70. Jahrgang, 38/2020, 14. September 2020

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Parlamentarismus

Claudia C. Gatzka Joachim Behnke DAS PARLAMENT ALS : UMSTRITTENER ORT ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN PERSPEKTIVEN FÜR DIE DEMOKRATIEGESCHICHTE WAHLRECHTSREFORM

Stefan Marschall Benjamin Höhne DER DEUTSCHE FRAUEN IN PARTEIEN PARLAMENTARISMUS UND UND PARLAMENTEN DIE CORONA-PANDEMIE Frank Decker Suzanne S. Schüttemeyer REGIERUNGSWAHL DER 19. BUNDESTAG: ALS GEHEIMSACHE? SCHWIERIGE LERNPROZESSE

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Parlamentarismus APuZ 38/2020

CLAUDIA C. GATZKA JOACHIM BEHNKE DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT BUNDESTAG: ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE VORSCHLÄGE UND PERSPEKTIVEN FÜR DIE Die deutsche Demokratiegeschichte kann das WAHLRECHTSREFORM Parlament nur als umstrittene, aber durchaus Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems lernfähige Institution thematisieren. An den hat dazu geführt, dass der Bundestag durch Parlamentarismus als Errungenschaft zu erin- Überhang- und Ausgleichsmandate stark nern, heißt zudem, an Offenheit für Pluralität gewachsen ist. Sämtliche Wahlrechtsreformvor- und politische Farbenwechsel zu erinnern. schläge sind bisher gescheitert. Auch der jüngste Seite 04–10 Anlauf verspricht keine Besserung. Seite 24–31

STEFAN MARSCHALL PARLAMENTE IN DER KRISE? BENJAMIN HÖHNE DER DEUTSCHE PARLAMENTARISMUS FRAUEN IN PARTEIEN UND PARLAMENTEN. UND DIE CORONA-PANDEMIE INNERPARTEILICHE HÜRDEN UND ANSÄTZE In der Frühphase der Corona-Krise war oft FÜR GLEICHSTELLUNGSPOLITIK von einer „Stunde der Exekutive“ die Rede. Frauen sind im Deutschen Bundestag chronisch Tatsächlich ist die Pandemie für Parlamente ein unterrepräsentiert. Die Gründe dafür liegen erheblicher Stresstest. Es zeigen sich aber nicht vor allem in den Selektionsmechanismen der nur Probleme, sondern auch Lösungsansätze, die einzelnen Parteien. Dementsprechend reicht es über die Zeit der Pandemie hinausweisen. nicht aus, mit Paritätsgesetzen nur Symptome Seite 11–17 zu behandeln. Seite 32–40

SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER DER 19. DEUTSCHE BUNDESTAG: FRANK DECKER SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZUR REGIERUNGSWAHL ALS GEHEIMSACHE? SICHERUNG PARLAMENTARISCHER ZUR AKTUALITÄT EINER ALTEN DEBATTE ARBEITSFÄHIGKEIT Dramen wie jenes um die Ministerpräsidenten- Für das Funktionieren parlamentarischer wahl in Thüringen im Februar 2020 ließen sich Verfahren braucht es einen Grundkonsens aller vermeiden, wenn Regierungschefs in deutschen Fraktionen über Prozesse und Gepflogenheiten. Parlamenten nicht geheim, sondern offen gewählt Dieser ist in der laufenden Wahlperiode jedoch würden. Über eine Änderung diskutierten unter Druck geraten – insbesondere durch die Politologen schon in den 1970er Jahren. erstmals im Bundestag vertretene AfD. Seite 41–46 Seite 18–23 EDITORIAL

Parlamente sind die Herzstücke unserer Demokratie. Ihre Funktionsfähigkeit lebt vom offenen Austausch der politischen Meinungen, von gründlichen fachlichen Beratungen sowie von geordneten und transparenten Verfahren zur demokratischen Entscheidungsfindung. Zugleich sind sie darauf angewiesen, dass es unter den Abgeordneten bei allen Unterschieden in der politischen Ausrichtung eine grundsätzliche Bereitschaft zur konstruktiven parlamenta- rischen Zusammenarbeit gibt. Die aktuelle Wahlperiode des Deutschen Bun- destages zeigt indes, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern vielmehr Idealbedingungen. So hat die erstmalige Präsenz der AfD nicht nur merklichen Einfluss auf die parlamentarische Debattenkultur, sondern sie begrenzt auch die Möglichkeiten zur interfraktionellen Kooperation. Seit Mitte März 2020 erschwert zudem die Corona-Pandemie die parlamentarische Arbeit. Zum einen müssen die Abgeord- neten Abstand voneinander halten, was Plenardebatten, Ausschusssitzungen und informelle Zusammenkünfte beeinträchtigt. Zum anderen schlug insbesondere zu Beginn der Pandemie die „Stunde der Exekutive“: Die Regierung wurde durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit umfassenden Kompetenzen ausgestat- tet, und das gesundheitspolitische Erfordernis, rasch zu handeln, zwang die Abge- ordneten, binnen kürzester Zeit über weitreichende Maßnahmen zu entscheiden, ohne ausführlich über Für und Wider debattiert zu haben. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Parlamente hängen nicht zuletzt von den Regeln ab, nach denen sie gewählt werden. Nach rapiden Wachstumsschü- ben des Bundestages durch den Anstieg von Überhang- und Ausgleichsmanda- ten, ohne dass sich die Parteien auf eine grundlegende Wahlrechtsreform einigen konnten, geht die Debatte darüber nun in eine weitere Runde. Zwar haben sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD Ende August 2020 für die nächste Bundestagswahl 2021 auf eine Übergangslösung verständigt. Ob sich damit aber tatsächlich eine weitere Vergrößerung des Parlaments verhindern lässt, liegt allein in der Hand der Wählerinnen und Wähler.

Johannes Piepenbrink

03 APuZ 38/2020

ESSAY DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE Claudia C. Gatzka

Die Debatte um einen Wandel bundesrepubli- publik zusammenzudenken. Nationale Symbolik kanischer Gedächtniskultur ist in vollem Gange, blieb in der Weimarer Republik als Gegensym- und es war der Bundespräsident, der sie mit ei- bolik zur Demokratie vital und abrufbar, häufig nem Plädoyer für die Pflege demokratischer Er- verbunden mit starken Emotionen jener, die sich innerungsorte ins Rollen brachte. Mehr als ein „national“ nannten und dabei eben meist keine Jahr vor den Denkmalstürzen von 2020 wunder- Demokraten sein wollten. Diese wiederum rekla- te sich Frank-Walter Steinmeier in der „Zeit“, mierten eher ein rationalistisches, nüchternes Po- dass der Bund dem Hamburger Bismarck-Denk- litikverständnis für sich, das wenig Platz für Pa- mal mehrere Millionen Euro Unterstützung an- thos ließ, auch nicht im Namen der Freiheit. Die gedeihen lasse, der Frankfurter Paulskirche als Weimarer Republik beging zwar am 11. August historischem Ort des ersten gesamtdeutschen den Verfassungstag, doch sie produzierte keine Parlaments hingegen keinen Cent. Dabei könn- schillernde Erinnerungskultur, die die demokrati- ten, so der Bundespräsident, gerade die Revolu- schen Traditionen Deutschlands ins 19. Jahrhun- tion von 1848/49 oder der „Weimarer Aufbruch“ dert zurückverfolgt hätte. Auch für viele Demo- von 1918/19 ebenso wie die Jahre 1949 und 1989 kraten war die schwarz-rot-goldene Reichsflagge Demokratinnen und Demokraten Mut und An- der jungen Republik nicht mehr als ein Stück sporn vermitteln. Die Freiheitskämpfe und Er- Stoff, ganz im Gegensatz zur sakralen Qualität, rungenschaften, Heldinnen und Helden sowie die Schwarz-Weiß-Rot für die Weimarer Rech- die zahlreichen kleineren und größeren Orte der ten behielt. 02 Der Schatten der Niederlage und Demokratiegeschichte gelte es künftig sehr viel einer durch Krieg und Revolution gespaltenen stärker in der offiziellen Gedächtnispolitik zu Arbeiterbewegung ließ keine republikanische verankern. Bei aller notwendigen Erinnerung an Aufbruchstimmung aufkommen. Diktatur und Verfolgung, Krieg und Vernich- Nach 1945 änderte sich das nicht. Die junge tung – auch die Demokratie sei deutsch, und wo- Bundesrepublik hatte zwar einige Vernunftre- rauf Steinmeier damit letztlich abzielt, ist die De- publikanerinnen und -republikaner mehr, aber mokratie zum Telos der Nationalgeschichte zu keine positiv besetzten Erinnerungsorte der erheben. 01 Demokratie, galt Weimar doch, und mit ihm Vorstöße wie diese haben insofern ihre Be- Schwarz-Rot-Gold, als Schreckbild einer über- rechtigung, als gerade die deutschen Großstäd- forderten und ungeliebten Republik. Prägend te tatsächlich nicht zu Leuchttürmen demokrati- wurde für das Bonner Selbstverständnis gerade, scher Erinnerungslandschaften aufgestiegen sind, sich von der ersten deutschen Demokratie abzu- obwohl gerade dort deutsche Demokratiege- grenzen. 03 Der Entfaltungsspielraum für eine na- schichte gemacht wurde. Überhaupt hat sich die tionale demokratische Symbolik war durch die liberale Demokratie in Deutschland mit nationa- deutsche Teilung zusätzlich begrenzt. Im Grun- ler Symbolpolitik schon immer vergleichswei- de kann erst 1990 für die Symbiose von demo- se zurückgehalten. Anders als es die demokrati- kratischem und nationalem Selbstverständnis schen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts stehen – allerdings mit der Einschränkung, dass nahelegen, war es in der deutschen Geschichte dem ostdeutschen Teil der vereinten Nation im- des 20. Jahrhunderts nie leicht, Nation und Re- mer wieder ein eklatantes Demokratiedefizit at-

04 Parlamentarismus APuZ testiert wird. Was 30 Jahre nach der Vereinigung schen Antiparlamentarismus oder parlamentari- für gemeinsame, nationale demokratische Erinne- schen Funktionsdefiziten. Vielmehr handelt es rungsorte taugt, ist noch immer eine offene Frage. sich bei Antiparlamentarismus und Parlamenta- Ein Weg wäre, die gemeinsamen Demokratieer- rismuskritik um Phänomene, die so alt sind wie fahrungen vor 1949 ins Gedächtnis zu rufen, die der Parlamentarismus selbst und namentlich in auch die getrennten Wege im Kalten Krieg ideen- Frankreich mit seiner stolzen republikanischen geschichtlich grundierten. Tradition tief verwurzelt sind. Allerdings exis- Zur Erörterung einer demokratischen Ge- tieren national spezifische Kulturen der Parla- dächtnispolitik gehört die Frage, wie diese libe- mentskritik wie des Parlamentarismus selbst, ral-demokratisch ausgestaltet werden kann. In die hier in ihrer deutschen Spielart zur Sprache letzter Konsequenz bedeutete dies, nicht nur he- kommen. 06 roische Befreiungs- und Erfolgsgeschichten zu Die Relevanz des Parlaments für die Demo- erzählen, sondern das wiederkehrend Problema- kratiegeschichte ergibt sich aus dem Siegeszug, tische und Fragile, ja das Umstrittene an der De- den das Modell der repräsentativen Demokratie mokratie selbst zum Teil der Erinnerung zu ma- im ausgehenden 18. Jahrhundert antrat, obwohl chen. 04 Nur so kann die liberale Demokratie auch es sich gegen monarchistische und konservati- offensiv auf die vermehrte Kritik reagieren, die ve Kräfte zu behaupten hatte, die Staatsautori- ihr von rechts wie von links begegnet, und die tät über Volkssouveränität stellten. Doch worin Enttäuschungen verstehen, die sie immer wieder genau besteht sein demokratisches Prinzip? Der produziert. Wohl keine Institution macht diese Parlamentarismus beruht auf der Idee, dass der Probleme sichtbarer als das Parlament und seine Souverän durch ein gewähltes Organ, das eini- umstrittene Geschichte. ge Hundert Deputierte zählt, vertreten werden Im Folgenden werde ich diskutieren, welche könne. Maßgeblich für seine Legitimität wur- Herausforderungen sich mit dem Parlament als de die Fiktion der „virtuellen“ oder „abstrakten Erinnerungsort der deutschen Demokratie verbin- Repräsentation“, wonach die Abgeordneten im den. Dazu richtet sich der Blick nicht so sehr auf Parlament für das gesamte Staatsvolk sprechen seine Funktionsweisen und seine Stellung im poli- können, nicht bloß für ihren Wahlkreis oder ihre tischen System, 05 sondern auf die Zuschreibungen soziale Klientel. Ihr Mandat ist formal also per- und Bedeutungen, die mit dem Parlamentarismus sonell ungebunden, verantwortlich sind sie in der in der deutschen Geschichte verbunden waren. Regel dem Gemeinwohl, der Nation oder ledig- lich ihrem Gewissen. PARLAMENT UND DEMOKRATIE – Es wäre nun aber historisch verfehlt, den Par- EINE NOTWENDIGE lamentarismus für die Demokratie schlechthin UNTERSCHEIDUNG zu halten, auch wenn selbst Historikerinnen und Historiker mittlerweile „Demokratie“ und „par- Wenn die deutsche Erinnerungskultur bislang kein lamentarische Demokratie“ häufig synonym ver- Hort parlamentarischer Sternstunden ist, liegt wenden. Zwar kam keine Demokratietheorie seit das nicht etwa an einem ausgewiesenen deut- der Etablierung des britischen Parlamentarismus im 17. Jahrhundert an einer Positionierung ge-

01 Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Deutsch und frei, 13. 3. 2019, genüber dem Prinzip der Repräsentation (anstatt www.zeit.de/2019/12/demokratie-nationalismus-tradition-ge- der unmittelbaren Artikulation) des Volkswillens denktage-geschichtsunterricht. Für geschichtswissenschaftliche vorbei. Doch aus der Abgrenzung gegen den Par- Wortmeldungen zur aktuellen Debatte siehe APuZ 33–34/2020. lamentarismus wuchsen alternative Demokra- 02 Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weima- tiemodelle, die für Zeitgenossinnen und Zeitge- rer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002, S. 63 f. nossen im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder 03 Vgl. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der 06 Vgl. Remieg Aerts, An Unrewarding Task. Criticism of frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009. Parliament and Anti-Parliamentarianism: A Historical Review, in: 04 In diesem Sinne jüngst Ute Daniel, Postheroische Demokra- Marie-Luise Recker/Andreas Schulz (Hrsg.), Parlamentarismus- tiegeschichte, Hamburg 2020. kritik und Antiparlamentarismus in Europa, Düsseldorf 2018, 05 Vgl. Marie-Luise Recker (Hrsg.), Parlamentarismus in S. 25–41; Jean Garrigues, Criticism on Parliamentarianism and Europa. Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, Anti-Parliamentarianism in Europe 19th–21st Century, in: ebd., München 2004. S. 43–57.

05 APuZ 38/2020 denkbare Optionen waren. Die beiden idealtypi- sowie Soldaten gab es 1918 gute Gründe, nach schen Alternativen, die seit der Amerikanischen über vier Jahren eines zerstörerischen Krieges, und der Französischen Revolution im Raum dessen Finanzierung der Reichstag auch mit den standen, waren zum einen die direkte Demokra- Stimmen der Sozialdemokratie fortwährend bil- tie, in der sich der Rousseausche Volkswille be- ligte, in den Räten größere – soziale wie politi- ständig oder spontan, in jedem Falle unmittelbar sche – Teilhabechancen zu erblicken. In der ge- artikuliert, ohne durch Repräsentativorgane „ver- spaltenen Arbeiterbewegung war 1918 mit Blick fälscht“ und aufgespalten zu werden. Zum ande- auf das Agieren führender Sozialdemokraten die ren ließ sich mit Rekurs auf Napoleon eine plebis- Rede von der „parlamentarischen Komödie“, zitäre Demokratie entwerfen, die auf eine starke, vom „höfisch gewordenen Regierungssozialis- zentrale Exekutive oder Einheitspartei und auf mus“ und vom „Ausschluß des Volkes“ im Par- mehr oder minder regelmäßige Akklamationen lament. 07 Bedenkt man noch, dass die Parlamen- des Volkes setzte. tarisierung des Kaiserreichs keine Errungenschaft Während plebiszitäre Demokratieansätze vor der Revolution, sondern zuvor von oben einge- allem, aber nicht nur auf der politischen Rech- leitet worden war, so kann der November 1918 in ten Anhänger fanden, neigte die politische Lin- Deutschland nur bedingt als Erinnerungsort der ke zu radikaldemokratischen Ansätzen. Das parlamentarischen Demokratie herhalten – eher bereits von den kleinbürgerlichen Sansculot- handelte es sich um einen Aufstand der Kriegs- ten während der Französischen Revolution ar- müden, die unterschiedliche demokratische Zu- tikulierte Misstrauen gegenüber dem Parlament künfte für denkbar hielten. 08 als Institution der Bourgeoisie wurde von Karl Das Schreckbild der bolschewikischen Revo- Marx und Friedrich Engels aufgegriffen, blieb lution und die Drohung des Bürgerkriegs, aber aber kein deutsches Spezifikum. Ihre Beobach- auch ein unhinterfragter Parlamentarismus ver- tungen Frankreichs und Englands um die Mitte anlassten die führenden Vertreter der Mehrheits- des 19. Jahrhunderts führten sie zu dem Schluss, sozialdemokratie, die Geschicke der Revolution dass der Parlamentarismus lediglich Instrument aus den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der Klassenherrschaft sei und proletarische In- in die Hände der Nationalversammlung zu legen. teressen dort keine Vertretung fänden. Ein idea- In der Hoffnung, das Mehrheitsprinzip werde les Gegenmodell sah Marx in der Räteverfassung die Revolution zur Vollendung führen, optier- der Pariser Kommune von 1871. Auch hier wur- ten auch weite Teile der von der SPD abgespal- de gewählt, allerdings in sehr viel direkterer und tenen USPD (Unabhängige Sozialdemokratische spontanerer Weise: Das Volk in den Pariser Be- Partei) dafür; nur eine kleine Fraktion um Rosa zirken bestimmte Stadträte, die mehrheitlich aus Luxemburg und Karl Liebknecht sah im Arbei- Arbeitern oder Arbeitervertretern bestanden, die terparlament das einzig logische politische Organ in ihrer legislativen wie exekutiven Tätigkeit an einer proletarischen Revolution und im Bürger- die Instruktionen der Wähler gebunden und je- krieg nach bolschewikischem Muster das ultima- derzeit absetzbar waren. tive Mittel des Klassenkampfs. Der Parlamentarismus der Sozialdemokra- AUSSÖHNUNG tie war Produkt einer über Jahrzehnte gewachse- MIT DEM REPRÄSENTATIVEN nen Aussöhnung mit dem repräsentativen Prin- PRINZIP zip. Bereits im Norddeutschen Bund hatte das allgemeine Wahlrecht seit 1867 eloquenten Ar- Die mit der Kommune verbundene Rätedemo- beiterführern wie August Bebel und Wilhelm kratie mit ihrem Akzent auf subnationale po- Liebknecht erlaubt, das Parlament als Agitations- litische Handlungsebenen, aktive Partizipation mittel zu nutzen, obwohl Liebknecht den Reichs- der Vielen an Legislative wie Exekutive und un- mittelbare Feedbackschleifen zwischen Reprä- sentierenden und Repräsentierten blieb in der 07 Das alte Spiel, der alte Jammer, in: Mitteilungs-Blatt des politischen Linken und namentlich unter west- Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, 14. 7. 1918. europäischen Kommunisten des 20. Jahrhunderts 08 Vgl. Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche vital – auch in der deutschen Novemberrevolu- Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, tion. Denn für viele Arbeiterinnen und Arbeiter Berlin 2017.

06 Parlamentarismus APuZ tag als bloße „Komödie“ bezeichnete. 09 Gerade aber auch zum Rücktritt der Regierung Bernhard für die internationale Ausrichtung der Arbeiter- von Bülows führte. All dies zeugt von der am- bewegung war das parlamentarische Sprechen bivalenten Machtposition des Parlaments in der jedoch von großem Nutzen, konnte die Bühne konstitutionellen Monarchie. eines überregionalen Parlaments doch weitaus breiter ausstrahlen als die kleinteilige Propagan- INTEGRATION UND da in Versammlungen und Presse. Die Agitation DELEGITIMIERUNG im Parlament wurde im 1871 gegründeten Kaiser- reich mit seinem allgemeinen Männerwahlrecht Wie das Beispiel der Sozialdemokratie zeigt, wa- und erst recht zur Zeit des Sozialistengesetzes ren Parlamente Inklusionsmaschinerien. So ist (1878–1890) zur wichtigsten Propagandapraxis es für ihre Geschichte charakteristisch, dass ihre der Sozialdemokratie, die sich in Wählerstimmen Gegner in aller Regel mit im Hause saßen. Das auszahlte. In Verbindung mit der Entfaltung des galt für die Monarchisten in der Frankfurter Nati- Sozialstaats gelang es ihr, durch die Reichstagsde- onalversammlung, für die Nationalkonservativen batten ihre sozialpolitische Agenda zum nationa- im Kaiserreich und für die DNVP (Deutschnatio- len Gesprächsthema zu machen. nale Volkspartei), Teile der nationalliberalen DVP Im Gegensatz zur älteren historischen For- (Deutsche Volkspartei) sowie KPD und NSDAP schung, die die schwache Position des Reichs- in der Weimarer Republik. Die Parlamentsarbeit tags im konstitutionellen Gefüge des Kaiserreichs verwandelte sie nicht immer in glühende Anhän- unterstrich, wird in neueren Studien unter Be- gerinnen und Anhänger des Parlamentarismus, rücksichtigung des Öffentlichkeitsaspekts parla- doch sie führte ihre Fundamentalablehnung ad mentarischer Arbeit nicht nur die wachsende Be- absurdum. Denn wer antiparlamentarisch sprach deutung des Reichstags betont, sondern auch die und parlamentarisch handelte, verfing sich min- These eines weithin geteilten Antiparlamentaris- destens in einem performativen Widerspruch. mus im Kaiserreich widerlegt. Die Entstehung Die ältere Forschung hat den Antiparlamen- der kommerzialisierten Massenpresse und das tarismus im Reichstag häufig als Faktor seiner dualistische Gepräge der konstitutionellen Mon- Schwäche und seines Unvermögens zu rationa- archie waren wichtige Faktoren der wachsenden ler Kompromissfindung gedeutet; in Abgren- Popularität des Reichstags: Da er Gesetzen und zung dazu betont die neuere Forschung die Inte- Haushalt zustimmen musste, die Regierung ihm grations- und Kohäsionskraft parlamentarischer jedoch nicht verantwortlich war, konnte er sich Regeln, Verfahren und Umgangsweisen, denen mit seinen beiden stärksten Fraktionen, dem Zen- sich auch antiparlamentarische Kräfte kaum ent- trum und der Sozialdemokratie, als Gesetzgeber, ziehen konnten: Wer die Geschäftsordnung be- aber auch als Regierungsopposition in Szene set- achtete und die Redezeiten einhielt, wer in Aus- zen, was die Massenpresse dankbar aufnahm und schüssen mit Kollegen zusammenarbeitete und verstärkte. 10 Welche Debatten in den Augen des sich an Abstimmungen beteiligte, konnte schlecht Publikums als „Sternstunden“ taugten, variierte behaupten, nicht zum Funktionieren des Parla- freilich je nach politischer Haltung. Aufsehener- mentarismus beizutragen, und die Öffentlichkeit regend waren etwa die Reichstagsdebatten um die beobachtete dies aufmerksam. 11 Die Fundamen- Kolonialskandale und der Streit um das Budget talopposition der wachsenden NSDAP-Frakti- für die militärischen Interventionen in den Kolo- on äußerte sich dann auch in demonstrativen Re- nien 1906/07, der zur Auflösung des Reichstags, gelbrüchen und einer Sprache, die vor allem der außerparlamentarischen Öffentlichkeit bedeuten sollten, dass man vorhatte, das parlamentarische 09 Zit. nach Theo Jung, Der Feind im eigenen Hause. Anti- 12 parlamentarismus im Reichstag 1867–1918, in: Recker/Schulz System von innen heraus zu zerstören. (Anm. 6), S. 129–149, hier S. 131. Als radikaldemokratische Alternative zum 10 Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichs- Parlamentarismus oder als Aufmarschfeld „des tag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“, 1871–1890, Düs- Volkes“ gegen das Parlament galt die Straße. Dort seldorf 2009; Frank Bösch, Parlamente und Medien. Deutsch- sollte nach ursprünglichem Dafürhalten der So- land und Großbritannien seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Andreas Schulz/Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische Kulturen in Europa – das Parlament als Kommunikationsraum, 11 Vgl. Mergel (Anm. 2), S 313–331; Jung (Anm. 9). Düsseldorf 2012, S. 371–388. 12 Vgl. Mergel (Anm. 2), S. 428–465.

07 APuZ 38/2020 zialisten der eigentliche Kampf des Proletariats PARLAMENT UND NATION – stattfinden; und dort sollte in Weimar ein neu- EIN SCHWIERIGES VERHÄLTNIS er Politikstil Fuß fassen: eine Politik der Tat, der Emotion und des unbedingten Willens, die sich Parlamente waren als Institutionen von einer scharf gegen die rationale Rede, die teils langwie- Spannung getragen, die mit der Erweiterung des rige Kompromissfindung und das vermeintliche Wahlrechts immer größer wurde: Sie sollten die Taktieren im Parlament abgrenzte. 13 Vor allem die unterschiedlichen Interessen, ja zunehmend auch äußerste Linke und die äußerste Rechte bedien- die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesell- ten sich in der Weimarer Republik der Straße als schaft abbilden und zugleich die gemeinsamen einer Gegenarena zum Parlament, und sie griffen Interessen des Staatsvolks vertreten. Als Symbo- häufiger zu den plebiszitären Mitteln des Volks- le der Nation konnten nationale Parlamente unter begehrens und des Volksentscheids, die die Wei- besonderen Erwartungsdruck geraten, wenn die marer Reichsverfassung einräumte. sakralisierte Nation sich durch Einigkeit auszeich- Die Auseinandersetzung mit dem Weimarer nen sollte, nicht durch widerstreitende Positio- Reichstag ließ klassische Muster der Parlaments- nen, die das Parlament zum Ausdruck brachte. 16 kritik aufleben. Besondere Missbilligung erfuhren Dieser Imperativ war in Deutschland besonders das Mehrheitsprinzip, die Logik des Kompromis- ausgeprägt, seitdem das Paulskirchenparlament ses, die elitäre Abschließung der Parlamentarierin- 1848/49 mit dem Auftrag zusammengetreten war, nen und Parlamentarier nach innen, ihre angeb- die Einheit der Nation herzustellen und die ers- liche Verwicklung in Korruptionsfälle, vor allem te gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden. 17 aber der übermäßige Einfluss der Parteien und ih- Noch in der Nachkriegszeit ein Jahrhundert spä- rer Funktionäre, was im Vorwurf der Mittelmä- ter war diese Bedeutung überaus präsent: Die Be- ßigkeit und Spießbürgerlichkeit des Parlaments mühungen um den raschen Wiederaufbau der mündete und weite Kreise der Weimarer Öffent- Frankfurter Paulskirche zum Jubiläumsjahr 1948 lichkeit zur Sehnsucht nach einer genialen Füh- gingen primär auf ihren Symbolwert als Ort der rerpersönlichkeit motivierte. 14 Zur Geschichte der nationalen Einheit zurück. Entsprechend sollte ersten deutschen parlamentarischen Demokratie das Gebäude fortan nicht mehr für parteipoliti- gehört diese öffentlich artikulierte Unzufrieden- sche Veranstaltungen genutzt werden. 18 heit mit dem Parlamentarismus, ja die gezielte De- Zum Problem wurde, dass Parlamente in ih- legitimierung des Reichstags unauflöslich dazu. rer Praxis eher die Gespaltenheit der Nation vor- Als Erinnerungsort der Demokratiegeschichte ist führten als deren Einigkeit. Schon 1848/49 war die die Weimarer Republik nur in dieser Ambivalenz Ernüchterung groß gewesen, als das Paulskirchen- zu verstehen, und es sollte der Legitimität der jun- parlament offenkundig werden ließ, dass sich Li- gen Bundesrepublik nicht förderlich sein, dass sie berale, Demokraten und Monarchisten in vielen formal und personell in vielerlei Hinsicht an den Punkten nicht einigen konnten. Die Nationalver- Weimarer Parlamentarismus anschloss. 15 sammlungen von 1848/49, ob in Frankfurt oder in den Landtagen, stehen in der deutschen Geschichte vor allem für die Entstehung von Fraktionen. Zeit- 13 Vgl. Daniel Siemens, Gegen den „gesinnungsschwachen gleich artikulierten Parlamentarier selbst das Ideal, Stimmzettelträger“: Emotion und Praxis im Wahlkampf der spä- ten Weimarer Republik, in: Hedwig Richter/Hubertus Buchstein gerade in außenpolitischen Fragen zur Einigkeit zu (Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der finden. Anlässlich der anstehenden Abstimmung modernen Demokratie, Wiesbaden 2017, S. 215–236; Tobias über den Vertrag von Malmö, den Waffenstillstand Kaiser, Die Erfindung der „Bannmeile“ in der Weimarer Republik. zwischen Preußen und Dänemark im Schleswig- Polizeilicher und symbolischer Schutzraum mit widersprüchli- Holsteinischen Krieg, mahnte der linke Abgeord- cher Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5–6/2020, S. 262–279. nete Wilhelm Zimmermann 1848: „Meine Herren, 14 Vgl. Thomas Mergel, Fuhrer, Volksgemeinschaft und Maschi- ne. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1918–1936, in: Wolfgang Hardtwig 16 Vgl. Aerts (Anm. 6), S. 31, S. 33. (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 17 Vgl. Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die 1918–1939, Gottingen 2005, 91–127. Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998. 15 Vgl. Marie-Luise Recker, Das Parlament in der westdeut- 18 Vgl. Shelley Rose, Place and Politics at the Frankfurt schen Kanzlerdemokratie, in: dies. (Anm. 5), S. 161–178, hier Paulskirche after 1945, in: Journal of Urban History 42/2016, S. 162 f.; Ullrich (Anm. 3). S. 145–161, hier S. 147–150.

08 Parlamentarismus APuZ wir haben uns oft in diesem Saale von dem Stand- politik als solche, sondern lediglich die erzwun- punkte der Parteien bekämpft. Wenn es aber einer gene Führungsrolle der SED darin führte in den Sache des Vaterlandes (…) gilt, wenn es sich um Landesparlamenten der SBZ/DDR zu Missmut, eine deutsche Angelegenheit, nicht um eine Partei- bevor sie 1952 schließlich aufgelöst wurden. 21 und Meinungssache handelt, da muß der Kampf In Westdeutschland indes musste man lernen, der Parteiungen und auch die Rücksicht darauf auf- mit dem unumgänglichen Konfliktgeschehen in hören. Lassen Sie uns daher bei der Abstimmung der parlamentarischen Demokratie umzugehen. über diese Frage keine Rücksicht auf unsere Par- Die Resonanz der Presse auf die ersten Bundes- teistellung, sondern einzig Rücksicht auf die Sache tagswahlkämpfe verdeutlicht, als wie ehrrührig nehmen.“ 19 Ähnlich sollte auch Wilhelm II. nach der Parteienstreit empfunden wurde. Zänkische Beginn des Ersten Weltkriegs die Fraktionsvor- Parlamentarier schienen das Volk herabzuwür- stände der Reichstagsparteien zur Einheit aufrufen. digen, das sie vertreten wollten, und es war der Keine Parteien mehr zu kennen, sondern nur noch Rekurs auf die „Würde der Nation“, der dieses Deutsche – dieser berühmte Ausspruch des Kaisers parlamentskritische Ressentiment – neben vielen zum Zwecke der inneren Kriegsmobilisierung ver- anderen altbekannten – auch in der Bundesrepu- deutlicht, wie stark die politische Artikulation in- blik hervorbrachte. 22 nergesellschaftlicher Unterschiede – und damit das Wie sehr der Bundestag unter den Bedingun- parlamentarische Sprechen – als Hemmschuh der gen der deutschen Teilung, des Kalten Kriegs und deutschen Nation galt. Vom Symbol der Nation der Furcht vor einem dritten Weltkrieg zum Sym- zum Symbol ihrer Spaltung – dies war in der Ge- bol der Nation erhoben wurde, das über wichti- schichte der deutschen Parlamentsvorstellungen ge nationale Fragen möglichst nicht streiten soll- ein schmaler Grat, und namentlich der Weimarer te, zeigte sich in den wichtigen außenpolitischen Reichstag litt unter dem Urteil, kein würdevolles Debatten der 1950er Jahre, die die Historikerin Abbild der „Volksgemeinschaft“ zu sein. Marie-Luise Recker als Höhepunkte der Bonner Nach der Machtübergabe an Hitler brannte Parlamentsgeschichte bezeichnet hat. Wenn aller- dann der Reichstag – und wurde in ein Einpar- dings die Fraktionsführer und aufstrebende Rede- teienparlament verwandelt, das primär die Regie- talente der Parteien Anlässe wie die Westverträge, rungserklärungen des „Führers“ entgegennahm. den Wehrbeitrag, den Souveränitätsgewinn oder Wenn ausgerechnet im „Dritten Reich“ die Di- die deutsch-französische Aussöhnung dazu nutz- rektübertragung der (wenigen) Reichstagssitzun- ten, sich hitzige Redeschlachten zu liefern, war das gen im Radio einsetzte, so diente dies vor allem für viele Wählerinnen und Wähler nur schwer zu der Demonstration, dass der Nationalsozialismus ertragen, zumal die ungewohnten Fernsehbilder „endlich“ Einmütigkeit im Reichstag hergestellt seit 1953 den emotionalen Stress noch erhöhten, hatte. 20 Den konfliktbetonten Parlamentarismus indem sie den Bundestagsstreit quasi ins Wohn- mit seinen kontroversen Debatten, Zwischen- zimmer brachten. Da zu befürchten stand, dass und Ordnungsrufen, ja Tumulten, vermissten das Ansehen des Parlaments so noch weiter leiden nach Ende der NS-Diktatur nur wenige. In der könnte, entschieden Bundestagspräsident Eugen westdeutschen Presse und Publizistik sowie un- Gerstenmaier und der Ältestenrat des Bundestags ter Politikerinnen und Politikern in Ost wie West 1957, das Fernsehen gänzlich aus dem Plenarsaal bestand weitgehend Konsens, eine Rückkehr des Bundeshauses zu verbannen. 23 zum Weimarer „Parteiengezänk“ unbedingt ver- meiden zu wollen. Nicht die sogenannte Block- 21 Vgl. Michael C. Bienert, Der Sozialismus als „Krönung der Demokratie“. Die SED, die so­wje­tische Besatzungsmacht und der Antiparlamentarismus in den Landtagen der SBZ/DDR, in: 19 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Recker/Schulz (Anm. 6), S. 71–95, hier S. 80–83, S. 86 ff. deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt 22 Vgl. Claudia C. Gatzka, Des Wahlvolks großer Auftritt. a. M., Bd. 3, hrsg. v. Franz Wigard, Leipzig 1848, 72. Sitzung in Wahlritual und demokratische Kultur in Italien und West- der Paulskirche, 5. 9. 1848, S. 1887. deutschland nach 1945, in: Comparativ 1/2013, S. 64–88, hier 20 Vgl. Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte S. 68–72; Benedikt Wintgens, Treibhaus Bonn. Die politische der Pseudo-Volksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992, Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf 2019. S. 230; Benedikt Wintgens, Turn Your Radio on. Abgeordnete 23 Vgl. Recker (Anm. 15), S. 171 ff.; Vor 65 Jahren: Erste Live-​ und Medien in der Bundesrepublik Deutschland nach 1949, in: Übertragung einer Bundestagssitzung, 28. 9. 2018, www.bundes​ ­ Adéla Gjuričová et al. (Hrsg.), Lebenswelten von Abgeordneten in tag.de/ ​dokumente/​textarchiv/​2018/​kw39-​kalenderblatt-​fernseh­ Europa 1860–1990, Düsseldorf 2014, S. 295–310, hier S. 305. liveuebertragung-​570368.

09 APuZ 38/2020

Erst ab 1966 waren TV-Übertragungen von Ein Ausnahmeereignis deutscher Par­la­ments­ Arbeitssitzungen wieder zugelassen, und zu je- öf­fentlich­ keit­ jährte sich dieses Jahr zum 30. Mal: ner Zeit zeichnete sich auch langsam ab, dass sich die Live-Übertragungen aller 38 Plenarsitzun- die Westdeutschen an die Konflikthaftigkeit ge- gen der 10. Volkskammer, des ersten frei gewähl- wöhnten, die die parlamentarische Demokratie ten und zugleich letzten Parlaments der DDR. Die mit sich brachte. Es war die paradox anmuten- Abgeordneten wollten die Ostdeutschen im Fern- de Folge der Außerparlamentarischen Opposi- sehen mit den Regeln des Parlamentarismus ver- tion, dass die 1970er Jahre in vielerlei Hinsicht traut machen, Transparenz demonstrieren und ver- eine Blütezeit der repräsentativen Demokratie lässliche Informationen liefern. Die Resonanz war markierten. Diese Nähe zwischen Parlament und groß, doch die Enttäuschung auch: Die unmittelba- Wählerinnen und Wählern lebte bezeichnender- re Konfrontation mit ungeübten Parlamentariern, weise von der Integration direktdemokratischer langwierigen Abstimmungen und leeren Stuhlrei- Ansätze in die politische Kommunikationsarbeit hen, wie sie in Arbeitsparlamenten unumgänglich an der Basis, in den Wahlkreisen, wo dann auch sind, war keine gute Werbung für die repräsentati- die Polarisierung abgefedert werden konnte, die ve Demokratie. 28 Letztlich gehört zu den langlebi- dieses Jahrzehnt kennzeichnete. 24 gen Herausforderungen des Parlamentarismus die Die Aufwertung des Bundestags spiegelte sich Erwartung, Sternstunden hervorzubringen. in einer gesteigerten massenmedialen Aufmerk- samkeit und Sichtbarkeit. 25 Doch Antiparlamen- SCHLUSS tarismus blieb Begleiterscheinung der Demokra- tie und bündelte sich in den sozialen Bewegungen. Für die deutsche Demokratiegeschichte folgt aus Wenn der antiparlamentarische Furor der Grünen diesen Beobachtungen, dass sie das Parlament nur in den 1980er Jahren rasch verloren ging, bewies als umstrittene, aber durchaus langlebige und lern- dies einmal mehr die Integrationskraft parlamenta- fähige Institution thematisieren kann. Parlamen- rischer Verfahren. Dass die repräsentative Demo- tarismus als den Telos und den Wert der liberalen kratie imstande ist, gesellschaftliche Politisierungs- Demokratie anzusehen, griffe dabei zu kurz. Zu prozesse und soziokulturellen Wandel absorbieren den Erinnerungsorten der deutschen Demokra- zu können, zeigt die Geschichte der Bonner Repu- tiegeschichte gehören auch außerparlamentarische blik durchaus. In der Berliner Republik dominiert Bewegungen und direktdemokratische Praktiken – erneut die Kritik am Funktionsverlust des Bun- der Graswurzelgedanke der Pariser Kommune hat destags als Kontrollorgan der Regierung und vor die parlamentarische Demokratie immer wieder allem als Ort der rationalen Debatte. Die ausdif- ergänzt und ihr neue Impulse gegeben. ferenzierte Medienöffentlichkeit von heute kann An den Parlamentarismus als Errungenschaft jedoch nur bedingt als Ursache für einen vermeint- zu erinnern, heißt zudem, an die Heterogenität mo- lichen Formenwandel hin zum „Schaufensterpar- derner Gesellschaften und die Möglichkeit alter- lament“ gelten. 26 Der Vorwurf der Fensterrede nierender Regierungsmehrheiten zu erinnern. Das und des Schaukampfs gehört von Anbeginn zum Mehrheitsprinzip, das die Gegner des Parlamen- modernen Parlamentarismus dazu, der ohne Öf- tarismus ablehnten, brachte immer auch Verlierer fentlichkeit nicht zu denken ist. 27 und Unterlegene hervor, die allerdings nie dauer- haft in der Minderheit bleiben mussten. Es ist diese 24 Vgl. Claudia C. Gatzka, Die Demokratie der Wähler. Offenheit für Pluralität und für politische Farben- Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und wechsel, die es Parlamenten erlaubt, immer wieder der Bundesrepublik, Düsseldorf 2019, S. 461–491. auf den dynamischen Wandel moderner Gesell- 25 Vgl. Bösch (Anm. 10), S. 384 f. schaften zu reagieren. Darin liegen ihre Stärke und 26 Armin Burkhardt, Debattieren im Schaufenster. Zu Ge- brauch und Pervertierung einiger parlamentarischer Sprachfor- ihre Resilienz, gerade auch in Zeiten der Krise. men im Deutschen Bundestag, in: Schulz/Wirsching (Anm. 10), S. 301–331, hier S. 302 f. CLAUDIA C. GATZKA 27 Vgl. Andreas Schulz, Vom Volksredner zum Berufsagitator. ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Rednerideal und parlamentarische Redepraxis im 19. Jahrhun- Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste dert, in: ders./Wirsching (Anm. 10), S. 247–266. 28 Vgl. Bettina Tüffers, Die Volkskammer im Fernsehen. Strate- Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs- gien der Selbstinszenierung in der 10. Volkskammer der DDR, in: Universität Freiburg. Gjuričová et al. (Anm. 20), S. 312–315. [email protected]

10 Parlamentarismus APuZ

PARLAMENTE IN DER KRISE? Der deutsche Parlamentarismus und die Corona-Pandemie

Stefan Marschall

Eine Krise rückt die Regierungen ins Zentrum des verloren haben. 02 Für die Bundesrepublik werden politischen Geschehens – diese unterstellte Gesetz- der Exekutivföderalismus und die Privilegierung mäßigkeit ist in der Zeit der Corona-Pandemie von der Exekutiven im Mehrebenensystem für diese jedem Beobachter und jeder Beobachterin mindes- Entwicklung verantwortlich gemacht. Denn die tens einmal vermerkt worden. Da ist oft von der Regierungen, nicht die Parlamente, sind auf den „Stunde der Exekutive“ oder der „Zeit der Exe- unterschiedlichen Ebenen in den entscheiden- kutive“ die Rede gewesen. Wenn man von einem den Organen vertreten (zum Beispiel im Bundes- Nullsummenspiel politischer Entscheidungsmacht rat oder im Ministerrat der Europäischen Union) ausgeht, bedeutet die Krisendominanz der Exeku- und können über die Ebenen hinweg agieren. tive, dass es auch mindestens einen Verlierer ge- Darüber hinaus gibt es schon seit Jahrzehn- ben muss, der in einem solchen Zeitraum entspre- ten Entparlamentarisierungsdiskurse, festgemacht chend weniger Einfluss und Gestaltungspotenzial am Informationsungleichgewicht zwischen Exe- hat als sonst. In erster Linie sind es – so die gängi- kutive und Legislative. Generell drehen sich diese ge Einschätzung – die Legislativen, die Parlamen- Debatten darum, dass sich die „Auftragnehmer“, te, die unter dem krisenbedingten Machtzuwachs die Regierungen, gegenüber ihren „Auftragge- der Regierungen leiden. Gleichwohl gehört es zum bern“, den Parlamenten, zunehmend verselbst- Gesamtbild, dass auch die dritte, rechtsprechen- ständigt hätten – nicht zuletzt aufgrund eines In- de Gewalt – die Judikative – in Krisensituationen formationsvorsprungs seitens der Regierungen, an Macht verlieren kann. Und tatsächlich zeigt die durch den Parlamente strukturell ins Hintertref- Corona-Zeit, wie Gerichte über eine längere Stre- fen gerieten. Darüber hinaus ist kritisiert worden, cke hinweg zum einen nur bedingt arbeitsfähig und dass Regierungen zunehmend über Verordnungen zum anderen tendenziell zurückhaltend waren, Recht setzen würden. 03 was ihre Einsprüche gegen die drastischen Regie- Ende der 1990er Jahre kulminierten diese rungsmaßnahmen anging. Entparlamentarisierungsdiskurse in der Wissen- Wenn die Parlamente in Zeiten der Pandemie schaft, aber auch in der politischen Öffentlichkeit in ihrer Bedeutung gefährdet werden, dann hat im Begriff des „post-parlamentarischen Zeital- dies eine besondere Note. Denn der Parlamenta- ters“ 04 – also einem Zeitalter, in dem Parlamen- rismus litt einigen Diagnosen zufolge bereits vor te keine zentrale Rolle mehr zu spielen scheinen. der Covid-19-Krise an „Vorerkrankungen“. Die Diese These hat sich bis heute gehalten. In dieser These von einer Schwächung der Parlamente, ei- Lesart stieß die Corona-Krise auf einen bereits ner Entparlamentarisierung, ist deutlich älter als vorgeschwächten Parlamentarismus – sowie auf die aktuelle Pandemie. 01 Dies gilt auch für den die generelle Vermutung, dass Parlamente nur be- bundesdeutschen Parlamentarismus. Hier sind dingt krisenfest seien. Hat der Parlamentarismus bereits seit Langem Entwicklungen in der Dis- in Deutschland unter der Krise gelitten? kussion, die zu einem parlamentarischen Funk- tions- und Machtverlust geführt haben sollen – ZUR KRISENFESTIGKEIT etwa die Europäisierung der deutschen Politik. VON PARLAMENTEN In der Entparlamentarisierungsdebatte hat auch stets eine Rolle gespielt, dass Parlamente im Lau- Tatsächlich spricht zunächst einiges dafür, dass fe der Zeit zugunsten der Exekutiven an Macht Regierungen üblicherweise zu den Krisengewin-

11 APuZ 38/2020 nern und Parlamente zu den Verlierern zählen. spielsweise in Absprache zwischen Regierungs- Eine Krise, gekennzeichnet durch ihr spontanes chefs und einzelnen Ressortverantwortlichen. In Auftreten, ihre Vehemenz und Dynamik, erfor- den Ministerien sind überdies „Krisenstabsszena- dert zügiges Handeln und schnelle Entschei- rien“ üblich. Die Routinen sehen Verfahren vor, dungen. Für eine unmittelbare Krisenreaktion die zwar nach geregelten Abläufen vonstattenge- erscheinen parlamentarische Verfahren auf den hen, aber auch Zügigkeit erlauben. Zum Beispiel ersten Blick zu behäbig. Parlamente benötigen, spricht die Gemeinsame Geschäftsordnung der so die Wahrnehmung, für ihre Willensbildung Bundesministerien ausdrücklich die Behandlung und Beschlussfassung Zeit – mehr Zeit, als in ei- von „besonders dringlichen Sachen“ an. 05 ner akuten Bedrohungslage gegeben ist. Denn In Sachen „Exekutivvorteil“ in einer Krise zum parlamentarischen Entscheidungsverfahren liegt die Analogie zum Verteidigungsfall auf der gehören üblicherweise auch Phasen der intensi- Hand. Auch in der Situation eines militärischen ven Beratung, Verhandlung und Diskussion – vor Angriffs auf das Bundesgebiet wäre eine schnel- allem im Plenum und in den Fachausschüssen. le Reaktion erforderlich. Nicht zufällig gehört Gerade ihre deliberative Qualität vor, aber auch der Bereich der militärischen Sicherheitspolitik hinter verschlossenen Türen kennzeichnet Par- deswegen zum traditionellen Vorrecht der Exe- lamente und grenzt sie von der Arbeitsweise der kutive, wenngleich Parlamente nicht unbeteiligt Regierungen ab. sind. 06 Aber auch hier gilt, dass für eine rasche Zudem ist in parlamentarischen Verfahren typi- und effektive Reaktion die Regierung – und we- scherweise eine große Zahl an Akteuren einzubin- niger das Parlament – infrage kommt. den: Wenngleich die parlamentarische Praxis – bei- Gleichwohl, dies zeigen insbesondere die Vor- spielsweise des Bundestages – auch oligarchische kehrungen für den Verteidigungsfall in Deutsch- Strukturen etabliert hat (zum Beispiel die Privi- land, haben Parlamente Mechanismen entwickelt, legierung bestimmter Funktionsträger wie Frak- um in einem Ausnahmezustand, wenn die Lage tionsvorsitzende oder Mitglieder im Ältestenrat ein Zusammentreten des Bundestages nicht er- und Präsidium), bleibt letzten Endes jede und je- laubt, handlungs- und entscheidungsfähig zu der Abgeordnete gleichermaßen wichtig und darf bleiben. So sieht das Grundgesetz für den Fall nicht ausgeschlossen werden. Im Falle des Bun- des militärischen Angriffs auf das Bundesgebiet destages handelt es sich um mehrere hundert Per- die Einberufung des Gemeinsamen Ausschus- sonen. Damit die Abgeordneten beschließen kön- ses vor, falls der Bundestag nicht zusammentre- nen, müssen sie einberufen werden; üblicherweise ten kann. Jener besteht aus 48 Mitgliedern (zwei reisen sie hierfür aus den Wahlkreisen an, die über Drittel Bundestagsabgeordnete und ein Drittel das gesamte Bundesgebiet verteilt sind. Mitglieder des Bundesrates), wobei die Zusam- Demgegenüber wirken Regierungen deutlich mensetzung die Stärkeverhältnisse der Fraktio- agiler – zumindest, wenn man die Regierungsspit- nen berücksichtigt und über die Bundesratsmit- ze in den Blick nimmt – und das schon aufgrund glieder alle 16 Länder vertreten sind. Gemäß der ihrer geringeren Personenzahl sowie ihrer stärker Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschus- hierarchischen Strukturen. In kleineren Kreisen ses haben die Mitglieder eine Präsenzpflicht und lassen sich Entscheidungen schneller treffen, bei- müssen jederzeit für den Bundestagspräsidenten erreichbar sein. 07 Der Gemeinsame Ausschuss 01 Vgl. Paul Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie?, kann anstelle des gesamten Bundestages den Ver- in: André Kaiser/Thomas Zittel (Hrsg.), Demokratietheorie und teidigungsfall ausrufen. In Kriegszeiten ist die Demokratieentwicklung, Wiesbaden 2004, S. 359–376. Bundesregierung diesem „Notparlament“ gegen- 02 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarismus. Eine Einführung, über rechenschaftspflichtig. Baden-Baden 20183,. S. 195 ff 03 Vgl. Everhard Holtmann/Werner J. Patzelt (Hrsg.), Kampf der Gewalten? Parlamentarische Regierungskontrolle – gouver- 05 Vgl. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien nementale Parlamentskontrolle, Theorie und Empirie, Wiesbaden (GGO), Anlage 1 zu § 13 Absatz 2 GGO, I. 3, II. 3. 2004. 06 Vgl. Patrick A. Mello/Dirk Peters (Hrsg.), Parliaments in Se- 04 Vgl. Svein Andersen/Tom Burns, The European Union and curity Policy: Involvement, Politicisation, and Influence, in: British the Erosion of Parliamentary Democracy: A Study of Post- Journal of Politics and International Relations 1/2018, S. 3–18. Parliamentary Governance, in: Svein Andersen/Kjell Eliassen 07 Vgl. Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss, (Hrsg.),The European Union: How Democratic Is It?, London Bundesgesetzblatt (BGBl.) Jg. 1969 Teil I Nr. 74, 13. 8. 1969, zuletzt 1996, S. 227–252. geändert am 20. 7. 1993, BGBl. Jg. 1993 Teil I Nr. 45, 19. 8. 1993.

12 Parlamentarismus APuZ

Aber auch im täglichen Geschäft erlaubt das ENTSCHEIDUNGSMACHT Parlamentsrecht die Beschleunigung von Verfah- DER EXEKUTIVE ren unter bestimmten Bedingungen. Bei Eilbe- dürftigkeit können Phasen des Beratungsprozes- Wie hat sich der Parlamentarismus in der Covid- ses faktisch übersprungen werden. Das Parlament 19-Krise bewährt? Hierüber ein endgültiges Ur- ist Herr seiner Geschäftsordnung und kann die- teil zu fällen, ist sicher noch zu früh. Dennoch se gegebenenfalls außer Kraft setzen. 08 Ein wei- zeichnen sich erste Befunde und Lehren ab. Zu- teres Modell zur Einbindung von Parlamenten nächst zu den Entscheidungsprozessen am An- bei dringlichen Entscheidungen findet sich in den fang der Krise, also in der „Stunde der Exeku- Bestimmungen für die Entsendung von Soldatin- tive“: Als Grundlage für die Maßnahmen zur nen und Soldaten in militärische Einsätze, die im Bekämpfung der Pandemie kam ein Gesetz ins sogenannten Parlamentsbeteiligungsgesetz fest- Spiel, das 2001 in Kraft getreten war und seitdem gelegt sind. Wenn Gefahr im Verzug ist, kann die nicht viel Aufmerksamkeit erhalten hatte: das In- Regierung Truppen entsenden, muss den Bun- fektionsschutzgesetz (IfSG). 10 Neben der Melde- destag jedoch schnellstmöglich um nachträgliche pflichtigkeit von Krankheiten wird in dem Ge- Billigung bitten. 09 Dieser kann die Truppenent- setz die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten sendung wieder rückgängig machen. geregelt – inklusive der Schutzmaßnahmen, die Über die reglementierten Verfahren hinaus ergriffen werden können, um die Ausbreitung können Parlamente auf informelle Einflussmög- von Infektionskrankheiten einzudämmen. lichkeiten und Kommunikationskanäle zurück- Tatsächlich gibt dieses Gesetz der Bundesre- greifen. Denn ein großer Teil parlamentarischer gierung umfassende Möglichkeiten an die Hand, Arbeit läuft in der engen – und mitunter jenseits im Falle einer Pandemie Verordnungen zu er- der ausdrücklich geregelten Prozeduren stattfin- lassen; relevant ist dabei insbesondere der Para- denden – Zusammenarbeit insbesondere von Re- graf 28, der eventuelle drastische Maßnahmen gierung und Regierungsmehrheit ab. aufführt. Das IfSG weist den „zuständigen Be- Insofern sind Krisen für Parlamente zwar hörden“ das Recht und die Kompetenz zu, tätig substanzielle Herausforderungen und potenzi- zu werden. Der Vollzug des Bundesgesetzes ob- ell mit dem Verlust von Teilen ihrer Funktions- liegt den Ländern und hier explizit den Landesre- tüchtigkeit verbunden. Hier ist jedoch ein dif- gierungen, die gemäß Paragraf 54 durch Rechts- ferenzierter Blick erforderlich, denn bestimmte verordnungen bestimmen, welche ihrer Behörden parlamentarische Grundfunktionen können auch zuständig sind. in Krisenzeiten weiterhin gewährleistet werden. Frühzeitig in der Krise wurde die Verord- Zudem können Parlamente – vielleicht nochmals nungsermächtigung des IfSG reformiert: In der besonders in Ausnahmezeiten – auf informelle Novellierung Ende März 2020 wurde in Para- Ressourcen zurückgreifen, die einen Einflussver- graf 5 festgelegt, dass der Deutsche Bundestag lust teilweise kompensieren könnten. Gleichwohl das Recht habe, „eine epidemische Lage von na- bleibt eine Krise ein Stresstest für die parlamen- tionaler Tragweite“ festzustellen. Gleichermaßen tarische Demokratie. Dabei ist jede Krise anders: habe er das Recht, diese Lage aufzuheben, wenn Ein Verteidigungsfall unterscheidet sich von einer die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht Naturkatastrophe, eine Pandemie von einem Ter- mehr gegeben seien. 11 Insofern liegt zwar die roranschlag. Die spezifischen Krisenmerkmale grundlegende Entscheidung, die Feststellung des haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie pandemischen Ausnahmezustands, beim Parla- das Parlament herausgefordert wird – und ob und ment. Wenn es jedoch um konkrete Maßnahmen wie es auf die Krise reagieren kann. geht, übernehmen die Regierungen auf Bundes- und Landesebene. Hierbei werden weitreichen- 08 Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarische Verfahren/Ge- de Kompetenzen insbesondere auf den Bundes- schäftsordnung, in: Uwe Andersen et al. (Hrsg.), Handwörter- buch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 20208, i. E. 10 Vgl. Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infek- 09 Vgl. Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der tionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz), Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Aus- BGBl. Jg. 2000 Teil I Nr. 33, 25. 7. 2000, zuletzt geändert am land (Parlamentsbeteiligungsgesetz), § 5, BGBl. Jg. 2005 Teil I 19.. 6 2020, BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 30, 29. 6. 2020. Nr. 17,. 23. 3 2020. 11 BGBl. Jg. 2020 Teil I Nr. 14, 27. 3. 2020.

13 APuZ 38/2020 gesundheitsminister übertragen – und dies nur tions- und Forumsfunktion, hat zu Beginn der auf der Grundlage eines einfachen Gesetzes, Pandemie deutlich gelitten – ebenso die öffent- nicht durch Bestimmungen im Grundgesetz. In- liche Kontrollfunktion. 13 So stellte sich frühzei- sofern hat die Änderung des IfSG nicht zu einer tig heraus, dass parlamentarische Sitzungen und Parlamentarisierung, sondern vielmehr zu einer Versammlungen in der ersten Krisenphase nicht Schwächung der parlamentarischen Beteiligung mehr wie gewohnt stattfinden konnten. Insbe- geführt. 12 sondere öffentliche Ausschusssitzungen des Bun- Die Krisenreaktion beschränkte sich freilich destages mussten in den ersten Pandemiewochen nicht allein auf die epidemiologischen Maßnah- abgesagt werden, desgleichen wurde die Befra- men wie die Einschränkung von Kontakten, wel- gung der Bundeskanzlerin durch die Abgeord- che mit massiven Grundrechtseingriffen verbun- neten von der Tagesordnung genommen. Die Be- den waren. Ein weiteres Maßnahmenpaket betraf handlung diverser Themen wurde verschoben, die Frage, wie die Folgen der Krise zu bewältigen Plenarsitzungen wurden verkürzt – und damit sind. Bei der Verabschiedung der großen Hilfspa- auch die parlamentarische Debatte und die Rede- kete zur Stabilisierung der Wirtschaft, aber auch zeit von Abgeordneten. 14 bei der Anpassung des Kurzarbeitergeldes, war Der Bundestag hat jedoch auf die Schwierig- das Parlament regulär eingebunden – betrafen ei- keit, aus Gründen des Infektionsschutzes nicht nige dieser Entscheidungen doch mit dem Bud- alle Abgeordneten in einem Raum versammeln getrecht eine Kernkompetenz des Parlaments. zu können, unmittelbar reagiert – durch eine Än- Gleichwohl fanden die Verhandlungen bereits derung der Geschäftsordnung zur „besonderen unter veränderten Rahmenbedingungen parla- Anwendung (…) aufgrund der allgemeinen Be- mentarischer Arbeit und unter einem Zeitdruck einträchtigung durch Covid-19“. So wurde am statt, der eine eingehende Beratung unmöglich 25. März ein neuer Paragraf 126a eingefügt. 15 machte: Das montags vom Kabinett beschlosse- Diese Regelung wurde zunächst bis zum 30. Sep- ne Hilfspaket wurde bis zum folgenden Freitag tember 2020 befristet. Demnach wurde das Parla- durch das parlamentarische Verfahren plus Ab- ment auch dann als beschlussfähig erklärt, wenn stimmung im Bundesrat gebracht. Üblicherwei- nur mehr als ein Viertel der Mitglieder des Bun- se nimmt ein solcher Prozess mehrere Wochen, destages anwesend ist. In „normalen“ Zeiten wenn nicht sogar Monate in Anspruch. muss mindestens die Hälfte zusammenkommen. Für Ausschusssitzungen wurde ein analoges An- PARLAMENT AUF ABSTAND wesenheitsquorum festgelegt. Ein ausdrückliches Verbot der Teilnahme von Mitgliedern des Bun- Mit Blick auf die Krisenreaktion lässt sich zu- destages an Sitzungen war damit gleichwohl nicht nächst festhalten: Grundlegende, „wesentliche“ verbunden, allerdings konnten bereits aufgrund Entscheidungen wurden von den Parlamenten der Abstandsregeln nicht alle Abgeordneten im (mit-)getroffen. Von einer generellen Umgehung Plenarsaal sein. parlamentarischer Körperschaften kann keine Darüber hinaus wurde die Möglichkeit der re- Rede sein. Dennoch haben Parlamente, ihre Rolle gulären Teilnahme an den Beratungen der Aus- und mit ihnen bestimmte Prinzipien parlamenta- schüsse über elektronische Kommunikationsmittel rischer Demokratie unter der Krise gelitten. Die eingeräumt, sodass rein virtuelle Ausschusssitzun- pandemische Situation hat insbesondere die Kri- gen möglich wurden. Für Abstimmungen und Be- senanfälligkeit regulärer parlamentarischer All- schlussfassungen durften ebenso elektronische tagsarbeit vor Augen geführt. Das, was parlamen- Kommunikationsmittel genutzt werden. Schließ- tarische Arbeit in weiten Bereichen ausmacht, war nicht mehr ohne Weiteres möglich. Parlamente 13 Vgl. Daniel Hildebrand, Aushöhlung des Parlamentaris- haben sich in einigen ihrer zentralen Arbeitswei- mus durch die Corona-Pandemie? Ein Zwischenruf zur Lage in sen als verletzlich erwiesen. Deutschland und Großbritannien, in: Zeitschrift für Parlaments- Insbesondere die Idee des diskutierenden und fragen 2/2020, S. 474–482. abwägenden Parlaments, also die Kommunika- 14 Vgl. Robert Roßmann, Parlament der leeren Sitze, 20.. 3 2020, www.sueddeutsche.de/1.4852388. 15 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für 12 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz/Florian Meinel, Unbegrenzte Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Bundestags- Ermächtigung?, 26. 3. 2020, www.faz.net/-16696509. drucksache 19/18126, 25. 3. 2020.

14 Parlamentarismus APuZ lich wurde für öffentliche Ausschussberatungen des Grundgesetzes (Gemeinsamer Ausschuss) ei- und öffentliche Anhörungssitzungen eingeführt, nen neuen Artikel 53b zu setzen. Diese Initia- „dass der Öffentlichkeit Zugang ausschließlich tive stieß im Parlament jedoch auf Widerstand – durch elektronische Übermittlungswege gewährt“ auch mit dem Argument, dass eine Änderung des werden kann. Tatsächlich ist von diesen neuen Grundgesetzes in Krisenzeiten unpassend wäre. 18 Möglichkeiten rege Gebrauch gemacht worden. Auf der Ebene der Länder hat es ähnliche Debatten Ausschusssitzungen, aber auch Fraktionssitzun- um die Einrichtung von Notparlamenten gegeben. gen, fanden komplett oder teilweise virtuell statt. Beispielsweise gab es im Berliner Abgeordneten- Zudem wurden die Regelungen zur politi- haus eine Initiative, die Landesverfassung entspre- schen Immunität der Abgeordneten angepasst: chend zu ändern. Diese Initiative wurde durch ein „Der Deutsche Bundestag genehmigt die Anord- Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des nungen von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen Abgeordnetenhauses geprüft, 19 aber letzten Endes nach dem Infektionsschutzgesetz gegen Mitglie- als rechtlich problematisch eingestuft. der des Bundestages.“ 16 Diese Maßnahmen seien Ein zweiter Vorschlag, der im Rahmen der durch den Geschäftsordnungsausschuss zu über- Corona-Krise zur Debatte kam, betraf die Idee, prüfen – auf ihre Rechtmäßigkeit hin, aber auch Bundestagsdebatten komplett online abzu- darauf, „ob die Maßnahme die Funktionsfähigkeit halten – analog zu den Regelungen, die auf der des Deutschen Bundestages unverhältnismäßig“ Ebene der Ausschüsse gefunden worden sind. beeinträchtige. Klargestellt wurde, dass von Regie- Tatsächlich ist die Digitalisierung von Plenar- rungen verhängte Ausgangssperren nach dem In- sitzungen von anderen Parlamenten praktiziert fektionsschutzgesetz die Abgeordneten nicht an worden, allen voran vom britischen Unterhaus. der Ausübung ihres Mandates hindern dürfen. Dieses hatte sich im Laufe der Corona-Krise vir- tuell getroffen, bevor es dann in einen hybriden LÖSUNGSANSÄTZE: Modus überging, der auch remote participation NOTPARLAMENT UND DIGITALER gestattet. 20 Ebenso hat sich das Europäische Par- PARLAMENTARISMUS lament während der Pandemie virtualisiert: Es er- laubte Fernabstimmungen per E-Mail. 21 Jenseits der vorgenommenen Änderungen des Für den Deutschen Bundestag und die Lan- Parlamentsrechts lagen noch weiterreichende Vor- desparlamente ist ein solches Szenario ebenfalls schläge auf dem Tisch, die letztlich aber nicht re- diskutiert worden – auch in langfristiger Per- alisiert wurden. Eine Diskussion, die während der spektive. Seitens der Wissenschaftlichen Diens- Krise – gerade mit Blick auf die Unmöglichkeit te des Bundestages wurde dabei eine Änderung eines geregelten parlamentarischen Betriebs – an- des Grundgesetzes ins Spiel gebracht: die Ergän- gestoßen worden ist, betrifft die Frage eines Not- zung von Artikel 39 Absatz 3 GG, in welchem parlaments oder Notfallausschusses für den Deut- der Schluss und der Wiederbeginn von Bundes- schen Bundestag. Die Idee, für solche Krisenzeiten tagssitzungen geregelt sind. 22 Gemäß der vorge- ein Rumpfparlament einzurichten, hatte Bundes- tagspräsident Wolfgang Schäuble eingebracht. 17 Sein Vorschlag setzte daran an, dass zwar für 18 Vgl. Überlegungen für Grundgesetzänderung wegen Coro- na-Epidemie, 16. 3. 2020, www.morgenpost.de/228709525. den Verteidigungsfall mit dem Gemeinsamen 19 Vgl. Wissenschaftlicher Parlamentsdienst des Abgeordne- Ausschuss ein parlamentarisches Ersatzgremi- tenhauses von Berlin, Gutachterliche Stellungnahme zu einer um vorgesehen sei, aber eben nicht für die spezi- Reihe von Rechtsfragen im Zusammenhang mit digitalen Abstim- fische Situation einer Pandemie. Deswegen solle mungen in Plenarsitzungen, 22. 4. 2020. im Grundgesetz die Möglichkeit geschaffen wer- 20 Vgl. House of Commons, Chamber Proceedings during the COVID-19 Pandemic, o. D., www.parliament.uk/about/how/ den, für solche Fälle ein Notparlament einrichten covid-19-hybrid-proceedings-in-the-house-of-commons. zu können, das aus einer reduzierten Anzahl von 21 Vgl. Europäisches Parlament, Wie arbeitet das Parlament Abgeordneten bestehen und anstelle der Vollver- während einer Pandemie?, 16. 4. 2020, www.europarl.europa. sammlung Entscheidungen treffen kann. Der Vor- eu/news/de/headlines/eu-affairs/20200408STO76807/wie- schlag sah vor, neben und analog zum Artikel 53a arbeitet-das-parlament-wahrend-einer-pandemie. 22 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Virtuelles Parlament. Verfassungsrechtliche Bewertung und 16 Ebd., S. 3. mögliche Grundgesetzänderung, Az. WD 3 – 3000 – 084/20, 17 Vgl. Roßmann (Anm. 14). 31. 3 . 2 0 2 0 .

15 APuZ 38/2020 schlagenen Änderung würde der Bundestag auch vernehmen. 24 Mit der Dezentralisierung des Kri- über „die Art der Durchführung“ seiner Sitzun- senmanagements verlagerte sich die Zuständig- gen mitbestimmen können, die dann im Weite- keit zunehmend auf die Ebene der Länder, sodass ren digital sein könnten. Genaueres müsste in sogar von einer „Stunde der Landesparlamente“ der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt die Rede war. 25 werden. Jedoch wurde diese Option bislang nicht Parlamentarische Kontrolle – vor allem seitens weiterverfolgt. der Oppositionsfraktionen – wird zunehmend ei- nen kritischen Ex-post-Blick auf das Regierungs- PARLAMENTARISMUS handeln werfen. Dabei wird insbesondere die IM KRISENVERLAUF Frage, ob und inwiefern die Maßnahmen effektiv, angemessen und „alternativlos“ waren, zu einem Die Parlamente haben versucht, auf die Heraus- zentralen Thema parlamentarischer Auseinander- forderungen der Krise zu reagieren. Dennoch hat setzung. Dann rücken auch die unterschiedlichen die Pandemie die parlamentarische Arbeit und die Strategien der Krisenbewältigung bei den Regie- parlamentarischen Aufgaben beeinträchtigt. Al- rungen in den Blickpunkt. Denn von der Stunde lerdings gilt dies nicht gleichermaßen für alle Par- der „einen“ Exekutive zu sprechen, wäre ohne- lamentsakteure und nicht gleichermaßen für alle hin zu kurz gegriffen. Vielmehr waren über den Parlamentsfunktionen. Die „Stunde der Exeku- bundesdeutschen Föderalismus Regierungen auf tive“ ist vor allem keine „Stunde der Opposition“: Bundesebene und in den 16 Ländern involviert, Sie ist keine Zeit der parlamentarischen Kontrolle die sich nicht immer einig waren. Auch unter den und der kritischen Diskussion – beispiels­weise Exekutiven gab es Gewinner und Verlierer. Die was Maßnahmen der Bundesregierung angeht. Krise ist somit auch ein Stresstest für den deut- Nicht nur, dass die Parlamente selbst hierzu nur schen Föderalismus. bedingt in der Lage und vorbereitet waren; es fehlte zudem der gesellschaftliche Resonanzbo- AUS DER NOT den, der insbesondere für die Ausübung der par- EINE TUGEND MACHEN lamentarischen Kontrolle essenziell ist. Diese Lage bedingte und spiegelte zugleich die hohen Welche Lehren können aus der Corona-Pande- Zustimmungswerte in der Bevölkerung für die mie gezogen werden? Zunächst hat die Pande- Regierung und deren Maßnahmen. In der vor- mie die Verletzlichkeit des Parlamentarismus in läufigen Hochphase der Krise im Mai/Juni 2020 solchen Krisen, aber auch darüber hinaus in den stieg das Vertrauen in das verantwortliche Exeku- Blickpunkt gerückt. Die „Stunde der Exekuti- tivpersonal in ungekannte Höhen. 23 ven“ ging Hand in Hand mit einer – zumindest Im weiteren Krisenverlauf wurde diese Situ- temporären und partiellen – Schwächung der Par- ation durchaus erkannt, problematisiert und an- lamente. Nun wird zu prüfen sein, ob die vorlie- gegangen. Insbesondere in der Phase des Zurück- genden und in der Krise veränderten rechtlichen fahrens der mitunter drastischen Maßnahmen Grundlagen tatsächlich bei zukünftigen Krisen legten sowohl Medien als auch Gerichte und par- eine hinreichende Berücksichtigung des Parla- lamentarische Akteure ihre Zurückhaltung ab – ments gewährleisten oder ob die Tendenzen einer flankiert durch eine insgesamt kritischer wer- „Exekutivierung“ der deutschen Politik abermals dende Öffentlichkeit. So waren im Verlauf der gestärkt worden sind. Pandemie immer lauter werdende Forderungen So sind beispielsweise deutliche Zweifel an nach einer „Stunde des Parlaments“ oder auch den rechtlichen Bestimmungen rund um den In- ausdrücklich einer „Stunde der Opposition“ zu fektionsschutz angebracht – insbesondere, weil sie nur durch ein einfaches Gesetz geregelt sind. Da- rüber hinaus wären für Krisensituationen Verfah- 23 Sowohl die Zustimmungswerte der Bundesregierung insge- samt als auch die der einzelnen Regierungsmitglieder stiegen während der Corona-Krise signifikant an: Auf die Frage, wie die 24 Vgl. Wolfgang Zeh, Zum ausnahmslosen Primat des Parla- Bundesregierung ihre Arbeit mache, antworteten vor der Pande- ments, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 2/2020, S. 469–473. mie rund 60 Prozent der Befragten „eher gut“. Im Mai/Juni 2020 25 So der Titel eines Beitrags des Präsidenten des rheinland- stieg dieser Wert auf über 80 Prozent. Vgl. Forschungsgruppe pfälzischen Landtages: Hendrik Hering, Die Stunde der Landes- Wahlen, Politbarometer, 10. 7. 2020. parlamente, 10. 6. 2020, www.faz.net/-16809716.

16 Parlamentarismus APuZ ren hilfreich, wie sie aus dem militärischen Par- rativer Kommunikation in den digitalen Raum, lamentsbeteiligungsbereich bekannt sind, etwa etwa in Form von Ausschusssitzungen oder digi- eine zwingende Ex-post-Billigung von Maßnah- talen Bürgersprechstunden, kann und sollte aus- men durch das Parlament, oder rigide Befristun- gebaut werden – auf dem Weg zu einem zumin- gen von Regelungen. dest teilweise „virtuellen Parlament“. Das Spezifische zu Beginn der pandemischen So kann die Covid-19-Krise nicht nur eine Krise war – neben der Notwendigkeit, rasch auf „Stunde der Exekutiven“ sein, sondern zugleich die eskalierende Situation zu reagieren – die Un- zur Lehrstunde für die Parlamente werden. Eine möglichkeit geregelter parlamentarischer Arbeit. Auseinandersetzung mit der Rolle der Parlamen- So lassen sich die Diskussionen rund um ein Not- te in der Pandemie leistet einen wichtigen Beitrag, parlament für solche Situationen verstehen – aber um die parlamentarische Demokratie krisenfester auch die Frage nach einer Digitalisierung des par- zu machen. Denn weitere Ausnahmesituationen lamentarischen Betriebs, zumindest als Back-up. werden kommen. Der Digitalisierungsschub, den die Pandemie in vielen Bereichen mit sich gebracht hat, ist auch am Parlament nicht spurlos vorbeigegangen. Es scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, hier die Mög- lichkeiten zu prüfen, von anderen Fällen zu ler- nen und insbesondere technische Optionen in STEFAN MARSCHALL den Blick zu nehmen, die neben der Zuverlässig- ist Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich- keit und Stabilität der Kommunikationstechnik Heine-Universität Düsseldorf mit Schwerpunkt auf auch die Frage des Schutzes vor digitalen Angrif- dem politischen System Deutschlands. fen berücksichtigen. Die Verlagerung von ope- [email protected]

17 APuZ 38/2020

DER 19. DEUTSCHE BUNDESTAG Schwierige Lernprozesse zur Sicherung parlamentarischer Arbeitsfähigkeit

Suzanne S. Schüttemeyer

Die laufende Wahlperiode des am 24. Septem- Union ein Abgeordneter (zumeist deutlich) weni- ber 2017 gewählten Deutschen Bundestages ist ger Wählerinnen und Wähler repräsentieren muss- nicht von „business as usual“, von weitgehend te als in Deutschland. 03 So beschloss der Bundestag lautloser Routine und Selbstverständlichkeit sei- 1996, ab der Wahl 2002 die Zahl der Wahlkreise auf ner Abläufe geprägt. In mancherlei Hinsicht hat 299 und seine gesetzliche Mitgliederzahl auf 598 zu sich der parlamentarische Alltag gewandelt und reduzieren. ist das Bild, das sich vom Parlament in der öf- In den Folgejahren blähten indes die Ent- fentlichen Wahrnehmung zeigt, verändert. Dafür wicklung des Parteiensystems beziehungsweise sind vor allem aktuelle Entwicklungen verant- des Wählerverhaltens und die Rechtsprechung wortlich, die zwar nicht andauern und auch keine des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht längerfristigen Wirkungen zeitigen müssen – sie den Bundestag mit Überhang- und Ausgleichs- öffnen aber den Blick für Aspekte des Parlamen- mandaten weiter auf, und die Wahl 2017 endete tarismus, die unter der Oberfläche lang etablier- mit 709 Abgeordneten im Reichstagsgebäude in ter und weitgehend unhinterfragter, weil erfolg- Berlin. Diese Größe und die Befürchtungen, dass reicher Praxis liegen. die nächste Bundestagswahl eine noch stattliche- re Zahl produzieren könnte, führten zu bis heute GRÖẞTER nicht beendeten Diskussionen über eine erneute BUNDESTAG Änderung des Wahlrechts. 04 Zunächst aber – und keinen Aufschub duldend – stellten sich Heraus- In der „alten“ Bundesrepublik von 1949 bis 1990 forderungen für die Organisation der parlamen- gehörten dem Bundestag nie mehr als 521 Mitglie- tarischen Binnenstruktur. der an. Seit 1965 betrug die gesetzliche Mitglieder- Mit der Konsolidierung des Parteiensystems zahl nach dem Bundeswahlgesetz 496; 22 (nicht in Westdeutschland hatte sich die Zahl der Frak- direkt gewählte, sondern vom Abgeordneten- tionen als maßgebliche politische wie organisa- haus entsandte) Berliner Abgeordnete kamen hin- torische Einheiten des Bundestages für mehr als zu, und gelegentlich entstanden einige Überhang- 20 Jahre auf drei eingependelt. 1983 kamen die mandate. 01 Um die durch die Deutsche Einheit um Grünen (seit 1993: Bündnis 90/Die Grünen) hin- über 16 Millionen gewachsene Bevölkerung ange- zu, 1990 die PDS (seit 2007: Die Linke), 05 und messen repräsentieren zu können, wurde der Bun- von 2013 bis 2017 war die FDP nicht im Parla- destag 1990 auf 656 Mitglieder vergrößert. Nicht ment vertreten. Mit dem Einzug der AfD 2017 zuletzt, weil sich in der darauffolgenden Wahl 16 zählt der Bundestag zum ersten Mal nach seiner Überhangmandate ergaben, setzten Bemühun- ersten Wahlperiode sechs Fraktionen. Dies führte gen ein, die Zahl der Abgeordneten zu verringern. nicht nur zu Raum- und Unterbringungsproble- Schon Mitte der 1990er Jahre herrschte der Ein- men sowie zu Konflikten über die Sitzordnung druck in Parteien wie Öffentlichkeit vor, dass der im Plenum; Veränderungen wurden auch bei der Bundestag zu groß sei – allerdings ohne dass sys- Einsetzung der Ausschüsse und der Festlegung tematisch rationale Kriterien für die Bemessung ihrer Größe sowie bei der Berechnungsgrundla- einer optimalen Parlamentsgröße erörtert wurden 02 ge für Redezeiten nötig. Während diese Neurege- oder es etwa Berücksichtigung fand, dass in allen lungen wegen ihres scheinbar allein technischen anderen Parlamenten der damaligen Europäischen Charakters nur wenig öffentliche Aufmerksam-

18 Parlamentarismus APuZ keit erfuhren, sollte die Verteilung und Beset- Jahre eingeübten Routinen, die dem geräuschlo- zung der Ausschussvorsitze und insbesondere die sen Funktionieren des Parlaments in seinem All- Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages zu tagsbetrieb dienen und bislang von allen Frakti- einer unendlichen, in den Medien immer wieder onen pragmatisch umgesetzt wurden, mittragen kontrovers diskutierten Geschichte der 19. Wahl- würde. periode werden. Als sich der Bundestag entschloss, mehr als vier Monate nach seiner Wahl den als Interim ein- SITZORDNUNG gesetzten Hauptausschuss aufzulösen und regu- UND AUSSCHÜSSE läre Fachausschüsse einzusetzen, geschah dies noch einstimmig. Auch auf die jeweilige Mitglie- Dass es schwieriger als in vergangenen Wahlpe- derzahl einigten sich alle Fraktionen, 06 und, so- rioden werden würde, auf den etablierten We- weit ersichtlich, war die Anzahl der jeder Frak- gen zu Absprachen über die Binnenorganisati- tion zukommenden Vorsitze ebenfalls nicht on des Bundestages zu kommen, zeichnete sich strittig. Die Festlegung, welche Ausschüsse von noch vor der konstituierenden Sitzung ab. Im welcher Fraktion und vor allem von welcher Per- Vor-Ältestenrat, einem Gremium aus Fraktions- son geführt werden sollten, gab dann aber Anlass vertretern und amtierendem Bundestagspräsi- zu erheblichen Auseinandersetzungen. denten, das zwischen Wahl und Konstituierung In den ersten 45 Jahren der bundesdeut- des Bundestages die notwendigen Vorkehrungen schen Parlamentspraxis war es bis auf eine Aus- für die nächste Wahlperiode trifft, konnte kei- nahme gelungen, unter den Parlamentarischen ne Einigung darüber gefunden werden, wo die Geschäftsführern im Ältestenrat Einverneh- Fraktionen im Plenarsaal platziert werden soll- men herzustellen, welche Fraktion welchen Aus- ten. Widerwillig akzeptierte die FDP letztlich die schussvorsitz übernehmen sollte. Seit 1994 kam Entscheidung, dass die Sitzordnung der Bundes­ es nur noch einmal zu einer interfraktionellen versammlung angewandt werde, sie also zwi- Vereinbarung, 07 sodass das sogenannte Zugreif- schen AfD und Union ihre Plätze bekäme. verfahren angewendet werden musste, bei dem Auch bei der Besetzung der Ausschussvor­ mathematisch eine Rangmaßzahl ermittelt wird, sitze zeigte sich, dass es nicht das Anwachsen die die Reihenfolge bestimmt, in der die Fraktio- auf sechs Fraktionen war, das primär Schwie- nen auf einen Ausschussvorsitz „zugreifen“ kön- rigkeiten bereitete. Vielmehr erwies sich rasch, nen. Diese Veränderung war bereits ein gewis- dass die AfD als neue Kraft kein parlamentari- ser Ausweis für geringere Konsensmöglichkeiten scher Kooperationspartner ist, der die über viele beziehungsweise Konsensbereitschaft unter den Bundestagsfraktionen. Als 2018 die AfD unter den ihr nach dem 01 Bis 1990 gab es nie mehr als fünf Überhangmandate. Vgl. Peter Schindler (Bearb.), Datenhandbuch zur Geschichte des Rangmaßzahlverfahren unstreitig zustehenden Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Bd. I, Baden-Baden 1999, drei Positionen auf den Vorsitz im Haushaltaus- S. 381. schuss und im Rechtsausschuss zugriff, ging der 02 Zwar war im Abschlussbericht der Kommission des Ältes- Widerstand jedoch so weit, dass es zum „histori- tenrates, der die Einsetzung der Wahlkreisreformkommission schen Showdown im Haushaltsausschuss“ kam. 08 vorschlug, von Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Verbesserung der Arbeitsstrukturen sowie öffentlichem Druck die Rede, aber we- Zum ersten Mal wurde der Vorsitzende nicht be- der dort noch in späteren Berichten wurden diese Stichworte mit stimmt, sondern musste gewählt werden, da eine Substanz gefüllt. Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 13/1803, 2 6 . 6 . 19 9 5 . 03 Vgl. die Zahlen bei Schindler (Anm. 1), S. 385. 06 Es wurden dieselben Ausschüsse wie in der vorangegan- 04 Für systematische Überlegungen zu den Prämissen und genen Wahlperiode eingesetzt und ihre Mitgliederzahlen Kriterien für eine „richtige“ Mitgliederzahl des Parlaments vgl. fast überall vergrößert, damit alle Fraktionen gemäß ihrem Wolfgang Zeh, Abgeordnetenzahl im Parlament – zu groß, zu Stärkeverhältnis vertreten sein können. Vgl. BT-Drs. 19/437, klein, gerade richtig?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) 16 . 1. 2 018 . 4/2018, S. 744–756. Siehe hierzu auch den Beitrag von Joachim 07 Vgl. Onlineausgabe des Datenhandbuchs zur Geschichte Behnke in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). des Deutschen Bundestages (DHB), Kap. 8.3: Besetzung des Aus- 05 Beide mit Unterbrechungen und lediglich Gruppenprä- schussvorsitzes, 31. 10. 2018, www.bundestag.de/​dokumente/​ senz im Bundestag in der 12. Wahlperiode (WP) (1990–1994); parlamentsarchiv/​datenhandbuch/08. die PDS war außerdem in der 13. WP (1994–1998) und 08 Dietmar Neuerer, Historischer Showdown im Haushaltsaus- 15. WP (2002–2005) nur mit zwei Abgeordneten vertreten. schuss,. 31. 1 2018, www.handelsblatt.com/20909256.html.

19 APuZ 38/2020

Fraktion, Die Linke, Widerspruch gegen den von PRÄSIDIUM der AfD präsentierten Kandidaten Peter Boehrin- ger einlegte. Auch im Rechtsausschuss wurde der Die Tradition, dass die jeweils größte Frakti- Vorschlag für den Vorsitzenden aus der AfD- on des Bundestages den Parlamentspräsiden- Fraktion nicht akzeptiert, sodass eine förmliche ten vorschlägt, wurde bereits in den 1950er Wahl abgehalten werden musste. Mit 19 Ja- ge- Jahren etabliert. Die Bedeutung dieses Amtes gen 12 Nein-Stimmen bei 12 Enthaltungen konn- führte bald dazu, dass es in das Personaltableau te den Vorsitz antreten. 09 Seine bei Koalitions­verhandlungen einbezogen wurde. wiederholten verbalen Entgleisungen mit men- Dabei waren Fraktionsspitzen und Kanzler „in schenverachtenden und antisemitischen Äuße- aller Regel darauf bedacht, mit dem Amtsinhaber rungen mündeten indes in ein weiteres „histori- einen möglichst zuverlässigen Verbündeten an sches“ Ereignis für den Bundestag: Im November der Spitze der parlamentarischen Alltagsarbeit zu 2019 wurde erstmals ein Ausschussvorsitzender bekommen oder wenigstens einen, der nicht allzu abgewählt. 10 viel politische Eigenständigkeit zu entfalten ver- Wie sehr die mindestens auf prozeduralem sprach. Da mit dem Präsidentenamt die Vertre- Sektor etablierte Konsenskultur des Bundesta- tung des ganzen Parlaments nach außen und die ges von der AfD unter Druck gesetzt wird, dürfte unparteiische Sitzungsleitung verbunden sind, sich erneut zeigen, wenn die Fraktion einen neu- obliegt es der vorschlagenden Fraktion aber auch, en Kandidaten für den derzeit vakanten Vorsitz die gebotene parteipolitische Neutralität im Auge im Rechtsausschuss präsentiert. Zwar haben die zu behalten und einen für die anderen Fraktionen übrigen Fraktionen zugesagt, eine andere Per- akzeptablen Kandidaten zu präsentieren. Dass son in dieser Position billigen zu wollen – womit dies bisher gelungen ist, zeigt die Tatsache, dass es der Anspruch der AfD aus dem Zugreifverfahren seit 1954 keine Gegenkandidaturen mehr gab.“ 11 anerkannt würde; kommt es aber wiederum zur Bei der Wahl der Vizepräsidenten kam es aber Ablehnung, tritt das Problem glasklar zutage: In- immer wieder zu Auseinandersetzungen über formelle Regelungen zur Sicherung der reibungs- Zahl und Verteilung der Positionen insbeson- losen parlamentarischen Arbeitsabläufe bedürfen dere für die kleinen Fraktionen. Darauf reagier- des gegenseitigen Grundvertrauens; fehlt dieses, te der Bundestag 1994 mit einer Geschäftsord- wird Formalisierung nötig, was die von vielen In- nungsregel, wonach jede Fraktion mindestens sidern als hervorragend bezeichnete Alltagsrou- einen Vizepräsidenten stellt. Dass diese Regel tine des Bundestages erheblich schädigen kann. nur funktioniert, wenn jede Fraktion nur sol- Gegenwärtig ist die Folge beträchtliche Unsi- che Kandidaten präsentiert, die für die anderen cherheit, da sich die AfD oft nicht gegen einge- wählbar sind, zeigte sich 2005: Lothar Bisky, vor- spielte Verfahren wendet, sie aber auch nicht ak- geschlagen von der Linksfraktion, verfehlte in tiv mitträgt – oder sich ihrer sogar bedient, um sie vier Wahlgängen die erforderliche Mehrheit, und sodann ad absurdum zu führen. erst die Nominierung Petra Paus ein halbes Jahr Diese Zusammenhänge werden weiter illus- später fand die Zustimmung im Bundestag. Der triert vom Verlauf der Versuche zwischen Okto- „Präsenzanspruch der Fraktionen“ kann nur mit ber 2017 und Mai 2020, einen Vizepräsidenten des dem „Wahlrecht des Plenums“ versöhnt wer- Bundestages aus der AfD-Fraktion zu wählen. den, 12 wenn alle Akteure die schweigende Über- einkunft teilen, den anderen keine unzumutbaren Vorschläge zu unterbreiten. 09 Im Haushaltsausschuss wurde Boehringer mit den Stimmen Darüber hilft auch die im September 2006 vor- von AfD und FDP gewählt; die Abgeordneten der Linke-Fraktion genommene Ergänzung der Geschäftsordnung stimmten gegen ihn, die Abgeordneten von Union, SPD und Grü- nen enthielten sich. Vgl. AfD leitet im Bundestag drei Ausschüsse, des Bundestages mit der Regelung reduzierter 31.. 1 2018, www.merkur.de/-9573311.html. 10 Die AfD-Fraktion reichte daraufhin beim Bundesverfas- sungsgericht eine Organklage gegen den Bundestag und den 11 Suzanne S. Schüttemeyer, Der Deutsche Bundestag und sei- Rechtsausschuss ein. Einen Eilantrag gegen Brandners Abwahl ne Akteure, in: Informationen zur politischen Bildung 341/2019, wies das Gericht Ende Mai 2020 ab. Vgl. Nach historischer S. 30. Abwahl von AfD-Politiker Brandner – Eil-Entscheidung des 12 Sebastian Lovens, Der Bundestag zwischen Wahl und Ent- Verfassungsgerichts steht, 29. 5. 2020, www.merkur.de/- sendung zu seinem Präsidium: die Causa Bisky, in: ZParl 1/2008, 13780792.html. S. 18–29.

20 Parlamentarismus APuZ

Mehrheitserfordernisse nicht hinweg, 13 wie sich rische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd bei den Wahlgängen für einen Vizepräsidenten Baumann, sah darin eine Verletzung der Interes- der AfD in der 19. Wahlperiode zeigte. Zwischen sen der Opposition, obwohl die Verkürzung der der konstituierenden Sitzung des Bundestages am Redezeit selbstverständlich proportional gestaltet 24. Oktober 2017 und dem 5. Mai 2020 stellte die war, also alle Fraktionen betraf, und die AfD le- AfD-Fraktion fünf verschiedene Kandidaten auf, diglich eine Minute verlor. Entsprechend mahn- die alle im dritten Wahlgang scheiterten. Nur die te sein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion, Mi- beim zweiten Versuch präsentierte AfD-Abge- chael Grosse-Brömer, die AfD möge aus ihrer ordnete Mariana Harder-Kühnel kam im dritten „peinlichen Verweigerungsecke“ herauskommen. 15 Wahlgang mit 199 Stimmen in die Nähe der rela- Wie sich der Ton und der Umgang mitei- tiven Mehrheit von 312. Den weiteren vier Vorge- nander im 19. Bundestag gewandelt haben, kann schlagenen versagten zwischen 397 und 545 Mit- auch an der gestiegenen Zahl der Ordnungsru- glieder des Bundestages ihre Zustimmung. fe bei Plenardebatten abgelesen werden. Aller- Unbeschadet der Frage, ob die Stimmabgabe dings zeigt die Statistik aller Wahlperioden, dass für einen AfD-Kandidaten nach rechtlichen, poli- es seit 1949 immer wieder zu – teilweise erheb- tisch-strategischen oder moralischen Kategorien lichen – Schwankungen in der Nutzung dieses entschieden beziehungsweise bewertet wird: Es Instruments gekommen ist. Hierin spiegeln sich ist eine Tatsache, dass es im 19. Bundestag nicht nicht zuletzt parlamentarische Lernprozesse wi- gelungen ist, den Präsenzanspruch der Fraktio- der: So verringerten sich die Ordnungsrufe von nen mit dem Wahlrecht des Plenums in Ausgleich der 1. Wahlperiode (1949 bis 1953) zur 2. Wahl- zu bringen. Demgegenüber waren in der Vergan- periode (1953 bis 1957) von 156 auf 36, und als genheit alle Fraktionen letztlich bereit, ihre poli- 1983 die Grünen in den 10. Bundestag einzogen, tischen Gegensätze dem prozeduralen Kompro- rief die Sitzungsleitung Abgeordnete 132 Mal zur miss zum Zwecke der optimalen Arbeitsfähigkeit Ordnung, nachdem dies in der Wahlperiode zu- des Parlaments unterzuordnen. vor (1980 bis 1983) 13 Mal der Fall gewesen war. 16 Offenkundig müssen neue Abgeordnete sich erst REDEZEITEN einmal in ihre Rolle eingewöhnen und sich mit UND ORDNUNGSRUFE den Gepflogenheiten des Hauses vertraut ma- chen. Es liegt nahe, dass solche Sozialisation in Eine solche Kompromissfindung scheiterte bis- der Regel schneller vonstattengeht, wenn Neu- lang vor allem an der immer wieder auftretenden linge in eine schon bestehende Fraktion eintre- Verweigerungshaltung der AfD. War die Frakti- ten, als wenn eine Partei zum ersten Mal ins Par- on zum Beispiel noch an der zu Beginn der Wahl- lament einzieht. periode im Ältestenrat einvernehmlich festgeleg- Im Lichte dieser Beobachtung erscheinen die ten Verteilung der Redezeiten beteiligt, wandte 30 Ordnungsrufe, die seit 2017 erteilt wurden, da- sie sich im Dezember 2019 vehement dagegen, von 17 gegen AfD-Abgeordnete, eher unspekta- die Standarddebattenzeit von 38 auf 30 Minuten kulär. Diese Zahl ist aber insofern zu relativieren, zu verkürzen. Auf diese Lösung – und auf eini- als es in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt le- ge weitere Änderungen im Ablauf einer Sitzungs- diglich rund vier Ordnungsrufe pro Wahlperiode woche – hatten sich alle anderen Fraktionen im gegeben hat, 17 also eine erhebliche Steigerung zu Ältestenrat verständigt, um Nachtsitzungen des verzeichnen ist (und es bleibt noch ein Jahr bis zur Parlaments künftig zu vermeiden und so die Be- nächsten Bundestagswahl). Hinzu kommt, dass lastungen für Abgeordnete wie Parlamentsmit- zwei Drittel der Ordnungsrufe, die gegen Mitglie- arbeiter zu verringern. 14 Der Erste Parlamenta-

15 Zit. nach Bundestag beschließt Tagesordnungen gegen das 13 Im dritten Wahlgang ist nicht mehr die absolute Mehrheit, Votum der AfD, 11. 12. 2019, www.bundestag.de/dokumente/ sondern nur noch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen textarchiv/2019/kw50-de-geschaeftsordnung-672412. notwendig. Vgl. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, 16 Für die 1. bis 12. WP siehe Schindler (Anm. 1), Bd. II, S. 1992; Paragraf 2, Absatz 2. bis zur 18. WP siehe DHB, Kap. 7.16: Ordnungsmaßnahmen, 14 Vgl. Heike Bredol/Axel Rahmlow, Schluss mit Nachtsitzun- 17.. 5 2018, www.bundestag.de/​dokumente/​parlamentsarchiv/​ gen im Parlament, 27. 11. 2019, www.deutschlandfunkkultur.de/ datenhandbuch/​07. deutscher-bundestag-schluss-mit-nachtsitzungen-im-parlament.​ 17 14. WP: 7; 15. WP: 10; 16. WP: 2; 17. WP: 1; 18. WP: 2. 2165.de.html?dram:article_id=464434. Vgl. ebd.

21 APuZ 38/2020 der der anderen Fraktionen ergingen, ihren Grund nutzten es seit ihrem Einzug in den Bundestag in Äußerungen hatten, die auf die AfD bezogen 1983. Bald schon zogen die anderen, die jeweilige waren. Ob auch diesmal der parlamentarische Regierung nicht tragenden Fraktionen nach – nicht Lernprozess greift und tradierte Verhaltensweisen zuletzt, weil es seither nicht mehr nur Wettbewerb mit der Zeit eingeübt werden, kann frühestens im zwischen Mehrheit und Opposition, sondern auch nächsten Bundestag beurteilt werden, ist aber zu immer zwischen mehreren Parteien innerhalb der bezweifeln: Zu scharf fallen die Auseinanderset- parlamentarischen Opposition gab. Entsprechend zungen zwischen den etablierten demokratischen wuchs die Zahl Kleiner Anfragen seit 2005 konti- Fraktionen und der AfD im Bundestag inzwi- nuierlich. So reichte die Linke in der 18. Wahlpe- schen aus, und wohl stärker als jemals zuvor sind riode (2013 bis 2017) 2184 Anfragen ein, und ent- sie von prinzipieller Ablehnung geprägt. 18 sprechend „normal“ ist es, dass seit 2017 neben der erstmalig im Bundestag vertretenen AfD auch die KLEINE ANFRAGEN FDP, der die Rückkehr in den Bundestag gelang, sich massiv dieses Instruments bediente – mit 2178 Der Eindruck unversöhnlicher Opposition ent- Anfragen sogar häufiger als die AfD. Schon 2005 steht auch, wenn man die Nutzung parlamentari- wurde befürchtet, dass so die Arbeit in den Minis- scher Kontrollinstrumente durch die AfD betrach- terien fast lahmgelegt werden könnte. 21 tet. Hinsichtlich der Inhalte der von ihr gestellten Geschieht dies gegenwärtig tatsächlich absichts- Kleinen Anfragen attestiert ihr die Politikwissen- voll, 22 könnte es sich als zweischneidiges Schwert schaftlerin Gudrun Hentges, diese nicht für die erweisen: Wie neuere Forschung ergeben hat, kön- Informationsbeschaffung zur Regierungskontrol- nen Kleine Anfragen „einen nicht zu unterschät- le, sondern vor allem als „Kampfinstrument“ zu zenden Beitrag zur Erfüllung der Repräsentations- nutzen, um „die eigenen Ideologien zu untermau- funktion leisten“. 23 Sie dienen nicht (mehr) nur der ern“. 19 Zusätzlich drängt sich der Verdacht auf, sachlichen Information der Fachpolitiker, sondern dass die AfD mit der Flut ihrer Anfragen die Mi- mit ihnen lassen sich politische Themen setzen und nisterien gezielt überlasten will. 20 Tatsächlich weist der Nachweis führen, dass Anliegen der Wähler die Parlamentsdokumentation mit Stand Juni 2020 aufgegriffen werden. Diese Möglichkeit zu nutzen für die AfD-Fraktion 2138 Kleine Anfragen aus. ist legitim, auch wenn der jeweilige Inhalt ideolo- Die höchste Zahl, die bis 2005 jeweils von allen gisch und propagandistisch abgefasst ist. Aber diese Fraktionen zusammen während einer Wahlperio- Funktion gerät ebenso in Gefahr wie die Informa- de erreicht wurde, betrug 2070 (13. Wahlperiode, tions- und Kontrollfunktion der Kleinen Anfrage, 1994 bis 1998). So plausibel diese Einschätzungen wenn ernsthaft diskutiert werden muss, ihren Ge- auf den ersten Blick erscheinen mögen, so ist doch brauch förmlich, etwa durch eine Änderung der vor vorschnellen Urteilen zu warnen. Geschäftsordnung, einzuschränken. Kleine Anfragen sind seit Jahrzehnten ein klas- sisches Instrument der parlamentarischen Oppo- SUCHE NACH KONSENS sition, um Sachkontrolle gegenüber der Bundes- regierung auszuüben. Insbesondere die Grünen Auch die Kleine Anfrage als wohletabliertes In- strument parlamentarischer Praxis kann ihre Auf-

18 Auch ein genauer empirischer Vergleich des heutigen Verhal- gaben letztlich nur auf Basis eines Grundkon- tens mit dem damaligen Verhalten der Unionsfraktion gegenüber senses aller Fraktionen erfüllen, der sich an der den Grünen in den 1980er Jahren dürfte diese Einschätzung bestätigen. Trotz allen Wettbewerbs – auch zwischen den Partei- en der Opposition – gab es seinerzeit keinesfalls eine einhellige 21 Vgl. Sebastian Hünermund, Kleine Anfragen im Deutschen Frontstellung aller Fraktionen gegen die Neulinge im Bundestag. Bundestag. Zu den Funktionen des Frageinstruments am Beispiel 19 Zit. nach Benjamin Dierks, Neugierige Abgeordnete, ge- der 17. Wahlperiode, in: ZParl 3/2018, S. 455–476, hier S. 476, nervte Regierende, 20. 5. 2020, www.deutschlandfunk.de/​die- unter Verweis auf Werner J. Patzelt. kleine- ​anfrage-im-bundestag-neugierige-abgeordnete.724. 22 Diese Vermutung erhält Nahrung durch die Tatsache, de.html?dram:article_id=477073. Vgl. auch Gudrun Hentges/ dass sich mehr als jede fünfte Anfrage der AfD auf „Korrektur­ Christoph Butterwegge/Gerd Wiegel, Rechtspopulisten im bitten“ richtet, nämlich auf Informationen darüber, wie häufig Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD, Ministerien und nachgeordnete Behörden Medien gebeten Frank ­furt/M. 2018. haben, ihre Berichterstattung zu korrigieren. Vgl. zum Beispiel 20 So der Politikwissenschaftler Sven T. Siefken. Vgl. Dierks BT-Drs. 19/19897, 12. 6. 2020. Siehe auch Dierks (Anm. 19). (Anm. 19). 23 Hünermund (Anm. 21), S. 475.

22 Parlamentarismus APuZ

Alltagstauglichkeit des Bundestages orientiert 2017 wurden ganze 171 Tage benötigt, bevor das und daher Kooperations- und Kompromissbereit- erneute Bündnis von CDU/CSU und SPD unter schaft einschließen muss. Genau diese Eigenschaf- Dach und Fach war. Ein voll etabliertes Kabinett ten und dieser Grundkonsens befinden sich aber mit seinen Ressortzuschnitten und -verteilungen im 19. Bundestag in einem fragilen Zustand. Unter ist aber in der politischen Praxis des deutschen den etablierten Fraktionen sind sie nach wie vor Parlamentarismus die Voraussetzung dafür, dass ausgeprägt, die AfD ist jedoch in dieser Hinsicht der Bundestag sich ebenfalls alle nötigen Struktu- nicht kalkulierbar. So wird die unter den alten Be- ren geben kann, um seine Funktionen zu erfüllen. dingungen bewährte und eingeübte Praxis oft still- Da sich die Langwierigkeit der Regierungsbil- schweigend fortgeführt. Zu lernen, wann man in- dung 2017 früh abzeichnete und die Sondierun- formelle Einigungen aufrechterhalten kann und gen für eine erste sogenannte Jamaika-Koalition wann der tradierte prozedurale Konsens durch (CDU/CSU, Grüne, FDP) im Bund nach vier Wo- eine förmliche Änderung der Regeln aufgegeben chen gescheitert waren, verschob der Bundestag werden muss, ist ein schwieriger Prozess für den die Bestellung der Fachausschüsse, „da man für die Bundestag und seine demokratischen Akteure. seit 1969 praktizierte Spiegelbildlichkeit zunächst Dies gilt umso mehr, als es nach 1953 noch nie die künftigen Geschäftsbereiche der Ministerien ein Parlament gab, in dem so viele Neulinge saßen abwarten wollte“. 25 Stattdessen wurde ein Haupt- wie im 19. Bundestag: 262 und damit 36,8 Prozent ausschuss mit 47 Abgeordneten eingesetzt – mit der 709 Abgeordneten absolvieren gegenwärtig der Folge, dass die gewohnten Arbeitsabläufe ins- ihre erste Wahlperiode. 24 Neben der AfD-Frak- besondere der Gesetzgebung nicht aufgenommen tion sind auch 59 der 80 FDP-Abgeordneten und werden konnten. Erst vier Monate nach der Bun- weitere 110 Parlamentarier neu im Bundestag. Sie destagswahl konstituierten sich die Fachausschüs- müssen erst in die Parlamentsbräuche eingeübt, se, und in den Fraktionen von Union und SPD so- in die Parlamentskultur sozialisiert werden, was wie in der AfD, die ihre Arbeitsebenen ebenfalls angesichts der skizzierten Unsicherheit viel grö- weitestgehend spiegelbildlich zu den Ausschüssen ßerer Anstrengungen bedarf als zuvor. Gleich zu gestalten, wurden die Sprecher der Arbeitskreise Beginn der Wahlperiode wurden dafür zusätzli- beziehungsweise -gruppen erst Ende Januar 2018 che Hürden errichtet. gewählt. Aus diesem schleppenden Anfang der Der parlamentarische Alltag des im Septem- Wahlperiode resultierte auch ein Verlust an Kon- ber 2017 gewählten 19. Deutschen Bundestages turen in der Führung der Fraktionen. Zu wenig begann nämlich mit erheblicher Verzögerung. konnte eine Art Esprit de corps erzeugt werden, Zwar hatte sich das Parlament am 24. Okto- und die Motivation litt, da zu viele Abgeordnete ber 2017 ordnungsgemäß spätestens 30 Tage nach nicht genau genug wussten, was sie zu tun hatten der Wahl konstituiert; danach aber kam es nicht beziehungsweise zu wenig zu tun hatten. Insider zu der über viele Wahlperioden entwickelten par- sprachen gar von „Verwilderung“. lamentarischen Routine. In den ersten 60 Jahren Mittlerweile hat sich vieles wieder eingespielt, der Bundesrepublik hatten die Regierungsbil- noch dazu unter den schwierigen Bedingungen der dungen nach Bundestagswahlen durchschnittlich Corona-Pandemie. 26 Die Hauptherausforderung­ 38 Tage gedauert. 2005 waren schon die 65 Tage aber bleibt, den die parlamentarische Arbeitsrou- ein erheblicher Ausreißer gewesen, die bei der tine sichernden prozeduralen Grundkonsens wie- Bildung der Großen Koalition der ersten Mer- der herzustellen oder mutig in demokratischer kel-Regierung zwischen der Wahl und der Ver- Übereinkunft Regeln zu ändern. Es wäre nicht das eidigung des Bundeskabinetts vergangen waren. erste Mal, dass der Deutsche Bundestag den Lern- prozess, der den Parlamentarismus kennzeichnet,

24 Vgl. Michael Feldkamp, Deutscher Bundestag 1998 bis erfolgreich absolviert. 2017/18: Parlaments- und Wahlstatistik für die 14. bis beginnende 19. Wahlperiode, in: ZParl 2/2018, S. 207–222, hier S. 210. Für SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER frühere Angaben vgl. Schindler (Anm. 1), 580 f. ist Professorin em. für Regierungslehre und 25 Sven T. Siefken, Regierungsbildung „wider Willen“ – der Policyforschung an der Martin-Luther-Universität mühsame Weg zur Koalition nach der Bundestagswahl 2017, in: ZParl 2/2018, S. 407–436, hier S. 410 ff. Halle-Wittenberg und Gründungsdirektorin des 26 Siehe hierzu den Beitrag von Stefan Marschall in dieser Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl). Ausgabe (Anm. d. Red.). [email protected]

23 APuZ 38/2020

BUNDESTAG: ENDE DES WACHSTUMS? Vorschläge und Perspektiven für die Wahlrechtsreform

Joachim Behnke

In der letzten Sitzung des Deutschen Bundestags nem offenen Brief ihre „Sorge um das Ansehen vor der Sommerpause am Freitag, den 3. Juli 2020, der Demokratie“ bei einer ausbleibenden Reform debattierte das Parlament zum wiederholten Male zum Ausdruck, da der Eindruck entstehe, dass über eine Reform des Wahlrechts. Eine ursprüng- den Abgeordneten „das eigene Hemd (…) wich- lich geplante Behandlung des Gesetzentwurfs der tiger sei als der Gemeinwohlrock“. 03 Auch der drei Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und aktuelle Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Bündnis 90/Die Grünen 01 war am Mittwoch zu- und sein Amtsvorgänger Norbert Lammert hat- vor im Innenausschuss blockiert worden. Damit ten eine entsprechende Reform jeweils dezidiert war die letzte realistische Chance vertan, dass es zu einem besonders wichtigen Vorhaben ihrer noch vor der nächsten Bundestagswahl 2021 zu Amtsperiode erklärt. einer wirkungsvollen Wahlrechtsreform kommt. In einer Sitzung des Koalitionsausschusses am URSACHEN 25. August 2020 nahmen sich schließlich die Par- DES PROBLEMS teispitzen der Großen Koalition selbst des The- mas an und einigten sich auf einen zweistufigen Die Vergrößerung des Bundestags 2017 ist im Reformprozess, nach dem die „eigentliche“ Re- Wesentlichen auf den Ausgleich von Überhang- form erst zur Wahl 2025 stattfinden soll. Für die mandaten zurückzuführen. 04 Überhangmandate Wahl 2021 sollen lediglich „Dämpfungsmaßnah- entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland men“ ergriffen werden, deren Effekt jedoch vo- mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort Man- raussichtlich sehr gering sein wird. Darüber hi- date im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen zu- naus stellen sich auch verfassungsrechtliche stehen würden. Dies lässt sich aus dem Zusam- Fragen. Eine mehr als siebenjährige Debatte ver- menwirken zweier Effekte erklären, nämlich der pufft damit mit einem kläglichen Nicht-Ergebnis. Entstehung eines Potenzials für die Entstehung Anlass für die Reformdebatte war die Vergrö- von Überhangmandaten einerseits und der tat- ßerung des Bundestags aufgrund von Überhang- sächlichen Verwirklichung dieses Potenzials an- mandaten und Ausgleichsmandaten, die seit dem dererseits. Das Potenzial besteht dabei in der ma- neuen Wahlgesetz von 2013 vorgesehen sind, um ximalen Anzahl von Überhangmandaten, die eine Verzerrungen der Proportionalität durch vorher- Partei bei einem gegebenen Zweitstimmenanteil gehende Verteilungsschritte wieder auszuglei- erzielen könnte. Beträgt der Anteil der Direkt- chen. 2017 musste der Bundestag um mehr als ein mandate an der Gesamtheit der Mandate – wie Sechstel von regulär 598 Mandaten auf 709 ver- bei Bundestagswahlen üblich – rund 50 Prozent, größert werden. Der Alterspräsident Hermann dann ist das Potenzial die Differenz zwischen Otto Solms sprach in seiner Eröffnungsrede von 50 Prozent und dem Zweitstimmenanteil der Par- einem „aufgeblähten Parlament“, unter dem so- tei. Dieses Potenzial kann allerdings nur dann wohl die Arbeitsfähigkeit des Bundestags als auch verwirklicht werden, wenn die betreffende Partei sein Ansehen bei den Bürgerinnen und Bürgern alle oder annähernd alle Direktmandate gewinnt. leide. 02 Im September 2019 brachten über hun- Dabei gewinnt in der Regel nur die stärkste Partei dert Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler in ei- Überhangmandate.

24 Parlamentarismus APuZ

Als grobe Faustregel kann man annehmen, gleichmäßiger sich die Stimmen unter den – aus dass die stärkste Partei, wenn sie mehr als zehn Sicht der größten Partei – anderen Parteien ver- Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei teilen, desto leichter wird es möglich, dass die liegt, mehr als 90 Prozent der Direktmandate ge- größte Partei einerseits deutlich unter 50 Pro- winnt. 05 Der sprunghafte Anstieg der Überhang- zent und andererseits deutlich vor der zweit- mandate zwischen 2005 und 2009 zum Beispiel stärksten Partei liegt, was der kritischen Konstel- ist darauf zurückzuführen, dass die Differenz lation für die Entstehung von Überhangmandaten der Stimmenanteile von CDU/CSU und SPD – entspricht. ausgehend von einem praktischen Gleichstand In einem Zwei-Parteien-System müsste die 2005 – um fast zehn Prozentpunkte zunahm, ob- stärkste Partei, damit sie annähernd alle Direkt- wohl sich die CDU/CSU sogar noch einmal leicht mandate gewinnt, entsprechend der genannten verschlechterte (von 35,2 auf 33,8 Prozent). 2009 Faustregel mindestens 55 Prozent der Zweit- war daher ein paradigmatischer Fall für eine Kon- stimmen auf sich vereinen. Hier kann es gar stellation, die das Entstehen von Überhangman- nicht zur Entstehung von Überhangmandaten daten besonders begünstigt: eine stärkste Partei, kommen. In einem Drei-Parteien-System kann die deutlich weniger als 50 Prozent der Stimmen die stärkste Partei theoretisch ab rund 40 Pro- erhält, aber gleichzeitig weit vor der zweitstärks- zent der Stimmen – mit jeweils 30 Prozent für ten Partei liegt. die beiden anderen Parteien – annähernd alle Di- 2009 entstanden noch 24 Überhangmandate rektmandate gewinnen, in einem Sechs-Partei- für die Union, 2017 waren es schon 41, denn 2017 en-System mit CDU/CSU, 06 SPD, FDP, Grü- lag die kritische Konstellation noch akzentuier- nen, Linke und AfD könnte die stärkste Partei ter vor. Mit nur 32,9 Prozent der Zweitstimmen theoretisch schon mit 25 Prozent – mit jeweils erzielte die Union das – abgesehen von 1949 – 15 Prozent für die anderen Parteien – fast alle schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Damit Direktmandate gewinnen. Tatsächlich waren die lag sie aber immer noch 12 Prozentpunkte vor Ergebnisse von 2017 in einigen Bundesländern der SPD, die mit 20,5 Prozent der Zweitstimmen nicht mehr allzu weit von diesen „Idealzustän- ebenfalls einen historischen Tiefpunkt erreichte. den“ für die Entstehung von Überhangmanda- Die angeführten strukturellen Ursachen für ten entfernt. So konnte die CDU in Branden- die Entstehung von Überhangmandaten hängen burg mit etwas mehr als 28 Prozent der für die eng mit der Struktur des Parteiensystems zusam- Sitzverteilung herangezogenen Zweitstimmen men. Dabei gilt: Je mehr Parteien es gibt und je 90 Prozent der Direktmandate gewinnen, in Thüringen mit knapp 31 Prozent alle Direkt- mandate. Wären diese Verhältnisse repräsentativ 01 Vgl. Gesetzentwurf der FDP-, Linke- und Grünen-Fraktionen für das Bundesgebiet, hätte der Bundestag heute zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Bundestags-Drucksache (BT-Drs). 19/14672, 6. 11. 2019. weit über 900 Sitze. 02 Rede von Alterspräsident Dr. , Die Veränderung des Parteiensystems, also 24. 10. 2017, www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/ sowohl die zunehmende Fragmentierung als auch kw43-konstituierende-rede-solms-530094. das Abschmelzen der ehemaligen Volkspartei- 03 Zit. nach Staatsrechtler für kleineren Bundestag, 20. 5. 2019, en, verkörpert einen langfristigen und stabilen www.tagesschau.de/inland/bundestag-verkleinerung-101.html. 04 Tatsächlich kann es nach dem Gesetz von 2013 auch zu Trend, der auf kontinuierlich wirkenden soziolo- 07 einer Vergrößerung ohne Überhangmandate kommen. 2013 gischen und psychologischen Prozessen beruht. zum Beispiel orientierte sich der Ausgleich an der CSU, die Gleichzeitig hat im Laufe der vergangenen Jahr- gar keine Überhangmandate erzielt hatte, aber unter ande- zehnte die „Beweglichkeit“ der Wählerschaft zu- rem aufgrund einer in Bayern relativ niedrigen Wahlbeteili- genommen, weil kurzfristige Kandidaten- und gung bei den ersten Stufen der Verteilung überrepräsentiert war. Vgl. Joachim Behnke, Das neue Wahlgesetz – oder: Was Sachthemeneffekte an Bedeutung für die Wahl- lange währt, wird nicht unbedingt gut, in: Reimut Zohlnhöfer/ entscheidung gewonnen haben. Es ist zwar kei- Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine neswegs grundsätzlich auszuschließen, dass die Bilanz der Regierung Merkel 2009–2013, Wiesbaden 2014, S. 49–71. 05 Vgl. Joachim Behnke, Parteienstruktur und Überhang- 06 CDU und CSU werden hier wie eine Partei behandelt, mandate, in: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraud da jeweils nur eine von beiden in einem Bundesland antritt. Roller (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2004, 07 Vgl. Peter Lösche, Ende der Volksparteien, in: S. 327–352. APuZ 51/2009, S. 6–12.

25 APuZ 38/2020

CDU/CSU bei zukünftigen Wahlen wieder über fallen. Dieser Zusammenhang kann in Form 40 Prozent der Stimmen erhalten könnte (genau- eines „Unvereinbarkeitstheorems“ gefasst wer- so, wie das auch für andere Parteien nicht ausge- den: 08 Wenn es zu einer größeren Anzahl von schlossen werden kann). Aber sie verfügt nicht Überhangmandaten kommt, ist es nicht mög- mehr über ein Reservoir von Wählerinnen und lich, dass die Unantastbarkeit der Direktmanda- Wählern in dieser Größenordnung mit einer sta- te, die Unantastbarkeit der Listenmandate und bilen Loyalitätsbeziehung zu ihr, die ein solches die Aufrechterhaltung des Interparteienpropor- Ergebnis als Normalfall erwarten lassen würden. zes eingehalten werden können, ohne dass es zu Ein Ergebnis der Union im Umfeld von 30 Pro- einer deutlichen Vergrößerung des Parlaments zent wie 2017 ist daher mit großer Wahrschein- kommt. lichkeit kein historischer Ausreißer, sondern Die genannten Bedingungen sind die Stell- dürfte eher typisch für die mittelfristige Entwick- schrauben des Systems, mit deren Variation die lung und somit Ausdruck der „neuen Normali- verschiedenen Reformentwürfe arbeiten. tät“ sein. Es ist deshalb sinnvoll, bei Reformüber- legungen von Verhältnissen wie 2017 oder noch PFADE extremeren auszugehen. DER REFORM

MÖGLICHE Je nachdem, welche Bedingungen man lockern STELLSCHRAUBEN möchte, lassen sich im Wesentlichen drei grund- sätzliche Pfade für den Gang der Debatte identifi- Die verschiedenen Reformmodelle lassen sich vor zieren. Diese stehen für grundsätzliche Logiken, allem durch spezifische Bedingungen unterschei- wie man an das Problem herangehen kann, in der den, die durch einen Reformentwurf jeweils er- Realität sind sie allerdings nicht unbedingt in ih- füllt beziehungsweise keineswegs verletzt werden rer Reinform anzutreffen. sollten. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die folgenden vier Bedingungen: Erster Pfad: Strikte Einhaltung der Sollgröße 1. Einhaltung der Regelgröße von 598 Sitzen. Auf diesem Pfad wird der Einhaltung der Sollgrö- ße des Bundestags oberste Priorität eingeräumt. 2. Aufrechterhaltung des Interparteienpropor- Er wird in der aktuellen Debatte von Verfech- zes: Die endgültigen bundesweiten Sitzzah- tern von Kappungsmodellen eingeschlagen. Bei len der Parteien sollen dem Verhältnis ihrer Kappungsmodellen werden nur so viele Direkt- bundesweit erzielten Zweitstimmen ent- mandate vergeben, wie durch Zweitstimmen ge- sprechen. deckt sind. Damit es zu dieser Deckung kommt, werden die Direktmandate mit den schlechtesten 3. Unantastbarkeit der Direktmandate: Di- Ergebnissen in entsprechender Anzahl nicht ver- rektmandate, das heißt Wahlkreismandate, geben. In Kappungsmodellen wird also die Be- die eine Partei dadurch errungen hat, dass dingung der Unantastbarkeit der Direktman- ihre Kandidatin oder ihr Kandidat im Wahl- date aufgegeben. Kappungsmodelle wurden in kreis eine relative Mehrheit an Erststimmen der einschlägigen Literatur intensiv diskutiert 09 gewonnen hat, sollen der Partei ungeschmä- lert zugeteilt werden. 08 Vgl. Joachim Behnke, Die Unausweichlichkeit der Reform 4. Unantastbarkeit der Listenmandate: Listen- des Wahlsystems nach seinem offenkundigen Scheitern bei der Bundestagswahl 2017, in: Susanne Baer et al. (Hrsg.), Jahr- mandate, die einer Partei proportional zu buch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Tübingen 2019, ihren Zweitstimmen in einem Bundesland S. 23–49. zustehen, sollen der jeweiligen Landesliste 09 Vgl. Hans Meyer, Lösungsmöglichkeiten nach dem der Partei in vollem Umfang zukommen. Wahlrechtsurteil des BVerfG vom 3. Juli 2008, in: Deutsches Verwaltungsblatt 3/2009, S. 137–145; Olga Birkmeier et al., Eine schonende Verbindung von Personen- und Verhältniswahl Das Problem besteht nun allerdings darin, dass zum Abbau negativer Stimmgewichte bei Bundestagswahlen, in: diese vier Bedingungen nicht alle erfüllt wer- Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswis- den können, wenn viele Überhangmandate an- senschaft 1/2011, S. 55–79.

26 Parlamentarismus APuZ und zuletzt vor allem vom Rechtswissenschaft- Zweiter Pfad: ler Hans Meyer wieder mit Nachdruck thema- „muddling through“ tisiert. 10 Es lässt sich dabei zwischen umfas- Bei diesem Pfad wird an mehreren Stellschrau- senden vorgelagerten Kappungsmodellen und ben gleichzeitig gedreht, dennoch wird das Pro- begrenzten nachgelagerten Kappungsmodellen blem der Vergrößerung des Bundestags nur un- unterscheiden. zureichend behandelt. Dieser Kategorie sind Umfassende Kappungsmodelle setzen auf die Vorschläge der SPD-Fraktion und der Uni- der Ebene der Länder an und sehen vor, dass onsfraktion sowie der von ihnen gemeinsam ge- jede Partei in jedem Bundesland maximal so tragene Vorschlag des Koalitionsausschusses viele Mandate erhält, wie ihr dort nach ihren zuzurechnen. Zweitstimmen zustehen würden. Ein solches Beim SPD-Vorschlag von Anfang 2020 wurde Kappungsmodell, bei dem sämtliche Überhang- die reguläre Größe des Bundestags als strikt ein- mandate durch Kappung beseitigt werden, fin- zuhaltende Sollgröße aufgegeben, es wurde aber det sich in der Logik des AfD-Vorschlags von ein „Deckel“ beziehungsweise eine Obergrenze 2019 wieder. 11 Bei begrenzten nachgelagerten von 690 Sitzen eingezogen. 13 Bis zur Erreichung Kappungsmodellen kommt es vor der Kappung der Obergrenze wäre auf übliche Weise ausgegli- zu einer Reduzierung der Überhangmandate, chen worden, danach wäre es zur Kappung der indem ein Teil von ihnen mit Listenmandaten dann noch überschüssigen Direktmandate ge- verrechnet wird. Überhangmandate der CDU kommen. 14 Darüber hinaus sah der SPD-Vor- zum Beispiel in Baden-Württemberg würden schlag vor, den ersten Zuteilungsschritt des aktu- dadurch kompensiert, dass vorhandene Listen- ellen Wahlgesetzes, wonach die 598 Sitze zuerst mandate der CDU zum Beispiel in Niedersach- im Verhältnis zu den Bevölkerungszahlen auf die sen oder Nordrhein-Westfalen abgezogen wür- Bundesländer verteilt werden, zu streichen 15 und den. In diesem Fall kommt es also zusätzlich zur eine paritätisch mit Frauen und Männern besetzte Aufgabe der Bedingung der Unantastbarkeit der Liste einzuführen. Listenmandate, dafür aber kann die Anzahl der Der Vorschlag, den die Unionsfraktion am zu kappenden Direktmandate reduziert werden. 30. Juni 2020 ad hoc vorlegte, 16 verzichte- Der Reformvorschlag der Grünen von 2011 sah te ebenfalls auf die Einhaltung der Regelgrö- beispielsweise die weitestmögliche Verrechnung ße, sah aber nicht einmal mehr eine Obergren- von Überhangmandaten mit Listenmandaten ze vor. Die Vergrößerung des Bundestags sollte und die Kappung der dann noch verbliebenen unter anderem dadurch begrenzt werden, dass Überhangmandate vor. 12 bis zu sieben Überhangmandate nicht ausgegli- Jedes Reformmodell, mit dem garantiert wer- chen werden sollten. Er opferte also die Bedin- den soll, dass sowohl der Interparteienproporz gung der Proportionalität zwischen den Partei- aufrechterhalten als auch eine maximale Größe en, das heißt, hinter den Mandaten der größten des Parlaments nicht überschritten wird – sei es Fraktion stünden durchschnittlich merkbar we- die Sollgröße von 598 oder ein sogenannter „De- niger Wählerinnen und Wähler als hinter den ckel“ –, muss zwangsläufig solche Kappungsele- Mandaten der anderen Parteien. Dazu käme die mente enthalten. Die beiden Vorschläge der AfD von 2019 und der Grünen von 2011 sind daher 13 Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Eine faire und nachhaltige die einzigen, die jemals gemacht wurden, die die Wahl ­rechts­reform für Deutschland, 3. 3. 2020, www.spdfraktion.​ strikte Einhaltung der Sollgröße von 598 Sitzen de/ ​system/files/documents/beschluss-wahlrecht-spd-​20200​303. garantiert hätten. pdf. 14 In die Verhandlungen im Koalitionsausschuss Ende August ging die SPD mit einem leicht modifizierten Entwurf, der eine teilweise Verrechnung der Listenmandate mit den Überhang- 10 Vgl. Hans Meyer, Welche Medizin empfiehlt sich gegen mandaten vorsah. einen adipösen Bundestag?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 15 Da dies die Ursache für den Vergrößerungseffekt bei der 4/2018, S. 521–553. Bundestagswahl 2013 war (vgl. Behnke, Anm. 4), ist dieser 11 Vgl. Antrag der AfD-Fraktion, Wahlrechtsreform jetzt – Schritt grundsätzlich zu begrüßen. Tatsächlich aber ist er für die Bundestag auf eine definitive Mandatszahl verkleinern, BT- Endverteilung nahezu irrelevant, sobald der Ausgleich aufgrund Drs. 19/14066, 16. 10. 2019. von Überhangmandaten zustande kommt. 12 Vgl. Gesetzentwurf der Grünen-Fraktion zur Änderung 16 Vgl. Albert Funk, CDU und CSU haben es plötzlich ganz des Bundeswahlgesetzes, BT-Drs. 17/4694, 9. 2. 2011. eilig,. 1. 7 2020, www.tagesspiegel.de/25965962.html.

27 APuZ 38/2020

Gefahr von Veränderungen der Mehrheitsver- Die Effekte dieser Reform sind daher in kei- hältnisse im Parlament durch unausgeglichene ner Weise vorhersehbar. Sie könnten theore- Überhangmandate. tisch sehr stark ausfallen, wenn die CSU fast Simulationen zeigen, dass es schon bei sie- keine Überhangmandate erhält und annähernd ben unausgeglichenen Überhangmandaten mit alle Überhangmandate der CDU mit ihren ei- einer Wahrscheinlichkeit von etwa einem Vier- genen Listenmandaten verrechnet werden kön- tel zu neuen möglichen Mehrheitskoalitionen nen. Dann müsste der Bundestag nur in gerin- beziehungsweise der Zerstörung bestehender gem Maße vergrößert werden. Genauso gut aber Mehrheiten kommen kann. 17 Eine Regierungs- ist es möglich, dass es nur einen sehr geringen koalition, die weniger Stimmen erhalten hät- Effekt gibt, wenn nämlich fast keine Listenman- te als die ihr im Parlament gegenübersitzenden date der CDU zur Verrechnung mit Überhang- Oppositionsparteien, hätte jedoch eine wackeli- mandaten bereitstehen. In diesem Fall ist sogar ge Legitimationsgrundlage. Dabei wäre der Ver- eine weitere Vergrößerung des Bundestags auf kleinerungseffekt von sieben unausgeglichenen 750 oder gar 800 Sitze und mehr vorstellbar. Die Überhangmandaten ausgesprochen überschau- drei unausgeglichenen Überhangmandate wür- bar. Die Endgröße des Bundestags würde sich den dabei eine vernachlässigbare Reduktion um vermutlich lediglich um 12 bis 15 Sitze verrin- vier bis sechs Mandate bewirken. gern. 18 Überraschenderweise hat sich die Uni- Der Vorschlag ist jedoch nicht nur ungeeig- onsfraktion in diesem Vorschlag zusätzlich auf net, die bestehenden Probleme zu lösen, er schafft eine Reduktion der Anzahl der Wahlkreise auf seinerseits neue. Denn die drei unausgeglichenen 280 eingelassen, womit schon von Beginn an die Überhangmandate verstoßen nicht nur gegen Entstehung von Überhangmandaten verhindert grundlegende Fairnesserfordernisse, sie sind da- werden sollte. rüber hinaus womöglich auch verfassungsrecht- In die Verhandlungen im Koalitionsaus- lich problematisch. 20 Es ist zwar richtig, dass das schuss Ende August ging die Union offensicht- Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von lich mit einem noch einmal leicht modifizierten 2012 unausgeglichene Überhangmandate bis zu Vorschlag, der eine Änderung des ersten Zu- einer gewissen Größenordnung als hinnehmbar teilungsschritts der „Mindestsitzkontingente“ betrachtet hat, 21 aber eben nur als nicht zu ver- vorsah, wodurch eine teilweise Verrechnung der meidende Nebenfolge der Personalisierungs- Listenmandate mit Überhangmandaten erfol- komponente. Der jetzige Vorschlag aber macht gen soll. Der nun vom Koalitionsausschuss vor- die drei unausgeglichenen Überhangmandate zu gelegte Vorschlag 19 ist eine leicht abgemilderte einem Bonus oder Rabatt für die Überhangs- Version des letzten Unionsentwurfs. Allerdings partei, 22 weil der Ausgleich lediglich früher zum wird auf eine Reduktion der Anzahl der Wahl- Stoppen kommt. Damit sind die drei unausgegli- kreise auf 280 verzichtet, es bleibt bei der ak- chenen Überhangmandate ein bewusst geschaffe- tuellen Zahl von 299. Die Zahl der zulässigen nes Element des Wahlsystems, ohne dass sie sich unausgeglichenen Überhangmandate wurde auf als solche in irgendeiner Form rechtfertigen las- drei reduziert. Ein Teil der verbliebenen Listen- sen. Die dadurch bewirkte Dämpfung der Ver- mandate wird mit – soweit vorhanden – Über- größerung um vier bis sechs Mandate dürfte je- hangmandaten verrechnet. Von den wesentli- denfalls keine hinreichende Rechtfertigung aus chen Kernelementen des SPD-Vorschlags, einer verfassungsrechtlicher Sicht sein, weil es keine Deckelung der Gesamtgröße und Kappung der bestimmte Größe des Bundestags gibt, die aus bei Erreichung des Deckels immer noch verblei- verfassungsrechtlicher Sicht geboten ist. benden Überhangmandate, findet sich im Mo- dell des Koalitionsausschusses keines wieder. 20 Vgl. dazu die Stellungnahme des Staatsrechtlers Christoph Schönberger vor dem Innenausschuss des Bundestags, Ausschuss- 17 Vgl. meine Stellungnahme im Innenausschuss des Bun- drucksache 19(4)502 B, 25. 5. 2020, insb. Abschnitt III. 3. destags zum Gesetzentwurf der drei Oppositionsfraktionen, 21 Vgl. BVerfG, 2 BvF 3/11 vom 25. 7. 2012, Rn. 143 und 144. Ausschussdrucksache 19(4)502 A, 25. 5. 2020, S. 30 f. 22 Vgl. zu dieser Problematik auch Joachim Behnke, Einfach, 18 Zu nennenswerten Effekten käme es lediglich, wenn sich der fair, verständlich und effizient – personalisierte Verhältniswahl Ausgleich an der CSU orientierte. mit einer Stimme, ohne Direktmandate und einem Bundestag 19 Vgl. Robert Roßmann, Wahlrechtsreform: Viel Schall, wenig der Regelgröße, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3/2019, Rauch,. 26. 8 2020, www.sueddeutsche.de/1.5010620. S. 630–654, insb. S. 640 ff.

28 Parlamentarismus APuZ

Dritter Pfad: würden diese ausgeglichen. Mit einem Ergebnis Beseitigung der Ursachen wie 2017 wäre es nach diesem Vorschlag jeden- Nach dem Unvereinbarkeitstheorem muss es, falls zu keiner Vergrößerung gekommen. kommen Überhangmandate einmal in größerer Zahl vor, zu einem Trade-off zwischen den ge- FAIRNESS ALS nannten Bedingungen kommen. Das heißt, man ÜBERGEORDNETES muss sich entscheiden, auf welche man zuguns- KRITERIUM ten von anderen verzichten möchte. Der Kö- nigsweg, dieses Dilemma gar nicht erst entste- Wahlen regeln die Form der Machtvergabe, in hen zu lassen, besteht daher darin, den Anlass der die Bürgerinnen und Bürger ihre Repräsen- aus dem Weg zu räumen, nämlich die Überhang- tantinnen und Repräsentanten für die Legisla- mandate selbst. Je kleiner der Anteil der Direkt- tive und – im parlamentarischen System – über mandate ist, desto weniger Überhangmandate diese indirekt auch ihre Regierung wählen. Über fallen an. Der Vorschlag der drei Oppositions- Wahlen werden also die Machtverhältnisse der fraktionen FDP, Grüne und Linke, der zudem zwei für die politische Gestaltung wichtigsten als einziger in der ausgearbeiteten Form eines Staatsgewalten geregelt. Das Wahlsystem be- Gesetzentwurfs vorlag, 23 sah daher eine Reduk- rührt somit den Kern der Demokratie und der tion der Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 Staatsorganisation und wird deshalb auch als auf 250 vor. materielles Verfassungsrecht bezeichnet. Wahl- Dieser Ansatz verfolgt das Ziel der Verklei- systemfragen sollten daher auch dann, wenn sie nerung in konsistenter Weise, denn es gilt: Will wie bei uns nicht explizit durch die Verfassung, man Überhangmandate grundsätzlich verhin- sondern mittels einfacher Gesetzgebung gere- dern, darf der Anteil der Direktmandate maximal gelt sind, immer so behandelt werden, als ob so groß sein wie der minimale Anteil an Zweit- es hierbei um die Regelung von Verfassungsin- stimmen, ab dem es möglich ist, alle Direktman- halten ginge. Diese Wahrnehmung spiegelt sich date zu gewinnen. Bei einer fixierten Anzahl von auch im Bekenntnis der Parteien beziehungs- Direktmandaten muss das Parlament so lange weise der meisten Politikerinnen und Politiker vergrößert werden, bis diese fixe Anzahl im Ver- dazu wider, dass das Wahlsystem möglichst im hältnis zur Parlamentsgröße genau dem Zweit- Konsens aller Parteien verabschiedet werden stimmenanteil der Partei, die alle Direktmandate sollte, denn die Bedeutung einer einstimmigen gewinnt, entspricht. Entscheidung wird immer betont, wenn es um Die Reduktion um 49 Wahlkreise wäre also die Begründung von Verfassungsinstitutionen in jedem Fall ein sehr wirkungsvolles Mittel zur geht. Das wichtigste Legitimationsargument, Verkleinerung des Bundestags. Allerdings wür- das wir für die Begründung von Verfassungen de sie nicht ausreichen, um die Entstehung aller nutzen, ist das vertragstheoretische. Wir sollten Überhangmandate unter ähnlichen Bedingungen es daher auch bei der Beurteilung von Wahlsys- wie 2017 gänzlich zu verhindern; hierfür müss- temreformen einsetzen. te die Anzahl der Wahlkreise sogar auf rund 200 Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Frage, in reduziert werden. 24 Aus diesem Grund sah der welcher Form und in welchem Umfang Inte- Drei-Fraktionen-Vorschlag zusätzlich die Ver- ressen eine Rolle spielen dürfen. Interessen fol- rechnung von internen Überhangmandaten mit gen Wünschen und Bedürfnissen der Bürgerin- Listenmandaten vor. Um die bei der Abgabe von nen und Bürger, sie sind daher selbstverständlich Listenmandaten entstehenden Schmerzen etwas wichtig, und etwas zugespitzt könnte man sagen, zu dämpfen, wurde in dem Vorschlag die Regel- dass die Konstruktion des gesamten politischen größe auf 630 Sitze erhöht. Sollten dann immer Systems dem Zweck dient, Interessen auf ange- noch externe Überhangmandate vorhanden sein, messene Weise gerecht zu werden. Die Spielre- geln des politischen Systems, die in der Verfas- sung geregelt sind, legen fest, wie Interessen zum 23 Vgl. Gesetzentwurf der FDP-, Linke- und Grünen-Fraktionen wirkungsvollen Input in diesem Spiel werden. (Anm. 1). 24 Vgl. Friedrich Pukelsheim, 598 Sitze im Bundestag statt 709? Damit ist aber gleichzeitig klar, dass diese Interes- 200 Wahlkreise statt 299!, in: Deutsches Verwaltungsblatt sen keine Rolle spielen dürfen und können, wenn 3/2018, S. 153–160; Behnke (Anm. 22). es um die Festlegung eben dieser Spielregeln

29 APuZ 38/2020 selbst geht. 25 Parteien müssen als Gleiche mit von für andere Parteien nicht hätten. Aber ungleiche bloßen Eigeninteressen „gereinigten“ Präferen- Betroffenheit schafft nicht schon Unrecht, denn zen 26 in den Verhandlungsprozess gehen und als auch der Dieb ist von seiner Gefängnisstrafe stär- „unparteiische“ Akteure 27 Vorschläge erarbeiten, ker betroffen als der rechtstreue Bürger. die niemand mit vernünftigen Gründen zurück- Nur wenn durch die asymmetrische Betrof- weisen kann. 28 Keine Partei darf daher Vorschlä- fenheit der Union ihr gleichzeitig etwas genom- ge machen, die ihr im Verhältnis zu den anderen men würde, worauf sie einen legitimen Anspruch Parteien einen einseitigen und ungerechtfertigten erheben könnte, wäre ein solches Vorgehen unfair Vorteil verschaffen. gegenüber der Union. Aber ein solcher Anspruch Es ist nun offensichtlich, dass unausgegli- auf die Direktmandate existiert nicht a priori, er chene Überhangmandate, die vor allem der Uni- wird erst durch das jeweils gültige Wahlrecht for- on zugutekämen, einen solchen einseitigen und muliert. Es ist nicht erkennbar, wie er jenseits und ungerechtfertigten Vorteil ergeben würden. Der unabhängig davon als quasi-naturrechtlicher An- von der Union gerne vorgebrachte Hinweis, un- spruch entstehen könnte. Eine relative Mehrheit ausgeglichene Überhangmandate behandelten von teilweise nur noch einem Viertel der Erst- alle Parteien gleich, weil sie auch den anderen stimmen schafft sicherlich keinen automatischen Parteien zustünden, wenn sie sie denn einmal natürlichen Besitzanspruch auf ein Mandat. erhielten, ist ungefähr so überzeugend wie die Genauso erhielte die Union zwar weniger Behauptung, die Bürgerinnen von Paris hätten Wahlkreismandate, wenn es insgesamt von vorn- 1789 keinen Grund gehabt, sich über Hunger herein weniger Wahlkreise geben würde, ihr ent- und Armut zu beschweren, weil sie ja auch als stünde aber dadurch in keiner Weise Unrecht, Marie Antoinette hätten geboren werden kön- geschweige denn ein Nachteil gegenüber den nen. Unausgeglichene Überhangmandate sind anderen Parteien. Denn der relative Sitzverlust das lediglich abgemilderte Echo des Mehrheits- bei einer Reduktion der Anzahl der Wahlkreise, wahlsystems mit all seinen proporzverzerrenden wie im Drei-Fraktionen-Modell vorgeschlagen, Eigenschaften und verletzen daher wie dieses wäre für alle Parteien genau derselbe, nur dass er grundlegende Fairnessgebote. Unter Gerechtig- eben für manche Parteien vor allem in Form von keitsaspekten scheint es zudem offensichtlich, Direktmandaten anfiele, weil die Mandate die- dass eine Kappung von Überhangmandaten ei- ser Parteien vor allem in Form von Direktman- nen geringfügigeren Eingriff bedeuten würde, daten existieren, während er für andere Parteien als wenn man die Überhangmandate unausgegli- in Form von Listenmandaten anfiele, weil die- chen stehen lassen würde. 29 se Parteien eben nur Listenmandate haben. Die Im Gegensatz zum Vorschlag der Union sind Reduktion der Anzahl der Wahlkreise mag aus alle Vorschläge der anderen Parteien fair – wenn, anderen Gründen als problematisch angesehen wie gezeigt, auch nicht unbedingt effizient –, weil werden, sicherlich aber nicht aus Gründen der sie alle Parteien gleich behandeln. Grundsätzlich Fairness. wären sie damit in der Logik eines vertragstheo- retischen Arguments als Grundlage einer konsen- WIE GEHT suellen Lösung vorstellbar gewesen. Es stimmt ES WEITER? zwar, dass die Kappung von überschüssigen Di- rektmandaten und die Reduktion von Wahlkrei- Das Ende August 2020 vorgelegte Konzept der sen für die Union Konsequenzen hätten, die sie Großen Koalition ist aus den genannten Grün- den eine unzureichende Vorkehrung gegen eine Vergrößerung des Bundestags gegenüber sei- 25 Vgl. Joachim Behnke, Die Spielregeln der Konstruktion von Spielregeln – Das Beispiel der Wahlrechtsdebatte, in: Zeitschrift ner Sollgröße. Denn eine kluge Reform darf für Politische Theorie 1/2015, S. 3–18. nicht auf dem Wunschdenken aufbauen, dass es 26 Vgl. Robert E. Goodin, Laundering Preferences, in: Jon schon irgendwie gut gehen wird, sondern soll- Elster/Aanund Hylland (Hrsg.), Foundations of Social Choice te Vorkehrungen für den schlimmstmöglichen Theory, Cambridge 1986, S. 75–101. Fall treffen. Der Koalitionsentwurf aber igno- 27 Vgl. Brian Barry, Justice as Impartiality, Oxford 1996. 28 Vgl. Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, riert dieses unter realistischen Annahmen nicht Princeton 1998. geringe Risiko. Die Reformdebatte muss daher 29 Vgl. Behnke (Anm. 22). letztlich als gescheitert betrachtet werden. Für

30 Parlamentarismus APuZ die Bundestagswahl 2021 sind, je nach Ergeb- so gleichzeitig parteiische und gemeinwohlorien- nis der Wahl, vermutlich Bundestagsgrößen zwi- tierte Motive widerspiegeln, ohne dass diese zuei- schen 650 und 850 Sitzen zu erwarten. Es könn- nander in Widerspruch gerieten. te also zu einer leichten Entspannung gegenüber Was die institutionelle Reform des Wahlsys- 2017 kommen – genauso könnte sich das Pro- tems angeht, so ist angesichts des katastrophalen blem aber auch verschärfen. Scheiterns der Parteien in diesem Punkt nicht da- Eine Vergrößerung des Parlaments könnte in mit zu rechnen, dass sich diese in der nächsten der jetzigen Lage bestenfalls noch durch eine zi- Legislaturperiode leichter auf ein von ihnen ge- vilgesellschaftliche Bewegung verhindert werden, meinsam getragenes Ergebnis verständigen könn- die an dem Wahlverhalten ansetzen würde. Dies ten. Anstatt über das Für und Wider von einzel- könnte umgesetzt werden, indem die Wählerinnen nen Modellen nachzudenken, sollte es daher auch und Wähler eine bestimmte Form gemeinwohlo- ein Nachdenken über den Prozess der Entschei- rientierten strategischen Wählens durch geschick- dungsfindung selbst geben, das heißt über die te Nutzung der Erststimme praktizieren. Denn Etablierung von Mechanismen, die die Debatte wenn zu erwarten ist, dass die stärkste Partei sehr vom Einfluss von Parteieninteressen zu befrei- viele Überhangmandate erhält, dann könnte dies en helfen würden. Vielversprechend könnte da- verhindert werden, indem die Anhängerinnen und bei der Einsatz von Elementen der sogenannten Anhänger der anderen Parteien ihre Erststimmen deliberativen Demokratietheorie sein. Repräsen- koordinieren und auf bestimmte Wahlkreiskan- tativ ausgewählte Bürgerversammlungen würden didatinnen und -kandidaten konzentrieren. Dass durch Expertinnen und Experten über die Vor- solche Kampagnen für bestimmte Formen strate- züge und Nachteile einzelner Modelle informiert gischen Wählens durchaus Erfolg haben können, werden und könnten dann eine Empfehlung für zeigt nicht zuletzt das Wahlverhalten von Unions- die Politik abgeben. Ein solches Verfahren wur- anhängerinnen und -anhängern bei der Nachwahl de 2004 in British Columbia angewandt. 31 Denn 2005 in Dresden 30 und die verbreiteten Wahlab- es gilt, in einer Paraphrasierung eines dem fran- sprachen in Mehrheitswahlsystemen. zösischen Ministerpräsidenten Georges Clemen- Diese Form strategischen Wählens hätte, da ceau zugeschriebenen Ausspruchs, der Krieg sei die Koordination nur bezüglich der Erststim- zu wichtig, um ihn den Generälen zu überlassen: men und völlig unabhängig von der Vergabe der Das Wahlsystem ist zu wichtig, um es (allein) den Zweitstimme erfolgt, keinerlei Auswirkungen auf politischen Parteien zu überlassen. die relative Verteilung der Sitze zwischen den Par- teien. Es käme durch diese Form also zu keiner- lei Nachteil oder Vorteil einer bestimmten Par- tei. Diese Art strategischen Wählens wäre daher frei von jeglichem Ruch einer fragwürdigen Ma- nipulation und würde dem Bürger vielmehr sogar die Möglichkeit eröffnen, neben seiner originären Präferenz für eine Partei zugleich eine Präferenz für die Beibehaltung der Regelgröße des Bundes- tags auszudrücken. Die Wahlentscheidung würde

30 Hier kam es zu einer strategischen Nutzung des Effekts des „negativen Stimmgewichts“. Dadurch, dass ein Teil der Uni- onsanhänger seine Zweitstimmen der eigenen Partei entzog, kam es dazu, dass die CDU insgesamt einen Sitz mehr erhielt. Zusätzlich konnten diese Wähler ihre der CDU entzogene Zweitstimme einer anderen Partei geben, die dieser nahe- stand, wodurch sie sogar eine Art „doppeltes Stimmgewicht“ erhielten. Vgl. Joachim Behnke, Strategisches Wählen bei der JOACHIM BEHNKE Nachwahl in Dresden zur Bundestagswahl 2005, in: Politische Vierteljahresschrift 4/2008, S. 695–720. ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an 31 Vgl. Graham Smith, Democratic Innovations, der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Cambridge 2009. [email protected]

31 APuZ 38/2020

FRAUEN IN PARTEIEN UND PARLAMENTEN Innerparteiliche Hürden und Ansätze für Gleichstellungspolitik

Benjamin Höhne

An einem Freitagabend im Februar 2017 hatten verabschiedet oder diskutieren darüber. Doch es die CDU-Kreisverbände Vechta und Cloppen- bestehen rechtliche und sachliche Zweifel. 02 Ob burg zur Mitgliederversammlung eingeladen. Im sie im Einklang mit Verfassungsnormen und ein- Minutentakt hielten die Busse vor der Basketball- fachgesetzlichen Vorschriften stehen, wird der- halle des SC Rasta Vechta. An den 40 Akkredi- zeit höchstrichterlich geprüft. In Brandenburg tierungsstationen konnte es den 1837 stimmbe- soll im Oktober 2020 ein Urteil des Landesver- rechtigten Unionsmitgliedern nicht schnell genug fassungsgerichts verkündet werden. In Thürin- vorangehen. Schließlich bestanden kaum Zwei- gen wurde das Paritätsgesetz bereits gekippt. fel, dass auf eine geglückte innerparteiliche Wahl Diese Entscheidung soll jedoch vom Bundesver- die Direktwahl in den Bundestag folgen würde. fassungsgericht überprüft werden. 03 Politikwis- Der Wahlkreis 32 im Oldenburger Münsterland senschaftlich interessiert, inwiefern derartige Ge- ist mit seinem hohen Katholikenanteil und sei- setze tatsächlich den Kern des Problems treffen ner ländlichen Prägung seit 1949 die bundesweite oder nur seine Symptome behandeln. Wenn sie, Hochburg der CDU. wie beim Brandenburger Parité-Gesetz, lediglich Bemerkenswert ist aber nicht nur die inklu- Vorgaben für die Listen, nicht aber für die Wahl- sive innerparteiliche Demokratie (normalerweise kreise vorschreiben, können sie über Symbolpo- finden in mitgliederstarken Verbänden eher ex- litik hinaus wenig bewirken. Denn dann entzieht klusive Delegiertenversammlungen statt), son- sich mit den Wahlkreisnominierungen ein Rek- dern auch das Ergebnis: Es war ein Novum, dass rutierungsbereich der gesetzlichen Regelung, bei dort eine Frau als CDU-Direktkandidatin in den dem Frauen ohnehin schlechtere Durchsetzungs- Wahlkampf ziehen sollte. Leicht gemacht hatte chancen haben als auf der Liste. 04 man es Silvia Breher nicht. Noch während ihrer Im Folgenden werde ich die innerparteilichen Bewerbungsrede, in der sie unter anderem über Herausforderungen für die größere Präsenz von Frauen in der Politik sprach und sich selbst als Frauen im Bundestag herausarbeiten und darauf Vertreterin ihres Geschlechts empfahl, aber auch aufbauend Lösungsansätze skizzieren. Damit soll traditionelle Rollenvorstellungen über Familie die Debatte, bei der zwei Defizite auszumachen erkennen ließ, war in einigen Männergruppen lei- sind, informierter geführt werden können. Ers- ses Gelächter zu vernehmen. 01 Im ersten Wahl- tens spielt es in der öffentlichen Auseinanderset- gang trat sie gegen drei männliche Mitbewerber zung kaum eine Rolle, welche Strukturen inner- an. Erst in der Stichwahl setzte sie sich durch. halb der Parteien zur Unterrepräsentation von Anders als dieses Ereignis nahelegen könn- Frauen in den Parlamenten beitragen und wie es te, hat sich die Präsenz von Frauen im Deutschen um das innerparteiliche Problembewusstsein be- Bundestag mit der Wahl im Herbst 2017 nicht er- stellt ist, um dem parlamentarischen Gender Gap höht, sondern ist mit 30,9 Prozent sogar wieder entgegenzuwirken. Zweitens lässt sich für die unter das geringe Niveau von einem Drittel gefal- Wissenschaft zwar kein fehlendes Interesse an der len. Nicht zuletzt deshalb ist der Ruf nach einem Parteipraxis konstatieren, dafür mangelt es aber legislativen Eingriff über Paritätsgesetze lauter an empirisch abgesicherten Erkenntnissen über geworden. Erste Bundesländer haben sie bereits die Geschlechterdimension des karriereorientier-

32 Parlamentarismus APuZ ten parteipolitischen Engagements. 05 Dadurch ven angetriebene Intersektionalitätsforschung an bleibt häufig schleierhaft, welche Maßnahmen Bedeutung, längst nicht nur beim Thema Kandi- der Gleichstellungspolitik in den Parteien mit datenaufstellung, das ein Scharnier zwischen Par- welchem Erfolg getroffen beziehungsweise (ab- lament, Parteien und Wahlen bildet. 11 sichtlich oder unabsichtlich) unterlaufen werden. Im Vergleich dazu ist die Forschungssituation MITGLIEDSCHAFT, zur Geschlechtergerechtigkeit in den gegenwärti- PARTIZIPATION UND AUFSTIEG gen Demokratien im Allgemeinen zufriedenstel- lender. 06 Mit Blick auf Parlamente fokussiert sich Die parlamentarische Unterrepräsentation von die Forschung weitgehend auf die nationale Ebe- Frauen beginnt bereits bei der Parteimitglied- ne, wenngleich in jüngerer Vergangenheit auch schaft: Obgleich das Problem seit Jahren bekannt subnationale Vertretungen mehr Beachtung fin- ist, liegt der weibliche Mitgliederanteil bei allen der den. 07 Dabei steht oft die Suche nach einer Ge- im Bundestag vertretenen Parteien unter 50 Pro- schlechterkomponente parlamentarischer Ver- zent. Am geringsten ist er mit 17,8 Prozent in der fahren und Outputs im Vordergrund. 08 Bei den AfD, am höchsten mit 41 Prozent bei den Grünen Parteien liegt ein Fokus auf deren Spitzen, für (Abbildung). 12 Die Mitgliederentwicklung wies die zum Beispiel untersucht wird, ob Frauen ei- 2019 indes überwiegend in Richtung eines sich ver- nen anderen Führungsstil pflegen oder sie in kleinernden Gender Gaps: Besonders deutlich trat Krisenzeiten eine bessere Chance haben, in jene dies in der CSU zutage, die insgesamt einen Frau- vorzudringen. 09 In der umfangreichen Literatur enanteil von nur 21,3 Prozent hat, unter den Neu- zum Wahlverhalten wird dem Geschlecht tradi- mitgliedern jedoch von 31,6 Prozent. Nur FDP tionell Erklärungskraft beigemessen. 10 Schließ- und Linke stagnierten im vergangenen Jahr, muss- lich gewinnt die stärker von Gerechtigkeitsmoti- ten damit aber immerhin keinen weiteren Rück-

01 Vgl. Benjamin Höhne et al., Beobachtungsprotokoll zur sind-landesparlamenten-weiterhin-unterrepraesentiert; Elisa Aufstellungsversammlung der CDU im Wahlkreis 32, Cloppen- Deiss-Helbig, Repräsentation von Frauen in der lokalen Politik, burg-Vechta, 3. 2. 2017 in Vechta, IParl-Forschungsprojekt zur in: Markus Tausendpfund/Angelika Vetter (Hrsg.), Politische Ori- Bundestags-Kandidatenaufstellung 2017 (BuKa2017). entierungen von Kommunalpolitikern im Vergleich, Wiesbaden 02 Zur Debatte in der Rechtswissenschaft vgl. Friederike 2017, S. 387–413; Elke Wiechmann, Politische Repräsentanz von Wapler, Die Crux mit der Quote – Paritätsgesetze und demo- Frauen in Kommunalparlamenten, in: dies./Jörg Bogumil (Hrsg.), kratische Repräsentation, Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen Arbeitsbeziehungen und Demokratie im Wandel, Baden-Baden & Argumente 369/2019, S. 7–17; Benjamin Höhne, Politik ist 2014, S. 264–280. (k)ein Männergeschäft. Eine genderfokussierte Analyse der 08 Vgl. Sarah C. Dingler/Corinna Kröber/Jessica Fortin- parteilichen Kandidierenden-Auswahl zu Bundestagswahlen, Rittberger, Do Parliaments Underrepresent Women’s Policy Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2019, S. 8, S. 21–24. Preferences? Exploring Gender Equality in Policy Congruence in 03 Vgl. Stefan Locke, Freiheit geht vor Reißverschluss, in: 21 European Democracies, in: Journal of European Public Policy Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 16. 7. 2020, S. 2. 2/2019, S. 302–321. 04 Dass Frauen eher in Wahlkreisen aufgestellt werden, in 09 Vgl. Diana Z. O’Brien, Rising to the Top: Gender, Political Per- denen ein Wahlerfolg aussichtslos erscheint, wurde bereits in formance, and Party Leadership in Parliamentary Democracies, älteren Studien festgestellt. Vgl. Beate Höcker, Frauen in der in: American Journal of Political Science 4/2015, S. 1022–1039. Politik. Eine soziologische Studie, Opladen 1987, S. 133. 10 Vgl. Marc Debus, Weder ein „modern gender gap“ noch 05 Für eine Ausnahme vgl. Jessica Fortin-Rittberger et al., „same gender voting“ in Deutschland? Zum Einfluss des Ge- How Party Systems Shape Local-National Gender Gaps, in: schlechts auf das individuelle Wahlverhalten bei den Bundes- Government and Opposition 1/2019, S. 52–74. tagswahlen zwischen 1998 und 2013, in: Harald Schoen/Bern- 06 Vgl. Ronald Inglehart/Pippa Norris/Christian Welzel, hard Weßels (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass Gender Equality and Democracy, in: Comparative Sociology der Bundestagswahl 2013, Wiesbaden 2016, S. 271–293. 3–4/2002, S. 321–345; Gabriele Abels/Anne Cress, Vom Kampf 11 Vgl. Liza M. Mügge/Daphne J. van der Pas/Marc van ums Frauenwahlrecht zur Parité: Politische Repräsentation von de Wardt, Representing Their Own? Ethnic Minority Women Frauen gestern und heute, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen in the Dutch Parliament, in: West European Politics 4/2019, (ZParl) 1/2019, S. 167–186; Martina Martinez Mateo, Füreinan- S. 705–727; Aimie Bouju, Politische Unterrepräsentation von der Sprechen. Zu einer feministischen Theorie der Repräsentati- Menschen mit Migrationshintergrund nach der Bundestagswahl on, in: Leviathan 3/2019, S. 331–353. 2017, 29. 10. 2018, https://regierungsforschung.de/politische- 07 Vgl. Rainbow Murray/Réjane Sénac, Explaining Gender unterrepraesentation-von-menschen-mit-migrationshintergrund- Gaps in Legislative Committees, in: Journal of Women, Politics & nach-der-bundestagswahl-2017. Policy 3/2018, S. 310–335; Sebastian Bukow/Maximilian Orth, 12 Vgl. auch Alexandra Nonnenmacher, The Social Represen- Frauen sind in Landesparlamenten weiterhin unterrepräsentiert, tativeness of German Party Membership, in: German Politics 4.. 3 2020, www.boell.de/de/2020/03/04/kein-land-sicht-frauen- 2/2019, S. 201–221.

33 APuZ 38/2020

Abbildung: Frauenanteil unter allen Parteimitgliedern und Neumitgliedern 50 % 45 % 40 % 35 % 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % CDU SPD AfD FDP Linke Grüne CSU

Insgesamt 2019 eingetretene Mitglieder Stichtag: 31. 12. 2019; Neumitglieder der AfD: keine Angaben; Reihung der Parteien nach ihrem Zweitstimmenergebnis zur Bundestagswahl 2017. Quelle: Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahr 2019, in: ZParl 2/2020, S. 419–448. gang wie in den Jahren zuvor hinnehmen. 13 Grund gungen des Parteiengagements, die immer wieder für Optimismus besteht für beide dennoch nicht, dafür kritisiert werden, vor allem Frauen abzu- denn der Anteil der Frauen unter ihren Neumit- schrecken, keine Entwarnung gegeben werden. 16 gliedern lag 2019 noch niedriger als im ohnehin So dürften sich zum Beispiel lange Parteisitzungen schon geringen Gesamtdurchschnitt. Soll sich ihre zu Tageszeiten, die in vielen Familien gemeinsame Geschlechterlücke nicht erst in Jahrzehnten schlie- Kernzeiten sind, eher abträglich darauf auswirken, ßen oder gar noch weiter ausdehnen, müssten die dass aus einem Beitrittsimpuls eine auf Dauer an- Parteien also schon bei den Beitrittsanreizen insbe- gelegte Mitwirkung wird, da Frauen trotz sich ver- sondere für Frauen massiv gegensteuern. 14 ändernder Rollenbilder bekanntlich noch immer Haben Frauen in einer Partei erstmal Fuß ge- den Großteil der familiären Care-Arbeit leisten. fasst, fallen die Unterschiede in ihrem Partizipati- Die Dominanz älterer Männer sowie die häufige onsverhalten zu dem von Männern kaum ins Ge- Befassung der Parteien mit sich selbst sind weitere wicht. Dies zeigen Daten zum Frauenanteil auf Faktoren, die negativ ins Gewicht fallen. Nominierungsveranstaltungen sowie zum Zeitauf- Beim Umfang des aufstiegsbezogenen, vertika- kommen für innerparteiliches Engagement, die wir len Gender Gaps zwischen Mitgliedern und Abge- im Rahmen des Forschungsprojektes „BuKa2017“ ordneten zeigt sich anhand der Frauenanteile, dass des Instituts für Parlamentarismusforschung zur Grüne, Linke und Sozialdemokraten, auf gerin- Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl erhoben haben. 15 Dennoch kann bei den Bedin- mehr als der Hälfte aller Parteiversammlungen zur Nominierung der Listenkandidierenden, die per Zufallsstichprobe ausgewählt 13 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahr wurden (N=48), alle anwesenden auswahlberechtigten Partei- 2019, in: ZParl 2/2020, S. 419–448, hier S. 429. mitglieder befragt. Die Feldforschung fand nach dem Vorbild 14 Vgl. Brigitte Geißel, Politikerinnen. Politisierung und Partizi- einer britischen Pionierstudie über Conservatives and Labour zu pation auf kommunaler Ebene, Opladen 1999, S. 103–120. Beginn der 1990er Jahre statt. Vgl. Pippa Norris/Joni Lovendu- 15 Vgl. Benjamin Höhne, Mehr Frauen im Bundestag? Deskrip- ski, Political Recruitment. Gender, Race and Class in the British tive Repräsentation und die innerparteiliche Herausbildung des Parliament, Cambridge 1995, S. 249. Zum Forschungsdesign von Gender Gaps, in: ZParl 1/2020, S. 105–125, hier S. 116–119. „BuKa2017“ vgl. www.iparl.de/de/methodisches.html. Im Forschungsprojekt „BuKa2017“ wurden unter anderem auf 16 Vgl. Höhne (Anm. 15), S. 115.

34 Parlamentarismus APuZ

Tabelle 1: Frauen im Bundestag

INSG. CDU SPD AFD FDP LINKE GRÜNE CSU MdB insgesamt 709 200 153 94 80 69 67 46 Weibliche MdB 219 41 64 11 19 37 39 8 Anteil weibliche 30,9 20,5 41,8 11, 7 23,8 53,6 58,2 17, 4 MdB in % Wahlkreis-MdB 299 185 59 3 0 5 1 46 insgesamt Weibliche 64 36 16 1 0 2 1 8 Wahlkreis-MdB

Stand: konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages im Oktober 2017; Mitglieder des Bundestages (MdB) nach Partei, für die sie angetreten sind. Quelle: Bundeswahlleiter.

gerem Niveau auch Freidemokraten, über die ge- nicht unterstützt (von mehr als zwei Drittel der gebene Ausgangsbedingung ihrer Mitgliederbasis Befragten). Ebenso zeigte sich parteiübergreifend, hinauswachsen: Das heißt, der Frauenanteil unter dass Frauen im Allgemeinen aufgeschlossener für den Bundestagsabgeordneten ist höher als in der Ausgleichsmaßnahmen sind als Männer. 18 Partei insgesamt. Bei Christdemokraten, Christso- zialen und Rechtspopulisten verhält es sich hinge- FRAUENQUOTEN UND gen genau umgekehrt (Abbildung und Tabelle 1). NOMINIERUNGSPRAXIS Folglich sind Aussagen wie die, dass das sozio- strukturelle „Repräsentationsgefälle (…) mit dem Innerparteiliche Frauenquoten sind ein wir- innerparteilichen Aufstieg und der Übernahme öf- kungsvolles Instrument zur Schließung des parla- fentlicher politischer Ämter“ zunehme, 17 so allge- mentarischen Gender Gaps. Qua satzungsrechtli- mein formuliert nicht aufrechtzuerhalten. cher Stellung wirken sie Rekrutierungspraktiken Das Interesse, der Unterrepräsentation von entgegen, die traditionell das Vorankommen von Frauen entgegenzuwirken – etwa durch Quoten- Männern begünstigen. So übererfüllen Grüne regelungen für Landeslisten –, ist in den meisten mit einem Frauenanteil von 58,2 und Linke mit Parteien vorhanden: Die Studie „BuKa2017“ för- 53,6 Prozent in ihren Bundestagsfraktionen die derte mit nur einer Ausnahme in allen Bundestags- eigenen Paritätsvorgaben (Tabelle 1). Auch die parteien teils überwältigende Mehrheiten zutage, SPD erreicht mit 41,8 Prozent einen etwas höhe- denen der „Ausgleich zwischen den Geschlech- ren Wert als es ihre Satzung mit 40 Prozent vor- tern“ auf der Landesliste „sehr wichtig“ oder schreibt. Die anteilig wenigsten weiblichen Bun- „wichtig“ ist. Umgekehrt fielen die Anteile derje- destagsabgeordneten finden sich bei der AfD mit nigen, denen dieser Ausgleich „weniger wichtig“ 11,7, gefolgt von der CSU mit 17,4 Prozent. Beide oder „gar nicht wichtig“ ist, besonders bei den Parteien wie auch die FDP, die auf 23,8 Prozent Grünen mit 12,8 oder der Linken mit 17,1 Prozent kommt, haben keine Frauen- beziehungsweise kaum ins Gewicht. Ihr Anteil lag bei der CSU mit Geschlechterquote verabschiedet. 19 44,1 oder der FDP mit 43,2 Prozent zwar deutlich Bei der CDU ist (noch) das sogenannte Frauen­ darüber, war aber immer noch niedriger als das je- quorum­ in Kraft, das die Besetzung von Wahllis- weilige Unterstützungsniveau. Allein bei der AfD ten zu einem Drittel mit Frauen vorsieht, aber wurde ein Geschlechterausgleich mehrheitlich

18 Vgl. Höhne (Anm. 15), S. 111. 17 Elmar Wiesendahl, Repräsentative Demokratie und Partei- 19 Zur Unterscheidung vgl. Daniel Hellmann/Benjamin Höhne, en, Stiftungsverbund der Heinrich-Böll-Stiftungen, Düsseldorf Die formale Dimension der Kandidatenaufstellung: Satzungen im 2015, S. 4. Parteien- und Zeitvergleich, in: ZParl 1/2020, S. 3–25, hier S. 16 f.

35 APuZ 38/2020

Tabelle 2: Listenabgeordnete im Bundestag mit Wahlkreisnominierung

INSG. CDU SPD AFD FDP LINKE GRÜNE CSU Listenabgeordnete 410 15 94 91 80 64 66 0 mit Wahlkreis­ 387 15 93 74 79 60 66 0 nominierung in % 94,4 100 98,9 81,3 98,8 93,8 100 0

Stand: konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages im Oktober 2017; Abgeordnete nach Partei, für die sie angetreten sind. Quelle: Bundeswahlleiter.

unter bestimmten Bedingungen Regelverstöße to- Grund ist die Nominierung im Wahlkreis zumeist leriert. 20 Mit einem Frauenanteil im Bundestag von Voraussetzung für einen vorderen Listenplatz. So nur 20,5 Prozent wird die selbstgesetzte Vorgabe waren bei CDU und Grünen alle Listenabgeord- klar verfehlt, was vor allem darauf zurückzufüh- neten zugleich auch in einem Wahlkreis nominiert ren ist, dass diese – genauso wie jene der anderen worden. Bei den anderen Parteien – bis auf die Parteien – ausschließlich für die Zusammensetzung CSU, deren Mannschaft sich ausschließlich aus der Landeslisten gilt. Für die Nominierungen im Wahlkreisabgeordneten zusammensetzt – lag ihr Wahlkreis, wo nur eine oder einer „die Wahl vor Anteil zwischen 81,3 und 98,9 Prozent (Tabelle 2). der Wahl“ gewinnen kann, ist sie höchstens indi- Welche Plätze auf den Listenaufstellungsver- rekt von Belang. 21 Tatsächlich sind die 299 Ein-Per- sammlungen von welchen Wahlkreiskandidatin- sonen-Wahlkreise eine Domäne der männlichen nen beansprucht werden können, wird in den Abgeordneten; 2017 gingen nur 64 Direktmandate Vorentscheidungsarenen des Rekrutierungspro- an eine Frau (Tabelle 1). Selbst den Grünen und der zesses verhandelt – also in kleineren, häufig in- Linkspartei gelang es nicht, in der Hälfte der Wahl- formellen Zirkeln einflussreicher Parteivorstän- kreise eine Kandidatin aufzustellen. 22 Dies fiel für de. Dabei befinden zumeist Männer über Männer, beide Parteien bisher kaum negativ ins Gewicht, da wovon allein schon aufgrund der schiefen Ge- sie bisher nur sehr wenige Direktmandate gewon- schlechterverteilung in der Mitgliedschaft, unter nen haben. In Zukunft würden jedoch die Grünen den Parteiaktiven und Abgeordneten auszugehen bei anhaltendem Aufwärtstrend angehalten sein, ist. 23 Die Geschlechterfrage ist dabei jedoch nur insbesondere in urbanen Gebieten gegenzusteuern. eines von vielen Kriterien, die es abzuwägen gilt. Anders als in den Wahlkreisen kann auf den Zu den Präsenzansprüchen mitgliederstarker ver- Listen nach unterschiedlichen Repräsentations- tikaler Untergliederungen, also Bezirke, Unter- und Proporzkriterien austariert werden – längst bezirke beziehungsweise Kreisverbände, gesellen nicht nur nach Geschlecht. An vorderer Stelle sich die von horizontalen Gruppierungen, wor- steht dabei in allen Parteien die regionale Vertei- unter Strömungen, Flügel oder „Arbeitsgemein- lung der (potenziellen) Mandate. Auch aus diesem schaften“ (SPD) beziehungsweise „Vereinigun- gen“ (CDU) wie Jugend-, Frauen-, Senioren- und 20 Zur aktuellen Diskussion in der CDU um die schrittweise weitere Unterorganisationen zu verstehen sind. Anhebung der Quote auf 50 Prozent bis 2025 vgl. Mona Jaeger/ Eckart Lohse, Frauenquote mit Hintertüren, in: FAZ, 9. 7. 2020, S. 2. PARTEIPOLITISCHES KAPITAL 21 Sie ist es dann, wenn bei der Besetzung einer Liste zuerst auf die Wahlkreisnominierten zurückgegriffen wird, wie es ein übliches Muster in den Bundestagsparteien ist, zugleich aber Obwohl die eingangs erwähnte CDU-Abgeord- bestimmte Plätze für Frauen vorbehalten sind. Zur Interaktion nete Silvia Breher in ihrer Bewerbungsrede auf der von Wahlkreis- und Listennominierungen vgl. Sara Ceyhan, Nominierungsveranstaltung auch die Geschlech- Who Runs at the Top of Party Lists? Determinants of Parties’ List Ranking in the 2013 German Bundestag Election, in: German Politics 1/2018, S. 66–88; Philip Manow/Peter Flemming, Der 23 Allgemein zur innerparteilichen Vorselektion vgl. Danny Kandidat/die Kandidatin – das gar nicht mehr so unbekannte Schindler, In den „geheimen Gärten“ der Vorauswahl. Variatio- Wesen, in: ZParl 4/2012, S. 766–784. nen der Listenaufstellung von CDU und SPD zum 19. Deutschen 22 Vgl. Höhne (Anm. 15), S. 120. Bundestag, in: ZParl 1/2020, S. 26–48.

36 Parlamentarismus APuZ terkarte zog, 24 wurde sie in erster Linie nicht auf- durch Markierung der jeweils höchsten und zweit- gestellt, weil sie eine Frau ist, sondern wegen ih- höchsten Ausprägung pro Indikator hervortritt: rer politischen Erfahrungen. Vor ihrer Wahl in den Demnach liegt bei den aussichtsreich nominierten Bundestag war sie Geschäftsführerin des Kreis- Frauen häufig ein größeres Ausmaß an politischen landvolkverbandes Vechta, einer lokalen Vertre- Erfahrungen und parteipolitischem Engagement tung von Landwirten, womit Vernetzung und vor als bei ihren männlichen Pendants. öffentliche Sichtbarkeit im Wahlkreis einherge- Folglich gelten für Frauen auf dem Weg in gangen sein dürften. Ihrer Homepage ist zudem zu den Bundestag nicht geringere Anforderungen, entnehmen, dass sich ihre Mitarbeit in der CDU sondern tendenziell größere als für Männer. Die- nicht auf die kommunale Ebene beschränkt hat- se Schlussfolgerung deckt sich mit Forschung aus te, sondern sie auch in einem Landesfachausschuss den USA, in der gezeigt wurde, dass Frauen oft und einer Bundeskommission engagiert war. die höher qualifizierten Abgeordneten sind. 27 In Mit anderen Worten: Breher verfügte über aus- der hiesigen, mitunter eher emotional als sachlich reichend nominierungsrelevantes parteipolitisches geführten Debatte über die vermeintlich fehlende Kapital, das üblicherweise in einem autodidakti- Qualifikation der „Quotenfrau“ könnte dies ein schen Lern- und Sozialisationsprozess über lang- gewichtiges Argument für die Quote sein. Zum ei- fristiges, zeitintensives Engagement in einer Par- nen kann sie die Selbstselektion von Frauen verbes- tei herausgebildet wird. 25 Als Beziehungsressource sern, sodass auch bei deren Wahrnehmung gleicher fußt es auf Ortsgebundenheit. Durch die Übernah- Qualifikationsniveaus in einer Wettbewerbssitu- me von lokalen Vorstandsposten wird ein wichti- ation keine Ausweichbewegung zugunsten von ger Entwicklungsschritt markiert; dasselbe gilt für Männern erfolgt. Zum anderen reduziert sie Dis- kommunale Mandate. Diese parteipolitische Ka- kriminierung für Frauen durch Schaffung eines se- pitalbildung hat den Effekt, Angehörige sozialer paraten Wettbewerbsraums, in dem idealerweise Gruppen zu bevorteilen, die viel persönliche Zeit die besten Frauen untereinander um die Nominie- für innerparteiliches Engagement und Aufstieg auf- rung konkurrieren. So könnte am Ende sogar das bringen können. Diese Bedingungen führen dazu, Qualifikationsniveau unter den männlichen Abge- dass unter den Abgeordneten bestimmte Berufe, ordneten angehoben werden, da sich deren Kon- etwa solche mit geringem Mobilitätserfordernis, kurrenz untereinander auf eine reduzierte Anzahl überproportional stark vertreten sind, während sie an freien Plätzen konzentrieren müsste. diejenigen, die sich vor allem um die Familienarbeit Die Quote kann auch ein wirksames Instru- kümmern – vor allem also Frauen –, hemmen. 26 ment sein, um die Männerdominanz im Bundestag In der Studie „BuKa2017“ wurden auch dieje- infolge der Re-Nominierungspraxis von wiederan- nigen Parteimitglieder befragt, die auf einer Auf- trittswilligen Abgeordneten zu durchbrechen. Wie stellungsversammlung für eine Nominierung ange- eingespielt diese in allen Parteien ist, zeigt sich da- treten waren. Unterteilt man diese in Nominierte, ran, dass sie breite innerparteiliche Akzeptanz fin- die ihre Chance auf den Gewinn eines Bundestags- det und Herausforderer von Abgeordneten eine mandats als „eher groß“ einschätzten und solche, Ausnahme sind. 28 Dies ist bei der Bildung der Lan- die ihre Chancen als „eher klein“ beurteilten, zei- deslisten kaum anders als bei der Aufstellung in gen sich bei fast allen Rekrutierungsindikatoren – den Wahlkreisen. So war zum Beispiel Silvia Breher also ehrenamtliches Engagement für die Partei, unter den ersten 30 Plätzen der niedersächsischen Mitgliedsjahre, bisherige Kandidaturen und ande- Unionsliste (die in einem nach außen abgeschlos- res mehr – höhere Ausprägungen für die aussichts- reichen Kandidatinnen und Kandidaten (Tabelle 3). Dieser Befund war erwartbar. Überraschend ist 27 Vgl. Susan Franceschet/Mona Lena Krook/Jennifer M. Pisco- po (Hrsg.), The Impact of Gender Quotas, Oxford 2012; Sarah hingegen ein geschlechtsspezifisches Muster, das F. Anzia/Christopher R. Berry: The Jackie (and Jill) Robinson Effect: Why Do Congresswomen Outperform Congressmen?, in: 24 Vgl. Höhne et al. (Anm. 1). American Journal of Political Science 55/2011, S. 478–493. 25 Vgl. Martin Reiher, Parlamentarier als Beruf. Rekrutie- 28 Vgl. Thomas Saalfeld, Parteisoldaten und Rebellen. Frakti- rungswege und politische Karrieren am Beispiel des Deutschen onen im Deutschen Bundestag 1949–1990, Wiesbaden 1995, Bundestages, Baden-Baden 2019, S. 271–323. S. 290–297; Markus Baumann/Marc Debus/Tristan Klingelhöfer, 26 Vgl. Melanie Kintz/Malte Cordes, Daten zur Berufsstruktur Keeping One’s Seat: The Competitiveness of MP Renomination des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode, in: ZParl in Mixed-Member Electoral Systems, in: The Journal of Politics 1/2019, S. 42–58. 3/2017, S. 979–994.

37 APuZ 38/2020

Tabelle 3: Erfolgsfaktoren für den Bundestagseinzug im Geschlechtervergleich

FRAUEN MÄNNER CHANCE AUF MANDATSGEWINN eher groß eher klein eher groß eher klein ø Ehrenamtliche Parteiarbeit 45,1 42,2 70,4 37, 8 in Stunden/Monat ø Zeitaufwand für eigene Kandidatur 54,4 29,3 33,1 57,1 in Stunden/Monat ø Parteimitgliedsjahre 20,3 12,6 18,6 12,9 Wert ausgeübter Positionen in: … Parteivorständen 2,4 1,8 2,5 1,8 … Parteiunterorganisationen 1,6 2 1,4 1,3 … Parteivorfeldorganisationen 1,2 0,5 0,7 0,5 … Parlamenten 3,3 1,1 2,5 0,9 ø Bisherige Kandidaturen zum Bundestag 2,3 0,4 1,3 0,5 ø Bisherige Wahlen in den Bundestag 1,1 0,1 0,7 0,1 Politischer oder politiknaher Beruf in % 71,7 28,9 54,6 20,9 ø Lebensalter 50,3 46,5 50 45 Bildungsniveau: … Hochschulabschluss oder 74,1 60,6 77, 2 69,5 Promotion … maximal Abschluss der 12 18,2 13,9 10,4 mittleren Reife

höchster Wert pro Zeile zweithöchster Wert pro Zeile Für die Angaben zu den ausgeübten Positionen wurden für verschiedene Politikebenen jeweils bestimmte Werte vergeben. Die Lokalebene erhielt den niedrigsten Wert von 1, die Europaebene den höchsten Wert von 6. Dazwischen lagen die Kreis- bzw. Unterbezirksebene, die Bezirksebene (sofern vorhanden), die Landesebene sowie die Bundesebene. Es wurde das Maximum jeder befragten Person als Berechnungsgrundlage für den Mittelwert verwendet. Die Berechnung erfolgte wie ausgewiesen für Parteivorstände, Parteiunterorganisationen (z. B. Jugend- oder Frauenorganisationen), Vorfeldorganisationen der Parteien (z. B. Kirchen oder Gewerkschaften) und Parlamente bzw. kommunale Vertretungskörperschaften. Quelle: BuKa2017, Aspiranten-Datensatz/Vollsample (N zwischen 490 und 521).

senen kleinen Kreis aus delegierten Parteifunktio- muss, die Kandidaturnachfolge anzutreten. Da- nären verabschiedet wurde) nur eine von drei Per- rauf deutet die Zusammensetzung der Gruppe sonen, die über kein Bundestagsmandat verfügte. der Bundestagsneulinge hin: Mit einem Frauen- Entscheidend für ihre Wahlkreisnominierung war anteil von 26,6 Prozent wird der ohnehin schon der Rückzug des bisherigen Mandatsinhabers. niedrige Wert unter allen Abgeordneten sogar Doch selbst wenn ein Abgeordneter aus- noch unterschritten (Tabelle 4). Zurückzufüh- scheidet, bedeutet dies noch längst nicht, dass ren ist dies schlichtweg darauf, dass zu wenige eine Frau dieselbe Chance wie ein Mann haben Frauen in den Wahlkreisen aufgestellt werden.

38 Parlamentarismus APuZ

Tabelle 4: Frauenanteil unter den Neumitgliedern des Bundestages

INSG. CDU SPD AFD FDP LINKE GRÜNE CSU Parlamentsneulinge 289 39 23 94 80 27 18 8 insgesamt Parlamentsneulinge 77 9 11 11 19 14 12 1 weiblich in % aller Parlaments- 26,6 23,1 47, 8 11, 7 23,8 51,9 66,7 12,5 neulinge

Stand: konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages im Oktober 2017; Abgeordnete nach Partei, für die sie angetreten sind. Quelle: Bundeswahlleiter.

Schließlich kann sich der Regionalproporz auch Kapital und die regelmäßige Wiederaufstellung positiv auf deren parlamentarische Präsenz aus- von Abgeordneten robuste Hürden für ein aus- wirken, wird ihm doch bei einer Kollision von geglichenes Geschlechterverhältnis im Bundestag. Selektionsregeln, etwa mit der Re-Nominierung Angesichts dieser Befunde liegt der Schluss von Abgeordneten, üblicherweise Vorrang ein- nahe, dass nicht inkonsequente Paritätsgesetze – geräumt. Breher nahm Platz 25 der niedersächsi- die nur für Listen, nicht aber für Wahlkreise Vor- schen Liste ein, was bedeutete, dass ihr aufgrund gaben machen –, sondern passgenaue parteior- ihrer regionalen Zugehörigkeit (und als Direkt- ganisatorische und wahlrechtliche Maßnahmen kandidatin) der Vortritt vor sieben dem Bundes- sowie eine öffentliche Debatte helfen könnten, tag bereits angehörenden Parteifreunden einge- die genannten Hürden zu überwinden. Paritäts- räumt wurde. Auf den ersten 30 Listenplätzen gesetze greifen hart von außen in die Organisa- wurden ausnahmslos die Direktkandidatinnen tion der Parteien ein, ohne zur unmittelbaren und Direktkandidaten aus den 30 niedersächsi- Lösung der soziodemografischen und institu- schen Wahlkreisen nominiert. tionellen Gegebenheiten in den Parteien beizu- tragen. Wenn aber nach wie vor gilt, dass es eine SCHLUSSFOLGERUNGEN Kernaufgabe der Parteien ist, unterschiedliche ge- sellschaftliche Sichtweisen und Präferenzen in den Fehlende Geschlechtergerechtigkeit gilt als eine staatlichen Entscheidungsprozess einzubringen, 30 der größten Herausforderungen für die gegen- sollten sie grundsätzlich weiterhin selbst darüber wärtigen Demokratien. 29 Wie gezeigt wurde, ist befinden können, mit welchen Teams sie bei einer die männerdominierte Mitgliederstruktur der Par- Wahl antreten und nach welchen Kriterien sowie teien einer der wichtigsten Gründe für die Unter- unter welchen Konfigurationen innerparteilicher präsenz von Frauen im Bundestag. Während bei Demokratie sie diese auswählen. Somit wäre eine der Partizipation in den Parteien geschlechterspe- entscheidende Frage, inwieweit die gestiegenen zifische Unterschiede in den Hintergrund treten, Repräsentationsansprüche von Frauen, die selbst- spielen beim Aufstieg in den Bundestag bestimmte verständlich auch von Männern geteilt werden, Rahmenbedingungen eine Rolle, die Frauen ent- und die Funktion politischer Parteien als zentrale weder fördern (insbesondere Quoten) oder aber politische Lern- und Sozialisationsinstanzen, die mehr noch hemmen. Bei den Kandidatenaufstel- es aufrechtzuerhalten gilt, kohärent in Einklang lungen bilden vor allem der regionale Listenpro- zueinander gebracht werden können. porz in Verbindung mit dem Männerüberhang in Um für Neumitglieder attraktiver zu werden, den Ein-Personen-Wahlkreisen, das Erfordernis sollte Parteiarbeit grundlegend modernisiert wer- von nominierungsrelevantem parteipolitischem den – längst nicht nur mit Blick auf die Geschlech-

29 Vgl. Inglehart/Norris/Welzel (Anm. 6); Heinrich Geiselber- 30 Vgl. Elmar Wiesendahl, Parteienforschung im Rahmen der ger (Hrsg.), Die große Regression: Eine internationale Debatte Sozialwissenschaften, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Handbuch über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017. Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 13–60.

39 APuZ 38/2020 terfrage. 31 Hierfür braucht es Mut an der Spitze Keine Institution genießt per se Bestandsschutz für eine Reformagenda, vor allem aber Durchset- für tradierte Routinen. Veränderungen können den zungswillen und Kreativität der Verantwortlichen Parteien abverlangt werden. Bewegen sie sich trotz an der Basis. Eine Reform müsste deshalb unten des anhaltenden Mitgliederschwundes nicht oder ansetzen, also beim Parteibeitritt und den Parti- zu wenig, dann laufen sie Gefahr, dass ihnen neue zipationsangeboten für die Mitglieder. Hierbei ist intermediäre Konkurrenten wie „Bewegungs- nicht nur die Vielfalt der Gesellschaft insgesamt parteien“ den Rang ablaufen. 34 Das heißt bei den zu berücksichtigen, sondern auch die der Frauen. Kandidatenaufstellungen jedoch nicht zwangs- Denn Frauen sind in den Parteien zwar eine Min- läufig, sich von bewährten Selektionsprinzipien derheit, aber gewiss keine homogene Gruppe. zu verabschieden. Ganz im Gegenteil: Maßstäbe, Zugleich wäre das Wahlrecht zu reformie- die sich die Parteien mit gutem Grund selbst auf- ren, um den Anteil von Frauen insbesondere un- erlegt haben, müssen unter dem Vorzeichen ei- ter den Wahlkreisabgeordneten zu erhöhen. An- ner auf Parität abzielenden Gleichstellungspolitik knüpfend an die Debatte zur Verkleinerung des überhaupt nicht an Geltung verlieren. Schließlich Bundestages böten etwa paritätische Zwei- oder weisen Frauen genauso wie Männer (weitere) re- Mehrmandatswahlkreise eine Chance zur Prob- krutierungsrelevante Merkmale auf, zum Beispiel lembearbeitung: So könnte vorgeschrieben wer- die Zugehörigkeit zu einer Region oder zu einem den, dass aus jedem Wahlkreis jeweils eine Frau Parteiflügel, oder sie bringen sogar noch mehr rek- und ein Mann in den Bundestag entsandt wer- rutierungsrelevantes Kapital mit als Männer. den. 32 Zudem könnte bei der Verhältniswahl Ein öffentlicher Diskurs darüber, welche Se- über die Zweitstimme die Persönlichkeitskom- lektionsmaßstäbe dies in den Parteien sind und ponente gestärkt werden, indem nicht wie bis- zukünftig sein sollten, und wie sich diese auf die her die gesamte Liste, sondern bestimmte Per- Beteiligung und Repräsentation von Frauen aus- sonen unabhängig von ihrer Position darauf wirken, ist überfällig. Als Organisationen, die gewählt werden können. Somit bliebe die Rek- den Anspruch haben, gesellschaftlich verankert rutierungsfunktion der Parteien grundsätzlich in zu sein, sollten Parteien bei der Herausbildung deren Hand, jedoch würde die wahlberechtig- des Personalangebots für Wahlen nicht auf sich te Bevölkerung eine umfangreichere personelle allein gestellt bleiben. Wäre es deshalb nicht ei- Auswahlmöglichkeit erhalten. Damit hätten die nen Versuch wert, die Bevölkerung bei der Su- Wählerinnen und Wähler tatsächlich die Letzt- che nach geeigneten Kandidatinnen und Kandi- verantwortung für das zahlenmäßige Verhältnis daten einzubinden? Und könnten so nicht auch der Geschlechter im Bundestag. 33 alternative innerparteiliche Wege der Heraus- bildung von politischem Kapital bisher unterre- präsentierter Gruppen gestärkt werden? Derzeit 31 Vgl. Suzanne S. Schüttemeyer, Repräsentative Demokra- tie und politische Partizipation, in: Astrid Lorenz/Christian P. werden vor allem diejenigen belohnt, die sich am Hoffmann/Uwe Hitschfeld (Hrsg.), Partizipation für alle und besten in die innerparteilichen Machtstruktu- alles?, Wiesbaden 2020, S. 183–202, hier S. 199 f. Für konkrete ren vor Ort einfügen. Welche Anziehungskraft Vorschläge vgl. Höhne (Anm. 2), S. 22 ff. sie bei Wahlen entfalten, kann völlig unerheb- 32 Vgl. Helga Lukoschat/Paula Schweers, Frauen MACHT lich sein. Soll sich dies ändern, ist eine moderate Berlin! Politische Teilhabe von Frauen in Berlin, Friedrich- Ebert-Stiftung, Berlin 2020. Allgemein zur Wahlrechtsdebatte Öffnung der Parteien unumgänglich. Als föderal vgl. Daniel Hellmann, Weg vom Pfadabhängigkeitsproblem: aufgebaute Organisationen bieten sie dafür nahe- Präferenzwahl in Mehrpersonenwahlkreisen als Reformoption zu ideale Experimentierräume. des Bundeswahlrechts?, in: ZParl 2/2016, S. 389–410; Joachim Behnke, Überhangmandate und negatives Stimmgewicht: Ich danke Christine Bratu, Ieva Motuzaite und Zweimannwahlkreise und andere Vorschläge, in: ZParl 2/2010, S. 247–260 sowie Behnkes Beitrag in diesem Heft. Marco Radojevic für wertvolle Hinweise. 33 Vgl. Kathleen Dolan, Gender Stereotypes, Candidate Evaluations, and Voting for Women Candidates: What Really BENJAMIN HÖHNE Matters, in: Political Research Quarterly 1/2014, S. 96–107. ist promovierter Politikwissenschaftler und stellver- 34 Vgl. Benjamin Höhne, Bewegung statt Partei: Das Beispiel tretender Leiter des in Berlin ansässigen Instituts Aufstehen und die Linke, in: Robert Grünewald/Sandra Busch- Janser/Melanie Piepenschneider (Hrsg.), Politische Parteien in für Parlamentarismusforschung (IParl) der Stiftung der modernen Demokratie. Beiträge zur Politischen Bildung, Wissenschaft und Demokratie. Berlin 2020, S. 412–436. [email protected]

40 Parlamentarismus APuZ

REGIERUNGSWAHL ALS GEHEIMSACHE? Zur Aktualität einer alten Debatte Frank Decker

Bevor die politische Agenda in Deutschland ab Stimmzetteln“ – wie es in der Geschäftsordnung März 2020 von der Corona-Krise dominiert wur- des Bundestages heißt – zu erfolgen hat, also in de, hatte im Februar ein anderes Ereignis die Re- geheimer Abstimmung. 02 publik in Atem gehalten und die parteipolitische Debatte auf Landes- und Bundesebene wochen- VON BARZEL BIS RAMELOW: lang bestimmt: die Ministerpräsidentenwahl in DRAMEN GESCHEITERTER Thüringen. Der Sieg des FDP-Politikers Thomas REGIERUNGSWAHLEN Kemmerich über den populären Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken bei der Abstim- Die Nicht-Thematisierung der Geheimwahl in mung im Erfurter Landtag im dritten Wahlgang der politischen und publizistischen Debatte ist be- sorgte am 5. Februar 2020 für einen Pauken- zeichnend. Zugleich erstaunt sie, weil ja der Thü- schlag, weil er mithilfe der Stimmen der rechtspo- ringer Fall keineswegs eine Premiere war – ver- pulistischen AfD erfolgte und dies von CDU und gleichbare Ereignisse hat es schon öfter gegeben. FDP – bewusst oder versehentlich – in Kauf ge- Für die Landesebene ist aus der jüngeren Vergan- nommen wurde. Die öffentliche Empörung über genheit vor allem die gescheiterte Wahl von Heide diesen „Dammbruch“ war so groß, dass Kemme- Simonis (SPD) in Schleswig-Holstein zu nennen, rich bereits drei Tage nach der Wahl wieder zu- die 2005 in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden rücktrat, was ihn zum Ministerpräsidenten mit Wahlgängen die notwendige Mehrheit um nur der kürzesten Amtszeit in der Geschichte der eine Stimme verfehlte. Mindestens eine Abgeord- Bundesrepublik machte. Gleichzeitig löste sie nete oder ein Abgeordneter der eigenen Koaliti- eine Führungskrise innerhalb der CDU aus, 01 die onsmehrheit musste ihr die Gefolgschaft versagt in den Rücktritt der bereits angeschlagenen Par- haben. Wie es einem ergeht, wenn man die eige- teivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer nen „Truppen“ nicht hinter sich weiß, hatte kurz mündete. zuvor bereits Simonis’ sächsischer Amtskollege Unanständig, Trickserei, Wählerbetrug – die- Georg Milbradt (CDU) zu spüren bekommen, se und ähnliche Vokabeln wurden bemüht, um dessen Wiederwahl zum Ministerpräsidenten im das Verhalten von AfD, CDU und FDP bei der November 2004 erst im zweiten Anlauf glück- Wahl Kemmerichs zu diskreditieren. Nach des- te. Dass Abgeordnete die Gelegenheit des ersten sen erzwungenem Abgang begannen sogleich Wahlgangs mitunter nutzen, um ihrem Kandida- die Spekulationen, wie sich die Parteien und ten einen „Denkzettel“ zu verpassen, ist an sich Abgeordneten bei der fälligen Wiederholungs- nichts Ungewöhnliches. In Sachsen hatten es die wahl verhalten würden. Insbesondere die Linke Abtrünnigen allerdings nicht bei einer Enthaltung schreckte vor einer solchen Wahl zunächst zu- bewenden lassen, sondern mit ihren Stimmen den rück, weil sie fürchtete, dass ausgerechnet die Gegenkandidaten der NPD unterstützt. 03 AfD Ramelow mit ihren Stimmen im ersten oder In Thüringen hatte die geheime Abstimmung zweiten Wahlgang zur absoluten Mehrheit ver- wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse be- helfen könnte. Über die verfassungsmäßige Be- reits bei den beiden vorangegangenen Minister- stimmung, die so ein perfides Verhalten zulässt, präsidentenwahlen eine Rolle gespielt. 2014 ver- verloren Politiker und professionelle Beobach- passte Bodo Ramelow die notwendige absolute ter kein Wort: Es ist die in allen Ländern und auf Mehrheit im ersten Wahlgang, weil ihm aus den Bundesebene vorgesehene Regelung, wonach eigenen Reihen eine Stimme fehlte, und 2009 war die Wahl der Regierungschefs mit „verdeckten der CDU-Politikerin Christine Lieberknecht

41 APuZ 38/2020 die Wahl sogar erst im dritten Wahlgang gelun- lich, die andere vermutlich vom Staatssicherheits- gen. Dass auch (über-)große Mehrheiten negati- dienst der DDR gekauft. 05 Beim zweiten Ereignis ve Konsequenzen für das Stimmenergebnis ha- handelte es sich um die niedersächsische Minis- ben können, musste wiederum terpräsidentenwahl 1976, bei der drei Überläufer (CDU) erfahren, als sie als Kandidatin einer Gro- der sozialliberalen Koalition dem eigenen Kandi- ßen Koalition bei der Wahl 2005 im Bundestag 51 daten Helmut Kasimier (SPD) ihre Stimme ver- Stimmen weniger erhielt, als Union und SPD ge- sagten. Mindestens einer von ihnen muss für den meinsam „kontrollierten“. 04 Dass vor allem SPD- CDU-Gegenkandidaten Ernst Albrecht votiert Abgeordnete nicht für Merkel gestimmt haben haben, der dadurch überraschend Regierungs- dürften, liegt auf der Hand. Dennoch war das chef wurde. Der Politikwissenschaftler Theodor Ausmaß der Abweichung erstaunlich, weil sich Eschenburg nahm die beiden Vorfälle zum An- die Sozialdemokraten auf dem der Regierungs- lass, um in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein wahl vorangegangenen Parteitag (genauso wie die Plädoyer für die Abschaffung der Geheimwahl Union) einmütig für die Große Koalition ausge- zu verfassen. 06 Dem schlossen sich eine im Um- sprochen hatten. fang überschaubare Kontroverse innerhalb des Die genannten Vorgänge stießen in der Öf- Staatsrechts über das Für und Wider 07 sowie ver- fentlichkeit auf mehr oder weniger große Be- einzelte politische Vorstöße (etwa des SPD-Bun- achtung. In den Medienberichten wurden dabei destagsabgeordneten Norbert Gansel) 08 an, die zumeist Mutmaßungen angestellt, woher die ab- allesamt folgenlos blieben. weichenden Stimmen gekommen sein und wel- In den 1990er Jahren nahm Winfried Steffa- che Motive die Abweichler zu ihrem Verhalten ni das Thema von politikwissenschaftlicher Sei- veranlasst haben mochten. Die eigentliche Ur- te und ohne speziellen Anlass erneut auf. 09 Auf sache des Problems – der Modus der geheimen sein Betreiben hin wurde der Vorschlag, die Ge- Stimmabgabe – spielte keine Rolle. Das ist inso- heimwahl des Ersten Bürgermeisters und der Se- fern bemerkenswert, als es bereits in den 1970er natoren in Hamburg durch eine offene Abstim- Jahren eine Debatte über den Sinn und Unsinn mung zu ersetzen, in den Empfehlungskatalog der Geheimwahl gegeben hatte. Den Anstoß lie- einer Enquete-Kommission „Parlamentsreform“ ferten zwei Ereignisse, unter denen zumindest der Bürgerschaft aufgenommen, 10 die sich aber in das erste – das gescheiterte Misstrauensvotum ge- ihrer Schlussempfehlung mit großer Mehrheit da- gen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im April gegen aussprach. Danach hat es in den Ländern 1972 – den späteren Kieler und aktuellen Thürin- wie im Bund keine erwähnenswerten Initiativen ger Fall in der Tragweite weit übertraf. Von den mehr gegeben, die Geheimwahl abzuschaffen zwei Stimmen, die dem CDU-Kandidaten Rainer oder sie auch nur zum Gegenstand einer Debat- Barzel zur Wahl zum Bundeskanzler fehlten, wa- te zu machen, obwohl die eingangs dargestellten ren, wie sich später herausstellte, eine nachweis- Ereignisse dazu genügend Anlass geboten hätten.

01 Im Hintergrund stand dabei die Auseinandersetzung mit 05 Vgl. Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche dem Thüringer Landesverband über die Handhabung des von Geschichte 1945–1989/90, Berlin 2020, S. 481. der Bundes-CDU hochgehaltenen „Äquidistanzgebots“, das eine 06 Vgl. Theodor Eschenburg, Nur noch ein alter Zopf, in: Die Zusammenarbeit sowohl mit der AfD als auch mit der Linken Zeit,. 13. 2 1976, S. 5. ausschloss. Um eine Regierungsbildung dennoch zu ermöglichen, 07 Vgl. Hans H. Klein, Mehr geheime Abstimmungen in den entschied sich die Landes-CDU nach langem Ringen, die erneute Parlamenten! Ein Vorschlag zur Sicherung des freien Man- Wahl von Ramelow zum Ministerpräsidenten am 4. März 2020 dats, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 4/1976, S. 81–84, Rudolf durch eine Stimmenthaltung im dritten Wahlgang mitzutragen Buschmann/Heribert Ostendorf, Die geheime Abstimmung im und die rot-rot-grüne Regierung bis zu den für April 2021 Parlament – Postulat oder Relikt?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik geplanten Neuwahlen zu tolerieren. 7/1977, S. 153–156. 02 Vgl. Frank Decker, Ein ganz alter Zopf, in: Süddeutsche 08 Vgl. Norbert Gansel, Schluss mit der Geheimniskrämerei, in: Zeitung, 10. 2. 2020, S. 10. Der Stern, 22. 1. 1976, S. 20. 03 Auch in Thüringen müssen am 5. Februar 2020 im ersten 09 Vgl. Winfried Steffani, Demokratische Offenheit bei der Wahlgang mindestens drei Abgeordnete der anderen Parteien Wahl des Regierungschefs?, in: Jahrbuch für Politik 1/1991, für den von der AfD aufgestellten parteilosen Kandidaten Chris- S. 25–40. toph Kindervater gestimmt haben. 10 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Bericht der 04 Bei der Großen Koalition 2013 fehlten Merkel 42, bei der Enquete-Kommission „Parlamentsreform“, Baden-Baden 1993, Großen Koalition 2018 33 Stimmen. S. 103. f

42 Parlamentarismus APuZ

VON DER FÖRMLICHEN tes Staatsoberhaupt gibt, ist die förmliche Wahl ZUR GEHEIMEN ABSTIMMUNG ohnehin vorgegeben. Anknüpfend an vorparla- mentarische Verfassungs­traditionen hatten fast Die Wahl des Regierungschefs durch das Parla- alle Länder der Weimarer Republik in ihren par- ment in geheimer Abstimmung ist eine deutsche lamentarischen Geschäftsordnungen bestimmt, Spezialität. Die meisten parlamentarischen Syste- dass die Wahl des Ministerpräsidenten bezie- me kennen auf der nationalen Ebene überhaupt hungsweise der Regierungsmitglieder geheim zu keine förmliche Wahl. Der Premierminister oder erfolgen habe. 12 Dies wurde ab 1946 sowohl in Ministerpräsident wird hier durch das jeweilige den neuen Länderverfassungen beziehungswei- Staatsoberhaupt ernannt. Dieses ist in seiner Ent- se Geschäftsordnungen der Landtage als auch auf scheidung für oder gegen einen Kandidaten aller- der Bundesebene für die Wahl des Kanzlers und dings nicht frei, sondern bleibt an den Willen des des Bundespräsidenten übernommen. Parlaments gebunden, das über die Möglichkeit Auf der Bundesebene erstreckte sich die Be- verfügt, den Regierungschef per Misstrauensvo- stimmung zugleich auf das in Artikel 67 des tum jederzeit aus politischen Gründen abzube- Grundgesetzes (GG) geregelte konstruktive Miss- rufen. Das Abberufungsrecht ist das eigentliche trauensvotum, was insofern folgerichtig war, als Erkennungsmerkmal der parlamentarischen Re- dieses ja die Abwahl des alten mit der Wahl ei- gierungsform und unterscheidet diese vom ge- nes neuen Regierungschefs verbindet. Genauso waltentrennenden präsidentiellen System. 11 So halten es die nachgrundgesetzlichen Länderver- wie das Parlament ein Misstrauensvotum anstren- fassungen beziehungsweise die Länder, die das gen kann, hat die Regierung in den meisten par- konstruktive Misstrauensvotum erst später ein- lamentarischen Systemen auch die Möglichkeit, geführt haben. Stellen der Bundeskanzler oder das Parlament von sich aus um das Vertrauen zu Ministerpräsident dagegen selbst die Vertrauens- bitten. Manche Verfassungen schreiben überdies frage, wie es in Artikel 68 GG geregelt ist, wird vor, dass sich die Regierungen nach ihrer Formie- darüber im Bundestag und den Landesparlamen- rung vom Parlament förmlich bestätigen lassen ten durchweg offen abgestimmt. Dasselbe gilt für müssen (Investitur). All diesen Abstimmungen ist die Länderverfassungen, die nur das „destrukti- gemein, dass sie in der Regel nicht durch geheime ve“, auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Wahl erfolgen, sondern offen. Misstrauensvotum kennen und deshalb auf eine Eine förmliche Wahl des Regierungschefs eigenständige „Vertrauensfrage“ verzichten. 13 Die durch das Parlament sehen neben der Bundes- unterschiedliche Behandlung von „positiver“ republik nur wenige Staaten vor, etwa Finnland, Vertrauensbekundung und „negativem“ Vertrau- Schweden oder Südafrika. In Irland und Spanien ensentzug entbehrt jeder Logik und lässt sich we- kommen die Investiturabstimmungen einer förm- der verfassungsrechtlich noch verfassungspoli- lichen Bestellung nahe. In Deutschland muss die tisch begründen. 14 Warum dieser Widerspruch bis Einführung der förmlichen Wahl vor dem Hinter- heute in fast allen Grundgesetzkommentaren un- grund der Erfahrungen mit dem präsidialen Er- bemerkt geblieben ist, gibt Rätsel auf. nennungsrecht in der Weimarer Republik gesehen werden. Das Trauma des 30. Januar 1933 – die Er- 12 In den meisten Geschäftsordnungen war von „Stimmzetteln“ nennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch oder „verdeckten Stimmzetteln“ die Rede, in anderen von einer Reichspräsident Paul von Hindenburg – veran- „geheimen“ Wahl oder Abstimmung. Bremen, Anhalt und Braun- lasste den Parlamentarischen Rat bei der Formu- schweig sahen abgeschwächte Regelungen vor. Hier konnte die lierung des Grundgesetzes, einer möglichen Be- Wahl auch durch Akklamation erfolgen, falls nur ein Kandidat einflussung der Regierungsbildung durch das auftrat, beziehungsweise musste die geheime Abstimmung von mindestens fünf (Anhalt) beziehungsweise acht Abgeordneten Staatsoberhaupt künftig jeden erdenklichen Rie- (Braunschweig) beantragt werden. gel vorzuschieben. Auf der gliedstaatlichen Ebe- 13 Vgl. zum Beispiel Artikel 99 der Verfassung von Rheinland- ne, wo es kein vom Regierungschef abgetrenn- Pfalz. Laut Artikel 50 Absatz 3 der Geschäftsordnung des Land- tages muss über das Misstrauensvotum namentlich abgestimmt werden. 11 Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarisches und präsidenti- 14 Vgl. Hans Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Ver- elles Regierungssystem, in: Dieter Nohlen/Manfred G. Schmidt fassungsordnung des Grundgesetzes, in: Hans-Peter Schneider/ (Hrsg.), Lexikon der Politik, Bd. 3: Die westlichen Länder, Mün- Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in chen 1992, S. 288–295. der Bundesrepublik, Berlin–New York 1989, S. 122.

43 APuZ 38/2020

In der Bundesrepublik sieht unter den Län- lichkeit konkretisiert (Artikel 42 GG). So urteilte dern derzeit allein das Saarland die geheime der Jurist und SPD-Politiker Walter Seuffert: „Ein Abstimmung nicht automatisch vor. Weil der Geheimnis des Vertreters gegenüber seinem Man- offenen Wahl bereits von einem einzigen Ab- danten über die Mandatsausübung ist prinzipiell geordneten widersprochen werden kann, ist sie unverträglich mit dem Begriff des Mandates.“ 16 aber auch hier de facto der Regelfall – seit 1980 Entsprechend verlangt die Geschäftsordnung des wurde nur zweimal nicht geheim abgestimmt. Bundestages die offene Abstimmung über die Ge- Von den übrigen Ländern legen acht die gehei- setze (Paragraf 48), die auf Antrag einer Minder- me Abstimmung sogar in ihren Verfassungen heit sogar namentlich erfolgen muss (Paragraf 52). fest, während sieben die Bestimmung in den Ge- Gegen diese Argumentation wird zur Recht- schäftsordnungen der Landtage verankert haben, fertigung der geheimen Abstimmung häufig der die mit einfacher Mehrheit verändert werden besondere Charakter von Personenentscheidun- könnten. Letzteres entspricht der überwiegen- gen ins Feld geführt, die als „Wahlen“ anders zu den Praxis der europäischen Länder auf nationa- betrachten seien als Abstimmungen beziehungs- ler Ebene. Eine Öffnungsklausel enthält einzig weise Entscheidungen über Sachfragen, weil es die Regelung in Schleswig-Holstein. Hier kann bei ihnen auch um eine persönliche Vertrauens- laut Paragraf 63 Absatz 3 der Geschäftsordnung beziehung zwischen Wählern und Gewählten auf „Vorschlag der Präsidentin oder des Präsi- gehe. 17 Diese werde belastet, wenn der Gewählte denten oder auf Antrag (…) offen abgestimmt vom Stimmverhalten der Wähler – in diesem Fal- werden, es sei denn, dass achtzehn Abgeordnete le also seiner Abgeordnetenkollegen – Kenntnis oder zwei Fraktionen widersprechen.“ habe. Dieses Argument trifft auf viele Personen- wahlen in anderen Kontexten (auch solche inner- SCHUTZVORKEHRUNG halb des Parlamentes) durchaus zu; 18 es verfängt FÜR DAS FREIE MANDAT? allerdings nicht bei der hier in Rede stehenden Regierungswahl. Bei dieser handelt es sich näm- Die Wahl der Regierung „mit verdeckten Stimm- lich nicht um eine „bloße“ Personalentscheidung zetteln“ wird in der Regel damit begründet, dass über den Regierungschef, sondern um eine Ent- nur auf diese Weise das in Artikel 38 GG festge- scheidung über die Bildung und den Bestand ei- schriebene freie Mandat wirksam geschützt wer- ner Regierung – mithin also um eine grundsätz- den könne. Um den Abgeordneten vor den Pres- liche politische Richtungsentscheidung, die die sionen zu bewahren, die er bei einem Abweichen Grundlage aller nachfolgenden Sachentscheidun- von der Fraktionslinie unweigerlich zu gewär- gen schafft. Warum sollte ausgerechnet hier das tigen hätte, soll er dem Zwang enthoben wer- Transparenzgebot nicht greifen? den, sich bekennen zu müssen und mit offenem Wenn Befürworter der Geheimwahl diese Visier zu kämpfen. Aus demokratischer Sicht ist mit dem Schutz des freien Mandates begründen, das nicht nachvollziehbar. Zu Ende gedacht wür- übersehen sie, dass die Demokratie hierzulande de es bedeuten, dass auch bei Gesetzesbeschlüs- nicht nur auf der freien Zustimmung der Abge- sen, die ja fraktionsintern ebenfalls umstritten sein ordneten beruht, sondern auch darauf, dass diese können, stets geheim abgestimmt werden müsste. Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt Forderungen, den Anwendungsbereich geheimer werden. Die Regierungswahl ist in einem parla- Abstimmungen in diesem Sinne auf Sachentschei- mentarischen System von der ihr in der Regel un- dungen auszudehnen, indem man beispielswei- mittelbar vorausgehenden Parlamentswahl nicht se einer qualifizierten Minderheit das Recht ein- zu trennen. Die Abgeordneten „vollziehen“ le- räumt, bei Bedarf eine geheime Abstimmung zu verlangen, hat es zwar gegeben, doch blieben sie 16 Walter Seuffert, Wahlgeheimnis für Dunkelmänner?, in: 15 ohne große Resonanz. Tatsächlich würde eine Die Zeit, 24. 9. 1976, S. 10. solche Ausweitung dem Transparenzgebot poli- 17 Vgl. Carmen Thiele, Regeln und Verfahren der Entschei- tischer Entscheidungen fundamental widerspre- dungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen. chen, das dem demokratischen Prinzip inhärent Staats- und kommunalrechtliche sowie europa- und völkerrecht- liche Untersuchungen, Berlin 2008, S. 490. ist und sich im Grundsatz der Parlamentsöffent- 18 Beispiele sind parteiinterne Wahlen oder Personalentschei- dungen, die nach Proporzgesichtspunkten getroffen werden 15 Vgl. Klein (Anm. 7), S. 84. müssen, etwa die Wahl eines Parlamentspräsidiums.

44 Parlamentarismus APuZ diglich eine Entscheidung, für die sie vom Wäh- gaben sie an, dass Ypsilanti eine Zusammenar- ler zuvor autorisiert wurden. Hier liegt auch der beit mit der Linkspartei, deren Stimmen sie für Grund, warum von den Parteien im Vorfeld der die Wahl benötigte, im Landtagswahlkampf aus- Wahl klare Koalitionsaussagen erwartet wer- drücklich ausgeschlossen hatte. Die vier Ab- den. Verweigern sie eine solche Aussage, setzen weichler hatten also öffentlich nachvollziehbare sie sich über eine getroffene Festlegung nach der inhaltliche Motive für ihre Entscheidung, auch Wahl hinweg oder wechseln sie während der lau- wenn sie diese vielleicht etwas zu spät entdeckten fenden Legislaturperiode ohne vorangegangene und vorbrachten. Eben deshalb wollten sie sich Neuwahl die Seiten, wird das zu Recht als unde- nicht so verhalten wie der „Heckenschütze“ aus mokratisch erachtet. Ebenso wird es von der Öf- Schleswig-Holstein, der Heide Simonis zu Fall fentlichkeit nur selten goutiert, wenn Abgeord- brachte, oder die beiden sächsischen Abgeordne- nete nach einer Wahl zu einer anderen Partei oder ten aus dem demokratischen Lager, die statt für Fraktion „überlaufen“, wie zuletzt der Fall Twes- Georg Milbradt lieber für einen Kandidaten der ten in Niedersachsen gezeigt hat. 19 NPD als Ministerpräsidenten votierten. Deren Fühlen sich die Abgeordneten dem Wäh- Verhalten lagen offenbar weniger ehrenhafte Mo- lervotum verpflichtet, können sie sich von den tive zugrunde – Rachsucht etwa oder gekränk- Positionen dieser Partei also – trotz ihres freien ter Ehrgeiz –, die sie nur unter dem schützenden Mandates – nicht nach Belieben entfernen. Nach Deckmantel der Geheimwahl verbergen konnten. Belieben heißt, dass sie es dürfen (und vielleicht sogar tun sollten), sofern dafür gute Gründe vor- WARUM FÄLLT ES SO SCHWER, liegen. Ob das der Fall ist, kann man aber nur er- DIE GEHEIMWAHL ABZUSCHAFFEN? kennen, wenn diese Gründe offengelegt werden. Lässt Artikel 38 GG ein Abweichen vom Wäh- In der Literatur findet man gelegentlich die Fest- lermandat zu, müssen die Wähler wenigstens die stellung, dass das freie Mandat in Widerspruch zu Möglichkeit haben, ein solches Verhalten zu be- den Funktionsprinzipien des parteiendemokrati- werten und gegebenenfalls zu sanktionieren. schen Parlamentarismus stehe. Diese Feststellung Dasselbe gilt für die Fraktionskollegen, die wis- ist falsch, weil die Möglichkeit des Misstrauens- sen sollten, wer und wer nicht hinter einer ge- votums, auf der das parlamentarische System im meinsam getroffenen Entscheidung steht. Die ge- Kern beruht, an die Garantie des freien Mandates heime Wahl unterminiert insofern nicht nur die gebunden ist. Ein einigermaßen stabiles Regieren Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Ab- setzt freilich voraus, dass von dieser Möglichkeit geordneten, sondern auch die der Abgeordneten nicht allzu häufig Gebrauch gemacht wird. Das untereinander. parlamentarische System kommt daher ohne ein Dass sich Wähler und Politiker des undemo- Mindestmaß an Partei-, Koalitions- und Frakti- kratischen Charakters der Geheimwahl zumin- onsdisziplin nicht aus, wenn es seine Funktions- dest intuitiv bewusst zu sein scheinen, zeigt ein fähigkeit aufrechterhalten will. Ereignis, das 2008 von Hessen aus ähnlich star- Für die Fraktions- und Parteiführungen wäre ke Schockwellen aussandte wie der jüngste Fall der Übergang zu offenen Abstimmungen bei der in Thüringen: die schon im Vorfeld gescheiterte Regierungswahl gewiss von Vorteil, weil sich po- (und deshalb unter den eingangs genannten Fäl- tenzielle Abweichler so leichter „auf Linie“ brin- len nicht aufgeführte) Wahl der SPD-Politikerin gen ließen. Vor diesem Hintergrund muss es ei- Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin. Die- gentlich verblüffen, dass die Geheimwahl nicht se Wahl fiel sprichwörtlich ins Wasser, weil vier längst abgeschafft wurde. Im internationalen Ver- Abgeordnete ihrer eigenen Fraktion nicht bereit gleich gehört die Bundesrepublik zu den parla- waren, die Kandidatin mitzutragen. 20 Als Grund mentarischen Systemen mit der am stärksten aus- geprägten Fraktionsbindung. Dies schlägt sich auch im Umgang mit der geheimen Abstimmung 19 Die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten trat im August nieder. Dass die Fraktionen Abstimmungen pro- 2017 zur CDU-Fraktion über, nachdem sie von ihrer Partei nicht ben, um Unwägbarkeiten entgegenzutreten, wieder als Direktkandidatin für die anstehende Landtagswahl aufgestellt worden war. Dadurch verlor die rot-grüne Regierung kann man ihnen schlecht vorwerfen. Was aber ihre Mehrheit im Landtag. ist, wenn Abgeordnete das Wahlgeheimnis durch 20 Vgl. Volker Zastrow, Die Vier. Eine Intrige, Reinbek 2009. Herumzeigen oder Abfotografieren des „rich-

45 APuZ 38/2020 tig“ ausgefüllten Stimmzettels bewusst unterlau- gestellten Regelöffentlichkeit der Parlamentsaus- fen oder Fraktionsführungen sie verpflichten, die schüsse. Während Politologen wie Eschenburg Wahl zu boykottieren, also an der Abstimmung und Steffani in der geheimen Regierungswahl ein nicht teilzunehmen? 21 Das freie Mandat, das die vordemokratisches Relikt sehen, betrachten die Geheimwahl angeblich schützen soll, wird auf meisten Staatsrechtler sie als notwendiges Boll- diese Weise pervertiert. werk gegen einen angeblich überbordenden Par- Die geheime Wahl der Regierung ist ein Mus- teienstaat. 24 Inwieweit die historisch verspätete terbeispiel für die pfadabhängige Entwicklung Einführung des parlamentarischen Regierungs- politischer Institutionen. Eschenburg führte sie systems in Deutschland zu dieser Interpretation auf vorparlamentarische Traditionen zurück, die beigetragen hat, wäre eine gründliche Untersu- in den Parlamentarismus ohne nähere Begrün- chung wert. dung einfach überführt worden seien. 22 So wur- Vor diesem Hintergrund dürften die Chan- den die Mitglieder der Ratskörperschaften in den cen für eine Abkehr von der überkommenen Ge- freien Städten seit dem Spätmittelalter ebenso ge- heimwahl – zumindest in absehbarer Zukunft – heim gewählt wie der Papst. Wie gezeigt, erfolgte eher gering sein, auch wenn die Hürden für eine die entscheidende Weichenstellung für die heuti- Änderung dort, wo die „verdeckten Stimmzet- ge Geheimwahl in der Weimarer Republik. Da- tel“ lediglich in der Geschäftsordnung festge- neben könnte auch der Zufall eine Rolle gespielt schrieben stehen (in der Hälfte der Länder und haben. Als die Kanzlerwahl in der Bundesrepu- im Bund), nicht sehr hoch lägen. Wahrscheinlich blik im September 1949 erstmals anstand, knüpf- braucht es erst weitere Fälle vom Kaliber Ypsi- te man einfach an die kurz vorher stattgefundene lanti oder Kemmerich, um ein Umdenken zu be- Wahl des Bundespräsidenten an, die ebenfalls als wirken. Von einem einzelnen Vorreiter könnte geheime Abstimmung vollzogen wurde. 23 dann bereits eine Signalfunktion ausgehen. Dass Ein weiterer, nicht zu unterschätzender es unter den Bedingungen knapperer Mehrheiten Grund für das Festhalten an der Geheimwahl liegt und komplizierterer Koalitionsbildungen in ei- in einer generellen Höherbewertung des konsti- ner sich pluralisierenden Parteienlandschaft wei- tutionellen gegenüber dem demokratischen Prin- tere Anlässe geben wird, die geheime Wahl in- zip im deutschen Verfassungsdenken, das in der frage zu stellen, erscheint dagegen schon heute rechtswissenschaftlichen Literatur bis heute nach- relativ gewiss. hallt und zugleich die Verfassungsrechtsprechung prägt. Dies spiegelt sich auch in anderen Restrik- tionen wider – etwa in der nach wie vor nicht her-

21 In Hessen wurde 2008 ein solcher Boykott der Wahl An- drea Ypsilantis seitens der CDU-Fraktion erwogen. Als Vorbild diente ihr dabei die Abwehr des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt 1972 durch SPD und FDP. Deren Fraktionsspitzen hatten damals den Großteil der eigenen Abgeordneten zum Fernblei- ben verpflichtet. Nur eine Gruppe von „sicheren“ Abgeordneten nahm an der Abstimmung teil, um mögliche Abweichler auf der Gegenseite zu ermuntern. Vgl. Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, München 1984, S. 411. 22 Vgl. Eschenburg (Anm. 6). 23 Bei der Präsidentenwahl lässt sich die geheime Stimmab- gabe rechtfertigen, da die Vertreter der Bundesversammlung an keinen vorgängigen Wählerwillen gebunden sind. Als „überparteiliche“ Persönlichkeitswahl verlangt sie weder, dass eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Kandidaten zwingend stattfindet, noch dass die Abgeordneten bei der Abstimmung FRANK DECKER geschlossen auftreten. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Die ist Professor für Politische Wissenschaft an der Bundesversammlung sei frei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 24.. 6 2010, S. 33. 24 Vgl. Rupert Hofmann, Offene Wahl des Regierungschefs? und Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie Zur Debatte zwischen Winfried Steffani und R. Peter Dach, in: für Forschung und Lehre praktischer Politik. Jahrbuch für Politik 2/1993, S. 201–210. [email protected]

46 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 4. September 2020 Nächste Ausgabe REDAKTION 39–40/2020, Lorenz Abu Ayyash 21. September 2020 Anne-Sophie Friedel Sascha Kneip MINDESTLOHN Johannes Piepenbrink (verantwortlich für diese Ausgabe) Frederik Schetter (Volontär) Anne Seibring [email protected] www.bpb.de/apuz twitter.com/APuZ_bpb

Newsletter abonnieren: www.bpb.de/apuz-aktuell Einzelausgaben bestellen: www.bpb.de/shop/apuz

GRAFISCHES KONZEPT Charlotte Cassel/Meiré und Meiré, Köln

SATZ le-tex publishing services GmbH, Leipzig

DRUCK Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG, Mörfelden-Walldorf

ABONNEMENT Aus Politik und Zeitgeschichte wird mit der Wochenzeitung ausgeliefert. Jahresabonnement 25,80 Euro; ermäßigt 13,80 Euro. Im Ausland zzgl. Versandkosten. FAZIT Communication GmbH c/o InTime Media Services GmbH [email protected]

Die Veröffentlichungen in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ sind kei- ne Meinungsäußerungen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autorinnen und Au- toren die Verantwortung. Beachten Sie bitte auch das weitere Print-, Online- und Veranstaltungsangebot der bpb, das weiterführende, er- gänzende und kontroverse Standpunkte zum Thema bereithält.

ISSN 0479-611 X

Die Texte dieser Ausgabe stehen unter einer Creative Commons Lizenz vom Typ Namensnennung-Nicht Kommerziell-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland. AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE www.bpb.de/apuz