Apuz 38/2020: Parlamentarismus
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70. Jahrgang, 38/2020, 14. September 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Parlamentarismus Claudia C. Gatzka Joachim Behnke DAS PARLAMENT ALS BUNDESTAG: UMSTRITTENER ORT ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN PERSPEKTIVEN FÜR DIE DEMOKRATIEGESCHICHTE WAHLRECHTSREFORM Stefan Marschall Benjamin Höhne DER DEUTSCHE FRAUEN IN PARTEIEN PARLAMENTARISMUS UND UND PARLAMENTEN DIE CORONA-PANDEMIE Frank Decker Suzanne S. Schüttemeyer REGIERUNGSWAHL DER 19. BUNDESTAG: ALS GEHEIMSACHE? SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Parlamentarismus APuZ 38/2020 CLAUDIA C. GATZKA JOACHIM BEHNKE DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT BUNDESTAG: ENDE DES WACHSTUMS? DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE VORSCHLÄGE UND PERSPEKTIVEN FÜR DIE Die deutsche Demokratiegeschichte kann das WAHLRECHTSREFORM Parlament nur als umstrittene, aber durchaus Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems lernfähige Institution thematisieren. An den hat dazu geführt, dass der Bundestag durch Parlamentarismus als Errungenschaft zu erin- Überhang- und Ausgleichsmandate stark nern, heißt zudem, an Offenheit für Pluralität gewachsen ist. Sämtliche Wahlrechtsreformvor- und politische Farbenwechsel zu erinnern. schläge sind bisher gescheitert. Auch der jüngste Seite 04–10 Anlauf verspricht keine Besserung. Seite 24–31 STEFAN MARSCHALL PARLAMENTE IN DER KRISE? BENJAMIN HÖHNE DER DEUTSCHE PARLAMENTARISMUS FRAUEN IN PARTEIEN UND PARLAMENTEN. UND DIE CORONA-PANDEMIE INNERPARTEILICHE HÜRDEN UND ANSÄTZE In der Frühphase der Corona-Krise war oft FÜR GLEICHSTELLUNGSPOLITIK von einer „Stunde der Exekutive“ die Rede. Frauen sind im Deutschen Bundestag chronisch Tatsächlich ist die Pandemie für Parlamente ein unterrepräsentiert. Die Gründe dafür liegen erheblicher Stresstest. Es zeigen sich aber nicht vor allem in den Selektionsmechanismen der nur Probleme, sondern auch Lösungsansätze, die einzelnen Parteien. Dementsprechend reicht es über die Zeit der Pandemie hinausweisen. nicht aus, mit Paritätsgesetzen nur Symptome Seite 11–17 zu behandeln. Seite 32–40 SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER DER 19. DEUTSCHE BUNDESTAG: FRANK DECKER SCHWIERIGE LERNPROZESSE ZUR REGIERUNGSWAHL ALS GEHEIMSACHE? SICHERUNG PARLAMENTARISCHER ZUR AKTUALITÄT EINER ALTEN DEBATTE ARBEITSFÄHIGKEIT Dramen wie jenes um die Ministerpräsidenten- Für das Funktionieren parlamentarischer wahl in Thüringen im Februar 2020 ließen sich Verfahren braucht es einen Grundkonsens aller vermeiden, wenn Regierungschefs in deutschen Fraktionen über Prozesse und Gepflogenheiten. Parlamenten nicht geheim, sondern offen gewählt Dieser ist in der laufenden Wahlperiode jedoch würden. Über eine Änderung diskutierten unter Druck geraten – insbesondere durch die Politologen schon in den 1970er Jahren. erstmals im Bundestag vertretene AfD. Seite 41–46 Seite 18–23 EDITORIAL Parlamente sind die Herzstücke unserer Demokratie. Ihre Funktionsfähigkeit lebt vom offenen Austausch der politischen Meinungen, von gründlichen fachlichen Beratungen sowie von geordneten und transparenten Verfahren zur demokratischen Entscheidungsfindung. Zugleich sind sie darauf angewiesen, dass es unter den Abgeordneten bei allen Unterschieden in der politischen Ausrichtung eine grundsätzliche Bereitschaft zur konstruktiven parlamenta- rischen Zusammenarbeit gibt. Die aktuelle Wahlperiode des Deutschen Bun- destages zeigt indes, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern vielmehr Idealbedingungen. So hat die erstmalige Präsenz der AfD nicht nur merklichen Einfluss auf die parlamentarische Debattenkultur, sondern sie begrenzt auch die Möglichkeiten zur interfraktionellen Kooperation. Seit Mitte März 2020 erschwert zudem die Corona-Pandemie die parlamentarische Arbeit. Zum einen müssen die Abgeord- neten Abstand voneinander halten, was Plenardebatten, Ausschusssitzungen und informelle Zusammenkünfte beeinträchtigt. Zum anderen schlug insbesondere zu Beginn der Pandemie die „Stunde der Exekutive“: Die Regierung wurde durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit umfassenden Kompetenzen ausgestat- tet, und das gesundheitspolitische Erfordernis, rasch zu handeln, zwang die Abge- ordneten, binnen kürzester Zeit über weitreichende Maßnahmen zu entscheiden, ohne ausführlich über Für und Wider debattiert zu haben. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Parlamente hängen nicht zuletzt von den Regeln ab, nach denen sie gewählt werden. Nach rapiden Wachstumsschü- ben des Bundestages durch den Anstieg von Überhang- und Ausgleichsmanda- ten, ohne dass sich die Parteien auf eine grundlegende Wahlrechtsreform einigen konnten, geht die Debatte darüber nun in eine weitere Runde. Zwar haben sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD Ende August 2020 für die nächste Bundestagswahl 2021 auf eine Übergangslösung verständigt. Ob sich damit aber tatsächlich eine weitere Vergrößerung des Parlaments verhindern lässt, liegt allein in der Hand der Wählerinnen und Wähler. Johannes Piepenbrink 03 APuZ 38/2020 ESSAY DAS PARLAMENT ALS UMSTRITTENER ORT DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE Claudia C. Gatzka Die Debatte um einen Wandel bundesrepubli- publik zusammenzudenken. Nationale Symbolik kanischer Gedächtniskultur ist in vollem Gange, blieb in der Weimarer Republik als Gegensym- und es war der Bundespräsident, der sie mit ei- bolik zur Demokratie vital und abrufbar, häufig nem Plädoyer für die Pflege demokratischer Er- verbunden mit starken Emotionen jener, die sich innerungsorte ins Rollen brachte. Mehr als ein „national“ nannten und dabei eben meist keine Jahr vor den Denkmalstürzen von 2020 wunder- Demokraten sein wollten. Diese wiederum rekla- te sich Frank-Walter Steinmeier in der „Zeit“, mierten eher ein rationalistisches, nüchternes Po- dass der Bund dem Hamburger Bismarck-Denk- litikverständnis für sich, das wenig Platz für Pa- mal mehrere Millionen Euro Unterstützung an- thos ließ, auch nicht im Namen der Freiheit. Die gedeihen lasse, der Frankfurter Paulskirche als Weimarer Republik beging zwar am 11. August historischem Ort des ersten gesamtdeutschen den Verfassungstag, doch sie produzierte keine Parlaments hingegen keinen Cent. Dabei könn- schillernde Erinnerungskultur, die die demokrati- ten, so der Bundespräsident, gerade die Revolu- schen Traditionen Deutschlands ins 19. Jahrhun- tion von 1848/49 oder der „Weimarer Aufbruch“ dert zurückverfolgt hätte. Auch für viele Demo- von 1918/19 ebenso wie die Jahre 1949 und 1989 kraten war die schwarz-rot-goldene Reichsflagge Demokratinnen und Demokraten Mut und An- der jungen Republik nicht mehr als ein Stück sporn vermitteln. Die Freiheitskämpfe und Er- Stoff, ganz im Gegensatz zur sakralen Qualität, rungenschaften, Heldinnen und Helden sowie die Schwarz-Weiß-Rot für die Weimarer Rech- die zahlreichen kleineren und größeren Orte der ten behielt. 02 Der Schatten der Niederlage und Demokratiegeschichte gelte es künftig sehr viel einer durch Krieg und Revolution gespaltenen stärker in der offiziellen Gedächtnispolitik zu Arbeiterbewegung ließ keine republikanische verankern. Bei aller notwendigen Erinnerung an Aufbruchstimmung aufkommen. Diktatur und Verfolgung, Krieg und Vernich- Nach 1945 änderte sich das nicht. Die junge tung – auch die Demokratie sei deutsch, und wo- Bundesrepublik hatte zwar einige Vernunftre- rauf Steinmeier damit letztlich abzielt, ist die De- publikanerinnen und -republikaner mehr, aber mokratie zum Telos der Nationalgeschichte zu keine positiv besetzten Erinnerungsorte der erheben. 01 Demokratie, galt Weimar doch, und mit ihm Vorstöße wie diese haben insofern ihre Be- Schwarz-Rot-Gold, als Schreckbild einer über- rechtigung, als gerade die deutschen Großstäd- forderten und ungeliebten Republik. Prägend te tatsächlich nicht zu Leuchttürmen demokrati- wurde für das Bonner Selbstverständnis gerade, scher Erinnerungslandschaften aufgestiegen sind, sich von der ersten deutschen Demokratie abzu- obwohl gerade dort deutsche Demokratiege- grenzen. 03 Der Entfaltungsspielraum für eine na- schichte gemacht wurde. Überhaupt hat sich die tionale demokratische Symbolik war durch die liberale Demokratie in Deutschland mit nationa- deutsche Teilung zusätzlich begrenzt. Im Grun- ler Symbolpolitik schon immer vergleichswei- de kann erst 1990 für die Symbiose von demo- se zurückgehalten. Anders als es die demokrati- kratischem und nationalem Selbstverständnis schen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts stehen – allerdings mit der Einschränkung, dass nahelegen, war es in der deutschen Geschichte dem ostdeutschen Teil der vereinten Nation im- des 20. Jahrhunderts nie leicht, Nation und Re- mer wieder ein eklatantes Demokratiedefizit at- 04 Parlamentarismus APuZ testiert wird. Was 30 Jahre nach der Vereinigung schen Antiparlamentarismus oder parlamentari- für gemeinsame, nationale demokratische Erinne- schen Funktionsdefiziten. Vielmehr handelt es rungsorte taugt, ist noch immer eine offene Frage. sich bei Antiparlamentarismus und Parlamenta- Ein Weg wäre, die gemeinsamen Demokratieer- rismuskritik um Phänomene, die so alt sind wie fahrungen vor 1949 ins Gedächtnis zu rufen, die der Parlamentarismus selbst und namentlich in auch die getrennten Wege im Kalten Krieg ideen- Frankreich mit seiner stolzen republikanischen geschichtlich grundierten. Tradition tief verwurzelt sind. Allerdings exis- Zur Erörterung einer demokratischen Ge- tieren national spezifische Kulturen der Parla- dächtnispolitik gehört die Frage, wie diese libe- mentskritik wie des Parlamentarismus selbst, ral-demokratisch ausgestaltet werden kann. In die hier in ihrer deutschen Spielart zur Sprache letzter