik über Bosnien in den Tat ihren Mitschüler angestiftet hatten. Ende Dezember

16 Beton Spezialausgabe März 2011 hatte ich alle Noten verteilt und verließ die Lehrerstelle in „Hol ihn dir, ist doch nichts dabei …“ lisation, Reformation, Rekapitulation, Reformierung, Re- Miloševićs Gymnasium „Sveti Sava“. Ich fragte mich, wie „Ist es das wert, für eine Reise nach Kanada …“ generierung, Rekapitulieren, Re … ). Das bedeutete, dass es richtigen Albanern, Bosniaken und Kroaten in dieser „Wenn du vor den Kriminellen einen Kniefall machen ich einen Antrag auf dieses „Re“ stellen und nach einer Stadt erging, wenn ich schon wegen eines „i“ am Ende willst, dann hol ihn dir …“ Woche wiederkommen sollte. Ich fragte, warum es nicht des Namens so etwas erlebt hatte. Es gab keine Antwort. „Hol ihn dir doch, wenn du meinst ... Was ist schon dabei …“ möglich ist, das innerhalb eines Tages zu erledigen, da- Ich versuchte, darüber für die Presse zu schreiben, doch „Was hat das denn mit Patriotismus zu tun?“ mit ich nicht noch zweimal nach Leskovac kommen muss, den Medien erschien das Thema wohl nicht interessant. „So ist es mit uns Albanern, wir gewinnen im Krieg und aber eine von den Frauen unterbrach mich: „Unmöglich!“ Deshalb, mein Freund, glaube ich, dass der Austausch verlieren im Frieden …“ Ich war nicht sicher, ob das Geld jetzt helfen würde. Sa- unserer Geschichten dazu beitragen wird, dass eines Ta- „Geh und hol ihn dir, mit unseren UNMIK-Pässen können ckerment, würde ich der Sache vielleicht schaden, wenn ges solche Ereignisse nicht mehr geschehen. Soweit dies wir uns höchstens den Hintern abwischen …“ ich jetzt Geld anbieten würde? Ob ich sie beleidigen wür- möglich ist. Es ist schwer und benötigt viel Zeit. Man „Du blamierst dich damit …“ de? Ich beschloss, ein verantwortungsvoller Bürger zu braucht Geduld. Und ja, ich will mehr von deiner Reise sein. Ich kam nach einer Woche wieder in dasselbe Büro. nach Leskovac wissen. Wie sind die Reaktionen auf die Das sind natürlich imaginäre Meinungen, aber in der Zeit, Eine Frau (die den Eindruck einer Vorgesetzten machte) Nachricht, das wir gemeinsam ein Projekt vorbereiten, in als mich die Idee eines jugoslawischen Passes in Versu- setzte mich in einen anderen Raum und fragte mich nach dem wir keine Gebiete, sondern Literatur austauschen, chung brachte, waren sie gängig. Schließlich entschied einigen Albanern, die sie kannte, als sie in Ferizaj gearbei- das einzig wahre Zeugnis über das Leben in Ghettos und ich mich. Ein „Vermittler“ war leicht gefunden, der mir ge- tet hatte. Sie fragte nach der Stadt, sie fragte nach den Chinesenvierteln überall auf dem Balkan? gen eine Zahlung von 300 Euro den Pass bringen würde. Veränderungen … Sie sagte mir, dass sie nach dem Krieg Schreib mir auch, welche Autoren du ins Buch aufnehmen Ich traf mich mit dem Typ und er brachte mich dazu, ihm nicht mehr da gewesen sei, aber dass sie hoffe, eines willst und worüber sie schreiben. Auch über die aktuellen 150 Euro Vorauszahlung zu geben. Ich war so blöd, dass Tages zurückzukehren. Ihre Menschlichkeit rührte mich. Politiker. Ich habe viele solcher Geschichten. Die versie- ich ihm glaubte. Denn allein die Idee eines jugoslawischen Sie hatten es natürlich nicht leicht, in den Kabuffen zu gen nicht, genauso wie der Pegel der gegenseitigen Ab- Passes hatte etwas Konspiratives, Unbekanntes, Unheim- arbeiten und so zu tun, als ob sie einer ganz wichtigen lehnung nicht fällt, trotz allem. liches und noch vieles mehr, so dass auch diese Zahlung Beschäftigung nachgehen würden. Um sie zu trösten, ließ von 150 Euro für einen Reisepass, der nach einer Woche ich zehn oder zwanzig Euro „für Kaffee“ da und sie hat Belgrad, den 18.11.2010 auf dem Tisch dieses Cafés liegen sollte, nicht „unlogisch“ sich nicht dagegen verwahrt. Mit freundschaftlichen Grüßen vom war. Der „Vermittler“ hat mir den Pass nach einer Woche Schließlich konnte ich den Antrag auf der Polizeistation Chinesen, Shiptar und, natürlich, zhapin nicht gebracht, und auch nicht nach zwei Wochen und von Leskovac stellen, und es wurde mir gesagt, dass ich S. Iliq auch nicht nach zwei Monaten und auch nicht nach … Er nach etwa einer Woche wiederkommen sollte, um den hielt mich eine lange Zeit mit banalen Lügen hin, bis ich Pass abzuholen. Der festgesetzte Abholtermin war genau schließlich resignierte. Die so heiß ersehnte Reise nach der Tag nach den Parlamentswahlen im Kosovo, aus denen Kanada scheiterte. die Demokratische Partei des Kosovo von Hashim Thaçi Lieber Saša, Aber ein Jahr später, 2007, wurde die Einladung der kana- als Sieger hervorging. Sackerment, schon wieder das Di- dischen Universität erneuert. Diesmal war ich entschlos- lemma, soll ich hinfahren oder soll ich nicht. Würde ich es solche Briefe von uns und von vielen anderen bringen die sen. Ich musste selbst nach Leskovac fahren, dorthin, wo verschieben, befürchtete ich, in der Wartereihe zurückzu- Menschen vielleicht für ein paar Minuten zum Weinen, nach dem Krieg angeblich die Dokumente aus der Region fallen, wer weiß ... Ich beschloss zu fahren. An dem Tag aber nach der Lektüre, nachdem sie sich eine Zigarette Kaçanik aufbewahrt wurden. gab es auch viel weniger Taxifahrer. An der Polizeistation angezündet haben, kehren sie zur alten Beschäftigung Voller Angst fuhr ich los. Ich brach am frühen Morgen in von Leskovac traf ich kaum Albaner. Bei den anderen zwei dieser Gegend: zum Hass und zur Feindschaft zurück! … Gjilan auf, mit einem Taxi, das von mir 50 Euro verlangte. Malen hörte ich sie gewöhnlich leise Albanisch sprechen. Ach, Freund, vielleicht lassen die Menschen wenigstens Der Taxifahrer, der solche Reisen gewöhnt war, erklärte mir Und selbst wenn sie nicht sprachen, erkannte ich leicht an für ein paar Minuten „die Waffen schweigen“ und viel- sozusagen alle Prozeduren, denen ich mich unterziehen ihren „schuldbewussten“ Mienen, dass sie Albaner sind. leicht nützen unsere Briefe doch etwas. Ich habe mal musste, um an den Pass zu kommen. Leskovac erschien Und je mehr Albaner ich sah, umso erleichterter fühlte gelesen, dass in einem Land vor nicht allzu langer Zeit mir als überflüssige Stadt. Aber auf dem Weg dorthin ich mich, denn, hol‘s der Teufel, ich bin nicht der einzige, die Sklavenhalter aufrichtig weinten, wenn sie im Theater war ich erstaunt über die Schönheit der Natur. Du sollst der diese Schweinerei begeht. Es ist wie bei Soldaten, die Aufführungen von mittleiderregenden Leidensgeschich- wissen, dass ich den ganzen Vormittag damit zugebracht eine Linie bilden, selbst wenn nur ein einziger Mensch zu ten der Sklaven sahen. Aber sobald sie aus dem Theater habe, die Behörden zu suchen und zu erfahren, zu wel- erschießen ist. Das künftige Opfer könnte leicht auch nur nach Hause zurück kamen, bläuten sie ihre Sklaven wie- cher Stelle ich zuerst und zu welcher ich am Schluss gehen von einem Soldaten getötet werden, aber diese Methode der durch. sollte. Das Zentrum dieses „Unternehmens“ war die dor- wurde erfunden, soviel ich weiß, um geistige Schäden zu Ich danke Dir aufrichtig, dass Du mit mir (und mit den Le- tige Polizeistation. Eine weitere wichtige Stelle war das vermeiden, die bei Mördern zu Tage treten. Wenn zehn sern) Deine Kindheitserinnerungen geteilt hast. Das, was Büro der Gemeinde „Ferizaj“ (das vorübergehend nach Soldaten in der Linie stehen, kann sich jeder später einre- Du geschrieben hast, sagt mehr als dutzende Geschichts- Leskovac umgezogen war), wo erst einmal die Geburts- den, dass es sicherlich die Kugel eines anderen Soldaten bücher. und die Staatsangehörigkeitsurkunde beantragt werden war, die das Opfer traf, und nicht die eigene … ! In meinem letzten Brief habe ich Dir versprochen, dass mussten. Zu diesem Büro kam man, wenn man irgendwo Als ich an die Reihe kam, sagte man mir: „Ja, dein Pass ich Dir über meine Reisen nach Leskovac erzähle. 2006 in der Stadt eine Brücke überquert hatte. Das Büro be- ist fertig, aber zuerst musst du dich bei der ‚Polizei von habe ich von einer Universität in Kanada eine Einladung fand sich in einem Privathaus, und ich kann mich nicht er- Uroševac‘ melden!“ So ist das also! Es gibt also auch die bekommen, hinzufahren und eine Präsentation des ko- innern, dass es ein Schild gab. Allein die Einrichtung und Polizeistation von Ferizaj, die vorübergehend nach Les- sovarischen Theaters zu halten. Ich nahm das Angebot die triste Atmosphäre sind schon eine Geschichte für sich. kovac umgezogen ist (wie sie über alles aus dem Kosovo an, und es stellte sich heraus, dass Kanada mein koso- Ein oder zwei Männer, aber vor allem Frauen, die taten, sprachen). Der kosovarische Taxifahrer brachte mich dort- varisches Reisedokument nicht anerkennt (das seinerzeit als ob sie arbeiteten, oder sie arbeiteten sogar wirklich! hin. Das war vielleicht eine Herausforderung! Ich tröstete von der UNMIK ausgestellt wurde). Sackerment, ich hatte Merkwürdige Frauen (mir fällt jetzt kein geeigneteres mich: Was kann mir denn schon am helllichten Tag pas- es mir wirklich gewünscht, nach Kanada zu fahren. Ich Wort ein), alles Angestellte, die vor dem Krieg in den Ge- sieren, in einem normalen Staat (obwohl ich nicht allzu wusste von vielen Kosovaren, die sich aus verschiedenen meindebüros in Kaçanik, Shtërpcë oder Ferizaj gearbeitet sehr davon überzeugt war, dass Serbien noch ein normaler Gründen einen jugoslawischen Pass besorgt hatten. Ich hatten. Ich wurde gewarnt, dass alle leicht zu bestechen Staat ist, aber so habe ich mich eben selbst belogen). Es habe angefangen, diese Option zu überdenken. Einige seien. So sehr, dass man den Eindruck hatte, wenn man wird schon nichts passieren, rein gar nichts, dachte ich! Freunde sagten „tu es“, andere „tu es nicht“! Indessen ihnen die Hand reichte, um mit ihnen zu sprechen, er- Nun ja, mein Junge, sagte mir ein anderer Gedanke, jetzt musste ich mich mit verschiedenen Meinungen ausein- warten sie, dass man ihnen „etwas“ auf die Hand legt. findet man deinen Namen in irgendeiner von ihren Listen, andersetzen … Es stellte sich heraus, dass meine Dokumente in „Kosmet“ und du wirst dich für ein oder zwei Tage im Gefängnis „Hol ihn dir, davon geht die Welt nicht unter, wenn du ihn vernichtet/ verbrannt worden waren, und jetzt war es nö- vergnügen müssen. Dem kosovarischen Taxifahrer gab ich dir besorgst.“ tig … Jetzt war es nötig, sie erneut auszustellen. Oder alle Telefonnummern meiner Bekannten, die ich in Bel- „Du willst dir ja den Pass von denen holen, die uns ge- wie war noch das verflixte Wort, das ich nicht verstand, grad hatte, hauptsächlich Theaterleute. Der Taxifahrer, mordet haben …“ das jedoch mit „Re“ anfing; Rekonstruktion (oder Rea- der scheinbar auch den Ernst der Lage begriff, wurde

Beton Spezialausgabe März 2011 17 ernst und sagte mir in entschiedenem Ton: „Bruder, ich INSPEKTOR: Hast du gehört, dass die KFOR dort vor ei- gewählt habe, machen eine neue Kaste aus (der mittle- fahre ohne dich nicht lebendig in den Kosovo zurück. Ich nigen Tagen viele Waffen gefunden hat? ren und jungen Dichtergeneration), deren Gedichte sich warte hier, bis du wieder rauskommst.“ Wie in albanischen ICH: Hab ich in der Presse gelesen. Mehr weiß ich nicht … mit Sicherheit nicht in Schulbüchern finden. Einige von Filmen! In dieser tragikomischen Situation fehlte nur noch INSPEKTOR: Wo warst du während des Krieges? diesen Dichtern haben ihre Gedichte nur in irgendeiner Skanderbeg! Die Polizeistation von Ferizaj in Leskovac ICH (lüge wieder): Eine Zeit lang in Prishtina, wo ich stu- Zeitschrift (von den wenigen im Kosovo), in einem Lite- war ein einstöckiges Gebäude (wenn ich mich richtig er- diert habe, und danach in Mazedonien … raturmagazin oder im Internet veröffentlicht. Ich habe die innere). Alle Polizisten waren in Zivil, und das war wirklich Gedichte von einem von ihnen sogar nur in Facebook ge- furchteinflößend. Hol’s der Teufel, aber wie ist es möglich, Und so geht das „freundliche“ Gespräch mit dem serbi- lesen, und ungemein begeistert beschloss ich, sie in diese dass ein normaler Staat (!) solche illegalen Strukturen hat schen Inspektor der Polizei aus Ferizaj (vorübergehend Anthologie aufzunehmen. … ! Ich wurde von einem der „Inspektoren“ erwartet. Er umgezogen nach Leskovac) weiter. Er fragt, ich antwor- Ich bin stolz, dass sich in dieser kosovarischen Literaturan- tat ganz professionell. Das „Informationsgespräch“, wie te, mal lüge ich, mal bemühe ich mich, ehrlich zu ihm zu thologie, die Ihr hoffentlich bald in Belgrad veröffentlicht, es genannt wurde, dauerte rund 20 Minuten. Ich versu- sein … Er macht sich Notizen und tut, als ob er seine auch der Schriftsteller und Publizist Halil Matoshi befin- che, es so zu rekonstruieren, wie ich mich nach Jahren Arbeit machen würde, für die er mit Sicherheit von der det. Ehrlich gesagt, hat Matoshi die Altersgrenze, die ich daran erinnere. Regierung Serbiens bezahlt wird. Und ich sage mir, Gott als eines der „Kriterien“ für die Autoren aufgestellt hatte, (Ich sitze auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers. Der sei Dank, dass wir diese Lumpen von Polizisten nicht mehr ein wenig angehoben, aber ich hatte für diesen „Kom- Inspektor sitzt an der Wand hinter einem großen Tisch. im Kosovo haben. promiss“ einige Gründe. Matoshi hat in den 90er Jahren Das Zimmer ist halbdunkel.) Den Pass, den ich mir in Leskovac besorgt hatte, nutz- einige Nummern der Kultur- und Philosophiezeitschrift te ich danach für die Reise nach Kanada und für meine Sheshi herausgegeben, die, obwohl sie in kleiner Auflage INSPEKTOR: Sie sind aus Kaçanik, oder? späteren Reisen nach Serbien (der Personalausweis, den verkauft wurde, eine außerordentliche Rolle in der Förde- ICH: Ja! ich noch aus der Zeit vor dem Krieg hatte, war in der Zwi- rung einer neuen Generation von Kulturschaffenden aller INSPEKTOR: Warum sind Sie ausgerechnet heute ge- schenzeit abgelaufen). Aber ich muss sagen, dass ich sehr Profile spielte. Matoshi wurde während des Kosovo-Krie- kommen? glücklich gewesen bin, als ich letztens in Istanbul war. ges entführt und über ein Jahr von den serbischen Kräf- ICH: Na ja, es wurde mir gesagt, dass ich heute kommen Da ich nicht sicher war, ob ich ein Einreisevisum brauche, ten als Geisel festgehalten. Seine Poesie ist wunderbar soll! nahm ich beide Pässe mit, den aus Leskovac und den der und ich glaube, dass das Publikum bei Euch diese Poesie INSPEKTOR: Warst du gestern bei den Wahlen? Republik Kosovo. Dem Grenzpolizisten zeigte ich zuerst kennen sollte. In dieser Anthologie ist auch Arben Idrizi, ICH (lüge): Nein. Ich wohne in Prishtina und ich hatte den Pass aus Leskovac, und er bedeutete mir mit der ein ausgezeichneter Dichter, zweifellos der beste Dichter keine Lust, nach Kaçanik zu den Wahlen zu fahren … Hand, dass ich zurück zum Schalter muss, um ein Visum der neuen Dichtergeneration im Kosovo. (Der Inspektor sieht mich ungläubig an. Dann setzt er sei- zu bekommen. Aber da sagte ich zu ihm: „Moment, mein Eine der stärksten Versuchungen für einige der von mir ne Notizen fort.) Freund …“ Und ich holte den Pass der Republik Kosovo eingeladenen Schriftsteller war, dass sie wissen wollten, INSPEKTOR: Die Partei von Thaçi hat gewonnen, oder? hervor. Er sah ihn an, erkannte ihn, drückte einen Stem- wer an der Anthologie teilnimmt. Immer fand sich jemand, ICH: Ja, aber sie wird nicht allein die Regierung bilden pel rein und gab ihn mir zurück. Das war doch ein gutes dem es nicht gefiel, dass auch manch anderer in der An- können. Gefühl … thologie enthalten sein wird. Und es war nicht schwer, in- INSPEKTOR: Mit wem wird sie deiner Meinung nach ko- nerhalb einer kurzen Zeit die ganze „Landkarte der Litera- alieren? *** turclans“ im Kosovo zu verstehen … ! Schriftstellerzeug, ICH (nehme seine Frage ernst): Das werden wir sehen, würden Nicht-Schriftsteller sagen! aber ich glaube nicht, dass sie mit der Demokratischen Aber die Geschichte mit dem Pass ging noch weiter. Lass Und weil dieser Brief sehr lang geworden ist, breche ich Liga des Kosovo koalieren wird! uns zu unserer Diskussion über die Anthologien zurück- an dieser Stelle ab, in der Hoffnung, dass ich Dir nach INSPEKTOR: Mit Veton Suroi? kommen, die wir vorbereiten. Die wahren Reaktionen Deinem nächsten Brief wieder schreiben werde, diesmal ICH: Vielleicht, aber Suroi hat zu wenig Prozente bekom- werden „den Kopf raus strecken“, sobald diese Antho- vielleicht einige Zeilen über die kulturelle Landschaft im men … Es ist nicht einmal sicher, ob er die Hürde ge- logien im Druck erschienen sind, aber bislang habe ich Kosovo; über Veröffentlichungen und Verlage, über das schafft hat … einige „Anmerkungen“ bekommen, etwa in der Form wie: Übersetzen von fremdsprachiger Literatur ins Albanische INSPEKTOR: Glaubst du, dass es im Kosovo besser wird? „Bitte, sei vorsichtig, wie wir präsentiert werden … Sie und umgekehrt, über das Theater (puh, darüber doch Besser, es hätte diese Partei von Rugova gewonnen! können gut manipulieren …“. Oder: „Wie werden wir dort selbstverständlich) und über die nahenden Parlaments- ICH: Wer weiß, was wird … Aber es sind die Internationa- präsentiert? Ich hoffe, als Autoren aus der Republik Ko- wahlen (zumindest weiß ich, dass ich nach diesen Wahlen len, die die Situation unter Kontrolle haben! sovo, denn sonst … !“ Und ja, beinah hätte ich einem ge- nicht mehr nach Leskovac fahren muss :) INSPEKTOR: Da wir von Ausländern sprechen. Gibt es schrieben: Du wirst als jemand präsentiert, der aus einer Mudschaheddin in Prishtina? Dreckvotze geboren wurde und der vorübergehend auf Alles Gute ICH: Wie bitte? dem Mars wohnt. So gut ich konnte, habe ich diese Ty- Jeton Neziraj INSPEKTOR: Solche mit Bärten, mit kurzen Hosen? pen von patriotischen Schriftstellern vermieden, die man ICH: Na ja, vielleicht gibt es sie auch … häufig in Schulbüchern findet. In unserer Anthologie sind P.S. INSPEKTOR: Sieht man sie in Prishtina? hauptsächlich junge Autoren enthalten, eine Generation, Erzähle bitte niemandem die Sache mit meinem Pass aus ICH: Ab und an! die die so genannte offizielle Poesie (über die leidgeprüf- Leskovac. Ich habe es Dir im Vertrauen erzählt, als einem INSPEKTOR: In welchem Stadtteil von Prishtina sind sie ten Mütterchen des Kosovo) in den Boden stampfte, in- „Albaner“, der Du bist. Ich möchte nicht wieder als Ver- am meisten konzentriert? dem sie ihr ein urbanes Blut gab, sie mit neuen Wörtern räter etikettiert werden! Nur dass Du es weißt, das tut ICH (lüge): Na ja, ab und an sehe ich sie überall in Prishtina. anreicherte (zum Beispiel mit dem Wort „ficken“ samt man jedes Mal, wenn ich sage, dass es in der albanischen INSPEKTOR: Als was arbeitest du? seiner Synonyme, die es zuvor im Wortschatz der Poesie Dramatik viel Mist gibt! Verräter, Antinationalist … Wie ICH: Ich arbeite in einer Künstlerorganisation. Wir ma- nicht gab), indem sie ihr neue Bedeutungen und Eindrü- kannst du es wagen, die Dramen jener Männer und Frau- chen hauptsächlich Theater für Kinder … cke gab und sich von Klischees und abgenutzten poeti- en zu beflecken, die bei Kerzenlicht, in schlaflosen Näch- INSPEKTOR: Arbeitet ihr mit serbischen Künstlern zu- schen Figuren und Assoziationen befreite … ten, bei Kälte und Frost, im Kugelhagel des Okkupanten, sammen? Wie ich es schon geahnt hatte, konnte ich kaum eine ohne Essen und Trinken, ohne einen roten Heller in der ICH: Ja, ab und an ... Nicht viel, wie Sie sich denken können. Handvoll von Autoren zusammenstellen, die Prosa schrei- Tasche, beschimpft und erniedrigt, unsere nationalen INSPEKTOR: Mit wem von den Serben im Kosovo arbei- ben. Neue Prosa gibt es im Kosovo so gut wie nicht. Dramen schrieben, dank derer wir uns jetzt der Freiheit tet ihr zusammen? Früher hatte es sehr erfolgreiche Autoren gegeben, aber erfreuen! Schande, Schande! Schaaaaa … ! heute gibt es wenige, und was geschrieben wird, ist ganz (Ein Dilemma, das schnell gelöst werden muss. Soll ich die schlecht. Mit einigen Ausnahmen, versteht sich. Für un- Freunde nennen oder nicht … Verrate die idealistischen sere Anthologie habe ich es kaum geschafft, eine Hand- Freunde nicht, Jeton ... Aber andererseits, wir machen doch voll von ihnen zu versammeln, wie ich annehme, qualitativ Theater und nichts Kriminelles. Ich beschließe, zu spre- und repräsentativ. Was jedoch die Poesie betrifft, ist die chen. Derweil beobachtet mich der Inspektor neugierig.) Lage anders. Unsere Freunde sagen, dass im Kosovo jeder dritte Mensch ein Dichter ist. Es gibt viele, wirklich viele. ICH: Mit dem Theater „Ghetto“ aus Laplje Selo! Eines Vormittags, als ich am Nationaltheater, wo ich schon INSPEKTOR: Ach so? Und mit Künstlern aus Serbien? seit fast drei Jahren arbeite, Kaffee trank, trat an meinen Kommen sie nach Prishtina? Tisch ein mittelalter Mann heran und schmetterte seine ICH: Na ja, das Theater „DAH“ und einige andere … Gedichtbände vor mich hin. Ich bin ja weiß Gott kein so INSPEKTOR: Vor ein paar Tagen wurden drei junge Leu- großer Kenner der Poesie, aber den Namen dieses angeb- te in der Nähe von Kaçanik aus dem Hinterhalt getötet. lichen Dichters hatte ich noch nie gehört. Aber wirklich Weißt du, wer sie getötet hat? noch nie. Ich, sagte er, und sind die besten ICH: Nein. albanischen Dichter … Möge es nutzen, antwortete ich INSPEKTOR: Hast du vielleicht mal reden gehört, wer sie ihm, weil ich weder ihm noch mir die Laune verderben getötet haben könnte? wollte. Seine Gedichte habe ich danach durchgeblät- ICH: Nein. Ich bin zwar aus Kaçanik, aber ich wohne in tert, und sie unterschieden sich nicht von den hunderten Prishtina. Ich fahre nicht oft dorthin! und tausenden Gedichten, die die Dichter verschiedener INSPEKTOR: Hast du schon mal vom Dorf Stagovo ge- Generationen veröffentlichen, wenn ihr Gekritzel genü- hört? gend Bögen für ein Büchlein füllt. Die Autoren, die ich ICH: Ja, ich weiß, dass es zu Kaçanik gehört! für die Anthologie der neuen kosovarischen Poesie aus-

18 Beton Spezialausgabe März 2011 Shkëlzen Maliqi Über das Zoon Poetikon

An dem zivilen Dialog zwischen Albanern und Serben die keine Etiketten von Missionen braucht, am wenigsten Zwei Kulturen, die kosovarische und die serbische, haben nehme ich seit mehr als zwanzig Jahren teil. Ich habe von den politischen. seit langem antagonistische Beziehungen, die mit vielen gute Erinnerungen, aber ich erinnere mich auch an Span- Wäre es nicht notwendig, dass das die angestrebte Krö- Vorurteilen befrachtet sind. Ich habe eine sehr schwere nungen. Wegen des Dialogs wurden wir oft mit Denun- nung unserer langjährigen zivilen Dialoge wäre? Dichter Periode in diesen letzten dreißig Jahren verbracht, als der ziationen und herabsetzenden Angriffen der Politik, der und Künstler, die sich frei bewegen – ich könnte sie Zoon serbische Nationalismus und Chauvinismus ein repressives Medien und der Polizei konfrontiert. Wir hatten auch un- Poetikon in Analogie zum Zoon Politikon von Aristote- Herrschaftsregime in Serbien und im Kosovo errichtete, sere eigenen Zweifel. Verstehen wir denn die politischen les nennen – sind das geworden, worüber wir seit Jahren indem im Kosovo nicht nur eine politische, sondern auch Prozesse richtig? Sprechen wir die Dinge korrekt und sprechen und predigen. eine kulturelle Apartheid eingeführt wurde. Das hat den zur rechten Zeit an? Die zivilen Initiativen schienen uns An dieser Stelle muss ich allerdings ein wenig bei der Ide- Abbruch fast aller institutionellen Kontakte zwischen den marginal, ohne den nötigen Einfluss. Unsere Ratschläge alisierung und Romantisierung der Lage innehalten. Ich zwei Kulturen verursacht. Dennoch haben auf der infor- stießen auf die tauben Ohren derjenigen, die gegen den weiß sehr gut, dass wir eine Unmenge von Problemen ha- mellen Ebene einige vorausschauende und vorurteilsfreie Dialog waren, aber den Krieg vorbereitet und eröffnet ben, die des zivilen Dialogs bedürfen. Es gibt noch viele Gruppen und Einzelne die Kommunikation und gemeinsa- hatten. Menschen im Kosovo und in Serbien, die Geiseln vergan- me Projekte nicht abgebrochen. Künstler aus dem Kosovo Heute wissen wir, dass wir ziemlich hellsichtig waren und gener Politik geblieben sind, die schrecklich manipuliert haben zum Beispiel in den kritischsten Momenten im Juni die richtigen, aufklärerischen Standpunkte vertraten. wurden und die sich bis ins Knochenmark vor den Ande- 1997 in Belgrad im Zentrum für kulturelle Dekontamina- Aber heute möchte ich über den Dialog etwas Cooleres ren und einer zivilisierten Koexistenz fürchten. Ich möchte tion ausgestellt. sagen. hier einen Aspekt der Krise berühren, der mit der zivilen Zum Schluss möchte ich noch etwas Skandalöses erwäh- Wir alle wissen, dass wir uns an der Schwelle des zwi- Kultur und Gesellschaft zu tun hat. nen, das die Kulturbeziehungen zwischen dem Kosovo schenstaatlichen Dialogs Kosovo - Serbien befinden. Die Ich bin nicht wenig enttäuscht, dass wir auch nach vie- und Serbien belastet. Es ist die Frage des Schatzes des UN-Resolution von Anfang September 2010 verpflichtet len Investitionen in den Aufbau und die Entwicklung der Museums des Kosovo. Kurz vor dem Krieg in den Jahren die zwei Staaten, den Dialog zu eröffnen. Das ist etwas, Zivilgesellschaft noch keine organische Zivilgesellschaft 1998-1999 wurden vom Museum des Kosovo ein großer was eine breite Unterstützung braucht. Die angehäuften haben – ich rede vom Kosovo, aber in Serbien mag es Teil der wertvollsten Sammlungen mit der Begründung Probleme müssen so bald wie möglich angegangen wer- ähnlich sein –, die aus den Bedürfnissen der Gesellschaft „ausgeliehen“, dass sie in der Galerie der Akademie für den, indem wir uns von der jahrelangen Blockade lösen. und nicht aus dem geschickten Abschöpfen von Donati- Wissenschaft und Kunst von Serbien in Belgrad als auch Der zivile Dialog zwischen Albanern und Serben darf nicht onen sprießt. an einigen weiteren Orten in Serbien und der Vojvodi- nur als Vorzimmer und Erleichterung des politischen Dia- Am Ende des Tages, nach vielen Investitionen, erschei- na ausgestellt werden. Aber es scheint, dass es mit der logs verstanden werden. Er hat auch andere Ergebnisse, nen uns große Teile der Zivilgesellschaft korrumpiert, als Absicht geschah, diesen Schatz zu rauben und sich an- substantielle und vielversprechendere. Ich meine damit Sprungbrett für die Besetzung von Posten oder für eine zueignen. Es handelt sich um wirklich kostbare und au- eine Dimension von Normalität, die nicht viel Rücksicht politische Karriere. Wir haben als Gesellschaft noch keine ßergewöhnliche Artefakte, die auch noch nach 12 Jah- auf die Politik und die Geschichte nimmt. Ich denke an Instrumente zur Unterstützung von zivilen Initiativen ge- ren zurückgehalten werden, verschlossen im Depot des die immer häufigeren Begegnungen der Bürger aus dem schaffen. Wir haben keine Gesetze, Institutionen und Bud- Volksmuseums Serbiens. Das offizielle Belgrad lässt keine Kosovo und aus Serbien, hauptsächlich der jungen, die in getlinien, die die zivilen Initiativen aus Fonds unterstützen Anzeichen für die Rückgabe dieses Schatzes erkennen. Es den letzten Jahren stattfinden, mit oder ohne Medien- würden, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. verhält sich so, als ob er ein Eigentum Serbiens wäre, da präsenz. Es sind Begegnungen, die von dem natürlichen Es ist ein Paradox, dass die zivile Gesellschaft, die zum es ja auch Kosovo als sein Eigentum ansieht. Es bleibt zu und ungeheuchelten Bedürfnis nach Kennenlernen und Wohle der Gesellschaft arbeitet, keinen Zugang zu den hoffen, dass in dem offiziellen Dialog, der demnächst be- Erfahrungsaustausch unter Nachbarn motiviert sind. öffentlichen Fonds des Landes hat! Warum muss sie von ginnen wird, auch diese Frage korrekt behandelt wird und Ich nehme als Beispiel ein Ereignis, das internationale Po- den Steuerzahlern der USA und der europäischen Länder die entwendeten Sammlungen dorthin zurückkehren, wo esiefestival Polyp, das vor einiger Zeit in Prishtina in einer und nicht von den kosovarischen Steuerzahlern finanziert sie ihren Platz haben. alternativen Einrichtung abgehalten wurde, die Manipu- werden? Im Kosovo wird die Kultur zutiefst verachtet, ein Es gibt keinen Zweifel, dass wir als Vertreter der zivilen lationsraum Tetris heißt. Dichter aus dem Kosovo, Serbi- Sektor, in den am allerwenigsten investiert wird. Gesellschaft am Dialog und an der Wiederbelebung aller en und der Region organisierten ein Literaturtreffen von Nicht weil der Staat arm ist und andere Prioritäten setzt, Formen der Zusammenarbeit zwischen Kosovo und Serbi- Nachbarn, sie lasen ihre Gedichte und hielten themati- sondern weil Politik und Kultur von vielen Menschen be- en auf den Prinzipien der Gleichheit und Gleichberechti- sche Runden ab. Junge Schriftsteller, die sich gegenseitig herrscht werden, die in der Essenz borniert sind, die aus gung interessiert sind. Die kulturelle Zusammenarbeit ist übersetzen, aber auch eine natürlich Neugier dafür zei- dem Reservat der nationalistischen Selbstzufriedenheit eine effiziente Art für die Errichtung eines zivilisierten Di- gen, was die Nachbarn schreiben und veröffentlichen. Es kommen und Förderer und Gewinnler des Pseudoschaf- alogs der Kulturschaffenden und für die Beseitigung von ist nichts Verpflichtendes, aber es ist Teil einer Normalität, fens und der Pseudokultur sind. Vorurteilen.

Beton Spezialausgabe März 2011 19 Tomislav Marković Mihajlo Spasojević Bitte, Minister EIS Hymne der Partei-Apparatschiks

Bitte, Minister, darf ich dir eine Räuberleiter machen, Bitte, Minister, schenke mir die Macht, über die kleinen Die Feiertage waren vorbei, doch vom Winter gab es noch während du deinen Sessel erklimmst Schicksale zu bestimmen, bis ich groß geworden bin in immer kein Lebenszeichen. Weder gab es Schnee noch Bitte, Minister, nutze mein Koalitionspotential, ich bin deinen Augen war es eisig kalt wie sonst zu dieser Jahreszeit. Es gab ohne Rückgrat geboren und passe mich jeder Unterlage Bitte, Minister, ich bin fleißig wie ein Ameisenbär, ich nichts. Sinnlose Tage wurden zu noch sinnloseren Wo- an scheue keine Arbeit, wenn sie nur schmutzig ist chen, und die Wochen lösten sich in erschreckend sinn- Bitte, Minister, führe mich aus dem Dunkel der Anonymi- Bitte, Minister, führe mich in die gehobene Gesellschaft losen Jahren auf. tät, lass dein Antlitz auf mich leuchten ein, wo Niedrigkeit und Niedertracht regieren, in die na- Die Tage waren kurz. Die Nächte waren kurz. Nur die Zeit Bitte, Minister, mache mich zu deinem Berater, ich werde türliche Umgebung für moralische Zwerge zwischen „alten“ und „neuen“ Folgen der beliebtesten deine Stimme der Gier und des Irrsinns sein Bitte, Minister, füttere den ausgehungerten Geldbeutel Fernsehserien erschien manchmal unerträglich lang, bis Bitte, Minister, binde mir eine goldene Leine um den Hals, meiner Seele mit konvertiblem himmlischem Manna zum Ende der Staffel und dem Beginn endloser Wieder- führe mich spazieren auf den Elysischen Feldern der Pro- Bitte, Minister, führe mich an den Eiern mit fester Hand, holungen. vision ich werde dir mit der Piepsstimme eines Wiener Sänger- Wie in einer Sanduhr, die nicht gewöhnlichen Sand, son- Bitte, Minister, hetze mich auf die Journalisten, ich wer- knaben ins Ohr säuseln dern Treibsand enthielt, verging die Zeit: Sie versank und de bellen, ich werde kläffen und mit meinem Milchgebiss Bitte, Minister, nimm mir das Gesicht und fertige daraus verschwand. ihre Verräter-Diktafone zermalmen die Sohle für deine neuen Schuhe Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich im Sessel verbracht hatte. Bitte, Minister, stille die wütenden Flammen meiner See- Bitte, Minister, lass mich so tief in dich hineinkriechen, Ich hatte Schmerzen im Rücken, Schmerzen im Hintern. le, lass mich mit Asbestfingern für dich die Kohlen aus dass ich zum Fleisch von deinem Fleische werde, zum Bein Das waren nicht die einzigen Schmerzen: Der Tisch tat mir dem Feuer holen von deinem Beine weh, der Stuhl tat mir weh, weh taten mir auch die Wän- Bitte, Minister, lass mich dir aus der Hand fressen, hüte Bitte, Minister, darf ich dir den Schlitz öffnen de, der Staub und das Halbdunkel ... mich wie eine Handvoll kostbaren Wassers, sauge Tropfen Bitte, Minister, darf ich deinen weichen Konzessionsver- Ich hatte in diesem Job schon so lange gearbeitet, dass um Tropfen meiner Seele aus trag ans Licht ziehen und ihm Leben einhauchen alles noch weniger als Routine gewesen war: Ich konnte Bitte, Minister, lass mich vor dir Männchen machen, ich Bitte, Minister, möge deine große nationale Idee in mir bis dösen, während ich arbeitete, schlafen und träumen. Die werde dein Hofnarr sein, wenn dich der Weltschmerz im zur Größe eines Schlagstocks heranwachsen Angst vor Kündigung war Geschichte geworden: Ich hatte Kreuz überkommt Bitte, Minister, lass meine züngelnde, zischelnde Zunge schon zur „Stellenbeschreibung“ gehört, zum Firmenin- Bitte, Minister, binde meine Gehirnwindungen zu einem dich zum Höhepunkt der Karriere führen ventar. festen Knoten, möge mein Gehirn auf staatlichen Auen Bitte, Minister, möge ein warmer Schwall der Korrupti- Gleich nach den Feiertagen hatten sie mich ins Büro ge- weiden on aus dir hervorquellen, ich werde alles bis zum letzten rufen, „zu einem kurzen Gespräch, bevor ich nach Hause Bitte, Minister, vertreibe alle verführenden Gedanken aus Tropfen aufschlürfen gehe“. meinem Kopf, dein Wille geschehe Bitte, Minister, mache mich zum Container für die Brosa- „Weißt du”, begann einer meiner Vorgesetzten, „es läuft Bitte, Minister, lass mich in deinem Schatten ruhen, er ist men deines Tisches ziemlich schlecht." mein Platz an der Sonne Bitte, Minister „Wem sagst du das?”, antwortete ich, ließ ein Lachen und

Xhevdet Bajraj Siebter Stock (Easy time to go home)

Für Dino Buzzati Im fünften Der leblose Körper eines Lebenden Mit erstarrtem Blick Mit meiner rechten Niere Nähre ich Musik die aus Alkohol geboren wurde Im vierten Jetzt Auf dem Wohnzimmertisch In den Därmen der schwarzen Nacht Eine Rose erblichen vor Trauer Wie des Schicksals dessen Ausgang wir wissen Genießt der blaue Pechvogel auf dem Tisch Im dritten Bei Kerzenlicht Ein Apfel der verfaulte (Das Licht ist wieder weg) Als er auf Adam und Eva wartete

Der Krieg ist seit einer Weile vorbei Im zweiten Die Toten (einschließlich jenes aus dem unbekannten Hängt eine alte Anzeige Grab) Zu vermieten Schlossen die Türen des Lebens und schlafen im Frieden Im verfickten Frieden Im ersten Schluckt der HErr Müll Zieh die Sachen aus Er schaut sich im Fernsehen sein eigenes Werk an Und öffne das Fenster Breite die Arme aus Im Erdgeschoss Und vom siebten Stock Im Dunkeln im vollkommenen Frieden S Schläft ein glückliches Paar P Eine im Spinnennetz gefangene Fliege R Kämpft auf Leben und Tod I Und eine ganze Armee von Küchenschaben N Greift einen alten Mistkäfer an G Während ein Floh Einen schläfrigen Hund in die Mangel nimmt Im sechsten Stock Ein Vogel im Käfig Yeah Der neben seinem Lied gestorben ist I´m driving right to my home

20 Beton Spezialausgabe März 2011 einige Witze folgen, die nicht den üblichen Effekt hat- Niemand, solange Sie Arbeit vorschützen, wenn Sie um wunderung angesichts der Tatsache, dass ich ein solches ten. Es gab so wenig zu tun, dass mir das Internet und sich die Aura eines Menschen erschaffen, der in der Karri- Talent so lange hatte verbergen können ... alle Videospielchen schon zum Halse heraushingen. Aber erefalle gefangen ist, gezwungen ist, Essen auf den Tisch Meine Muskeln verkrampften sich. Meine Hand ballte für diese Jahreszeit war das normal. In ein, zwei Monaten zu bringen, Getränke, einen Fernseher, einen iPod ... Ge- sich zur Faust und knüllte den „New Yorker“ zusammen, würden sich die Dinge wieder normalisieren. fangen wie in einem Hamsterrad. als wollte ich ein Loch eindrücken, ein schwarzes Loch, Dann verdüsterte sich das Gesicht eines der Firmenin- Arbeit ist wie eine Spezialrüstung aus dem „Krieg der das alles verschlingen würde, all die Dinge in den Ecken, haber und mit tödlichem Ernst begann er, mir etwas zu Sterne“. den Regalen, in Schubladen, Dinge mit Schwänzen, die erklären. Ich war so schläfrig, dass es einige Minuten dau- Doch wenn die Rüstung verschwindet, dann fallen alle sich wie Efeuranken tief und weit in die Vergangenheit erte, bis ich begriff, was vor sich ging. Masken und Verkleidungen, dann gibt es keine Entschul- wanden und dabei alles bedeckten und unter sich begru- „Es tut mir leid”, sagte der andere. digung mehr. ben. Als hätten sie sich verschworen, arbeiteten die Din- Nun ist es endlich passiert, dachte ich. Natürlich hätten Nun könnten sich ganz neue Möglichkeiten auftun, alle ge auf einmal Hand in Hand. In jedem Winkel, in jedem meine Knie weich werden müssen, meine Augen feucht, geplanten Vorhaben ließen sich umsetzen, alle Wünsche Staubkorn spürte ich die Wut. aber das geschah alles nicht. könnten explodieren in ihrer ganzen Unübersichtlichkeit Meine Zähne knirschten. Auf meiner Brust lag ein Druck. Ich stand vor ihnen und war viel zu faul, um mich zu be- und Üppigkeit, doch statt dass etwas davon oder alles Unvermittelt stand ich auf und ging zum Fenster. Das wegen. Ich dachte ans Beamen, so wie immer, wenn ich passiert, passiert - nichts. Man ist immer noch müde, Fenster war der einzige Ausgang aus diesem Gefängnis. irgendwohin musste und keine Lust und Energie hatte, schafft nichts und gelangt nirgendwohin, hat immer noch Ich lehnte die Stirn an die Scheibe und wollte mich ab- auch nur einen Schritt zu tun. keine Lust, irgendetwas zu tun. kühlen. Mein Atem überzog das Fenster mit Nebel. Durch Er sprach weiter, als müsste er sich rechtfertigen. Es gibt nur keine Entschuldigung und keine Ausrede diesen Nebel sah ich sie zum ersten Mal. Eine erfolgreiche Karriere wurde an ihrem Höhepunkt mehr. Sie war unbeschwert, leicht und zart. beendet, dachte ich und lachte. Es amüsierte mich, dass Was bedeuten diese Ausreden überhaupt? Sie bedeuten Sie war nackt, dürr. Und kahlrasiert. ich nichts bemerkt hatte, auch wenn die Zeichen überall nicht, dass du wirklich verhindert bist, etwas zu tun. Man Wie weit kannst du gehen, wenn es kein Ziel gibt? Wenn zu erkennen waren. Sogar als die anderen meine Klienten erklärt damit nur etwas, was in einem selbst steckt, ein du im Grunde nicht gehen willst? Wenn du alles losgelas- übernahmen, dachte ich, es gehe darum, mich im Falle Berg der Faulheit, den man nicht bezwingen kann. sen hast und den Dingen ihren Lauf lässt? einer unerwarteten Abwesenheit ersetzen zu können. Keiner der Kollegen bedauerte meine Entlassung. Statt- Wenn du alles zum Teufel gehen lässt ... Sie hatten gesagt, was sie zu sagen hatten und warfen dessen waren sie sauer, neidisch und hatten Mitleid, aber Ja, das habe ich gesagt, aber es sind nicht meine Worte ... sich jetzt nervöse Blicke zu, denn ich machte keinen mit sich selbst. Warum ist uns das nicht passiert?, dachten Nicht einmal die. Muckser. Ich war wie hypnotisiert von der Pizza, die vor sie. Warum hatte nur ich so ein verdammtes Glück und Ich bin Teil einer Geschichte, die nicht mehr in meiner ihnen lag und immer kälter wurde. Pfützen orangefarbe- konnte nun als befreiter Sklave tun und lassen, wozu ich Macht steht. Ich lasse all die Worte los, die Gedanken, nen Fettes verdunsteten langsam. Lust hatte. Und sie blieben begraben unter der Last von Ansichten, Bilder, Spiegelungen, all diese nichtigen Teil- So hatte alles begonnen. Ausreden, Routine, Familie, einem Berg, der jeden Tag, chen, die frei herumschweben wie Staub. Bis sie von den Arbeit ist eine der wahrscheinlich besten Ausreden. Für jedes Jahr, in jeder Mittagspause und mit jedem Kaffee Wänden dieser Wohnung und der Fensterscheibe zurück- alles. Nur Krieg oder das Ende einer Beziehung lassen höher und höher wurde. geworfen werden, bis sie die Grenzen der Freiheit errei- sich damit vergleichen. Sie könnten so viel, wünschten Was bedeutet Freiheit? Ich fuhr in einem halbleeren Zug chen. Bis sie zurückgeschossen werden oder zerplatzen sich, wünschten sich so sehr, müssten doch, so viel wäre nach Hause, nie zuvor hatte ich diese für Touristen reser- und sich über einen vergessenen Gegenstand verteilen, möglich ... wenn nur diese verfluchte Arbeit nicht wäre. vierte Erfahrung gemacht. einen vergessenen Ort. Niemand wird Ihnen übel nehmen, wenn Sie zu einer Ver- Freiheit bedeutete die Rückkehr in eine kleine, stickige „Do you realize that you have abredung zu spät oder auch gar nicht kommen. Niemand Wohnung im fünften Stock. The most beuatiful face... wird Fragen stellen, weil sie etwas nicht zu Ende bringen Staub bedeckte alles in dieser Wohnung, wie Schnee, da- Do you realize that we’re und es beharrlich in alle Ewigkeit aufschieben, niemand zwischen Spuren von Charley, einer Maus, die unerwartet Floatin’ in space ...” wird Ihnen unerfüllte oder verworfene Pläne vorhalten, auftauchte, um nach Nahrung oder einer Schulter zum Die Musik vibrierte im Kopf, im Magen, in den Kuppen Übergewicht, Mangel an Energie, Leidenschaft, Lust ... Ausweinen zu suchen. meiner an die Fensterscheibe gepressten Finger. Ich setzte mich in einen Sessel, der unter meinem Ge- Fast erschien es mir, als hätten sich Vertiefungen ins Glas wicht ächzte. Staubwolken stiegen auf und kitzelten mei- gedrückt, an den Stellen, an die ich meistens meine Stirn ne Nase, doch ich nieste nicht. oder meine Hände legte. Ich sah mich um, betrachtete die Umrisse der Dinge, die Zeit spielte keine Rolle. Sie war ohnehin längst verflossen. im Halbdunkel vor sich hin dösten. Mein Leben war verzögert. Der Schiedsrichter konnte je- Irgendwo in diesem Halbdunkel lagen meine Notizhefte, den Moment abpfeifen. Bücher, Briefe, all die Sachen, die ich irgendwann unter Kahlrasiert, dürr. dem Druck der „Lebensumstände“ abgelegt hatte. Jetzt Sie bewegte sich ungelenk. Ihre Hüfte beschrieb keinen war ich abgelegt, und ich glaubte, aus dem Halbdunkel Bogen, sondern glitt in gerader Linie und viel zu schnell ein zufriedenes Lachen zu hören. nach links und rechts. Ich hätte nur aufstehen müssen, einige Schritte gehen, Sie war nicht mein Typ. die Hand ausstrecken ... Ich weiß nicht, ob ich überhaupt einen Typ hatte. Sie war Ich senkte den Blick. Die Vergangenheit strahlte und mir kahlrasiert. wurde übel davon. Abgelegte Dinge haben die Energie Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Immer lag ein Schatten verlassener Frauen. Eine Rückkehr hätte bedeutet ... Ich darüber, wie ein Schleier. Oder es war mein an der Scheibe weiß nicht. Kapitulation? Dummheit? kondensierter Atem, der sich immer vor ihren Kopf legte. Ich hätte nur aufstehen müssen. Aufstehen und den ers- Oder die unzähligen Fingerabdrücke, die mein Blick nicht ten Schritt tun. durchdringen konnte. Vielleicht würde mein Blick, wenn Ich betrachtete meine Knie und Oberschenkel. Ein noch er denn einen Weg fand, von ihren Lippen abprallen, von so unbewusster Impuls hätte genügt, um alles zu verän- ihren Wangen und ihrer Nase, würde abrutschen und sich dern. über ihre Schultern, Arme, Hände und Knie verteilen und Meine Hände lagen auf den Schenkeln. Die Nägel waren über die Bücherhaufen, die vor ihr auf dem Tisch lagen ... sauber und gepflegt. Vorbildlich. Schließlich fühlte ich ei- Ihr Gesicht blieb ein unerforschtes Gebiet, das ich aber nen Impuls, einen Funken im Magen. Ich wollte meine nicht unbedingt sehen musste. Vielleicht kannte ich die Nägel aus der Nähe betrachten. Die einzige Leidenschaft, Form ihrer Nase und die Farbe ihrer Augen nicht, aber die ich mir bewahrt hatte, war der Wunsch nach perfekten ich kannte ihren Ausdruck und ihren Blick. Ich kannte die Nägeln. Bevor ich jemanden näher kennen lerne, mache unbändige Energie, mit der ihre Augen voll vulkanischer ich mich mit seinen Nägeln bekannt. Sehe ich eine Unre- Glut hunderte und aberhunderte Seiten verschlangen, gelmäßigkeit, eingewachsene Nägel, Unebenheiten, ver- nicht nur Wörter und Sätze eroberten, sondern den gan- kratzten Nagellack und vor allem zerkaute Fingernägel, zen Raum dazwischen, in den Rissen und Kurven zwi- erstirbt in mir jeder Wunsch nach einer Vertiefung des schen den Linien. Zumindest dachte sie das. Dieser lä- Gesprächs. cherliche Optimismus! Der Glaube, zwischen den Seiten, Ich legte meine Hand auf einen Stapel „New Yorker“, der zwischen Eintauchen und Auftauchen, Auftauchen und neben dem Sessel lag. Sie kamen beharrlich und unauf- Eintauchen, zwischen Küssen und Abtreibungen, Bissen hörlich, jeden Dienstag, voll mit Werbung und Kleinanzei- und Speiseresten zwischen den Zähnen, zwischen meinen gen, dazwischen vereinzelt Artikel. Ich überflog meist den Wänden und ihren Wänden, irgendwelchen Wänden und Inhalt und verharrte nur bei den biografischen Angaben allem Möglichen, gebe es ... Etwas. Irgendeinen verfluch- zu Autoren, deren Prosa abgedruckt war. Wenn der Autor ten Inhalt. ungefähr so alt war wie ich und eben sein Erstlingswerk „Do you realize that you have ...” veröffentlicht hatte, wie auch ich es gekonnt hätte, wie Ich weiß noch, dass ich schnell gelernt hatte, freihändig es möglicherweise auch mir möglich gewesen wäre, dann Fahrrad zu fahren. Ich ließ den Lenker los und trat weiter las ich die ersten Zeilen, und meine Gedanken begaben in die Pedale. Ich neigte die rechte oder die linke Schulter, sich auf Wanderschaft, ich stellte mir das Schreiben eines verschob die Hüfte leicht hierhin oder dorthin und die Lektors vor, voller Ausrufezeichen, Begeisterung und Ver- Reifen gehorchten mir. Sie rollten genau dorthin, wohin

Beton Spezialausgabe März 2011 21 ich wollte. Damals durfte ich nur bis zur nächsten Ecke Dass deine Ohren niemand abschneiden wird, weil sich nie- gehen. Oder bis zu dem großen, weißen Haus? Die endlo- mand mehr erinnern will, an dich, an Ohren, an Unschuld … Bekim Lumi sen Straßen und vielen Häuser hinter dieser Ecke, all diese Aber was, wenn du losgelassen hast und, statt deine Straßen und Wege, die sich mir eröffnen würden, wenn Schultern und deine Hüften mit der schweren Erde spielen die Zeit käme, konnte ich mir nur vorstellen, hier war die zu lassen, unbeweglich in einem wackligen Sessel sitzt, Die neue Grenze meiner vertrauten Welt. Doch statt sich zu öffnen, die abgestandene Luft zwischen deinen Beinen atmest, wurden diese Wege mit der Zeit enger und schlossen sich. den Blick an die verschmierte Fensterscheibe geheftet? Keiner der Wege führte irgendwohin. Nur Sackgassen. Ohne Fahrrad, ohne Metaphern. Später durfte ich mir dann Eis kaufen gehen, Wassereis Und wenn du es trotzdem nicht kannst? Wenn du nicht Dramatik ohne Geschmack, so wie man es früher gemacht hat, das willst, dass du es kannst? Was dann? schmolz, bevor ich es aufgeschleckt hatte: Es floss durch Do you realize that everyone, you know, someday ... ein Loch an der Spitze der Waffel. Ich wollte nicht leben. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte im Kosovo Dann brachten sie den Sohn des Eismanns um. Sechzehn nichts dazwischen. Messerstiche. Ich konnte damals nicht so weit zählen. Der Ich wollte sie nicht beobachten und tat es trotzdem. Sohn des Eismanns auch nicht. Wahrscheinlich kam er bis Stunden lang. Tage lang. zehn. Sie wollten Geld, all die zerknitterten und feuch- Ich wollte nicht fluchen, verdammte Scheiße. ten Geldscheine aus meiner Tasche, die ich auf den Tresen Ich wollte gar nichts sagen. Während die meisten der kosovarischen Dramatiker der vor seine Eltern gelegt hatte, voller Ungeduld, die Waf- Ich brauchte das Mädchen in der Wohnung gegenüber 60er, 70er und teilweise auch der 80er Jahre des vergan- fel möglichst schnell in die Hand zu nehmen. Wie viel Eis nicht. genen Jahrhunderts ihren Schaffenszyklus bereits be- hatte ich in all den Jahren gegessen? Fünfzig? Hundert? Ich will nicht die Antwort auf alle Fragen kennen: Wie endet haben (viele von ihnen sind verstorben, während Sechzehn. weit kannst du gehen, wenn du alles loslässt ... Ich will einige andere aus verschiedenen Gründen nicht mehr Einer der Mörder trug eine Kette aus Menschenohren. Er die Hände nicht lösen. Ich will keine Hände haben. schreiben), sind gegenwärtig im Kosovo, obwohl nicht hatte sie von dort mitgebracht, von der anderen Seite, Aber die Hände sind da. mehr alle in dem Maße wie früher, noch einige der Dra- jenseits des Flusses, wo sie für unsere Sache gekämpft Da ist das verschmierte Fensterglas und das Mädchen von matiker der 80er und 90er Jahre weiterhin schöpferisch hatten. Sie fuhren am Wochenende mit dem Bus dorthin. gegenüber. tätig. Zumeist arbeitet diese Generation der Dramatiker Damals waren wir unschuldig, schwach, verjagt. Die Ketten Da sind Worte. im Rahmen der gewordenen Tradition weiter, deren Poe- aus Menschenohren waren ein Souvenir. Wir nahmen Mö- „... that everyone, you know, someday ...” tik, im Gegensatz zu einigen Trends, Tendenzen und indi- bel, technische Geräte, sogar Steckdosen und Parkett mit: Da ist Musik. viduellen Ausnahmen, die Identifizierung mit der Hand- Wir wollten uns erinnern. Unschuldig. Schwach. Dem Sohn Sie ist sich der Musik nicht bewusst. Nicht einmal, wenn schrift der literarischen Tradition der zweiten Hälfte des des Eismanns haben sie nicht die Ohren abgeschnitten. sie den Kopf hebt und es scheint, als lausche sie. Wenn 20. Jahrhunderts fortführt. Ihn wollten sie vergessen. es scheint, als würden sich die Härchen in ihren Ohrmu- Inzwischen brachten auch die Nachkriegsjahre samt der Do you realize that we’re floating ... scheln aufrichten, bereit, die Vibrationen zu empfangen. Freiheit eine Generation von Dramatikern hervor. Im Kon- Ob sie von dem Sohn des Eismanns weiß, wenn sie sich Doch die Pointe ist nicht das Vibrieren der Luft, der Mu- text mit der bisherigen albanischen Literaturtradition und über ihre Bücher beugt, die Beine angewinkelt, die Füße sik. Auch nicht der billige Kitsch der Verse, die romantisch mit der allgemeinen Konfiguration der kosovarischen auf dem Tisch? stimmen sollen: dramatischen Kunst mit dem Zeitgeist, Klima, den Moti- Weiß sie, wie weit man gehen kann, wenn die Hände losge- „Do you realize that everyone, you know, ven, Ideen, dem Personal, den Themen und dem Stil ihres lassen haben, die Füße, der Blick und alles? Wie viele Köp- someday, will die ...” Schaffens, repräsentieren diese Dramatiker (obwohl das fe sind zwölf Ohren? Wie viele mögliche Kombinationen? Die Pointe ist, dass jeder, den ich kenne, den ich jemals nicht über alle gesagt werden kann) den Versuch der Be- Würde sie das Fahrrad als Metapher wählen, als Beispiel, kannte, von dem ich jemals gehört, an den ich auch nur wegung von dieser Tradition weg, der Abweichung und in dass man auch ohne Hände ... Dass du sechzehn Stiche gedacht oder ihn mir erdacht habe, ... besonderen Fällen auch der Überwindung oder der Lö- empfangen kannst, obwohl du nur bis zehn zählen kannst. Alle. Alles. sung von dieser Tradition.

22 Beton Spezialausgabe März 2011 Einige Vertreter dieser Generation haben auf der thema- verlassen. Sie hat ihn vor einer Kirche abgelegt. Dieser tischen und stilistischen Ebene ihrer Dramen überzeu- Säugling, jetzt erwachsen, ist der Priester selbst. Jeton Neziraj gend die Tendenz zu neuen Formen und Gegenständen Eine singuläre Stimme, mit einem außerordentlich poeti- bekundet, das heißt, dass sie bereits einen neuen Pfad in schen Ton, mit Zerbrechlichkeit und Sanftmut ist Dorun- der kosovarischen Dramatik gebahnt haben, obwohl noch tina Basha. Ihre Dramen, die hauptsächlich Schicksale nicht mit gänzlich festgelegten Richtungen und Gebieten, zerbrechlicher Menschen behandeln, die keine Beziehung ROT UND während einige andere, mit konservativerer und traditi- zur Rauheit dieser Welt herstellen können, sind innerhalb onellerer Tendenz und Wahrnehmung, es auch weiterhin eines vollkommen unkonventionellen stilistischen For- bevorzugen, in der Kontinuität der bisherigen literari- mats geschrieben, mit einem Fluidum der besonderen schen Tradition zu stehen. sprachlichen Spontaneität, mit ungewöhnlichen Themen SCHWARZ Namen gegenwärtiger Vertreter dieser Generation von und Situationen, mit ungewöhnlicher Lage und Atmo- Dramatikern sind: Jeton Neziraj, Arian Krasniqi, Dorun- sphäre, mit ungewöhnlichen Beziehungen, Handlungen tina Basha und Mentor Haliti, deren Dramen nicht nur und Personen, außerhalb jeder klischeehaften Ordnung, gedruckt, sondern auch schon verschiedentlich inner- was ihre Handschrift im Rahmen dieser Generation von halb und in einigen Fällen auch außerhalb des Kosovos Dramatikern besonders und einmalig macht. Die Protago- inszeniert wurden. Einer der charismatischsten, kreativs- nisten ihrer Dramen sind ältere Frauen, heranwachsende ten und energischsten Vertreter dieser Generation ist der Mädchen, Tiere, Menschen aus Karton, beseelte Gegen- Da waren zwei Ochsen, so schön und so stark. Den Acker Dramatiker Jeton Neziraj (geboren 1977), Autor von über stände wie zum Bespiel Glutasche und Gerten, Teenager, pflügte ich mit ihnen und verrichtete alle Arbeit auf dem 15 Dramen, die inszeniert und in Form von Aufführun- Frauen von Personen, die im letzten Krieg im Kosovo Feld. Jeden Abend striegelte ich sie und fütterte sie gut. gen oder szenischen Lesungen im Kosovo und außerhalb vermisst wurden u. a., oder mit einem Wort, Personen, Ringsum wurde ich um sie beneidet. Ich fühlte mich glück- vorgestellt wurden, und ebenfalls in andere Sprachen denen aufgrund von verschiedenen politischen, sozialen lich und stolz, dass ich sie hatte. Aber dieses Glück währte übersetzt wurden, wie: Englisch, Französisch, Deutsch, und kulturellen Bewegungen eine würdevolle Rolle un- nicht lange. Das Unglück entsprang den zwei Farben, die Spanisch, Bosnisch, Slowenisch, Kroatisch, Mazedonisch, möglich gemacht wurde. ich bis dahin geliebt hatte. Zwei Polizeiinspektoren kamen Rumänisch usw. Die wichtigsten unter seinen Dramen „Anita, das Mädchen aus Karton“ (2003-2004) ist eines und sagten, ich sei albanischer Nationalist, da ich diese sind: „Lisa schläft“, „Krieg in Zeiten der Liebe“, „Der der singulären, einzigartigen und imaginativsten Werke zwei Ochsen habe, die die Farben der albanischen Flagge Sturz des Eiffelturms“, „Das letzte Abendmahl“, „Die nicht nur innerhalb des schöpferischen Fundus dieser Au- tragen, rot und schwarz. Vergeblich bemühte ich mich, sie Stadt wächst““, „Amerikanische Melodie“, „Die Brücke“, torin, sondern auch im vorhandenen Fundus des neuesten zu überzeugen: „Genosse Inspektor, diese Farben haben „Der verwundete Aeneas“, „Die schillernden Augen“, Dramas im Kosovo insgesamt. Geschrieben mit einer au- sie, seit sie von der Kuh geboren wurden, nicht ich habe „Der General der toten Armee“ (Dramatisierung des Ro- ßergewöhnlichen poetischen Hypersensibilität, in einem sie gefärbt … !“ Alles war umsonst. Mir wurde befohlen, mans von ) u.a. Die Thematik seiner Dramen, zutiefst urbanen Ton, mit märchenhaften Färbungen à la sie zu trennen, ansonsten würden sie mir weggenommen. die sich auf der Genreebene zwischen Drama und Tragi- „Alice im Wunderland“, mit zurückhaltender Dramatik, Was hätte ich tun sollen! Wie hätte ich sie trennen sol- komödie bewegen, ist sehr weit, weil sie den Krieg, das ohne Überfrachtung und emphatische Künstelei, außer- len! Konnte man sie trennen, so schön, wie sie waren. Die Überleben der Menschen in den Nachkriegsjahren, Ver- halb jedes klischeehaften Schemas und jeder stereotypen ganze Nacht konnte ich vor Trübsal nicht schlafen. Am söhnung, Sünde, Liebe, Religion, modernen Terrorismus Wahrnehmung, kommt „Anita, das Mädchen aus Karton“ nächsten Tag beschloss ich, mit ihnen nicht mehr auf dem u. a. umfassen. So werden zum Beispiel in seinen Dramen in der Form einer urbanen Erzählung in der ersten Person Feld zu arbeiten, ich ließ sie frei weiden, wie ich es immer vor einem dramatischen und tragikomischen Licht-Schat- über ein merkwürdiges zweidimensionales Mädchen mit tat, wenn ich nichts zu tun hatte. Den ganzen Tag saß ich ten-Hintergrund Frauen dargestellt, die sich mit Schlan- einem Körper aus Karton, dessen Stimmung, emotionale im Schatten des Nussbaums und weinte still. Ich wein- gen lieben und verheiraten, und gleichzeitig Frauen, die Lage, Geist und Leben vollkommen von den atmosphäri- te vor Unglück, das mich wegen der verfluchten Farben von Leidenschaft durchdrungen und entflammt sind, die schen Bedingungen abhängen. ereilte. Die Ochsen kamen an dem Tag nicht zu der Zeit sich in Schönheitssalons die Arschhaare entfernen lassen, Ein anderer außerordentlich bedeutsamer Name, der die zurück, zu der sie gewöhnlich von den Weiden im Wald Eltern die ihre Kinder fressen, Jünglinge, die Drachen neue Dramatik Kosovos prägt, mehr dank seiner natürli- zurückkehrten. Es wurde dunkel und sie waren nirgendwo töten, Priester, die in verheiratete Frauen verliebt sind, chen Begabung als einer akademischen Ausbildung, die zu sehen. Ich machte mir Sorgen. Ich sinnierte, ob sie mir Mädchen, die in Gruben fallen, ehemalige Soldaten, die er aufgrund seiner rebellischen und antikonformistischen vielleicht „geraubt" worden waren. Ich nahm eine Laterne mit Waffen wie mit Schachfiguren spielen, entflammte Veranlagung nach zwei Jahren des Studiums hinter sich und beschloss, sie im Wald zu suchen. Ich lief herum wie Liebhaber, „Maniacs“, die auf den Boulevards und in den ließ, ist Mentor Haliti (geboren 1975). Seine Dramen ein Irrer und fand sie nicht. Ich rief sie so laut ich konnte, Parks von Paris muslimischen Frauen die Schleier herun- zeichnen sich auf der formalen, inhaltlichen, themati- wie eine Mutter ihr Kind ruft, das sich von ihrer Hand terreißen, perfekte Taliban, die zum Zeichen der Rache schen und Genre-Ebene durch ihre zutiefst unkonventio- losgerissen hat. Es dämmerte und ich war noch immer im den spektakulären Sturz des Pariser Eiffelturmes planen, nelle Natur und den Ton aus. Der minimalistische, exakte Wald. Und als ich bar jeder Hoffnung nach Hause zurück- Frauen, die Todesangst vor dem Brustkrebs haben u. a. und konzise sprachliche Ausdruck ist eine der Besonder- kehren wollte, entdeckte ich die beiden in der Ferne, auf Das Drama von Neziraj „Krieg in Zeiten der Liebe“ (2007) heiten seiner Dramen. Mentor Haliti ist zudem auch Autor einer Geröllhalde, Kopf an Kopf. Vor Freude wurde ich fast fußt auf der „merkwürdigen“ Geschichte von vier „merk- von einigen Gedichtbänden. Obwohl seine Dramen zu- verrückt. Wie irrsinnig rannte ich zu ihnen. Doch als ich würdigen“ Frauen, die beim Fluchtversuch aus früheren meist den Anlass aus einem „trivialen“ Kontext nehmen, ihnen nahte, gaben meine Beine nach. Ich begriff, was Lebenstraumata, aus Schmerz, in eine gemeinsame ima- eskalieren sie allmählich mittels der Situationen und Di- ihnen wiederfahren war. Beiden hatte der Wolf den Kopf ginäre Welt flüchten; in einen Schönheitssalon, in dem aloge, die auf den ersten Blick völlig normal, „zufällig“, abgebissen und ihr Blut floss noch immer. Herzzerreißend sie sich verstecken, wie sich ein Mensch im Traum ver- „informativ“ und „erklärenden Charakters“ sind, in einen ihre traurigen offenen Augen. So viel Blut war aus ihnen steckt. Tatsächlich ist „Krieg in Zeiten der Liebe“ eines der mächtigen emotionalen Zweikampf mit unvorhersehbaren geflossen und es floss noch immer! Meine zwei Ochsen, schönsten, ausdrucksstärksten, kräftigsten, poetischsten konfliktgeladenen Bewegungen, Steigerungen, Intonati- rot und schwarz! und phantasiereichsten Werke nicht nur im Schaffen die- onen und Beziehungen. ses Autors, sondern auch im ganzen existierenden Dia- Wie aus dieser umfassenden Vorstellung der auktorialen gramm der gegenwärtigen albanischen szenischen Lite- Konfiguration des neuesten Dramas im Kosovo zu erse- ratur. hen ist, kann gesagt werden, dass es nicht nur des Alters Ein anderer sehr beharrlicher, provozierender und ener- seiner Autoren, sondern auch der thematischen, inhaltli- gischer Name der neuen Dramatik im Kosovo ist Arian chen, formalen und stilistischen Ebene wegen eine wahr- Krasniqi (geboren 1981), dessen kreative Handschrift haft neue kreative Bewegung auf dem allgemeinen ener- sich hauptsächlich in Einaktern zeigt, die klar dem Genre getischen Betätigungsfeld der jüngsten Generation der des Dramas zugehören, mit kurzen dynamischen Dialo- kosovarischen Kulturschaffenden und Künstler zur Dyna- gen meist mit zwei Personen, auf deren Schicksalen und misierung, Rekonfiguration und dem Redesign der Litera- Handlungen er in seinen Werken seine Erzählung aufbaut tur- und Theaterszene im Kosovo markiert. Trotz solcher und entfaltet. Die Personen seiner Dramen personifizie- Bewegungen ist das Streben dieser Generation nach ei- ren Menschen mit vorausgesagten und unbestimmten ner neuen Handschrift der gegenwärtigen kosovarischen Schicksalen, deren Leben sehr oft in die verschlungenen Dramatik des 21. Jahrhunderts eher als ein gemeinsamer Fäden einer „Intrige“ verwickelt wird, die der Autor, ähn- zielgerichteter, organisierter oder konsolidierter Versuch lich wie in einigen Beispielen der antiken Tragödie, bevor- viel mehr eine spontane Bewegung dieser schöpferischen zugt mittels des aristotelischen Elements der „Wiederer- Individualitäten, die dank ihrer Energie, ihres Trachtens, kennung“ löst. ihrer Beharrlichkeit, Provokation und ihres Einsatzes in Zum Beispiel steht in seinem Drama „Sechs“ (2004), das der kleinen Welt des Theaterlebens und der Theaterszene nach den Motiven des letzten Kapitels von Albert Camus‘ im Kosovo einen neuen schöpferischen Diskurs heraus- „Der Fremde“ geschrieben wurde, Ana im Zentrum der fordern. Erzählung, eine etwa fünfzigjährige Frau, die auf die Hin- richtung durch den Strang wartet, weil sie ihren Liebhaber getötet hat. Die sechs letzten Stunden ihres Lebens ver- bringt sie in einer Gefängniszelle, in der sie, während sie es ablehnt, ihr Verbrechen zu bereuen, vor einem Priester ihre Beichte ablegt. Ana hat vor vielen Jahren ihren Säug- ling, einen Jungen, am sechsten Tag nach seiner Geburt

Beton Spezialausgabe März 2011 23 Xhevdet Bajraj Der Binde- Das Nebel- Nachts in M.C. strich pferd

Was sind das für Nächte in Mexico City Zwischen dem Geburts- und dem Sterbedatum Festgenagelt am Caféhausstuhl Hungrig nach Sauerstoff satt von Liebe Ist der Strich der dazwischen erscheint Mit Gedankennägeln die dem Tresterraki gelten Was wollen jene von mir die mich so feindselig erobern Nichts weiter Warte ich dass die Nacht ihre eigenen schwarzen Körner Und dass ich nicht flüchte alle Tage Als oder Sterne ausschüttet Wie eine Romanseite des magischen Realismus Poesie Ins große Stundenglas Sie schlagen albanische Nägel in mich ein Um das Nebelpferd für den Heimweg zu satteln Direkt ins Brustbein Ebenso Was bin ich hier Ist Poesie Am Morgen Ein Engel der im Frauenschoß stirbt Die einzige Sache die du mir dagelassen hast als du Wie im Traum Oder ein Mensch der die Dunkelheit seines Gehirns gegangen bist Erinnerte ich mich an Schüsse erobern möchte Dein Schamhaar in der Seife Ich verscheuchte die Fliege von meiner Frau Von der Stelle wo ich sie am Abend geküsst hatte Herr Oder besser du Ich öffnete das Fenster Ober Sechs Wolkenflecken waren an die Sonne angeheftet Bring mir noch ein Glas Tequila Und das Ozonloch Dann schleich dich oder verrecke Das wie eine Höllenreklame flackerte Ich weiß nur über mich selbst dass Party Morgens sobald ich die Augen aufschlage Dieser Tag wird schwer Ich aus dem Fenster Die Freiheit wurde wie ein wildes Tier getötet Den Gipfel des kosovarischen Schmerzes sehe Dessen Haut an der Sonne trocknet Der mich ruft ich soll ihn besteigen Inmitten dieser vollkommen närrischen Landschaft Für die Schuhe die wir tragen werden Ihn erobern o Bruder Gibt es ein Fest Am Todestag Wie Liebe erobert wird Hört es euch an Die tötet Tief in der Scheiße Wie wir Liebe erobert haben Klatschen die Menschen Die uns tötete Dem letzten Sonnenuntergang Beifall Frieden

Ich schaue fern Mit dem Kopf gestützt auf ein Kissen gefüllt Mit den Federn von neun Engeln Die Maus die die Krümel von meinem Frühstück verputzt Bewerfe ich mit dem Apfel der uns aus dem Paradies vertrieb Und lege den Kopf wieder zurück Das Haus Kriegsblume Auf das Kissen gefüllt Mit den Federn von neun Engeln

Ich vertreibe die Welt aus dem Zimmer Dort unter der Pergola An der Erschießungsmauer Indem ich das Fenster schließe Wo zwei einsame Alte den Tisch decken Über den hineingeschlagenen Spitzen der Ich wechsle den Fernsehkanal Um die Vögel der Erinnerung mit Krümeln des chronischen Geduld Höre Nachrichten: LEBENS zu füttern Fängt das Drama des Lebens an „Nach der Vertreibung der serbischen Kräfte aus Baue ich ein Haus Auf der Bühne wird nur noch der Auftritt des dem Kosovo Opfers erwartet Wurden achthundert Albaner getötet …“ Dort wo die junge Frau mit schwarzem Kopftuch Ich lege den Kopf auf das Kissen zurück Auf einen weißen Schmetterling wartet der sich auf Der von der Kugel getroffene Mensch fällt zu Boden Gefüllt mit den Federn von neun Engeln ihre Schulter setzt Er riecht den Geruch seines vergossenen Blutes Um die Sehnsucht nach ihrem TOTEN zu stillen Das sich auf den Asphalt ergießt Die schwarzrote Fahne an der Wand Baue ich ein Haus Die Sonne beginnt zu zittern wenn sie erlischt Bewahre ich auf für das Grab Die Dunkelheit leckt mit ihrer schwarzen Zunge Ich lächle für mich Zum wilden Apfelbaum hin lasse ich eine Tür auf was vom Tage übrig blieb Und der Wurm aus dem zerbrochenen Apfel So oft wir ein- und ausgehen Wenn ich nicht aus diesem Land bin Unter dem Küchentisch So wie eine Frucht herunterfällt hey du Ist dieses Land zweifelsohne meines Lächelt Sollen wir daran erinnert werden dass wir leben Es erinnert sich an die Gesichter meiner Lieben Ich leg den Kopf auf das Kissen zurück wohin sonst Unter Engeln und Würmern Und es empfindet Schmerz Gefüllt mit den Federn von neun Engeln Dass er nur einmal lebte Wir werden den Raki trinken den der Vater für uns Und so oft im Leben starb Einige Gewehrschüsse sind aus dem Haus des aufbewahrt hat hey Bruder Nachbarn zu hören Wir trinken den Schmerz fort und löschen die Sehnsucht Dann Schreie Und … Ein Schrei zwei Schreie drei Schreie Neue Verse … Weinen Neue Falten kommen in unserem Gesicht hinzu Wieder Schreie und Weinen Heimat Nur Schreie und Weinen Aber ein Haus oh weh ein neues Haus wie soll ich es bauen Und schnelle Schritte von Maskierten die sich entfernen Wo finde ich in dieser Welt einen Architekten Der einen ORT errichten könnte Ich friere So HEILIG so teuer Heute als die Sonne im Zenit stand Ich stecke meinen Kopf unter das Kissen Um zu lieben um zu leiden Pflanzte ich eine Blume für dich Heimat Gefüllt mit den Federn von neun Engeln Wo werde ich vor Freude vor Schmerz die auf mich Und weinte Und bedecke meinen Körper mit einer Decke warten weinen Wie ein Säugling weint Gefüllt mit den Federn von neunundneunzig Engeln Wo werden meine Liebsten geboren Wenn er Hunger hat Des Friedens Wo werden meine Liebsten sterben Und die Mutter ihm nicht die Brust gibt Und schlafe in Frieden

24 Beton Spezialausgabe März 2011 Jelena Đokić Sträflich öffentlich

Der Bus schaukelt. Die ganze Zeit schaut sie mich an, ich Wieder zittert das Doppelkinn der Dicken. Gleich spuckt Schal hat einfach nicht zu meinem Nagellack gepasst. Er spüre es. Sie sitzt mir gegenüber. Dann sinkt ihr Kopf in sie mich an, denke ich. Doch mein linkes Auge zuckt in hat für seinen Abgang auch den Türeffekt benutzt. Wir den Hals und sie sucht etwas in ihrer Tasche, ich sehe Vorbereitung zurückzuspucken, und sie lässt es. haben hier alle etwas gemeinsam. Der Bus kotzt Leute zu. Sie ist dick, ihr Doppelkinn wabbelt wie der Teig, „Kämm dich mal, du Vogelscheuche!“, sagt sie, als sie be- aus und schluckt neue. Ich hatte schon immer ein Näs- aus dem meine Großmutter Brot backt. Sie sucht wei- greift, dass Inspiration nur eine große Lüge ist und dass chen dafür, wo ein Platz frei wird. Diese Fähigkeit erfor- ter, wahrscheinlich braucht sie nichts, sondern schlägt ihr nichts Besseres einfallen wird. Vielleicht hat sie aber dert Talent und Zeit. Man muss natürlich die Tricks ken- nur die Zeit tot. Ich erkenne einen dieser zahlreichen auch nur darauf gewartet, dass das Öffnen der Türen den nen. Ich stelle mich nie in eine Ecke oder in die Mitte, Momente, wenn ich in meiner Tasche gern etwas Neues Effekt verstärkt. Sie hat mich nicht beleidigt. So steht es in die Ziehharmonika, an diesen Stellen ist man in einer finden würde, was mich überrascht, herausspringt und mir besser. Wie ein Kissen, zart und bauschig. ungünstigen Position. Man muss sich zwischen die Sitze mich ergreift, mich am Hals packt und fester zudrückt als Der Große lacht. Ich bin ihm sympathisch. Wahrschein- stellen, in die Mitte, die Seite wählt man intuitiv. Hier ist all diese langweiligen Blicke und Seufzer im öffentlichen lich findet er mich charmant, obwohl er niemals etwas am meisten Platz. Ich habe schnell gelernt, fremde Be- Verkehrsmittel. Wir halten. Es ist leise. Statt zu schaukeln, Ähnliches tun würde. Für die gleiche Szene im Restaurant wegungen zu deuten. Signale, die „ich steige gleich aus“ stehen die Leute still. Sie kramt in ihrer Tasche. Sie hat seines Onkels oder eines Kumpels hätte er sicher kein Ver- bedeuten, gibt es in vielen Varianten. Frauen schließen Falten im Gesicht und ihr Doppelkinn bewegt sich nicht ständnis. sorgfältig ihre Handtasche und biegen die Riemen über mehr. Ich kann den Blick nicht von ihr abwenden. Gleich „Du hast keine Ahnung“, sage ich. die Hand, dann drehen sie ihren Körper, vor allem die wird sie mich anschauen, gleich wird es mir unangenehm Er lacht etwas offener, als wollte er so meine Zweifel zer- Knie, in Richtung Ausgang, sie lächeln und nicken mit sein, sie wird den Kopf heben und mir genau in die Au- streuen. dem Kopf, vor allem die älteren. Die Männer richten in gen schauen. Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht, und „Es steht dir wirklich gut ... Bisschen strange, so wie ... Ermangelung einer Handtasche ihre Jacken oder fahren doch wird gleich der Moment kommen, in dem ich ihren du weißt schon, wie das Lachen von einem Verrückten“, sich mit der Hand durchs Haar, vor allem unbewusst. Frü- widerwärtigen leuchtend blauen Augen begegnen muss. sagt er. her war das Spektrum dieser Bewegungen breiter, unter- Das Doppelkinn geht in die Breite, der Teig quillt über, „Hast du die Nachrichten verpennt?“, äffe ich seinen Za- haltsamer, aufschlussreicher. Jetzt ist das alles durch ein mir wird schlecht. Es ist zu spät, um den Kopf wegzudre- greber Slang nach. „Dann geh doch gleich ins Bett! Kro- allgemeines Signal ersetzt worden – das Handy wandert hen. Sie hat wässrige Glubschaugen, aus denen sie mir, aten sind nicht mehr automatisch die Outsider, kapiert?“ in Hand- oder Hosentasche. Alle starren auf Minibild- rein zufällig, einen siebzehn Kilo schweren Blick zuwirft. Jetzt verachtet er mich. Meine Bemerkung war zu heftig. schirme, durchforsten ihre Mikrochips, reihen sorgfältig Als ob man Blicke werfen könnte! Ich weiß nicht, wie ich Gut getroffen, das respektiert er, aber unnötig bösartig. Buchstaben zu syntaktisch verarmten Sätzen aneinander. wieder sauber werden soll, ich könnte mich unter einen Ich hänge am Haltegriff und schwanke leicht hin und her. Sie haben verlernt, sich umzuschauen, über die anderen Wasserfall stellen, meine Augen so fest zusammenkneifen hinweg nach draußen, zu den Bäumen und den Häusern und reiben wie als Kind, bis die grünen Pünktchen und und um die Ecke zurück zu sich selbst. Meine Augen neh- gelben Linien auftauchen, und vergessen, was ich gese- men oft diesen Weg. Und keiner von ihnen sieht mich. hen habe. Ich wende mich ab und beschließe, bis zum Keiner. Ende der Fahrt aus dem Fenster zu schauen. Menschen, Die Leute sind still in diesen letzten Jahren, oder sie drü- die so plump meine Sphäre verletzen, stören mich. cken sich in sonderbaren Formeln aus. Mein Vater spricht Auf der anderen Straßenseite laufen drei Zigeune- nur über Brot. Wie teuer es geworden ist, dass es nicht rinnen in Abendroben vorbei, bunt wie Clown- mehr weiß ist, dass es früher weich und heiß war. fische. Sie sind schön. Es ist fast fünf Uhr Ich sehe ihn selten. Schwarzfahren ist ein Privileg nachmittags und sie sind schon auf der der Stadt, und er lebt so weit weg, dass nicht Piste, wo nicht einmal zufällige Passan- einmal die Ordnungsstrafe dort ankommt. ten ihren Ruhm schmälern. Sie lachen, Manche nennen es das Paradies. Mein Vater und eine von ihnen fasst sich verführe- behauptet das Gegenteil. Er sagt, wir könn- risch ins Haar. Noch zwei Schritte, sie ten nirgendwo hin, alles sei zum Stillstand verlassen den Gehweg und tauchen gekommen, auch er warte schon so lan- unter im Gewirr der Marktstände. ge auf seine Strafe, dass er Angst habe, „Steigen Sie aus?“ fragt sie. ewig zu leben; seine Strafe sei zu groß Ich wende mich ihr zu und mustere und komme deshalb nur langsam. Wenn sie abschätzig. ich mich richtig entsinne, habe ich zwölf „Ich weiß noch nicht“, antworte Ordnungsstrafen. Noch keine ist ange- ich. kommen. Irgendwo zwischen dem Serbi- Die Pause ist nicht lang, aber unan- schen Öffentlichen Transportsystem und genehm. Deshalb spreche ich statt den Gerichten ist eine Ritze, und da fallen ihrer: „Wollen Sie sich lieber hier hin- sie rein. Ich stelle mir dieses Nest nicht zu- stellen?“ gestellter Strafzettel vor, die in ein Ghetto Und natürlich mache ich Platz. Zuerst namens K.A.O.S. (Kommunale Apathie-Or- versteht sie nicht, dann streift sie mich ganisations-Stelle) gefallen sind und darauf mit ihrer vollen Größe, um sich voller Ver- warten, dass jemand sie aus diesem Zustand achtung an mir vorbeizudrängen. Über die des Wartens auf Vollstreckung erlöst. K.A.O.S. ist Schulter wirft sie mir zu: kein kleiner Ort. Meine Strafen sind kleine Fische. „Was stehst du auch mitten im Weg?“ Wenn im Ghetto einer nachweislich was zu melden „Sie haben gefragt, ob ich aussteige und nicht, ob hat, dann sind es die Urteile. K.A.O.S. hält sie alle am ich zur Seite gehen kann“, sage ich. Leben, bis die Konkurrenz zu stark wird. Meist bringen sie „Gott bewahre mich vor Verrückten und Pennern!“ Das sich gegenseitig um; bei einigen Urteilen erfährt man nie, Doppelkinn zittert vor Ärger. Ihre Brüste bewegen sich was aus ihnen geworden ist. zur Tür und bleiben kurz vor der Scheibe stehen. Überhaupt bekommen kleine Leute Strafen, gewöhnliche „Weißt du was, Dicke, wenn du morgens aufwachst, soll- Leute wie ich. Aber ich rege mich schon lange nicht mehr test du den Kühlschrank absperren und einfach mal lä- Der hat einen schönen Rücken, der Kroate. auf. Ich schreie den Kontrolleur nicht an, renne nicht weg, cheln, vielleicht verstehst du‘s dann“, sage ich. „Es ist kein Witz, wenn du nicht lachst“, sage ich. zeige meinen Ausweis. Ich sage sogar guten Tag, das ver- Panik. Woher nehme ich das Recht, etwas so Offensicht- „Dann solltest du lernen, Witze zu machen“, sagt er eini- wirrt sie. Oberflächlich betrachtet ist das alles ganz ein- liches und Unangebrachtes zu sagen? germaßen gutmütig und ich schäme mich. fach; ihnen wird beigebracht, drei Sätze zu sagen: „Guten „Schäm dich!“, zischt sie durch die Zähne. Jetzt ist die Dann steigt auch er aus. Der einzige Typ, der einigerma- Tag. Kontrolle. Ihre Fahrausweise bitte.“ Und für den Fall, auch noch sauer auf mich! ßen in Ordnung war. Eigentlich zu sehr in Ordnung für dass sie eine negative Antwort erhalten, wird der Größ- „Du hast angefangen“, sage ich, „was starrst du mich ein öffentliches Verkehrsmittel. Hier sind die Sitze ram- te im Team aktiviert, der auch eine Ausbildung für kör- auch so hinterhältig an?“ poniert, der Fahrer ist unausgeschlafen und nervös. Sein perliche Auseinandersetzungen erhalten hat. Aber was

Beton Spezialausgabe März 2011 25 machen sie mit den Höflichen, die keine Fahrkarte, aber „Du würdest doch nicht jemanden schlagen, der Kontakt- und versucht, ihn aus seiner Bewusstlosigkeit zu holen. viele Fragen haben? Das gleiche – alles, was nötig ist, um linsen trägt?“ „Wieso sagst du nichts, bist du stumm?“, beharrt er. das traditionelle Bild eines Staatsunternehmens aufrecht- „Hä?“ Er versteht auch nicht, als ich mein Gesicht nah „He, du bist ganz struppig. Schau -“, ich bekomme wieder zuerhalten –; auf jede mögliche Kritik reagieren sie mit an seines beuge und den Kopf nach links und rechts dre- Nasenbluten. „Hast du Taschentücher?“ Er blickt sich nach Nichtbeachtung, auf alle Beschwerden und Einwände mit he, damit er die Ränder der Kontaktlinsen sehen kann. einem freigiebigen Spender um. Ich hole Tücher für Intim- Schweigen. Ich kenne niemanden, dem es gelungen wäre „Siehst du?“, frage ich. hygiene aus der Tasche und biete sie dem Polizisten an. zu erfahren, wer ihr Vorgesetzter ist, denn bis es soweit „Hau ab, du Schlampe!“ Er will mich wegstoßen. Ausge- „Was ist das?“ kommt, ist das Problem schon diagnostiziert und wird an zeichnet, er hat angefangen. „Fotzentücher“, antworte ich. die Polizei übergeben. Ich schlage meine Stirn gegen seine Nase. Glaube ich zu- „Du kannst ja sprechen? Bist wohl ´ne ganz Schlaue, Wenn mich jetzt jemand sehen könnte, würde er meinen, mindest. Ich erinnere mich, dass er hinfiel. Sein Fall nahm was? Steh auf, du kommst mit aufs Revier!“ ich sei noch nie mit einem öffentlichen Bus gefahren. Ich mir die Luft und Blut kam aus meinem Mund. Alles war Er muss sich mit mir nicht sonderlich anstrengen, der Bus bin müde. Ich kann das unangenehme Gefühl nicht ab- irgendwie im Nebel, ich entzifferte gerade, dass man die spuckt mich aus wie einen abgelutschten Olivenkern. Auf schütteln. Der Opa nervt mich, er hätte schon an der vor- Fahrkarte im Automaten entwerten muss, als mein Ma- dem Revier bemühe ich mich zu erklären, dass mich mit letzten Haltestelle aussteigen sollen. Ich bin nicht ganz gen sich wieder schmerzhaft zusammenzog. Vom anderen dem jungen Mann nichts verbindet, dass ich ihn nicht auf der Höhe. Vielleicht sollte ich mich in den hinteren Ende des Busses kamen Polizisten. Sie sprachen mit einer deshalb verteidigt habe, dass ich ihn überhaupt nicht Teil des Busses begeben. Frau, die unhöflich mit dem Zeigefinger auf mich deute- verteidigt habe. Obwohl, was soll‘s, zumindest muss ich mir um das Wet- te. Der eine Polizist nickte, der andere griff nach seinem „Haben Sie gewusst, dass der Mann homosexuell ist?“ ter draußen keine Gedanken machen. Früher bin ich auch Schlagstock. Ich hätte Stunden lang rote Luftbläschen „Nein.“ mit dem Trolleybus gefahren, jetzt nur noch selten. Ich durch die Nase machen können, aber ich entschließe „ Sie mögen also die Menschen im Allgemeinen?“ Sie ver- habe ein paar Mal miterlebt, wie jemand einen Strom- mich, doch aufzustehen und sie auszuspucken. Ich kann sucht, mir wenigstens etwas zu entlocken. schlag abbekommen hat. Die Haltegriffe am Einstieg sind nicht, alles tut weh. So wie damals, als mein betrunkener „Ich mag Menschen weder im Allgemeinen noch im Be- nicht richtig isoliert und niemand hat sich um die Frau Kumpel mich auf den Arm genommen und dann fallen sonderen“, sage ich. gekümmert, deren Hand steif wurde und die dann in der gelassen hat. Es tut weh, wie in einem Comic. „Tat Ihnen der junge Mann leid?“ Klinik landete. Niemand hat den Trolleybus repariert. Es Ich höre, wie sie lachen. Sie lachen, weil ich auf mein Bein „Nein.“ müssen erst viele sterben, damit es dafür ein Budget gibt. gespuckt habe. Zugegeben, es war umsonst. Aber die Sie beginnt zu tippen, dann sehe ich, wie sie den letzten Mindestens fünfzig Tote und hundert Verletzte. Die Ent- „Gazela“ ist eine lange Brücke, ganz so langsam können Teil des Satzes wieder löscht. scheidung, die ich dann treffen muss, ist paradox: Soll ich sie sich nicht bewegen. Wenn sie in dieser Stadt eine neue „Warum haben Sie sich dann geprügelt? Sie haben sich mich für das Wohl aller opfern und eine der fünfzig oder Brücke bauen sollten, dann frage ich mich, welche Stufe doch geprügelt?“ hundert werden, damit die Staatslenker das Geld statt in an Zynismus ihr Name erreichen wird. Vielleicht nennen „Ja. Ich habe die Welt, in der ich lebe, verteidigt; und Gipsfiguren für die Vorgärten ihrer Ferienhäuser in die sie sie F1, Flash oder Weißer Blitz ... In der Mitte schauen andere Menschen, ob homosexuell oder nicht, sind nicht Reparatur der Trolleybusse investieren; oder soll ich fünf- die Leute angestrengt aus dem Fenster. Von den hinteren unbedingt Teil dieser Welt. Ich habe mich mit der Welt zig oder hundert Dinar für Gummihandschuhe ausgeben Sitzen haben sich drei Leute weiter nach vorne bewegt; geprügelt, in der solche Dinge unter den Teppich gekehrt und beruhigt fahren. Aber manchmal stehen an den Hal- einer Frau ist schlecht von dem Blut. Der Bus verzieht die werden. Wo alle anderen Fahrgäste wegsehen. Wo du testellen keine Verkäufer und ich muss in den Trolleybus hintere Tür zu einem Lächeln. Ich spüre seine Verachtung, ganz offen zusammengeschlagen wirst. Wo die Schläger springen. Das ist die einzige Möglichkeit. Ein erfahrener während ich zusehe, wie die vier einer nach dem anderen im Recht sind. Und außerdem habe ich nicht angefan- Trolleybus-Nutzer weiß, dass er bei Regen oder Schnee hinausspringen. gen!“ niemals gleichzeitig den Trolleybus und den Boden be- „Bleib stehen!“ ruft der Polizist und versucht, den Jungen Das tippt sie. rühren darf. zurück in den Bus zu ziehen. Die Tür drückt ihn zusam- „Sie kämpfen also für die Menschenrechte?“ Der Opa rutscht auf seinem Sitz herum. Ich hatte recht, men. Wie im Märchen, wo die Großmutter den Großvater „Nein.“ er hätte schon an der vorvorletzten Haltestelle aussteigen zieht, ziehen die anderen drei ihn nach draußen und die Wieder habe ich sie verwirrt. Würde man ihr Blinzeln ge- sollen, aber er hat sie verpasst, und jetzt weiß er nicht, Tür schlägt zu. Sogar wenn ich nur leicht lächle, tun mir nauer analysieren, bin ich sicher, dass ein Vergleich mit wohin er fährt. Wahrscheinlich hat er beschlossen, bis zur Mund und Zähne weh. „Mach die hintere Tür auf!“, ruft dem Morsealphabet „zu Hilfe“ ergeben würde. Endhaltestelle und dann wieder zurückzufahren. „Sie kennen den jungen Mann also nicht?“ „Wirklich unverantwortlich. Und das in diesem Alter!“ Ich „Nein“, antworte ich. gehe Richtung hinterer Tür. „Entschuldigung, ich will nur „Unterschreiben Sie hier.“ vorbei.“ Sie nimmt den Telefonhörer ab, um sich vor weiteren Ein- Die Frau vor mir tritt träge zur Seite. Sie erkennt nicht, lassungen meinerseits abzuschirmen. dass ich nicht aus Machtlosigkeit aufgebe. Hätte ich Auf dem Röntgenbild ist alles in Ordnung. Eine leicht sitzen wollen, hätte ich nur meinen Bauch ausfahren gequetschte Rippe, nichts Dramatisches. Ich soll müssen und irgendeiner von den Höflichen wäre Heilwasser trinken. Und mich ein paar Tage aufgestanden. Er wäre aufgestanden, um sich schonen. Ich lehne ab, dass die Polizisten besser zu fühlen, weil er eine gute Tat voll- mich nach Hause bringen. bracht hätte. Und wir wären alle glücklich Ich sitze am Fenster. In der Scheibe ist und zufrieden gewesen, und ich auf mei- mein durchsichtiges Bild. Ich denke an nem Sitzplatz. Sie versteht aber nicht, den Kroaten, lehne mich an das bau- dass ich Leuten nicht einfach so einen schige Kissen meiner Haare. Als würde Gefallen tue. Ich bin eigentlich keinem ich das erste Mal durch den Tunnel dieser Fahrgäste ähnlich, die ruhig auf fahren, zum ersten Mal das Gebäu- ihrem Platz sitzen, während ein anderer de der Politika sehen. Ich verrenke zu Tode geprügelt wird. Ganz hinten im mir den Hals und sehe die Matrat- öffentlichen Bus. Kids. Gleich vier von ze, aber nicht den Übermenschen. ihnen. Warum sind hier keine Kinder, Er sieht nicht aus wie die Leute, die die schreien? Warum ist keiner auf- Aufzüge und Autos benutzen. Egal, gestanden, um den Fahrer zu verstän- ob er in eine Decke gewickelt auf den digen? Warum fahren wir weiter? Zwei bunten Matratzen sitzt oder neben treten ihn, bedächtig und geräuschlos. dem Springbrunnen, der Übermensch Einer steht breitbeinig da und hält sich mit streitet sich immer mit jemandem. Noch beiden Händen an der oberen Haltestange nie habe ich gehört, dass sie sich um Geld fest, als bräuchte auch nur einer von denen streiten. Meistens schreit er den Bärtigen einen Paravent. Als würde irgendjemand hin- an, weil es dem an Menschlichkeit fehle und schauen. Der Kleine steht an die Stange gelehnt weil Würde für ihn ein Fremdwort sei. Langsam und streckt das Bein über den Gang. Wenn er Cha- sehe ich ein, dass die Obdachlosen am Politika- rakter hätte, würde er in der Nase bohren. Der junge Gebäude ein untrennbarer Teil dieser Stadt sind. Mann liegt am Boden. Aus seiner Nase kommt Blut, er Ihnen ist das Schicksal aller philosophischen Ausein- stöhnt und hält sich den Bauch. Nicht weiter interessant. andersetzungen anvertraut. Und das ist vielleicht auch Der Kleine, der daneben steht und genau zu mir schaut, gut so. der ist interessant. Er beherrscht seinen Kubikmeter und Der Bus jault und lockt noch ein paar Fahrgäste an. Ein fühlt sich sicher. Ich werfe mein Reklamelächeln an und Zigeuner mit Kind auf dem Arm steigt zu. Das Kind hat trete in seinen Raum, komme unverzeihlich nah, berühre der Polizist, springt raus und läuft den Jungen kurz nach. schöne murmelblaue Augen. Ein Auge des Zigeuners ist seine zerbrechliche Aura. Dann spricht er in sein Funkgerät und kommt zurück. geschlossen. Er tritt zu der Frau, die neben mir sitzt. Sie „Iswas?“, fragt er und tritt einen Schritt zurück. Offen- „Du kennst doch den Jungen?“ zuckt zusammen, legt den Riemen ihrer Tasche über die sichtlich bin ich zu weit in sein Territorium eingedrungen, „Warum hast du die Prügelei angefangen?“ Hand, dreht die Knie zum Gang und ist kurz davor auf- und er ballt drohend die Fäuste. Ich bin wirklich nicht „Ist das dein Freund, dein Bruder, dein Kumpel?“ zustehen. Der Zigeuner legt ihr die Hand auf die Schulter überzeugt, dass er zu den Typen gehört, die keine Frauen Im Hintergrund höre ich, wie der andere Polizist dem jun- und hält sie zurück. schlagen. Deshalb sage ich: gen Mann, der noch am Boden liegt, die Backe tätschelt „Nein, gnädige Frau, wir betteln nur. Wir betteln.“

26 Beton Spezialausgabe März 2011 Kujtim Rrahmani Der Purpurteppich

Es war einmal ein frisch vermähltes Paar und eines schö- wegen des schweren Teppichs zu sagen, als ob sie wie im Mani biss sich auf die Zunge, ihre Beschwörungen hin- nen Tages, vor ganz langer Zeit, … da gingen sie halt spa- Märchen auf dem Teppich angekommen wären und ihn derten ihn am Reden. Er heulte lautlos, und um sich ein zieren. nicht auf dem Rücken getragen hätten. Mani bat seine bisschen zu beruhigen, ging er an die frische Luft. Es ver- Als sie am Möbelsalon Ame Royal vorbeigingen, der Mani Ehefrau, etwas zum Trinken zu holen, etwas Kaltes, ob- gingen Tage und Wochen, die Jahreszeiten wechselten mit seiner Frau Diana, blieben sie vor den Schaufens- wohl es Winter war. Sie tranken Erdbeersaft. Und nach- sich ab, wieder kam ein Herbst. tern stehen und auf einmal, aus einem geheimnisvollen dem sie ihre müden Muskeln und Glieder gut ausgeruht „Schatz!“ Grund, den nur der liebe Gott wissen mag, gingen ihnen hatten, schlug Mani Diana vor: „Was denn für ein Schatz, nur eine arme Alte!“ die Augen auf und sie schmolzen vor der Schönheit eines „Lass uns ihn ausrollen, Schatz. Sofort!“ „Ich sage Schatz und du hörst darauf. Jetzt geh und hol Teppichs dahin, der eigens für ein großes Haus, für eine „Wie, meinst du sofort?!“ erschrak sie. „Bist du von Sin- den Teppich. Also, endlich einmal …“ vornehme Familie gearbeitet worden war, per Hand oder nen, Mani? Wir sind noch jung, na also, wir haben noch Diana schaute ihren Mann an, als ob er aus dem Irrenhaus mit einem Webstuhl, wer weiß … Aber ihnen kam es so Zeit. Oder hast du vergessen, dass es Winter ist?“ entlaufen wäre. Ohne mit der Wimper zu zucken: vor, als ob er für sie gemacht worden wäre. „Was für ein Winter, meine Liebe? Siehst du nicht, wie die „Hast du also für den Teppich jetzt Zeit gefunden, im Der liebe Gott allein weiß, warum ihr Blick leer wurde, Sonne wärmt, als ob wir mitten im Sommer wären?“ Herbst, wenn es ununterbrochen regnet und kein Son- aber ach, etwas Anderes ließ ihre Köpfe hängen und ließ Es half alles nichts, schließlich ließ sich Mani widerwillig nenstrahl zu sehen ist! Nein, mein Lieber, du rollst ihn sie verstummen. Sie hatten sehr kleine Gehälter und für überzeugen, dass sie den teuren und seltenen Teppich bis nicht aus, merk dir das! Und außerdem; was brauchen wir so einen Teppich musste man Tage und Monate sparen … zum Frühjahrsanfang nicht ausrollen sollten. Den Teppich Greise einen neuen Teppich?“ ohne zu feilschen. Trotzdem gingen sie in den Möbelsalon haben sie wegen der Räuber und ähnlicher Gemeinhei- „Sieh da, meiner Treu!“, echauffierte sich zum ersten hinein und besahen sich den Teppich aus der Nähe. Er war ten unter ihr Bett gerollt und sie sprachen während der Mal in seinem Leben Mani, und schnell wie ein Kängu- purpurfarben, halb aus Wolle, halb aus Seide, halb-halb ganzen langen Winternächte nur von ihm. Der März kam ru sprang er in ihr Schlafzimmer, zog den Teppich, ohne … mit blauen und grauen Tüpfeln, gewebt aus Fäden, und allein der großspurigen Reden über den Teppich und einen Blick darauf zu werfen, unter dem Bett hervor und deren Farbe sie nicht einmal erraten konnten, es sei denn, der berauschenden und verlockenden Frühlingstrahlen knallte ihn auf die Stufen, als Diana, die Augen auf den sie blieben einen ganzen Tag sprachlos davor stehen. Sie wegen vergaßen sie für mehrere Wochen, den Teppich Teppich gerichtet, von Entsetzen gepackt wurde. bestaunten ihn wie einen Meteor vom Himmel, der ihnen auszurollen. Als Mani sich wieder besann und die Ehefrau „Was ist denn das, unglückseliger Mani?!“ unerwartet in den Hof gefallen war, und am Ende fragten ans Ausrollen erinnerte, blickte sie finster wie eine regen- Erst da schaute Mani den Teppich an, der von der Feuch- sie halblaut nach dem Preis. Er war so teuer, du glaubst es schwangere Wolke. tigkeit, die er seit langer Zeit dort unter dem Bett aufge- nicht! Sie gingen mit hängenden Köpfen wie begossene „Wie sollen wir ihn über diesen Holzfußboden, über die- nommen hatte, nicht nur verschimmelt war und zerfressen Pudel hinaus und stürzten davon nach Hause. se Löcher ausrollen, um Gottes willen? In einer Woche von Mäusen, sondern auch verfault, ein richtiger Lappen; Stunden- und tagelang, tage- und monatelang, im Wa- machen wir ihn kaputt, wenn wir ihn hier auslegen. Er die müden Seidenfunken hatten die Farbe verloren und chen und im Schlafen, hatten sie in all ihrer Seele nur den zerfranst. Noch bevor der erste Freund zu Besuch gekom- ihr Strahlen war in der großen Masse des Schimmels erlo- purpurnen Teppich vor Augen, den sie sich mit zusam- men ist, noch bevor er seinen Fuß darauf gesetzt hat, ist schen. Das Ausrollen des Teppichs erfüllte das ganze Haus mengekniffenen Augen auf den Dielen des Zimmers vor- er schon zum Topflappen geworden!“ mit Gestank. stellten, die von Manis Vater gehobelt worden waren und Mani kaufte ein paar neue Eichenbretter und bezahlte ei- Mani klapperten die Zähne. Diana fasste sich an den die hie und da Holzknoten wie große schwarze Löcher im nen Zimmermann, damit er Vaters Fußboden flickte, wo Kopf und fing an zu klagen und zu jammern. Der Pur- Universum hatten, die sich nach und nach herauslösten die Knoten rausgefallen und Löcher entstanden waren purteppich, halb Wolle, halb Seide, halb … etwas mit et- und Lücken hinterließen, in die sogar Eselshufe hineinge- und die Dielenbretter sich verzogen hatten. Danach stri- was anderem; zerfressen, verschimmelt und verfault, als passt hätten, geschweige denn die Milchfüße von Diana, chen sie den ganzen Fußboden mit Glanzlack, damit das ob er sich rächen wollte. Er ist abgestorben und danach Manu und den Hausfreunden. Wohnzimmer schöner wurde. verfault, aus dem traurigen und verzweifelten Wunsch, Und siehe da, nach einigen Monaten und Jahren erreich- Inzwischen war es Sommer geworden und Mani sagte der ausgerollt zu werden, um auf seiner kristallenen Ge- ten ihre Ersparnisse auch dank der früheren Rücklagen Ehefrau, jetzt, mein Glück, können wir den Teppich aus- schliffenheit und seinem weichen Flaum das Gewicht der die Zahl des Teppichpreises, und sie eilten geschwind in rollen und uns an ihm erfreuen. Da ging sie hoch: Fußsohlen, Füßchen, Händchen und Körper der Leute zu den Möbelsalon Ame Royal und kauften ihn. Bevor sie „Um Gottes willen, Mani“, flehte sie, „Liebling, höre mich spüren. Wer weiß, ob er zu jenem Haus gehört hat. den Laden verließen, sagte ihnen der Verkäufer: auch diesmal an! Bei dieser heftigen Sonne rollen wir Sie weinten! ihn nicht aus. Siehst du nicht, wie sie durch die Fenster Und warum weint ihr jetzt?! „Glück gehabt! Das war der letzte Teppich dieser Art, und knallt? Nach ein paar Tagen werden wir nicht mehr wis- Es war einmal ein schöner Teppich, der nie ausgerollt wur- die bekommen wir sehr selten … Also werden diese selte- sen, welche Farbe der Teppich gehabt hat. Hast du nicht de! nen Teppich für seltene Menschen ausgerollt. Na denn!“ in der Zeitung gelesen, wie die Sonne gestern einen Berg Was für eine traurige Geschichte! Es wäre besser gewesen, Vor Freude verrückt, kamen die beiden flugs nach Hause, verbrannt hat, und wie sollte sie nicht den Glanz des Tep- wenn ich euch die Geschichte nicht erzählt hätte! Aber ohne auf dem ganz schön langen Weg ein böses Wort pichs, geschweige denn seine Farbe ausbleichen!“ … wenn euch nach Weinen zumute ist, weint doch ruhig!

Beton Spezialausgabe März 2011 27 Halil Matoshi Die Schön- heit der Traurig- keit (Reflexionen über den Krieg als Spiel)

Kujtim Paçaku Wir sind noch am Leben ohne Kugel im Kopf und Messer im Hals Aber weil Kugel und Messer durch die Luft zischen Die Eri- Zwei Be- Sind sie für uns bestimmt Von wem und mit welchem Recht?

Arta zittert nnerung trunkene „Mama, ich habe Angst zu schlafen, Kommen serbische Polizisten in der Nacht um uns zu … !? (Um uns zu schlachten wollte sie sagen Und sprach es nicht aus, vielleicht damit wir nicht traurig Sei vergessen Ich traf meinen Freund, werden) Erinnerung an den November! Er hatte eine Flasche Raki in der Tasche, Hausgebrannten Raki. Ich sagte nichts, ich wusste genau, Damals als die Not Refrain war Er war wieder betrunken. Dass sie kommen … Refrain des Sonntags. Hol ihn der Teufel … Ich wagte es nicht, ihr schlaf jetzt zu sagen Denn ich konnte sie nicht beschützen Ich habe mir die Füße platt Seine Mutter kann die ganze Nacht nicht schlafen, Aber ich schlug ihr vor, wir spielen, dass die Nacht Tag ist!!! Gestanden in der Schlange Sie verflucht ihn schweigend. Um für meine Kinder Den Stein und den Baum Dröhnen im Dunkel Eine kleine Tagesration zu bekommen. Sollen ihre Flüche treffen! „Sind das Kampfflugzeuge, Papa … !? sprang Arta auf Oh nein, mein Herz, der Wind stürmt Die Mehrheit hatte nichts, Sie weiß nicht, ob sie ihn mehr verflucht Und vom Unwetter sind die Lichter ausgegangen, Aber ich hatte weniger als sie. Wegen dem Raki jetzt kommen sie zurück … Oder wegen seiner Liebe zu einer Nicht-Romni. Genau in dem Moment richtet ein gepanzerter Bis nach Hause Polizeiwagen Wurde mir die Ration schwer Den Schmuck seiner Frau ein starkes Scheinwerferlicht Als ob ich drei Berge Und die alte Violine verkaufte er auf unser Fenster!? Auf den Schultern trüge Für die Nicht-Romni, Es blitzt, mein Herz, es wird regnen und du wirst wachsen!? Für meine drei Kinder. Für ihre seidene Haut Für den Duft ihrer Brüste. Ringsum überall Bedrohung Sei vergessen Für das Land und die Menschen zwischen mir und den Erinnerung an den November! Kindern Angst Dass sie mich mitnehmen, dass sie sie abschlachten Es war ein Kriegssonntag mit Regen. Meine Frau ist heldenhafter: Ihr gefällt mein Dialog mit den Kindern Erzählt Als wäre es ein Geheimcode – eine Schönheit der Traurigkeit mir „Fallen Bomben, Papa … !?“ Nein, meine Seele, es donnert … Blumen „Die Kugeln pfeifen …“ Nicht doch, der Regen singt und die Luft Gras wird wachsen für dich Erzählt mir, wie unser Fluss fließt; (Fast hätte ich gesagt, das Gras wird wachsen Wie der Ganges, Auf unseren Gräbern ohne Grabmal) Wie der Lumbardh? Vor dem heftigen Orkanwind und der Dunkelheit Erzählt mir, wie unser Lied gesungen wird. Hat sich im Märchen der Wolf versteckt In Blumen gepflückt Wie im Himalaja, Er traut sich nicht rauszukommen … In der ersten Maiwoche Wie unter dem Sharr. „Es ist Krieg, Papa, es ist kein Märchen … Sind viele Erinnerungen verborgen. Und warum eigentlich Krieg!?“ Erzählt mir über den Vollmond, Auch wenn sie vertrocknen, Unendliche Horizonte Sei lieb zu deinem Papa und schlaf jetzt … Bleibt ihr Duft in mir zurück, Millionenfarbige Kleider der Mädchen. Clinton hat gesagt, dass er ihn beendet Wie der Quittenduft im alten Schrank (Sagte ich Arta, als Clinton in Voice of Amerika sprach: Erzählt mir, wie unser Feuer angezündet wird, „Der Krieg wird intensiviert …“) Und wieder kommt der Mai mit Blumen Das Feuer des Frühlingsfestes Damit ich wieder Blumenkränze für dich binde Mit dem Lied „Sa o roma daje!“ Und wirklich! Wir haben erst den 6. Mai … Damit ich neue Träume binde Über uns beide … Oh, erzählt mir … (1999, während der Belagerung)

28 Beton Spezialausgabe März 2011 Arben Idrizi Szerbhorváth György Auf der Fahrt zur Mutter Der

Dieses Mal liest sich der Prevert flüssig Und das geklaute Bier rutscht den Hals hinunter wie in eine unermessliche Tiefe Und der Bus rast wahnsinnig wie ein Bote des Nichts Und die Menschen am Straßenrand Auf offenen oder schlampig umzäunten Friedhöfen gejagte Mit Stacheldraht Schmücken die Gräber am Vorabend dieses Festes Und das Mädchen neben mir ganz verlegen Hat den Eindruck dass ich weine Sie klaut mir mit den Augen Gedichte Sie klaut mir mit den Augen mich Und ich in dieser Rekonvaleszenz von der verlorenen Liebe Und ich in dieser Zeit da ich wieder auf die Beine komme Nach wiederholten Pleiten Weiß nicht was ich ihr klauen soll Jäger Aber da ich ein perfekter Verlierer bin Würde ich ihr mein Leben schenken - Wohl wissend, dass es ihr zu nichts nutze ist Und wieder die endlose Abfolge von Friedhöfen am Straßenrand Mit den Lebenden die die Gräber schmücken am Vor- D. ist ein junger mittelloser Ungar aus der Vojvodina, der feigen, barfuß nach Hause zu gehen, und zwar schnell. abend des Festes mit seinem Vater in einem ärmlichen Lehmhäuschen lebt. Mittags saß er schon wieder vor dem Laden und trank Und kriegszerstörte Häuser Sein ganzer Besitz besteht aus einem Computer, einem Bier – worauf D. lachend bemerkte: „Verdammt, die sind Wie Dinosaurierskelette Mofa und einem deutschen Soldatenhelm aus dem zwei- unverwüstlich. Ein betrunkener Ungar wär zum Eisklotz Und hohe Hotels und Tankstellen ten Weltkrieg. Den trägt er auf dem Weg zur Arbeit; er ist erstarrt, mir klappern die Zähne schon auf dem Mofa, und Dicht am Straßenrand errichtet nach dem Krieg Kellner in einer Dorfkneipe und Fan der Band Karpatia. bei dem – nichts.“ Dann drehte er die Musik auf und Kar- Geklauter Schweiß vergossenes Blut nationalistische Er hasst die Serben. Und die Zigeuner. Stolz erzählt er, patia dröhnte, D. sang leise mit: „Lasst die Namen hören Gehirnwäsche wie sie einen älteren Roma verprügelt haben, fast wär' / Wer waren die Henker '56 (...) Mörder und Verräter / Und Polizisten und Soldaten er abgekratzt. Der Zigeuner lümmelte ständig an einem dürfen nicht in heiliger Erde ruhen.“ Und Schnee und Eis auf der Erde Tischchen rum, vor einem sogenannten Zwanzigdinarfu- Wenn der Zigeuner stirbt, erklärte ich ihm, ist das Mord, In meiner Seele sel, meist stockbesoffen. Doch bevor er diesen Zustand und du bist Mittäter. Doch D. lächelte nur: „Ach, unsere erreichte, nervte er jeden, ihm noch eine Runde auszu- Polizisten hassen die noch mehr als wir. Die würden sich geben. Und am Tag zuvor hatte er Stipos Tüte geklaut. freuen, ein Problem weniger!“ Angeblich. Stipo ist ein junger Mann mit begrenzten Der unsterbliche Cioran schreibt, dass diejenigen, die viel mentalen Fähigkeiten, er hängt auch am Zwanzigdinar- erduldet haben, bis auf ein paar Ausnahmen arrogant fusel, für mehr reicht es nicht. Während er auf dem Klo werden: „Jedes erlittene Unglück schleudern sie dir ins war, verschwand seine Plastiktüte von der Theke, mit 200 Gesicht und geben keine Ruhe, bis du genauso leidest Gramm Lyoner und einem Pfund Brot drin, sein Abendes- wie sie.“ Der Gedemütigte glaubt, ein Anrecht auf alles sen. Auch der Zigeuner war verschwunden, für diesen Tag. zu haben, auch darauf, andere zu erniedrigen. Dabei hält Wie Stipe torkelte hungrig und außer sich nach Hause. er sich selbst nicht für unmenschlich: „Denn er kann sich Am nächsten Tag kam er wieder, der Verdächtige saß nicht vorstellen, dass auch du Würde hast. Er wurde ge- schon in der Ecke. Stipo schlug sofort zu, auch wenn er jagt: Er wurde zum Jäger. Er sieht sich auch jetzt, leider, immer ein schwächlicher Typ ist. D., der Kellner, schritt sofort ein: als Opfer. Und das macht ihn noch unerbittlicher.“ Keine Prügeleien in der Kneipe. Gemeinsam zerrten sie D. und seine jüngere Schwester hatten es nach dem Tod das Opfer nach draußen, warfen den Mann zu Boden und ihrer Mutter wirklich schwer; auch wenn sie sich irgend- traktierten ihn mit Tritten. Den blutigen, fast bewusst- wann aus dem Elend befreien, die Armut werden sie nie Für dieses Kind losen Körper schleiften sie in den Hof eines verlassenen los. Er war auch noch nie in Ungarn, hasst diese Ungarn. Dem der Krieg Hauses, ins Gebüsch, damit ihn die Polizei nicht vor der Das sind andere Ungarn als wir hier. Die Tiefe des Herzens verbrannte Kneipe findet, weil das zu Protokoll genommen würde, Als Teil einer Minderheit hasst er die Mehrheit, doch am Ließ das Vaterland sich nicht herab und ein Aktenvermerk ist nie gut. meisten hasst er andere Minderheiten. Über die kann Ihm die Hand zu reichen Der alte Zigeuner überlebte, am nächsten Morgen man auch noch lachen. Man sagt, das Lachen hat heilen- Es wird nie schleppte er sich irgendwie zur Straße. Serbische Po- de Wirkung. In diesem Fall stellt sich allerdings die Frage: Einen glücklichen Tag erleben lizisten lasen ihn auf und animierten ihn mit zwei Ohr- Was heilt es?

Beton Spezialausgabe März 2011 29 Shpëtim Selmani Das Bier, die Verzweiflung, die HofFnung

Geh und sag dem Mädchen da am Ende dieses Raumes Geh und sag dem Mädchen das singt hast du einen Dollar für ein Bier Bitte die Nächte sind eines Tages zu Ende ich bin verzweifelt und meine Taschen sind leer und du wirst ein Teil dieser zerbrochenen Geschichte

Geh und sag dem einsamen Mädchen Geh und sag dem Mädchen das an schöne Dinge glaubt der Junge mit den kaputten Haaren will dieses Land in dem wir leben dich heiraten wird bald zerstört sein

Geh und sag dem weinenden Mädchen Geh und sag dass ich arm bin du warst noch nie so schön und wenn du noch mehr aber die Menschen schwören auf meine Worte weinst und sag ihr dass es nicht zu wenig sei kannst du hässlich werden Geh und sag dass ich mit ihr Geh und sag dem betrunkenen Mädchen ein paar gesunde Kinder haben will die dein zügelloses Tanzen ist für mich außerhalb der Regeln des Schwanzes stehen werden Ausdruck der Liebe zum Leben Oh, geh und sag, dass alles wahnsinnig Geh und sag dem Mädchen das alles hasst frustrierend ist komm an mein Bett damit ich ein Teil deines Hasses bin Geh und sag dem Mädchen das mich nicht anschaut es ist Zeit an Gott zu glauben Oh geh und sag dass alles wahnsinnig und ein Gebet zu sprechen frustrierend ist Geh und sag dem Mädchen das mich nicht beachtet Geh und sag dem Mädchen das sich umbringen will wir werden am besten ficken weil jemand liebt dich sehr mich morgens meine Seele in den Arsch getreten hat bringt dich noch einmal um mit seinem glücklichen Leben Geh und sag dass ich es gewöhnt bin zu lieben Geh und sag dem Mädchen das nicht spricht und dass mit uns beiden das Morgen dein Kummer ist nur ein kleiner Teil vor Lust kaputt geht meiner wachsenden Traurigkeit Geh und sag dem Mädchen die Zeit ist heimlich Geh und sag dem Mädchen das schön schreibt scharf und sie ersticht dich deine Poesie wird nie vollkommener sein können wenn du sie nicht lebst als du Geh und sag dem Mädchen das weggeht Geh und sag dem Mädchen mit dem schönen Mund wir haben nur noch eine Chance deine Augen erzählen alles, deine Hände sind weich bei Gott sie soll zurück kommen und der Arsch göttlich Geh und sag meine Erinnerungsfähigkeit Geh und sag dem Mädchen dass ich es unabsichtlich und die Gefühle für die Vergangenheit verletzt habe haben meine Hoden ausgetrocknet denn ich tue die unbegreiflichsten Dinge ohne es zu wissen Oh geh und sag alles ist wahnsinnig frustrierend und wir beide können diese ganze verfickte Oh geh und sag dass alles wahnsinnig und dreckige frustrierend ist Geschichte verändern

Geh und sag dem Mädchen das ein Buch Oh geh und sag ihr sie soll ein Teil meines Biers mit festem Einband liest sag ihr meiner Verzweiflung und meiner Hoffnung sein wir erkennen keine Gesetze keinen Staat und keine Regierung an

30 Beton Spezialausgabe März 2011 Xhevdet Bajraj Arben Idrizi Im Wal-Mart Unter den Hingerichteten war auch ein Geisteskranker

Ich weiß nicht wie ihr euch dort fühlt Unter den Hingerichteten war auch ein Geisteskranker eine angenehme Reise Aber mich beißen hier die Tage mit den Zähnen Sagten die Schergen einer Bestie unter dem Arm hielt er einen Hahn und am rechten Daumen Ist das klar Und es bleibt mir nichts anderes übrig als auch sie führte er ein Kind Alle waren Kinder Frauen und Alte zu beißen und mit dem Strick der um den Bauch gebunden war zog zermürbt von Hunger und Angst er einen Wagen mit Gummirädern Der Hahn Ich werfe die Zigarette weg überquere vorsichtig in dem eine blinde Alte saß krähte die Straße Die Maisonne Der Hahn Damit mir kein Auto die frisch gekauften Schuhe auszieht brannte pickte die Patronenhülsen auf Ich gehe in den Supermarkt Wal-Mart Die serbischen Polizisten hatten auf einer großen Wiese Der Hahn Verschiedene Lammfleischstücke Tausende berauschte sich an dem Gedanken, dass er unsterblich ist Verschiedene Fischarten vertriebene albanische Zivilisten zusammengetrieben Dann Hühnerflügel, Hühnerbrust, Hühnerrücken, sogar und Militärlaster und Busse standen bereit, um einen Teil als das Massaker beendet war, nahm ein Polizist ganze Hühner von ihnen den Hahn und steckte ihn Ochsenhoden, Kalbshirne, Leber, aus dem Land abzuschieben in einen umgedrehten Eimer und stach ein Loch hinein, nur Schweinshaxen, Hasen, Rebhühner … ein anderer Teil musste zu Fuß zur Grenze der Kopf des Hahns war in der Sonne zu sehen Alles abgewogen gut verpackt und den restlichen Teil erwartete ein anderes Schicksal Wir wollen Spaß Und mit dem Preis in einer Ecke Der Offizier Sagte er, ist dir das klar? Um uns zu mahnen, ob wir sie erstehen können trat Da an den Geisteskranken heran und richtete die zielten sie auf ihn und wetteten um den Haufen an Beute Ich kaufe ein Brot Maschinenpistole auf ihn Aber Sechs Bier und drei Zigarettenschachteln und Ich bin geisteskrank, sagte er, töte mich nicht keiner gewann und der Hahn krähte an der Himmelskuppel gehe nach Hause Die Gewehrsalve halbierte seinen Körper Bis Um zu essen Danach richtete ein anderer Polizist die Alte und einer aus dem Panzer ein Geschoß abfeuerte Brot und Salz und ein wenig mich selbst das Kind hin Federn Wir wollen flogen hoch hoch hoch ----wer weiß wo sie niederfallen

Halil Matoshi Die evidenten Peinigungen und Schmerzen (Reflexion während meiner Haft im Lager „Zabela“, Požarevac, Serbien 1999)

Vor dem Spiel der Linie dem Wort waren die Träne und Ich habe 1.667 Schläge bekommen Ich wurde nicht am Bart gezogen weil ich keinen hatte später Schmerzen Einhundert und zehn Ohrfeigen (Jesus 38 Mal) Schmerzen der Seele Einhundert und sieben Faustschläge in den Nacken und Und ich hatte keine 303 Wunden von der Dornenkrone 43 in die Brust – die er trug Es gibt Schmerzen im Kopf im Körper und in der Seele Auf den Kopf hat man mich 85 Mal geschlagen Ich rettete meinen Kopf – und deshalb rettete ich auch Von den Schlägen der verhassten Schergen und von den In den Bauch 38 und in die Weichen 38 Mal die 97 Tausend Tropfen meines Blutes Bissen der unerhörten Ratten Auf die Hände 40 (Jesus vergoss genau 97.307) (Es gibt zwischendurch auch Schmerzen aus Nostalgie) Auf die Fußsohlen 32 Auf den Mund hat man mir 30 Mal geschlagen Weder Gnade noch Geschenk wurde mir zuteil Die häufigste Frage die mir nach meiner Rückkehr aus Und ich habe die Splitter von 7 zertrümmerten Zähnen Wenigstens Jesus erlebte für all diese Qualen einen der Verschleppung gestellt wurde ausgespuckt Gnadenakt War: wie oft hat man dich geschlagen!? Etwas was Jesus nicht widerfahren ist Von der Heiligen Veronika (Der Zahnschmerz ist die Mutter aller Schmerzen!) Die ihm das verschwitzte Gesicht mit einem Tuch säu- So oft wie Jesus auf dem gesegneten Berg wollte ich berte sagen Ich wurde 32 Mal bespuckt 13 Mal wurde ich gestoßen Wo in Blut sein Gesicht abgebildet blieb Aber ich blieb stumm Und zu Boden gestreckt – Das Gesegnete … Um keine Ähnlichkeit aufkommen zu lassen An den Haaren wurde ich 30 Mal geschleift Er hinterließ ein Zeichen Kein Sakrileg zu begehen Ich betete für euch 72.000 Mal (Jesus nur 900) (28. Juli 2008) Und ich musste den Meinen die evidenten Peinigungen Ich blieb 21 Tage ohne Essen – ohne Trinken 13 aufzählen (über Christus gibt es keine Notizen) Unter denen ich 62.000 Tränen vergoss so viele wie Jesus für die Schwestern Den Tod sah ich 19 Mal mit eigenen Augen (und nur etwa hundert Tropfen Blut) Vom Gericht zur Polizei machte ich 320 Schritte wie Gottes Sohn auf den Kalvarienberg (Ich trug das Kreuz meiner Schuld – ich habe von Frei- heit geträumt)

Beton Spezialausgabe März 2011 31 Unerwünscht in Serbien und iM Kosovo

Steckbrief: Beton

Beton - kultur-propagandistisches Paket. Das Feuilleton Produktion veröffentlicht wurde. Für die Leipziger Layout und Design für Literatur, Kultur und Gesellschaft auf vier Seiten wur- Buchmesse 2011 erscheint nun die zweite Nummer des METAKLINIKA, Beograd de als eine unabhängige Beilage der Belgrader Tageszei- deutschsprachigen Beton (01), in der ein Projekt vorge- tung Danas (Heute) im Juni 2006 gegründet. Zunächst stellt wird, das Beton gemeinsam mit der Zeitschrift MM Font Mechanical: erschien sie an jedem dritten Dienstag im Monat; seit aus Prishtina realisiert hat. Im Rahmen dieses Projekts Marko Milanković November 2006 kommt sie in zweiwöchigem Rhythmus wurden mit Unterstützung von TRADUKI zwei Antho- heraus. Die Beilage widmet sich der Literaturkritik, der logien veröffentlicht: eine Auswahl der zeitgenössischen Illustratoren und Fotografen Hinterfragung der Beziehungen zwischen der nationalisti- serbischen Literatur in albanischer Übersetzung und vice Lazar Bodroža - 2, 3, 18-19, 20-21, 26 schen Ideologie und Kultur sowie der Kulturpolitik. Beton versa eine Auswahl der zeitgenössischen kosovarischen Dušan Đorđević - 28 hat in der Rubrik „Boulevard der Sterne“ als erste eine Literatur in serbischer Übersetzung. In dieser deutsch- Aleksa Jovanović - 22 systematische kritische Erforschung der Biographien von sprachigen Ausgabe Beton (01) wird durch eine Auswahl Nikola Korać - 6, 14, 23, 32 Intellektuellen begonnen, die für den Krieg und den Zer- von Texten aus den beiden Anthologien Einblick in diese Danilo Milošev Wostok - 10, 13, 29 fall Jugoslawiens verantwortlich sind. In Beton wird unter Anthologien gewährt. Aleksandar Opačić - 4, 11, 30 anderem eine scharfe politische Satire gepflegt. Die He- Danijel Savović - 17 rausgeber und Gründer von Beton sind Miloš Živanović, Impressum Mr. Stocca - 16 Saša Ilić, Tomislav Marković und Saša Ćirić. Die Redaktion Monika Lang - 25 von Beton wurde 2007 mit dem Preis „Dušan Bogavac“ Diese Spezialnummer von Beton stellt eine Auswahl lite- Ognjen Lopušina - 12 ausgezeichnet. Diesen Preis vergibt die Vereinigung der rarischer Texte aus den Anthologien der neueren Literatur Željko Lončar - 9 unabhängigen Journalisten Serbiens für journalistische Serbiens und Kosovos (Aus Belgrad, mit Liebe und Aus Ethik und Mut. Eine Auswahl aus Beton erschien früher Prishtina, mit Liebe) dar, die übersetzt und veröffentlicht regelmäßig in der Zeitung Feral Tribune und heute er- wurden dank der Unterstützung des Netzwerks TRADU- scheint sie in der Zeitung Zarez (beide aus Kroatien). Be- KI. Die Anthologien wurden von den Redaktionen Beton ton pflegt eine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit un- aus Belgrad und der Zeitschrift MM aus Prishtina zusam- abhängigen Medien und Vereinen in der Region (Booksa mengestellt. – Zagreb/Kroatien, Plima – Ulcinj/Montenegro, Žurnal – Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch Sarajevo/Bosnien und Herzegowina, Qendra Multimedia Übersetzerinnen TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundes- – Priština/Kosovo, Ex-Symposion – Budapest/Ungarn). Zuzana Finger (aus dem Albanischen), Blanka Stipetić ministerium für europäische und internationale Angele- und Margit Jugo (aus dem Serbischen), Éva Zádor (aus genheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt Für die Internationale Buchmesse in Leipzig 2010 hat dem Ungarischen) der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kultur- Beton mit Unterstützung des Netzwerks TRADUKI eine stiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe- spezielle Ausgabe in deutscher Sprache herausgege- Lektorat und Korrektur Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die S. Fi- ben (Stunde Null), in der eine Auswahl der bisherigen Benjamin Langer scher Stiftung angehören.

32 Beton Spezialausgabe März 2011