Lena GUSSMAGG, BEd

„Von normaler Kindheit ist keine Red‘“ Jüdische Kindheit und Jugend im der Zwischenkriegszeit

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Education im Studium Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung im Entwicklungsverbund Süd-Ost

vorgelegt an der Karl-Franzens-Universität Graz

Begutachterin: Ass.-Prof. Mag. Dr.phil. Ursula Katharina Mindler-Steiner Institut für Geschichte

Graz, 2021

Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Literatur nicht benutzt und die den Quellen bzw. der Literatur wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht.

Datum Unterschrift

Danksagung

Hier möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei allen Personen zu bedanken, die mich im Studium und beim Verfassen dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben.

Mein Dank gilt in Besonderem Frau Ass.-Prof. Mag. Dr.phil. Ursula Katharina Mindler-Steiner, die mich beim Verfassen meiner Arbeit betreut hat. Neben ihrer fachlichen Unterstützung und unzähligen nützlichen Hinweisen hatte sie stets ein offenes Ohr für meine Fragen. Vielen Dank dafür!

Ein großer Dank geht zudem an meine Eltern, die mich in meiner Entscheidung das Lehramt- studium zu absolvieren stets unterstützt haben. Sie haben sich alle kleineren und größeren Prob- leme angehört und sind mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Vielen Dank für euren Rückhalt und eure Unterstützung!

Bedanken möchte ich mich bei meiner gesamten Familie und meinen Freundinnen und Freun- den, die mich stets motiviert und die auch für die nötige Ablenkung gesorgt haben, nach der ich mich wieder konzentriert dem Studium widmen konnte.

Ein besonderer Dank geht an jene Institutionen und ihre MitarbeiterInnen, die mich durch ihre Beratung und die großzügige Bereitstellung von Quellenmaterial beim Verfassen meiner Arbeit unterstützt haben. Ich möchte mich hierfür bei Yad Vashem, dem Steiermärkischen Landesar- chiv, der University of Southern California (USC) Shoah Foundation, dem United States Holo- caust Memorial Museum (USHMM), dem Tauber Holocaust Library of the Jewish Family and Children’s Services Holocaust Center, dem Jüdischen Museum Berlin und dem Leo Baeck In- stitute bedanken. Danke auch an Karen Engel, die mir die Transkripte ihres ZeitzeugInnenpro- jekts zur Verfügung gestellt hat.

Vielen lieben Dank!

INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG ...... 1 2. SICH ERINNERN ...... 9 2.1. Selbstzeugnisse ...... 12 2.1.1. Autobiographisches Schreiben ...... 15 2.1.2. Oral History Interviews ...... 17 3. JÜDISCHES LEBEN IN GRAZ – VON DEN ANFÄNGEN BIS 1938 ...... 22 3.1. Erstes jüdisches Viertel im Mittelalter ...... 22 3.2. Die Neukonstituierung der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert ...... 24 3.3. Jüdisches Leben von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges . 28 3.4. Jüdisches Leben während der Ersten Republik ...... 34 3.5. Jüdisches Leben im austrofaschistischen „Ständestaat“ ...... 44 3.6. „Anschluss“ und Folgen ...... 48 4. QUELLENKORPUS ...... 54 4.1. Archive und Projekte ...... 56 4.1.1. USC Shoah Foundation – Visual History Archive ...... 56 4.1.2. „Austrian Heritage Collection“ ...... 59 4.1.3. United States Holocaust Memorial Museum ...... 61 4.1.4. Centropa ...... 62 4.1.5. „Mutterland – Vatersprache“ ...... 63 4.1.6. Yad Vashem ...... 64 4.2. Persönliche Aufzeichnungen ...... 65 4.3. Kurzbiographien der ZeitzeugInnen ...... 65 5. JÜDISCHE KINDHEIT UND JUGEND IN GRAZ ...... 76 5.1. Bildung und Erziehung ...... 77 5.1.1. Volksschulzeit ...... 77 5.1.2. Weitere Schulbildung ...... 84 5.1.3. Religiöse Erziehung ...... 87 5.2. (Jüdische) Lebenswelten in Graz ...... 91 5.2.1. Jüdische Lebenswelten ...... 91 5.2.2. Assimilation und Tradition ...... 94 5.2.3. Freizeit ...... 101 5.2.4. Antisemitismus ...... 107 5.3. Der „Anschluss“ und die Zeit bis zur Emigration ...... 112 5.3.1. „Anschluss“ ...... 113 5.3.2. Novemberpogrom ...... 120

5.3.3. Emigration ...... 125 6. CONCLUSIO ...... 129 7. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ...... 132 8. QUELLENVERZEICHNIS ...... 133 9. LITERATURVERZEICHNIS ...... 138 10. WEITERFÜHRENDE LITERATUR ...... 148 11. ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...... 151

1. EINLEITUNG „Von normaler Kindheit ist keine Red‘“, diese Aussage der 1926 geborenen Helma Goldmark beschreibt das Aufwachsen der Zeitzeugin in Graz während der Zwischenkriegszeit sowie die Flucht und Emigration nach der nationalsozialistischen Machtübernahme.1 Schon als junges Kind erlebte die Zeitzeugin aufgrund ihrer Religion Ausgrenzung und schließlich sogar Ver- folgung. Mit diesen Erfahrungen ist Helma Goldmark jedoch nicht alleine, erfuhren doch alle jüdischen Kinder und Jugendlichen spätestens nach der nationalsozialistischen Machtüber- nahme in Österreich schwerwiegende Einschränkungen, mussten sich verstecken, flüchten, wurden in Lager deportiert oder wurden ermordet. Doch auch die Zeit vor dem „Anschluss“ gestaltete sich für jüdische Kinder und Jugendliche anders als für nichtjüdische ZeitgenossIn- nen. Einerseits wurden die jüdischen Sitten, Bräuche und Vorschriften befolgt und die Syna- goge besucht, andererseits passte man diese Regelungen an das Umfeld an und übernahm auch Elemente der nichtjüdischen Lebenswelt. Hinzu kommt, dass die antisemitischen Tendenzen im Graz der Zwischenkriegszeit bereits sehr stark ausgeprägt waren und schon vor der Macht- übernahme der NationalsozialistInnen für die jüdische Bevölkerung zum Alltag gehörten. Das Aufwachsen für jüdische Kinder und Jugendliche unter diesen Voraussetzungen unterschied sich somit deutlich von jenem der christlichen Mehrheitsgesellschaft dieser Zeit. In Anlehnung an Sándor Holbok, der sich mit jüdischer Kindheit und Jugend von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg beschäftigt,2 wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass jüdische Kinder und Jugendliche während der Zwischenkriegszeit in Graz in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Assimilation aufwuchsen, das stark von Antise- mitismus beeinflusst war. Die erkenntnisleitenden Fragen lauten: Wie fand die jüdische Erzie- hung der Kinder und Jugendlichen statt? Welche religiöse Erziehung wurde den Kindern und Jugendlichen geboten? Welche Schulausbildung wurde jüdischen Kindern und Jugendlichen zuteil? Welche jüdischen Vereine gab es für jüdische Kinder und Jugendliche? Waren sie auch Mitglieder in nichtjüdischen Vereinen? Welche Erfahrungen machten die Kinder und Jugend- lichen mit Antisemitismus? Wie nahmen sie Assimilation wahr? Wie erlebten sie die national- sozialistische Machtübernahme 1938, das Novemberpogrom und die Flucht? In Besonderem ab den 1990er Jahren wurden zahlreiche ZeitzeugInneninterviews ge- führt, um die Erfahrungen und Erinnerungen von Shoahüberlebenden für die Nachwelt zu

1 GOLDMARK Helma, AHC 168. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. Washington 03.06.2008; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE3984241 [Abruf: 20.11.2020], Tape 2. 0:37:00–0:37:12. 2 HOLBOK Sándor, Jüdische Kindheit zwischen Tradition und Assimilation. In: Sabine HÖDL / Martha KEIL (Hgg.), Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a. M. 1999. 1

bewahren. Diese Zeugnisse wurden für zahlreiche Forschungsarbeiten herangezogen, welche sich beispielsweise mit dem Leben unter dem nationalsozialistischen Regime oder Fluchterfah- rungen beschäftigen. Der Fokus wurde dabei jedoch meist auf andere Bereiche als jene der Kindheit und Jugend gelegt. Publikationen, die sich mit jüdischer Kindheit und Jugend in Ös- terreich beschäftigen, sind nur wenige vorhanden. Eleonore Lappin hat dazu einen Beitrag über die Situation in Wien verfasst.3 Ein Sammelband mit dem Namen „Das Ende der Kindheit“, herausgegeben von Sabine Hödl, beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema.4 Sándor Holbok verfasste einen Artikel, der sich mit jüdischer Kindheit im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun- derts beschäftigt, legt sein Augenmerk dabei jedoch ebenfalls nicht auf Graz.5 Während sich weitere Publikationen mit jüdischer Kindheit und Jugend in Wien beschäftigen, ist für Graz diesbezüglich beinahe keine Literatur vorhanden. In ihrer Diplomarbeit beschäftigt sich Ines Hopfer mit jüdischer Kindheit in Graz während der NS-Zeit. Ihre Ausführungen fokussieren sehr stark auf die Zeit nach dem „Anschluss“, die Situation davor wird nur kurz besprochen und bezieht sich dabei hauptsächlich auf die Lage in Wien.6 Andrea Strutz und Viktoria Kumar veröffentlichten Publikationen, in denen sie die Lebenswege Grazer Jüdinnen und Juden nach- zeichnen.7 In diesen Arbeiten finden sich auch kurze Aussagen zur Kindheit und Jugend der ZeitzeugInnen. Elfriede Schmidt stellt in ihrer Monographie „1938…und was dann?“ Zeitzeu- gInnenberichte zum Jahr 1938 in den Fokus, wobei auch zeitweise kurze Erinnerungen an die Zeit davor einfließen.8 Während der Forschungsstand zu jüdischer Kindheit und Jugend in Graz also recht überschaubar ist, gibt es zu jüdischem Leben in Graz generell bereits einige Arbeiten. Insbesondere die Publikationen von Dieter A. Binder, Gerald Lamprecht und Heimo Halbrainer finden in der vorliegenden Arbeit Verwendung, da die genannten Personen sich in zahlreichen Forschungsarbeiten mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Graz beschäftigt haben und als Experten auf diesem Gebiet bezeichnet werden können.9 Zudem stützt sich die Arbeit auf

3 LAPPIN Eleonore, Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Frank STERN / Barbara EICHINGER (Hgg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900– 1938. Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus. Wien-Köln-Weimar 2009. 4 HÖDL Sabine (Hg.), Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900 (= Juden in Mitteleuropa). St. Pölten 2014, HÖDL Sabine (Hg.), Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900. St. Pölten 2014. 5 HOLBOK, Jüdische Kindheit, 1999. 6 HOPFER Ines, Jüdische Kindheit in der NS-Zeit. Ungedr. Dipl.-Arb. Graz 2002. 7 STRUTZ Andrea, „Suddenly I was a Judenbua“. Erinnerungen eines gebürtigen Grazers an Kindheit, „Anschluss“ 1938 und Vertreibung. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 38/39 (2009). – KUMAR Victoria, In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden. Graz 2013. 8 SCHMIDT Elfriede, 1938… und was dann? Innsbruck 1988. 9 BINDER Dieter A., Das Schicksal der Grazer Juden 1938. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 18/19 (1987). – BINDER Dieter A., Antisemitismus und Judentum. Ein Vorwort. In: Dieter A. BINDER / Gudrun REITTER / Herbert RÜTGEN (Hgg.), Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938. Graz 1988. – BINDER Dieter A., Jüdische Steiermark – Steirisches Judentum. In: Eleonore LAPPIN (Hg.), Jüdische Gemeinden. Kontinuitäten und Brüche. Berlin-Wien 2002. – LAMPRECHT Gerald / BINDER 2

Aufsätze von Gerhard Salzer-Eibenstein und Gudrun Reitter, die zwar nicht zur rezenten For- schungsliteratur zählen, aber detaillierte Informationen zur jüdischen Kultusgemeinde von Graz bereitstellen.10 Gut erforscht sind auch die Methode und die Produkte der Oral History sowie autobiographisches Schreiben. Eine wichtige Grundlage für diese Arbeit bildet hierfür der Sam- melband „Die ‚Wahrheit‘ der Erinnerung – Jüdische Lebensgeschichten“, der von Eleonore Lappin und Albert Lichtblau herausgegeben wurde.11 Die Aufsätze in diesem Band befassen sich nicht nur mit der Frage, inwieweit „subjektive“ ZeitzeugInnenaussagen für wissenschaft- liche Arbeiten herangezogen werden können, sondern beinhalten auch Ausführungen zu ver- schiedenen Projekten, in denen ZeitzeugInneninterviews entstanden sind. Zudem ist der von Robert Perks und Alistair Thomson herausgegebene Sammelband „The Oral History Reader“ als wichtiges Werk für die vorliegende Arbeit zu nennen.12 Die Beiträge des Bandes besprechen Vor- und Nachteile der Methode sowie ihre Rezeption in den Geschichtswissenschaften. Für die Vorbereitung auf die Arbeit mit autobiographischen Texten finden vor allem Aufsätze von Günter Müller Verwendung, die sich gleichzeitig auch mit der Thematik des Erinnerns und

Dieter A., Die Grazer jüdische Gemeinde. In: transversal 1. Jg. (2000). – LAMPRECHT Gerald, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg. Innsbruck-Wien-Bozen 2007. – LAMPRECHT Gerald, Graz 1938. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde. In: Kultur in Graz (Hg.), Hörmal. Überlebensgeschichten 1938–2008. 3 CDs. edition luxus. 2008. – LAMPRECHT Gerald, Jüdisches Leben in der Steiermark zwischen Bruch und Kontinuität. In: Kultur in Graz (Hg.), Hörmal. Überlebensgeschichten 1938–2008. 3 CDs. edition luxus. 2008. – LAMPRECHT Gerald, Räume der Vergemeinschaftung. Aspekte des Grazer jüdischen Vereinswesens bis zum Ersten Weltkrieg. In: Evelyn ADUNKA / Gerald LAMPRECHT / Georg TRASKA (Hgg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (= Schriften des Centrums für jüdische Studien 18). Innsbruck-Wien-Bozen 2011. – LAMPRECHT Gerald, „… das herrliche Spiel mitanzusehen“. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz. In: Alfred ABLEITINGER (Hg.), Bundesland und Reichsgau. Demokratie, „Ständestaat“ und NS– Herrschaft in der Steiermark von 1918 bis 1945. Wien-Köln-Weimar 2015. – LAMPRECHT Gerald / MACHER- KROISENBRUNNER Heribert, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 48 (2018). – HALBRAINER Heimo / LAMPRECHT Gerald, „So dass uns Kindern eine durchwegs christliche Umgebung geschaffen war.“. Die Heilandskirche und ihre „Judenchristen“ zwischen 1880 und 1955. Graz 2010. – HALBRAINER Heimo, Juden in der Provinz. Die Geschichte der Juden in der Steiermark. Teil II. In: transversal 2. Jg. (2001) H 2,. – HALBRAINER Heimo, „Keine ausschließliche Turn- und Sportbewegung“. Jüdischer Sport in der Steiermark am Beispiel des Jüdischen Turnvereins ‚Makkabi‘ und der Hakoah. In: Gerald LAMPRECHT (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung. Innsbruck 2004. 10 SALZER-EIBENSTEIN Gerd W., Geschichte der Juden in Graz. In: Hugo GOLD (Hg.), Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch. Tel Aviv 1971. – SALZER-EIBENSTEIN Gerhard W., Die Wohn- und Berufsstandorte der Grazer Juden 1938. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 10 (1978). – SALZER- EIBENSTEIN Gerhard W., Die Geschichte des Judentums in Südostösterreich von den Anfängen bis ins 20. Jh. In: Israelitische Kultusgemeinde für Steiermark, Kärnten und die politischen Bezirke des Burgenlandes Oberwart, Güssing und Jennersdorf (Hg.), Geschichte der Juden in Südost-Österreich. Gedenkschrift. Graz 1988. – REITTER Gudrun, Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Graz 1914 bis zur Gegenwart. In: Israelitische Kultusgemeinde für Steiermark, Kärnten und die politischen Bezirke des Burgenlandes Oberwart, Güssing und Jennersdorf (Hg.), Geschichte der Juden in Südost-Österreich. Gedenkschrift. Graz 1988. – REITTER Gudrun, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde. 1908–1938. In: Dieter A. BINDER / Gudrun REITTER / Herbert RÜTGEN (Hgg.), Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938. Graz 1988. 11 LAPPIN Eleonore / LICHTBLAU Albert (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008. 12 PERKS Robert / THOMSON Alistair (Hgg.), The Oral History Reader. London-New York 2016. 3

Vergessens beschäftigen.13 Einen wichtigen Beitrag dazu, wie es sich mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen von ZeitzeugInnen verhält, liefert außerdem Edith Hessenberger in ihrer Mono- graphie „Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert“.14 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Einblicke in das Leben jüdischer Kinder und Jugend- licher zu gewähren, die während der Zwischenkriegszeit in Graz lebten. Es soll herausgefunden werden, wie die ZeitzeugInnen ihre Erziehung und Bildung wahrnahmen, welche Erinnerungen sie an ihr Umfeld während ihrer Kindheit und Jugendzeit haben, wie die nationalsozialistische Machtübernahme als Bruch ihres bisherigen Lebens fungierte und wie sich die ProtagonistIn- nen an die Zeit nach dem „Anschluss“ erinnern. Nachdem sich die Beantwortung dieser Fragen bis jetzt in der Literatur größtenteils auf die Wiener Jüdinnen und Juden bezogen hat, soll mit dieser Arbeit auch ein Einblick in jüdische Kindheit und Jugend in Graz gegeben werden. Als Methoden zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden der Literaturvergleich sowie der Vergleich von Selbstzeugnissen gewählt. Der Vergleich der Fachliteratur soll einer- seits einen Überblick über den historischen Kontext geben und andererseits auf die Arbeit mit den Selbstzeugnissen vorbereiten. Der Quellenkorpus umfasst sowohl ZeitzeugInneninterviews als auch autobiographische Schriften von Jüdinnen und Juden, die ihre Kindheit und Jugend in der Zwischenkriegszeit in Graz verbrachten, sodass insgesamt Zeugnisse von 28 verschiedenen Personen berücksichtigt werden. Die Aufnahme verschiedener Quellentypen hat zur Folge, dass ein besseres Bild nachgezeichnet werden kann. Beide Quellentypen haben ihre Vor- und Nach- teile und durch die Kombination können eventuelle Unzulänglichkeiten ausgeglichen werden. Transkribiert und ausgewertet wurden die Quellen von der Verfasserin mithilfe des Programms MAXQDA, wobei für einige Interviews bereits Transkripte vorhanden waren, die nur mehr angepasst werden mussten, worauf später noch ausführlich eingegangen werden wird. Die Zi- tate der ZeitzeugInnen wurden wortwörtlich belassen und nicht redigiert, da Wortwiederholun- gen oder Sprünge Rückschlüsse auf Erinnerungsvorgänge zulassen. Lediglich Lückenfüller wurden weggelassen, um die Lesbarkeit der Aussagen nicht zu sehr einzuschränken. Da die Quellenlage zum Forschungsthema eher dürftig ist, wurde versucht, möglichst viele Zeitzeu- gInnenberichte für die Auswertung heranzuziehen. Nichtsdestotrotz wurde darauf Wert gelegt,

13 MÜLLER Günter, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“. Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer und gesellschaftlicher Überlieferung. In: Peter EIGNER / Christa HÄMMERLE / Günter MÜLLER (Hgg.), Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht (= Konzepte und Kontroversen. Materialien für Unterricht und Wissenschaft in Geschichte – Geographie – Politische Bildung 4). Innsbruck-Wien-Bozen 2006. – MÜLLER Günter, „Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir…“. Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Wien. In: Historische Anthropologie 5. Jg. (1997) H 2, p. 302–318. 14 HESSENBERGER Edith, Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert. Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg. Innsbruck-Wien-Bozen 2013. 4

dass es sich um authentische Quellen handelt. Aus diesem Grund wurden nur ungeschnittene ZeitzeugInneninterviews sowie autobiographische Texte in den Quellenkorpus aufgenommen. Ein Werk, indem Ruth Yu-Szammer die Erinnerungen ihres verstorbenen Vaters als Tagebuch- einträge verarbeitet, wurde daher ausgeschlossen, da es sich dabei nicht um eine authentische Quelle, sondern um einen fiktiven Text handelt.15 Ebenso wurden die Interviews von Karen Engel, die im Zuge des Projekts „Hörmal. Überlebensgeschichten 1938–2008“ entstanden sind,16 nicht in den Quellenkorpus aufgenommen. Sie sind auf der Projekt-CD stark geschnitten und zu einzelnen Themengebieten gruppiert. Die Transkripte, die Frau Engel auf Anfrage freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, sind leider unvollständig, die Originalinterviews aber bedauerlicher Weise nicht einsehbar. Obwohl die Ausschnitte auf der CD sehr interessant sind und auch thematisch zur Arbeit passen würden, wurde entschieden, diese Berichte nicht in den Quellenkorpus aufzunehmen, da die kurzen Aussagen ihrem Kontext entrissen wurden und isoliert nur schwer analysiert und interpretiert werden können. Es soll jedoch angemerkt wer- den, dass die CD für die Arbeit mit SchülerInnen produziert wurde, und sie für diese sicherlich wertvolle Einblicke in das Leben von Grazer Jüdinnen und Juden bietet. Elfriede Schmidt ver- arbeitet in ihrem Buch „1938…und was dann?“ ebenfalls ZeitzeugInneninterviews, die jedoch nur einzelne Ausschnitte der Gespräche wiedergegeben.17 Da es jedoch für die Arbeit wichtig ist, in welchem Kontext die Aussagen stehen, finden auch diese Berichte keinerlei Berücksich- tigung in der weiteren Analyse und Interpretation. Der Quellenkorpus beschränkt sich also auf ungeschnittene Interviews sowie autobiographische Texte Grazer Jüdinnen und Juden. Die lo- kale Beschränkung auf Graz ergibt sich daraus, dass es sich hierbei um die größte jüdische Gemeinde der Steiermark handelte. Außerhalb der Stadt lebten nur wenige jüdische Familien, weshalb sich der Quellenkorpus auf Jüdinnen und Juden beschränkt, die in Graz lebten und deren Aussagen so besser miteinander verglichen werden können.18 Die ZeitzeugInnen erzählen in ihren Berichten neben ihrer Zeit in Graz auch von ihren Fluchterfahrungen und dem Aufbau ihrer Leben in der Emigration bzw. von ihrer Rückkehr nach Graz. Da die Analyse der Flucht- geschichten der ZeitzeugInnen den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, kon- zentriert sie sich auf die Erinnerungen an Graz. Zudem wurde der Flucht- und

15 YU-SZAMMER Ruth, Über.Leben. Das Tagebuch des B. Kaufmann. Graz 2013. 16 ENGEL Karen, Hörmal. Überlebensgeschichten 1938–2008. 3 CDs. Graz 2008. 17 SCHMIDT, 1938, 1988. 18 Christian Klösch führte im Zuge seiner Tätigkeit für das „ Heritage Archive“ auch Interviews mit zwei Juden, die aus Leoben stammten. Weitere Interviews mit Jüdinnen und Juden aus der Steiermark sind der Verfas- serin nicht bekannt. Herta Reich verfasste ihre Autobiographie über ihr Leben als Jüdin in Mürzzuschlag sowie ihre Emigration. Siehe REICH Herta, Zwei Tage Zeit. Flucht, Vertreibung und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag. Graz 2014. 5

Emigrationsaspekt bereits in anderen Publikationen bearbeitet.19 Nachdem der Fokus auf der Kindheit und Jugend von Juden und Jüdinnen liegt, werden nur jene Ausschnitte aus den Quel- len verwendet, welche sich auf Erinnerungen vor dem achtzehnten Lebensjahr beziehen. Dies führt beispielsweise dazu, dass Erinnerungen an die nationalsozialistische Machtübernahme so- wie das Novemberpogrom nur von jenen ZeitzeugInnen, die im Jahr 1938 unter achtzehn Jahre alt waren, in die Analyse und Interpretation einbezogen werden. Die Verwendung bereits exis- tenter ZeitzeugInneninterviews hat den Vorteil, dass eine größere Anzahl von Berichten ausge- wertet werden kann, da die Erstellung eigener Interviews sehr zeitaufwendig ist. Zudem kommt hinzu, dass viele der ZeitzeugInnen, die ihre Kindheit und Jugend während der Zwischenkriegs- zeit in Graz verbrachten, heute bereits verstorben sind und deshalb nicht mehr befragt werden können. Die jüngsten ZeitzeugInnen im Quellenkorpus wären heute 89 Jahre alt. Selbst wenn die Personen in so guter körperlicher und geistiger Verfassung wären ein Interview zu geben, so scheint es ethisch sehr bedenklich, solch betagte Menschen jene traumatischen Erlebnisse in solch einer intensiven Form wieder erinnern zu lassen. Aufgrund der Aufnahme von ausschließ- lich bereits existenten Interviews kann keinerlei Einfluss auf die Auswahl der ZeitzeugInnen oder die Fragestellungen genommen werden. Dies ist vor allem hinsichtlich der Repräsentati- vität des Quellenkorpus zu bedenken. Die vorliegenden Interviews und Texte sind hauptsäch- lich von ZeitzeugInnen verfasst, die aus bürgerlichen Familien stammen. Nur eine Person gibt an, in einer orthodoxen Familie aufgewachsen zu sein. Auch das Arbeitermilieu ist nicht stark vertreten, wie die Abwesenheit von Erzählungen aus der Arbeiterbewegung oder den Februar- kämpfen illustriert. Der Quellenkorpus ist somit keinesfalls repräsentativ für die gesamte jüdi- sche Bevölkerung von Graz. Dennoch geben die Erzählungen Einblicke in verschiedene Le- bensfelder jüdischer Kinder und Jugendlicher während der Zwischenkriegszeit und sind als sol- che wichtige Zeugnisse der Vergangenheit. Sowohl die InterviewerInnen als auch die Zeitzeu- gInnen fokussieren in ihren Fragen und Antworten auf unterschiedliche Themengebiete, und so sind nicht von allen ZeitzeugInnen die Aussagen über dieselben Themen vorliegend. Einige der ZeitzeugInnen berichten sehr ausführlich, während andere wieder nur sehr wenig erzählen. Durch den breiten Quellenkorpus finden sich jedoch ausreichend Aussagen zu den verschiede- nen Forschungsfragen.

19 Zu Lebensgeschichten Grazer Jüdinnen und Juden siehe KUMAR, In Graz und andernorts, 2013. – MEISSNER Renate S. im Auftrag des Nationalfonds (Hg.), Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Bd. 4. Exil in Asien 1. Wien 2015, p. 220–239. – MEISSNER Renate S. im Auftrag des Nationalfonds (Hg.), Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Bd. 4. Exil in Asien 2. Wien 2015, p. 127–131. – Zu Lebensgeschichten österreichischer Jüdinnen und Juden siehe: MEISSNER Renate S. im Auftrag des Nationalfonds (Hg.), Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus. Bd. 1 bis Bd. 5/3. Wien 2010–2018. 6

Gesammelt und eingesehen wurden die ZeitzeugInneninterviews über das Visual His- tory Archive der USC Shoah Foundation, die „Austrian Heritage Collection“ des Leo Baeck Institute, Yad Vashem, Centropa, weitererzählen.at, das das Onlinearchiv von erinnern.at dar- stellt, sowie über das United States Holocaust Memorial Museum. Auch bei der Österreichi- schen Mediathek, dem Haus der Namen und dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (kurz Nationalfonds) wurde angefragt, ob weiteres Material zum Thema vorhanden ist, was jedoch verneint wurde. Aus Covid-Gründen war eine Recherche vor Ort in diesen Institutionen leider nicht möglich. Des Weiteren wurde das ORF-Archiv nach Berichten und ZeitzeugInneninterviews durchgesehen.20 Dabei wurden einige interessante Be- richte und Reportagen gefunden, die jedoch größtenteils auf das Leben der jüdischen Gemeinde in Graz ab den 1990er Jahren oder allgemein auf die Geschichte der Grazer Jüdinnen und Juden fokussieren. Die Erzählungen der ZeitzeugInnen, die in solchen Berichten zu Wort kommen, sind stark geschnitten und deshalb nicht in den Quellenkorpus aufgenommen worden.21 Als Ergänzung zu den autobiographischen Texten und den ZeitzeugInneninterviews wurden Akten zu einzelnen jüdischen Vereinen, zum jüdischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen sowie der Nachlass einer Lehrerin der jüdischen Volksschule, Hermine Loetsch, im Steiermär- kischen Landesarchiv eingesehen.22 Zur jüdischen Volksschule selbst sind leider keinerlei Ak- ten zugänglich. Auf Anfrage bei der Jüdischen Kultusgemeinde Graz meinte man, dass im Zuge der Plünderungen und Brandlegung während des Novemberpogroms ein Großteil der Akten zerstört worden war. Auch Anfragen im Stadtarchiv Graz, im Österreichischen Staatsarchiv, im Jüdischen Museum Wien, bei der Wiener Kultusgemeinde sowie im Museum für Geschichte Graz blieben ergebnislos. Zeugnisse einer Grazer Schülerin aus der jüdischen Volksschule so- wie dem Lyzeum konnten im Jüdischen Museum Berlin ausgeforscht werden. Persönliche Ak- ten einzelner ZeitzeugInnen können zudem online über das Leo Baeck Institute eingesehen wer- den. Sie wurden für die Analyse jedoch nicht weiter herangezogen, da die vorliegenden Doku- mente zur Beantwortung der Fragestellungen nichts beitragen.23 Ergänzt wurden die Akten

20 Es wurde hierfür die an der Karl-Franzens Universität zugängliche Datenbank des ORF-Archivs an der Media- thek der Universität eingesehen. 21 Vgl. ORF, Multimediales Archiv, Keinen Kaddisch wird man sagen. Porträt des Grazer Juden Helmut Bader. 09.11.1997. – ORF, Multimediales Archiv, Die Synagoge war mir Heimstätte. Eine Zeitreise. 14.11.2000. – ORF, Multimediales Archiv, Im Versteck überlebt – Walter Goldberger. Heimat, Fremde Heimat. Folge 834. Beitrag 02. 6.11.2005. – ORF, Multimediales Archiv, A letter to the stars. Thema. 23.04.2007. – ORF, Multimediales Archiv, „Austrian Heritage Archive“. Daheim in Österreich Beitrag 03. 09.11.2017. – ORF, Multimediales Archiv, „Dein Graz“. Das jüdische Graz. Steiermark Heute, Beitrag 6. 15.10.2020. 22 StLA, LReg.-206-Pa-015-1936. – StLA, LReg-206-Ju-031-1936. – StLA, LReg-206-Le-172-1935. – StLA, LReg-206-Mi-012-1932. – StLA, LSchRalt-11H-4-1934. K. 1378. – StLA, LSchRalt-2H-55-1927. K. 1259. – StLA, LSchRalt-2Hn-9-1936. K. 1395. – StLA, LSchRalt-C40a6-1387/1921. K. 1200. – StLA, LschRalt-C-44- 2105-1922. 23 Leo Baeck Institute, Bernard Lichtenstein Collection; AR 10416; https://archives.cjh.org/repositories/5/resources/8672 [Abruf: 02.03.2021]. – Leo Baeck Institute, Henry Heinz 7

schließlich noch durch die Durchsicht von Zeitungen wie dem „Grazer Israelitischen Gemein- deboten“, erschienen von 1908 bis 1914, sowie den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusge- meinde Graz“, erschienen von 1929 bis 1938, die als Mikrofilme in der Mediathek der Karl- Franzens Universität eingesehen werden können. Die vorliegende Masterarbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Auf die Einleitung folgen Aus- führungen zur komplexen Thematik des Erinnerns sowie zur Frage von Selbstzeugnissen als Quelle. Dieses Kapitel widmet sich der Erklärung, wie Erinnerungen funktionieren und wel- chen Veränderungen sie im Lauf der Jahre unterzogen werden. Zudem werden verschiedene Formen von Selbstzeugnissen mit ihren Besonderheiten sowie Vor- und Nachteilen besprochen. Kapitel 3 beschäftigt sich mit jüdischem Leben in Graz. Dabei wird die Geschichte der Grazer Jüdinnen und Juden vom Mittelalter bis zur Vertreibung durch die NationalsozialistInnen kurz nachgezeichnet. Kapitel 4 beschreibt den Quellenkorpus näher, der für die Auswertung und Interpretation in Kapitel 5 herangezogen wird. Dieses fünfte Kapitel gliedert sich in drei Teile, anhand derer das Leben der jüdischen Kinder und Jugendlichen in Graz während der Zwischen- kriegszeit herausgearbeitet werden soll. Ein zentrales Element bildet hierbei die Bildung und Erziehung, die allen Kindern in irgendeiner Form zuteil wurde. Ein weiterer Aspekt, der näher beleuchtet werden soll, sind die Lebenswelten der ZeitzeugInnen, die in einem Spannungsfeld von Tradition und Assimilation aufwuchsen und immer wieder Antisemitismus ausgesetzt wa- ren. Der dritte Schwerpunkt dieses Kapitels ist den Erinnerungen der ZeitzeugInnen an die Zeit von dem „Anschluss“ bis zur Flucht gewidmet. In der Conclusio werden die wichtigsten Er- kenntnisse zusammengefasst, sowie Ausblicke gegeben.

Brecher Collection. AR 11701; https://archives.cjh.org/repositories/5/resources/12750 [Abruf: 02.03.2021]. – Leo Baeck Institute, Welisch Family Collection; AR 11717; https://archives.cjh.org/repositories/5/resources/19396 [Abruf: 02.03.2021]. 8

2. SICH ERINNERN Sowohl den autobiographischen Texten als auch den im Rahmen der Oral History durchgeführ- ten Interviews, die in dieser Arbeit Verwendung finden sollen, liegt der Prozess des sich Erin- nerns zugrunde. Dabei handelt es sich um einen komplexen Vorgang, dem in der Forschung bereits viel Raum zugestanden wurde. Die Erkenntnisse der letzten Jahre lassen daraus schlie- ßen, dass es sich beim Erinnern (und Vergessen) um komplizierte Prozesse handelt, die nach wie vor nicht bis ins Detail erklärt werden können. Nichtsdestotrotz wurde die Annahme, es handle sich beim Gedächtnis um eine Art Aktenorder, in dem alle Erinnerungen abgespeichert werden und auf den man dann später uneingeschränkt zugreifen kann, widerlegt. Viel mehr wird nun angenommen, dass es sich beim Gedächtnis um einen ständigen Konstruktionsprozess handelt, der durch diverse Faktoren beeinflusst wird.24 Neurowissenschaftlichen Ergebnissen zufolge nimmt der Mensch seine Umgebung ho- listisch wahr. Gerüche und Geräusche werden ebenso aufgenommen wie Bilder und taktile Er- fahrungen. Aus diesem Grund ist die Übertragung solcher ganzheitlicher Erfahrungen in Worte, die bei der Erzählung von Erinnerungen stattfinden muss, für die Erzählenden oftmals sehr schwierig, denn nicht alle Eindrücke lassen sich mühelos in Worte fassen und ausdrücken. So- mit handelt es sich bei Erinnerungen meist um oberflächliche Erzählungen, bei denen ein Groß- teil ausgespart bleiben muss. Erschwerend kommt hinzu, dass der Mensch eine selektive Auf- merksamkeit besitzt. Dies bedeutet, dass man sich auf einzelne Bereiche fokussiert und seine Umgebung nie als Ganzes wahrnehmen kann. Erinnerungen sind somit stets einzelne Aus- schnitte erlebter Situationen.25 Zudem wurde festgestellt, dass Erinnerungen sich stetig verändern. Ereignisse, die er- lebt und abgespeichert wurden, finden sich einer ständigen Transformation ausgesetzt. Das Ge- dächtnis muss eben als Konstruktionsprozess verstanden werden. Ältere Erinnerungen werden von neueren überlagert oder verändert, während andere gar nicht erst abgespeichert, sondern sofort vergessen werden. Dies bedeutet, dass neue Erinnerungen stets durch bereits bestehende Erfahrungen im Gedächtnis beeinflusst werden. Dieser Prozess ist jedoch wiederum auch von der anderen Seite her wirksam und so werden auch ältere Erinnerungen durch neuere beein- flusst. Ziel dieser Konstruktion von Erinnerungen ist das „Sinnmachen“, die gespeicherten Er- fahrungen als großes Ganzes und somit zusammenhängend darzustellen, sodass die

24 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 24. – JUREIT Ulrike, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg 1999, p. 43. 25 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 24. 9

Lebensentscheidungen im Rückblick sinnvoll und notwendig erscheinen.26 Gedächtnis und Er- innerung nehmen aus diesem Grund eine zentrale Rolle in der Identitätskonstruktion ein. Nicht eine starre Identität steht im Vordergrund, sondern das Werden, die Entwicklung der Person, die man bis zur Gegenwart geworden ist. Dennoch finden sich in der Vergangenheit oftmals Elemente, die eine solche kontinuierliche Entwicklung nicht unterstützen. Veränderte Stand- punkte, die mit den früheren Auffassungen nicht übereinstimmen, stehen einer kontinuierlichen Identitätsentwicklung gegenüber und werden deshalb oft abgeändert, um die Entwicklung als sinnvoll darzustellen. Bettina Dausien sieht den Grund für den Versuch die Identitätskonstruk- tion als kontinuierlichen Prozess darzustellen darin, dass auch über Krisen hinweg ein Gefühl bestehen bleiben soll, noch immer der- oder dieselbe zu sein.27 Michaela Raggam-Blesch geht sogar so weit zu behaupten, dass „Identitätskonstruktion […] die allgemeinste Aufgabe der Er- innerung [ist], indem durch die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart die Kontinuität des Ich für das Individuum erst ersichtlich wird“.28 Diese angestrebte Wahrnehmung einer kon- tinuierlichen Identitätsentwicklung trägt jedoch auch dazu bei, dass Erinnerungen nicht nur da- ran angepasst werden, sondern sogar fehlende Teile ergänzt werden. Dies geht wiederum mit dem bereits genannten Element des „Sinnmachens“ einher.29 Dass Erinnerungen einen wesentlichen Teil in der Identitätskonstruktion einnehmen, zeigt sich auch daran, dass meist aus der Zeit, in der die Identität ausgebildet wird, sehr viele Erinnerungen erhalten bleiben. Dieses Phänomen namens „reminiscene bump“ besagt, dass Er- innerungen, die im Alter von 15 bis 25 Jahren gespeichert werden, besonders gut behalten wer- den. Es wird angenommen, dass der Grund für die Verdichtung der Erinnerungen in diesem Zeitabschnitt der Identitätskonstruktion geschuldet ist. Die neuen Erlebnisse, die in der Jugend- zeit gemacht werden, bieten viele Anknüpfungspunkte für die Zukunft und finden deshalb oft Platz im Langzeitgedächtnis.30 Kindheitserinnerungen, andererseits, sind meist nicht so präsent. Dies ist u. a. durch die sogenannte „kindliche Amnesie“ erklärbar. Dieses Phänomen beschreibt

26 HEINZE Carsten, Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung. Über autobiographisches Schreiben und Erinnerung in sozialkommunikativen Kontexten. In: Geschichte und Gesellschaft 36. Jg. (2010) H 1, p. 125–126. – HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 27. 27 DAUSIEN Bettina, Repräsentation und Konstruktion. Lebensgeschichte und Biographie in der empirischen Geschlechterforschung. In: Sabine BROMBACH / Bettina WAHRIG (Hgg.), LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies. Bielefeld 2006, p. 196. 28 RAGGAM-BLESCH Michaela, „Being different in a world where being different was definitely not good“. Jüdisch weibliche Identitätskonstruktionen in autobiographischen Texten. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008, p. 15. 29 LIEURY Alain, Gedächtnis. In: Alain LIEURY (Hg.), Die Geheimnisse unseres Gehirns. Berlin-Heidelberg 2013, p. 89. 30 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 28. – MAERCKER Andreas / HORN Andrea B., Sicherinnern und Lebensrückblick. Psychologische Grundlagen. In: Andreas MAERCKER / Simon FORSTMEIER (Hgg.), Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung. Berlin-Heidelberg 2013, p. 12. 10

den Einsatz von Kindheitserinnerungen bei Erwachsenen ab dem vierten Lebensjahr. Aus den ersten drei Jahren sind somit meist keine Erinnerungen erhalten.31 Das bereits erwähnte „Sinnmachen“ der Vergangenheit und die damit zusammenhän- gende Veränderung beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Abänderung persönlicher Erinne- rungen. Vielmehr kann in diesem Zusammenhang auch das Phänomen der „Quellenamnesie“ genannt werden. Dabei handelt es sich um den Vorgang, Informationen von äußeren Quellen, wie beispielsweise von Medien oder Erzählungen anderer Personen, in das eigene autobiogra- phische Gedächtnis zu integrieren. Erfahrungen und Erzählungen anderer Personen werden da- bei schließlich als subjektiv wahr erinnert und als eigene Erinnerungen angesehen.32 Eine Er- klärung, warum es zu einer solchen Quellenamnesie kommen kann, ist der Selbstschutz. Oft- mals sind eigene Erfahrungen zu schmerzhaft, als dass man sich daran erinnern könnte, ohne daran zu zerbrechen. Die Übernahme, Abänderung sowie Verdrängung von Erinnerungen ist somit oftmals ein wichtiger Faktor für die psychische Gesundheit der Erinnernden und als Schutzmechanismus zu verstehen.33 In diesem Zusammenhang soll auch noch ein potentiell negativer Aspekt des sich Erinnerns genannt werden. Durch die Auseinandersetzung mit ver- gangenen Ereignissen und Erlebnissen werden erinnernde Personen stark mit ihrer Vergangen- heit konfrontiert. Neben schönen Erlebnissen können dabei auch Erinnerungen an schwierige Situationen oder tragische Ereignisse wachgerufen werden, welche die Erinnernden in ihrer Gegenwart negativ beeinflussen können. Die Veränderung der Erinnerung lässt sich deshalb mit dem Unvermögen erklären, mit der traumatischen Erinnerung zu leben.34 Hinsichtlich der Themen, die erinnert werden, ist festzuhalten, dass Erinnerungen an alltägliche Erlebnisse meist sehr verlässlich sind, da sie nur wenigen Veränderungen ausgesetzt waren. Dadurch, dass diese Erinnerungen in der Regel nur sehr selten von nachfolgenden Er- eignissen überlagert wurden, kann meist recht klar über Wohnungseinrichtung, Kinderspiele, Schule und dergleichen berichtet werden. Solche persönlichen Erfahrungen sind privat geblie- ben und waren deshalb auch späteren öffentlichen Diskussionen und Interpretationen nur wenig bis gar nicht ausgesetzt, weshalb die Erinnerungen relativ unverändert blieben.35 Doch auch

31 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 28. 32 ECKER Maria, „Ich habe erst viel später erfahren, dass das Mengele war…“. Falsche Erinnerungen in mündlichen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008, p. 42. – HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 30. 33 ROSEMAN Mark, Erinnern und Überleben. Wahrheit und Widerspruch im Zeugnis einer Holocaust- Überlebenden. In: BIOS 11. Jg. (1998) H 2, p. 273. – BROWNING Christopher R., Remembering Survival. Inside a Nazi Slave-Labour Camp. In: Robert PERKS / Alistair THOMSON (Hgg.), The Oral History Reader. London- New York 2016, p. 316. 34 ROSEMAN, Erinnern und Überleben, 1998, p. 274. 35 BRÜGGEMEIER Franz-Josef, Aneignung vergangener Wirklichkeit. Der Beitrag der Oral History. In: Wolfgang VOGES (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung. Leverkusen 1987, p. 148–149. – 11

wenn es sich bei alltäglichen Erinnerungen meist um unveränderte handelt, so sind solche Er- innerungen dennoch recht selten, da sie im Regelfall nicht als erinnerungswürdig erscheinen und deshalb nicht als wichtige Erlebnisse abgespeichert werden. Außerordentlich gut werden hingegen besondere Ereignisse erinnert, die von einem hohen Emotionsgehalt begleitet sind. An das spezielle Erlebnis kann man sich aus diesem Grund meist besser erinnern als an wie- derholte alltägliche Vorgänge.36 Um Erinnerungen als Quellen geschichtswissenschaftlicher Forschung verwenden zu können, ist in diesem Sinne wichtig, erinnern nicht „als faktische Wahrheit über die Vergan- genheit“ anzusehen, sondern es „in seiner Widersprüchlichkeit, dem Prozesshaften, sich Ver- änderbaren, Angereicherten und Fehlerhaften zu verstehen“.37 Es handelt sich hierbei um Quel- len mit einer anderen Art von Glaubwürdigkeit als jener von Akten, weshalb sie auch anders behandelt und interpretiert werden müssen.38

2.1. Selbstzeugnisse Folgt man Droysens Einteilung der Quellen in Überreste und Traditionen, so lassen sich Selbst- zeugnisse nicht klar einem Typus zuordnen. Während autobiographische Texte meist bewusst für die Nachwelt entstanden sind, und somit als Traditionsquellen angesehen werden können, lassen sich jene Briefe oder Tagebücher, die nicht dazu intendiert waren, später als Zeugnisse für die Vergangenheit genutzt zu werden, den Überresten zuschreiben.39 Diese Überlegung re- flektiert die Vielseitigkeit von Selbstzeugnissen und zeigt die Spannbreite auf, welche die Quel- lengattung mit sich bringt. Je nach Quellentyp sind schließlich auch verschiedene Aspekte bei der Auswertung der Medien zu beachten. Aus diesem Grund sollen die in der Arbeit verwen- deten Quellentypen, Oral History Interviews sowie autobiographische Texte, in ihren Beson- derheiten näher beleuchtet werden. Zu Beginn ist allgemein anzumerken, dass sowohl die dieser Arbeit zugrundeliegenden ZeitzeugInneninterviews wie auch die autobiographischen Texte mit Hinblick auf ihre Rezep- tion in der Zukunft entstanden, und somit willkürliche Überlieferungen von Geschichte, sind. Dieser Umstand hat eindeutig Einfluss auf die Art und Weise der Lebenserzählung.

KRÜGER Heinz-Hermann, Methoden und Ergebnisse der historischen Kindheits- und Jugendforschung. In: Heinz-Hermann KRÜGER / Cathleen GRUNERT (Hgg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden 2002, p. 296. 36 LIEURY, Gedächtnis, 2013, p. 85–86. – HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 37. 37 LAPPIN Eleonore / LICHTBLAU Albert, Einleitung. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008, p. 10. 38 PORTELLI Alessandro, What makes oral history different. In: Robert PERKS / Alistair THOMSON (Hgg.), The Oral History Reader. London-New York 2016, p. 53. 39 HENNING Eckart, Selbstzeugnisse. In: Friedrich BECK / Eckart HENNING (Hgg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Köln-Weimar-Wien 2004, p. 119. 12

Untersuchungen zur Erzählweise von Lebensgeschichten haben ergeben, dass Personen einer sogenannten „Leitlinie lebensgeschichtlichen Erzählens“ folgen, die sich wie ein roter Faden durch die Erzählung zieht.40 Sie bedienen sich dabei kollektiv bekannter narrativer Muster und Modelle, und orientieren sich so an Erzähltraditionen und Deutungsmustern.41 Weitere Ergeb- nisse zeigen, dass Menschen in ihren Erzählungen dem bereits erwähnten Prinzip des „Sinnma- chens“ folgen. Die Erzählungen werden dementsprechend in einer Weise an das Publikum an- gepasst, dass sie ein großes Ganzes ergeben.42 Laut Pierre Bourdieu handelt es sich bei dieser Darstellung der Lebensgeschichte als kontinuierliche Identitätsentwicklung um die „biographi- sche Illusion“, deren Ziel es (auch unbewusst) ist, eine nicht vorhandene Kohärenz in Form von Ursache und Wirkung von einzelnen Ereignissen und Erlebnissen herzustellen.43 Es handelt sich demnach bei Selbstzeugnissen keinesfalls um „Augenzeugenberichte“, die objektiv über Ereignisse berichten. Vielmehr enthalten Lebenserzählungen eine persönliche Auswahl von Er- innerungen, die von den Erzählenden mit einem bestimmten Wertgehalt versehen werden und an ein bestimmtes Publikum adressiert sind.44 Auch Edith Hessenberger gibt zu bedenken, dass es sich bei den Erzählungen um Rekonstruktionen von Sachverhalten handelt, die keine histo- rische Realität wiedergeben. Weiters unterliegt die Rekonstruktion „selektiven, situativen, fiktiven und interpretierenden Einwirkungen, diese lassen sich mit der wichtigsten Funktion des Erzählens für die erzählende Person erklären: Erzählen be- wirkt Sinnbildung.“45

Die Sinnbildung kann somit als zentrales Element in lebensgeschichtlichen Erzählungen ange- sehen werden. Hinzu kommt, dass die Erzählungen meist erst geraume Zeit später aufgezeichnet wer- den und die dargestellten Ereignisse dadurch immer durch einen Filter dessen erzählt werden, was zwischen dem Ereignis und der Erzählsituation stattgefunden hat. Die Rekonstruktionen der Vergangenheit finden stets in der Gegenwart statt, weshalb von einem nicht unbeachtlichen Einfluss sämtlicher Lebenserfahrungen, die zwischen dem Ereignis und der Erzählsituation stattgefunden haben, ausgegangen werden kann.46 Die Erzählenden bedienen sich demnach

40 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 40. 41 Ebda., p. 40. – DAUSIEN, Repräsentation und Konstruktion, 2006, p. 203. 42 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 23. 43 BOURDIEU Pierre, Die biographische Illusion. In: BIOS 3. Jg. (1990) H 1, p. 76. 44 MÜLLER, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“, 2006, p. 86–87. 45 HESSENBERGER, Erzählen vom Leben, 2013, p. 33. 46 JOST Gerhard, Jüdische Lebensgeschichten und narrationsanalytische Forschungsmethoden. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck- Wien-Bozen 2008, p. 230. – STÖGNER Karin, Lebensgeschichtliche Interviews und die „Wahrheit der Erinnerung“. Einige Überlegungen zum Mauthausen Survivors Documentation Project (MSDP). In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck- Wien-Bozen 2008, p. 171. 13

nicht nur der Erinnerungsebene, sondern gleichzeitig auch der Reflexionsebene und kommen dadurch zu weitreichenderen Einsichten und Erklärungen der erzählten Ereignisse.47 Trotz der kritischen Anmerkung, dass es sich bei den Erzählungen jedenfalls um keine objektiven Berichterstattungen über die Vergangenheit handelt, bergen Selbstzeugnisse jedoch auch großes Potential für die Geschichtsschreibung. Sie bieten diverse Erkenntnismöglichkei- ten, die durch keine andere Quellengattung zugänglich gemacht werden könnten. Subjektive Zugänge, Norm- und Moralvorstellungen sowie Motivationen und Selbstreflexionen stellen nur eine Auswahl des Erkenntnispotentials dar. Themen, zu denen nur wenig Aktenmaterial vor- handen ist, können mithilfe solcher Quellen weiter behandelt werden, was zu tieferen Erkennt- nissen führen kann.48 Dennoch erfährt sowohl die Verwendung von durch Oral History erzeugten Interviews als auch von anderen autobiographischen Quellen immer noch Kritik. Einige HistorikerInnen sehen in der Nutzung dieser Quellen nach wie vor die Problematik, dass die Wissenschaftlich- keit bei der Verwendung derselben nicht gegeben ist. Es wird hervorgehoben, dass die Quellen nur subjektive Einsichten bieten und deshalb zu keinen objektiven Schlussfolgerungen führen können. Dieser Kritikpunkt deckt sich jedoch mit einer Stärke von Selbstzeugnissen: Im Ge- gensatz zu Akten geben sie persönliche Einblicke in das Leben der Befragten. Sie liefern Aus- sagen zu Werten, Einstellungen und persönlichen Sichtweisen auf Ereignisse und bieten somit einen Weg die Wirklichkeitserfahrung von ZeitzeugInnen ein wenig mehr nachvollziehen zu können, was die reine Aktenkunde nicht ermöglichen kann.49 Hierzu ist jedoch anzumerken, dass auch Akten keinesfalls als „objektive“ Quellen anzusehen sind, da sie auch stets von Men- schen mit Intentionen gefertigt wurden und somit auch „subjektive“ Einblicke vermitteln. Be- sonders der Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften weg von der politischen hin zur Sozialgeschichte hat auch die Nutzung von anderen Quellentypen mit sich gebracht. Auto- biographische Zeugnisse bilden deshalb besonders bei Fragestellungen, die sich mit der Verar- beitung von Geschichte sowie mit dem individuellen als auch kollektiven Gedächtnis befassen, eine wichtige Grundlage. Während sich diese Quellen in solchen Bereichen als sehr hilfreich erwiesen haben, sind sie bei der Erforschung von Realitätsgeschichte, von Ereignissen und Ab- läufen, aufgrund der persönlichen Sichtweise nur bedingt hilfreich. Dennoch ist es durch die Einordnung einzelner Erinnerungen in größere Kontexte möglich neue Erkenntnisse und

47 NIETHAMMER Lutz / SETTELE Veronika / NOLTE Paul, Oral History in der deutschen Zeitgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 43. Jg. (2017) H 1, p. 120. 48 MÜLLER, „Vielleicht hat es einen Sinn…“, 1997, p. 309. – HENNING, Selbstzeugnisse, 2004, p. 125. 49 NIETHAMMER / SETTELE / NOLTE, Oral History in der deutschen Zeitgeschichte, 2017, p. 145. 14

Perspektiven zu gewinnen.50 In Kombination mit weiteren aussagekräftigen Materialien und einer sorgfältigen Quellenkritik wird die Wissenschaftlichkeit der Verwendung von Selbstzeug- nissen in der historischen Forschung mittlerweile nur mehr selten in Frage gestellt.51 Eine solche sorgfältige Quellenkritik umfasst zumindest die Frage nach dem Entste- hungszeitraum der Quelle, die Erhebung des zeitlichen Abstands der Erlebnisse zum Erzähl- zeitpunkt, sowie die persönlichen Motive als auch die persönliche Lebenssituation der Erzäh- lenden.52 Bei Überlebenden der Shoah wird die „Erinnerungspflicht“ oft als primäre Motivation angesehen, über die eigene Vergangenheit zu berichten. Viele Familienmitglieder und Freun- dInnen, die der Shoah zum Opfer gefallen sind, sollen damit in Erinnerung behalten, und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, nicht vergessen werden. Dabei verleihen die ZeitzeugInnen ihrem eigenen Überleben oftmals nachträglich einen Sinn, der im Gegensatz zu den Schuldge- fühlen steht, dass man selbst am Leben ist, während so viele andere Menschen ermordet wur- den.53 Ergänzend zum Entstehungskontext kommt auch noch die Frage nach dem Kontext, in dem die Erzählenden gelebt haben, hinzu. Je nach Situiertheit, Familiengeschichte, Zugehörig- keit zu verschiedenen Gruppen oder Vereinen ist nämlich davon auszugehen, dass die Inter- viewten aus verschiedenen Perspektiven erzählen, was beim Vergleich der Zeugnisse bedacht werden muss. Erst wenn die Kontextbedingungen bekannt sind, können einzelne Berichte im größeren Ganzen eingeordnet werden.54

2.1.1. Autobiographisches Schreiben Obwohl autobiographische Schriften stets wichtige Quellen der historischen Forschung waren, wurden sie in den letzten Jahren immer skeptischer betrachtet und ihre Objektivität, und somit die Wissenschaftlichkeit als Quellentyp, angezweifelt. Anstatt derartige Selbstzeugnisse als Quellen über politische Geschichte zu verwenden, finden Autobiographien in der neueren ge- schichtswissenschaftlichen Forschung Verwendung bei Fragestellungen, die persönliche Ein- stellungen und Sichtweisen fokussieren und so sozialgeschichtliche Aspekte näher

50 PLATO Alexander von, Nicht dasselbe. Oral History im Unterricht und in der Wissenschaft. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck- Wien-Bozen 2008, p. 199. 51 MÜLLER, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“, 2006, p. 84. 52 HENNING, Selbstzeugnisse, 2004, p. 119–125. 53 LAPPIN / LICHTBLAU, Einleitung, 2008, p. 9. – MEISSNER Renate S., ÜBER LEBEN [sic]. Erinnern im Kontext des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien- Bozen 2008, p. 207. 54 DEPKAT Volker, Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS 23. Jg. (2010) H 2, p. 178–179. – DAUSIEN, Repräsentation und Konstruktion, 2006, p. 199. 15

beleuchten.55 Volker Depkat gibt dabei zu bedenken, dass Autobiographien „soziale Selbstbe- schreibungen und als solche selbst historische Fakten [sind], die Bestandteil der Zeit sind, in der sie entstehen“.56 Neben der Darstellung von historischen Ereignissen sagen solch schriftli- che Selbstzeugnisse somit hauptsächlich viel über die AutorInnen selbst aus, ihre Werte, Ein- stellungen und wie sie sich selbst in ihrer Umwelt positionieren.57 Bei der Arbeit mit autobiographischen Schriften sind aus diesen und weiteren Gründen wiederum eigene Aspekte zu beachten. Auch wenn die vorliegenden Texte auf den ersten Blick scheinbar oftmals eine klare Botschaft oder Beschreibung eines Ereignisses darzulegen schei- nen, die nur auf eine Weise rezipiert werden kann, so gibt Carsten Heinze dennoch zu bedenken, dass es sich bei „(autobiographischen) Texten um deutungsoffene Sinnkonstruktionen handelt, die je nach Sicht des Lesers und seiner Lesebiographie sowie dem Zeitpunkt der Rezeption un- terschiedlich aufgefasst und verstanden werden“.58

Weiters handelt es sich auch bei Autobiographien keineswegs um objektive Berichterstattun- gen. Michaela Raggam-Blesch erklärt, dass autobiographische Texte „vielmehr eine Konstruk- tion der Vergangenheit aus dem Blickwinkel des aktuellen Lebenszusammenhangs dar[stel- len]“.59 Meist liegt ihnen ein Thema zugrunde, um das die Erzählung strukturiert ist und dem- nach die passenden Erinnerungen und deren Präsentation ausgewählt werden.60 Auch die fiktive Leserschaft beeinflusst die Auswahl und den Stil des Geschriebenen. Je nachdem, ob für die eigene Familie, Kinder und Enkelkinder, oder für die breite Öffentlichkeit geschrieben wird, werden die autobiographische Schriften andere Formen annehmen.61 Außerdem können in den Texten oftmals ganz stark die Einstellungen der AutorInnen herausgelesen werden. Direkte oder indirekte Standpunkte zu gewissen Ereignissen können dabei erschlossen werden.62 Es ist offensichtlich, dass es sich bei Autobiographien um eine Form der „subjektiven Geschichts- schreibung“ handelt. Mit dieser Erkenntnis ist es jedoch keinesfalls abgetan. Vielmehr muss mitbedacht werden, dass die Autobiographie als Literaturtyp gewissen kulturellen Konventio- nen unterworfen ist. Dies kann beispielsweise eine Ästhetisierung oder anderweitige

55 MALO Markus, Deutsch-jüdische Autobiographie. In: Hans Otto HORCH (Hg.), Handbuch der deutsch- jüdischen Literatur. Berlin-Boston 2016, p. 422–423. – DAUSIEN, Repräsentation und Konstruktion, 2006, p. 183. 56 DEPKAT Volker, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29. Jg. (2003) H 3, p. 445. 57 BOURDIEU, Die biographische Illusion, 1990, p. 80–81. 58 HEINZE, Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung, 2010, p. 103. 59 RAGGAM-BLESCH, „Being different“, 2008, p. 15. 60 HEINRITZ Charlotte, Schlüsselszenen in Autobiographien der 1929 bis 1940 Geborenen. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.), Jugendliche + Erwachsene ’85. Generationen im Vergleich. Jugend der Fünfziger Jahre – Heute 3. Wiesbaden 1985, p. 13. 61 MÜLLER, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“, 2006, p. 81. 62 RAGGAM-BLESCH, „Being different“, 2008, p. 15. 16

Veränderungen der Aussagen bedeuten.63 Aus diesen Gründen plädiert Volker Depkat dafür, Autobiographien in der Textualität der Texte und in ihren narrativen Strukturen zu lesen.64

2.1.2. Oral History Interviews ZeitzeugInneninterviews werden erst seit relativ kurzer Zeit als Primärquellen in der ge- schichtswissenschaftlichen Forschung eingesetzt. Dies scheint verwunderlich, da mündliche Zeugnisse wohl eine der ältesten Formen historischer Überlieferungen sind. Mythen, Legenden und Volkslieder zählten seit der Antike zu den wichtigsten Überlieferungsformen.65 Dennoch machte man sich ZeitzeugInnenerzählungen erst wieder ab der Mitte des letzten Jahrhunderts vermehrt als Quelle geschichtswissenschaftlicher Forschung zunutze. In den USA gründete Professor Allan Nevins 1948 das erste Oral History Archiv, in das er Aufzeichnungen mit eli- tären Personen, wie Politikern, Juristen oder Offizieren des Militärs, aufnahm. In den 1960er Jahren wurde die Methode schließlich auch in Europa, genauer gesagt in Großbritannien, stär- ker genutzt. Der entscheidende Unterschied zwischen den amerikanischen und britischen Auf- zeichnungen lag darin, dass die europäischen Aufzeichnungen sich in erster Linie nicht mit „wichtigen“ Personen, sondern vor allem mit der Arbeiterschaft beschäftigten.66 Mit Hilfe die- ser Methode wurde es möglich, neue und bis dahin unbekannte Themengebiete zu erforschen. Personen, denen zuvor aufgrund ihres sozialen Status oder aus anderen Gründen keine Mitspra- che eingeräumt worden war, wurden nun zu wichtigen AkteurInnen in der Erforschung der Alltagsgeschichte. In den 1970er Jahren machte sich schließlich die historische Frauenfor- schung die mündliche Erzählform als wichtigen Quellentyp zunutze. In den 1980er und 1990er Jahren konnte sich die Methode der Oral History schließlich immer weiter als wissenschaftliche Methode etablieren und wurde in vielen Feldern der Geschichtswissenschaften verwendet.67 Die Bezeichnung Oral History stammt aus dem amerikanischen Raum, wo sich die Praxis der ZeitzeugInnenbefragung erstmals etabliert hatte. Meist findet die englische Bezeichnung auch

63 Diskussion in der LV „Graduierungskolleg für Bachelor Studierende“, Lehrende: Dr. Stromberger, Universität Graz, Sommersemester 2019. 64 DEPKAT, Stand der Autobiographieforschung, 2010, p. 174–175. 65 KUHN Anette, Oral history und Erinnerungsarbeit. Zur mündlichen Geschichtsschreibung und historischen Erinnerungskultur. In: Ruth BECKER / Beate KORTENDIEK (Hgg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methode, Empirie. Wiesbaden 2008, p. 351. – BOTZ Gerhard, Neueste Geschichte zwischen Quantifizierung und „Mündlicher Geschichte“. Überlegungen zur Konstituierung einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichte von neuen Quellen und Methoden her. In: Historical Social Research 28. Jg. (2016), p. 387. 66 RITCHIE Donald A., Introduction. The Evolution of Oral History. In: Donald A. RITCHIE (Hg.), The Oxford handbook of oral history. Oxford 2011, p. 3–5. 67 KUHN, Oral history, 2008, p. 351. 17

in deutschen Kontexten Anwendung; hin und wieder findet der Begriff der „mündlichen Ge- schichte“ Verwendung.68 Kritik an Oral History gibt es nach wie vor, wenn es um die Frage der „Wahrheit der Erinnerung“ geht. Spezielle Angaben wie Namen, Orte oder genaue Daten laufen häufig Gefahr sich als falsche Angaben herauszustellen. Solche Unstimmigkeiten führen in weiterer Folge schnell dazu, den gesamten Wahrheitsgehalt der Erzählungen in Frage zu stellen. Solch falsche Angaben können natürlich auch in autobiographischen Schriften vorkommen. Der Vorteil bei den Texten liegt jedoch darin, dass Angaben während des Schreibprozesses recherchiert und auch im Nachhinein noch ausgebessert werden können. Bei den Angaben in ZeitzeugInnenin- terviews handelt es sich dagegen um spontane Aussagen, bei denen weder Recherche noch nachträgliche Ausbesserungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.69 In dieser Hinsicht stellt sich auch die Frage, wie Interviewende mit weitreichenderen Erinnerungsfehlern umgehen, wie beispielsweise mit Quellenamnesie, wenn fremde Erinnerungen als eigene ausgegeben werden. Einerseits scheint es ethisch nur schwer vertretbar zu sein, Menschen, die solch unglaubliche Erfahrungen, wie beispielsweise die Shoah, machen mussten, in ihrer Glaubhaftigkeit anzu- zweifeln.70 Andererseits steht natürlich die fachliche Korrektheit auch bei der Forschung mit Selbstzeugnissen an erster Stelle. Mark Roseman schlägt für dieses Dilemma folgende Lösung vor: „Wenn aber der Vergleich zwischen dem Selbstzeugnis, Erinnerungen anderer und schriftlichen Quellen möglich ist, dann ist es kein Zeichen von Mißachtung den Überle- benden gegenüber, diese anderen Quellen auch heranzuziehen. Es geht nicht darum, die grundsätzliche Wahrheit des Zeugnisses zu leugnen. Im Gegenteil, erst durch die Gegen- überstellung von Erinnerungen und anderen Quellen werden wir den Prozeß des Erin- nerns und Vergessens verstehen.“71

Doch nicht nur offensichtliche Erinnerungsfehler müssen mitbedacht werden. Vielmehr muss bei der Arbeit mit Oral History Quellen stets klar sein, dass die erzählten Erinnerungen einem stetigen Verformungsprozess ausgesetzt sind und dass die Aussagen im Interview vielfältigen Veränderungsfaktoren zwischen dem eigentlichen Erlebnis in der Vergangenheit und der Er- zählung darüber zum Zeitpunkt des Interviews unterliegen.72

68 BOTZ, Neueste Geschichte, 2016, p. 386. 69 Lichtblau gibt in diesem Zusammenhang als Lösungsmöglichkeit an, Interviews im Nachhinein mit einer Fehlerliste zu versehen, in der auf Irrtümer hingewiesen wird. Siehe LAPPIN / LICHTBLAU, Einleitung, 2008, p. 8. – LICHTBLAU Albert, Erinnern im Zeitalter virtueller Realität. Möglichkeiten und Perspektiven des Einsatzes von digitalisierten Video-Interviews mit Zeitzeugen am Beispiel des Survivors of the Shoah Foundation- Projektes. In: Gertraud DIENDORFER / Gerhard JAGSCHITZ / Oliver RATHKOLB (Hgg.), Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997. Innsbruck-Wien 1998, p. 546. 70 ROSEMAN, Erinnern und Überleben, 1998, p. 263. 71 Ebda., p. 278. 72 NIETHAMMER / SETTELE / NOLTE, Oral History in der deutschen Zeitgeschichte, 2017, p. 117. 18

Ebenfalls Einfluss auf das ZeitzeugInneninterview hat die Interviewsituation selbst. Ne- ben einer entsprechenden räumlichen Umgebung ist hier vor allem das Verhältnis zwischen Interviewenden und Interviewten vordergründig, die bei dem Interview eine „temporäre Erin- nerungsgemeinschaft“ eingehen.73 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Intervie- wenden mit dem Thema ausreichend vertraut sind, um den Ausführungen ihrer Gesprächspart- nerInnen folgen zu können.74 Zudem wird von den InterviewerInnen viel Fingerspitzengefühl gefordert, um die ZeitzeugInnen im Prozess des Erinnerns zu unterstützen, aber auch heikle Situationen zu erkennen und sensibel auf Erzählungen über schmerzliche Erfahrungen zu rea- gieren, sowie die Grenzen der Interviewten zu respektieren.75 Mit der Führung der Zeitzeu- gInneninterviews erstellen HistorikerInnen ihre Quellen selbst bzw. sind am Erstellen der Quel- len maßgeblich beteiligt. Dabei ist natürlich darauf zu achten, dass die Ergebnisse durch diesen Umstand nicht verfälscht werden. Die Interviewerstellung bietet aber auch viele Vorteile, wie beispielsweise, dass das Gespräch aktiv auf das jeweilige Forschungsinteresse fokussiert wer- den kann. Während die Forschenden bei anderen Quellentypen darauf angewiesen sind, ihre Fragestellung mit Hilfe von bereits existenten Quellen zu beantworten, bietet Oral History die Möglichkeit solche Quellen aktiv mitzuproduzieren. Durch gezieltes Nachfragen kann das Ge- spräch in eine bestimmte Richtung gelenkt werden und Erinnerungen, die die Erzählenden in einer anderen Situation als unwichtig empfunden und deshalb nicht darüber gesprochen hätten, könnten erzählt werden.76 Handelt es sich bei der interviewenden und der das Interview inter- pretierenden Person nicht um den- oder dieselbe, ist es wichtig, sich auch den Einfluss des Entstehungsrahmens zu vergegenwärtigen. Handelt es sich beispielsweise bei den Interviewern um österreichische StaatsbürgerInnen, so muss immer mitbedacht werden, dass Shoahüberle- bende ihnen gegenüber eventuell Misstrauen hegen, da es sich dabei doch um Mitglieder jener Gesellschaft handelt, die sie ausgeschlossen und verfolgt hat. Auch wenn diese Überlegung nicht zutrifft, so können immer noch unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen zu Miss- verständnissen führen.77 Neben diesen zu bedenkenden Aspekten bietet die Arbeit mit Oral History jedoch auch zahlreiche Chancen und Vorteile. Durch die Befragung von Menschen, die nicht dem Typ der „siegreichen“, „wichtigen“ Männer entsprechen, können neue Perspektiven sichtbar gemacht

73 WELZER Harald / MOLLER Sabine / TSCHUGGNALL Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (= Die Zeit des Nationalsozialismus). Frankfurt am Main 2002, p. 35. Zit. in: STÖGNER, Lebensgeschichtliche Interviews, 2008, p. 171. 74 Ebda., p. 173. 75 MEISSNER, ÜBER LEBEN [sic], 2008, p. 205–206. 76 PORTELLI, What makes oral history different, 2016, p. 55. – RAGGAM-BLESCH, „Being different“, 2008, p. 15. 77 JUREIT, Erinnerungsmuster, 1999, p. 31–32. 19

werden. Der Fokus auf unterprivilegierte Schichten und Randgruppen bietet Personen die Mög- lichkeit an der Geschichtsschreibung teilzunehmen, die in der Vergangenheit keinerlei Einfluss darauf hatten, was oft damit zu tun hatte, dass man keine entsprechende Quellenlage vorfinden hatte können, da solche Gruppen oft gar keine oder nur wenige schriftliche Zeugnisse hinter- lassen hatten. Dementsprechend war und ist es immer noch schwer abseits von Oral History mögliche geeignete Quellen zu finden, um etwas über solche Personengruppen herauszufin- den.78 Lutz Niethammer schreibt der Oral History aufgrund der Eigenschaft, Quellen über alle Bevölkerungsgruppen generieren zu können, die Fähigkeit der demokratischen Geschichts- schreibung zu. Dadurch, dass die Befragten aktiv an der Entstehung teilnehmen und mit den HistorikerInnen in Verbindung treten, ergibt sich eine neue Dynamik. Es wird nicht nur, wie bei anderen Quellentypen, über den Forschungsgegenstand geschrieben. Vielmehr wird er zu- erst gemeinsam erarbeitet.79 Durch die Zusammenarbeit und Möglichkeit, persönliche Erfah- rungen mündlich weiterzugeben, wird so der Radius von Personen, die an der Geschichtsschrei- bung teilnehmen können, um ein Vielfaches erweitert. Während es für einen Teil der Zeitzeu- gInnen schwer ist, die eigenen Erfahrungen niederzuschreiben, beispielsweise weil sie mit der Schriftsprache nicht oder nur wenig vertraut sind, können Erinnerungen in einem Gespräch viel leichter wiedergegeben werden.80 Weiters bieten ZeitzeugInneninterviews auch die Möglichkeit Seiten zu beleuchten, die in Aktenbestände gar aufgezeichnet wurden. Als Beispiele hierfür können alltägliche Abläufe, aber auch Einstellungen und Motivationen genannt werden. Durch die Interviewaufzeichnung mit unterschiedlichen Personen aus demselben Umfeld kommt hier noch hinzu, dass in der Auswertung auch ein Augenmerk darauf gelegt werden kann, wie die jeweilige Person be- stimmte Ereignisse wahrgenommen hat. Alessandro Portelli gibt zu bedenken, dass es bei Oral History weniger um das Ereignis selbst, als um dessen Bedeutung geht.81 Diese kann schließlich gerade im Vergleich von Interviews gut herausgearbeitet werden. Die Multiperspektivität, die diese Methode bietet, geht somit weit über die starre Perspektive von Aktenbeständen hinaus.82 Werden ZeitzeugInneninterviews schließlich gesammelt und einem breiten Personen- kreis zugänglich gemacht, ergeben sich weitere weitreichende Vorteile. Zum einen besteht für HistorikerInnen die Möglichkeit bereits aufgezeichnete Interviews zu verwenden. Dies kann

78 BOTZ, Neueste Geschichte, 2016, p. 388–389. – MÜLLER, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“, 2006, p. 80. 79 NIETHAMMER / SETTELE / NOLTE, Oral History in der deutschen Zeitgeschichte, 2017, p. 114. – BRÜGGEMEIER, Aneignung vergangener Wirklichkeit, 1987, p. 166. 80 THOMPSON Paul, The Voice of the Past. Oral History. In: Robert PERKS / Alistair THOMSON (Hgg.), The Oral History Reader. London-New York 2016, p. 39. 81 PORTELLI, What makes oral history different, 2016, p. 52. 82 THOMPSON, The Voice of the Past, 2016, p. 36. 20

von Vorteil sein, wenn die Interviewten in der Zwischenzeit bereits verstorben sind, aber auch wenn sie weit entfernt wohnen und es dadurch nicht möglich ist, sich persönlich zu treffen. Interviews bieten somit die Möglichkeit Zeugnisse unabhängig von Zeit und Raum zugänglich zu machen und dies nicht nur für den Moment, sondern auch für zukünftige Generationen. Zum anderen können durch die Verschlagwortung in Datenbanken aus einem großen Fundus von Interviews leichter jene ausgewählt werden, die für die Forschungsfrage relevant sind. Dies verbessert die Konsumierbarkeit von solchen, oft stundenlangen, Interviews deutlich.83 Beson- ders hervorgehoben soll neben diesen eher technischen Belangen aber auch noch ein persönli- cher Aspekt werden. Durch die Möglichkeit, die Stimme der Erzählenden zu hören, ihrer Into- nation und Betonung folgen zu können, ergibt sich oft ein viel besseres Verständnis als bei geschriebenen Texten. Aus diesem Grund meint Alessandro Portelli auch, dass Transkripte zwar eine hilfreiche Ergänzung sein können, die Originalaufnahme dadurch jedoch keinesfalls ersetzt werden kann.84 Bei Videoaufzeichnungen kommt hier noch hinzu, dass der Person ein Gesicht gegeben wird und die Erzählungen damit noch authentischer wirken. Zudem können durch die Mimik und Gestik viele weitere wichtige Informationen gewonnen werden. Dement- sprechend fordert Peter B. Kaufman, dass Oral History in Zukunft stets zur Video History wer- den sollte, um möglichst viele Informationen aufnehmen zu können.85

Bevor nun im Folgenden auf die Erinnerungen der jüdischen Kinder und Jugendlichen, die während der Zwischenkriegszeit in Graz lebten, eingegangen wird, soll ein kurzer Überblick über das jüdische Leben in Graz von seinem Beginn an gegeben werden. Durch die Ausführun- gen soll es möglich werden, die Berichte der ZeitzeugInnen in Kontext mit den damaligen Le- benswelten zu setzen. Dadurch können einzelne Aussagen besser nachvollzogen und im jewei- ligen Zusammenhang verstanden werden.

83 LICHTBLAU, Erinnern im Zeitalter virtueller Realität, 1998, p. 545–548. – HECHT Dieter J., „Mutterland – Vatersprache“. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck-Wien-Bozen 2008, p. 181. 84 PORTELLI, What makes oral history different, 2016, p. 50. 85 KAUFMAN Peter B., Oral History in the Video Age. In: The Oral History Review 40. Jg. (2013) H 1, p. 2. – Mimik und Gestik müssen jedoch nicht unbedingt natürlich sein. Die ungewöhnliche Situation, beim Erzählen gefilmt zu werden kann druchaus dazu führen, dass sich die Interviewten anders verhalten: Diskussion in der LV „Graduierungskolleg für Bachelor Studierende“, Lehrende: Dr. Stromberger, Universität Graz, Sommersemester 2019. 21

3. JÜDISCHES LEBEN IN GRAZ – VON DEN ANFÄNGEN BIS 1938 Die Geschichte der Grazer Jüdinnen und Juden beginnt bereits mit der ersten Siedlung im Mit- telalter. Von Anfang an war die Beziehung zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevöl- kerung angespannt und so kam es bereits vom Mittelalter bis zum „Anschluss“ im Jahr 1938 immer wieder zu antijüdischen bzw. antisemitischen Überfällen auf die jüdische Bevölkerung. Nichtsdestotrotz etablierte sich über die Jahre hinweg immer wieder eine starke jüdische Ge- meinschaft in Graz.

3.1. Erstes jüdisches Viertel im Mittelalter Die Geschichte der Juden und Jüdinnen in der Steiermark geht zurück bis ins zwölfte Jahrhun- dert. Urkundlich erwähnt werden zuerst hauptsächlich Ansiedelungen an den alten Römerstra- ßen, die häufig unter der Bezeichnung „villa ad judeos“ eingetragen wurden.86 Doch auch in Graz gab es zu dieser Zeit bereits jüdische BewohnerInnen. Salzer-Eibenstein gibt an, dass schon um das Jahr 1160 erste Jüdinnen und Juden in Graz wohnten.87 Südlich des heutigen Hauptplatzes, der im zwölften Jahrhundert noch doppelt so groß war, wie er heute ist, ging die jüdische Bevölkerung vorwiegend Bankgeschäften nach, die ChristInnen aufgrund eines Zins- nahmeverbotes gegenüber Glaubensgenossen verwehrt waren. Die Häuser in diesem „Juden- viertel“ bildeten eine abgeschlossene Form, in der die etwa 150 Jüdinnen und Juden im zwölften Jahrhundert lebten. Bis zum 15. Jahrhundert stieg die Anzahl der jüdischen Bevölkerung in Graz auf etwa 200 an. Die Stadt hatte im zwölften Jahrhundert ungefähr 2.000 und im 15. Jahr- hundert bereits 5.000 EinwohnerInnen.88 Der Umgang mit den übrigen StadtbewohnerInnen dürfte sich auf Geschäftsbeziehungen beschränkt haben. Das jüdische Leben fand innerhalb des Viertels statt, dessen Zentrum eine Synagoge bildete. Neben dem Geschäftsleben widmete sich die Gemeinde auch der religiösen Bildung, die im Judentum eine wichtige Rolle spielte. Der Anteil an Schreib- und Lesekundigen war bei Jüdinnen und Juden viel höher als bei christlichen ZeitgenossInnen. Ein wichtiges Bildungsangebot offerierte die Grazer Talmudschule, die für weite Teile Mittel- und Südeuropas Lehrer sowie Rabbiner ausbildete.89 Wie in vielen Gegenden verschlechterte sich auch in Graz während des Mittelalters die Beziehung zwischen Juden und Jüdinnen und KatholikInnen zunehmend. Als Beispiel für das Ausmaß, das diese Antipathie annahm, sei die antijüdische Organisation „Judenhauer“ genannt.

86 HAINZL Joachim, Juden in der Provinz. Die Geschichte der Juden in der Steiermark. Teil I. In: transversal 2. Jg. (2001) H 1, p. 47. 87 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 9. 88 Ebda., p. 9. 89 Ebda., p. 9. – SOTILL Wolfgang, Es gibt nur einen Gott und eine Menschheit. Graz und seine jüdischen Bürger, hg. von Kurt D. BRÜHL / Helmut STROBL. Graz-Wien-Köln 2001, p. 95–97. 22

Dabei handelte es sich um einen Zusammenschluss von steirischen und kärntnerischen Perso- nen, die es sich zur Aufgabe machten, Jüdinnen und Juden zu attackieren, um „Gottes Marter zu rächen“. Aus Angst vor diesen Überfällen flüchteten etwa 1.000 Jüdinnen und Juden gegen Ende des 14. Jahrhunderts aus der Steiermark und Kärnten.90 Die Organisation geriet jedoch bald in Vergessenheit und die geflohenen Jüdinnen und Juden kehrten in ihre Heimat zurück.91 Die Spannungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften blieben jedoch bestehen und nahmen in den folgenden Jahrzehnten weiter zu. Aufgrund von Neid und Missgunst versuchte die judenfeindlich gesinnte Grazer Bevöl- kerung seitens des landesfürstlichen Regenten Herzog Friedrich von Tirol (1382–1439) eine Ausweisung der Jüdinnen und Juden in Graz zu erreichen. Dies geschah schließlich auch wirk- lich im Jahr 1438. Hierzu muss angemerkt werden, dass solche Ausweisungen zu diesem Zeit- punkt keine Seltenheit waren, mussten doch beispielsweise auch die Jüdinnen und Juden in Straßburg und Mainz im selben Jahr ihre Häuser aufgeben und sich eine neue Heimat suchen. Erst neun Jahre später nahm Kaiser Friedrich III. (1415–1493) die Ausweisung der Grazer Jü- dinnen und Juden wieder zurück, da er durch den Verzug der jüdischen BewohnerInnen erheb- liche Steuereinbußen erlitten hatte, die er nicht länger hinnehmen wollte. Die Steuerleistung von ein paar hundert Juden überstieg die Gesamtsteuerleistung der übrigen steirischen Bevöl- kerung oftmals weit, sodass der Kaiser sich lieber „Judenkönig“ schimpfen ließ, als auf die Einnahmen zu verzichten. Mit einer Art numerus clausus wollte man kontrollieren, wie viele Jüdinnen und Juden sich in Graz ansiedelten. Als Anreiz für den Zuzug nach Graz wurde diesen eine vierjährige Steuerermäßigung gewährt. Bis auf die Synagoge erhielten die zurückkehren- den Jüdinnen und Juden keine Liegenschaften zurück. Das „Judenviertel“ war bereits kurz nach der ersten Ausweisung 1438 abgetragen worden. Mit der heutigen Herrengasse wurde eine breite Straße mitten durch das vormalige Viertel gezogen. Weiters wurde schon 1440 eine Ka- pelle auf dem Boden des ehemaligen jüdischen Viertels errichtet, die später zur Stadtpfarrkirche umgebaut wurde. Nachdem das jüdische Viertel bei der Rückkehr der Jüdinnen und Juden nicht mehr bestand, lebten sie fortan nicht mehr abgegrenzt, sondern verstreut zwischen den katholi- schen EinwohnerInnen.92 Weniger als 60 Jahre später kam es unter Kaiser Maximilian (1459–1519) im Jahr 1495 jedoch erneut zu einer Ausweisung. Die Stände hatten den Kaiser in langen Verhandlungen und mit Entschädigungszahlungen schließlich dazu bringen können, die Jüdinnen und Juden unter folgendem Vorwand aus „Innerösterreich“ zu verweisen:

90 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 9–10. 91 Ebda., p. 9–10. 92 Ebda., p. 10. 23

„dass die Jüdischheit dem heiligen Sakrament zu vielen Malen schwere Unehre gezeigt, und dass sie auch junge christliche Kinder gemartert, getötet, vertilgt (d.h. gegessen), ihr Blut genommen und zu ihrem verstockten verderblichen Wesen gebraucht... Damit fortan solch Übel nicht mehr geschehe, (haben Wir) unsere Jüdischheit aus unserem Lande Steyr in ewige Zeit beurlaubt”93.

Während dieser Zeit der sogenannten „Judensperre“ achteten die GrazerInnen genau auf die Einhaltung des Aufenthaltsverbotes, welches nur mit einer offiziellen Aufenthaltsgenehmigung umgangen werden konnte. Wurde ein jüdischer Händler ohne solch eine Genehmigung ange- troffen, so wurde er im Rathaus inhaftiert.94

3.2. Die Neukonstituierung der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert 1783 gewährte Kaiser Joseph II. (1741–1790) entgegen den Wünschen der Landstände Jüdin- nen und Juden den temporären Aufenthalt während der Jahrmärkte in Graz, Linz, Laibach und Klagenfurt. Somit konnten jüdische Händler ihre Waren in Graz zumindest zweimal im Jahr für den beinahe vierwöchigen Jahrmarkt anbieten.95 Die Revolution von 1848 änderte vorerst nur wenig an der offiziellen Situation. Nachdem die Verfassung von 1849 schlussendlich wie- der aufgehoben worden war, blieb die alte Ordnung doch weiter bestehen. In diesen Wirren siedelten sich dennoch die ersten Jüdinnen und Juden in Graz an, denen es aufgrund der unkla- ren rechtlichen Lage und des in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschenden Antisemitis- mus jedoch nicht einfach gemacht wurde, sich eine Existenz aufzubauen.96 Der erste Jude, der seit 1849 in Graz nachweisbar ist, war Ludwig Kadisch (1819–1916).97 Auch ihm schlug viel Gegenwind entgegen, denn sein Antrag auf eine behördliche Bewilligung zur Eröffnung eines koscheren Restaurants wurde elf Jahre lang abgelehnt. Erst als der Antrag des Gemeinderats- abgeordneten Dr. Rechbauer (1815–1889), über ein dauerhaftes Wohnrecht für Jüdinnen und Juden in Graz 1861 angenommen wurde, wurde auch Kadischs Antrag bewilligt.98 Im darauf- folgenden Jahr suchte Kadisch gemeinsam mit dem mittlerweile ebenfalls in Graz wohnenden Fleischhauer Max Schischa (1828–1908) darum an, israelitische Gottesdienste abhalten zu

93 Zit. in: Ebda., p. 11. 94 Ebda., p. 11. 95 HAINZL, Juden in der Provinz I, 2001, p. 51–52. – LAMPRECHT, Jüdisches Leben in der Steiermark zwischen Bruch und Kontinuität, 2008, p. 1. 96 HAINZL, Juden in der Provinz I, 2001, p. 52–54. – HALBRAINER, Juden in der Provinz, 2001, p. 52. 97 Die Lebensdaten sind der Website der jüdischen Gemeinde entnommen. Ob es sich bei dem hohen Alter des Mannes um die korrekte Angabe handelt, konnte nicht nachvollzogen werden. Siehe Jüdische Gemeinde Graz, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Graz bis 1938; https://www.juedischegemeinde- graz.at/geschichteg/bis-1938#inline-auto217 [Abruf: 25.08.2020]. – LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 30. 98 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 12. – SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 130. 24

dürfen. Diese fanden in den darauffolgenden Jahren in verschiedenen Gasthäusern zum Sabbat statt. Am 9. Oktober 1863 konstituierte sich die „Israelitische Korporation“ mit dem Ziel, wei- tere Strukturen für ein jüdisches Leben in Graz zu schaffen. Dies gelang in den folgenden Jahren durch die Anstellung eines Schächters sowie eines Vorbeters, als auch durch die Abhaltung von Religionsunterricht und den Ankauf eines Grundstücks etwas außerhalb der Stadt, in Wetzels- dorf, als Platz für einen jüdischen Friedhof. Weiters konnte im Jahr 1865 ein eigener Raum für die jüdischen Gottesdienste angemietet werden und man musste diese somit nicht mehr in ver- schiedenen Gasthäusern abhalten.99 Seit 1866 wurde zudem eine private jüdische Volksschule geführt.100 Mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurden Jüdinnen und Juden schließlich zu- mindest vor dem Gesetz zu gleichberechtigten StaatsbürgerInnen. In der Praxis waren sie je- doch weiterhin vielen Benachteiligungen ausgesetzt. Dies zeigt sich beispielsweise im Grund- stückskauf. Meist nur über Umwege und verbunden mit hohen Zusatzkosten war es für Jüdin- nen und Juden möglich Realitäten zu erwerben, denn die EigentümerInnen weigerten sich oft an Jüdinnen und Juden zu verkaufen.101 Nichtsdestotrotz entwickelte sich die jüdische Gemein- schaft weiter und konnte am 21. April 1869 die „Grazer Israelitische Kultusgemeinde“ (IKG) gründen. Trotz der tendenziell judenfeindlichen Umgebungsgesellschaft konnte sich die jüdi- sche Gemeinde über langsamen, aber stetigen Zuzug freuen. Während die Mitgliederzahl 1869, zur Zeit der Gründung der IKG, noch bei gerade einmal 250 lag, so stieg sie bis 1910 durch Zuzug und Geburtensteigerung auf 1.971 Personen an. Auch wenn dieser Anstieg auf den ersten Blick viel erscheint, so ist dennoch anzumerken, dass der Zuwachs mit dem generellen Bevöl- kerungszuwachs der Stadt Graz einhergeht und der jüdische Anteil 1,4 Prozent der Grazer Ge- samtbevölkerung nie überschritt.102 Im Jahr 1877 wurde schließlich der erste Rabbiner nach Graz bestellt: Samuel Mühsam (1837–1907) sorgte fortan für den weiteren Gemeindeaufbau. Als Meilenstein seiner Laufbahn in Graz kann sicher der Bau der Synagoge genannt werden. Mithilfe einer Tempelbaulotterie und einer großangelegten Spendensammlung konnten die Synagoge und ein Amtsgebäude 1892 am Grieskai 58 fertiggestellt werden.103 Zur Eröffnung am 14. September 1892 waren u. a.

99 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 13. – SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 130–131. – LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 30. – SALZER-EIBENSTEIN, Die Geschichte des Judentums, 1988, p. 129. 100 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 157. 101 Anton Hartnagel besaß das Grundstück hinter der Synagoge und legte laut Testament fest, dass dieses Grundstück nach seinem Ableben nicht an Juden weiterverkauft werden düfte. Das für die IKG jedoch sehr günstig liegende Grunstück konnte nur über den Umweg eines Zwischenhändlers und einem Mehraufwand von 6000 Kronen in deren Besitz kommen. – Ebda., p. 155–156. 102 SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 131. – HALBRAINER, Juden in der Provinz, 2001, p. 54–55. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 204. 103 LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 32. 25

Statthalter Guido Freiherr Kübek (1829–1907), Bürgermeister Ferdinand Portugall (1837– 1901), sowie der evangelische Superintendent anwesend. Einzig die katholische Kirche blieb der Eröffnung fern.104 Der in der Eröffnungsrede geäußerte Wunsch, dass das „neue Gotteshaus immer auch ein Hort der Vaterlandsliebe, der Liebe zur Muttersprache und zur vaterländischen Cultur“ sein soll, zeugt davon, dass sich die Grazer Jüdinnen und Juden als österreichische StaatsbürgerInnen jüdischer Religion verstanden.105 Jüdisch zu sein wurde in Graz zu diesem Zeitpunkt somit zumindest zum Großteil als religiöse, und nicht als nationale Angelegenheit angesehen und die Jüdinnen und Juden bezeichneten Österreich als ihre Heimat anstelle eines eigenen Judenstaates, wie ihn die ZionistInnen in Palästina erträumten. Der hohe Stellenwert der Bildung im Judentum spiegelt sich in den frühen Bemühungen, den jüdischen Kindern eine eigene Schule zu bieten. Nachdem die Gründung einer jüdischen Volksschule bereits im Jahr 1866 stattgefunden hatte, gab es in den folgenden Jahren immer wieder Probleme bei der Schulerhaltung, die durch einen häufigen Ortswechsel sowie durch einen Entzug des 1870 erstmals verliehenen Öffentlichkeitsrecht bis zur vorläufigen Schließung 1883/1884 ersichtlich sind.106 Bereits im selben Jahr 1884 wurde die Schule aber zweiklassig wiedereröffnet und konnte sich in den folgenden Jahren fest in der jüdischen Gemeinde etab- lieren. Im neu errichteten Amtsgebäude neben der Synagoge fand sie 1892, mittlerweile bereits dreiklassig geführt, ihren endgültigen Platz. Während der Anteil der jüdischen Kinder nach Geschlecht in der jüdischen Volksschule bis zur Jahrhundertwende ungefähr gleich war, änderte sich dieses Bild im weiteren Bildungsweg der SchülerInnen. Nach dem Ende der vier- bzw. fünfjährigen Ausbildung in der Volksschule besuchten viele Mädchen aus gehobenem Haus das Lyzeum.107 Dieser Schultyp dauerte sechs Jahre und legte den Schwerpunkt auf die zukünftigen Erziehungsaufgaben der Mädchen, auf Familie und Kultur. Dementsprechend schloss der Schultyp auch vorerst, im Gegensatz zum Gymnasium, nicht mit Matura ab.108 Nachdem das Lyzeum in Graz 1883 gegründet worden war, wurde ab 1896/1897 eine Lyzealmatura angebo- ten, die die Absolventinnen dazu berechtigte, an der Universität als außerordentliche Hörerin- nen zugelassen zu werden sowie ein Lehramtsstudium zu absolvieren. Die Gleichberechtigung im Bildungswesen wurde durch diese Zugeständnisse nur bedingt gefördert. Erst 1909 war es

104 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 19. 105 Zit. in: HALBRAINER / LAMPRECHT, „So dass uns Kindern…", 2010, p. 51. 106 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 159. 107 SIMON Gertrud, Vom ersten privaten „Mädchenlyzeum“ zum Realgymnasium. Das Grazer Mädchenlyzeum (1873–1927) im Kontext gesamtösterreichischer Debatten und Entwicklungen. In: Alois KERNBAUER / Karin SCHMIDLECHNER-LIENHART (Hgg.), Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33). Graz 1996, p. 12. 108 HECHT Dieter, Jüdische Frauen und Frauenvereine in Österreich bis 1938. In: Gerald LAMPRECHT (Hg.), „So wirkt ihr lieb und hilfsbereit…“. Jüdische Frauen in der Geschichte (= CLIO Historische und gesellschaftspolitische Schriften 8). Graz 2009, p. 54–55. 26

schließlich für Lyzealschülerinnen möglich durch den Besuch einer realgymnasialen Fortbil- dungsschule, in der in zwei Jahren u. a. Latein gelehrt wurde, zu einer vollwertigen Matura zugelassen zu werden.109 Jungen wiederum besuchten meist Gymnasien, die mit Matura ab- schlossen, um so ein weiterführendes Studium aufnehmen zu können.110 Eine Gemeinsamkeit für alle schulpflichtigen jüdischen Kinder, unabhängig vor ihrem Geschlecht und ihrem Alter, waren die allsabbatlich stattfindenden Schulgottesdienste, die die SchülerInnen verpflichtend besuchen mussten. Unterrichtet wurde in der jüdischen Volksschule am Samstag nicht, dafür aber am Sonntag.111 SchülerInnen, die nichtjüdische Schulen besuchten, mussten auch am Samstag in die Schule gehen, schrieben an diesen Tagen aber aufgrund ihrer religiösen Ver- pflichtungen und des Arbeitsverbots am Sabbat oft nicht mit.112 Obwohl es in Graz seit dem Mittelalter kein eigenes „Judenviertel“ mehr gab, so kann dennoch ein Siedlungsschwerpunkt innerhalb der Stadt ausgemacht werden. Bereits die ersten Jüdinnen und Juden, die nach der „Judensperre“ nach Graz kamen, ließen sich in der Mur- vorstadt nieder. Die beiden Bezirke Lend und Gries waren seit jeher die Wohnorte der Deklas- sierten. Der Grund dafür liegt weit zurück in der Geschichte der Stadt, als die beiden Bezirke militärisch ungeschützt außerhalb der Stadtmauern lagen und Überschwemmungen den Bewoh- nerInnen das Leben erschwerten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem die feh- lenden Grünflächen und Plätze zur Erholung sowie die Lage einschlägiger Rotlichtlokale, die die Bezirke zu den weniger beliebten Wohnorten machten. Gerade Gries stellte den Hauptwoh- nort der Grazer Jüdinnen und Juden dar, so lebte etwa die Hälfte der jüdischen Gesamtbevöl- kerung von Graz in diesem Bezirk. Nachdem die Synagoge, die jüdische Schule sowie mehrere Geschäfte von jüdischen InhaberInnen ebenfalls in Gries zu finden waren, kann der Bezirk wohl als Zentrum des jüdischen Lebens in Graz bezeichnet werden. Dies sollte auch in den folgenden Jahren so bleiben, obwohl es einen Trend zum Verzug in bessere Wohngegenden gab.113 Während sich das politische und religiöse Leben für Männer größtenteils in der IKG abspielte, wurden für Belange des sozialen und gesellschaftlichen Lebens verschiedene Vereine gegründet. Neben dem Bestattungsverein, der „Chewra Kadischa“ (gegr. 1871), und dem Ar- menbeteiligungsverein, „Chebra Mathnos Anijim“ (gegr. 1882), gab es auch den „Israelitischen Frauenverein“ (gegr. 1879). Dieser Verein war deshalb so wichtig, weil er Frauen die

109 SIMON, Vom ersten privaten „Mädchenlyzeum“, 1996, p. 7, 14–15. 110 HOLBOK, Jüdische Kindheit, 1999, p. 130. 111 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 48. 112 Vgl. hierzu: POLLAK Otto, Versuch über mich selbst. In: Dieter A. BINDER (Hg.), Memory is for us our only hope. Erinnerungen an die Vertreibung des jüdischen Österreichs (= Schriften des David-Herzog-Zentrums für jüdische Studien. Autobiographische Texte 1). Graz 2000. 113 SALZER-EIBENSTEIN, Die Geschichte des Judentums, 1988, p. 129. – SALZER-EIBENSTEIN, Die Wohn- und Berufsstandorte, 1978, p. 301–302. 27

Möglichkeit bot, außerhalb der Familie am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.114 Im folgen- den Jahrhundert wurden viele weitere jüdische Vereine gegründet.

3.3. Jüdisches Leben von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Das Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung kann während dieses Zeitraums als ambivalent beschrieben werden. Einerseits gab es bis 1900 sehr viele „Mischehen“ zwischen Jüdinnen und Juden und ChristInnen, die von einem guten Verhältnis zeugen.115 Dies erreichte im Jahr 1912 einen Höhepunkt, als gleich viele „Mischehen“ wie innerjüdische Ehen geschlossen wurden. Eine Erklärung hierfür könnte jedoch auch die Assimilationstheorie sein, nach der sich Jüdin- nen und Juden immer mehr an ihre Umwelt anpassten und so von ihrem Glauben Abstand nah- men.116 Und jene Umwelt war nun einmal stark christlich geprägt. Die Volkszählung von 1910 zeigt, dass 93 Prozent der Grazer StadtbürgerInnen dem katholischen Glauben angehörten, der Anteil der Evangelischen lag bei 4,5 Prozent und jener der Jüdinnen und Juden bei 1,3 Pro- zent.117 Dass sich Jüdinnen und Juden zu diesem Zeitpunkt jedoch noch immer in erster Linie als österreichische StaatsbürgerInnen mit jüdischem Glauben sahen und nicht als ZionistInnen illustriert Otto Rendis Bericht, demnach „an allen Feiertagen in allen Synagogen für den Mo- narchen, das Kaiserhaus und das ganze Land Gebete verrichtet“ wurden.118 Religion und Nation waren demnach zwei unterschiedliche Sachen, von denen eines das andere nicht ausschloss. Das Bekenntnis zum Judentum hatte somit zumindest für den Großteil der Grazer Jüdinnen und Juden keinen Einfluss auf ihr Verständnis als BürgerInnen der k. u. k. Monarchie. Die Mitglieder der IKG präsentierten sich nach außen als Einheit. Dennoch gab es in- nerhalb der Gemeinschaft viele unterschiedliche Richtungen, die von streng religiös, orthodox, über assimiliert bis zu areligiös reichten.119 Auf den Begriff der Assimilation soll in diesem Zusammenhang kurz näher eingegangen werden. Klaus Hödl und Gerald Lamprecht üben (zu- recht) Kritik am Assimilationsbegriff, da die Bedeutung des Begriffes als Anpassung der jüdi- schen Bevölkerung an die österreichische Mehrheitsbevölkerung gegen Aufgabe der jüdischen

114 HECHT Dieter J., Jüdische Frauen im Austrofaschismus. In: Brigitte LEHMANN (Hg.), Dass die Frau zur Frau erzogen wird. Frauenpolitik und Ständestaat. Wien 2008, p. 161. – LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 190–198. 115 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 15. 116 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 64–65. 117 In der Literatur wird hier nicht zwischen den Bekenntnissen unterschieden, so kann angenommen werden, dass die 4,5 Prozent A.B. und H.B. umfassen. Siehe LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 160. 118 RENDI Otto, Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 62. Jg. (1971), p. 157. 119 BREITLER Robert, B'nai B'rith in Graz. Zur Sozialgeschichte des Grazer jüdischen Bürgertums in der Zwischenkriegszeit. In: Gerald LAMPRECHT (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung. Innsbruck 2004, p. 202. 28

Elemente nicht den tatsächlichen Geschehnissen entspricht. Einzug im zeitgenössischen Dis- kurs fand der Begriff bereits im 19. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt war er auch in jüdischen Kreisen positiv besetzt. Dies sollte sich schließlich mit dem Erstarken des Zionismus und der Rückbesinnung auf die eigenen jüdischen Wurzeln ändern, und Assimilation wurde als Feind des Judentums gesehen, dem entgegengewirkt werden sollte. Als passendere Bezeichnung wäh- len sowohl Lamprecht als auch Hödl jenen der Interkulturation, der besagt, dass hier ein Prozess beidseitigen Austausches stattfand und sich beide Gruppen gegenseitig beeinflussten, gab es doch immer wieder Kontaktpunkte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Personen.120 Nichts- destotrotz ist festzuhalten, dass sich die jüdische Gemeinde in Graz stetig säkularisierte und so immer mehr Gemeinsamkeiten mit der christlichen Bevölkerung entstanden. Beispielhaft sei erwähnt, dass in vielen jüdischen Familien Ostern und Weihnachten gefeiert wurden.121 Klaus Hödl meint zu diesem Phänomen, dass dies aber nicht als Merkmal der Assimilation im Sinne der Übernahme von Kulturelementen der Mehrheitsgesellschaft gesehen werden sollte, sondern als ein Zeichen der Verbürgerlichung. Man adaptierte diese christlichen Feste und veränderte ihre Bedeutung. Hödl zitiert einen Wiener Juden, der beschreibt, dass das Weihnachtsfest bei ihm zu Hause nicht als religiöses Fest gefeiert wurde. Vielmehr wurde betont, dass es sich bei Weihnachten um ein deutsches Fest handle, das die Familie als Deutsche mitfeiere. Aus diesem Grund wurde Weihnachten mit der Familie und den Bediensteten mit Weihnachtsgans und Christbaum begangen.122 Vor allem Dienstmädchen stellten eine wichtige Brücke zwischen ChristInnen und Jüdinnen und Juden her. Die meist katholischen Kindermädchen brachten den jüdischen Kindern das Christentum näher, indem sie ihnen davon erzählten oder sie auch in Kirchen und zu katholischen Feiern mitnahmen.123 Im Gegensatz zu diesen gemeinschaftlichen Tendenzen steht eine Verstärkung des An- tisemitismus, der bereits ab den 1880er Jahren, u. a. in Wien, vermehrt wahrgenommen werden konnte. Besonders die Christlichsozialen unter Karl Lueger (1844–1910) nutzen die „Juden- hetze“ für ihr Wahlprogramm und konnten damit große Erfolge feiern. Dem antisemitischen Wiener Bürgermeister Lueger stand zur Jahrhundertwende nur Kaiser Franz Joseph (1830–

120 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 45–49. – HÖDL Klaus, „Jenseits des Nationalen“. Ein Bekenntnis zur Interkulturation. In: transversal 5. Jg. (2004) H 1, p. 7, 14. – HÖDL Klaus, Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert. Innsbruck-Wien-Bozen 2006, p. 28, 30. 121 Vgl. METTAUER Philipp, Jüdische Kindheit vor dem „Anschluss“. Erinnerungen in lebensgeschichtlichen Interviews. In: Sabine HÖDL (Hg.), Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900 (= Juden in Mitteleuropa). St. Pölten 2014, p. 8. – HOLBOK Sándor, Jüdische Kindheit zwischen Tradition und Assimilation. In: Sabine HÖDL / Martha KEIL (Hgg.), Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a. M. 1999, p. 136. 122 HÖDL, Wiener Juden – jüdische Wiener, 2006, p. 33–34. 123 LICHTBLAU Albert (Hg.), Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien-Köln-Weimar 1999, p. 82. 29

1916) gegenüber, der den Jüdinnen und Juden Schutz versprach.124 Obwohl die Anzahl der Jüdinnen und Juden in Graz im Gegensatz zu Wien verschwindend gering war, so war der An- tisemitismus dennoch sehr stark verbreitet. Mehr noch galt Graz schon seit jeher als Hochburg des Deutschtums und später auch des Nationalsozialismus.125 Und dies, obwohl der Höchst- stand der jüdischen Bevölkerung 1910 erreicht wurde: Bei der Volkszählung in diesem Jahr wurden 1.971 Jüdinnen und Juden gezählt, was einen Anteil von 1,3 Prozent der Gesamtbevöl- kerung ausmachte.126 Eine Überrepräsentation der Jüdinnen und Juden in gewissen Berufsspar- ten trug vermutlich zur Stärkung des Antisemitismus bei. Im Griesviertel, in dem auch die Sy- nagoge zu finden war, konzentrierten sich zudem einige Geschäfte jüdischer Kaufleute in ein- zelnen Straßenzügen. Besonders im Bereich von Griesplatz und Grieskai, aber auch in der An- nenstraße gab es zahlreiche Geschäfte und Betriebsstätten jüdischer InhaberInnen, was sicher- lich den Anschein erweckte, als würden weit mehr Jüdinnen und Juden in Graz leben, als es tatsächlich der Fall war.127 Hinzu kommt, dass in einigen akademischen Berufen überproporti- onal viele Jüdinnen und Juden vertreten waren. Dies lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass der jüdischen Bevölkerung nur wenige akademische Karrierewege zur Verfügung standen. Diese waren einerseits der Arztberuf und andererseits jener des Anwalts.128 Der hohe Stellen- wert der Bildung und der damit erreichbare gesellschaftliche Aufstieg sorgten dafür, dass über- proportional viele Jüdinnen und Juden Studien abschlossen. Aus diesem Grund wurde auch immer wieder die Frage eines numerus clausus für gewissen Studienrichtungen diskutiert, um den nichtjüdischen Studierenden Plätze zu sichern. Der absolute Anteil an jüdischen Absolven- tInnen war jedoch de facto gering.129 Der Antisemitismus betraf die gesamte jüdische Bevölkerung und so machte man es sich zur Aufgabe, besonders die Kinder, so gut es ging, davor zu schützen. Als eine Methode dafür nützte man die jüdische Volksschule. Im „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“

124 WENNINGER Florian, „…für das ganze christliche Volk eine Frage auf Leben und Tod“. Anmerkungen zu Wesen und Bedeutung des christlichsozialen Antisemitismus bis 1934. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 228. – ALBRICH Thomas, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich. Von den Anfängen bis Ende der 1920er Jahre. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933– 1938. Göttingen 2018, p. 44. 125 LAMPRECHT, Jüdisches Leben in der Steiermark zwischen Bruch und Kontinuität, 2008, p. 3. 126 HALBRAINER / LAMPRECHT, „So dass uns Kindern…", 2010, p. 51. – REITTER, Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, 1988, p. 151. 127 BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 205. 128 SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971, p. 15. – LICHTBLAU Albert (Hg.), Als hätten wir dazugehört, 1999, p. 74–75. 129 ALBRICH, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, 2018, p. 42. – BINDER, Jüdische Steiermark, 2002, p. 213. – MELICHAR Peter, Juden zählen. Über die Bedeutung der Zahl im Antisemitismus. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 118. 30

verlautbarte man im Mai 1914, dass man „es glücklicherweise nicht notwendig“ habe, die jü- dischen Kinder „in den öffentlichen Schulen den nicht ausbleibenden schmerzlichen Erfahrun- gen aussetzen [sic] und ihre zarten Seelen vergiften zu lassen“.130 Die Wertschätzung der Volks- schule zeigt sich aber auch schon in den Jahren zuvor. Nachdem das Schulgebäude durch die steigende SchülerInnenzahl bereits um 1900 zu klein wurde, erweiterte man 1902/1903, sowie nochmals von 1912 bis 1914, die Räumlichkeiten. Bei diesem letzten Umbau wurde zeitgleich Platz für eine beheizbare Wintersynagoge geschaffen. Eine große Errungenschaft für die jüdi- sche Volksschule stellte die Vergabe des Öffentlichkeitsrechts 1909 dar. Obwohl die Volks- schule ab diesem Zeitpunkt öffentlich für alle Kinder zugänglich war, geht aus den Aufzeich- nungen hervor, dass keine nichtjüdischen SchülerInnen die Schule besuchten.131 Finanziert wurde die Schule einerseits durch Schulgelder und Subventionen der Stadt und andererseits durch die Kultusgemeinde selbst. Die Ausgaben für die Erhaltung der jüdischen Volksschule betrugen ein Fünftel des Gesamtbudgets der IKG Graz. Im Vergleich dazu sei angeführt, dass die Wiener Kultusgemeinde nur sechs Prozent des Gesamtbudgets für die Schulbildung ihrer Kinder ausgab.132 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 brachte für die jüdische, wie auch die nicht- jüdische Bevölkerung viele Veränderungen mit sich. Neben der Abwesenheit von Männern, die ihren Kriegsdienst verrichten mussten, gab es zugleich einen Bevölkerungszuwachs durch Kriegsflüchtlinge aus umkämpften Frontgebieten. So änderte sich auch der Anteil der jüdischen Bevölkerung durch die Aufnahme von ostjüdischen Flüchtlingen kurzfristig. Die Niederlage der k. u. k. Armee im Herbst 1914 machte die Jüdinnen und Juden in Galizien zu den ersten zivilen Opfern des Krieges. Plünderungen, Zwangsumsiedelungen und Massenhinrichtungen veranlassten etwa 400.000 Menschen dazu ihre Heimat zu verlassen und in Cisleithanien Schutz zu suchen.133 Die überwiegende Mehrheit versuchte in Wien Fuß zu fassen; nach Graz kamen nur etwa 1.000 Jüdinnen und Juden. Durch die geringe Anzahl der dortigen Gemeindemitglie- der, stieg die jüdische Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt damit jedoch um ungefähr ein Drittel an. Die oft mittellosen Flüchtlinge wurden in Graz von der IKG versorgt. Viele der gut situier- ten Familien verköstigten oft sogar mehrere Flüchtlingsfamilien täglich mit einem Mittages- sen.134 Die, wenn auch nur kurzfristige, starke Zunahme des Grazer Judentums brachte zwei

130 N. N., Haben wir es notwendig! In: „Grazer Israelitischer Gemeindebote” vom 27.05.1914, p. 29. – Siehe auch: REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 81. 131 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 159, 164. 132 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 151, EN 151. 133 WLADIKA Michael, „Wir sind freiheitlich gesinnt und Judengegner“. Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 297. 134 RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 159. 31

spürbare Veränderungen mit sich. Einerseits handelte es sich bei den Flüchtlingen größtenteils um strenggläubige Jüdinnen und Juden, die oftmals mit dem Zionismus sympathisierten. War der Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg in Graz nur wenig populär gewesen,135 so konnte er sich mit Ankunft der ostjüdischen Kriegsflüchtlinge langsam etablieren und fand vor allem bei der Jugend Anklang.136 Andererseits stieg mit der Anzahl der Jüdinnen und Juden in Graz auch der Antisemitismus erneut an. Die Ablehnung richtete sich hier in erster Linie gegen die osteu- ropäischen ImmigrantInnen, die im Stadtbild mit ihrer Kleidung und ihrer Sprache auffielen und als fremd wahrgenommen wurden. Mit dem Einsetzen der Versorgungsprobleme während des Krieges war man auf der Suche nach Schuldigen, die man für die schlechte Lage verant- wortlich machen konnte. Jüdinnen und Juden wurden so zum Sündenbock. Ihnen wurde die Verantwortung für all die Entbehrungen, die man erleiden musste, zugeschoben und zudem wurden sie noch als Konkurrenz am Arbeitsmarkt gesehen, die man eliminieren wollte.137 Thomas Albrich spricht in diesem Zusammenhang gar vom „Erste[n] Weltkrieg als Katalysator des Antisemitismus“.138 Hierbei ist schließlich im Vergleich mit späteren Daten ein Muster er- kennbar. Bei jeder Krise, bei sozialer und ökonomischer Bedrängnis, stieg der Antisemitismus stark an. Dies ist während des Ersten Weltkrieges und den Problemen der Nachkriegszeit ebenso auszumachen wie mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929.139 Wie oben bereits kurz angeführt, ist zu bemerken, dass die osteuropäischen Flüchtlinge nur für kurze Zeit in Cisleithanien Schutz fanden. Schon bald nach der Rückeroberung der zu- vor verlorenen Gebiete in Galizien und der Bukowina wurden viele der Schutzsuchenden wie- der in ihre Heimat zurückgeschickt.140 Spätestens zu Beginn der 1920er Jahre hatte somit der Großteil der jüdischen Flüchtlinge Graz wieder verlassen. Nichtsdestotrotz verstärkte sich mit der Lockerung der Zensur 1917/1918 sowie dem Kriegsende 1918 der Antisemitismus stetig. Der zuerst größtenteils nur latent vorhandene Antisemitismus veränderte sich in einen offen in Medien und auch in der Gesellschaft kommunizierten Hass gegen Jüdinnen und Juden. Dieter A. Binder nennt hierzu die stark antisemitischen Äußerungen in Grazer Tageszeitungen als

135 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 210. 136 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 69. – RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 159. 137 LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 190. 138 ALBRICH, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, 2018, p. 46. 139 BUNZL John, Zur Geschichte des Antisemitismus in Österreich. In: John BUNZL / Bernd MARIN (Hgg.), Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien (= Vergleichende Gesellschaftsgeschichtliche [sic] und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3). Innsbruck 1983, p. 40. – ALBRICH, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, 2018, p. 38. 140 WLADIKA, „Wir sind freiheitlich gesinnt und Judengegner“, 2018, p. 297. 32

Beispiel.141 Exemplarisch dafür kann aber auch der Leopold Stocker Verlag genannt werden, der sein Publikum mit zutiefst judenfeindlichen Publikationen anzusprechen versuchte.142 Während nun aber ostjüdische Flüchtlinge wegen des Krieges nach Graz flüchteten, kämpften und starben zugleich viele – auch steirische – jüdische Soldaten an der Front. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert konnte auch in Österreich-Un- garn rasch eine starke Armee aufgestellt werden. Erwin Schmidl gibt an, dass „in Österreich- Ungarn mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 52 Millionen zwischen 1914 und 1918 insge- samt rund neun Millionen Soldaten aufgeboten“ wurden. Davon gehörten etwa 300.000 dem Judentum an, was einem Anteil von drei Prozent jüdischer Soldaten entspricht.143 Viele junge Juden sahen in ihrem Einsatz als Soldaten die Möglichkeit, sich als treue Staatsbürger zu be- weisen und dem Vaterland loyal beizustehen.144 Doch auch im Heer waren antijüdische Vorur- teile nicht unbekannt. Diesen versuchte man entgegenzuwirken, indem beispielsweise Nachrufe über besonders tapfere und ausgezeichnete jüdische Soldaten verbreitet wurden. Zeitzeugenbe- richten zufolge hielt sich der Antisemitismus beim Heer generell eher in Grenzen, und ein Sol- dat meinte sogar, dass die antijüdische Stimmung im Zivilleben spürbarer gewesen wäre als in der Armee. Dennoch blieben antisemitische Äußerungen von Vorgesetzten oder anderen Sol- daten nicht ganz aus. Jüdische Soldaten, die, wie im Zivilleben, eine klare Minderheit in den Truppen darstellten, versuchten oftmals nur ja nicht negativ aufzufallen, um die antijüdischen Vorurteile nicht zu bestätigen.145 Bemerkenswert ist zudem, dass Juden im Vergleich über- durchschnittlich oft zu Reserveoffizieren ausgebildet worden waren. Dies hängt vor allem mit dem hohen Bildungsgrad zusammen, der für die Bestellung zu solch einer Aufgabe von Vorteil war, musste man mit einem Abschluss am Gymnasium oder der Universität doch nur mehr ein sogenanntes „Einjährig-Freiwilligen-Jahr“ bestreiten, statt der vormals üblichen drei Jahre. Durch die hohen Verluste an Offizieren gleich zu Kriegsbeginn im Jahr 1914 rückten in Folge vermehrt Reserveoffiziere nach. Lichtblau geht davon aus, dass somit etwa 25.000 jüdische Offiziere im Ersten Weltkrieg kämpften.146

141 Interview Dieter A. Binder mit Wolfgang Sotill. Zit. in: Wolfgang SOTILL. Es gibt nur einen Gott und eine Menschheit. Graz und seine jüdischen Bürger, hg. von Kurt D. BRÜHL / Helmut STROBL. Graz-Wien-Köln 2001, p. 132. 142 BINDER, Antisemitismus und Judentum, 1988, p. 1. – LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 32. – Interview Dieter A. Binder mit Wolfgang Sotill. Zit. in: SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 132. – BINDER, Jüdische Steiermark, 2002, p. 213. – BINDER, Antisemitismus und Judentum, 1988, p. 5. 143 SCHMIDL Erwin A., Habsburgs jüdische Soldaten. 1788–1918. Berlin-Wien 2014, p. 115. 144 LICHTBLAU Albert, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn. Österreich-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart. In: Eveline BRUGGER / Martha KEIL / Albert LICHTBLAU / Christoph LIND / Barbara STAUDINGER (Hgg.), Geschichte der Juden in Österreich. Wien 2006, p. 488. 145 SCHMIDL, Habsburgs jüdische Soldaten, 2014, p. 117. – BIRÓ Ludwig, Die erste Hälfte meines Lebens. Erinnerungen eines Grazer jüdischen Rechtsanwalts von 1900–1940. Graz-Wien 1998. 146 LICHTBLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn, 2006, p. 489. 33

Wie viele Juden der k. u. k. Monarchie schlussendlich an der Front gefallen sind, lässt sich nur schwer festhalten, da die Religion beim Eintritt ins Heer meist nicht abgefragt bzw. angegeben wurde.147 Die Zahl der Grazer Juden, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, lässt sich aber anhand eines Denkmals festhalten. Laut dem 1934 errichteten Denkmal für gefallene israelitische Soldaten, das auf dem jüdischen Friedhof in Wetzelsdorf aufgestellt wurde, ver- starben 57 Grazer Juden an der Front.148

3.4. Jüdisches Leben während der Ersten Republik Wie bereits erwähnt, verschärfte sich der Antisemitismus mit dem Ersten Weltkrieg zusehends – ein Trend, der sich auch in den folgenden Jahren weiter fortsetzen sollte. Obwohl die jüdische und die nichtjüdische Bevölkerung von Graz während des Ersten Weltkrieges die gleichen Ver- luste und Entbehrungen erlebte, versuchten antisemitische Kreise den Jüdinnen und Juden die Schuld an der schlechten ökonomischen Lage der Nachkriegszeit anzulasten. Die Dolchstoßle- gende, die eine jüdische Kriegsschuld imaginierte, sowie die Behauptung, dass sich jüdische „Kriegsgewinnler“ durch den Ersten Weltkrieg bereichert hätten, während die übrige Bevölke- rung unter den Folgen zu leiden hätte, trugen weiter zu einer Verschärfung des Judenhasses bei.149 Die Nachkriegszeit war auch für Kinder eine besonders entbehrungsreiche. Sehr viele von ihnen litten an Unterernährung. Etwas Abhilfe schaffte hierbei die „American Relief Association“, die Ausspeisungen an bedürftige Kinder organisierte. Allein in der Steiermark wurde durch diese Aktion täglich 35.000 Mädchen und Jungen ein Essen geboten.150 Die steten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen, in denen sich das Land befand, äußerten sich jedoch nicht nur in der hohen Zahl an unterernährten Kindern. Vielmehr muss die Zeit als tur- bulente Periode bezeichnet werden, in der sich die Bevölkerung zunehmend radikalisierte. Lamprecht und Macher-Kroisenbrunner meinen hierzu: „Radikaler Deutschnationalismus, An- tisemitismus, Rassismus, Antislawismus und Militarismus waren integraler Bestandteil des All- tagslebens und der politischen Kultur.“151 Als ein Beispiel dieser Radikalisierung der Bevölke- rung kann der sogenannte „Kirschenrummel“ am 7. Juli 1920 angesehen werden. Die ständig steigenden Preise empörten Frauen auf dem Markt beim Kaiser-Josef-Platz. Innerhalb kürzester

147 SCHMIDL, Habsburgs jüdische Soldaten, 2014, p. 115. 148 REITTER, Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, 1988, p. 157. 149 BUNZL, Zur Geschichte des Antisemitismus in Österreich, 1983, p. 41. – LICHTBLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn, 2006, p. 488. 150 BIEDERMANN Bernadette / MORETTI Robert / REISINGER Nikolaus / TREBUCH Markus, Sozio- ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens in Graz zwischen 1918 und 1938. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 48 (2018), p. 87–88. 151 LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 159. 34

Zeit bildete sich dabei eine Menschenmenge, die lautstark die Herabsetzung der Obst- und Ge- müsepreise forderte. Berichten zufolge zog der Mob zum Jakominiplatz weiter und zerstörte und plünderte alles, was sich auf dem Weg dorthin befand. Im Laufe des Tages verwandelten sich die Proteste gegen die hohen Preise in Kundgebungen gegen Jüdinnen und Juden und eine regelrechte Hetze gegen diese Gruppe setzte ein.152 Dieses Ereignis illustriert, wie aufgeheizt die Stimmung in den 1920er Jahren war und wie das Grazer Judentum für Dinge verantwortlich gemacht wurde, für die es nichts konnte. Der Antisemitismus wurde sowohl in der privaten als auch in der wirtschaftlichen und politischen Sphäre forciert. Die Christlichsozialen traten bereits seit den 1880er Jahren als an- tisemitisch auf und nutzten diese Einstellung auch ganz gezielt für ihre Wahlkämpfe. Doch auch die meisten anderen Parteien hatten den Antisemitismus in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Einzig die SozialdemokratInnen und die KommunistInnen hielten offiziell Abstand vom Anti- semitismus. Eine eigene jüdische Partei gab es nicht, da sich die jüdische Bevölkerung durch die Sozialdemokratie größtenteils gut vertreten sah. 153 Der steigende Antisemitismus hatte zwei wesentliche Folgen. Zum einen stiegen die Austritte aus dem Judentum ab diesem Zeitpunkt stark an. Dies geht vermutlich mit der Hoff- nung einher, durch den Austritt, bzw. oftmals sogar mit einem folgenden Übertritt zum Chris- tentum durch die Taufe, dem Antisemitismus entkommen zu können und auch beruflich bessere Chancen zu erlangen. Zum anderen bewirkte der offene Antisemitismus einen Rückzug des Grazer Judentums aus dem öffentlichen Leben. Neben der Gründung zahlreicher jüdischer Ver- eine sei hier auch das Ende von „Mischehen“ genannt. Während wie oben bereits erwähnt im Jahr 1912 der Anteil der „Mischehen“ seinen Höchststand hatte, gab es gegen Ende der 1920er Jahre überhaupt keine Eheschließung zwischen jüdischen und christlichen PartnerInnen mehr.154 Gudrun Reitter beschreibt diesen Vorgang mit folgenden Worten: „Gewissermaßen als Trotzreaktion auf den Antisemitismus kam es verstärkt zu einer stol- zen Rückbesinnung auf die eigene, die jüdische Identität; das assimilierte Judentum wurde großteils abgelöst von einem Judentum mit stärkerem jüdischen Selbstverständnis und Selbstbewußtsein.“155

Auffallend ist hier, dass ZeitzeugInnen die Zwischenkriegszeit oft als Zeitabschnitt beschrei- ben, in dem sie persönlich wenig Antisemitismus begegnet sind.156 Im Gegensatz dazu stehen

152 BIEDERMANN / MORETTI / REISINGER / TREBUCH, Sozio-ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens, 2018, p. 86. 153 ALBRICH, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, 2018, p. 49–50. – RÜTGEN Herbert, Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918–1938. Graz 1989, p. 402, 404. 154 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 65. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 209. 155 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 65. 156 STRUTZ, „Suddenly I was a Judenbua“, 2009, p. 72. 35

aber eben die erwähnten antisemitischen Zeitungsbeiträge sowie die „Arierparagraphen“, die seit der Jahrhundertwende in immer mehr Vereinsstatuten Einzug fanden. Neben dem „G.A.K.“, der bereits bei seiner Gründung 1902 einen „Arierparagraphen“ in die Statuten auf- genommen hatte,157 hatten beispielsweise auch der „Österreichische Alpenverein“ sowie zahl- reiche Turnvereine Jüdinnen und Juden von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen.158 Die ange- strebte Separierung zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung durch eben solche Vorschriften könnte ein Grund dafür sein, dass Antisemitismus von Jüdinnen und Juden in dieser Zeit als weniger schlimm empfunden wurde: Wo wenige Bezugspunkte zur feindlich gesinnten Umwelt bestehen, da bestehen auch nur wenige Möglichkeiten, Abneigungen zur Schau zu stellen und offen auszutragen.159 Mit dem Ausschluss aus „arischen“ Vereinen stieg die Gründung von jüdischen Vereinen stark an. Nachdem einem jüdischen Jungen bereits 1914 beim Verein „Grazer Turnerschaft“ die Teilnahme am Turnen verweigert worden war, empörte sich die jüdische Bevölkerung darüber.160 Obwohl der Beschwerde des Vaters rechtgegeben wurde und somit bestätigt wurde, dass der Junge zu Unrecht ausgeschlossen worden war, führte der Anlass in weiterer Folge zur Gründung eigener, jüdischer (Turn-)Vereine. Im Zeitraum zwischen 1918 und 1938 wurden in Graz insgesamt zwölf weitere jüdische Vereine gegrün- det.161 Der erste jüdische Turnverein, „Makkabi“, wurde bereits im Jahr 1904 gegründet. Sein Ziel war es, junge Jüdinnen und Juden „wehrhaft“ zu machen sowie das Zusammengehörig- keitsgefühl unter den Jüdinnen und Juden zu stärken. Neben körperlichen Übungen wollte man dies auch durch Ausflüge und gesellige Zusammenkünfte erreichen. Nachdem dieser Verein mit Beginn des Ersten Weltkrieges sein Ende fand, wurde bald nach Kriegsende der Nachfol- geverein, die „Hakoah“, gegründet. Die am 3. April 1919 eingereichten Statuten setzten das Ziel des Vereins wie folgt fest: „Der Verein bezweckt, die körperliche Erziehung des jüdischen Volkes und die Hebung seines nationalen Bewußtseins.“162 Der Turnverein war gleich zu Be- ginn sehr erfolgreich und erlebte seine Blütephase bereits in den 1920er Jahren.163 Nur ein Jahr nach seiner Gründung, nämlich im Jahr 1920, hatte die „Hakoah“ bereits 470 Mitglieder. Durch den Antisemitismus und die „Arierparagraphen“ in den übrigen Vereinen, entwickelte sich die

157 IBER Walter M. / KNOLL Harald, Stadt in Bewegung. Turnen und Sport im Graz der Zwischenkriegszeit. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 48 (2018), p. 286. 158 HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 173. 159 LICHTBLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn, 2006, p. 509. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 213–214. 160 N. N., Haben wir es notwendig!, 27.05.1914. – Siehe auch: REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 81. 161 Ebda., p. 81. 162 StLA, 206-So-012-1936. – Siehe auch: HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 178. 163 IBER / KNOLL, Stadt in Bewegung, 2018, p. 285. 36

„Hakoah“ schnell zu einem Auffangbecken für alle sportbegeisterten Jüdinnen und Juden. Neben der Turnerriege bot sie ebenfalls viele weitere Sportarten wie Handball, Schwim- men, Tischtennis oder Schach an. Besonders erfolgreich war ihre Fußballmannschaft. 164 Neben diesen sportlichen Zusammenkünften übernahm die „Hakoah“ aber ebenfalls eine wichtige Rolle in der Organisation von gesell- Abbildung 1: Werbung Purimveranstaltung der Hakoah, Graz, 1932. schaftlichen Zusammenkünften. Neben „Bun- Quelle: N. N., Anzeige Purimveranstaltung. In: ten Abenden“ und Purim-Kostümbällen gab „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde es außerdem sonntags Tanz im Clubheim, Graz” vom März 1932, p. 5. dem Café Rosegger.165 Ab Beginn der 1930er Jahre wurde das Veranstaltungsspektrum weiter ausgebaut und es wurden auch spezielle Bildungsveranstaltungen, die wöchentlich in Zusam- menarbeit mit der zionistischen Ortsgruppe angeboten wurden, organisiert.166 Somit war die „Hakoah“ über die gesamte Zwischenkriegszeit ein wichtiger Faktor für die innerjüdische Ge- meinschaft. Gleichzeitig präsentierte und positionierte der Verein die Grazer Judenschaft auch im Grazer Stadtbild. Sportliche Erfolge waren während der Zwischenkriegszeit eine der weni- gen Möglichkeiten für Jüdinnen und Juden, durch ihre Leistungen öffentlich wahrgenommen und anerkannt zu werden.167 Matthias Marschik beschreibt dies wie folgt: „Es war die spezifische Eigenweltlichkeit der populären Massenkulturen des Sports, die es erlaubte, die umgebenden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen mitun- ter zu durchbrechen, sportliche Popularkulturen zu kreieren. Das war zum einen die Vo- raussetzung für Juden und Jüdinnen, sich in diesem partiellen Freiraum in besonderer Weise zu etablieren, wie es zum anderen für Nicht-JüdInnen einen Raum öffnete, Anti- semitismus unverblümter zum Ausdruck zu bringen, aber eben auch einen Ort bot, an dem antijüdische Ressentiments einer ansatzweisen Akzeptanz oder sogar Bewunderung weichen konnten.“168

Nichtsdestotrotz wurde der faire Sportsgedanke von den nichtjüdischen Clubs nicht immer ge- tragen. So wurden vor allem der in den 1920er Jahren sehr erfolgreichen Fußballsektion immer

164 HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 180–181. – LAMPRECHT / MACHER- KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 187. 165 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 100. 166 BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 210. 167 HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 180. 168 MARSCHIK Matthias, Von jüdischen Vereinen und „Judenclubs“. Organisiertes Sportleben um die Jahrhundertwende. In: Evelyn ADUNKA / Gerald LAMPRECHT / Georg TRASKA (Hgg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (= Schriften des Centrums für jüdische Studien 18). Innsbruck-Wien-Bozen 2011, p. 241. 37

wieder Steine in den Weg gelegt. Andere Clubs weigerten sich des Öfteren gegen die jüdischen Sportler anzutreten und verhinderten damit den Aufstieg der „Hakoah“ in die oberste Liga. Auch wenn der Erfolg der „Hakoah“ im Fußball während der 1930er Jahre beständig abnahm, so war der jüdische Verein in anderen Sektionen bei Wettbewerben immer gut durch jüdische AthletInnen vertreten. Der Erfolg des Vereins hielt sich somit bis zum „Anschluss“ 1938.169

Abbildung 2: Briefpapierkopf der Hakoah, Graz, 1922.

Quelle: StLA, 206-So-012-1936.

Den Anspruch, ebenso wie die „Hakoah“ in der Öffentlichkeit zu stehen, verfolgten die meisten anderen jüdischen Vereine in Graz weniger bis gar nicht.170 Dennoch waren sie für das jüdische Leben in Graz von zentraler Bedeutung. Für die männlichen Glaubensgenossen sei hier als Beispiel der Männerbund „B’nai B’rith“ genannt. Nachdem in Wien bereits seit länge- rer Zeit eine Loge bestand, kam es 1928 auch zur Gründung einer eigenen Loge in Graz. Mit- glieder waren meist wohlhabende, jüdische Bürger, die es sich zum Ziel setzten, innerjüdische Solidarität zu fördern sowie ihre jüdischen MitbürgerInnen zu unterstützen.171 Auch verschie- dene Frauenvereine verfolgten karikative Zwecke sowie die Förderung des jüdischen Selbstbe- wusstseins. Der „Lesezirkel jüdischer Frauen und Mädchen“ ist nur ein Beispiel für solch einen Verein. Dieser zionistisch ausgerichtete Verein wollte jüdische Literatur weiterverbreiten und zudem wurden auch gesellschaftliche wie künstlerische Veranstaltungen organisiert. Jüdinnen konnten diesem Verein ab dem 15. Lebensjahr beitreten, sofern sie keine öffentliche Schule

169 HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 181. – RÜTGEN, Antisemitismus in allen Lagern, 1989, p. 413–414. – HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 182. 170 Die folgende Ausführung stellt eine kleine Auswahl jüdischer Vereine in Graz dar. Für eine genauere Beschrei- bung der jüdischen Vereinslandschaft in Graz siehe LAMPRECHT, Räume der Vergemeinschaftung, 2011. – RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971. – SALZER-EIBENSTEIN, Geschichte der Juden in Graz, 1971. 171 BREITLER, B'nai B'rith in Graz, 2004, p. 191. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 207–208. 38

besuchten.172 Ferner gab es zahlreiche jüdische Studentenverbindungen, wie etwa die „Chari- tas“. Nachdem der Hauptzweck dieser Verbindung bei der Gründung noch in der Unterstützung von jüdischen Glaubensbrüdern und -schwestern lag – jüdische Studierende wurden durch die- sen Verein während ihrer Studienzeit bei finanziellen Engpässen unterstützt – wandte sich die akademische Verbindung mit dem steigenden Antisemitismus dem Zionismus zu. Zur Vertei- digung gegen antisemitische Studierende und Verbindungen verständigte man sich mit Beginn der 1930er Jahre auf eine aktive Abwehrhaltung, die mit Fechtübungen und dergleichen erreicht werden sollte.173 Neben diesen (hauptsächlich) Erwachsenen vorbehaltenen Vereinen gab es aber auch einige, die Kinder und Jugendliche als Zielgruppe ansprachen. Sie waren oft stark zionistisch geprägt und stießen deshalb bei assimilierten Eltern häufig auf Ablehnung.174 In Graz gab es eine Ortsgruppe des „Haschomer-Hazair“, des Pfadfinderbundes, die am 27. Juli 1928 gegrün- det wurde. In den folgenden Jahren konnte man in der Neuholdaugasse 44 ein eigenes Heimlo- kal etablieren. Mitglieder waren Kinder und Jugendliche beider Geschlechter zwischen zehn und 20 Jahren, die innerhalb der Organisation in kleinere Gruppen mit ungefähr zehn Mitglie- dern unterteilt waren. Drei Jahre nach Gründung des Vereins, im Jahr 1931, waren bereits über 100 jüdische Kinder und Jugendliche aus Graz Mitglieder.175 Im Verhältnis zur geringen jüdi- schen Gesamtbevölkerung kann daraus geschlossen werden, dass ein großer Teil der jüdischen Mädchen und Jungen dem „Haschomer-Hazair“ angehörte. Neben Diskussions- und Vereins- abenden bot der Verein auch Wanderungen, sowie Vorführungen von Palästinafilmen, die das zionistische Wissen der Mitglieder verbessern sollten. Konkret wurden wöchentlich folgende Angebote gesetzt: „Zweimal die Woche fanden Hebräischkurse, ebenso zweimal obligatorisches Turnen (unter der Leitung von Karl Schwarz) und Proben des eigenen Organisationschores statt. Samstags jeweils wurde nach dem Gottesdienst die traditionelle Sabbatfeier der ganzen Organisation veranstaltet, wobei man palästinensische Volkslieder sang oder Erzählun- gen aus Palästina lauschte. Anschließend an die Sabbatfeier, in deren Verlauf der religiöse Aspekt wohl kaum von großer Bedeutung gewesen zu sein scheint, fand ein jüdischer Geschichtskurs unter Leitung von Frau Dr. Manka Spiegel statt.“176

172 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 201. – REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 103. – StLA, LReg-206-Le-172-1935. 173 BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 207. – LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 32. 174 LAPPIN-EPPEL Eleonore, Zions Töchter. Mädchen in der jüdischen Jugendbewegung. In: Gerald LAMPRECHT (Hg.), „So wirkt ihr lieb und hilfsbereit…“. Jüdische Frauen in der Geschichte (= CLIO Historische und gesellschaftspolitische Schriften 8). Graz 2009, p. 96. 175 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 108. 176 Ebda., p. 109. – N. N., Die Arbeit des „Haschomer-Hazair“. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom März 1934. 39

In den Sommerferien gab es zudem das Angebot für die Mitglieder an mehrwöchigen Sommer- lagern teilzunehmen.177 Diese fanden beispielsweise in Rohrbach-Vorau oder Velden am Wörthersee statt.178 Aber auch Winterlager mit Schikursen wurden vom „Haschomer-Hazair“ veranstaltet.179 Ziel des „Haschomer-Hazair“ war es grundsätzlich die Mitglieder geistig und moralisch, aber auch körperlich auf das Leben in Palästina vorzubereiten.180 Diese Absicht wird in den Statuten wie folgt beschrieben: „Zweck des Bundes: Der Bund stellt sich zur Aufgabe, unter der jüdischen Jugend in Graz die Jugend- und Wanderbewegung zu fördern. Dem Bund obliegt die geistige und ethi- sche Ausbildung seiner Mitglieder. Dieselbe geschieht durch: Ausflüge, Betreiben von Sport, Uebungen [sic] im Freien, Unterricht in der ersten Hilfe, Hygiene, in allgemeinen [sic] Wissen und Pflege der [sic] und kulturellen Volksgüter. In Bezug auf die ethische Erziehung hat der Bund seinen [sic] Mitglieder zu ehrenhaften, sozialdenkenden und ar- beitsfreudigen Menschen zu erziehen.“181

Auch wenn dies das offizielle Ziel war, so zeigen Berichte in den „Mitteilungen der Israeliti- schen Kultusgemeinde Graz“, dass auch die Geselligkeit nicht zu kurz kam. 1934 veranstaltete man darum zum Beispiel ein Purimfest, bei dem die verschiedenen Gruppen des Vereins Tänze, Lieder und kurze Theaterstücke aufführten.182 Nachdem sich die zionistischen Tendenzen über die Jahre verstärkten, gründete man gemeinsam mit der Pionierorganisation „Hechaluz“ 1934 einen Stadtkibbuz zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina in der Münzgraben- straße 51.183 Aus Akten des Steiermärkischen Landesarchivs geht hervor, dass die Statuten 1937 dahingehend geändert wurden, dass der Name von „Jüdischer Pfadfinderbund ‚Hascho- mer-Hazair““ zu „Jüdischer Pfadfinderbund ‚Techeleth-Lawan‘ Blau-Weiß“ geändert wurde.184 Zum Vereinsleben vor 1937 liegen für „Blau-Weiß“ im Steiermärkischen Landesar- chiv keine weiteren Akten auf, in Erzählungen der ZeitzeugInnen wird der Verein jedoch häufig genannt. Ein weiterer jüdischer Verein war der Mittelschülerbund „Brith-Herzl“. Bei der Ver- sammlung anlässlich der Gründung am 22. Februar 1932 waren neben den Vorstandsmitglie- dern und 30 Jugendlichen auch VertreterInnen der „Zionistischen Ortsgruppe Graz“ sowie des „Haschomer-Hazair“ anwesend. Mitglieder konnten alle jüdischen MittelschülerInnen ab dem

177 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 108. 178 N. N., Jüdischer Pfadfinderbund Haschomer-Hazair Graz. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Juli 1932, p. 7. 179 N. N., Die Arbeit des „Haschomer-Hazair“, März 1934. 180 REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 109. 181 StLA, LReg.-206-Pa-015-1936. 182 N. N., Purimfest des Haschomer-Hazair. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1934, p. 3. 183 STRUTZ, „Suddenly I was a Judenbua“, 2009, p. 71–72. – REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 112. 184 StLA, LReg.-206-Pa-015-1936. 40

17. Lebensjahr, sowie SchülerInnen der Handelsakademie und der Bulme werden. Auch bei diesem Verein stand die Abwehr von Antisemitismus im Vordergrund. Deshalb wurde einer- seits auf eine zionistische Bildung, die Palästinographie und jüdische Geschichte umfasste, ge- setzt. Andererseits stand der sportliche sowie kameradschaftliche Aspekt im Mittelpunkt der Vereinsarbeit. Neben Heimabenden wurden Wanderungen für die Mitglieder angeboten. Die Tätigkeit des Vereins scheint beachtlich, wird in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultus- gemeinde Graz“ doch angegeben, dass zwischen März und Juli des Jahres 1932 bereits 36 Abende, „darunter 12 gesellige Zusammenkünfte, 18 Referate und 6 Besuche mit Vorträgen im Rahmen der ‚Zionistischen Ortsgruppe‘, weiters 10 Wanderungen“ besucht, bzw. veranstaltet worden waren.185 Nach nicht einmal zwei Jahren wurde der Verein bereits wieder behördlich aufgelöst, da es, so hieß es, MittelschülerInnen gesetzlich nicht gestattet wäre, aus Eigeninitia- tive heraus einen Verein zu gründen, sofern dieser sich nicht der Pflege der österreichischen vaterländischen Gesinnung oder der „sittlich religiösen Erziehung“ verschrieb. Nachdem keine der beiden Anforderungen offiziell auf „Brith-Herzl“ zutraf, wurde der Verein somit am 11. Dezember 1933 aufgelöst.186 Zum „Haschomer Hazair“ und zum „Brith-Herzl“ kommt noch „Berit Trumpeldor Ken Graz“, kurz „Betar“ genannt hinzu. Dabei handelt es sich um eine Ortsgruppe der 1923 in Riga gegründeten Jugendbewegung „Joseph Trumpeldor Union“ („Betar“), die eine revisionistische Ausrichtung verfolgte. Die Gruppe war sehr erfolgreich und konnte 1934 weltweit bereits 40.000 Mitglieder in 24 Ländern zählen.187 In Graz erfolgte die Vorlage der Statuten im Jahr 1934 durch den Vorsitzenden Berthold Fleißig, der zuvor auch Obmann des Mittelschülerbun- des „Brith-Herzl“ gewesen war, ehe dieser aufgelöst wurde. Behörden meldeten keine Beden- ken an und so wurde der Verein, der im Oktober 1934 bereits ungefähr 50 Mitglieder umfasste und sein Vereinsheim in der Paradeisgasse 3 hatte, offiziell anerkannt.188 Die Ziele des Vereins werden in den Statuten wie folgt beschrieben: „Der jüdische Pfadfinderbund Berit Trumpeldor Ken Graz ist eine unpolitische Vereini- gung. Er bezweckt: a) die Erziehung weitester Kreise der jüdischen Jugend (Knaben und Mädchen) zu nationalen Juden b) die Ausübung der gesamten Pfadfindertechnik, sowie sportliche Ausbildung (Leichtathletik, Turnen, Kraftsport und Touristik) c) die Pflege der

185 N. N., Verband Zionistischer Mittelschüler, Graz. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom November 1932, p. 5–6. 186 VERDNIK Alexander, „Ein ernstes Wort in ernster Zeit“. Die Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz in den 1930er-Jahren. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 44 (2015), p. 128–129. – REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 109–110. – StLA, LReg-206-Mi-012-1932. 187 REZNIK Shlomo, Betar. Sports and Politics in a Segmented Society. In: Israel Affairs 13. Jg. (2007) H 3, 188 StLA, LReg-206-Ju-031-1936. 41

hebräischen Sprache und Studium der jüdischen Geschichte und Kultur, unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Tradition (Religion).“189

Die Mitgliedschaft stand jüdischen Jungen und Mädchen ab zehn Jahren offen. Zudem bekamen Mitglieder schokoladenbraune Uniformen mit dunkelblauem Halstuch und Überschwung (siehe Abbildung 3).190 Das Programm kann durchaus als straff bezeichnet werden. Die „Mit- teilungen der Israelitischen Kultusgemeinde“ enthalten einen Arbeitsplan des Jahres 1934, aus dem ersichtlich ist, dass Veranstaltungen an fünf Abenden in der Woche stattfanden. Einen Teil davon machten Seminare der „Zionistischen Ortsgruppe“ aus, die für die Mitglieder des „Betar“ verpflichtend zu besuchen waren.191

Abbildung 3: Skizze Uniform des Betar, Graz, 1934.

Quelle: StLA, StLA, LReg-206-Ju-031-1936.

189 StLA, LReg-206-Ju-031-1936. 190 StLA, LReg-206-Ju-031-1936. 191 FOLLENHALS David, „Hechaluz“, Snif Graz. Arbeits-Kalender. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Jänner 1934, p. 1. 42

Wie bereits erwähnt, kann die Gründung jüdischer Vereine u. a. auch als Reaktion auf den steigenden Antisemitismus gesehen werden. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 begann auch in Graz wieder die Zeit einer ökonomischen Krise, die mit einem Anstieg des Antisemi- tismus einherging.192 Gerald Lamprecht und Dieter A. Binder bezeichnen die Jahre 1932/1933 als Durchbruch des Antisemitismus aufgrund des Aufkommens des Nationalsozialismus als Massenbewegung.193 Die sich radikalisierende Bevölkerung fand dabei u. a. in den Jüdinnen und Juden ein Feindbild. Angemerkt soll hier aber dennoch werden, dass das Judentum nicht das einzige Feindbild darstellte und auch andere Gruppen und Personen ausgegrenzt und ange- griffen wurden, da das Gewaltpotential in der Bevölkerung generell sehr hoch war.194 Seit den beginnenden 1930er Jahren waren jedoch vor allem NationalsozialistInnen dafür bekannt, ihren Antisemitismus offen zur Schau zu stellen und so kam es immer wieder zu Angriffen und Ge- walt gegen Jüdinnen und Juden beispielsweise auf offener Straße und an den Universitäten. Besonders in den Bildungsinstitutionen konnte sich eine antisemitische Grundhaltung rasch etablieren. Dies liegt u. a. daran, dass sich viele Studierende aber auch Lehrende sehr früh mit dem nationalsozialistischen Gedankengut identifizierten und dieses somit bereits zeitig Einzug in Hochschulen hielt.195 Auch in den jüdischen Zeitschriften, den „Hakoah Nachrichten“ sowie den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“, wurde immer öfters über antise- mitische Übergriffe berichtet.196 Dies hängt womöglich auch damit zusammen, dass neben Pri- vatpersonen im Besonderen jüdische Veranstaltungen Ziel antisemitischer, meist deutschnatio- naler und nationalsozialistischer, Gewalt wurden. Beispielhaft sei hier genannt, dass Theater- vorstellungen immer wieder gestört wurden.197

192 BIEDERMANN / MORETTI / REISINGER / TREBUCH, Sozio-ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens, 2018, p. 78. 193 LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 33. 194 Albert Lichtblau nennt in diesem Zusammenhang den Justizpalastbrand 1927 und die Ermordung des Bundes- kanzlers Engelbert Dollfuß im Jahr 1934 als Beispiele: LICHTBLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn, 2006, p. 507–508. 195 BAUER Kurt, Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 350. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 213–214. – LAMPRECHT / MACHER- KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 191. – SCHMIDLECHNER Karin M. / WIND Viktoria, Frauen in Graz von 1918 bis 1938. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 48 (2018), p. 134. 196 HALBRAINER, Turn- und Sportbewegung, 2004, p. 184. – N. N., Von der Hakoah! In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Juli 1933, p. 4–5. – N. N., Die Hakoah im Jahre 1933. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1933, p. 3–4. 197 LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 191, 193. 43

3.5. Jüdisches Leben im austrofaschistischen „Ständestaat“ Im Jahr 1933 erreichte die Arbeitslosigkeit in Österreich ihren Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt waren 557.000 Menschen in der Republik unbeschäftigt.198 Obwohl die gesamte Wirtschaft schwer durch die Krise getroffen war, verzeichnete der Handel eine geringere Arbeitslosen- quote als die meisten anderen Sparten. Nachdem beinahe die Hälfte der Grazer Jüdinnen und Juden in diesem Sektor tätig war, waren sie demnach weniger stark von Arbeitslosigkeit betrof- fen als die übrige Bevölkerung.199 Während des „Ständestaates“ erlangte der Antisemitismus einen neuen Höhepunkt. Jüdische Geschäftstreibende wurden systematisch benachteiligt, in- dem man sie von öffentlichen Lieferaufträgen ausschloss. Zudem wurden vor allem in der Vor- weihnachtszeit Boykottaufrufe für „jüdische“ Geschäfte gestartet, die ChristInnen dazu bewe- gen sollten, nur bei ChristInnen zu kaufen.200 Neben dem Rückzug in die innerjüdische Ge- meinschaft, der Abwehr des Antisemitismus und dem Zulauf zum Zionismus ist während dieser Zeit vor allem die Abwendung vom Judentum markant.201 So erhöhte sich die Anzahl der Aus- tritte aus der IKG, die oftmals mit einem Übertritt zum Christentum einhergingen, bereits vor dem „Anschluss“ massiv. Viele Jüdinnen und Juden versuchten dadurch einerseits dem Anti- semitismus zu entkommen, und anderseits den geschäftlichen Benachteiligungen, die sie durch ihre Zugehörigkeit zum Judentum erlitten, obwohl sie sich oft gar nicht mehr damit identifi- zierten, zu umgehen.202 Heimo Halbrainer und Gerald Lamprecht meinen gar, dass die Konver- sion zum Christentum „häufig auch einem Bekenntnis zur liberalen, aufgeklärten und bürgerli- chen Kultur gleichzusetzen“ ist,203 quasi einem Endpunkt der Assimilation, die im Aufgehen in der Mehrheitsreligion endet. Hinzu kommt auch noch die Überlegung aus steuerlichen Grün- den auszutreten und sich damit die Kultussteuer zu sparen, denn die christliche Kirchensteuer wurde erst in der NS-Zeit eingeführt. Neben der zunehmenden Austrittsbewegung büßte die Grazer Gemeinde aber auch durch einen Geburtenrückgang, eine hohe Sterblichkeitsrate sowie durch Abwanderungen Mitglieder ein. Während der Jahre 1910 und 1934 reduzierte sich die

198 BIEDERMANN / MORETTI / REISINGER / TREBUCH, Sozio-ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens, 2018, p. 102. 199 Dieter Binder gibt an, dass 48,5 Prozent der Grazer Jüdinnen und Juden den Handelsleuten angehörten: BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 206. – BIEDERMANN / MORETTI / REISINGER / TREBUCH, Sozio-ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens, 2018, p. 103–104. 200 EMINGER Stefan, „Christen, kauft bei Christen!“. Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 551. 201 Interview Dieter A. Binder mit Wolfgang Sotill. Zit. in: SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 133–134. 202 RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 162. 203 HALBRAINER / LAMPRECHT, „So dass uns Kindern…", 2010, p. 61. 44

Mitgliederzahl von beinahe 2.000 auf ungefähr 1.700, während für die Grazer Gesamtbevölke- rung ein leichter Anstieg zu vermerken ist.204 Das Verhältnis zwischen dem „Ständestaat“ und der Grazer jüdischen Gemeinde kann als ambivalent beschrieben werden. Während sowohl Teile der Regierung wie auch der Vater- ländischen Front offen antisemitisch auftraten, so sah man im „Ständestaat“ dennoch einen Verbündeten gegen und einen Beschützer vor dem Nationalsozialismus.205 Alexander Verdnik zitiert in diesem Kontext die „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde“, die darauf hin- wiesen, dass die in Deutschland vorherrschende Situation auch in Österreich zur Realität wer- den könnte.206 Auch Rabbiner Dr. Herzog gibt in seinen Erinnerungen an, dass man Berichte von deutschen Jüdinnen und Juden erhielt, die von ihren Erlebnissen in Konzentrationslagern erzählten: „Als nämlich Geflüchtete aus Deutschland kamen, Menschen, die in Konzentrationsla- gern in monatelanger Gefangenschaft misshandelt, geschlagen und seelisch gebrochen worden waren, das Land verließen und zu uns kamen und uns von ihren Torturen erzähl- ten, da glaubten wir ihnen einfach nicht. Denn was sie erzählten, erschien uns so unglaub- würdig, weil wir nicht glauben konnten, dass menschliche Wesen moralisch so tief sinken konnten.“207

Man war sich also der bedrohlichen Situation, die das nationalsozialistische Regime in Bezug auf das Judentum verkörperte, durchaus bewusst und sah aus diesem Grund im „Ständestaat“ die einzige Möglichkeit zur Bewahrung eines eigenständigen österreichischen Staates, der den „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland abwehrte. Hinzu kommt, dass weder Engelbert Dollfuß (1892–1934) noch später Kurt Schuschnigg (1897–1977) in ihren Ämtern als Bundeskanzler öffentlich antisemitisch auftraten und sich sogar um einen neutralen Kurs bemühten. Für diesen Umstand führt Helmut Wohnout mehrere Gründe an. Zum einen ver- suchte man damit, die Argumentationen der NationalsozialistInnen zu entkräften, zum anderen wollte man so der katholischen Wählerschaft entgegenkommen, die zumindest teilweise den rassistischen Antisemitismus verurteilte. Aber auch die Unterstützung der jüdischen Bevölke- rung, die man sich damit gegen Hitler-Deutschland sichern konnte, war wohl ein weiterer Grund. Vorteilhaft wurde diese Haltung weiters auch im Ausland aufgenommen, da man sich damit klar vom nationalsozialistischen Deutschland abgrenzte und somit die Unabhängigkeit

204 BINDER, Antisemitismus und Judentum, 1988, p. 2. – REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 62. – REITTER, Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, 1988, p. 151. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 204. – MOSER Jonny, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945. Wien 1999, p. 14–15. 205 LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 198– 199. 206 VERDNIK, „Ein ernstes Wort in ernster Zeit“, 2015, p. 125. 207 HALBRAINER Heimo / LAMPRECHT Gerald / SCHWEIGER Andreas, Meine Lebenswege. Die persönlichen Aufzeichnungen des Grazer Rabbiners David Herzog. Graz 2003, p. 27. 45

Österreichs betonte.208 Ungeachtet dieser Gründe ist jedenfalls festzuhalten, dass die jüdische Bevölkerung den „ständestaatlichen“ Bundeskanzlern eher positiv gegenüberstand. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass in der Grazer Synagoge ein Dankgottesdienst abgehalten wurde, als das nationalsozialistische Attentat gegen Engelbert Dollfuß im Oktober 1933 fehlschlug. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Aufruf der Kultusgemeinde an Jüdinnen und Juden, in Ös- terreich Urlaub zu machen, um so den durch die nationalsozialistische Tausend-Mark-Sperre erzeugten Schaden zu reduzieren.209 Weiters wurden in der im Mai 1934 eingeführten Verfas- sung die Rechte der Jüdinnen und Juden nicht gekürzt, was man dankend anerkannte.210 Auch der Nachruf für Engelbert Dollfuß, nachdem dieser dem Putschversuch der NationalsozialistIn- nen im Juli 1934 zum Opfer gefallen war, zeugt von einer Anerkennung des Bundeskanzlers seitens der jüdischen Gemeinde. So heißt es darin etwa: „Denn in dieser Zeit, als der Haß, der gegen unsere Brüder und ihre Rechte anstürmte, war Bundeskanzler Dollfuß derjenige, der unbeirrt von den Losungen einer verhetzten Minderheit in der neuen ständischen Verfassung unsere Gleichberechtigung verankerte, eine Tat, die vielleicht nicht populär war, aber dem Gefühl der Gerechtigkeit und der inneren Verantwortung als Führer entsprang. Wir wissen ihm Dank dafür, dass er uns nicht zu Menschen zweiter Sorte stempeln ließ.“211

Dem gegenüber standen jedoch offensichtlich antisemitische PolitikerInnen und Wirtschafts- treibende, die stark diskriminierende Aktionen provozierten. Der wirtschaftliche, politische, aber auch gesellschaftliche Alltag der Jüdinnen und Juden wurde somit eindeutig von juden- feindlichen Tönen begleitet.212 Shulamit Volkov spricht in diesem Zusammenhang vom Anti- semitismus als „kulturellem Code“. „Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager. Man drückte dadurch die Über- nahme eines betimmten [sic] Systems von Ideen und die Präferenz für spezifische soziale, politische und moralische Normen aus.“213

Der Antisemitismus fußte somit weniger auf einer Ablehnung der Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer Religion, sondern war eine Selbstverständlichkeit, die zur „deutschen“ Kultur gehörte und

208 WOHNOUT Helmut, Politischer Katholizismus und Antisemitismus. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 178–179. 209 Unter der Tausend-Mark-Sperre versteht man eine Gebühr von 1000 Mark, die deutsche Urlauber zu zahlen hatten, wenn sie in Österreich Urlaub machen wollten. Dadurch, dass die deutschen Touristen einen erheblichen Anteil im österreichischen Fremdenverkehr ausmachten, sollte Österreich damit wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden. Siehe REITTER, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, 1988, p. 79, 163. 210 WOHNOUT, Politischer Katholizismus und Antisemitismus, 2018, p. 180–181. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 212–213. 211 Zit. in: WOHNOUT, Politischer Katholizismus und Antisemitismus, 2018, p. 181. 212 TÁLOS Emmerich, Antisemitismus und Vaterländische Front. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 289. 213 VOLKOV Shulamit, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, p. 23. 46

deshalb auch nicht hinterfragt wurde.214 Gerald Lamprecht und Heribert Macher-Kroisenbrun- ner halten fest, dass dieses Prinzip, als welches der Antisemitismus angesehen wurde, in breiten Bevölkerungsschichten einen wesentlichen Teil des Selbstverständnisses ausmachte und in un- terschiedlichen Gesellschaftsgruppen Anklang fand.215 Einzelne Gruppierungen und Parteien nutzten den Antisemitismus wiederum, um innere Differenzen auszugleichen. Der Antisemitis- mus erfüllte somit, beispielsweise in katholischen Vereinen, die Funktion einer gemeinsamen Basis.216 Diese stark antisemitische Umwelt kann in Graz nicht auf einen hohen Anteil von Jü- dinnen und Juden in der Bevölkerung zurückgeführt werden, lag ihr Bevölkerungsanteil ja im- mer unter 1,5 Prozent. Vielmehr handelte es sich bei diesem Phänomen in Graz um einen An- tisemitismus „aus zweiter Hand“. Die Zustände aus dem als „verjudet“ diffamierten Wien, das immerhin einen jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa zehn Prozent hatte, wurden auf Graz übertragen, obwohl die Ausgangslage dort eine ganz andere war.217 Trotz der feindlichen Um- gebung war die Anzahl der Jüdinnen und Juden, die noch vor dem „Anschluss“ auswanderten, relativ gering. Victoria Kumar ermittelt für die 1930er Jahre etwa 100 Grazer Jüdinnen und Juden, die nach Palästina emigrierten. Aufgrund der wirtschaftlich sowie politisch unsicheren Lage wie auch der klimatischen Bedingungen war „Erez Israel“ zu diesem Zeitpunkt jedoch generell kein beliebtes Ziel.218 Nichtsdestotrotz erfreute sich der Zionismus in diesen Jahren eines regen Aufschwungs. Interessanterweise wurde er auch von der „ständestaatlichen“ Re- gierung unterstützt, da er eine klare Trennung zwischen der christlichen und der jüdischen Be- völkerung forcierte und dazu noch die Anzahl der jüdischen Bevölkerung in Österreich verrin- gern sollte, was ebenso begrüßt wurde.219 Ein Zeichen der Segregation wurde ebenfalls durch den Parallelklassenerlass 1934 ge- setzt. Dabei wurde festgelegt, dass jüdische SchülerInnen in eigenen Klassen zusammengefasst und getrennt von christlichen Kindern unterrichtet werden sollten. Dieser Erlass war jedoch nur für Wien gültig und wurde auch hier nur sporadisch umgesetzt. Aufgrund von Beschwerden und einigen Problemen bei der Umsetzung, wie beispielsweise Raumnot, da nicht genügend

214 ALBRICH, Vom Antijudaismus zum Antisemitismus, 2018, p. 43. 215 LAMPRECHT / MACHER-KROISENBRUNNER, Religiöse Beziehungen in Graz 1918–1938, 2018, p. 188– 190. 216 WENNINGER, „…für das ganze christliche Volk eine Frage auf Leben und Tod“, 2018, p. 199. 217 RÜTGEN, Antisemitismus in allen Lagern, 1989, p. 396. 218 KUMAR, In Graz und andernorts, 2013, p. 175. 219 HECHT, Jüdische Frauen und Frauenvereine, 2009, p. 62. 47

Klassenzimmer zur Verfügung standen, versandete der Erlass schließlich im darauffolgenden Schuljahr und man kehrte zu den gemischten Klassen zurück.220 Bereits vor dem „Anschluss“ im März 1938 gab es in der Steiermark Nationalsozialis- tInnen, die seit den 1930er Jahren immer wieder Anschläge verübten. Ziele waren hierbei nicht nur „jüdische“ Betriebe, sondern meist staatliche Infrastruktur sowie Betriebe und Eigentum von Funktionären bzw. Unterstützern des „Ständestaates“.221 Ab 1934, dem Jahr des missglück- ten Putschversuchs der NationalsozialistInnen, wurde die antisemitische Einstellung durch Hit- lers AnhängerInnen in Graz immer offener gezeigt.222 Zum Jahresbeginn 1938 bekannten sich schließlich immer mehr Menschen öffentlich zu Hitler und dieser Trend machte auch vor Bil- dungsinstitutionen nicht Halt. Bereits im Februar nahmen ProfessorInnen und SchülerInnen öf- fentlich an nationalsozialistischen Veranstaltungen teil und begrüßten sich stumm mit dem Hit- ler-Gruß.223 Dass viele Leute mit Hitler-Deutschland sympathisierten, lag u. a. auch daran, dass die wirtschaftliche Situation in Österreich für viele BürgerInnen kaum zu bewältigen war. Die Arbeitslosenrate war seit Jahren fast unverändert hoch. In Deutschland hingegen trug ein wirt- schaftlicher Aufschwung zur Linderung der Not der Bevölkerung bei.224 Wie dieser Wirt- schaftsaufstieg vonstattenging, dass die jüdische Bevölkerung dabei starken Diskriminierungen ausgesetzt war, wurde meist außer Acht gelassen.

3.6. „Anschluss“ und Folgen Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme am 12. März 1938 sollte sich das Leben für Jüdinnen und Juden in Graz augenblicklich verändern. Gleich in den ersten Tagen wurden die Vorstände und führenden Funktionäre der IKG sowie weiterer jüdischer Vereine verhaftet. Sich ständig vermehrende Verbote und Schikanen machten der jüdischen Bevölkerung das Leben tagtäglich schwer. Neben Berufsverboten für jüdische BeamtInnen, wurde jüdischen Kindern mit dem Schuljahr 1938/1939 der öffentliche Schulbesuch verboten.225 Weiters wurden natio- nalsozialistische Posten vor „jüdische“ Geschäfte gestellt, die eine Schädigung der Geschäfts- tätigkeit anstrebten und die KundInnen am Eintreten hindern bzw. abschrecken sollten. Zudem kam es zu Einschränkungen, die ein orthodox religiöses Leben beinahe unmöglich machten, da

220 SPEVAK Stefan, Schule und Antisemitismus 1933 bis 1938. Erkenntnisse aus den Akten des Wiener Stadtschulrates. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 611–612. 221 BAUER, Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität, 2018, p. 353–354. 222 VERDNIK, „Ein ernstes Wort in ernster Zeit“, 2015, p. 126. 223 SCHEIPL Josef, Das Schulwesen in Graz im Jahr 1938. In: Franz Rupert HRUBI (Hg.), Universität – Bildung – Humanität. Festschrift für Alois Eder zum 70. Geburtstag. Wien 1989, p. 115. 224 BIEDERMANN / MORETTI / REISINGER / TREBUCH, Sozio-ökonomische Entwicklungslinien des Alltagslebens, 2018, p. 105. 225 RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 163. – HALBRAINER, Juden in der Provinz, 2001, p. 59–60. 48

ein Schächtverbot ausgesprochen, sowie der Besuch öffentlicher Bäder untersagt wurde.226 Hinzu kam der sukzessive Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben. So folgten Ausgehverbote sowie Betretungsverbote für Geschäfte, Kinos, Kaffeehäuser als auch Parkanlagen und eine Auflösung des jüdischen Vereinswesens.227 Dennoch wird berichtet, dass sich die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Graz jedenfalls bis zum Novemberpogrom in Grenzen hielten und die Stimmung bis November 1938 relativ ruhig war.228 Auch Menschen, die sich selbst gar nicht als Jüdinnen und Juden sahen, wurden den „Nürnberger Rassengeset- zen“ folgend ab dem 20. Mai 1938 als solche diskriminiert und verfolgt. Laut diesen Bestim- mungen galten in Graz zwischen 2.100 und 2.500 Personen als jüdisch.229 Zu diesen Personen zählten nicht nur Männer und Frauen, sondern ebenso Mädchen und Jungen. Auch Kinder betrafen vielfältige Änderungen und Diskriminierungsmaßnahmen. Schulpflichtige Kinder durften das Schuljahr 1937/1938 in Graz zwar beenden – in Wien wur- den sie sofort nach dem „Anschluss“ ausgeschult –, doch im darauffolgenden Schuljahr wurden alle jüdischen Kinder aus den öffentlichen Schulen genommen, in Sonderklassen zusammen- gezogen und an der jüdischen Volksschule und am Ferdinandeum unterrichtet. Damit baute man ein „schulisches Ghetto mit gleichzeitiger Dequalifikation“ auf.230 Der Lehrplan wurde dahingehende verändert, dass die jüdischen Mädchen und Jungen auf ein Leben in Palästina vorbereitet werden würden. Von da an standen handwerkliche Befähigung und Allgemeinwis- sen sowie Englisch im Vordergrund. Der Unterricht für die jüdischen SchülerInnen fand im Ferdinandeum nur mehr nachmittags zwischen 14:00 und 19:15 Uhr statt, um ein Zusammen- treffen mit den „arischen“ Kindern zu verhindern.231 Die antisemitische Stimmung, die schon vor dem „Anschluss“ das Grazer Klima be- herrscht hatte, hatte bereits den Grundstein gelegt, der dafür sorgen sollte, dass die nationalso- zialistische Machtübernahme ohne großen Widerstand aus der Bevölkerung angenommen, ja sogar begeistert herbeigewünscht wurde.232 Gerald Lamprecht meint in diesem Zusammen- hang, „dass der ‚Anschluss‘ zwar einen fundamentalen Systembruch darstellte, die ideologi- schen und mentalen Grundlagen für die folgenden Ereignisse ihre Wurzeln jedoch in den Jahren und Jahrzehnten davor hatten. Der Nationalsozialismus griff demnach auf den in Teilen der Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus zurück und ließ die bis dahin

226 LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 34. 227 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 517, 521. – SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 142– 143. 228 LAMPRECHT, Graz 1938, 2008, p. 1–2. 229 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 519. – STRUTZ, „Suddenly I was a Judenbua“, 2009, p. 61. 230 SCHEIPL, Das Schulwesen in Graz, 1989, p. 142. 231 Ebda., p. 141–144. 232 STRUTZ, „Suddenly I was a Judenbua“, 2009, p. 59. 49

in medialen Diskursen von Antisemiten ventilierten Forderungen nach Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Leben, aus der Gesellschaft zur brutalen Realität werden.“233

Diskriminierungen, die christlichen Personen zugutekamen, wurden dementsprechend von der Bevölkerung begrüßt. Es gab nur wenig Widerstand gegen die antisemitischen Aktionen der NationalsozialistInnen. Ein Beispiel, das belegt, dass es aber durchaus auch katholischen Wi- derstand gegen den Judenhass gab, ist die Katholikin Irene Harand (1900–1975), die sich in mehreren Schriften gegen die antisemitische Haltung des Regimes stellte.234 In weiterer Folge wandte sich auch der Theologe und Grazer Universitätsprofessor DDDDr Johannes Ude (1874– 1965) gegen die Gewalttaten im Zuge des Novemberpogroms.235 Abgesehen davon waren kri- tische Stimmen aber nur sehr selten zu vernehmen, was auch daran liegen mag, dass sich viele Personen durch die systematische Diskriminierung von Jüdinnen und Juden selbst bereicherten oder auf sonstige Art davon profitierten. Das NS-Regime sah vor, sich das gesamte jüdische Vermögen anzueignen, um einer- seits treue „Illegale“ zu belohnen und andererseits damit die nationalsozialistische Wirtschafts- politik voranzutreiben, da man mit der Übernahme der Betriebe direkt Einfluss auf die Wirt- schaft nehmen konnte.236 Ziel dieser sogenannten „‚Arisierung‘ war, unter dem Deckmantel der ‚Rechtmäßigkeit‘ und der ‚Legalität‘ das gesamte jüdische Eigentum in nichtjüdische Hände zu bringen“.237 Bereits im April 1938 wurde die „Vermögensverkehrsstelle“ in Graz eingerich- tet, bei der jüdische BürgerInnen ihre Gewerbe melden mussten. Zudem mussten Geschäfte und Wertgegenstände verkauft werden. Die Preise, die die EigentümerInnen dafür erhielten, waren sehr gering. Vor allem bei Liegenschaften und Gewerben nutzte man eine Methode, mit der man das Eigentum (beinahe) erstattungslos übernahm: Den jüdischen MitbürgerInnen wurde unter dem Vorwand, Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge nicht bezahlt zu haben, eine hohe Strafe vorgeschrieben. Nachdem diese aufgrund von Berufsverboten und Beraubung nicht bezahlt werden konnte, fielen die Gewerbe und Liegenschaften an den Staat und wurden von „arischen“ KäuferInnen durch Übernahme der Schulden günstigst übernommen. Mit dieser und anderen unfairen Methoden wurden zwischen 1938 und 1945 allein in der Steiermark 1.600 „Arisierungsfälle“ verzeichnet, bei denen jüdisches Eigentum liquidiert und unrechtmäßig an- geeignet wurde.238

233 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 515. 234 KLIEBER Rupert, Katholischer Antisemitismus im „Christlichen Ständestaat“ zwischen theologischen Prämissen und kirchlichem Antimodernismus. In: Gertrude ENDERLE-BURCEL / Ilse REITER-ZATLOUKAL (Hgg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938. Göttingen 2018, p. 246. 235 BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 224–225. 236 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 519. 237 Ebda., p. 519. 238 Ebda., p. 519. 50

Im Laufe des Jahres 1938 blieb es jedoch nicht nur bei solchen behördlichen Schikanen und Ungerechtigkeiten. Vielmehr kam es gegen Ende des Jahres auch zu aggressiven tätlichen Übergriffen. Im ganzen Reich wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November jüdischer Be- sitz zerstört und ein Großteil der männlichen jüdischen Bevölkerung verhaftet. Ausschlagge- bend dafür war das Attentat eines Juden auf einen nationalsozialistischen Mitarbeiter der deut- schen Botschaft in . Dieser Anlass wurde von der nationalsozialistischen Politik dafür ge- nutzt, das in Wahrheit lange geplante Pogrom als „spontane Empörung des Volkes“ darzustel- len.239 Dieser Vorfall wurde von den NationalsozialistInnen euphemistisch auch als „Reichs- kristallnacht“ bezeichnet, da die Glassplitter, die die Straßen bedeckten, an Kristalle erinner- ten.240 Das zerbrochene Glas stammte von den Auslagen und Fenstern „jüdischer“ Geschäfte und Betriebe. Während sich die Zerstörungen in Graz in Grenzen hielten, da viele der Geschäfte bereits „arisiert“ worden waren oder unter kommissarischer Verwaltung standen, war die Ge- waltanwendung gegenüber der jüdischen Bevölkerung umso grausamer. In Graz wurden in die- ser Nacht zahlreiche jüdische Familien in ihren Wohnungen bedroht, in umliegende Dörfer ge- trieben, schikaniert und gefoltert. 300 Männer wurden in der Polizeiwache Paulustor inhaftiert, von wo sie am darauffolgenden Tag zum Hauptbahnhof getrieben und ins Konzentrationslager Dachau deportiert wurden.241 Zudem gingen in dieser Nacht auch die Synagoge sowie die Ze- remonienhalle am Israelitischen Friedhof in Flammen auf und brannten infolgedessen bis auf die Grundmauern ab; die Reste wurden gesprengt.242 Erst unter Vorlage eines Ausreisepapiers wurden die Häftlinge wieder aus dem Konzent- rationslager entlassen und mussten unter Androhung einer erneuten Verhaftung innerhalb von kürzester Zeit das Land verlassen.243 Dies gestaltete sich ab dem Jahr 1939 jedoch zunehmend schwieriger. Viele Länder schlossen bald ihre Grenzen oder verlangten Bestätigungen, dass die Flüchtlinge im Zielland nicht dem Staat zur Last fallen würden. Solche sogenannten Affidavits mussten beispielsweise für eine Einreise in die USA von bereits dort lebenden Personen unter- zeichnet werden, die dafür bürgten, dass die EmigrantInnen auf keine Staatshilfen angewiesen sein würden.244 Zudem wurden Jüdinnen und Juden bei dem Versuch, alle notwendigen Papiere

239 RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 166. 240 Interview Erika Weinzierl mit Wolfgang Sotill. Zit. in: Wolfgang SOTILL. Es gibt nur einen Gott und eine Menschheit. Graz und seine jüdischen Bürger, hg. von Kurt D. BRÜHL / Helmut STROBL. Graz-Wien-Köln 2001, p. 71. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 222–223. 241 LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 35. – LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 529. 242 LAMPRECHT, Graz 1938, 2008, p. 7–8. – ROSENKRANZ Herbert, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945. Wien-München 1978, p. 161. – BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 222–223. 243 KUMAR, In Graz und andernorts, 2013, p. 180. 244 STRUTZ Andrea, Geteilte Leben. Erinnerungen jüdischer Vertriebener in den USA an NS-Verfolgung, Krieg und Österreich. In: Siegfried MATTL / Gerhard BOTZ / Stefan KARNER / Helmut KONRAD (Hgg.), Krieg 51

für die Ausreise zusammenzubekommen, systematisch schikaniert. Oft war dieser „Spießruten- lauf der Erniedrigungen“, wie Gerald Lamprecht es nennt, der Grund dafür, dass eine rechtzei- tige Emigration nicht veranlasst werden konnte.245 Bevor die Flüchtlinge das Land verlassen konnten, wurde ihnen zudem beinahe ihr gesamter Besitz abgenommen. Zuvor wohlhabende Familien mussten ihre Flucht mittellos antreten. Otto Rendi fasst die Abnahme des gesamten Kapitals unter dem Namen „Eichmanns System“ zusammen: „Die Juden, die auswandern wollten, mußten erst Reichsfluchtsteuer und Judenabgabe zahlen, ihre Wohnungen aufgeben, Vollmachten über allfällige Bankkonten erteilen. Sie verließen Eichmanns Büro ohne Geld und ohne Besitz. Alles, was sie dafür bekamen, war ein Paß, der innerhalb von 14 Tagen zur Ausreise benützt werden mußte, andernfalls wurde der Inhaber in ein KZ geschickt.“246

Sofern sich die jüdischen Familien die Ausreise selbst nicht leisten konnten, sahen die NS- Behörden vor, die Emigration von ausländischen Hilfsorganisationen bezahlen zu lassen.247 Jugendlichen und Kindern bot sich für kurze Zeit bei einer einmaligen Aktion die Mög- lichkeit, das Land ohne Eltern zu verlassen. Nachdem England damit begann, 5.000 jüdische Kinder und Jugendliche ins Land zu holen, erklärten sich auch weitere Länder, darunter Aust- ralien, die Schweiz, Frankreich und Belgien, dazu bereit, an der „Kinderverschickungsaktion“ teilzunehmen. Die jungen Flüchtlinge wurden sowohl in jüdischen als auch in nichtjüdischen Familien untergebracht und erhielten Unterstützung von den örtlichen jüdischen Gemeinden.248 Ein Projekt, das sich ähnlichen Rettungstransporten verschrieben hatte, war die bereits 1932 in Deutschland gegründete „Jugend-Alijah“. Diese Organisation wollte fünfzehn- bis siebzehn- jährige jüdische Jugendliche auf ein Leben in Palästina vorbereiten und sie zu qualifizierten Arbeitskräften ausbilden, die dort benötigt wurden. Nach dem „Anschluss“ wurden mit Hilfe der „Jugend-Alijah“ auch in Österreich Zertifikate für die Flucht nach Palästina vergeben. Ob- wohl viel mehr Plätze benötigt wurden, als verfügbar waren, bemühte man sich dennoch so viele Kinder und Jugendliche wie möglich nach Palästina in Sicherheit zu bringen.249 Die 305 Jüdinnen und Juden, die bis April 1940 noch in Graz wohnhaft waren, wurden nach Wien umgesiedelt und von dort schlussendlich in verschiedene Konzentrationslager

Erinnerung Geschichtswissenschaft (= Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 1). Köln-Weimar-Wien 2009, p. 126. – SOTILL, Es gibt nur einen Gott, 2001, p. 145. 245 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 526. 246 RENDI, Zur Geschichte der Juden, 1971, p. 168. 247 LAMPRECHT / BINDER, Die Grazer jüdische Gemeinde, 2000, p. 35. 248 KUMAR Victoria, Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945. Innsbruck-Wien-Bozen 2016, p. 161. 249 KUMAR Victoria, Das Ausbildungs- und Fluchtprogramm der Jugend-Alijah. Retrospektiven. In: Sabine HÖDL (Hg.), Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900 (= Juden in Mitteleuropa). St. Pölten 2014, p. 46–47. 52

deportiert und ermordet.250 Auch nachdem bereits alle Gläubigen aus Graz vertrieben worden waren, bestand die Kultusgemeinde als letzter jüdischer Verein offiziell weiter, da noch Lie- genschaften vorhanden waren, die sich die NationalsozialistInnen aneignen wollten. Erst am 8. September 1941 kam es schließlich zur offiziellen Auflösung der Gemeinde, die in Graz gut 70 Jahre zuvor mit viel Engagement gegründet worden war.251 Einem Großteil der jüdischen GrazerInnen gelang es, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und zu emigrieren. Wie viele Jüdinnen und Juden aus Graz der Shoah zum Opfer ge- fallen sind, kann aus unterschiedlichen Gründen nur schwer ermittelt werden. Zum einen gibt es über illegale Auswanderungen meist keine Aufzeichnungen, zum anderen wurden viele Flüchtlinge nicht direkt von Graz aus deportiert, sondern zuvor bereits nach Wien umgesiedelt, was dann auch als letzte Adresse vermerkt ist. Hinzu kommt weiters, dass einige jüdische GrazerInnen während ihrer Flucht in anderen Ländern von den NationalsozialistInnen eingeholt und von dort deportiert wurden. Gerald Lamprecht schätzt die Opferanzahl der jüdischen GrazerInnen in Anbetracht dieser Umstände auf ungefähr 750.252 Dies würde bedeuten, dass jede dritte Person, die nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ in Graz als „jüdisch“ gegolten hatte, von den NationalsozialistInnen ermordet wurde. Für das gesamte österreichische Staats- gebiet ermittelte Jonny Moser, dass 130.000 Jüdinnen und Juden aus Österreich vertrieben und 65.000 ermordet wurden. Nur 5.500 überlebten die sieben Jahre während des nationalsozialis- tischen Regimes in Österreich in „geschützten Mischehen“ oder versteckt als „U-Boote“.253 Zu den Überlebenden zählen auch die ZeitzeugInnen, deren Berichte über Kindheit und Jugend im Graz der Zwischenkriegszeit in den folgenden Kapiteln nachgezeichnet werden sol- len.

250 LAMPRECHT, Graz 1938, 2008, p. 10. 251 LAMPRECHT, „…das herrliche Spiel“, 2015, p. 522. 252 Ebda., p. 531. 253 MOSER, Demographie der jüdischen Bevölkerung, 1999, p. 5. 53

4. QUELLENKORPUS Der der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Quellenkorpus besteht aus 28 ZeitzeugInnen- interviews sowie neun autobiographischen Texten. Ausgewählt wurden die Quellen nach Her- kunft und Geburtsdatum der ZeitzeugInnen sowie der Interview- bzw. Textsprache. Alle Per- sonen sind entweder in Graz geboren oder während ihrer Kindheit nach Graz gezogen und ha- ben dort bis zum „Anschluss“ gelebt.254 Die Auswahl wurde weiters auf Personen einge- schränkt, die zwischen 1908 und 1932 geboren sind. Auch wenn Personen, die vor 1918 gebo- ren sind, ihre ersten Lebensjahre noch in der damaligen österreichisch-ungarischen Monarchie verbracht hatten, so fand doch ein beachtlicher Teil ihrer Kindheit in der Zwischenkriegszeit statt. Jene ZeitzeugInnen, die erst 1932 geboren sind, haben nur sehr wenige Erinnerungen an ihre Kindheit in Graz. Dennoch ist es hier sehr spannend zu sehen, wie erste Kindheitserinne- rungen an die Geburtsstadt mit der anschließenden Flucht und der weiteren Kindheit in der Emigration beschrieben werden. Aufgrund der kindlichen Anamnese wurden keine Zeugnisse von Personen, die nach 1932 geboren sind, aufgenommen, da davon ausgegangen werden kann, dass sie selbst kaum Erinnerungen an ihren Aufenthalt in Graz bis zum „Anschluss“ haben. Was die Sprache betrifft, so wurden Interviews und Texte in deutscher und englischer Sprache ausgewählt. Dadurch bleiben in den folgenden Überlegungen beispielsweise zwei weitere In- terviews, die von einer Jüdin und einem Juden aus Graz gegeben wurden, ausgespart, da eines in hebräischer sowie eines in französischer Sprache aufgenommen wurde.255 Das Geschlech- terverhältnis ist annähernd ausgewogen, denn es befinden sich Berichte von dreizehn Juden und von fünfzehn Jüdinnen im vorliegenden Quellenbestand. Von einigen Personen sind mehrere Interviews oder autobiographische Texte verfügbar, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ent- standen sind. Leo Dortort gab drei Interviews im Zuge verschiedener Projekte. Die Aufzeich- nungen entstanden 1994,256 2016257 und 2018258 und sind somit allesamt deutlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden. Dies bedeutet, dass in allen Interviews eine große zeitliche Distanz zwischen den erzählten Erlebnissen in Graz und dem Interviewzeitpunkt be- steht. Auch von Brigitte Wachs sind zwei Interviews aus verschiedenen Projekten vorliegend.

254 Gerda Eisler wurde1927 in Graz geboren, emigrierte mit ihren Eltern 1933 nach Palästina, von wo die Familie jedoch 1936 wieder zurückkam, ehe die Familie 1939 abermals nach Palästina auswanderte. 255 IARKONI Gila, O.33 C/ 3927. Yad Vashem, o. O. 11.08.1995. – ROSNER Ernst, Interview 15521. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Asnières-sur-Seine 24.05.1996. 256 DORTORT Leo, Interview 54747. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Montreal 22.06.1994. 257 DORTORT Leo, 2019.253.1815, United States Holocaust Memorial Museum. 10.01.2016; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn702175 [Abruf: 20.11.2020]. 258 DORTORT Leo, AHC 4066. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. Quebec 03.05.2018; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE4413845 [Abruf: 20.11.2020]. 54

Diese sind 1995259 und 2008,260 und somit auch deutlich nach Kriegsende, entstanden. Dasselbe gilt auch für die beiden Interviews, die Anna Weiss 1990261 und 1996262 gegeben hat. Bei den autobiographischen Texten verhält es sich ähnlich. Trude Philippsohn-Lang verfasste drei Be- richte. Während zwei während der Pension der ehemaligen Lehrerin entstanden sind,263 wurde ein dritter bereits 1942 im englischen Exil verfasst.264 Das vorherrschende Thema dieser frühen Aufzeichnung ist die Flucht und die Einfindung in ein neues Leben, während die beiden später verfassten Texte eher das gesamte Leben in den Blick nehmen. Von Otto Pollak sind ebenfalls drei Texte erschienen. Wann diese genau aufgezeichnet wurden, ist unklar. Erschienen sind sie 1996265, 2000266 und 2002.267 Während sich der Text, der 1996 erschienen ist, auf die Zeit nach dem „Anschluss“ und die Flucht fokussiert, zeichnet der Text, der 2000 erschienen ist, sein gesamtes Leben von der Kindheit an nach. Der letztverfasste Text ist als einziger in englischer Sprache verfasst. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. In diesem Text zeichnet Pollak neben seiner eigenen vor allem die Lebensgeschichten seiner Verwandten und FreundInnen nach und beschreibt deren Leben und Sterben. Die Herkunft der Quellen ist von unterschiedlicher Art. Gemeinsam ist dem Quellen- material, dass es sich dabei um Aussagen zur Kindheit und Jugendzeit von, während der Zwi- schenkriegszeit in Graz lebenden, Jüdinnen und Juden handelt. Diese Zeit wird in den einzelnen Selbstzeugnissen unterschiedlich stark thematisiert. Während sich manche der Zeugnisse, wie beispielsweise die Erzählung von Laura Cohn,268 stark auf die Kindheit konzentrieren, finden sich in anderen Erinnerungen kaum Aussagen zur Kindheit. Allen Interviews, die geführt wur- den, ist wiederum gemein, dass sie das gesamte Leben der Befragten in den Fokus stellen und nach der Zeit von der Kindheit bis zum Zeitpunkt des Interviews fragen. Dies führt dazu, dass

259 WACHS Brigitte, Interview 6069. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. New Jersey 29.08.1995. 260 WACHS Brigitte, AHC 3310. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. New Jersey 10.09.2008; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE4228774 [Abruf: 20.11.2020]. 261 WEISS Anna, 1993.A.0095.89. The Jeff and Toby Herr Oral History Archive, United States Holocaust Memorial Museum. 02.11.1990; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn511572 [Abruf: 20.11.2020]. 262 WEISS Anna, Interview 21635. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Bethesda 22.10.1996. 263 PHILIPPSOHN-LANG Trude, Erinnerungen. In: Alois KERNBAUER / Karin SCHMIDLECHNER- LIENHART (Hgg.), Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33). Graz 1996. – PHILIPPSOHN-LANG Trude, Leben in einer feindlichen Umwelt. In: Alois KERNBAUER / Karin SCHMIDLECHNER-LIENHART (Hgg.), Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33). Graz 1996. 264 PHILIPPSOHN-LANG Trude, On my Way to Adoption. My Story, Written for Elly. Graz 2020. 265 POLLAK Otto, Memory is for us our only hope (Eli Wiesel). In: Alois KERNBAUER / Karin SCHMIDLECHNER-LIENHART (Hgg.), Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33). Graz 1996. 266 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. 267 In diesem Text gibt Pollak an, ihn bereits mit 76 Jahren zu schreiben begonnen zu haben und ihn schließlich erst 7 Jahre später vollendet zu haben. Es kann somit errechnet werden, dass der Zeitzeuge den Text während der 1990er Jahre verfasste. POLLAK Otto, From Graz to Tel Aviv. Graz 2002. 268 COHN Laura, 1997.A.0382.1. The Jeff and Toby Herr Oral History Archive, United States Holocaust Memorial Museum. New York 07.05.1997; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn513715 [Abruf: 20.11.2020]. 55

die Personen nicht auf ihre Fluchterfahrung reduziert werden, sondern als Menschen wahrge- nommen werden, die auch vor und nach der Flucht Wichtiges erlebt haben. Weiters kommt dem auch ein psychologischer Effekt zugute, nämlich, dass die Personen dadurch gedanklich nicht in der Zeit der Verfolgung und Flucht bleiben, sondern sich bewusst werden, wie sie diese Zeit überstanden und sich in der Gegenwart ein erfolgreiches Leben aufgebaut haben.269 Alle Selbstzeugnisse sind aus der Bereitschaft der ZeitzeugInnen entstanden, ihre Ge- schichte zu teilen. Ob sich die Beteiligten selbst dazu entschieden haben aktiv zu werden und ihre Lebensgeschichte aufzuzeichnen oder sie sich nach einer Anfrage durch ein Projekt dazu bereit erklärt haben, spielt in der Auswertung eine untergeordnete Rolle, da alle Produkte zur Veröffentlichung vorgesehen waren und die Berichte dementsprechend alle als Traditionsquel- len mit Blick auf ein Publikum erstellt wurden.

4.1. Archive und Projekte Auch wenn es für die Analyse nicht entscheidend ist, ob die Zeugnisse auf Eigeninitiative ent- standen sind oder nicht, so ist der Umstand, ob eine Quelle in einem bestimmten Projekt ent- standen ist, für die Auswertung der Zeugnisse nicht irrelevant. Je nachdem, um welches Projekt es sich handelt, wurden bei der Entstehung nämlich unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt und verschiedene Schwerpunkte gesetzt. Aufgrund der geringen Zeugnislage über Grazer Jü- dinnen und Juden, und insbesondere von jüdischen Kindern und Jugendlichen, die in der Zwi- schenkriegszeit lebten, wurden möglichst viele Quellen in den Korpus aufgenommen, um zahl- reiche Informationen zu erhalten. Zur kritischen Betrachtung des Quellenmaterials zählt des- halb auch, ihren Entstehungshintergrund näher zu beleuchten. Aus diesem Grund sollen hier kurz die Projekte und Archive, in denen die Interviews entstanden sind und gesammelt werden, vorgestellt werden.

4.1.1. USC Shoah Foundation – Visual History Archive Die Gründung der USC Shoah Foundation 1994 geht auf den Regisseur Steven Spielberg (geb. 1946) und dessen Film „Schindlers Liste“ zurück. Bei der Vorbereitung für die Dreharbeiten führte Spielberg unzählige Interviews mit Shoahüberlebenden. Diese Begegnungen haben ihn schließlich dazu veranlasst, nach Drehende ein weiterführendes Projekt ins Leben zu rufen. Ziel dieses Projekts, das bis heute weitergeführt wird, war es, Shoahüberlebende zu interviewen und

269 WAHL Niko, Erinnerungen zwischen Wien und New York. Austrian Heritage Collection Project. In: Eleonore LAPPIN / Albert LICHTBLAU (Hgg.), Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck- Wien-Bozen 2008, p. 194. 56

ihre Zeugnisse somit für die Nachwelt zu bewahren. Finanziert wurde das Projekt zu Beginn mit den Einnahmen des Films „Schindlers Liste“.270 Die Interviews sind im Visual History Ar- chive der Foundation gesammelt. Diese digitale Sammlung ist heute die größte ihrer Art und enthält mittlerweile mehr als 54.000 Zeugnisse. Die Aufzeichnungen wurden in 62 Ländern in insgesamt 41 verschiedenen Sprachen getätigt. Obwohl sich die Sammlung zuerst auf Shoah- überlebende konzentrierte, so kamen bei den ersten Interviews in den 1990er Jahren auch an- dere Gruppen, wie beispielsweise Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Homosexuelle oder Solda- ten, die sich an der Befreiung der Konzentrationslager beteiligten, zu Wort. Seit 2006 wurde die Sammlung schließlich weiter ausgebaut und befasst sich nun auch mit Erinnerungen an weitere Völkermorde neben der Shoah. So umfasst das Archiv mittlerweile auch Interviews mit Überlebenden der Genozide in Ruanda, Armenien, Guatemala und Kambodscha sowie des Nanjing Massakers.271 Mit dem Ziel 50.000 Überlebende zu interviewen, startete das Projekt im April 1994. Um möglichst viele Überlebende zu erreichen, wurden Aufrufe in Medien gestartet sowie Ver- eine, die sich mit Shoahüberlebenden beschäftigen, über das Projekt in Kenntnis gesetzt. Si- cherlich auch bedingt durch die unglaubliche Größe des Projekts entschied man sich dazu, die Interviews nicht von HistorikerInnen oder Oral History ExpertInnen, sondern von freiwilligen MitarbeiterInnen führen zu lassen. Diese Entscheidung wurde auch damit begründet, dass die vielfältigen Hintergründe der InterviewerInnen das Archiv bereichern würden. Um ihrer Auf- gabe gerecht zu werden, erhielten die Interviewenden vorab eine dreitägige Einschulung, bei der neben Hintergrundwissen zur Shoah auch praktische Komponenten zur Interviewführung weitergeben wurden, um eine methodologische Konstanz zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz ist oftmals eine starke Varianz zwischen den einzelnen InterviewerInnen erkennbar, die dazu führt, dass die Interviews sich in ihren Ansätzen oft stark unterscheiden. Insgesamt wurden 2.300 InterviewerInnen in 24 Ländern ausgebildet. Für die Videoaufnahmen wurden 1.000 Videogra- fInnen angestellt.272 Der Ablauf des Interviews folgte einer grob festgelegten Abfolge. Nach der ersten Kon- taktaufnahme über die Foundation, fand eine Woche vor dem eigentlichen Interviewtermin ein Treffen zwischen der interviewten und der interviewenden Person statt. Dabei wurden mit Hilfe eines 40-seitigen Fragebogens detaillierte Informationen zu Familienhintergründen und

270 SHANDLER Jeffrey, Holocaust Memory in the Digital Age. Survivors' Stories and New Media Practices. Stanford 2017, p. 9–10. – LICHTBLAU, Erinnern im Zeitalter virtueller Realität, 1998, p. 543–544. 271 USC Shoah Foundation, The Archive; https://vhaonline.usc.edu/about/archive [Abruf: 02.02.2021]. 272 LICHTBLAU, Erinnern im Zeitalter virtueller Realität, 1998, p. 543–544. – SHANDLER, Holocaust Memory in the Digital Age, 2017, p. 10–11. – USC Shoah Foundation, Collecting Testimonies; https://sfi.usc.edu/collecting [Abruf: 02.02.2021]. 57

Erfahrungen der Befragten aufgenommen, die den InterviewerInnen beim eigentlichen Inter- view behilflich sein sollten. Das Interview selbst wurde meist bei den ZeitzeugInnen zu Hause aufgezeichnet. Für die Aufzeichnung und die anschließende Abgabe bei der Foundation waren die VideografInnen zuständig. Die Interviewenden wurden angewiesen, das Interview zeitlich in Perioden vor, während und nach dem Krieg zu gliedern. Anschließend an das Interview konnten die ZeitzeugInnen noch eine Botschaft für künftige Generationen hinterlassen und wei- tergeben, was ihnen wichtig erschien. Danach wurden die Interviewten oftmals mit ihrer Fami- lie gefilmt und auch PartnerInnen, Kinder und Enkelkinder bekamen die Chance, Fragen zu beantworten, sowie Anmerkungen zu machen. Abschließend wurden Fotografien und andere Dokumente abgefilmt, die von den ZeitzeugInnen beschrieben wurden.273 Das besondere an den Interviews der Shoah Foundation ist, dass es sich um ungeschnittene Videoaufnahmen han- delt, die nur durch Kassettenwechsel unterbrochen sind. Die Interviews aus dem Visual History Archive der USC Shoah Foundation stellen den größten Teil des vorliegenden Quellenkorpus dar. Insgesamt fanden zwölf Zeugnisse dieses Archivs Eingang in die vorliegende Arbeit.274 Die Interviews wurden der Verfasserin freundli- cherweise von der Foundation zur Verfügung gestellt. Sie wurden von verschiedenen Intervie- werInnen im Zeitraum zwischen 1994 und 2001 aufgenommen. Eines der Interviews wurde jedoch nicht von der Foundation selbst aufgezeichnet, sondern bereits 1982 vom Canadian Jewish Congress Charities Committee National Archives geführt und in den Korpus der USC Shoah Foundation aufgenommen.275 Alle Interviews wurden in englischer Sprache geführt. Laut Angaben der Shoah Foundation liegt die Entscheidung, in welcher Sprache das Interview geführt werden soll, bei den ZeitzeugInnen.276 Aus diesem Grund ist es sehr interessant, dass die Interviewten allesamt Englisch ausgewählt haben, obwohl in den Interviews oftmals deut- lich wird, dass es sich dabei nicht um ihre Muttersprache handelt und sie oft Probleme haben, sich in der gewählten Sprache auszudrücken. Die Dauer der Interviews liegt zwischen einer halben Stunde und beinahe vier Stunden.

273 SHANDLER, Holocaust Memory in the Digital Age, 2017, p. 11–12. – APEL Linde, „You are practicing in history“. Das Visual History Archive der Shoah Foundation. In: Zeithistorische Forschungen 5. Jg. (2008), p. 440. – USC Shoah Foundation, Collecting Testimonies, 2021. 274 BASCH Edith, Interview 13330. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Los Angeles 15.03.1996. – BRECHER Henry, Interview 51367. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Columbus 08.01.2001. – BUSCH Hilda, Interview 33714. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. London 28.08.1997. – DORTORT, Interview 54747. – GOTTLIEB Erich, Interview 37861. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Scottsdale 29.01.1998. – LANDSKRONER Kurt, Interview 48062. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Horsham 23.08.1998. – ROWELSKY Gertrude, Interview 19204. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Laguna Hills 04.09.1996. – NEWMAN Eric, Interview 26760. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Elstree 12.01.1997. – WACHS, Interview 6069. – WEISS, Interview 21635. – WELISCH Margaret, Interview 6090. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Jamaica 29.08.1995. 275 FUCHS Elfreda, Interview 53605. Visual History Archive, USC Shoah Foundation. Vancouver 12.01.1982. 276 USC Shoah Foundation, Collecting Testimonies, 2021. 58

4.1.2. „Austrian Heritage Collection“ Bei der „Austrian Heritage Collection“ handelt es sich um eine Sammlung am Leo Baeck Insti- tute New York, bei der Fragebögen österreichischer EmigrantInnen sowie deren Dokumente und Fotografien gesammelt wurden. Auch lebensgeschichtliche Interviews wurden mit ehema- ligen ÖsterreicherInnen geführt, die sich in den USA niedergelassen hatten. Die Materialien, die damals wie heute gesammelt wurden und werden, sollen einerseits als Zeugnisse der Ver- brechen der NationalsozialistInnen und andererseits für zukünftige Forschungsarbeiten als Quellen dienen.277 Die Idee zu diesem Projekt stammte von Matthias Krön, der als Gedenk- dienstleistender seinen Zivilersatzdienst am Leo Baeck Institute absolvierte und dabei mit den Fluchtgeschichten österreichischer EmigrantInnen in Berührung kam.278 Seit 1996 arbeitet der österreichische Verein Gedenkdienst und der Nationalfonds mit dem Leo Baeck Institute in New York zusammen, um die Geschichten der österreichischen Flüchtlinge, die oft über Umwege in die USA gelangten, aufzuzeichnen. Bis heute wurden mehr als 700 Interviews geführt, die am Leo Baeck Institute gesammelt werden und über dessen Archiv online zugänglich sind.279 Es handelt sich dabei um ungeschnittene Audioaufnahmen, die nur durch den Wechsel der Ton- bänder unterbrochen sind. Um möglichst viele Überlebende in das Projekt einzubeziehen, wurden die österreichi- schen EmigrantInnen vom Nationalfonds brieflich über das Projekt informiert. Dieser Aussen- dung wurde ein kurzer Fragebogen, sowie die Anfrage, ob die Person auch einen umfassenderen Fragebogen beantworten würde, zugesandt. Nachdem diese „initial letters“ sehr gut aufgenom- men worden waren, wurde schließlich damit begonnen, die ZeitzeugInnen um Interviews zu bitten. Da die Rücklaufquote jedoch sehr hoch war, konnten nicht alle Personen tatsächlich interviewt werden. Aus diesem Grund wurden die InterviewpartnerInnen unter bestimmten Ge- sichtspunkten ausgewählt, die neben den persönlichen Interessen der InterviewerInnen auch ein Augenmerk darauf legten, dass die Sammlung möglichst divers werden sollte.280 Geführt wurden die Interviews stets von gedenkdienstleistenden jungen ÖsterreicherIn- nen, die für ein Jahr am Leo Baeck Institute arbeiteten. Dieser Umstand ist eine weitere

277 KLÖSCH Christian, The Austrian Heritage Collection at the Leo Baeck Institute. Ein wissenschaftliches Projekt zur Dokumentation von Lebensgeschichten vertriebener ÖsterreicherInnen in den USA. In: Martin HORVÁT / Anton LEGERER / Judith PFEIFER / Stefan ROTH (Hgg.), Jenseits des Schlussstrichs. Gedenkdienst im Diskurs über Österreichs nationalsozialistischer Vergangenheit. Wien 2002, p. 235. – WAHL, Erinnerungen zwischen Wien und New York, 2008, p. 192. 278 KLÖSCH, The Austrian Heritage Collection, 2002, p. 236. 279 Leo Baeck Institute, Austrian Heritage Collection; https://www.lbi.org/collections/austrian-heritage-collection/ [Abruf: 02.02.2021]. 280 LICHTBLAU Albert, Community-orientierte Arbeit konkret. Die Austrian Heritage Collection in New York. In: Ulla KRIEBERNEGG / Gerald LAMPRECHT / Roberta MAIERHOFER / Andrea STRUTZ (Hgg.), „Nach Amerika nämlich!“. Jüdische Migrationen in die Amerikas des 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, p. 139. – KLÖSCH, The Austrian Heritage Collection, 2002, p. 236–237. 59

Besonderheit des Projekts. Die EmigrantInnen sprachen mit Mitgliedern einer Bevölkerungs- gruppe, die sie Jahre zuvor aus der Heimat vertrieben hatte. Dies konnte einerseits zu einer reservierten Haltung gegenüber den jungen ÖsterreicherInnen führen. Andererseits war es für die EmigrantInnen aber auch oft leichter über Plätze und Orte zu berichten, wenn das Gegen- über diese kannte und mit den Traditionen und der Geschichte des Landes vertraut war. Zudem sollte durch die Begegnung ein Zeichen dafür gesetzt werden, dass sich die neuen Generationen in Österreich für die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus interessieren und dafür einstehen, dass diese nicht vergessen werden.281 Je nach Wunsch der ZeitzeugInnen wurden die Interviews auf Deutsch oder Englisch aufgezeichnet. Oftmals kam es auch dazu, dass die Emig- rantInnen einzelne Wörter in der jeweils anderen Sprache einwarfen oder generell zwischen den Sprachen wechselten.282 Zugrunde lag den Interviews ein Leitfaden, der die grundlegends- ten Fragen als auch eine Strukturierung des Interviewablaufs vorgab. Die Fragen waren chro- nologisch geordnet und reichten von der Familiengeschichte, der Kindheit und dem „An- schluss“ über Flucht und Emigration bis hin zur Gegenwart und zum Leben der ZeitzeugInnen zum Interviewzeitpunkt.283 Aus dieser Sammlung sind sieben Interviews im vorliegenden Quellenkorpus enthal- ten.284 Diese wurden von verschiedenen InterviewerInnen in den Jahren von 1996 bis 2019 aufgezeichnet. Die Sprachen sind Englisch und Deutsch oder eine Kombination aus beidem. Dadurch, dass sowohl InterviewerInnen als auch Interviewte beider Sprachen mächtig waren, war ein Wechsel in diesen Fällen ohne Probleme möglich und half den ZeitzeugInnen oftmals dabei, sich besser ausdrücken zu können. Die Dauer dieser Interviews reicht von knapp einer halben Stunde bis zu siebeneinhalb Stunden. Zu drei dieser Interviews sind zudem Transkripte vorliegend, die für die Verwendung in dieser Arbeit dementsprechend angepasst wurden, dass beispielsweise Wortwiederholungen ergänzt wurden, um die wortwörtlichen Zitate der Zeit- zeugInnen angeben zu können.285

281 LICHTBLAU, Community-orientierte Arbeit konkret, 2012, p. 138. 282 WAHL, Erinnerungen zwischen Wien und New York, 2008, p. 194. 283 Ebda., p. 194. 284 BRECHER Henry Heinz, AHC 2585. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. New York 02.02.2015; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE3312725 [Abruf: 20.11.2020]. – DORTORT, AHC 4066. – FRIEDLANDER Rudolph, AHC 1196. Austria Heritage Collection, Leo Baeck Institute. Great Neck 21.11.2003; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=FL3984824 [Abruf: 15.01.2021]. – GOLDMARK, AHC 168. – LICHTENSTEIN Bernard, AHC 12. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. New York 24.10.1996; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE2977475 [Abruf: 20.11.2020]. – WACHS, AHC 3310. 285 GOLDMARK, AHC 168. – LICHTENSTEIN, AHC 12. – WACHS, AHC 3310. 60

4.1.3. United States Holocaust Memorial Museum Die Gründung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington wurde vom Kongress 1980 als permanentes lebendes Mahnmal für die Opfer der Shoah initiiert. Das USHMM widmet sich neben allgemeinen Museumstätigkeiten auch noch der Sammlung und Archivierung von Materialien, die mit der Shoah in Verbindung stehen. Die Quellen stam- men von Überlebenden oder deren Familien, die die Zeugnisse an das Museum übergeben ha- ben. Neben Oral History Interviews finden sich in der Sammlung deshalb u. a. auch Zeichnun- gen und Gemälde, Skulpturen und weitere kreative Arbeiten, Bücher, Manuskripte, Pamphlete, Mikrofilme und Fotos, musikalische Aufzeichnungen, Uniformen, Kostüme, Flaggen und Ban- ner, Möbel, rituelle Objekte, Schmuck, Maschinen und Geräte sowie Werbung, Poster und Kar- ten.286 Die Oral History Interviews werden im United States Holocaust Memorial Museum’s Jeff and Toby Herr Oral History Archive gesammelt, das eines der größten seiner Art ist. Die Interviews in dieser Sammlung wurden zum Teil vom Museum selbst erzeugt. Doch auch an- derweitig produzierte Interviews fanden Eingang in die Sammlung. Das USHMM sammelt nämlich auch Interviews, die von anderen Institutionen wie Büchereien, lokalen Shoah For- schungszentren oder anderen Archiven bereitgestellt werden. Weiters besteht auch die Mög- lichkeit, dem USHMM selbstständig geführte Interviews zur Verfügung zu stellen.287 Als Un- terstützung für solch ein Vorhaben bietet das USHMM auf seiner Website einen ausführlichen Interview-Leitfaden. Darin werden alle Schritte vom ersten Treffen, über die Interviewvorbe- reitung, Vorschläge für Interviewfragen sowie Beachtenswertes für die Interviewsituation selbst als auch für die Weiterverarbeitung des Videomaterials genauestens beschrieben.288 2007 gehörten der Sammlung bereits mehr als 9.000 Interviews an, von denen über 2.000 vom USHMM selbst geführt wurden.289 Dabei handelt es sich um ungeschnittene Audiodateien, die nur durch Tonbandwechsel unterbrochen sind. Nur eines der Interviews wurde als Video auf- genommen. Dies wurde jedoch nicht vom USHMM selbst geführt, sondern ist im Zuge des „The Bay Area Holocaust Oral History Project“ entstanden und wurde dann in die Sammlung des Museums aufgenommen, wo es über die Website frei zugänglich ist. Die Verfasserin hat zudem

286 United States Holocaust Memorial Museum, Scope and Nature of the Collection; https://www.ushmm.org/collections/the-museums-collections/about/scope-and-nature-of-the-collections [Abruf: 02.02.2021]. – RINGELHEIM Joan / DONAHUE Arwen / HEDLUND Elizabeth / RUBIN Amy, Oral History Interview Guidelines, p. ii; https://www.ushmm.org/m/pdfs/20121003-oral-history-interview-guide.pdf [Abruf: 02.02.2021]. 287 United States Holocaust Memorial Museum, Oral History; https://www.ushmm.org/collections/the-museums- collections/about/oral-history [Abruf: 02.02.2021]. 288 RINGELHEIM / DONAHUE / HEDLUND / RUBIN, Oral History Interview Guidelines, 2007. 289 Ebda., p. ii. 61

noch die Rechte beim Rechteinhaber, dem Tauber Holocaust Library of the Jewish Family and Children’s Services Holocaust Center, eingeholt.290 Im vorliegenden Quellenkorpus befinden sich sechs Interviews aus der Sammlung des USHMM.291 Diese wurden teilweise vom Museum selbst geführt292 und teilweise von Intervie- werInnen an das Archiv gespendet.293 Die Interviews wurden in den Jahren von 1990 bis 2016 aufgezeichnet und dauern zwischen knapp zwei Stunden bis hin zu gut drei Stunden. Die Inter- viewsprachen sind Deutsch und Englisch sowie eine Kombination aus beidem. Auch von diesen Interviews sind zu dreien Transkripte vorhanden, die für die vorliegende Arbeit angepasst wur- den.294

4.1.4. Centropa Bei Centropa handelt es sich um ein jüdisches historisches non-profit Institut, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichten und Fotos jüdischer Familien des 20. Jahrhunderts aus Zentral- und Osteuropa sowie dem Balkan zu sichern. Neben dem Hauptbüro, das in Wien zu finden ist, gibt es weitere Standorte in Budapest, Hamburg und Washington DC.295 Seit 2000 wurden bereits Interviews mit 1.200 Jüdinnen und Juden geführt, die entweder direkt von Centropa aufgezeichnet wurden oder von Freiwilligen gespendet wurden. Im Gegensatz zu an- deren Projekten, die Video- oder Audioaufzeichnungen der Interviews zur Verfügung stellen, ist dies bei Centropa nicht vorgesehen. Die Interviews wurden zwar als Audiodatei aufgezeich- net, dann aber transkribiert und in Form dieses Transkripts veröffentlicht. Außerdem wurden sie oftmals auch nicht im klassischen Frage-Antwort-Modus geführt, sondern als Erinnerungs- gespräch mit Hilfe von alten Familienfotos verstanden. Interviewt wurden Jüdinnen und Juden, die vor 1932 geboren wurden und zum Zeitpunkt des Interviews noch immer in Europa lebten. Diese Eingrenzung ist vor allem dem Organisationsaufwand und dem Budget geschuldet. Die Verantwortlichen geben zu bedenken, dass natürlich versucht wurde, ein möglichst

290 SILBERSTEIN Otmar, 1999.A.0122.931. The Bay Area Holocaust Oral History Project, United States Holocaust Memorial Museum. 07.01.2004; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn516948 [Abruf: 15.01.2021]. Verwendet mit der Genehmigung des Tauber Holocaust Library of the Jewish Family and Children’s Services Holocaust Center. 291 COHN, 1997.A.0382.1. – DORTORT, 2019.253.1815. – KOEVESI Kurt, 1997.A.0382.3. The Jeff and Toby Herr Oral History Archive, United States Holocaust Memorial Museum. New York 18.04.1997; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn513718 [Abruf: 20.11.2020]. – LOEWY Sarah, 1997.A.0382.4. The Jeff and Toby Herr Oral History Archive, United States Holocaust Memorial Museum. Queens 01.05.1997; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn513719 [Abruf: 15.01.2021]. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. – WEISS, 1993.A.0095.89. 292 COHN, 1997.A.0382.1. – KOEVESI, 1997.A.0382.3. – LOEWY, 1997.A.0382.4. 293 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. – WEISS, 1993.A.0095.89. – DORTORT, 2019.253.1815. 294 COHN, 1997.A.0382.1. – KOEVESI, 1997.A.0382.3. – LOEWY, 1997.A.0382.4. 295 Centropa, Who we are; https://www.centropa.org/about-centropa/who-we-are [Abruf: 02.02.2021]. 62

detailreiches Bild zu zeichnen, dies jedoch nur schwer möglich war, da sich beispielsweise keine orthodoxen Jüdinnen und Juden in Österreich zu einem Interview bereit erklärt hatten.296 Um trotz allem einigermaßen standardisierte und vergleichbare Ergebnisse zu erzielen, gab das Institut für InterviewerInnen einen Leitfaden aus, der sie im gesamten Prozess von Vor- bis Nachbereitung unterstützen sollte.297 Ein Interview im Quellenkorpus entfällt auf die Sammlung von Centropa.298 Bei diesem Bericht handelt es sich weder um eine Video-, noch um eine Audioaufnahme, sondern um ein Transkript, in dem die Erinnerungen eines Grazer Juden zusammengefasst sind. Die Schwer- punkte bilden hierbei die Familiengeschichte, die Kindheit, die Kriegszeit sowie die Zeit nach dem Krieg.

4.1.5. „Mutterland – Vatersprache“ Das Projekt „Mutterland – Vatersprache“ wurde von Dieter J. Hecht in Kooperation mit Albert Lichtblau und dem Zentralkomitee der Juden aus Österreich in Israel realisiert. Dabei wurden in den Jahren 2002 und 2003 31 ZeitzeugInneninterviews mit ehemaligen ÖsterreicherInnen durchgeführt, die nach Israel emigriert waren. Erreicht wurden interessierte TeilnehmerInnen über Printmedien sowie verschiedene Vereine österreichischer Juden und Jüdinnen in Israel als auch über Mundpropaganda. Nachdem die InteressentInnen einen ersten Fragebogen ausgefüllt an das Zentralkomitee rückübermittelt hatten, begann die Auswahl für die Interviews. Als Kri- terium wurde zuallererst festgesetzt, dass das Geburtsjahr der Teilnehmenden bei 1930 oder niedriger liegen musste, damit Erinnerungen an die Zeit vor dem „Anschluss“, sowie an die Zeit der Machtübernahme der NationalsozialistInnen und die folgende Flucht gegeben sind. Weiters wurde darauf Wert gelegt, nicht nur TeilnehmerInnen, die aus Wien stammten, sondern auch aus den Bundesländern zu interviewen, obwohl das durch die geringe Anzahl von Jüdin- nen und Juden, die in den Bundesländern aufgewachsen waren, ein erschwertes Unterfangen darstellte.299 Die ausgewählten GesprächspartnerInnen wurden schließlich nach einem ersten Kontaktgespräch mit Hilfe eines Leitfadens interviewt, der die vier Schwerpunkte Leben in Österreich, die Shoah, das Leben in Israel und gegenwärtige Beziehungen zu Österreich setzte.300 Zwanzig dieser Gespräche fanden anschließend Eingang in ein DVD-Projekt. Alle

296 Centropa, Our Interviews; https://www.centropa.org/about-centropa/our-interviews [Abruf: 02.02.2021]. 297 Centropa, Interviewer's Workbook 3.0. Witness to a Jewish Century. The Digital Memory Project; https://www.centropa.org/upload/pdf/english-workbook.pdf [Abruf: 02.02.2021]. 298 KLEIN Heinz, Interview mit Heinz Klein, Centropa. Wien Mai 2002; https://www.centropa.org/de/biography/heinz-klein [Abruf: 28.01.2021]., Transkript ohne Paginierung. 299 HECHT, „Mutterland – Vatersprache“, 2008, p. 183. 300 Ebda., p. 183. 63

Videos, auch jene, die nicht auf den DVDs enthalten sind, können über die Website von wei- tererzählen.at abgerufen werden. Die Website ist das Onlinearchiv von erinnern.at, das in Ko- operation mit dem Nationalfonds einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an die nationalsozia- listischen Verbrechen leistet.301 Unter den Interviewten befindet sich auch eine Grazerin, deren Interview in den Quel- lenkorpus aufgenommen wurde.302

4.1.6. Yad Vashem Yad Vashem ist eine Shoahgedenkstätte in Israel, die bereits 1953 gegründet wurde. Nachdem Yad Vashem in den folgenden Jahrzehnten zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Sho- ahgedenkstätten avancierte, wurde das Museum 2005 neu erbaut.303 Neben Museumsausstel- lungen umfasst die Stätte auch vielfältige Lehr- und Lernangebote für Lehrpersonen sowie SchülerInnen. Hinzu kommt, dass dem Museum auch ein Archiv angeschlossen ist. Viele der Materialen sind bereits online über die Website der Institution zugänglich. Dieses Angebot um- fasst viele Bereiche. In einer Datenbank über Opfer der Shoah werden Biographien von durch NationalsozialistInnen ermordeten Jüdinnen und Juden nachgezeichnet. Das Fotoarchiv bein- haltet Fotos jüdischen Lebens vor, während sowie nach der Shoah. „The Righteous Database“ enthält Erzählungen über Rettungen, Fotos und Informationen über die „Gerechten der Völker“. In diese Gruppe wurden nichtjüdische Menschen aufgenommen, die Jüdinnen und Juden vor der Ermordung retteten. Zudem gibt es ein Archiv für Dokumente sowie eine Bücherei, deren Katalog online einsehbar ist. Hinzu kommt noch eine Filmdatenbank, in der Informationen zu Filmen über die Shoah enthalten sind und eine Datenbank, die Deportationen rekonstruiert. 200 Oral History Interviews der Gedenkstätte können online abgerufen werden.304 Zudem gibt es jedoch auch noch Interviews, die nicht online zugänglich sind, sondern über das Dokumen- tenarchiv aufgefunden werden können. Diese Interviews stammen von verschiedenen Quellen und wurden von Yad Vashem nicht selbst erstellt, sondern nur ins Archiv aufgenommen. Solche Zeugnisse können käuflich erworben werden. Ein Interview ist Teil der Sammlung von Yad Vashem.305 Es handelt sich hierbei um eines der Zeugnisse aus dem Dokumentenarchiv. Es wurde von Herbert Rosenkranz (1924–

301 WIESELBERG Lukas, Interview-Projekt mit Shoah-Überlebenden; https://sciencev1.orf.at/science/news/145672.html [Abruf: 03.02.2021]. 302 MOLCZADSKI Genia, weitererzählen.at. Zentralkomitee der Juden aus Österreich in Israel, Tel Aviv 2003; https://www.weitererzaehlen.at/interviews/genia-molczadski [Abruf: 20.11.2020]. 303 GOLDBERG Amos, The ‚Jewish narrative‘ in the Yad Vashem global Holocaust museum. In: Journal of Genocide Research 14. Jg. (2012) H 2, p. 189–191. 304 Yad Vashem, Yad Vashem. The World Holocaust Remembrance Center; https://www.yadvashem.org/ [Abruf: 23.02.2021]. 305 GRÜNSCHLAG David Eduard, O.3/3916. Yad Vashem, Tel Aviv 03.09.1979. 64

2003) geführt, einem jüdischen Historiker, der nach dem „Anschluss“ von Wien nach Israel emigrierte.

4.2. Persönliche Aufzeichnungen Während es bei Oral History Interviews bei der Aufzeichnung der Lebensgeschichte stets eines Partners bzw. einer Partnerin bedarf, werden schriftliche Selbstzeugnisse meist eigenständig aufgezeichnet. Dies trifft auch auf einen Großteil der in dieser Arbeit verwendeten autobiogra- phischen Selbstzeugnisse zu. Die Texte von Trude Philippsohn-Lang, Harald Salzmann, Lisa Gerber und Otto Pollak sind Beispiele dafür.306 Ein weiterer Text, nämlich jener von Gerda Eisler, ist in dieser Hinsicht wiederum besonders, da die Aufzeichnung nicht direkt von der Zeitzeugin selbst vorgenommen wurde.307 Sie wurde beim Niederschreiben von der Tochter eines Freundes unterstützt. Das spezielle an Trude Philippsohn-Langs Texten ist, dass diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Während die Monographie „On my way to adoption“, erschienen 2020, bereits 1942 im englischen Exil verfasst wurde, stammen die an- deren beiden Texte aus späteren Jahren und wurden erst nach der Pensionierung der Zeitzeugin verfasst. Während sie Graz im ersten Text noch ohne zu zögern als „Heimat“ bezeichnet, ändert sich diese Einstellung mit den späteren Texten, in denen Israel zur Heimat wird. Die Darstel- lung der Kindheit in Graz ist gleichwohl konsistent, wobei jedoch angemerkt werden muss, dass der Text, welcher 1942 verfasst wurde, nur sehr wenig Bezüge zum Leben in Graz herstellt und sich mehr auf die Fluchterfahrung bezieht.

4.3. Kurzbiographien der ZeitzeugInnen Im Folgenden sollen die ZeitzeugInnen anhand von Kurzbiographien vorgestellt werden. Die Personen stammen vorwiegend aus dem bürgerlichen Milieu. Erzählungen über große Woh- nungen und Villen sowie über Dienstpersonal lassen darauf schließen, dass zumindest ein Groß- teil der ZeitzeugInnen in wohlhabenden Familien aufwuchs. Erinnerungen aus dem Arbeiter- milieu sowie aus der Orthodoxie sind nur spärlich vorhanden. Unterscheiden sich die

306 EISLER Gerda, Alles, woran ich glaube, ist der Zufall. Eine Jugend in Graz und Tel Aviv. Graz 2017. – GERBER Lisa, Emigranten-Existenz in Shanghai (1939–1949). Erinnerungen einer jungen Grazerin. In: Alois KERNBAUER / Karin SCHMIDLECHNER-LIENHART (Hgg.), Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 33). Graz 1996. – PHILIPPSOHN-LANG, Erinnerungen, 1996. – PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996. – PHILIPPSOHN- LANG, On my Way to Adoption, 2020. – POLLAK, Memory is for us our only hope, 1996. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. – POLLAK, From Graz to Tel Aviv, 2002. – SALZMANN Harald, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen. Als Jude in Graz und anderswo. Erinnerungen aus den Jahren 1921–1947. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz Bd. 21/22 (1991). 307 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017. 65

ZeitzeugInnen auch in Geschlecht und Geburtsjahrgängen sowie Herkunft und Berufen der El- tern, so ist dennoch anzumerken, dass es sich um eine relativ homogene Gruppe handelt, die keinesfalls die gesamte jüdische Bevölkerung von Graz während der Zwischenkriegsjahre be- schreibt. Dadurch ergibt sich, dass nur gewisse, persönliche und subjektive Einblicke gewährt werden. Nachdem sich der Fokus im folgenden Kapitel auf das Leben der ZeitzeugInnen in Graz während der Zwischenkriegszeit beschränkt, sollen die Kurzbiographien auch einen kur- zen Überblick über familiäre Hintergründe der ZeitzeugInnen sowie das Leben davor, falls die ZeitzeugInnen schon vor 1918 geboren sind, und danach geben. Die biographischen Informati- onen sind den ZeitzeugInneninterviews und den autobiographischen Texten entnommen. An- gaben zu den Wohnadressen wurden mit dem „Adressenbuch der Landeshauptstadt Graz“ er- gänzt.308

Basch Edith309 Edith Basch (geb. Schwarz) wurde am 25.11.1924 als Tochter von Rudolph und Aranka Schwarz in Graz geboren. Während der Vater bereits in Graz geboren wurde, kam die Mutter ursprünglich aus Ungarn. Rudolph Schwarz arbeitete als Handelsvertreter. Die Familie wohnte in einer großen Wohnung ganz in der Nähe der Synagoge. Gemeinsam mit ihrer Mutter emi- grierte die Zeitzeugin nach dem Novemberpogrom nach England. Ihr Vater konnte erst später nachkommen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann zog Edith Basch später nach Los Angeles, Ka- lifornien, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Brecher Henry Heinz310 Henry Heinz Brecher wurde am 29.08.1932 als Sohn von Ernst und Klara Brecher (geb. Taus- sig) in Graz geboren. Der Vater kam ursprünglich aus der Slowakei, die Mutter aus Rumänien. Ernst Brecher arbeitete im Tuchhaus seines Onkels Simon Rendi, während seine Mutter Haus- frau war. Die Familie wohnte in einem Apartment am Geidorfgürtel 24. Gleich nach dem „An- schluss“ bemühten sich seine Eltern darum, ihren Sohn außer Landes zu bringen. Nachdem Henry Heinz Brecher drei Jahre bei Verwandten in Zagreb gewohnt hatte, kam er zu FreundIn- nen der Eltern nach Split, mit denen er schließlich in die USA auswanderte, wo er zum Zeit- punkt des Interviews lebte. Seine Eltern fielen dem nationalsozialistischen Regime zum Opfer.

308 Adressenbuch der Landeshauptstadt Graz und der angrenzenden Gemeinden; https://www.findbuch.at/adressbuch-graz-1938 [Abruf: 03.03.2021]. 309 BASCH, Interview 13330. 310 BRECHER, Interview 51367. – BRECHER, AHC 2585. 66

Busch Hilda311 Hilda Busch wurde am 24.10.1921 in Graz geboren. Ihr Vater Friedrich Feiwisch Busch stammte aus Polen, ihre Mutter Ita Liskowater aus Österreich. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern wohnte die Zeitzeugin in der Petersgasse 58. Während die beiden Schwestern nach dem „Anschluss“ nach England und Schweden gelangen konnten, blieb Hilda Busch mit ihren Eltern zurück. Die Familie überlebte den Krieg in Flüchtlingslagern in Polen und der Sowjetunion. Nachdem die Zeitzeugin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für einige Jahre nach Graz zurückgekehrt war, emigrierte sie schließlich nach England, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Cohn Laura312 Laura Cohn (geb. Schwarz) wurde am 27.03.1924 in Graz geboren. Ihre Eltern Joachim und Therese Tracia Schwarz (geb. Baumgartner) stammten aus Galizien und besaßen ein Manufak- turwarengeschäft auf Abzahlung in der Mariahilferstraße 11. Dies war zugleich auch die Woh- nadresse in der Laura Cohn mit ihren Eltern, ihrem Bruder und einer ledigen Tante namens Emma wohnte. Im April 1939 konnten die Kinder nach Palästina ausreisen, die Eltern kamen kurze Zeit später nach. Mit ihrem Mann zog die Zeitzeugin 1961 von Israel in die USA. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte Laura Cohn dort in New York.

Dortort Leo313 Leo Dortort wurde am 18.09.1928 geboren. Seine Eltern Franz und Anna Chana Rechla Dortort (geb. Körner) stammten aus Ungarn. Die Familie, der auch noch Schwester Blanca angehörte, lebte in einer Wohnung in der Jakoministraße 10. Der Vater war Inhaber eines Kurzwarenge- schäfts, die Mutter arbeitete zuerst als Modistin und war später Hausfrau. Während Blanca Graz bereits früher verlassen hatte, flüchtete Leo mit seinen Eltern im März 1939 nach Jugoslawien. Von dort gelangte der Zeitzeuge schließlich mit einem Kindertransport nach Palästina, während die Eltern zurückbleiben mussten und den NationalsozialistInnen zum Opfer fielen. Nach dem Ende des Krieges kehrte Leo Dortort für ein Jahr nach Graz zurück, um die Restitutionen zu regeln. Danach lebte er in den USA und Kanada.

311 BUSCH, Interview 33714. 312 COHN, 1997.A.0382.1. 313 DORTORT, Interview 54747. – DORTORT, 2019.253.1815. – DORTORT, AHC 4066. 67

Eisler Gerda314 Gerda Eisler (geb. Engel) wurde 1927 in Graz als Tochter von Heinrich und Rosa Engel (geb. Schreier) geboren. Gerda, ihr Bruder Alfred und die Eltern wanderten 1933 nach Palästina aus, von wo sie 1936 jedoch wieder nach Graz zurückkehrten. Die Rückkehr war für die Zeitzeugin eine schwierige, da sie sich sehr an die Umgebung und die Sprache in Palästina gewöhnt hatte. Nachdem sie dort auch eingeschult worden war, fiel ihr das Lesen in deutscher Sprache, das sich sogar in der Leserichtung und den Buchstaben vom Hebräischen unterschied, sehr schwer. Mithilfe eines illegalen Transports emigrierte die Familie im April 1939 abermals nach Paläs- tina und die Umgewöhnung für die junge Zeitzeugin begann erneut. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn zog Gerda Eisler schließlich 1969 nach Köln.

Friedlander Rudolph315 Rudolph Friedlander wurde am 22.10.1915 in Graz geboren. Seine Eltern Arnold und Fanny (?)316 Friedländer stammten aus Polen. Der Zeitzeuge lebte mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern Siddy und Anna in der Schießstattgasse 55. Kurz nach dem Novemberpogrom konnte Rudolph Friedlander mit Hilfe Verwandter in die USA ausreisen. Dort war er in ver- schiedenen Jobs tätig und arbeitete sich empor, bis er sich ein eigenes Importbusiness aufbauen konnte. Er heiratete und lebte mit seiner Frau Helen und seinem Sohn Steven in Washington Heights. Ob der Zeitzeuge zum Zeitpunkt des Interviews noch immer in Washington Heights lebte ist unklar, die Familie lebte jedoch noch immer in den USA.

Fuchs Elfreda317 Elfreda Fuchs (geb. Schillinger) wurde am 24.07.1923 geboren. Über die Familie der Zeitzeu- gin ist nur wenig bekannt. Elfreda Fuchs war das älteste von drei Kindern, die beiden Brüder waren jünger als die Zeitzeugin. Der Vater besaß einen eigenen Betrieb, der im Zuge der „Ari- sierung“ von einem Kommissar übernommen wurde. Mit einem Jugendzertifikat konnte die Zeitzeugin im März 1939 nach Palästina emigrieren, wohin im September auch die Eltern und Brüder gelangten. Elfreda Fuchs lebte für fünfeinhalb Jahre in Palästina, heiratete dort einen Südafrikaner und lebte anschließend in Südafrika. 1976 emigrierte die Zeitzeugin schließlich nach Kanada, da zwei ihrer drei Kinder sowie ihre Brüder bereits dort lebten.

314 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017. 315 FRIEDLANDER, AHC 1196. 316 Der Name ist im Interview schwer verständlich und konnte leider nicht durch weitere Quellen verifiziert wer- den. 317 FUCHS, Interview 53605. 68

Gerber Lisa318 Lisa Gerber (geb. Rosner) wurde 1926 als Tochter von Wilhelm und Ella Rosner (geb. Lang) geboren. Die Familie lebte in der Kaiserfeldgasse. Im Frühjahr 1939 flüchtete die Familie nach Shanghai. Nachdem dort 1946 der Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten und den Kommu- nisten ausgebrochen war, machte man sich erneut daran, einen Ausweg zu suchen. Während die Eltern 1948 nach Kalifornien emigrierten, wählte die Zeitzeugin zu Jahresbeginn 1949 Australien als ihre neue Heimat. Mit ihrer Familie lebte Lisa Gerber zum Zeitpunkt der Auf- zeichnung ihres autobiographischen Textes in Sydney.

Goldmark Helma319 Helma Goldmark (geb. Blühweiss) wurde am 08.02.1926 in Graz geboren. Ihre Eltern Alois und Hermine Blühweiss (geb. Jassniger) besaßen eine Lederfabrik mit dazugehörigem Geschäft in der Griesgasse 22. Dort befand sich ebenfalls die Wohnung der Familie. Nachdem die Mutter bereits 1937 verstorben war, flüchteten Vater und Tochter im Jänner 1939 nach Jugoslawien. Als der Vater 1942 in Zagreb deportiert wurde, gelangte die Zeitzeugin alleine über Südtirol nach Rom, wo sie bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebte. Von dort emigrierte sie mit ihrem Mann nach New York, wo sie auch zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Gottlieb Erich320 Erich Gottlieb wurde am 29.09.1913 in Graz geboren. Sein Vater hieß Leopold Gottlieb. Seine Mutter, Regina Gottlieb (geb. Goldstein), gebürtige Ukrainerin, verstarb bereits 1919. Der Va- ter heiratete zwei Jahre später Ilka Mayer, die aus Ungarn stammte. Gemeinsam mit seinem Bruder Herbert, dem Vater und der Stiefmutter lebte Erich Gottlieb in einer Wohnung in der Brockmanngasse 11. Der Vater des Zeitzeugen hatte ein Geschäft für Büromöbel sowie einen Trödelladen und war zudem als Sachvollständiger tätig. Die Stiefmutter führte ein koscheres Geflügelgeschäft. Nachdem der Bruder bereits nach Frankreich ausgewandert war und seinen Bruder warnte, dass Hitler in Österreich einmarschieren würde, verließ Erich Gottlieb Graz in Richtung Schweiz. Drei Tage vor dem „Anschluss“ machte er sich mit dem Zug auf den Weg nach Vorarlberg, wo er mit den Skiern die Grenze zur Schweiz überquerte. Über die Schweiz und Frankreich gelangte der Zeitzeuge über Hongkong and Shanghai in die USA, wo er zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

318 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996. 319 GOLDMARK, AHC 168. 320 GOTTLIEB, Interview 37861. 69

Grünschlag David321 David Grünschlag wurde am 25.09.1917 in Graz geboren. Seine Eltern Elias Elijahu und Klara Chaya Grünschlag kamen mit den beiden älteren Kindern, einem Sohn und einer Tochter, von Galizien nach Graz, wo der Zeitzeuge geboren wurde. Die Familie wohnte in der Redtenba- chergasse 7. Als führendes Mitglied der jüdischen Jugendbewegung war der Zeitzeuge maß- geblich an der Organisation der Auswanderung, vor allem der Jugendauswanderung, beteiligt. Er wanderte schließlich auch selbst nach Palästina aus.

Klein Heinz322 Heinz Klein wurde am 25.05.1917 in Wien geboren. Gemeinsam mit seinen Eltern Alfred und Elsa Klein (geb. Hilfreich) zog er 1920 nach Graz, wo sein Bruder Otto Günter Klein zur Welt kam. Der Vater arbeitete als Zahntechniker, die Mutter war ursprünglich Kindergärtnerin, nach der Geburt der Kinder jedoch Hausfrau. Die Familie wohnte in der Arndtgasse 7. Mit dem „Anschluss“ verlor Heinz Klein seine Anstellung, nachdem die Ordination seines Vaters „ari- siert“ worden war, in der er angestellt gewesen war. Im Zuge des Novemberpogroms wurde der Zeitzeuge verhaftet und nach Dachau deportiert. Nachdem er dort ungefähr sechs Monate in- haftiert gewesen war, konnte er bald nach seiner Freilassung illegal nach Palästina gelangen. 1947 ging Heinz Klein, der in der Zwischenzeit geheiratet hatte, mit seiner Frau zurück nach Graz, wo seine beiden Kinder geboren wurden. 1967 verzog die Familie nach Wien, wo der Zeitzeuge zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Koevesi Kurt323 Kurt Koevesi wurde am 05.07.1914 in Graz geboren. Die Familie seiner Mutter Hannah (geb. Schulz) war in Graz ansässig, die Familie seines Vaters Bernhard Kövesi stammte aus der Slo- wakei, war aber noch zur Schulzeit von Bernhard nach Wien verzogen. In Graz lebte die Fami- lie schließlich in der Schießstattgasse 54. Vater und Mutter besaßen ein Geschäft für Modisten- zubehör in der Radetzkystraße 8. Nachdem er am Oeverseegymnasium maturiert hatte, begann er in der Schuhfabrik M. Goldberger, die einem Vetter gehörte, zu arbeiten. Die Februarkämpfe 1934 erlebte der Zeitzeuge in Eggenberg mit, wo er sich vor den fliegenden Kugeln verstecken musste. Nach dem „Anschluss“ verlor Kurt Koevesi seine Anstellung in der Schuhfabrik. Kurz vor dem Novemberpogrom konnte er in die Schweiz flüchten und von dort in die USA emig- rieren, wo er zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

321 GRÜNSCHLAG, O.3/3916. 322 KLEIN, Interview mit Heinz Klein. 323 KOEVESI, 1997.A.0382.3. 70

Landskroner Kurt324 Kurt Landskroner wurde am 18.12.1927 in Graz geboren. Sein Vater Elias Landskroner war Jude, seine Mutter Serafine Adele Ruth Landskroner (geb. Klementschitz) war Katholikin und trat zum Judentum über. Gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Liselotte wohnte Kurt in der Annenstraße 30. Nachdem der Vater im Zuge des Novemberpogroms schwer miss- handelt worden war, konnte er kurze Zeit danach nach Palästina fliehen. Kurt und seine Schwes- ter konnten mit Hilfe eines Kindertransports im Jänner 1939 Graz verlassen. Die Mutter kam als Dienstmädchen nach, um in der Nähe der Kinder zu sein, die bei Pflegefamilien unterge- bracht waren. In England studierte der Zeitzeuge Agrikultur und arbeitete anschließend für das englische Militär und verschiedene Organisationen auf der ganzen Welt. Schließlich kam er mit seiner Frau und den Kindern zurück nach England, wo er zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Lichtenstein Bernard325 Bernard Lichtenstein wurde am 20.10.1918 in eine polnische Familie geboren. Die Eltern Leon (Leibusch) Lichtenstein und Susana vel Süssel Friedmann stammten ursprünglich aus Galizien. Gemeinsam mit den Eltern und zwei Schwestern wohnte der Zeitzeuge in der Annenstraße 36. Der Vater besaß ein Bekleidungsgeschäft. Nach dem „Anschluss“ war der Familie klar, dass sie nicht in Österreich bleiben konnten. Die älteste Schwester war bereits zuvor nach Palästina emigriert und organisierte von dort aus Affidavits für die anderen Familienmitglieder. Bereits im Juli 1938 verließ Bernard Lichtenstein Graz, um nach Palästina zu gelangen. Dort schloss er sich 1940 der Armee an. In den 1950er Jahren lebte er mit seiner Frau und seinen Kindern in Kanada, bevor die Familie in die USA auswanderte, wo der Zeitzeuge zum Zeitpunkt des In- terviews lebte.

Loewy Sarah326 Sarah Loewy (geb. Burstin) wurde am 02.04.1910 in Polen geboren. Die Eltern Samuel und Regina (geb. Veit) Burstin stammten aus Galizien und kamen 1914 nach Graz. Der Vater ar- beitete an der Börse in Wien und kam nur wochenends nach Graz, wo die Mutter mit den sechs Kindern am Griesplatz 28 lebte. Im Jahre 1936 heiratete die Zeitzeugin in Graz Erwin Loewy, den Bruder einer anderen Zeitzeugin, nämlich jenen von Margarethe Welisch. Nachdem die Familie über Skandinavien in die USA floh, baute sie sich dort ein Import-Export-Business auf.

324 LANDSKRONER, Interview 48062. 325 LICHTENSTEIN, AHC 12. 326 LOEWY, 1997.A.0382.4. 71

Die Zeitzeugin lebte zum Zeitpunkt des Interviews mit ihren Kindern in den USA, ihr Mann verstarb bereits 1960.

Molczadski Genia327 Genia Molczadski (geb. Tannenbaum) wurde 1914 in Graz geboren. Gemeinsam mit ihren El- tern Leo und Betti Tannenbaum, die ursprünglich aus Polen waren, und ihren Brüdern Markus Heinrich, Siegfried und Max wohnte die Zeitzeugin in der Wielandgasse 8. Der Vater war Kauf- mann, die Mutter erlernte den Beruf der Schneiderin, übte diesen aber nach der Heirat nicht weiter aus. Nach dem Novemberpogrom konnte die Zeitzeugin Mitte November 1938 als Dienstmädchen nach England gelangen, während zwei ihrer Brüder sowie die Mutter nach Pa- lästina flüchteten. Der Vater war bereits ein Jahr zuvor verstorben. 1949 konnte Genia schließ- lich zu ihrer Familie nach Israel auswandern, wo sie 1953 heiratete und zum Zeitpunkt des Interviews mit ihrem Sohn lebte.

Newman Eric328 Eric Newman wurde am 30.12.1924 in Graz geboren. Gemeinsam mit seinen Eltern Oskar und Julia (geb. Welisch) Neumann und seiner Schwester Hedi wohnte der Zeitzeuge in der Annen- straße 47. Der Vater verdiente sich als Geschäftsmann und die Mutter half in der Schneiderei der Großeltern aus. Mit einem Kindertransport gelang Eric Newman die Flucht nach England, wo er auf dem Bauernhof seiner Pflegefamilie arbeitete. Später besuchte er die Abendschule, arbeitete in verschiedenen Jobs und meldete sich schließlich 1945 freiwillig bei der amerikani- schen Armee, wo er in Offenbach bei der „Civil Cencorship Devision“ arbeitete. Einer seiner Kontakte ermöglichte es ihm 1946 an den Nürnberger Prozessen teilzunehmen. Im selben Jahr kam der Zeitzeuge zurück nach England. Dort lebte er mit seiner Frau und seinen Kindern auch zum Zeitpunkt des Interviews.

Philippsohn-Lang Trude329 Trude Philippsohn-Lang (geb. Lang) wurde 1915 als Tochter von Fritz und Elsa (geb. Stern) Lang geboren. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder lebte die Zeitzeugin in einem Anwesen nahe der Karlau. Nachdem die Zeitzeugin maturiert hatte, absolvierte sie das Studium der Geschichte, das sie 1938 still und heimlich abschloss. Als Dienstmädchen konnte Trude

327 MOLCZADSKI, weitererzählen.at. 328 NEWMAN, Interview 26760. 329 PHILIPPSOHN-LANG, Erinnerungen, 1996. – PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996. – PHILIPPSOHN-LANG, On my Way to Adoption, 2020. 72

Philippsohn-Lang nach England kommen. Nachdem sie den Anforderungen dieses Berufs je- doch nicht gewachsen war, wurde sie bald entlassen. In ihrer neuen Arbeit als junge Lehrerin schien sie ihre Berufung gefunden zu haben. Diese Beschäftigung führte die Zeitzeugin schließ- lich auch in ihrer neuen Heimat Israel bis zur Pension aus, wohin sie 1947 emigriert war.

Pollak Otto330 Otto Pollak wurde 1915 als Sohn von Gustav und Zora Pollak geboren. Gemeinsam mit seinen Eltern und einer Schwester Lotte wohnte der Zeitzeuge erst in der Klosterwiesgasse 65, von wo die Familie 1937 zum Rosenberggürtel 48 verzog. Der Vater war Ingenieur und Hofrat und in der Stadt höchst angesehen. Die Mutter stammte aus Kroatien, wo man viele Verwandte hatte. Noch vor dem Novemberpogrom konnte der Zeitzeuge nach Palästina flüchten, und auch der Schwester gelang die Flucht, während beide Elternteile in Konzentrationslagern ermordet wur- den. In Palästina meldete sich Otto Pollak freiwillig für das englische Militär. 1948 kehrte er zurück, um sein Medizinstudium zu beenden, das er nach dem „Anschluss“ hatte abbrechen müssen. 1953 emigrierte der Zeitzeuge schließlich wieder nach Israel, wo er auch seine autobi- ographischen Schriften verfasste.

Rowelsky Gertrude331 Gertrude Rowelsky (geb. Latzer) wurde am 30.04.1919 in Graz geboren. Ihr Vater Karl Latzer war Getreidehändler und die Mutter Julie Latzer Hausfrau. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder Rudolph lebte die Zeitzeugin in der Kaiserfeldgasse 22. Nach dem November- pogrom konnte Gertrude Rowelsky als Kindermädchen nach England gelangen. Später arbei- tete sie dort als Näherin. Nach ihrer Hochzeit verzog sie mit ihrem Ehemann nach Los Angeles, Kalifornien, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Salzmann Harald332 Harald Salzmann wurde 1921 in Graz geboren. Sein Vater, Simon Salzmann, hatte seinen ei- genen Malerbetrieb. Er stammte aus der Bukowina. Seine Mutter stammte aus Graz und hatte eine Tochter aus erster Ehe, die jedoch nicht bei der Familie Salzmann am Griesplatz 4 lebte. Zudem entstammte auch einer früheren Beziehung des Vaters eine Halbschwester, zu der man jedoch nur wenig Kontakt hatte. Nach seiner Schulbildung begann Harald Salzmann eine Lehre

330 POLLAK, Memory is for us our only hope, 1996. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. – POLLAK, From Graz to Tel Aviv, 2002. 331 ROWELSKY, Interview 19204. 332 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991. 73

zum Maler im Betrieb seines Vaters. Kurz vor Kriegsausbruch, im Juli 1939 gelang der Familie die Flucht nach Tanger, Marokko. Während die Mutter dort 1943 verstorben war, kamen Vater und Sohn 1947 zurück nach Graz.

Silberstein Otmar333 Otmar Silberstein wurde am 18.04.1921 in Graz geboren. Seine Eltern Robert und Rejla Feiga Silberstein stammten ursprünglich aus Polen. Gemeinsam mit seinen Eltern und den Geschwis- tern Melanie und Samuel wohnte der Zeitzeuge in der Neutorgasse 6. Der Vater führte eine Schneiderei und unterwies seinen Sohn in diesem Handwerk, nachdem er vom Oeverseegym- nasium in Folge des „Anschlusses“ ausgeschult worden war. Im Zuge des Novemberpogroms wurde der Zeitzeuge verhaftet und nach Dachau deportiert. Nachdem er nach einigen Wochen wieder freigelassen worden war, versuchte er verzweifelt Ausreisepapiere zu erlangen. Ende Juli 1939 konnte er schließlich in die USA flüchten. Im Exil arbeitete er tagsüber und besuchte danach die Abendschule. Mit einem Stipendium studierte er anschließend an der „National Farm School“ und verpflichtete sich hierauf in der amerikanischen Armee. Danach machte er seinen PhD und arbeitete in der Nahrungsmittelindustrie. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte der Zeitzeuge mit seiner Familie in den USA.

Tuchendler Batja334 Batja Tuchendler (geb. Gertler) wurde 1926 in Graz geboren. Den Namen Batja nahm die Zeit- zeugin erst später an. Ursprünglich hieß sie Berta. Ihre Eltern hießen Mayer (Max) und Golde Henie (Golda) (geb. Baumgartner) Gertler und kamen ursprünglich aus Polen. Gemeinsam mit ihren drei Schwestern, einem Bruder und ihren Eltern wohnte die Zeitzeugin in der Neubau- gasse 59. Nachdem die anderen Familienmitglieder nach dem Novemberpogrom als Dienst- mädchen nach England sowie mit einem Kindertransport nach Schweden und einem illegalen Transport nach Palästina gelangen konnten, blieb die Zeitzeugin allein in einem Kinderheim in Wien zurück, da sie sich für keine der Auswanderungsmöglichkeiten qualifizierte. Ein Bekann- ter aus Graz verschaffte ihr schließlich noch ein Zertifikat und so gelang Batja Tuchendler über Silvester 1940 doch die Flucht nach Palästina, wo sie mit ihrer Familie vereint wurde. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte die Zeitzeugin in Haifa.

333 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. 334 TUCHENDLER Batja, LBIJER AHC 108. Austrian Heritage Collection, Leo Baeck Institute. Haifa 10.07.2019; https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE6274840 [Abruf: 20.11.2020]. 74

Wachs Brigitte335 Brigitte Wachs (geb. Welisch) wurde am 12.10.1932 in Graz geboren. Ihre Eltern Albert und Margarethe (geb. Loewy) Welisch, die ebenfalls eine Zeitzeugin des Quellekorpus ist, führten ein Herrenbekleidungsgeschäft. Mit ihrer Schwester und den Eltern wohnte die Zeitzeugin in der Albrechtgasse 1. Nach dem Novemberpogrom floh die Familie nach Manila. Als die Phi- lippinen von Japan okkupiert wurden, suchte man erneut nach einem Ausweg und emigrierte schließlich in die USA. Brigitte Wachs besuchte dort „The Cooper Union for the Advancement of Science and Art” und arbeitete anschließend als Textildesignerin und Illustratorin. Gemein- sam mit ihrer Familie lebte die Zeitzeugin zum Zeitpunkt des Interviews in New Jersey.

Weiss Anna336 Anna Weiss (geb. Loewi) wurde am 23.01.1911 in Graz als Tochter des Professors und Nobel- preisträgers Otto Loewi und seiner Frau Mina Loewi (geb. Goldschmiedt) geboren. Die Eltern kamen ursprünglich aus Deutschland und zogen wegen der Stelle des Vaters nach Graz. Die Familie, der außerdem die Söhne Hans, Viktor und Guido angehörten, lebte in einem Haus in der Johann-Fux-Gasse 35. Ab 1932 studierte die Zeitzeugin erst in München, dann in Wien Medizin. 1936 heiratete Anna Ulrich Weiss und brach das Studium kurz vor Beendigung ab. Mit ihrem Mann und ihrem Kind wohnte sie in der Tschechoslowakei, von wo sie nach der Machtübernahme der NationalsozialistInnen über Brüssel nach Frankreich gelangten. Von dort konnte die Familie 1941 über die Dominikanische Republik nach New York flüchten. 1957 zog die Familie nach Washington DC, wo sie auch zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

Welisch Margarethe337 Margarethe Welisch (geb. Loewy) wurde am 08.06.1908 in Graz geboren. Ihre Eltern Jakob und Hermine Loewy (geb. Stern) waren Inhaber eines Herrenbekleidungsgeschäftes. Gemein- sam mit den Brüdern Frank und Erich sowie mit den Eltern lebte die Zeitzeugin in der Annen- straße 50. Nach Ende ihrer Schulzeit arbeitete die Zeitzeugin im Geschäft ihres Vaters. Im De- zember 1929 heiratete sie Albert Welisch und arbeitete von da an in dessen Bekleidungsge- schäft. 1932 und 1936 kamen die beiden Töchter Brigitte und Susanne zur Welt. Nach dem Novemberpogrom flüchtete die Familie auf die Philippinen. Als es durch die Okkupation der Philippinen durch Japan immer schwieriger wurde, dort einigermaßen sicher zu leben, emi- grierte die Familie 1948 in die USA, wo die Zeitzeugin zum Zeitpunkt des Interviews lebte.

335 WACHS, Interview 6069. – WACHS, AHC 3310. 336 WEISS, 1993.A.0095.89. – WEISS, Interview 21635. 337 WELISCH, Interview 6090. 75

5. JÜDISCHE KINDHEIT UND JUGEND IN GRAZ Die Erinnerungen an das Aufwachsen der ZeitzeugInnen während der Zwischenkriegszeit in Graz sind gekennzeichnet von Themen wie Schulzeit, Freizeitaktivitäten und Familientreffen und antisemitischen Vorfällen. Dennoch umfasst jeder Bericht einzelne Schwerpunkte und ver- tritt andere Auffassungen, wie das Leben bis zum „Anschluss“ stattfand. Größtenteils werden die Kindheit und Jugend in Graz als sehr schön bezeichnet. Nur einige Berichte weichen von diesem Muster ab und sprechen von einem eher schlechten Verhältnis zur Stadt ihrer Kindheit. Dass ein Ort, an dem nachweislich viel Antisemitismus herrschte, dennoch als schöne Heimat beschrieben wird, mag eventuell daran liegen, dass man die nationalsozialistische Machtüber- nahme als Ursprung allen Übels betrachtete, die das bisherige Leben beendete bzw. wirkt alles im Vergleich zu dem danach erlebten Leid relativ. Möglicherweise findet dadurch eine Ideali- sierung der Zeit davor statt. und sie erscheint retrospektiv in einem besseren Licht. Diese An- nahme geht beispielsweise mit der Aussage von Anna Weiss einher, die meint, vor dem „An- schluss“ ein ganz normales Leben geführt zu haben.338 Auch Otto Pollak führt an: „Meine Ju- gendjahre verbrachte ich in Graz. Wie auf einer Insel, unbesorgt, glücklich und als ein großer Lokalpatriot.“339 Diesen Umstand führt er auf die Stellung seines Vaters zurück, der als Hofrat und mehrfach ausgezeichneter Offizier des Ersten Weltkrieges in der Stadt sehr angesehen war. Lisa Gerber schwelgt ebenso in glücklichen Erinnerungen an ihre Kindheit in Graz: „Ich fühlte mich damals kaum benachteiligt, meine Kinderjahre enthielten fast nur schöne Erinnerungen, an Ausflüge in die Grazer Umgebung, an die vielen Einladungen in schöne Villen, an die Gesellschaft von anderen Kindern, an liebevolle Verwandte, an Sport, Mu- sik, lange, herrliche Stunden in der Karlau (dem Besitz von Mutters Bruder und dessen Frau).“340

Kurt Landskroner beschreibt seine Kindheit in Graz gleichfalls als glücklich: „I have very happy memories of my early childhood. School was pleasant and I had friends and family around me. I really was quite a happy child“.341 Dass diese ZeitzeugInnen ihre Kindheit in Graz als schön bezeichnen, obwohl jeder einzelne von ihnen vermutlich auch antisemitische Erfah- rungen in der Stadt machen musste, hängt wohl damit zusammen, dass die kindlichen Lebens- welten vielschichtig sind, sich aus vielen Erinnerungen zusammensetzen und aufgrund nach- folgender Ereignisse oftmals auch eine Verglorifizierung der Kindheitserinnerungen in der Ret- rospektive einsetzt. Günter Müller gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Erzählun- gen einem Spannungsfeld von Gegenwart und Vergangenheit entstammen: „Sie bieten eine von

338 WEISS, Interview 21635, Tape 1. 0:11:13–0:11:21. 339 POLLAK, Memory is for us our only hope, 1996, p. 320. 340 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 300. 341 LANDSKRONER, Interview 48062, Tape 1. 0:02:32–0:03:05. 76

der Gegenwart her ‚organisierte‘, auf der Summe aufgeschichteter persönlicher Lebenserfah- rungen basierende, selektive Zusammenschau vergangener Erlebnisse.“342 Die Erinnerungen der ZeitzeugInnen sollen aus diesem Grund stets vom Hintergrund des Spannungsfeldes zwi- schen Vergangenem und Gegenwärtigem gesehen und interpretiert werden. Im Folgenden sol- len einzelne Elemente der kindlichen Lebenswelten näher beleuchtet werden. Eingeteilt wurden diese in Bildung und Erziehung, (Jüdische) Lebenswelten in Graz und in „Anschluss“ und die Zeit bis zur Emigration in der Erinnerung der Kinder und Jugendlichen.

5.1. Bildung und Erziehung Erfahrungen mit Bildung und Erziehung sind ein fixer Bestandteil der Kindheit und Jugendzeit. Spätestens mit dem Schuleintritt beginnt die Eingliederung in die Gesellschaft und Kinder ma- chen zumindest ab diesem Zeitpunkt erste Erfahrungen mit der Umwelt, in der sie aufwachsen. Während die Kinder, die die jüdische Volksschule besuchten, sich während der Volksschulzeit weiterhin in einem jüdischen Umfeld aufhielten, kamen die Kinder, die andere Volksschulen besuchten, und alle jüdischen Kinder in weiterführenden nichtjüdischen Schulen, in Kontakt mit Personen, die anderen Religionen angehörten. All diese Kontakte, ob jüdisch oder nichtjü- disch, prägten die ZeitzeugInnen während ihrer Kindheit.

5.1.1. Volksschulzeit Die absolute Mehrheit der ZeitzeugInnen gaben an in die jüdische Volksschule am Grieskai gegangen zu sein. Nur eine kleine Minderheit besuchte andere Schulen. Anna Weiss etwa, die Tochter von Nobelpreisträger Otto Loewi, wurde in die evangelische Volksschule geschickt, da es sich dabei angeblich um die beste der Grazer Volkschulen handelte. Die Zeitzeugin gibt an, dass sie in dieser Schule auch erstmals bewusst wahrnahm, dass sie Jüdin ist und sich dadurch von den übrigen Kindern unterschied.343 Auch Trude Philippsohn-Lang besuchte die evangelische Volksschule. Gleich wie Anna Weiss, war auch sie das einzige jüdische Kind in ihrer Klasse. Warum sie nicht in die jüdische Volksschule geschickt wurde, konnte die Dame später nicht nachvollziehen, geht aber davon aus, dass es ihren Eltern darum ging, den Antise- mitismus mit der Hinwendung zur deutschen Kultur, für die diese Schule bekannt war, zu über- winden.344 Von Helma Goldmark ist ebenfalls bekannt, dass sie nicht die jüdische Volksschule besuchte, sondern ihre Ausbildung in der katholischen Volksschule St. Andrä begann.345

342 MÜLLER, „Vielleicht interessiert sich mal jemand…“, 2006, p. 82–83. 343 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:09:03–0:10:44. – WEISS, Interview 21635, Tape 1. 0:07:25–0:08:47. 344 PHILIPPSOHN-LANG, Erinnerungen, 1996, p. 106–107. 345 GOLDMARK, AHC 168, Tape 1. 0:01:06–0:01:37; Tape 2. 0:17:30-0:17:53. 77

Insgesamt besuchten 20 ZeitzeugInnen des Quellenkorpus die jüdische Volksschule.346 Bei dreien ist die Schulwahl unbekannt347 und zwei waren bis zur Emigration noch nicht schul- pflichtig.348 Diese zwei ZeitzeugInnen, Henry Heinz Brecher und Brigitte Wachs, berichten jedoch davon, in Graz den Kindergarten besucht zu haben, was keineR der anderen ZeitzeugIn- nen erwähnt.349 Dadurch, dass die überwiegende Mehrheit die jüdische Volksschule besuchte, entstand bei den SchülerInnen wohl oftmals die Wahrnehmung, dass alle jüdischen Kinder diese Schule besuchten, so meint etwa Edith Basch: „All of us went to the Jewish school for the first four years. [...] and everybody went there. All the Jewish children, it wasn't for that you wanted your children to have a particularly Jewish education like we do here. It was just completely taken for granted.“350

Dieselbe Feststellung macht auch Elfreda Fuchs: „The first four years were the Jewish school and where all the Jewish children went to.”351 Eine realistischere Einschätzung scheint hier David Grünschlag getroffen zu haben, der meint: „Soviel ich abschätzen kann, sind ein großer Teil, mindestens 80% der jüdischen Kinder von Graz in die jüdische Volksschule gegangen.“352 Wie viele Kinder nun wirklich die jüdische Volksschule besuchten, kann aufgrund der fehlen- den Akten nicht eruiert werden. Aus dem Schuljahr 1908/09 ist im „Grazer Israelitischen Ge- meindeboten“ angegeben, dass 102 jüdische SchülerInnen die eigene Volksschule besuchten, während 68 in andere Schulen gingen.353 Dass sich diese Zahl während der Zwischenkriegszeit mit dem Anstieg des Antisemitismus tendenziell dahingehend verschob, dass mehr jüdische Kinder die israelitische Volksschule besuchten, ist jedoch anzunehmen. Die unterschiedlichen Angaben der Interviewten zeigen, dass die Einschätzungen der ZeitzeugInnen zu verschiedenen Themen divergieren. Wenn den Berichten auch keine genaue Zahlenangabe entnommen wer- den kann, so geht aus den Aussagen trotzdem hervor, dass die jüdische Volksschule ein wich- tiger Bestandteil der jüdischen Gemeinde in Graz war.

346 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. – NEWMAN, Interview 26760. – LOEWY, 1997.A.0382.4. – SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991. – DORTORT, Interview 54747. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at. – KLEIN, Interview mit Heinz Klein. – FRIEDLANDER, AHC 1196. – BUSCH, Interview 33714. – KOEVESI, 1997.A.0382.3. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916. – EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017. – LICHTENSTEIN, AHC 12. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108. – WELISCH, Interview 6090. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. – COHN, 1997.A.0382.1. – GOTTLIEB, Interview 37861. – BASCH, Interview 13330. – FUCHS, Interview 53605. 347 ROWELSKY, Interview 19204. – LANDSKRONER, Interview 48062. – GERBER, Emigranten-Existenz, 1996. 348 WACHS, AHC 3310. – WACHS, Interview 6069. – BRECHER, AHC 2585. – BRECHER, Interview 51367. 349 WACHS, Interview 6069, Tape 1. 0:05:48–0:06:07. – BRECHER, Interview 51367, Tape 1. 0:21:36–0:22:49. 350 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:04:21–0:05:05. 351 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:01:10–0:01:16. 352 GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:01:10–0:01:16. 353 N. N., Schule. In: „Grazer Israelitischer Gemeindebote” vom August 1908, p. 80. 78

Laut Berichten älterer ZeitzeugInnen, dauerte die Volksschulzeit in früheren Jahren oft- mals fünf Jahre, während die jüngeren von einer vierjährigen Zeit in der jüdischen Volksschule sprechen. Kurt Koevesi, der die Volksschule bereits zu Beginn der Zwischenkriegszeit be- suchte, benennt die Dauer mit fünf Jahren. Dafür gibt er jedoch auch eine Ausnahme an: „Es gab damals fünf Jahrgänge, nicht vier, die besonders Begabten sind schon von der vierten Klasse aus der Volksschule ausgeschieden und haben dann höhere Lehranstalten besucht.“354 Die weiteren ZeitzeugInnen geben entweder keine Zeitangabe oder vier Jahre für die Dauer der Volksschulzeit an. Akten des Steiermärkischen Landesarchivs bezeugen, dass im Jahr 1922 tatsächlich fünf Jahre für die Volksschulzeit anberaumt wurden. Aus einer Verleihung des Oberlehrertitels an Julius Steiner in diesem Jahr geht hervor, dass dieser die vierte und fünfte Schulstufe gemeinsam unterrichtete, die als vierte Klasse geführt wurde.355 Ab wann diese fünfte Klasse schließlich ganz wegfiel, kann mit den vorliegenden Akten nicht festgestellt wer- den. Auch wie viele Kinder an der jüdischen Volksschule unterrichtet wurden, lässt sich auf- grund der schlechten Ak- tenlage leider nicht näher bestimmen. Laura Cohn meint sich zu erinnern, dass etwa 20 bis 25 Kinder pro Klasse unterrichtet Abbildung 4: Hermine Loetsch mit ihrer letzten Volksschulklasse, Graz, 356 wurden. Diese Aussage 1923. stimmt auch ungefähr mit Quelle: StLA, Nachlass Loetsch Hermine. K.1. H 2. den wenigen Schulfotos überein, die einige ZeitzeugInnen zum Ende des Interviews herzeigen, sowie dem Foto im Nachlass der Lehrerin Hermine Loetsch, die bis zu ihrer Pensionierung mehr als 30 Jahre an der jüdischen Volksschule in Graz unterrichtete.357 (siehe Abbildung 4)

354 KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:12:39-0:13:05. 355 StLA, LschRalt-C-44-2105-1922. 356 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:27:32–0:27:42. 357 StLA, Nachlass Loetsch Hermine. K.1. H 1. 79

Insgesamt sind acht Schulfotos von vier Inter- viewten und der ehemaligen Lehrerin vorlie- gend. Ein Teil davon zeigt, dass während der 1920er Jahre knapp 20 Kinder in jeder Klasse waren.358 Während auf einem Foto der 4. Klasse im Jahr 1930 noch 25 Kinder zu sehen sind,359 scheint sich diese Anzahl im Laufe der 1930er Jahren, zumindest den Fotos zufolge, verringert Abbildung 5: 1. Klasse der jüdischen Volks- schule, Graz, 1927. zu haben. So sind auf den jüngsten Fotos von Quelle: Interview mit Otmar Silberstein, 2004, Leo Dortort aus den Jahren 1934 in der ersten Archiv des Tauber Holocaust Library of the Jew- ish Family and Children’s Services Holocaust Klasse nur neun SchülerInnen zu sehen und auf Center. dem Foto von 1938, auf dem die dritte und vierte Klasse gemeinsam abgebildet sind, nur achtzehn Kinder zu sehen.360 Ob dieser Umstand einem Geburtenrückgang, einer Emigrationsbewegung oder der Abwendung vom Judentum hin zur An- meldung der Kinder an anderen Schulen ge- schuldet ist, kann nicht eruiert werden. Ein Hin- weis für letzteres wäre ein halbseitiger Artikel in Abbildung 6: 4. Klasse der jüdischen Volks- den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusge- schule, Graz, 1930. meinde Graz“. Dort erschien 1935 erstmals der Quelle: Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem. Aufruf an jüdische Eltern, ihre Kinder in der is- 1495/9. raelitischen Volkschule anzumelden, während in den Jahren zuvor stets nur der Hinweis gege- ben wurde, wann die Einschreibung stattfindet und was dafür mitzubringen ist.361 Besonders gut in Erinnerung blieb den ZeitzeugInnen der spätere Direktor der Schule, der die Kinder auch persönlich unterrichtete, da er der Lehrer der höheren Schulstufen war. So wird Julius Steiner von sieben ZeitzeugInnen namentlich erwähnt.362 Abseits dieser Erwähnun- gen berichten die ZeitzeugInnen aber kaum von weiteren Erinnerungen an den Direktor. Ein

358 BUSCH, Interview 33714, Tape 4. 0:10:58–0:15:00. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 2. 0:15:42– 0:16:36. – StLA, Nachlass Loetsch Hermine. K.1. H 2. 359 Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem, 1495/9. 360 DORTORT, Interview 54747, Tape 2. 0:51:08–0:55:37. 361 N. N., An die jüdischen Eltern! In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom März 1935, p. 2. 362 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:25:43–0:27:27. – DORTORT, Interview 54747, Tape 2. 0:51:08–0:52:04. – GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:16:57–0:18:04. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:04:56–0:07:02. – KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:13:17–0:15:49. – LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 1. 0:02:12–0:02:29. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:15:47–0:16:41. 80

zweiter Lehrer, der genannt wird, ist Lehrer Heinrich Herrmann, der den ZeitzeugInnen nur unter seinem Nachnamen geläufig ist.363 Während die Erinnerungen der übrigen ZeitzeugInnen an ihre Zeit in der jüdischen Volksschule recht kurz ausfallen, erinnert sich Laura Cohn detail- liert an diese Zeit zurück: „Und, wie gesagt, ich bin in die jüdische Volksschule gegangen die ersten vier Jahre und zwar mein, der erste Lehrer war Lehrer Herrmann, ein gewisser Lehrer Herrmann, in der ersten Klasse, die zweite Lehrerin war Carola Elter, das war in der zweiten Volksschul- klasse, der dritte war Max Jellinek, der war in der dritten Klasse und der vierte war Julius Steiner und er war zugleich der Direktor von der jüdischen Volksschule.“364

Besonders gerne scheint sich die Zeitzeugin an die zweite Klasse zu erinnern: „Da war eine Lehrerin, die war sehr lieb. Die war aus Deutschland, sie war eigentlich eine Deutsche, sie war eine liebe Lehrerin. Ich kann mich nur erinnern, wenn wir ein Lied einstudiert hatte, hatte sie mich immer vorgerufen, weil ich hab das immer gleich, die Melodie hab ich mir immer gleich gemerkt. Und da hat sie mich einstudiert und da hat sie die anderen scheinbar auch [sic]. An die Carola Elter kann ich mich gut erinnern. Wegen Singen und Turnen. Singen und Turnen waren meine Lieblingsfächer immer.“365

Dass sich Frau Cohn an diese Lehrerin ganz besonders gut erinnern kann, liegt wohl daran, dass sie besondere Emotionen mit der Erinnerung verbindet. Dasselbe gilt auch für die folgende Erinnerung von Eric Newman, wenn sie auch nicht die Lehrperson betrifft, sondern Situationen, während der er in der Schule glücklich war: „I remember doing all sort of pranks to teachers when they weren't looking but basically, I think I was quite happy there. I don't know if I learned a lot. I was good at singing, at maths, at geography, at history, very bad in German, languages don't seem to have been my great [unverständlich] in all my school life but basically quite happy. Used to enjoy, to coming home we had a mile or so to walk home, used to always have a stone or an old tin and play tag all the way home. And basically I enjoyed my school.“366

Der Zeitzeuge erinnert sich weniger an die Schule selbst als an das Gefühl, das er dort hatte. Auch seine Erinnerungen sind stark von seinen Emotionen abhängig. Ebenso ist es bei Leo Dortort. In seinen Erinnerungen an den Hebräischunterricht in der jüdischen Volksschule be- schreibt er zuallererst, dass ihm dieser keine Freude bereitete und er nach Ausreden suchte, nicht an diesem teilnehmen zu müssen:

363 Siehe Akt zur Bewerbung um eine Stelle im Saarland. StLA, LSchRalt-11H-4-1934. K. 1378. – COHN, 1997.A.0382.1. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916. – Bei diesem Mitglied des Lehrkörpers dürfte es sich auch um ein besonders aktives Gemeindemitglied gehandelt haben. Zahlreiche Artikel in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“ sind von dem Lehrer verfasst oder berichten von Vorträgen, die er hielt. 364 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:25:43–0:26:15. 365 Ebda.,Tape 1. 0:32:15–0:33:17. 366 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:15:26–0:16:29. 81

„Wir wollten nicht lernen. wir haben Ausreden gehabt. Zum Beispiel wenn wir auf die Toilette gehen mussten, so gesessen. Die ganze Klasse so gesessen. Wir wollten auf die Toilette gehen und so weiter und ich kann mich erinnern, interessant.“367

Ob es während der gesamten Zwischenkriegszeit einen Hebräischunterricht an der jüdischen Volksschule gab, kann nicht genau nachvollzogen werden. Während Leo Dortort 1928 geboren ist und somit bis zur Machtübernahme der NationalsozialistInnen die jüdische Volksschule be- suchte, meint etwa der ältere Zeitzeuge David Grünschlag, der 1917 geboren ist, an der jüdi- schen Volksschule keinen Hebräischunterricht bekommen zu haben.368 Die Einführung des Hebräischunterrichts könnte somit bereits auf eine Vorbereitung für die Emigration nach Pa- lästina betrachtet werden. Dazu würde auch die wiederkehrende Aussage des Hebräischlehrers passen, an die sich Herr Dortort erinnert: „Kinder, lernt. Ihr werdet es noch einmal brauchen.“369 Andererseits könnten die beiden ZeitzeugInnen jedoch auch eine unterschiedliche Auffassung vom Hebräischunterricht haben. Während weitere ZeitzeugInnen nämlich angeben, sich in ih- ren religiösen Unterweisungen sehr wohl Hebräischkenntnisse angeeignet zu haben, die sich aber nur auf die Übersetzung von Gebeten beschränkten, meinen sie auch, dass modernes Heb- räisch nicht unterrichtet wurde. Aus diesem Grund könnte es sein, dass sich Leo Dortort auf den Übersetzungsunterricht bezieht, während David Grünschlag davon ausgeht, dass nach mo- dernem Sprachunterricht gefragt wird. Wie bereits in Kapitel 3.3 angemerkt, besaß die jüdische Volksschule das Öffentlichkeits- recht, doch besuchten trotzdem nur jüdische Kinder die Schule. Das Ziel der jüdischen Volks- schule, wie auch im „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“ erwähnt wurde, war sicherlich zu einem großen Teil, die Kinder vor dem starken Antisemitismus der Umwelt zu schützen.370 Diese Überlegung stimmt auch mit Angaben der ZeitzeugInnen überein. Diese meinen größ- tenteils, dass sie trotz des jüdischen Religionsunterrichts eine eher allgemeine Ausbildung er- hielten, in der nicht sonderlich viel Wert auf jüdische Erziehung gelegt wurde. Nachdem alle österreichischen SchülerInnen während dieses Zeitraums einen Religionsunterricht besuchen mussten, erhielten auch die jüdischen Kinder, die andere Volksschulen besuchten, außerhalb der Schule jüdischen Religionsunterricht. Aus diesem Grund geben viele der ZeitzeugInnen an, durch die jüdische Volksschule keine stärkere jüdische Erziehung erhalten zu haben, als sie sie an einer nichtjüdischen Volksschule mit jüdischem Religionsunterricht bekommen hätten. Da- vid Grünschlag meint in diesem Zusammenhang, dass die religiöse Erziehung von Kindern sehr religiöser Eltern neben der Schule stattfand: „Religiös war sie nicht sehr, religiöser Studienplan

367 DORTORT, AHC 4066, Tape 2. 2:35:19–2:36:05. 368 GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:10:55–0:11:00. 369 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 0:52:56–0:54:44. 370 N. N., Haben wir es notwendig!, 27.05.1914, p. 29. 82

Abbildung 5: Zeugnis der jüdischen Volksschule, Graz, 1932.

Quelle: Schulzeugnis der israelischen Privat-Volksschule in Graz für Dorit Beatrice Braun, Graz 11. Februar 1933 - 1. Juli 1933, Papier, Tinte, 29,7 x 20,9 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2010/209/2, Schen- kung von Trixie Wachsner.

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war sehr schwach und nur die Kinder, deren Eltern sehr religiös waren, haben das übernom- men.“371 Auf die Frage, ob die Kinder an der jüdischen Schule mehr jüdische Erziehung erhiel- ten als Kinder, die nichtjüdische Schulen besuchten, meint Grünschlag schließlich: „Ohja schon, denn vor allem die Atmosphäre war rein jüdisch, aber sehr viel an Religi- onsunterricht haben wir nicht abbekommen. […] Der Lehrplan, soviel ich mich erinnern kann, war sehr allgemein.“372

Diese jüdische Atmosphäre scheinen die ZeitzeugInnen genossen zu haben, denn wiederholt ist in den Interviews zu hören, dass sie nach vier oder fünf Jahren von der jüdischen Volksschule in eine nichtjüdische höhere Schule wechseln mussten, da es keine weiterführende jüdische Schule in Graz gab.373 Dieser Umstand scheint vielen der Erzählenden nicht sehr willkommen gewesen zu sein, nahmen mit dem Wechsel in öffentliche Schulen, die durch christliche Schü- lerInnen und LehrerInnen geprägt waren, doch antisemitische Erfahrungen stark zu.

5.1.2. Weitere Schulbildung Nach Abschluss der Volksschule gaben die meisten Frauen an, ans Lyzeum gewechselt zu ha- ben. Dieser Schultyp war bereits zur Zeit der österreich-ungarischen Monarchie sehr beliebt. Dies mag verwundern, da Schülerinnen in diesem Schultyp nur selten eine Ausbildung bis zur Reifeprüfung erlangen konnten. Dennoch war es für Mädchen oft die einzige Möglichkeit, eine über die Schulpflicht hinausgehende Bildung zu erlangen.374 Die Gründung des ersten Mäd- chenlyzeums in Graz erfolgte bereits 1873 als eines der ersten in der Monarchie. Nach zahlrei- chen Reformen konnten Schülerinnen ab 1900 erstmals eine Lyzealmatura ablegen, die jedoch nicht zum Studium an einer Universität berechtigte. Eine solche Berechtigung musste damals noch durch eine Externistenreifeprüfung erlangt werden. Erst mit der Umwandlung des Lyze- ums zu einem Realgymnasium 1924/25 konnten die Schülerinnen eine vollwertige Reifeprü- fung an diesem Schultyp ablegen.375 Insgesamt fünf der in der vorliegenden Arbeit zu Wort kommenden Zeitzeuginnen geben an, das Lyzeum bzw. das Mädchenrealgymnasium besucht zu haben. Interessanterweise wird auch nach der Umwandlung des Lyzeums in ein Realgym- nasium die Schule in den meisten Fällen noch immer als „Lyzeum“ bezeichnet.376 Drei weitere

371 GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:04:56–0:07:02. 372 Ebda.,Tape 1. 0:11:00–0:11:42. 373 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:35:03–0:36:33. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:3913– 0:39:34. – DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:00:47–0:01:57. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:10:19– 0:10:55. 374 LICHTBLAU Albert (Hg.), Als hätten wir dazugehört, 1999, p. 71. 375 SIMON, Vom ersten privaten „Mädchenlyzeum“, 1996, p. 7, 13–16. 376 WEISS, 1993.A.0095.89. – WEISS, Interview 21635. – PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996. – WELISCH, Interview 6090. – GOLDMARK, AHC 168. – COHN, 1997.A.0382.1. 84

Zeitzeuginnen geben an, in Hauptschulen oder Haushaltungsschulen gegangen zu sein,377 eine Zeitzeugin besuchte das Pestalozzigymnasium,378 während die restlichen vier Zeitzeuginnen keine Angaben zum weiteren Schulbesuch machen.379 Im Anschluss an die Mittelschule be- suchte eine Zeitzeugin ein Gymnasium. Trude Philippsohn-Lang maturierte am Lichtenfels- gymnasium und ging schließlich dem Geschichtestudium an der Karl-Franzens Universität Graz nach.380 Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, erkannte auch Genia Molczadski, die meint: „Ja, damals war Matura für Mädchen nicht so eine Selbstverständlichkeit. Und einzelne Fälle, die irgendwie schon motivation [sic, englische Aussprache] gehabt haben zu weiter zu studieren oder so. Ich, in meinem Fall weiß ich nur zwei, in meinem Alter.“381

Anna Weiss erinnert sich, dass auch Mädchen an den Knabengymnasien zugelassen wurden. Die Quote lag dabei jedoch bei zwei bis drei Mädchen pro 30 Knaben.382 Obwohl sie selbst gerne an eine solche Schule gegangen wäre, ließen ihre Eltern dies jedoch nicht zu.383 Auch Sarah Loewy erinnert sich, dass ihre Eltern Vorbehalte hatten, sie an ein Gymnasium gehen zu lassen. Aus diesem Grund verheimlichte sie ihnen während ihres ersten Jahres am Pestaloz- zigymnasium die Tatsache, dass sie solch eine Schule besuchte. Ihren Ausführungen zu Folge gab es an dieser Schule eine Quote von drei jüdischen Kindern, sodass neben ihr nur mehr zwei weitere jüdische Kinder am Gymnasium unterrichtet werden durften.384 Eine weitere Zeitzeu- gin, Gertrude Rowelsky, gibt an, von ihrer Mutter, die Italienerin war, zwei Jahre zum Schul- besuch nach Triest geschickt worden zu sein, um die Sprache dort ordentlich zu erlernen und sich ihres Dialekts zu entledigen.385 Bei den männlichen Personen war das Oeverseegymnasium die beliebteste Schulwahl nach der jüdischen Volksschule. Dies kann einerseits durch die Lage der Schule in Gries, wo besonders viele jüdische Familien wohnten, und andererseits durch die liberale Gesinnung der Schule, an der nur wenig Antisemitismus herrschte, erklärt werden.386 Sechs Zeitzeugen

377 ROWELSKY, Interview 19204. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108. 378 LOEWY, 1997.A.0382.4. 379 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996. – BUSCH, Interview 33714. – BASCH, Interview 13330. – FUCHS, Interview 53605. 380 PHILIPPSOHN-LANG, Erinnerungen, 1996. 381 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:20:24–0:21:27. 382 Ein Inspektionsbericht des Akademischen Gymnasiums gibt an, dass im Schuljahr 1919/20 bei einer Schüleran- zahl von 515 nur 52 Mädchen, im darauffolgenden Schuljahr 1920/21 von 576 53 Mädchen waren. Siehe StLA, LSchRalt-C40a6-1387/1921. K. 1200. 383 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:18:42–0:19:37. 384 LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 3. 0:10:50–0:12:59. 385 ROWELSKY, Interview 19204, Tape 1. 0:07:03–0:07:34. 386 DRAGARIĆ Dietmar (Hg.), Das Grazer Oeversee. Eine österreichische Schulgeschichte. Vom k. k. Staatsgymnasium zur modernen Bildungseinrichtung. Graz 2019, p. 152. 85

besuchten diese Schule,387 von denen jeweils einer später ans Lichtenfelsgymnasium388 und einer ans Pestalozzigymnasium389 wechselte. Ein Zeitzeuge besuchte erst das Pestalozzigym- nasium und wechselte dann an die Keplerschule,390 einer gab an, nach dem Gymnasium an die Handelsakademie gewechselt zu haben391 und wieder ein anderer führte seine Ausbildung an einer Fachschule für Holzbearbeitung fort.392 Lediglich ein Zeitzeuge gab an, kein Gymnasium, sondern eine Bürgerschule besucht zu haben.393 Von einem Zeitzeugen sind keine Informatio- nen über die weitere Schullaufbahn bekannt.394 Während es für die meisten ZeitzeugInnen eine Umstellung war, von einer rein jüdi- schen Schule an Schulen zu wechseln, in denen sie oftmals das einzige jüdische Kind waren, erinnert sich Trude Philippsohn-Lang an das Gegenteil: „Als ich nach der evangelischen Volks- schule ins Lyceum kam, war es ein besonderes Erlebnis noch ein jüdisches Kind in der Klasse zu haben, die Greterl.“395 Die meisten anderen ZeitzeugInnen berichten jedoch davon, die ein- zigen jüdischen Kinder in ihren Klassen gewesen zu sein. Gemeinsam mit mehreren jüdischen Kindern in eine Klasse gegangen zu sein, schildert allerdings Edith Basch. Diese Situation war aber eher einem Zufall geschuldet. Sie erzählt, dass es zu der Zeit, als sie von der jüdischen Volksschule an eine weiterführende Schule wechseln sollte, nur zwei Schulen für Mädchen gab. Während die eine keinen besonders guten Ruf hatte, waren jüdische Mädchen an der an- deren, katholischen Schule, nicht erlaubt. Durch die Freundschaft des Rabbiners Dr. Herzog, mit dem Direktor der Schule, wurde schließlich beschlossen, die Schule auch für jüdische Schü- lerinnen zu öffnen. Um welche Schulen es sich hierbei handelte, verrät die Zeitzeugin leider nicht.396 Gemeinsam mit vier anderen jüdischen Schülerinnen und jeder Menge Ratschläge der Eltern durfte Edith Basch schließlich diese Bildungseinrichtung besuchen. Den Start in der neuen Schule beschreibt sie wie folgt:

387 LANDSKRONER, Interview 48062. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. – NEWMAN, Interview 26760. – KOEVESI, 1997.A.0382.3. – LICHTENSTEIN, AHC 12. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. 388 LICHTENSTEIN, AHC 12. 389 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. 390 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991. 391 FRIEDLANDER, AHC 1196. 392 GRÜNSCHLAG, O.3/3916. 393 GOTTLIEB, Interview 37861. 394 KLEIN, Interview mit Heinz Klein. 395 PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996, p. 290. 396 Stimmen die Angaben der Zeitzeugin, dass es zwei Lyzeen gab, von denen jenes katholische erst später für Jüdinnen geöffnet wurde, so ist anzunehmen, dass ersteres das Franz-Ferdinand-Oberlyzeum in der Sackstraße 18 war, und jenes in das die Zeitzeugin ging, das Oberlyzeum der Schulschwestern in Graz. Im Jüdischen Museum Berlin konnten Zeugnisse einer jüdischen Schülerin ausgemacht werden, die diese Schule am Kaiser Franz Josef- Kai 18 in den Schuljahren 1936/1937 und 1937/1938 besuchte. Siehe Jüdisches Museum Berlin, Jahreszeugnis vom Oberlyzeum und Mädchen-Realgymnasium der Schulschwestern in Graz für Dorit Braun. Inv.-Nr. 2010/209/11. Schenkung von Trixie Wachsner. – Jüdisches Museum Berlin, Oberlyzeum der Schulschwestern in Graz, Jahreszeugnis für Dorit Braun. Inv.-Nr. 2010/209/7. Schenkung von Trixie Wachsner. 86

“We got a lot of instructions from our parents. That this was quite an honor. We had to behave very well, you know, not stand, do anything where you stood out in the crowd and it, it was a hard thing for a ten-year-old kid to accept, you know, because the school was, it was a private school. It was very expensive, you paid a lot of money and yet you sort of had to be grateful to be accepted.”397

Diese Haltung der Eltern kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Einerseits ist es mög- lich, dass sie versuchten, ihre Töchter mit ihren Ratschlägen vor bereits existentem Antisemi- tismus zu schützen. Andererseits wurden die Schülerinnen damit jedoch auch aufmerksam ge- macht, dass sie aufpassen sollten, dass sie nicht herausstachen und sich ihr Schulbesuch negativ auf die Außenwahrnehmung der Grazer Jüdinnen und Juden auswirken könnte. Von der Vor- sicht, sich ja nicht von der Menge abheben zu dürfen, erzählt auch Anna Weiss: “My parents were very careful that we wouldn't do things that not everybody else did because then it was a Jewish child who was doing something extra and that was not good. I remember when girls cut their hair, you know, after World War I, people cut their hair, it was called a Bubikopf. I was allowed, I wanted to cut my hair, of course, and I was told when two, in two other families of the academic community, the girls are allowed to cut their hair, you can be the third. But you can't be the first, you know. And my whole school class, by that time I was in high school, they knew this, and I came in one day and they said, you know, this [sic] two girls and this [sic] three girls cut their hair you can tell your mother. And I told my mother and went she [unverständlich] back afternoon. I mean they kept nothing from me. And then it wasn't much but I wasn’t ever to be the first to do something, you know.”398

Diese Haltung der Eltern spiegelt sich in einigen Familien, die stolz auf ihre Assimilation wa- ren. Dem gegenüber stehen jedoch viele andere Familien, die sich bewusst für ein jüdisches Leben entschieden. Zu solch einem gehörte auch das samstägliche Arbeitsverbot, zu dem auch Schreiben gezählt wird. Laura Cohn gibt in diesem Zusammenhang an, samstags zwar die Schule besucht zu haben, vom Rabbi jedoch eine Bestätigung erhalten zu haben, dass sie an diesem Wochentag nicht zu schreiben brauchte.399 Während eine gute weltliche Ausbildung in den meisten jüdischen Häusern als wichtig angesehen wurde, spielte auch die religiöse Erzie- hung eine zentrale Rolle in der Kindheit und Jugend vieler jüdischer Mädchen und Jungen.

5.1.3. Religiöse Erziehung Die religiöse Erziehung der jüdischen Kinder begann bereits in der Volksschule. Während der jüdische Religionsunterricht für SchülerInnen der jüdischen Volksschule direkt dort abgehalten wurde, erhielten Kinder, die andere Schulen besuchten, ihre Religionsstunden außerhalb der Schule. Anna Weiss, die die evangelische Volksschule besuchte, gibt etwa an, dass ihr Vater

397 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:08:07–0:10:19. 398 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:16:04–0:17:26. 399 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:06:28–0:07:14. 87

während der Volksschuljahre jemanden für den jüdischen Religionsunterricht anstellen musste. Die Lehrperson, bei der es sich meist um einen jüdischen Studierenden handelte, kam sodann ins Haus und unterrichtete die Schülerin dort im jüdischen Glauben.400 Zusätzlich zu den Religionsstunden in der Schule, bzw. am Nachmittag bei außerhalb der jüdischen Volksschule eingeschulten Kindern, war es laut Aussagen der ZeitzeugInnen ver- pflichtend samstags zwei Stunden zum Religionsunterricht in die Synagoge zu kommen. Im Amtsgebäude wurde eine Stunde lang im Gebetbuch gelesen. In der zweiten Stunde beschäf- tigte man sich mit biblischer Geschichte. Um zehn Uhr wurden die Kinder schließlich zu ihren Eltern geschickt, die in der Synagoge auf sie warteten. Leo Dortort meint darin einen Trick des Rabbiners erkannt zu haben. Dadurch, dass die Kinder jeden Samstag in der Synagoge erschei- nen mussten, wurden auch die Eltern animiert dort zu erscheinen.401 Zusätzlich geben zwei Zeitzeuginnen an, samstagnachmittags noch einen verpflichtenden Schülergottesdienst in der Synagoge gehabt zu haben.402 Während die vormittäglichen Treffen an Samstagen für die VolksschülerInnen verpflichtend waren, ist nicht klar, ob Kinder, die bereits weiterführende Schulen besuchten, auch daran teilnehmen mussten. Vermutlich war für die älteren Jungen und Mädchen jedoch nur die Feier, die am Nachmittag in der Synagoge abgehalten wurde, ver- pflichtend, da sie in nichtjüdischen Schulen samstagvormittags wohl am regulären Unterricht teilnehmen mussten. Auch in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“ wird darauf hingewiesen, dass der Besuch der Schulgottesdienste für SchülerInnen aller Lehranstal- ten verpflichtend sei. Inwieweit diese Pflicht von den SchülerInnen auch wirklich eingehalten wurde, kann nicht näher bestimmt werden. Durch die wiederholte eindringliche Mitteilung in der Gemeindezeitschrift kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es nicht in allen Fami- lien selbstverständlich war, die Kinder stets zum Religionsunterricht und zum Schulgottesdienst zu schicken.403 Während der Religionsunterricht für katholische SchülerInnen im Regelschulunterricht Platz fand, hatten jüdische SchülerInnen während dieser Zeit eine Freistunde. Nachdem Reli- gionsunterricht in Österreich während der Zwischenkriegszeit jedoch verpflichtend war, musste irgendeine Art von Religionsunterricht besucht werden. Die jüdischen Kinder wurden deshalb nachmittags teils in den Schulen, die sie besuchten, teils in anderen – je nachdem, ob an der

400 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:01:15–0:06:11. 401 DORTORT, AHC 4066, Tape 2. 0:06:28–0:08:38. 402 BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:06:42–0:07:31. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:07:14–0:07:32. 403 N. N., Religionsunterricht. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1929, p. 9. – N. N., Religionsunterricht. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1930, p. 9. – N. N., In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1935, p. 4. – N. N., In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1936, p. 2. – N. N., In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1937, p. 2. 88

Schule genügend jüdische SchülerInnen eingeschrieben waren, um die Mindestanzahl für die dortige religiöse Unterweisung zu erreichen oder nicht – zum jüdischen Religionsunterricht zusammengefasst. Unterrichtet wurden die SchülerInnen vom Rabbiner Dr. Herzog an ver- schiedenen Gymnasien. Genannt werden in den Berichten das Pestalozzigymnasium sowie das Akademische Gymnasium.404 Akten des Steiermärkischen Landesarchivs zeigen zudem, dass die Anzahl der jüdischen SchülerInnen am Oeverseegymnasium in den Jahren 1927/28 sowie 1928/29 so hoch war, dass dort eine Lehrstelle für den israelitischen Religionsunterricht verge- ben werden musste, eine Position, die Rabbiner Dr. Herzog übernahm.405 Über die SchülerIn- nenanzahl zu anderen Jahren geben die Unterlagen keinerlei Auskunft, doch wird Rabbiner Dr. Herzog in der Schulgeschichte des Gymnasiums von 1908 bis 1938 als Lehrer für israelitische Religion angeführt, was ein Hinweis dafür ist, dass die ganze Zeit über genügend jüdische SchülerInnen für den israelitischen Religionsunterricht an der Schule waren.406 Die Erinnerungen an den Religionsunterricht sind sehr unterschiedlich. Während Laura Cohn erzählt, viel Spaß dabei gehabt zu haben,407 sind Anna Weiss‘ Erinnerungen weniger po- sitiv. In den Wort-für-Wort-Übersetzungen hebräischer Texte ins Deutsche konnte sie keinen Sinn erkennen und so gibt sie an, diese Aufgabe verweigert zu haben: It absolutely made no sense and I officially, later on, when I was in high school, I refused to do it. The rabbi who then was teaching us and to whom I was important because I was my father's daughter [Anm. L.G.: Anna Weiss’ Vater war Professor und Nobelpreisträger Otto Loewi]. ‘Say, but why don't you ever prepare your lesson?’, and I said: ‘Because I'm not learning anything. If you would teach us Hebrew at [unverständlich] study but I'm not learning Hebrew, I'm not learning anything and I'm not sitting down and doing this.’ And he said: ‘Oh had I only known.’ But it didn't change anything. So I never did, I have never done that.“408

Auch Laura Cohn gibt an, dass der Hebräischunterricht nicht auf den Spracherwerb ausgelegt war, sondern sich rein mit der Übersetzung von Gebeten beschäftigte. Sie lernte modernes Heb- räisch aus diesem Grund nachmittags privat, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern,409 und auch Batja Tuchendler erhielt zu Hause Hebräischunterricht. Ob es sich hierbei ebenfalls um modernes Hebräisch handelte, gibt die Zeitzeugin nicht an.410 Angemerkt soll hier noch werden, dass der Rabbiner, der den Religionsunterricht für die MittelschülerInnen abhielt, den

404 KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:28:50–0:29:57. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 04:40:21–0:42:48. – StLA, LSchRalt-2Hn-9-1936. K. 1395. 405 StLA, LSchRalt-2H-55-1927. K. 1259. 406 DRAGARIĆ Dietmar (Hg.), Das Grazer Oeversee, 2019, p. 59. 407 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 04:40:21–0:42:48. 408 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:05:33–0:06:11. 409 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:42:48–0:43:54. 410 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:36:33–0:37:49. 89

ZeitzeugInnen sehr gut in Erinnerung blieb. Rabbiner Dr. Herzog wird in elf Berichten nament- lich erwähnt und als allseits hochgeachtetes Oberhaupt der jüdischen Gemeinde beschrieben.411 Ein wichtiger Schritt in der Erlangung der Mündigkeit im Judentum spielt die Bar bzw. Bat Mizwa. Dieser Übertritt von der Kindheit zur Gemeinschaft der vollberechtigten Glaubens- brüder und -schwestern war ursprünglich männlichen Gläubigen vorbehalten. Reformierte Ge- meinden führten jedoch nach und nach auch die Bat Mizwa für Mädchen ein.412 In Graz geschah dies durch Rabbiner Dr. Herzog, der die Bat Mizwa für Mädchen über 16 Jahren einführen wollte. Nachdem 1908 und 1909 nicht genügend Teilnehmerinnen gefunden werden konnten, appellierte man im „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“ an die Eltern, ihre Töchter anzumel- den.413 Und so fand die erste Bat Mizwa schließlich im Jahr 1911 statt. Der Grund für die Ein- führung des Übertrittsrituals für Mädchen war ein praktischer. Durch die steigende Anzahl von „Mischehen“ fürchtete man die Abkehr der jungen Frauen vom Judentum. Dem sollte mit der Bat Mizwa entgegengewirkt werden.414 Wie stark dieses Angebot in den folgenden Jahren an- genommen wurde, kann leider nicht nachvollzogen werden; es berichtet jedoch nicht eine ein- zige der sieben Zeitzeuginnen, die während ihrer Zeit in Graz alt genug für die Zeremonie ge- wesen wären, eine Bat Mizwa gehabt zu haben. Doch auch von den elf männlichen Zeitzeugen, die bis zum „Anschluss“ alt genug gewesen wären, sich auf ihre Bar Mizwa vorzubereiten, berichten nur vier davon, eine gehabt zu haben, unter ihnen Otmar Silberstein.415 David Grün- schlag erinnert sich daran, dass er von einem Kantor namens Benedikt für die Bar Mizwa vor- bereitet wurde. Diese Vorbereitung fand gegen Bezahlung im Haus des Kantors statt.416 Gerne erinnert sich Erich Gottlieb an seine Bar Mizwa zurück, die er mit der gesamten Familie feierte: “It was very nice. I had the, my [unverständlich] came from Vienna. That was on Gold- stein side, they came. And then we had the, from my stepmother's side, from Hungary, and had a nice celebration. […] We had a dinner party, and everybody congratulated me for having achieved that year and that time. And it was very nice.”417

411 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 154. – BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:07:49–0:07:54. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:42:21–0:42:48. – DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:47:05–0:49:28. – DORTORT, Interview 54747, Tape 1. 0:30:03–0:31:17. – GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:20:59–0:21:51. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:11:42–0:12:30. – KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:15:49–0:16:15. – LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 1. 1:00:24–1:01:15. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:19:58–0:20:24. – NEWMAN, Interview 26760, Tape 5. 0:26:47–0:27:39. – WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:12:48–0:13:54. 412 Im „Grazer Israelitischen Gemeindeboten“ wird der Begriff „(Mädchen)Konfirmation“ anstelle von Bat Mizwa verwendet. Dies ist interessant, da man sich durch diese Begriffswahl der evangelischen Kirche annähert. Im Fol- genden wird der Begriff „Bat Mizwa“ verwendet, da es sich dabei um den heute geläufigen Terminus handelt. Siehe N. N., Konfirmation der weiblichen Jugend. In: „Grazer Israelitischer Gemeindebote” vom Juni 1909, p. 184–185 413 N. N., Konfirmation der weiblichen Jugend, Juni 1909, p. 184–185. 414 LAMPRECHT, Fremd in der eigenen Stadt, 2007, p. 200. 415 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:11:40–0:12:12. 416 GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:12:30–0:13:15. 417 GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:19:01–0:19:48. 90

Weniger Freude an seiner Bar Mizwa hatte Bernard Lichtenstein. Er fühlte sich der jüdischen Tradition bereits als Kind sehr fremd.418

5.2. (Jüdische) Lebenswelten in Graz Die Lebenswelten, in denen die ZeitzeugInnen aufwuchsen, waren einerseits stark von der jü- dischen Gemeinde, denen sie angehörten, geprägt, und andererseits vom Verhältnis der jüdi- schen Gemeinde zu den nichtjüdischen MitbürgerInnen. Insbesondere die Frage von Tradition und Assimilation steht ganz in diesem Spannungsfeld. Doch auch die Themen Freizeit und An- tisemitismus sind stark von diesen beiden Faktoren abhängig.

5.2.1. Jüdische Lebenswelten Ein großer Teil der ZeitzeugInnen beschreibt die Kindheit und Jugend in finanziell recht gut situierten Familien. Nur Gerda Eisler, Otto Pollak und Lisa Gerber berichten von finanziellen Durststrecken ihrer Familien.419 Im Gegensatz dazu scheinen die meisten anderen Familien ein gut bürgerliches Leben geführt zu haben. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass es keine Seltenheit war, Dienstpersonal im Haus zu haben. Insgesamt erzählen neunzehn der 28 Zeit- zeugInnen, dass sie Dienstboten in der einen oder anderen Form hatten.420 Am öftesten wurde hierbei das Dienstmädchen genannt, doch auch Köchinnen und Wäscherinnen waren in den Familien keine Seltenheit. Dies zeigt, dass die ZeitzeugInnen des Quellenkorpus mehrheitlich finanziell sehr gut gestellt waren. Edith Baschs Aussage, dass etwa 95 Prozent der Grazer jüdi- schen Familien wohlhabend waren,421 kann nicht bestätigt werden, fand Dieter A. Binder doch heraus, dass der Großteil der Mitglieder der Grazer Kultusgemeinde der Unterklasse ange- hörte.422 In dieser Hinsicht ist der Quellenkorpus sicherlich nicht repräsentativ und spiegelt so- mit nur die Lebensumstände einzelner bürgerlicher Familien, die nicht die Mehrheit der Grazer jüdischen Bevölkerung ausmachten. Von einer entbehrungsreichen Zeit nach dem Ersten Welt- krieg berichten nur Otto Pollak und Margarethe Welisch. Während sich Margarethe Welisch an

418 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1a. 0:06:52–0:07:57. 419 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 300. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 13. – EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 12–13. 420 BASCH, Interview 13330. – DORTORT, AHC 4066. – FUCHS, Interview 53605. – GERBER, Emigranten- Existenz, 1996. – GOLDMARK, AHC 168. – KLEIN, Interview mit Heinz Klein. – LOEWY, 1997.A.0382.4. – LICHTENSTEIN, AHC 12. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at. – NEWMAN, Interview 26760. – PHILIPPSOHN-LANG, Erinnerungen, 1996. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. – ROWELSKY, Interview 19204. – SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108. – WACHS, Interview 6069. – WEISS, 1993.A.0095.89. – WELISCH, Interview 6090. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931. 421 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:08:07–0:08:30. 422 BINDER, Das Schicksal der Grazer Juden, 1987, p. 212. 91

die Ausspeisungen für Kinder, die von einer amerikanischen Hilfsorganisation durchgeführt wurden, erinnert,423 berichtet Otto Pollak Folgendes: „There was a shortage of everything after the war. There were many people without work, only a few profiteers had a good time. Food was scarce and rationed. We went with mother and maid to a distribution center called Fassamt - Kaiserjosefsplatz to get cereals, salt, sugar, flour, pulse, eggs and milk. We went too with our maid to Moserhofgasse to a farmer to by illegally milk, butter and eggs.”424

Auch die Wohnsituation der ZeitzeugInnen spricht dafür, dass es sich bei den im Quel- lenkorpus enthaltenen Personen um jene aus finanziell gut situierten Familien handelte. Die Erinnerungen an die Wohnungen und Häuser sind zum Großteil sehr gut präsent geblieben. Besonders oft werden hierbei geräumige Drei-Zimmerwohnungen genannt, von denen bei- spielsweise Laura Cohn, Erich Gottlieb, Eric Newman, Margarethe Welisch und Gerda Eisler berichten.425 Was Gerda Eisler von ihrer Wohnung in Erinnerung blieb, ist das Badezimmer, das durch seine Lage in der eigenen Wohnung etwas ganz Besonderes war.426 Auch Edith Basch erinnert sich an solch eine Wohnung, die sie wie folgt beschreibt: „Well, it was one of those typically old large Europe apartments with huge rooms. We had, the rooms were huge but they, we had three rooms, living room, living combination dining room, my parents’ bedroom and my room and the kitchen and a little maid's room and a bathroom but it was enormous, you know, with these long hallways.”427

Daran, dass sie in Graz ein eigenes Kinderzimmer hatten, erinnern sich u. a. die älteste und die jüngste Zeitzeugin des Quellenkorpus, Margarethe Welisch und ihre Tochter Brigitte Wachs. Die Erinnerungen an diese Räume sind jedoch nicht sehr detailliert erhalten. Anders verhält es sich hier bei Eric Newman, der sein Kinderzimmer folgendermaßen schildert: „Yes, I can just about remember, remember a huge bed obviously was made for me to grow in and I remember putting, after much protest of my parents, up all sorts of maps on the wall which was told off because I'm damaging the wallpaper, but I think eventually they were [unverständlich] and let me use it. And I put up a huge map of Abyssinia and I recorded the Italian Abessinien war. And I had another huge map of Spain and I was putting crosses and figures on about the Spanish civil war. And I had also a collection of large photographs, illustrations of various large liners and I collected racing car drives, that's about all. I was always be told off for never making my bed and keeping my room very untidy.”428

Auch wenn sich Erinnerungen an die Kinderzimmer bei den anderen ZeitzeugInnen weniger erhalten haben, so berichten sie dennoch detailliert über den Alltag während ihrer Zeit in Graz.

423 WELISCH, Interview 6090, Tape 2. 0:11:39–0:13:31. 424 POLLAK, From Graz to Tel Aviv, 2002, p. 18. 425 WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:07:28–0:09:25. – NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:09:57–0:12:41. – GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:13:25–0:13:51. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:19:48–0:20:05. 426 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 12. 427 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:05:40–0:06:29. 428 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:11:22–0:12:23. 92

Anna Weiss etwa erinnert sich an einen strengen Tagesablauf: Nach der Schule gab es pünktlich um 13:30 Uhr Mittagessen, da der Vater dafür von der Arbeit nach Hause kam und um 15:00 Uhr wieder zurück sein musste. Anschließend wurde erwartet, dass die Hausaufgaben erledigt und Gebete gesprochen wurden. Erst danach wurde den Kindern der Familie gestattet Freizeit- aktivitäten nachzugehen. Neben gemeinsamen Spielaktivitäten im Freien erinnert sich die Zeit- zeugin auch daran, sehr gerne an sportlichen Aktivitäten teilgenommen zu haben. In der Schule wurde beispielsweise vor Unterrichtsbeginn zwischen 7 und 8 Uhr morgens Gymnastik ange- boten, an der die Zeitzeugin gerne teilnahm. Auch an sportlichen Veranstaltungen beteiligte sie sich gerne, auch wenn sie sich erinnert, dass sie dabei nicht unbedingt erfolgreich war. Zudem bekam sie Klavierunterricht und übte begeistert auf ihrem Instrument. Darüber hinaus wurde den Kindern der Familie Weiss nachmittags zu Hause Englischunterricht geboten.429 Auch andere ZeitzeugInnen berichten, dass sie neben dem Schulunterricht zu Hause noch weitere Unterweisungen erhielten, sei es, um eine Fremdsprache oder auch ein Instrument zu lernen. Leo Dortort gibt beispielsweise an, Violinunterricht erhalten zu haben. Diese Stunden fanden jedoch ein jähes Ende als sich die Lehre- rin zum Nationalsozialismus bekannte und den jüdischen Buben nicht weiter un- terrichten wollte.430 Auch Bernard Lich- tenstein bekam Instrumentalunterricht. Er versuchte am Bösendorfer Flügel der Abbildung 6: Anzeige Klavier- und Englischunterricht, Familie das Klavierspiel zu erlernen, ein Graz, 1937. Unterfangen, das der Zeitzeuge als weni- Quelle: N. N., Anzeige Unterricht. In: „Mitteilungen der ger erfolgreich beschreibt. Daneben Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1937, p. 6. wurde er auf Wunsch seiner Eltern zwei- mal die Woche im Französischen unter- richtet, da sie der Ansicht waren, dass die Sprache Teil einer guten Erziehung war.431 Dasselbe beschreibt auch Marga- rethe Welisch, die zu ihren Pianostunde Abbildung 7: Anzeige Französische Kinderspielschule meint: „My mother insisted in me taking und Französisch- und Englischkurse, Graz, 1933. them. That was usual. A girl at least had Quelle: N. N., Anzeige Kinderkurse. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September to play the piano well and take another 1933, p. 6.

429 WEISS, Interview 21635, Tape 2. 0:00:13–0:05:44. – WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:15:28–0:15:57. 430 DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:15:04–0:15:46. 431 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1b. 0:28:40–0:30:06. 93

language, you know, that was usual.”432 Davon, dass Privatunterricht in jüdischen Familien beliebt war zeugen auch zahlreiche Inserate von Sprach- und InstrumentallehrerInnen in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“ (siehe Abbildung 8 und 9).433 Ein weiterer wichtiger Teil jüdischer Lebenswelten in Graz war die Familie. Beinahe alle ZeitzeugInnen geben an, ein sehr enges Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern gehabt zu haben. In vielen Fällen lebten außerdem Onkel und Tanten mit ihren Kindern in der Nähe und man verbrachte viel Zeit miteinander. Gerda Eisler berichtet, mit der gesamten Familie, mit allen Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins Pessach gefeiert zu haben.434 Laura Cohn be- schreibt auch, dass sie „beschützt von den lieben Verwandten und Tanten und Onkels [sic] und Cousins“ aufwuchs.435 Auch Brigitte Wachs erinnert sich an viele Onkel und Tanten während sie in Graz wohnte.436 Und selbst wenn die Verwandten nicht in Graz lebten, so fanden rege Besuche statt. Bernard Lichtenstein erzählt etwa, dass seine Verwandten in der Schweiz lebten, ein Cousin ihn jedoch 1935 besuchte und er diesen Besuch anschließend in der Schweiz erwi- derte.437 Auch Eric Newman meint, dass er einer großen Familie entstammte und ständig Onkel oder Tanten zu Besuch waren, die einige Tage bei ihnen wohnten.438

5.2.2. Assimilation und Tradition Dadurch, dass die jüdischen ZeitzeugInnen in einer mehrheitlich nichtjüdischen Stadt lebten, wuchsen sie im ständigen Spannungsfeld von Assimilation und Tradition auf. Dies macht sich in vielen Erzählungen bemerkbar und beginnt damit, dass sich das religiöse Leben der jungen Jüdinnen und Juden größtenteils nicht auf den Religionsunterricht beschränkte. Auch wenn viele ZeitzeugInnen berichten, dass die Eltern nicht sehr religiös waren, so wurden hohe Feier- tage dennoch in allen Familien eingehalten. Einige ZeitzeugInnen berichten auch, dass der Sab- bat jede Woche gefeiert wurde. Hilda Busch erinnert sich, dass das gemeinsame Mahl freitag- abends jedoch kein typisch jüdisches war: „Well, the Friday evening meal: fish, soup, meat, cake afterwards. That was Austrian food what we had. We didn’t have typisch [sic, deutsche Aussprache] Jewish meal, mixed a little bit.”439 Auch besuchte nur der Vater die Synagoge am

432 WELISCH, Interview 6090, Tape 2. 0:00:09–0:01:51. 433 Siehe N. N., Anzeige Kinderkurse. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1933, p. 6. – N. N., Anzeige Unterricht. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1936, p. 6. – N. N., Anzeige Unterricht. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1937, p. 6. 434 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 34. 435 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:06:04–0:07:01. 436 WACHS, Interview 6069, Tape 1. 0:05:11–0:05:48. 437 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1a. 0:19:28–0:23:15. 438 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:10:05–0:11:03. 439 BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:05:07–0:06:19. 94

Freitagabend. Der gemeinsame Gottesdienstbesuch der Familie fand dann am Samstag statt.440 In einer orthodoxen Familie wuchs Laura Cohn auf. Sie besuchte mit ihrem Vater gemeinsam den freitagabendlichen Gottesdienst sowie den Schulgottesdienst, der jeden Samstag stattfand. Besonders gefiel ihr dabei der Gesang des Kantors Jerich Katz. Auch die speziellen Gottes- dienste, die bei Festen wie Chanukka für Kinder abgehalten wurden, hatte die Zeitzeugin sehr gerne, da dort stets Süßigkeiten verteilt wurden. Außerdem erinnert sie sich an das Laubhütten- fest und die dort verwendete Sukka.441 Jene Holzlaube hat nicht nur bei dieser Zeitzeugin Ein- druck hinterlassen, findet sie doch auch in Leo Dortorts Bericht eine genaue Beschreibung: “It was unique in a way, you will laugh. The sukkahs [sic] had a roof, when the sukkahs [sic] was not in use, the roof was closed when the, so that the rain or smoke couldn't come in. And when it was in use, the roof opened up and we had [unverständlich] on so it built a protect [sic] of the sukkah for weather. We were modern in those things and I have never seen a sukkah like this. It's like a house, you know. From wood, like a house with a roof but except that the roof opened up and skylight came in.”442

Auch berichten viele ZeitzeugInnen von den Feierlichkeiten zu Pessach, die oftmals mit Ver- wandten oder anderen Gästen begangen wurden. Gerda Eisler meint etwa: „Gerne erinnere ich mich an die Seder-Abende, die wir hier feierten [Anm. L. G.: in der Wohnung des Großvaters in der Lazarettgasse], wenn alle Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins sich hier trafen. Wir feierten Pessach nicht aus religiösen Gründen, sondern ein- fach, weil es schön war. Der liebste Teil des Abends war für mich die Suche nach der Mazze, dem besonderen Brot, das die Juden an diesem Tag essen. Mein Großvater hatte es versteckt, und wir Kinder liefen wie wild in der Wohnung herum, um es als erstes zu entdecken. Auf das Kind, das es fand, wartete ein Preis, etwas Süßes oder ein kleines Spielzeug. Das war meistens ich, weil mein Großvater mir den Ort des Verstecks zuzwin- kerte.“443

Ähnlich wie Gerda Eisler, meinen auch die meisten anderen ZeitzeugInnen, dass sie in keinem besonders streng religiösen Umfeld aufwuchsen, auch wenn alle hohen Feiertage eingehalten wurden. Interessanter Weise geben jedoch auch acht ZeitzeugInnen an, in einem koscheren Haushalt aufgewachsen zu sein, was wiederum auf ein strenges jüdisches Familienhaus hin- weist. Warum die jüdische Gemeinde dennoch eine sehr aktive war und beinahe alle jüdischen Familien der Kultusgemeinde angehörten, erklärt sich Bernard Lichtenstein wie folgt: “I am sure it was all done, 90%, to keep up appearances with the neighbors, because in a small town like Graz […] there were about 600 Jewish families in Graz, about 2,000 souls they used to call them. So, everybody knew what the other guy was doing. As a Jew, if you wanted to keep social contact with the other Jews, you had at least to pretend you observe the holidays—So that’s why my parents went to the synagogue, and my father took me along. And as a little boy, I had to stand there for hours, not understanding what

440 Ebda.,Tape 1. 0:06:42–0:07:31. 441 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:12:30–0:15:27. 442 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 0:57:47–0:59:35. 443 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 33–34. 95

was going on. So, it was very vague, we did celebrate Seder, Passover, with all these things. But it was all on a, what shall I say, to conform with the others.”444

Diese Aussage impliziert, dass es für Jüdinnen und Juden wichtig war, ein Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein – unabhängig von der Stärke ihrer religiösen Überzeugung. Auch wenn man das Judentum betreffend verschiedene Einstellungen besaß, so traten die Grazer Jüdinnen und Juden nach außen hin größtenteils als Einheit auf. Nur ein kleiner Teil der jüdischen Be- völkerung spaltete sich von den übrigen Grazer Jüdinnen und Juden ab und gehörte dem ortho- doxen Judentum an. Im vorliegendem Quellenkorpus gibt nur Sarah Loewy an, in einer ortho- doxen Familie aufgewachsen zu sein,445 während die übrigen ZeitzeugInnen ihre Familien als konservativ oder liberal bezeichnen und sich von der Orthodoxie abgrenzen. Auch wenn von den übrigen Jüdinnen und Juden des Quellenkorpus niemand Teil der orthodoxen Gruppe war, so wird dennoch in vielen Berichten eine weitere kleine Synagoge erwähnt, in der die orthodo- xen Juden (Frauen waren dabei nicht zugelassen) ihre Gottesdienste abhielten. Dabei handelte es sich meist um polnische Einwanderer, die den Kontakt zu den anderen jüdischen Familien in Graz weniger suchten.446 Sarah Loewys Familie besuchte sowohl die Gottesdienste in der großen Synagoge als auch jene der orthodoxen Juden in der kleinen Synagoge, da ihr Vater dort oft als Kantor fungierte. Sie berichtet, dass es nur sehr wenige orthodoxe Jüdinnen und Juden in Graz gab und die anderen jüdischen Familien den orthodoxen eher negativ gegenüberstan- den. Sie meint, dass ihre Familie nur akzeptiert wurde, da sie sich an die Gegebenheiten an- passte und nicht weiter auffiel.447 Generell beschreiben mehrere ZeitzeugInnen, dass sich die Jüdinnen und Juden in Graz sehr an ihre Umwelt anpassten. Dies steht im Gegensatz zu Beschreibungen der Wiener Ge- meinde, die um ein Vielfaches größer war und wo es jüdische Nachbarschaften gab.448 In Graz dagegen war die Gemeinde sehr klein und so sahen viele Jüdinnen und Juden die größte Chance auf ein gutes Leben in der Stadt in der Assimilation. Henry Heinz Brecher, ein Verwandter der Familie Rendi,449 weiß etwa zu berichten, dass der Familienname Rosenbaum mit der Jahrhun- dertwende zu Rendi geändert wurde: „That was a very common thing to produce, to change

444 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1a. 0:07:57–0:10:01. 445 LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 1. 0:02:01–0:02:26. 446 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:10:28–0:12:00. – GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:03:49–0:04:08. 447 LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 3. 0:10:24–0:10:50. 448 Laura Cohn meint hierzu: „Wien ist so, wie soll ich sagen, der zweite Bezirk war bekannt. Sogar wir in Graz, haben gewusst, den zweiten Bezirk haben wir genannt die Mazzesinsel. Haben gewusst dort ist nur streng, ja meistens orthodox.“ Siehe COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:59:20–1:01:38. 449 Kommerzialrat Simon Rendi führte ein renommiertes Tuchhaus in Graz am Joanneumring 5. Er war über viele Jahre Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Graz und in jüdischen wie nichtjüdischen Kreisen höchst ange- sehen. Siehe BREITLER, B'nai B'rith in Graz, 2004, p. 193–196. – BAUER, Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität, 2018, p. 354. 96

their names, at least, assimilationist attitudes or such that there was considered the right thing to do.”450 Auch Leo Dortort beschreibt das Spannungsfeld zwischen Assimilation und Tradition in seinem Bericht: „In one hand we were very assimilated on the other hand we were very Jewish. We kept to tradition and so on, but in a modern way.”451 Diese Umstellung vom ortho- doxen Judentum, dem die ersten Familien, die sich im 19. Jahrhundert in Graz angesiedelt hat- ten, angehörten, zu einem liberalen, ja oft schon assimilierten Judentum, stellte sich innerhalb von wenigen Generationen ein. Auch viele ZeitzeugInnen berichten, dass die Großeltern die Traditionen noch sehr genau befolgten, während die Eltern oftmals schon viel weniger stark im Judentum verwurzelt waren. Ludwig Biró, geboren 1900 und somit etwas älter als die Zeitzeu- gInnen des Quellenkorpus, beschreibt seine Beobachtung der Assimilation innerhalb seiner Fa- milie in seiner Autobiographie wie folgt: „An den Personen und Schicksalen unserer Familie konnte ich die jüdische Assimilation vom Ghetto bis zur westlichen, spezifisch österreichischen Kultur handgreiflich beobach- ten. Meine Großmutter Laura schrieb noch in hebräischen Lettern, las aber schon ihre deutschen Bücher. Mama war eine typisch österreichische ‚höhere Tochter‘, Onkel Adolf ein überdurchschnittlich, allseits gebildeter Mann. Er las sehr viel und war auf allen Ge- bieten bewandert. Es war ein erregendes Schauspiel, dieses geistige Beieinander von mit- telalterlicher Frömmigkeit und ganz moderner Aufklärung zu beobachten. Innerhalb von zwei, drei Generationen vollzog sich da vor meinen Augen ein Prozeß, der als ‚Assimi- lation‘ der deutschen Juden kulturhistorische Bedeutung gewonnen hat.“452

In diesem Klima der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft wuchsen die ZeitzeugInnen des Quellenkorpus in Graz nun auf. Während wie bereits erwähnt acht ZeitzeugInnen angeben, in einem koscheren Haushalt aufgewachsen zu sein,453 geben fünf an, die Speiseregeln nicht oder nur an den Feiertagen eingehalten zu haben.454 Ausnahmen gab es aber sogar in koscheren Haushalten, wenn beispielsweise vom Arzt verordnet wurde, dass besonders magere Kinder jeden Tag ein Schinkenbrötchen essen sollten, um zuzunehmen, wie Leo Dortort berichtet: „Wir haben einen Doktor gehabt, Doktor Widowitz und ich war so, so ein Grispindl und wie die Einstellung damals war ich muss etwas mit Fett essen, […] also er hat meinen Eltern verlangt, dass, ich muss jeden Tag ein ham sandwich [sic] essen, with fat [sic] and so weiter. Und meine Mutter, Sie wissen noch, wie das war, die Fleischhacker, sie haben Sandwiches gemacht […] und meine Mutter hat mir gesagt, hier das Geld, geh dir ein Sandwich kaufen, aber komm damit nicht nach Haus, steh dort und iss. Aber dann ist die Frage, wenn du am Sonntag irgendwo hingegangen, mit der Straßenbahn zur Endstation gefahren und auf die Berge hinauf, man war, ist doch ins Gasthaus gegangen, man hat

450 BRECHER, Interview 51367, Tape 1. 0:13:11–0:14:17. 451 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 1:01:57–1:03:08. 452 BIRÓ, Die erste Hälfte meines Lebens, 1998, p. 17. 453 BUSCH, Interview 33714. – COHN, 1997.A.0382.1. – DORTORT, Interview 54747. – FRIEDLANDER, AHC 1196. – GOTTLIEB, Interview 37861. – GRÜNSCHLAG, O.3/3916. – LOEWY, 1997.A.0382.4. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108. 454 BRECHER, AHC 2585. – KOEVESI, 1997.A.0382.3. – NEWMAN, Interview 26760. – WELISCH, Interview 6090. – POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000. 97

doch etwas gegessen, das war nicht koscher. Sodass wir half half [sic]. Aber Zuhaus war koscher.“455

Solche Erinnerungen zeigen, dass die Einhaltung der jüdischen Traditionen oftmals an die Um- gebung angepasst wurde. Gleichzeitig bedienten sich einige Familien auch christlicher Traditionen, wie beispiels- weise jener des Christbaums. Als Grund dafür nennt Helma Goldmark die christlichen Ange- stellten, für die es einen Christbaum und Geschenke zu Weihnachten gab. Viel Freude hatte jedoch auch die Zeitzeugin damit, die berichtet, stets beim Schmücken geholfen zu haben.456 Auch Anna Weiss berichtet, dass ihre Familie der Angestellten wegen einen Christbaum hatte. Bis auf die Krippe sei alles wie bei katholischen Familien vorhanden gewesen, meint die Zeit- zeugin. Auf die Frage, ob dieses Fest als religiöses begangen worden sei, antwortet Anna Weiss: „No, we didn't sing, for instance. No, but we had a decorated tree which isn't really terribly Christian, it’s just, a custom, a very pretty one.”457 Diese Erklärung zeugt davon, dass christli- che Bräuche nicht ohne weiteres übernommen, sondern als weltliche und nicht als religiöse Traditionen begangen wurden. Auch Otto Pollak erinnert sich daran, Weihnachten gefeiert zu haben. Im Gegensatz zu den anderen beiden Zeitzeuginnen, bei denen das Weihnachtsfest wirk- lich zu Hause stattfand, war Pollaks Familie bei den NachbarInnen zu den Feierlichkeiten ein- geladen. Dies hat einen großen Eindruck hinterlassen: „Zu Weihnachten waren wir immer bei Jägers geladen. Sie hatten einen riesigen Christ- baum im Salon. Wir waren sehr beeindruckt und freuten uns, wenn wir vom Baum ein Stück Schokolade oder ein schön eingewickeltes Bonbon nehmen durften.“458

Otto Pollak bekam auch bei anderen Gelegenheiten die Chance, christliche Bräuche selbst mit- zuerleben, wenn ihn beispielsweise das Dienstmädchen zur Fronleichnamsprozession mit- nahm.459 Trotz Übernahme christlicher Bräuche und der Anpassung an die katholische Mehr- heitsgesellschaft, berichten einige ZeitzeugInnen davon, sich stets als „anders“ gefühlt zu ha- ben. Batja Tuchendler meint etwa, dass sie fortwährend in dem Bewusstsein aufgewachsen sei, anders als andere Kinder zu sein. Dies hatte u. a. mit antisemitischen Begegnungen zu tun und konnte selbst durch nette NachbarInnen nicht verhindert werden.460 Ähnlich erging es Genia Molczadski, die meint, dass sie selbst ohne direkte antisemitische Erlebnisse immerzu gefühlt

455 DORTORT, AHC 4066, Tape 2. 0:04:38–0:06:28. 456 GOLDMARK, AHC 168, Tape 1. 1:59:36–2:04:11. 457 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:12:24–0:14:11. 458 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 15. 459 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 13–14. 460 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:05:21–0:06:29. 98

hat, dass sie anders sei.461 Auch Otmar Silberstein meint, dass für ihn andere Maßstäbe galten, als für christliche Kinder. Schon von klein auf war ihm bewusst, dass er sich besonders bewei- sen müsse, um es zu etwas bringen zu können.462 Auch wenn die größtenteils christliche Umwelt der jüdischen Bevölkerung generell eher feindlich gesinnt gegenüberstand, so werden die Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung dennoch nicht grundsätzlich als schlecht bezeichnet. Zu NachbarInnen hatte man oftmals ein sehr gutes Verhältnis; die Eltern gingen respektvoll miteinander um, während die Kinder ge- meinsam aufwuchsen und spielten. Obwohl sich das jüdische Zentrum der Stadt in Gries rund um die Synagoge befand, so gab es dennoch kein geschlossenes „Judenviertel“ in Graz, und die Familien wohnten Tür an Tür mit nichtjüdischen NachbarInnen. Dass diese Beziehungen sehr freundlich sein konnten, beschreibt beispielsweise Laura Cohn: „Mein Vater war ein guter Mensch und zum Beispiel Pessach, das ist passover, Ostern, da haben wir immer in der Kultusgemeinde, hat man dann kaufen können, die haben das angefordert aus Wien, Mazzes, und da haben wir eingekauft Mazzes und mein Vater im- mer herumgegangen im Haus, hat gewusst, die haben gern, der Hausmeister oben, der Nachbar da und der Nachbar, hat immer verteilt, wo er gewusst hat, die Leute haben das gern.“463

Auch wenn die Zeitzeugin in weiteren Aussagen meint, dass auch die NachbarInnen freundlich gegenüber ihrer Familie waren, so liegt ihr Augenmerk dennoch darauf, dass ihr Vater sich um ein gutes Verhältnis bemühte. Deshalb scheint es auch möglich zu sein, dass die freundliche Beziehung nur einseitig war. Ob und wie nichtjüdische Personen auf ihre jüdischen NachbarIn- nen reagierten, wird nicht explizit erwähnt. Regen Kontakt gab es aber jedenfalls zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Kindern. Laura Cohn beschreibt, wie das Verhältnis zwischen ihr und den Nachbarskindern war, mit denen sie stets zusammen spielte: „Wir haben gespielt im Haus mit die Kinder, oben da war ein Schuster und der hatte einen Adoptivsohn, weiß ich nicht, ob er nur adoptiv oder nur einen Sohn vom Land aufgezo- gen. Seppl hat er geheißen, vom Land, die waren sehr streng. Und wir haben zusammen gespielt und wenn wir Geburtstagfeier gehabt, haben wir alle eingeladen und der war natürlich auch bei uns und der wurde immer schön frisiert und schön angezogen und der ist gekommen zum Geburtstag, also zu den Kindern. Und wir haben immer zusammen gespielt auch andere Kinder im Haus, die haben wir zusammen gespielt, verstecken ge- spielt, und alles Mögliche, was Kinder spielen. Da hab‘ ich nichts gespürt.“464

Neben ähnlichen Beschreibungen wie dieser gibt es aber auch solche wie jene von Kurt Koevesi, der meint, dass man ein sehr distanziertes Verhältnis zu den NachbarInnen hatte und

461 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:34:20–0:35:01. 462 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:09:36–0:10:44. 463 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:11:54–0:12:22. 464 Ebda.,Tape 2. 0:10:37–0:13:51. 99

sich der Kontakt auf die Begrüßung einiger beschränkte, wenn man sich traf. Andere wiederum wollten nicht einmal gegrüßt werden und so ging man schweigsam seiner Wege.465 Obwohl es bis zur Machtübernahme der NationalsozialistInnen keine öffentliche Tren- nung zwischen jüdischen und nichtjüdischen GrazerInnen gab, berichten doch zahlreiche Zeit- zeugInnen, dass man sich hauptsächlich in jüdischen Kreisen aufhielt und den Kontakt zur üb- rigen Bevölkerung vermied. Selbst wenn Kinder miteinander spielten und dabei keine Unter- schiede feststellen konnten, so bemerkten sie doch, dass dies in der Welt der Erwachsenen an- ders war. Edith Basch meint etwa, dass 95 Prozent der jüdischen Bevölkerung nur mit anderen Jüdinnen und Juden verkehrten. Besonders einprägsam erscheint ihr in diesem Zusammenhang, dass es diese Trennung auch in öffentlichen Einrichtungen wie Kaffeehäusern gab. Obwohl es nirgends festgelegt war, hätten jüdische und nichtjüdische Personen unterschiedliche Einrich- tungen besucht.466 Die Trennung zwischen den beiden Gruppen zeigt sich auch durch die Tatsache, dass sich die Grazer Jüdinnen und Juden eine eigene Infrastruktur aufbauten. Mit der eigenen Volks- schule, einem koscheren Fleischhacker und Restaurant sowie zahlreichen jüdischen Vereinen war es ihnen möglich, in einem beinahe ausnahmslos jüdischen Umfeld zu verkehren. Leo Dortort fasst diesen Umstand wie folgt zusammen: „We were a small community, and we had all the facilities, we had a soccer club, we had a, we had sport [sic] clubs, we had a kosher, everything was in one, kosher butcher, fish, restaurant, everything. We had everything and apparently, we needed it because we were not completely accepted. We lived there like everybody else, we assimilated very much and so like you asked me if I went with beard or with all kind of things, no we were very assimilated. We were Jews, we knew it, we lived our religion and everything but we were Austrian.“467

Dass man sich eben als Österreicher fühlte und trotz jüdischer Infrastruktur am öffentlichen kulturellen Leben teilnahm, zeigt sich auch am Kleidungsstil, den einige ZeitzeugInnen be- schreiben. Harald Salzmann bemerkt beispielsweise, dass sein Vater einen Steireranzug trug.468 Doch nicht nur Erwachsene, auch Kinder trugen traditionell steirische Kleidung. Laura Cohn erzählt zum Beispiel von ihrem schönen Winterdirndl,469 Rudolph Friedlander von seinem Stei- rerhut,470 Leo Dortort von seinem Steireranzug und der Lederhose, die er als Österreicher mit Selbstverständlichkeit trug,471 wie es auch Eric Newman tat.472

465 KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:33:07–0:34:02. 466 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:06:29–0:08:07. 467 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 1:09:05–1:11:02. 468 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 149. 469 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 3. 0:26:11–0:29:12. 470 FRIEDLANDER, AHC 1196, Tape 1. 0:23:14–0:23:41. 471 DORTORT, AHC 4066, Tape 2. 0:32:46–0:33:14. 472 NEWMAN, Interview 26760, Tape 2. 0:08:04–0:08:41. 100

5.2.3. Freizeit Die ZeitzeugInnen berichten darüber, ihre Freizeit vor allem mit ihren Geschwistern, Verwand- ten und FreundInnen, aber auch in verschiedenen jüdischen Vereinen verbracht zu haben. Ein- zelne Erinnerungen an besondere Momente überwiegen hierbei gegenüber alltäglichen Vergnü- gungen. Ein Beispiel für eine Erinnerung an ein außergewöhnliches Erlebnis beschreibt Eric Newman, der mit seinen FreundInnen neben sportlichen Aktivitäten auch gerne Streiche spielte: „Well, we decided to molest some poor lady across the road, and we hit upon an [sic] genius idea where we got some black cotton, managed to string it right across the road, of where my friend, second floor, flattened it down to me, then put a stone on the end of the, and kept on pulling the string and knock her door and she kept on going to the front but couldn't see it was nothing. Very silly all those things but fairly harmless I think, we were just enjoying being children.”473

Otto Pollak erinnert sich ebenfalls sehr gut an seine Streiche und Missgeschicke und räumt ihnen in seinen Erzählungen viel Platz ein.474 Auch Anna Weiss erinnert sich, wie sie mit Freun- dInnen so manchen Unsinn getrieben hat. Im Winter lieferte sie sich mit ihren FreundInnen und Brüdern gemeinsam sogar ein Fangspiel mit der Polizei: “In winter we were sledging down the hills which was verboten [sic], it was prohibited. The police would come on foot so we would slide down and walk around and walk up this way and the policemen of course could never reach us because we slid down the other one very fast. So that was part of our fun, was to tease the policemen in winter.”475

Wieder andere ZeitzeugInnen erinnern sich an Spielsachen, mit denen sie als Kinder besonders gerne gespielt haben. Leo Dortort benennt „Mensch ärgere dich nicht“, „Monopoly“ sowie „Matador“ als Spielsachen, mit denen er in Graz gerne spielte.476 Auch Gerda Eisler hat eine besondere Erinnerung an ein Spielzeug, das sie zum fünften Geburtstag bekam: „Tante Hela kam zu Besuch und schenkte mir einen Puppenwagen, in dem eine sagenhaft schöne Porzellanpuppe saß. Dazu bekam ich noch einen kleinen Tisch mit zwei kleinen Stühlchen, sodass ich mit meiner Puppe dort gemeinsam sitzen und speisen konnte. Es war das schönste Geschenk, das ich mir hatte vorstellen können.“477

Neben einzelnen Spielsachen sind den ZeitzeugInnen aber vor allem FreundInnen in Erinne- rung geblieben, mit denen sie gemeinsam spielten und feierten. Erich Gottlieb spricht von sei- nem besten Freund Eric Benedikt,478 Laura Cohn erzählt von ihrer besten Freundin Mucki479

473 Ebda.,Tape 1. 0:20:11–0:20:42. 474 POLLAK, From Graz to Tel Aviv, 2002, p. 10–11. 475 WEISS, Interview 21635, Tape 2. 0:01:34–0:02:02. 476 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 0:39:27–0::40:54. 477 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 12. 478 GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1 0:21:51–0:22:19. 479 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 3. 0:39:55–0:45:17. 101

und Trude Philippsohn-Lang erinnert sich an eine besonders gute Freundin namens Greterl.480 Philippsohn-Langs Erinnerung an diese Freundin zeigt zugleich einen weiteren Aspekt kindli- cher Lebenswelten, nämlich den der Kindergeburtstagsfeier: „Es war ein großer ausgezogener Tisch mit einer rosa Damastdecke und jenes kleine Sil- berbesteck, das immer für Kindergeburtstage benutzt wurde. Über dem Luster strahlte die Deckenbeleuchtung, die nur bei besonderen Anlässen benutzt wurde. Ich wurde immer gefragt, ob ich lieber Tee mit Sandwiches oder Trinkschokolade mit verschiedenen Ku- chen haben wollte. Alles natürlich vor der von meiner Großmutter gemachten Dobosch- Geburtstagstorte, die immer zum Schluß mit Kerzerln gebracht wurde. Dieses Mal gab es Trinkschokolade. […] Die Kinder blieben um den Tisch sitzen und es kam zur Tom- bola.“481

Im Quellenkorpus ist dies die einzige Beschreibung einer Kindergeburtstagsfeier. Beinahe alle ZeitzeugInnen berichten jedoch, dass sie sich sehr gerne sportlich betätigt haben. Im Sommer war Schwimmen eine beliebte Beschäftigung. Margarethe Welisch erzählt, dass man haupt- sächlich im Schwimmbad der „Hakoah“ schwimmen ging.482 Andere ZeitzeugInnen berichten von öffentlichen Schwimmbädern. Otto Pollak besuchte mit seiner Schwester bei Schönwetter gerne das Margarethenbad,483 Anna Weiss er- lernte das Schwimmen im eigenen Swimming- pool. Des Weiteren erinnert sich die Zeitzeugin an Urlaube nach dem Ersten Weltkrieg: „After 1921 or 22 we did go for a month to Tyrol to some place in the mountains usually and hiked and did things and usually there was a lake, and we could swim. So, we had a nice time.”484 Auch andere ZeitzeugInnen berichten, im Sommer mit ihren Eltern in den Urlaub gefah- ren zu sein. Otto Pollak schildert, dass er des Öfteren mit seiner Mutter Urlaub in Varazdin Abbildung 8: Henry Heinz Brecher und seine El- machte, da ihre Verwandtschaft dort wohnte. tern beim Spaziergang im Stadtpark, Graz, 1934.

Um seine und die Selbstständigkeit seiner Quelle: United States Holocaust Memorial Mu- Schwester zu fördern, nahmen die Kinder auf seum, Photograph 85384. https://collec- tions.ushmm.org/search/catalog/pa1182705 [Ab- Wunsch des Vaters 1927 an einer Jugendreise ruf: 02.03.2021].

480 PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996, p. 290–293. 481 PHILIPPSOHN-LANG, Leben in einer feindlichen Umwelt, 1996, p. 291. 482 WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:27:36–0:28:17. 483 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 9. 484 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:26:07–0:26:57. 102

an die Ostsee teil.485 Auch Leo Dortort erinnert sich an einen Urlaub, den er in einem Resort auf der Insel Krk verbrachte.486 Erich Gottlieb besuchte während der Ferien stets Verwandte in Judenburg und verbrachte die schulfreie Zeit dort.487 Heinz Klein erzählt, dass man sich für solch eine „Sommerfrische“ ungefähr zehn bis fünfzehn km vor Graz ein Häuschen mietete, in dem er sich mit seiner Mutter aufhielt. Der Vater kam nach der Arbeit und wochenends nach. Außerdem kamen immer wieder Verwandte zu Besuch.488 Batja Tuchendler unternahm anstatt von Urlauben immer wieder Sonntagsausflüge. Diese beschreibt sie wie folgt: „Sonntagausflug haben wir mit der Straßenbahn, wir hatten kein Auto, wir waren keine reichen Leute, mit der Straßenbahn gefahren nach Gössing [sic] oder Semmerich [sic] verschiedene Fahrt und mit Sandwiche und dort haben wir bekommen ein Kracherl, ein Kracherl haben wir dort gekauft. ein Kracherl, heißt das noch immer Kracherl? Eine Fla- sche, so, es bringt das [unverständlich] ein Kracherl, ein Kracherl haben wir im Flascherl, ein Kracherl haben wir bekommen und Sandwiche eingepackt mit harte Eier und so.“489

Den Kindern wurde aber auch die Möglichkeit geboten, an jüdischen Sommerlagern teilzuneh- men. Laura Cohn erinnert sich, dass einer der Lehrer der jüdischen Volksschule, Heinrich Herr- mann, im Sommer stets ein Kinderferienlager in der Nähe von Gleisdorf veranstaltete, an dem sie ein- oder zweimal teilnahm. Bei diesem mehrwöchigen Lager kamen jüdische Kinder aus Graz, Wien, Berlin und Ungarn zusammen und es wurde Ping Pong gespielt, gewan- dert und im Plantschbecken gebadet. Sonn- tags kamen die Eltern und Geschwister zu Besuch in das Kinderlager.490 Anzeigen für diese von Lehrer Heinrich Herrmann ver- anstalteten Sommerlager und ebenfalls für ein Winterlager finden sich in den „Mittei- lungen der Israelitischen Kultusgemeinde Abbildung 9: Anzeige Jüdisches Kinderferienheim Graz“ (siehe Abbildung 11).491 Während Herrmann, Graz, 1933. sich die Urlaube und Wanderungen größ- Quelle: N. N., Anzeige Jüdisches Kinderferienheim Herrmann. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultus- tenteils auf die Sommerzeit beschränkten, gemeinde Graz” vom Mai 1933, p. 8.

485 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 15, 19. 486 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 0:45:12–0:45:55. 487 GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:08:38–0:09:07. 488 KLEIN, Interview mit Heinz Klein, o.p. 489 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:33:31–0:34:31. 490 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:27:42–0:32:15. 491 Siehe N. N., Anzeige Jüdisches Kinderferienheim. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Juli 1932, p. 9. – N. N., Anzeige Kinderferienheim Herrmann. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom November 1932, p. 7. – N. N., Anzeige Jüdisches Kinderferienheim Herrmann. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1933, p. 8. 103

berichten die ZeitzeugInnen dennoch auch von vie- len Aktivitäten, die im Winter ausgeführt wurden. Man ging gerne Rodeln oder versuchte sich am Schi- fahren. Henry Heinz Brecher erinnert sich etwa da- ran, mit vier Jahren im Grazer Stadtpark das Schi- fahren erlernt zu haben.492 Erich Gottlieb gibt an, Mitglied der „Naturfreunde“ gewesen zu sein und mit dem Verein im Winter Schifahren, Rodeln und Eislaufen gegangen zu sein.493 Die Erinnerungen der ZeitzeugInnen bezüglich Freizeitaktivitäten fallen jedoch größtenteils sehr allgemein aus, wie jene von

Edith Basch illustriert: „Hobbies. I liked sports always a lot. I, I, Abbildung 10: Henry Heinz Brecher beim swimming was my favourite thing in the sum- Schlittenfahren, Graz, Februar 1935. mer, and I went ice skating and just a couple Quelle: United States Holocaust Memorial of years I learned how to ski and play ball and Museum, Photograph 85383. https://collec- things with my hands, I used to knitting and tions.ushmm.org/search/catalog/pa1182704 crocheting, I could newer sew, and reading, [Abruf: 02.03.2021]. yeah, I was always busy we used to do a lot of hiking because there's very nice countryside around the city.”494

Neben sportlichen Freizeitaktivitäten geben einige ZeitzeugInnen jedoch auch an, kulturelle Veranstaltungen besucht zu haben. Leo Dortort erzählt beispielsweise, dass er oft im Kino war. Ein Nachbar war der Direktor eines Kinos und ließ den Buben die Vorstellungen oft besu- chen.495 Auch Margarethe Welisch besuchte des Öfteren das Kino, aber auch das Theater und die Oper.496 Zwei ZeitzeugInnen haben Tanzkurse besucht. Neben Margarethe Welisch berich- tet auch Otto Pollak, als junger Bub an einem solchen teilgenommen zu haben:

492 BRECHER, AHC 2585, Tape 1. 1:40:01–1:40:18. 493 GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:27:46–0:29:16. – Gottliebs Mitgliedschaft bei den „Naturfreunden“ kann auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Dadurch, dass der „Österreichische Alpenverein“ bereits Anfang der 1920er Jahre einen „Arierparagraphen“ einführte und eine Mitgliedschaft dort somit ausgeschlossen war, konnte man sich den „Naturfreunden“ auch als Jude anschließen bzw. wurde nicht wegen seiner Religion vom Verein ausgeschlossen. Zudem kann die Mitgliedschaft jedoch auf die Nähe zur Sozialdemokratie hinweisen, da es sich bei dem Verein um einen sozialistisch eingestellten Wanderverein handelt. Als solcher wurde der Verein in Österreich von 1934 bis 1945 verboten, erst vom „Ständestaat“, dann vom NS-Regime. Siehe N. N., Späte Aufarbeitung der braunen Vergangenheit des Alpenvereins. In: „Tiroler Tageszeitung“ vom 23.08.2016; https://www.tt.com/artikel/11884041/spaete-aufarbeitung-der-braunen-vergangenheit-des-alpenvereins [Abruf: 31.03.2021]. – HACHLEITNER Bernhard, Arierparagrafen und andere Ausschlussmechanismen. In: Bernhard HACHLEITNER / Matthias MARSCHIK / Georg SPITALER (Hgg.), Sportfunktionäre und jüdische Differenz. Zwischen Anerkennung und Antisemitismus - Wien 1918 bis 1938. Berlin-Boston 2019, p. 30–32. 494 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:12:59–0:13:50. 495 DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:02:30–0:03:18. 496 WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:04:23–0:04:42. 104

„Wir hatten eine große Abschiedsfeier mit Tanzvorführungen im Grazer Orpheum. Ich bekam mit meiner Partnerin den zweiten Preis und war sehr stolz. Die Knaben hatten Mozartanzüge und die Damen Abendtoiletten.“497

David Grünschlag fasst zusammen, dass es in Graz ein reges kulturelles Leben gab, das jedoch nicht speziell jüdisch geprägt war. Die Grazer Jüdinnen und Juden besuchten allgemeine Kul- turveranstaltungen, da in diesem Zusammenhang nur wenige jüdische Veranstaltungen ange- boten wurden.498 Dies kann wiederum als Indikator für jüdische-nichtjüdische Berührungs- punkte gesehen werden. Egal ob sportliche oder kulturelle Veranstaltungen, ein Großteil der ZeitzeugInnen meint, dass sie solche Freizeitaktivitäten gemeinsam mit ihren jüdischen FreundInnen unter- nahmen. Sowohl die eigenen als auch die Freundeskreise der Eltern werden größtenteils als jüdisch beschrieben. Eine Ausnahme hiervon bildet die Familie von Anna Weiss. Vater Otto Loewi war Professor an der Grazer Universität und als solcher eng in den akademischen Kreis eingebunden.499 Anna Weiss berichtet deshalb, auch selbst hauptsächlich FreundInnen aus die- sem Kreis gehabt zu haben. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie die evangeli- sche, und nicht die jüdische Volksschule besuchte und so der Kontakt zu anderen jüdischen Kindern sehr beschränkt war.500 Eine weitere Ausnahme ist Rudolph Friedlander, der ebenfalls berichtet, hauptsächlich nichtjüdische FreundInnen gehabt zu haben. Er meint, dass er sehr glücklich mit dem Mix aus jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaft gewesen sei. Ob er in dieser Hinsicht ebenfalls durch seine Eltern beeinflusst wurde, kann nicht nachvollzogen wer- den. Im Gegensatz zu Anna Weiss, besuchte Rudolph Friedlander aber die jüdische Volks- schule. Während seiner weiteren Schullaufbahn hatte er jedoch hauptsächlich nichtjüdische MitschülerInnen, mit denen er sich eng anfreundete.501 Viele ZeitzeugInnen berichten, Mitglieder in unterschiedlichen jüdischen Vereinen ge- wesen zu sein. Vor allem „Haschomer-Hazair“, „Betar“, „Blau-Weiß“ und die „Hakoah“ finden wiederholt Erwähnung in den Berichten. Kurt Koevesi erzählt etwa, dass er sowohl Mitglied beim „Haschomer-Hazair“ als auch bei „Blau-Weiß“ war. Während beim „Haschomer-Hazair“ der Zionismus bei Heimabenden mit Diskussionen und Vorträgen mit dem Ziel der Auswande- rung nach Palästina stark hervorgehoben wurde, standen beim „Blau-Weiß“ eher Geselligkeit und gemeinsame Wanderungen im Vordergrund, obwohl es sich auch hier um einen

497 POLLAK, Versuch über mich selbst, 2000, p. 15. 498 GRÜNSCHLAG, O.3/3916, Tape 1. 0:39:51–0:40:22. 499 Dies bewahrte die Familie nach dem „Anschluss“ 1938 jedoch auch nicht vor Verhaftungen und vor der Ver- treibung. Angemerkt sei jedoch, dass es aus dem Ausland heftige Kritik am Umgang mit dem Professor gab, der erst kurz zuvor den Nobelpreis erhalten hatte. 500 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:09:03–0:10:44. 501 FRIEDLANDER, AHC 1196, Tape 1. 0:06:46–0:07:12. 105

zionistischen Verein handelte, so der Zeitzeuge. Koevesi meint, vor allem aus den geselligen und sportlichen Gründen Mitglied des „Blau-Weiß“ gewesen zu sein. Die Ausflüge, die wo- chenends veranstaltet wurden, hatten die Grazer Umgebung zum Ziel und so wurden Wande- rungen auf den Schöckl oder die Hohe Rannach unternommen.502 Im Sommer veranstaltete ein anderer Verein, nämlich der „Betar“, zu den übrigen Veranstaltungen, die unter dem Jahr orga- nisiert wurden, auch Sommercamps. Heinz Klein und Bernard Lichtenstein nahmen an diesen teil. Heinz Klein erinnert sich daran, dass dort nicht nur Grazer Kinder waren, sondern auch jüdische Kinder aus Wien und der Schweiz teilnahmen.503 Bernard Lichtenstein nennt Velden und Kranjska Gora als Ziele solcher Lager.504 Neben den Sommerlagern traf man sich auch regelmäßig im Vereinsheim. Laura Cohn fasst zusammen, wie sie ihre Zeit im „Betar“ wahr- nahm: „Ich war auch im ‚Betar‘. […] Ich war ganz stolz. wir haben eine schöne Uniform ge- kriegt. Und das mehr so ein. Haben wir exerzieren gelernt dorten und außerdem einer von den älteren Studenten, die haben das, hat man genannt Zirhot, Zirhot gehabt, die haben einem sozusagen den Zionismus langsam informiert. Über Theodor Herzl und über die Geschichte von Seinerzeit, von Palästina also die zionistische Organisation und so weiter. Aber hauptsächlich ist man dort zusammengekommen aus gesellschaftlichen Gründen. Wie gesagt, wir haben nachher Ausflüge zusammengemacht und dorten hat es auch ge- geben zwei große Ping-Pong-Tische. Wir haben ein schönes ‚Betar‘-Heim gehabt und das war glaub ich [im] Paradeiskeller.“505

Die Zeitzeugin schreibt dem Verein jedoch nicht nur eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu. Vielmehr führt sie auch aus, dass jüdisches Selbstbewusstsein dort gestärkt wurde und sie dadurch besser mit antisemitischen Anfeindungen umgehen konnte, ohne sich minderwertig zu fühlen. In ihrem Fall half der Verein, dass sie sich zu einer stolzen Jüdin entwickelte.506 Einem Artikel in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“ zufolge, forcierte die Leitung des Vereins ganz klar die Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen zur Auswande- rung nach Palästina.507 Ob dieses Ziel auch immer mit der Motivation der jungen Vereinsmit- glieder übereinstimmte, kann bezweifelt werden. So sah Eric Newman im „Betar“ zuallererst die soziale und gesellschaftliche Funktion, wegen der er dem Verein beitrat. Während seiner Jugendzeit handelte es sich seiner Erinnerung nach um den beliebtesten jüdischen Jugendverein in Graz, dem über 100 Mitglieder angehörten.508 Akten zufolge hatte der Verein im Oktober

502 KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:16:57–0:20:35. 503 KLEIN, Interview mit Heinz Klein, o.p. 504 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1b. 0:19:17–0:21:47. 505 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:34:45–0:37:20. 506 Ebda.,Tape 2. 0:07:32–0:10:37. 507 N. N., Was will der Betar? In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom November 1933, p. 2–3. 508 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:06:05–0:06:33. 106

1934 ungefähr 50 Mitglieder.509 Wie sich die Mitgliederzahl in den folgenden Jahren verän- derte, kann aufgrund des dürftigen Aktenbestandes nicht nachvollzogen werden. Im Gegensatz zu den genannten Vereinen, handelte es sich bei der „Hakoah“ um einen Sportverein, der sich in erster Linie an Erwachsene richtete, aber auch Jugendgruppen hatte. Der Verein war in Graz ein wichtiger Bestandteil jüdischen Lebens. Diese Annahme wird durch einen Artikel in den „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz“ im Jahr 1931 bestätigt, in dem erwähnt wird, dass der Verein zu diesem Zeitpunkt über 400 ausübende Mitglieder hatte.510 Neben den zahlreichen Sportangeboten, die der Verein für die erwachsenen jüdischen BürgerInnen offe- rierte, gab es auch einige für Kinder und Jugendliche. Leo Dortort und Eric Newman gehörten der Fußballmannschaft des Vereins an, Margarethe Welisch berichtet Ping Pong und Handball im Verein gespielt zu haben.511 Hilda Busch gehörte dem Verein wegen der gesellschaftlichen Veranstaltungen an.512 Insgesamt gaben dreizehn ZeitzeugInnen an, in zumindest einem der genannten Vereine Mitglied gewesen zu sein.513 Dies ist eine beachtliche Anzahl, wenn man bedenkt, dass ein Teil der Personen des Quellenkorpus bis zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung noch zu jung war, um überhaupt einem Verein beitreten zu können. Neben der jüdischen Volksschule nahmen diese jüdischen Vereine eine enorm wichtige Gesellschaftsfunktion für die jüdischen Jungen und Mädchen ein. Sie boten einen geschützten Raum für ein Aufwachsen in einer antisemitisch geprägten Umwelt. Gleichzeitig führten sie aber wiederum dazu, dass sich die jüdische Ge- meinschaft dadurch noch stärker von ihrer Umwelt abgrenzte und Kontakte und Freundschaften hauptsächlich innerjüdisch gebildet wurden.

5.2.4. Antisemitismus Erste Erfahrungen mit Antisemitismus machten die meisten ZeitzeugInnen bereits sehr früh in ihrer Kindheit. Spätestens mit dem Beginn ihrer Schulzeit wurde den Kindern bewusst, dass sie jüdisch waren und als Angehörige dieser Religion in Graz bei vielen BewohnerInnen nur wenig Ansehen besaßen. Anna Weiss, die die evangelische Volksschule besuchte, berichtet etwa

509 StLA, LReg-206-Ju-031-1936. 510 N. N., Aus der jüdischen Sportbewegung. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1931, p. 6. 511 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:06:45–0:07:31. – DORTORT, AHC 4066, Tape 2. 0:33:14–0:33:57. – WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:26:15–0:27:36. 512 BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:09:16–0:10:09. 513 Mitglieder im „Haschomer-Hazair“ waren Leo Dortort, David Grünschlag, Heinz Klein, Kurt Koevesi und Batja Tuchendler. Zum „Blau-Weiß“ gehörten Heinz Klein, Kurt Koevesi, Bernard Lichtenstein, Trude Philipp- sohn-Lang und Batja Tuchendler. Dem Betar gehörten Hilda Busch, Laura Cohn, Elfreda Fuchs und Eric Newman an. In der „Hakoah“ waren Hilda Busch, Leo Dortort, Sarah Loewy, Eric Newman, Batja Tuchendler und Marga- rete Welisch Mitglieder. 107

davon, gleich in der ersten Klasse von einem anderen Mädchen ohne ersichtlichen Grund igno- riert worden zu sein und wie sie dadurch erfuhr, dass sie jüdisch ist: „I asked another child at six, in first grade, asked something and she looked at me, turned around, and walked away. I didn’t know what happened, had no idea, no idea. Also it didn't bother me much, I just couldn't understand it. And eventually I found out I was Jewish, there was never any talk about it. I just didn't know. […] I don't that I was Jewish or anything else. There was never any talk about religion. And so eventually I found out, ah, her mother must have told her that this is a Jewish a girl and you don't help the Jewish girl and so she turned around and walked away which is the thing to do.”514

Während Anna Weiss bei ihrem Schulstart nicht wusste, was es für sie als Jüdin bedeutet, eine evangelische Volksschule zu besuchen, war ihr Vater sich der Situation sehr wohl bewusst und warnte das junge Mädchen vor: „When I started going to school, my father saw fit to warn me: ‘That now you're going to school and you will make friends. But can't invite them to your house before they have invited you because very possibly they won't be allowed to come.’ So, I never was the first to initiate anything and only if somebody had a birthday party and invited me that was fine, then we could have had.”515

Ein paar Jahre nach Anna Weiss besuchte auch Trude Philippsohn-Lang die evangelische Volksschule und auch sie erinnert sich an antisemitische Vorfälle in der Schule, auch wenn sie ihre Volksschulzeit generell als schön in Erinnerung hat. Die Kränkung, die sie dadurch erfuhr, dass sie als einzige gemeinsam mit einem Kind, das immer Läuse hatte, nicht zu einer großen Geburtstagsfeier eingeladen worden war, über die Tage später noch alle, sogar die Lehrperso- nen, sprachen, hat sich tief in der Erinnerung der Zeitzeugin festgesetzt. Solche antisemitischen Tendenzen beschränkten sich jedoch nicht nur auf die Volksschulzeit. Vielmehr beschreibt Trude Philippsohn-Lang, auch in späterer Zeit eine feindliche Umgebung wahrgenommen zu haben, sobald sie das Haus der Familie verließ und in ständiger Vorsicht gelebt zu haben: „The difference between home and outside was overpowering; it was warm at home; but the very moment we left it we had to breathe in the chilly atmosphere of hostility. […] I fought against my own feelings and tried to feel at ease with the others. I succeeded to a certain extend and had very happy moments at school, but I knew all the time that I had to be ready to face an attack.”516

Doch auch den SchülerInnen der israelitischen Volksschule blieben antisemitische Er- fahrungen in jungen Jahren nicht erspart. Mehrere ZeitzeugInnen berichten, dass sich neben der jüdischen Volksschule eine nichtjüdische Schule befand. Wiederholten Übergriffen versuchte man seitens der Schulleitung der jüdischen Volksschule damit entgegenzuwirken, die jüdischen Kinder fünfzehn Minuten vor den nichtjüdischen Kindern zu entlassen, um so ein

514 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:09:03–0:10:44. 515 WEISS, Interview 21635, Tape 1. 0:07:25–0:08:03. 516 PHILIPPSOHN-LANG, On my Way to Adoption, 2020, p. 21–22. 108

Aufeinandertreffen zu verhindern. Sofern die Kinder dennoch aufeinanderstießen, berichten die ZeitzeugInnen sowohl von verbalen Beleidigungen als auch körperlichen Übergriffen. Bernard Lichtenstein erinnert sich im Interview an einen antisemitischen Übergriff durch Schüler der Nachbarschule: „Eines Tages in der Volksschule, als ich im dritten Jahr, ich war neun Jahre alt, da ging ich früher nach Hause. Ich fühlte mich nicht gut, hatte Kopfschmerzen oder irgendwas. Und ich verließ die Schule alleine und wie ich da rauskam, kamen drei Jungens [sic], größere Jungens [sic] aus der Hofschule, nicht Hofschule, Mittelschule. Nebenan war eine Mittelschule, Bürgerschule, christliche. Und da kamen drei Jungens [sic] raus und, wie heißt das, spuckten auf meinen Mantel, auf den Rücken. Ich hatte einen neuen Mantel an, mit einem Pelzkragen von meinem Vater. Und sie spuckten auf mich, und ich wollte nicht laufen, denn ich dachte das wäre feig, so what could I do. Afterwards I wiped it off and finished. But that was the only incident that I suffered, because I came out alone. There was nobody around there on that time of day before noon or what.”517

Auch Otmar Silberstein erinnert sich, dass die oberste Regel war, die Schule niemals alleine zu verlassen, sondern immer in Gruppen zu gehen, um den Schlägen der nichtjüdischen Kinder zu entgehen.518 Doch auch das half nicht immer: Wie Margarethe Welisch berichtet, fanden den- noch des Öfteren Kämpfe zwischen den beiden Gruppen statt: „They beat us up or so, you know, if they could get hold of us, you know. […] I was beaten, we fighted [sic], we tried to fight but it was tough.”519 Während diese Übergriffe für die jüdischen VolksschülerInnen oftmals schon sehr be- lastend waren, verstärkten sich die antisemitischen Erlebnisse in den weiterführenden Schulen meist noch. Nicht nur judenfeindliche MitschülerInnen, sondern auch antisemitische Lehrper- sonen machten den jüdischen Kindern oftmals das Leben schwer und gaben ihnen das Gefühl minderwertig zu sein. Laura Cohn erinnert sich daran, zwar keine direkten antisemitischen Äu- ßerungen gehört zu haben, doch immer wieder indirekt als Jüdin diskriminiert worden zu sein, wie beispielsweise bei der Besprechung eines Gedichts mit der Deutschlehrerin. Das Gedicht wurde nach Ansicht der Zeitzeugin deshalb ausgesucht, weil es einen Juden diffamierte und damit die jüdischen Schülerinnen in der Klasse gedemütigt werden konnten. Laura Cohn erin- nert sich an ihre Gefühlslage während dieser Stunde: „Und die hat direkt ein Vergnügen gehabt, dieses Gedicht, wo man was Schlechtes über den Jud gesagt hat. Wahrscheinlich der Jud mit dem Sack, vielleicht hat er was gestohlen, ist möglich. Ich erinnere mich nur, ich hab schon vorher gezittert. Als sie das angesagt hat, das Gedicht, da hab ich mich schon gemeldet, man musste so machen, wenn man hinaus wollte ins Klo. Da habe ich mich schon vorher gemeldet und bin hinausgegangen, weil das war für mich einfach furchtbar. Ich hab direkt gemerkt den, die, die, sie hat direkt

517 LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 2a. 0:02:31–0:04:14. 518 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:09:36–0:10:44. 519 WELISCH, Interview 6090, Tape 1. 0:22:46–0:23:16. 109

eine Freude, einen Genuss gehabt, um uns zu, irgendwie zu, wie soll ich sagen, um uns weh zu tun.“520

Ähnlich wie Laura Cohn erging es auch Kurt Koevesi, der ebenfalls meint, weniger direkte, dafür aber unzählige indirekte antisemitische Äußerung erfahren zu haben.521 Während Lehr- personen ihre antisemitischen Ansichten bis zum „Anschluss“ zumindest offiziell nicht nach außen tragen durften, konnten Äußerungen von nichtjüdischen MitschülerInnen oftmals nicht unterdrückt werden. Harald Salzmann berichtet von einem generell höchst judenfeindlichen Milieu an der Kepler-Realschule und einem speziellen Vorfall im Jahr 1934: „Ein Mitschüler malte mit Farbe ein großes Hakenkreuz in meine Mittelschüler-Kappe hinein. Daraufhin forderte mein Vater eine Disziplinaruntersuchung. Der Täter, ein ge- wisser Sernetz, wurde auch ermittelt. Aber daraufhin war die ganze Klasse – einschließ- lich des Klassenvorstandes (Dr. Karl Adolf Mayer, Schriftsteller) – böse auf mich. Genau nach der antisemitischen Denkweise: Jüdische Chuzpeh, was nimmt sich der Jud' heraus (wenn er Recht und Gesetz in Anspruch nimmt)… Anscheinend waren in der Kepler- Realschule (der Start für Ingenieure) besonders viele Nazis, so gab es Lehrer, die Haken- kreuzabzeichen unter dem Sakko-Revers trugen.“522

Wie die ZeitzeugInnen berichten, war das Verhältnis zu den nichtjüdischen MitschülerInnen jedoch meistens zwiegespalten. Beinahe alle berichten, dass sie auch nichtjüdische FreundIn- nen hatten. Doch auch diese Freundschaften waren durch die antisemitisch gefärbte Umgebung vorbelastet, wie zwei Beispiele bezeugen. Anna Weiss erzählt etwa, dass sie als einziges jüdi- sches Kind in der Klasse stets gut integriert war. Als es aber gegen Ende der Schulzeit um die Organisation des Maturaballs ging, wurde sie vom Komitee, das den Ball organisierte, gebeten zu Hause zu bleiben, da sonst Gäste ausbleiben könnten, wenn bekannt werden würde, dass ein jüdisches Mädchen daran teilnahm.523 Laura Cohn berichtet wiederum von einer nichtjüdischen Freundin, die sie sehr gern hatte. Diese sagte eines Tages zu ihr: „‚Weißt, ich möcht dich ja gern zu mir nach Hause‘ - wir waren befreundet als Kinder – ‚Ich möcht dich ja gern nach Haus einladen. Aber meine Großmutter, die mag keine Juden.‘“524 Doch die antisemitischen Erfahrungen der ZeitzeugInnen beschränkten sich nicht auf den schulischen Raum. Wiederholt geben sie an, beim Spielen oder auf offener Straße verbal und sogar körperlich angegriffen worden zu sein.525 Lisa Gerber erinnert sich, des Öfteren als „Judensau“ beschimpft worden zu sein.526 Erich Gottlieb gibt an, auch schon zu Beginn der

520 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:01:05–0:02:28. 521 KOEVESI, 1997.A.0382.3, Tape 1. 0:30:29–0:32:28. 522 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 148–149. 523 WEISS, 1993.A.0095.89, Tape 1. 0:22:19–0:24:58. 524 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:08:13–0:08:28. 525 Woher die AngreiferInnen wussten, dass es sich bei den Kindern um Jüdinnen und Juden handelte, geben die ZeitzeugInnen nicht an. Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um Bekannte, MitschülerInnen oder NachbarInnen gehandelt haben muss. 526 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 300. 110

1920er Jahre den pejorativen Bemerkungen anderer Kinder ausgesetzt gewesen zu sein.527 Ge- nia Molczadski ist ein Erlebnis besonders in Erinnerung geblieben. Gerne besuchte sie als jun- ges Mädchen ein Süßwarengeschäft und freundete sich dabei mit der jungen nichtjüdischen Inhaberin des Geschäftes an. Die Süßwarenladenbesitzerin hat sich nicht daran gestört, dass ihre Kundin Jüdin war. Die Mutter, die ihrer Tochter das Geschäft finanziert hatte, sah dies allerdings anders, wie Genia Molczadski berichtet: „Eines Tages, als ich im Geschäft saß, dort was gekauft, ja gekauft, nicht gekauft, bin jedenfalls gesessen, mit ihr geplauscht, wie sie das immer genannt hat. Resi hat sie ge- nannt, hat sie geheißen, das erinnere ich mich noch, mehr weiß ich nicht, kam ihre Mutter, mehr oder weniger scheinbar unerwartet für sie. Und sie kommt rein, öffnet den Laden, die Türe vom Geschäft. Sie sieht mich, sie schaut auf ihre Tochter. Und sie zeigt mir, ‚Du erlaubst dir dieses Judenkind hier sitzen zu lassen. Gehen Sie sofort, verschwinden Sie!‘ Das war mein persönlicher ärgster Fall. […] Das war noch vor Hitler, war noch weit vor Hitler. Wie alt kann ich damals gewesen sein, weit vor Hitler.“528

Wie diese Aussage belegt, erlebte auch Genia Molczadski persönlich Antisemitismus. Dennoch gibt sie im Interview an, selbst nichts vom starken Antisemitismus in Graz gespürt zu haben. Dieses Phänomen tritt bei einigen ZeitzeugInnen auf, die einerseits meinen, dass Graz ein anti- semitisches Pflaster war, andererseits jedoch meinen selbst nicht davon betroffen gewesen zu sein. Meist erzählen sie in weiterer Folge, wie eben Genia Molczadski, schließlich doch von solch judenfeindlichen Erlebnissen. Leo Dortort berichtet davon, bis 1937 kaum antisemitische Tendenzen vernommen zu haben. Dies änderte sich jedoch mit einem Erlebnis, das ihn tief traf. Als großer Fan des Fuß- ballclubs „Sturm Graz“, verpasste Leo Dortorts Vater beinahe kein Spiel seiner Lieblingsmann- schaft und nahm auch seinen Sohn immer wieder zu den Veranstaltungen mit. Bei einem be- sonders wichtigen Spiel, das in Donawitz ausgetragen wurde, fuhr man gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Fanclubs mit einigen Bussen zum Spiel. Nachdem die Mannschaft gewonnen hatte, feierten die Fans in einem nahegelegenen Gasthaus. Nur Leo und dessen Vater wurden von der Feier nicht unterrichtet und warteten bei den Bussen, bis die anderen wieder zurückkehrten. Um seinen Sohn zu schützen, erklärte ihm der Vater, dass es sich dabei sicher um ein Versehen gehandelt haben musste. Leo Dortort ist sich jedoch sicher, dass sie als einzige Juden bewusst von den Feierlichkeiten ausgeschlossen wurden: “We were the only Jews. And this remained in my memory, deep. And I remember my father always used to say No, no they may have made a mistake whatever. He was trying to shield me. But I remember that I am sure it was because of antisemitism.”529

527 GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 1. 0:26:13–0:26:39. 528 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:39:57–0:43:31. 529 DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:09:44–0:12:51. 111

Während einige ZeitzeugInnen angeben, während ihrer gesamten Kindheit antisemitische Ten- denzen verspürt zu haben, meinen andere bis zum „Anschluss“ gar nichts vernommen zu haben. Dass einige der Interviewten bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme wirklich keinerlei antisemitische Äußerungen wahrgenommen haben, erscheint aufgrund der Quellenlage eher unwahrscheinlich. Sowohl ZeitzeugInneninterviews als auch Zeitungsberichte aus der Zwi- schenkriegszeit vermitteln einen anderen Eindruck. Dass es sich hierbei aber um keinen Ein- zelfall handelt, beschreibt Andrea Strutz in einem Aufsatz, in dem sie sich auf eine Umfrage mit österreichischen Shoahüberlebenden in Israel bezieht. Nur rund die Hälfte der Befragten gaben dabei an, vor dem „Anschluss“ mittleren bis starken Antisemitismus verspürt zu ha- ben.530 Erklärt werden kann dieser Umstand eventuell damit, dass die ZeitzeugInnen ihre Erin- nerungen so abgeändert haben, dass der „Anschluss“ als Umbruch ihres alten Lebens, ihrer schönen Kindheit und Jugend, in die Zeit der Verfolgung und Flucht, als Ursprung allen Übels gesehen wird. Michaela Raggam-Blesch fand in diesem Zusammenhang heraus, dass die nati- onalsozialistische Machtübernahme in diesem Kontext oftmals „mit dem Narrativ des bösen Erwachens charakterisiert“ wird.531 Auch wenn zuvor bereits starke antisemitische und natio- nalsozialistische Tendenzen spürbar gewesen waren, so waren diese nach dem „Anschluss“ programmatisch geworden.

5.3. Der „Anschluss“ und die Zeit bis zur Emigration Die Machtübernahme der NationalsozialistInnen sowie die darauffolgenden Ereignisse bis hin zur Emigration sind in den Erinnerungen der ZeitzeugInnen sehr klar erhalten. Vor allem Elf- reda Fuchs und Otmar Silberstein räumen dieser Zeit besonders viel Platz in ihren Erzählungen ein. Dies zeugt davon, dass sie diese traumatischen Ereignisse als besonders wichtige Teile ihrer Lebensgeschichten empfinden. Insbesondere ältere ZeitzeugInnen geben sehr detaillierte Berichte über ihre Erlebnisse. Da der Fokus dieser Arbeit jedoch auf den Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen liegt, werden in den folgenden Ausführungen nur Aussagen von un- ter Achtzehnjährigen beachtet. Die Berichte von fünfzehn ZeitzeugInnen des Quellenkorpus werden dementsprechend in diesem Unterkapitel analysiert und interpretiert, während die üb- rigen dreizehn ZeitzeugInnen das Erwachsenenalter zu diesem Zeitpunkt bereits erreicht hatten und somit nicht Eingang in die Analyse finden.

530 STRUTZ, „Suddenly I was a Judenbua“, 2009, p. 72. 531 RAGGAM-BLESCH, „Being different“, 2008, p. 20. 112

5.3.1. „Anschluss“ Während sich die offizielle Machtübernahme der NationalsozialistInnen am 12. März 1938 er- eignete, berichten sowohl Leo Dortort als auch Elfreda Fuchs, bereits in den Tagen zuvor Nazi- Aufmärsche wahrgenommen zu haben.532 Besonders in Erinnerung geblieben ist beiden dabei, dass gesungen wurde „und wenn das Judenblut von unseren Messern spritzt“.533 Dieses Erlebnis war besonders für Elfreda Fuchs sehr prägend, meint sie doch: „that was the most frightening thing I think I've ever experienced“.534 Im Gegensatz zu den Ereignissen des Jahres 1934, die nur wenig Erwähnung in den Berichten finden,535 scheint der „Anschluss“ bei allen ZeitzeugIn- nen in genauer Erinnerung geblieben zu sein. Dies mag vor allem daran liegen, dass sich ihr Leben mit der nationalsozialistischen Machtübernahme komplett veränderte. Glaubte man bis zum Tag davor trotz aller Zeichen noch, dass ein solcher „Anschluss“ Österreichs an Deutsch- land nicht passieren könnte, so kam er am 12. März 1938 umso überraschender. Genia Molcz- adski erinnert sich, dass ihre Familie zwei Tage zuvor von einer deutschen Jüdin aufgesucht worden war, die um Essen und Geld bat und von der Situation in Deutschland berichtete. Trotz- dem war sich die Familie sicher, dass so etwas in Österreich nicht passieren könne.536 Anderer Meinung war Otmar Silberstein. Er meint, dass sehr wohl mit der Annexion Österreichs zu rechnen war, er aber dennoch überrascht war, als es schließlich passierte: „There was sort of a

532 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:10:22–0:12:23. – DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:12:51–0:14:53. 533 Dabei handelt es sich um die antisemitische Variante des „Heckerliedes“, das ursprünglich über den badischen Radikaldemokraten Friedrich Hecker in Gedenken an die Revolution 1848 gedichtet wurde. In zahlreichen Versi- onen (in den 1880er war es vor allem als Trinklied beliebt) wurde der Text schließlich an die Anschauungen der jeweils singenden angepasst und so entstand auch eine antisemitische Version, die ab den 1920er Jahren verstärkt auftrat. Siehe BRÜNING Christina, Vom Heckerlied zum Sommermärchen. Rassismuskonstruktionen in rechter Musik im Wandel der Zeit. In: Jan SCHEDLER / Sabine ACHOUR / Gabi ELVERICH / Annemarie JORDAN (Hgg.), Rechtsextremismus in Schule, Unterricht und Lehrkräftebildung (= Edition Rechtsextremismus). Wiesbaden 2019. – KOHLSTRUCK Michael / SCHEFFLER Simone, Das „Heckerlied“ und seine antisemitische Variante. Zu Geschichte und Bedeutungswandel eines Liedes. In: Michael KOHLSTRUCK / Andreas KLÄRNER (Hgg.), Ausschluss und Feindschaft. Studien zu Antisemitismus und Rechtsextremismus. Berlin 2011. 534 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:10:22–0:12:23. 535 Nur Leo Dortort, Kurt Koevesi und Bernard Lichtenstein berichten kurz von den Februarkämpfen und dem Putschversuch, dem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1934 zu Opfer fiel. Sarah Loewy, Laura Cohn, Genia Molczadski und Otmar Silberstein meinen, als sie zu diesen Vorfällen befragt werden, sich gar nicht daran erinnern zu können oder davon in keinster Weise betroffen gewesen zu sein. Die übrigen ZeitzeugInnen erwähnen die Vorfälle des Jahres 1934 gar nicht. Dies mag einerseits daran liegen, dass sie von den InterviewerInnen nicht dazu befragt wurden und andererseits ein Hinweis dafür sein, dass die ZeitzeugInnen mit großer Mehrheit bürgerlichen Kreisen entstammen und nicht in sozialdemokratischen Familien aufgewachsen sind, in denen dieses Ereignis Teil des kollektiven Gedächtnisses ist. Siehe DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 1:10:00–1:11:02. – LICHTENSTEIN, AHC 12, Tape 1a. 0:28:41–0:30:12, 1b. 0:00:01-0:02:32. – LOEWY, 1997.A.0382.4, Tape 3. 0:13:32–0:14:03. – COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:13:22–0:13:51. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:48:50–0:49:31. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:19:22–0:23:02. 536 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 2:34:21–2:26:01. – Auch David Herzog berichtet in seiner Autobiographie wie bereits erwähnt, dass man den deutschen Flüchtlingen zwar zuhörte und ihnen weiterhalf, sich jedoch trotzdem nicht vorstellen konnte, dass es auch den Jüdinnen und Juden in Österreich bald gleich ergehen könnte. SieheMOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 2:34:21–2:26:01. – HALBRAINER / LAMPRECHT / SCHWEIGER, Meine Lebenswege, 2003, p. 27. 113

handwriting on the wall. When it had actually happened it was a very sudden thing […] It didn't surprise me that it happened, it just surprised me when it did happen.“537 Auch wenn man sich der Auswirkungen, die dieser Regimewechsel haben sollte, noch nicht bewusst war, so berichten dennoch einige ZeitzeugInnen, dass sie verspürt haben, dass sich ihr Leben ab diesem Moment stark verändern sollte. Henry Heinz Brecher, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal fünf Jahre alt war, misst dem „Anschluss“ in seiner Beschreibung eine wichtige Rolle in seinem Leben zu: “Yeah, the only thing I can remember, and this was, of course before war broke out, was the Anschluss, the annexation of Austria by the Germans. I mean that's a, probably the most significant event in my life I suppose, because I mean, that, I'm very conscious of a definite break in my existence at that point.”538

Auch Helma Goldmark erinnert sich an den „Anschluss“, gibt jedoch an, dass ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, worum es sich dabei handelte. Mit zwölf Jahren konnte sie die Situation nicht einschätzen und zu Hause erklärte ihr niemand, was die Machtübernahme der NationalsozialistInnen bedeutete, und so erzählt sie von Hitlers Besuch in Graz etwa einen Mo- nat nach dem „Anschluss“: „Und so wie alle jungen Kinder, ich bin, ich bin auch schauen gegangen. Und, wie soll ich sagen, es war, wenn ich jetzt zurückdenke, ich glaub nicht, dass ich, dass ich gewusst hab, um was es sich handelt. Das war für mir, wenn sie hier waren movie [sic] anschauen, wenn sie einen Film anschauen. Der Zauber der Montur. Nicht, ich hab, ich glaub nicht, dass ich, ich hab nicht gewusst. […] Das war ein Umschwug [sic] von der Regierung und alle Leute haben mit die [sic] Fahnen und gelacht und geklatscht und alles, haben wir mitgeklatscht. Nicht, dass ich gewusst hab, um was es sich handelt. Verstehen Sie? Mein Vater hat mir das nicht erklärt. Ich bin, ich bin mit meine [sic] Freundinnen ‚So, jetzt gehen wir schauen. Jetzt gehen wir hin schauen, schauen wir was da los ist und was Neues ist.‘“539

Nicht nur Helma Goldmark berichtet davon, Hitler in Graz gesehen zu haben. Auch Eric Newman gibt an, bei Hitlers Besuch in Graz in der Menge gestanden zu sein und den „Führer“ aus unmittelbarer Nähe erblickt zu haben. Während Goldmark jedoch eher von einem netten Ausflug erzählt, meint Newman, Hitler mit erbosten Gefühlen gegenüber gestanden zu sein.540 Gerda Eisler berichtete ebenfalls davon, Hitler an jenem Tag persönlich gesehen zu haben. Durch das Verbot ihrer Mutter, das Haus an diesem Tag ja nicht zu verlassen, neugierig gewor- den, folgte sie der Menge, die in die Innenstadt pilgerte, und wurde bis in die erste Reihe vor- gelassen, wo der „Führer“ schließlich an ihr vorüberfuhr:

537 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:28:23–0:29:00. 538 BRECHER, Interview 51367, Tape 1. 0:10:39–0:11:51. 539 GOLDMARK, AHC 168, Tape 2. 0:43:36–0:46:46. 540 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:26:05–0:27:09. 114

„Der offene Wagen näherte sich unter lautem Geschrei. Alle streckten Hitler die Hände entgegen. Ich guckte nur. Ich verstand nicht, was sie alle von ihm wollten, und dachte: ‚Warum haben die Juden nur so eine Angst vor ihm? Er sieht aus wie ein Mensch?‘“541

Während Gerda Eisler meint, die Angst nicht nachvollziehen gekonnt zu haben, meint Brigitte Wachs, damals mit sechs Jahren bereits ganz klar gespürt zu haben, dass etwas Schreckliches vor sich ging. Auch wenn ihr Vater und ihre Mutter mit ihr nicht darüber sprachen, so zeugte das Verhalten ihrer Eltern davon, dass etwas nicht in Ordnung war: “Well, at the time that the Nazis came into the town, I remember the shutters being closed but my parents looking out the windows through the shutters and I was aware of the fact that something was wrong. I was just barely six, so I didn't know what was going on, but I knew that it wasn't right.”542

Trotz dieser und ähnlicher Wahrnehmungen berichten die ZeitzeugInnen, dass unter ihren El- tern und anderen Erwachsenen hauptsächlich die Annahme herrschte, dass man ihnen als ge- setzestreue BürgerInnen nichts anhaben könne. Insbesondere berichten einige ZeitzeugInnen von ihren Vätern, die im Ersten Weltkrieg ehrenhaft gekämpft hatten und dafür ausgezeichnet worden waren und sich aufgrund dieser Verdienste relativ sicher fühlten.543 Zudem geben fünf ZeitzeugInnen an, dass ihnen seit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland Berichte von deutschen Jüdinnen und Juden bekannt waren, die erzählten, was mit ihnen dort passiert war.544 Trotz allem wollte man dennoch nicht glauben, dass so etwas auch in Österreich passieren konnte. Batja Tuchendler beschreibt etwa, wie des Öfteren deutsche Flüchtlinge von ihrer Mut- ter bewirtet wurden und wie deren Erzählungen und Warnungen in den Wind geschlagen wur- den: „Mein Vater hat jeden Freitagabend, wenn er von der Synagoge kam, kam immer ein paar Gäste zum Freitagabend mitgebracht, die in die Synagoge gekommen sind und haben erzählt. Man hat sich das angehört, aber man hat sich das nicht vorstellen können. Man, ich weiß nicht, hat, meine Mutter hat sie wirklich bewirtet und alles ihnen noch einge- packt, noch Sandwich und alles, weil dann sie sind geflüchtet, aber, aber zu wissen, dass das so, so ein, so ein Martyrium [Anm. L.G.: wie der Dachauaufenthalt ihres Vaters spä- ter], dass, das, das hat sich niemand vorgestellt.“545

541 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 38. 542 WACHS, Interview 6069, Tape 1. 0:06:33–0:06:58. 543 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:05:37–0:05:57. – BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:17:42–0:19:55. – POLLAK, From Graz to Tel Aviv, 2002, p. 20. – POLLAK, Memory is for us our only hope, 1996, p. 320. – KLEIN, Interview mit Heinz Klein, o.p. – NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:23:25–0:24:37. – GOTTLIEB, Interview 37861, Tape 2. 0:00:00–0:07:19. – SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 151. 544 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:52:04–0:53:15. – BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:12:26– 0:13:37. – MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 2:34:21–2:36:01. – DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 0:40:56–0:41:27. – FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:01:46–0:02:16. 545 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:52:04–0:53:15. 115

Auch Genia Molczadksi meint, dass ein jüdischer Flüchtling zwei Tage vor dem „Anschluss“ bei ihrer Familie Hilfe suchte, und man sich damals noch immer sicher war, dass so etwas in Österreich nicht passieren könnte: „Worauf sich diese Sicherheit basiert hat, der österreichischen Juden, so nahe Grenze an Grenze, deutsche Sprache, genug Antisemitism [sic, englische Aussprache] gewesen auch ohne Hitler. Naivität.“546

Doch schon bald nach der Machtübernahme der NationalsozialistInnen erfuhren die Zeit- zeugInnen einen drastischen Wandel ihres Lebens. Die SchülerInnen durften das Schuljahr in ihren jeweiligen Schulen noch beenden, berichten jedoch oftmals davon, ab dem „Anschluss“ verstärkt Opfer von antisemitischen Attacken durch SchülerInnen und Lehrpersonen gewesen zu sein. Edith Basch berichtet, bis zum „Anschluss“ gut mit ihren Mitschülerinnen ausgekom- men zu sein. Als diese nun aber nach der nationalsozialistischen Machtübernahme alle dem „Bund deutscher Mädel“ beitraten und die Schule in Uniform besuchten, fühlte sie sich dadurch stark ausgegrenzt. Auch die Erzählungen, wie die „arischen“ Mädchen mit dieser Organisation Ausflüge und andere lustige Dinge unternahmen, hatten auf die Jüdin den Effekt, dass sie sich ausgeschlossen fühlte. Eine weitere Situation, die der Zeitzeugin während ihrer Schulzeit nach dem „Anschluss“ in der Erinnerung geblieben ist, ist das morgendliche Gebet, das nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit dem Hitler-Gruß ausgetauscht wurde: „Oh, and another thing was very funny. Being a catholic school, they used to say the Lord's prayer every morning before school started and then of course it was ‘Heil Hitler’ instead of the Lord's prayer. Well, originally, we Jewish girls, of course, didn't say the Lord's prayer, well, then when they started with the ‘Heil Hitler’, the nuns didn't do it and we didn't do it either. So, it was rather comical if you can call it that.”547

Elfreda Fuchs erinnert sich hingegen daran, von den MitschülerInnen als auch den Lehrperso- nen komplett ignoriert worden zu sein. Mädchen, mit denen sie zuvor befreundet gewesen war, sprachen nicht mehr mit ihr und stießen sie sogar die Treppen hinunter. Nachdem ihr Vater jedoch darauf bestand, besuchte sie die Schule bis zum Ende des Schuljahres.548 Auch Kurt Landskroner erinnert sich an antisemitische Übergriffe durch seine Mitschüler. Nur ein oder zwei Tage nach dem „Anschluss“ sperrten sie ihn in der Schule in einen Kleiderschrank ein.549 Gerda Eisler berichtet von ihrem letzten Schultag am Gymnasium Folgendes: „Meine Lehrerin betrat die Klasse, begrüßte uns mit ‚Heil Hitler‘ und rief mich direkt auf: ‚Du da, steh auf, stell dich vor die Klasse!‘ Ich gehorchte, stellte mich vor die Klasse und senkte den Kopf. Aus dem Augenwinkel nahm ich noch wa[h]r, wie die Lehrerin ihren Arm ausholte, bevor die Ohrfeige auf meiner Wange brannte. ‚Du hast hier nichts

546 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 2:35:32–2:36:01. 547 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:19:55–0:24:07. 548 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:13:52–0:15:03. 549 LANDSKRONER, Interview 48062, Tape 1. 0:04:40–0:05:31. 116

verloren!‘, rief sie voller Zorn. ‚Lass dich hier nie wieder blicken, du gehörst hier nicht her!‘ Weinend rannte ich nach Hause.“550

Anders erging es Laura Cohn, die meint, weder von den SchülerInnen, noch von den Lehrper- sonen nach dem „Anschluss“ anders behandelt worden zu sein. Der einzige Unterschied war, dass man einen anderen Direktor bekam, der nationalsozialistische Ansichten vertrat, was die Schülerin jedoch nicht direkt betraf.551 Auch Eric Newman meint viel Glück gehabt zu haben und weder von Lehrpersonen, noch von MitschülerInnen irgendwelche antisemitischen Atta- cken ausgesetzt gewesen zu sein. Batja Tuchendler erinnert sich daran, wie sie eines Tages der Schule verwiesen wurde: „‚Gertler‘, das war mein Familienname, aufgestanden, ‚wir bedauern sehr, aber du darfst morgen nicht mehr in die Schule kommen.‘“552 Die Zeitzeugin meint, dass dies am 10. November 1938 geschah. Die Angabe dieses Datums steht jedoch im Gegensatz zu den Angaben anderer ZeitzeugInnen, die geschlossen berichten, mit dem Ende des Schuljahres im Juli 1938 öffentliche Schulen verlassen gemusst zu haben. Des Weiteren liegt auch ein Er- lass des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten vor, der für den Beginn des Schuljahres 1938/39 besagt: „Jüdische Schüler und Schülerinnen sind in eigenen, nur für Juden bestimmten Schulen (jüdische Schulen) zusammenzufassen. Ein Besuch von nichtjüdischen Schulen durch jü- dische Schüler sowie umgekehrt von jüdischen Schulen durch nichtjüdische Schüler ist unstatthaft.“553

Am Oeverseegymnasium, der öffentlichen Schule mit den meisten jüdischen SchülerInnen in Graz, wurden mit dem Ende des Schuljahres 27 Schüler ausgeschult.554 Leo Dortort berichtet, dass nach dem Ende des Schuljahres 1937/38 alle jüdischen SchülerInnen, die von den öffent- lichen Schulen ausgeschlossen wurden, nachmittags zum Sammelunterricht im Ferdinandeum zusammengefasst wurden.555 Diese Aussage stimmt auch mit Josef Scheipls Angaben überein, wonach die 5. und 6. sowie die 7. und 8. Schulstufe zusammengezogen und von Montag bis Samstag nachmittags im Ferdinandeum unterrichtet wurden. Insgesamt wurden laut Scheipl 51 jüdische SchülerInnen in den beiden Hauptschulklassen unterrichtet.556 SchülerInnen, die die 8. Schulstufe bereits abgeschlossen hatten, konnten ihre Schullaufbahn vorerst nicht

550 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 40. 551 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:21:42–0:22:38. 552 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:13:44–0:14:48. 553 Zit. in: SCHEIPL, Das Schulwesen in Graz, 1989, p. 142. 554 DRAGARIĆ Dietmar (Hg.), Das Grazer Oeversee, 2019, p. 147. – WINTER-PÖLSNER Gerald, 27 Stolpersteine wider das Vergessen. In: „Kleine Zeitung” vom 27.06.2017; https://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/5242239/NaziOpferGedenken_27-Stolpersteine-wider-das- Vergessen#image-016CFE0A-973F-4680-BA1F-2D7664B6BC40_149857539048439 [Abruf: 23.02.2021]. 555 Dortort benennt die Schule als Färberschule. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass sich das Ferdinandeum in der Färbergasse in unmittelbarer Nähe des Färberplatzes befindet. Siehe DORTORT, Interview 54747, Tape 1. 0:23:23–0:25:08. 556 SCHEIPL, Das Schulwesen in Graz, 1989, p. 142–144. 117

weiterführen. So auch Otmar Silberstein, der darauffolgend von seinem Vater, einem Herren- schneider, in diesem Handwerk unterrichtet wurde, um so zumindest irgendeine Berufsausbil- dung zu erhalten.557 Das Leben der jungen ZeitzeugInnen veränderte sich aber nicht nur hinsichtlich des Schulbesuchs. Auch zahlreiche andere Gesetze bestimmten den Alltag der jüdischen Bevölke- rung, und damit auch jenen der Kinder, zunehmend. Besonders schwer traf die Jungen und Mädchen, dass sie nichts mehr unternehmen konnten. Die Vereine wurden laut Angaben von Eric Newman bald nach dem „Anschluss“ aufgelöst558 und an sämtlichen öffentlichen Einrich- tungen waren Schilder, die besagten, dass Hunden und Juden der Eintritt nicht erlaubt sei. Elf- reda Fuchs erinnert sich daran, solche Schilder sowohl an Kinos als auch an Eisläden gesehen zu haben. Eines Tages entschied sie sich, gegen das Verbot anzukämpfen, wie sie erzählt: “I wanted to buy an ice cream and in the ice cream parlors all over they said Jews and dogs are not allowed. I remember once going into an ice cream because I was a lit- a young girl and I wanted to have an ice cream. And I remember going in and said: ‘The hell with you’, and I got the ice cream.“559

Auch Edith Basch erinnert sich daran, besonders im Sommer unter den Gesetzen gelitten zu haben, da sie eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, das Schwimmen, nicht ausüben konnte, da die öffentlichen Schwimmbäder für Jüdinnen und Juden gesperrt waren.560 Leo Dorort erzählt, den Beschränkungen dadurch entkommen zu sein, da das ehemalige christliche Hausmädchen der Familie mit dem Buben weiterhin Unternehmungen machte und er so beispielsweise wei- terhin Fußballspiele besuchen konnte. Die Mutter des Zeitzeugen erkannte jedoch bald die Ge- fahr, die dadurch nicht nur für das Kind, sondern vor allem auch für das Hausmädchen herrschte, und verbot die Ausflüge.561 Als sicherer Treffpunkt für die jüdischen Kinder und Jugendlichen wird der Spielplatz bei der Synagoge angegeben. Dort konnte man sich mit Gleichaltrigen treffen und zumindest kurz die Sorgen der Familie vergessen.562 Laura Cohn, Edith Basch und Batja Tuchendler erzählen außerdem noch davon, dass in den Räumlichkeiten der Kultusgemeinde Hebräischkurse sowie auch Kurse zum Erlernen praktischer Berufe wie der des Malers oder der Friseurin angeboten wurden, die die jüdische Bevölkerung von Graz auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollten.563

557 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:35:50–0:39:58. 558 NEWMAN, Interview 26760, Tape 1. 0:27:09–0:27:33. 559 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:17:03–0:17:40. 560 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:19:55–0:20:24. 561 DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 1:18:16–1:19:37. 562 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:20:24–0:20:41. 563 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 1. 0:047:30–0:49:08. – BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:18:59–0:19:55. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:15:41–0:16:54. 118

Als zentrales Element ihrer Erinnerung an die nationalsozialistische Machtübernahme nennen die ZeitzeugInnen auch immer wieder die „Arisierung“ der elterlichen Betriebe. Selbst Brigitte Wachs, die zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt war, erinnert sich daran, dass An- gestellte das Geschäft übernahmen und die Familie nichts dagegen machen konnte.564 Auch Elfreda Fuchs‘ Vater musste das Geschäft an einen kommissarischen Verwalter übergeben.565 Diesen kannte die Zeitzeugin sogar persönlich, handelte es sich dabei doch um ihren ehemali- gen Schwimmlehrer, der ihr generell als freundlicher Mann in Erinnerung blieb. Den Grund meint die Zeitzeugin im Rückblick darin zu sehen, dass ihr Vater den „Kommissar“ mehrmals bestochen haben könnte: „I think today my father bribed him quite a lot. I remember the Persian rug from the house disappeared and I remember we had a new sewing machine that they gave him that and he was very nice, but my father didn't go to business anymore and then it seriously became money problems because they froze money.”566

Harald Salzmann erinnert sich, dass der Malerbetrieb des Vaters im September 1938 einen kommissarischen Verwalter bekam und schließlich liquidiert wurde. Der zuständige „Kommis- sar“ ließ sämtliche Konten sperren und verlangte vom Vater nicht nur die Geschäftsschlüssel, sondern zudem sogar den Inhalt seiner Brieftasche. Harald Salzmann, der zu diesem Zeitpunkt als Siebzehnjähriger bei seinem Vater eine Malerlehre machte, musste die Geldbörse ebenfalls an den kommissarischen Verwalter abgeben.567 Auch Laura Cohn erinnert sich an einen kom- missarischen Verwalter, der den Betrieb der Familie übernahm und den Vater arbeitslos zu- rückließ.568 Obwohl Edith Baschs Vater keinen eigenen Betrieb hatte, war auch er beruflich durch die Machtübernahme der NationalsozialistInnen betroffen. Als Handelsvertreter verlor er bald seinen Job und die Arbeitslosigkeit wurde zum finanziellen Problem für die ganze Fami- lie.569 Helma Goldmark meint, dass ihr Vater neben der Fabrik und dem Geschäft auch die Wohnung an einen kommissarischen Verwalter übergeben musste. Zur Räumung des Heims hatte man nur 24 Stunden Zeit.570 Ähnlich wie Helma Goldmark und ihr Vater mussten auch viele weitere jüdische Fami- lien ihre Mietwohnungen aufgeben, da es Jüdinnen und Juden nur mehr erlaubt war, in Woh- nungen und Häusern zu wohnen, die jüdisches Eigentum waren. Genia Molczadski berichtet, dass die Vermieterin ihrer Familie aus Gutmütigkeit zwei Wochen Zeit für den Umzug gab,

564 WACHS, AHC 3310, Tape 1. 0:07:45–0:08:42. 565 Elfreda Fuchs, wie auch die anderen ZeitzeugInnen benennen diese Personen als „Kommissare“, obwohl die offizielle Bezeichnung „kommissarischer Verwalter“ lautete. 566 FUCHS, Interview 53605, Tape 1. 0:15:03–0:16:08. 567 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 152. 568 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:23:28–0:24:12. 569 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:18:41–0:18:59. 570 GOLDMARK, AHC 168, Tape 1. 0:01:37–0:04:38. 119

während andere sofort delogiert wurden. Man zog nun zu einer Cousine der Mutter, die ein kleines Haus am Grazer Stadtrand besaß.571 Leo Dorort zog mit seiner Familie in das Haus eines Onkels seiner Mutter.572Auch Otmar Silberstein erinnert sich, dass man von der schönen Drei- Zimmer-Wohnung in eine Ein-Zimmer-Wohnung umziehen musste, die man sich auch noch mit der Familie des Onkels teilte.573 Die Familie von Gerda Eisler zog ebenfalls zu Verwandten. Die große Wohnung der Tante war jedoch auch bald überfüllt; so lebten in einem Zimmer zeit- weise bis zu zehn Personen.574 Auch Harald Salzmann musste mit seinen Eltern aus der Woh- nung ausziehen. Diese wurde von den nachfolgenden Mietern des Öfteren besichtigt und die Familie Salzmann zum Ausziehen gedrängt, obwohl Simon Salzmann nach seinem mehrwö- chigen KZ-Aufenthalt von Ende 1938 bis Anfang 1939 schwerkrank im Bett lag. An die Dro- hung des „Wohnungsariseurs“ erinnert sich Harald Salzmann: „Wenn Ihr nicht bald auszieht, so werfen wir Eure Möbel auf die Straße (vom dritten Stock), so wie man’s mit anderen Juden gemacht hat!“575 Dass man nicht vor ungesetzlichem und gewalttätigem Vorgehen gegen Jüdinnen und Juden zurückschrecken würde, musste die jüdische Bevölkerung ebenfalls bald nach der natio- nalsozialistischen Machtübernahme erfahren, gab es doch immer wieder ungerechtfertigte Hausdurchsuchungen und Verhaftungen von Jüdinnen und Juden unter falschen Anschuldigun- gen. Laura Cohn erzählt beispielsweise davon, wie ihre Eltern vier Tage wegen angeblichen Devisenschmuggels in Haft waren, nachdem die Wohnung durchsucht worden war.576 Auch Harald Salzmann erinnert sich daran, wie die elterliche Wohnung unter dem Vorwand, dort kommunistische Schriften zu vermuten, durchsucht wurde und dabei jüdische Bücher in Be- schlag genommen wurden.577

5.3.2. Novemberpogrom Ein Höhepunkt der Gewaltanwendung gegen Jüdinnen und Juden war schließlich das Novem- berpogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, dem von den ZeitzeugInnen in ihren Erzählungen viel Platz eingeräumt wird. Erinnerungen an diese Nacht umfassen den Brand der Synagoge sowie die Verhaftung der jüdischen Männer. Harald Salzmann erinnert sich, den Nachthimmel rot leuchten gesehen zu haben, als die Synagoge in Flammen stand.578

571 MOLCZADSKI, weitererzählen.at, Tape 1. 0:35:45–0:37:05. 572 DORTORT, Interview 54747, Tape 1. 0:25:08–0:25:57. 573 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:31:03–0:32:37. 574 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 43. 575 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 156–157. 576 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:15:35–0:21:17. 577 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 151-152. 578 Ebda., p. 154. 120

Auch Edith Basch berichtet davon, den Synagogenbrand von ihrer Wohnung aus gesehen und zudem unglaublichen Lärm von der Straße vernommen zu haben.579 Elfreda Fuchs ordnet den von ihr wahrgenommenen Lärm dem Glas zu, das zerschlagen wurde.580 Auch wenn einige ZeitzeugInnen vom Synagogenbrand und den Zerstörungen berichten, so liegt der Schwerpunkt der Erzählungen bei den Verhaftungen ihrer Väter, die am folgenden Tag nach Dachau depor- tiert wurden. Lisa Gerber meint, „der Ernst des Lebens fing für mich also mit 12 Jahren an“, nachdem der Vater verhaftet, nach Dachau deportiert und die Mutter mit den Kindern verzwei- felt zurückgelassen wurde.581 Zehn der fünfzehn ZeitzeugInnen geben an, dass ihre Väter wäh- rend dieser Nacht verhaftet, zur Polizeiwache Paulustorgasse gebracht und anschließend ins Konzentrationslager Dachau deportiert wurden.582 Einer davon wurde jedoch bereits auf dem Weg dorthin in München wieder entlassen, da sein Gesundheitszustand sehr schlecht war.583 Zwei weitere Zeitzeuginnen geben an, dass ihre Väter während dieser Nacht schwer misshan- delt und verletzt wurden und dem Konzentrationslager nur entgingen, weil sie bereits so schwer verwundet waren. Laura Cohn berichtet, dass in ihrem Fall die gesamte Familie aus der Woh- nung geholt und mit dem Lastwagen gemeinsam mit anderen Grazer Jüdinnen und Juden, vor- bei an der brennenden Synagoge, an einen Ort südlich von Graz gebracht wurde, wo man dazu aufgefordert wurde, sich an der Murböschung aufzustellen. Die Zeitzeugin berichtet, damals sicher gewesen zu sein, nun erschossen zu werden. Nach zehn bis fünfzehn Minuten die Gruppe jedoch dazu aufgefordert wegzugehen und nur ja nicht nach Graz zurückzukehren. Nachdem man den Plan gefasst hatte, zu Fuß nach Jugoslawien aufzubrechen, wollte man zuvor noch in einer Gaststätte, die auf dem Weg lag, frühstücken. Während man aber dort war, wurden alle Männer von der Gestapo verhaftet. Die Zeitzeugin beschreibt das Aussehen ihres Vaters als schwächlich und mager, ein Umstand, der ihn davor bewahrte, verhaftet und deportiert zu wer- den, schickten ihn die Gestapo-Männer doch mit seiner Familie mit nach Hause.584 Edith Basch beschreibt die „Kristallnacht“ sehr ähnlich wie Laura Cohn. In ihrem Fall wurde ebenfalls die gesamte Familie aus der Wohnung geholt und an der brennenden Synagoge vorbei südlich aus der Stadt getrieben. Dort wurden die Jüdinnen und Juden der Erinnerung von Edith Basch

579 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:24:54–0:25:17. 580 FUCHS, Interview 53605, Tape 2. 0:02:18–0:02:40. 581 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 300. 582 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 300. – SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 155. – BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:24:07–0:24:54. – BUSCH, Interview 33714, Tape 1. 0:13:37–0:14:56. – DORTORT, 2019.253.1815, Tape 1. 1:23:05–1:24:25. – FUCHS, Interview 53605, Tape 2. 0:0:04:58–0:11:39. – NEWMAN, Interview 26760, Tape 2. 0:03:38–0:05:25. – SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:32:27–0:35:50. – TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:09:47–0:10:12. – WACHS, Interview 6069, Tape 1. 0:07:34–0:09:39. 583 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:32:27–0:35:50. 584 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:25:46–0:41:01. 121

zufolge an einer Mauer aufgestellt und hatten große Angst davor, erschossen zu werden. Die weitere Erzählung deckt sich wieder mit jener von Laura Cohn. Man habe überlegt nach Jugo- slawien zu gehen, wurde dann aber in einem Gasthaus von der Polizei aufgegriffen und die Männer wurden verhaftet. Im Fall von Edith Basch konnte der Vater einer Verhaftung nicht entkommen und wurde anschließend nach Dachau deportiert.585 Die Erinnerung an die Grau- samkeit, die sie während des Novemberpogroms erlitt, kann die Zeitzeugin nicht vergessen: „I can't ever, ever forget it. And it was, was just terrible, absolutely terrible.“586 Gerda Eisler erin- nert sich, dass ihr Vater einer Verhaftung entgehen konnte, da ihn die SA-Männer nicht als Juden erkannten, als er ihnen im Stiegenhaus begegnete. In der darauffolgenden Zeit betrat er die Familienwohnung nicht mehr und hielt sich bei FreundInnen versteckt.587 Als einziger Zeit- zeuge des Quellenkorpus macht Henry Heinz Brecher keine Angabe zum Novemberpogrom, da er bereits zuvor das Land verlassen hatte. Seine Eltern schickten ihn bald nach dem „An- schluss“ zu Verwandten nach Zagreb.588 Im Gegensatz zu den übrigen ZeitzeugInnen, die das Konzentrationslager Dachau nur aus den Erzählungen ihrer Väter kennen, musste Otmar Sil- berstein diese Erfahrung als Siebzehnjähriger selbst machen. Gemeinsam mit seinem Vater wurde er im Zuge des Novemberpogroms verhaftet. Die Inhaftierung in der Polizeiwache Pau- lustorgasse nahm man noch gelassen hin, meint der Zeitzeuge. Er erzählt, dass man sich aus Brotrinde Schachfiguren bastelte, mit denen man dann auf einem in eine Zellenbank eingeritz- ten Schachbrett spielte. Der Ernst der Lage wurde dem Zeitzeugen im Konzentrationslager je- doch schnell bewusst. Nachdem man von München mit Viehwaggons nach Dachau gebracht worden war, begannen dort sofort die ersten Erniedrigungen. Otmar Silberstein erzählt, 24 Stunden in Reih und Glied stehen gemusst zu haben, bevor man ihm seine Kleidung entwen- dete, eine kalte Dusche unternommen werden musste und er die Häftlingskleidung, dünne blau- weiß gestreifte Pyjamas, bekam. Sichtlich stark emotional betroffen und unter Tränen erzählt der Zeitzeuge davon, was mit älteren und kranken Menschen passierte, denen man jede Hilfe versagte und die man menschunwürdig sterben ließ, während die anderen Häftlinge nur zu- schauen konnten. Zugleich meint der ehemalige KZ-Insasse, dass er durch seine Jugend und gute körperliche Verfassung einen klaren Vorteil hatte und dadurch besser mit der Situation umgehen konnte. Er meldete sich freiwillig für einen Hilfsdienst, bei dem er schwere Kessel von der Küche in die einzelnen Baracken bringen musste. Gleichzeitig gibt er an, dass es keine andere Arbeit für die Insassen gab, da der große Influx an Häftlingen von den Wärtern nicht

585 BASCH, Interview 13330, Tape 1. 0:25:17–0:28:27. 586 Ebda.,Tape 2. 0:02:06–0:02:24. 587 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 41–42. 588 BRECHER, AHC 2585, Tape 1. 0:07:39–0:08:18. 122

bewältigt werden konnte. Aus diesem Grund, so Otmar Silberstein, musste man im Lager den ganzen Tag auf- und abmarschieren. Die Suppe und das Brot, die den Insassen gegeben wurden, waren sehr mangelhaft und viel zu wenig, sodass er oftmals hungerte. Zudem gibt er an, sich weniger gefürchtet zu haben, der eigenen Zukunft gegenüber jedoch stark pessimistisch ge- stimmt gewesen zu sein: “Afraid, no, I think I was sort of resigned. Somebody asked me: ‘What's your future like?’, and I said: ‘Gray, very gray, dark gray.’ Yeah, you know, you are sort of resigned, you don't know what is gonna happen next and all you see all around you people dying. Every morning the cart, the rubber wheeled wagon came through the camp, picking up the corpses and, you know.”589

Durch dieses starke Gefühl der Resignation berichtet der Zeitzeuge, auch sehr überrascht dar- über gewesen zu sein, am 23. Dezember 1938 aus dem Konzentrationslager entlassen worden zu sein. Dies hing seiner Erzählung nach damit zusammen, dass er eigentlich zu jung war und gar nicht hätte verhaftet werden sollen. Als unter Achtzehnjähriger wurde er deshalb frühzeitig wieder entlassen.590 Während Otmar Silberstein mit den Vätern der anderen ZeitzeugInnen im Konzentrati- onslager inhaftiert war, begann für die Zurückgebliebenen nach dem Novemberpogrom einer- seits die komplette Isolation und während sie gleichzeitig verzweifelt versuchten Ausreisebe- willigungen, Visa und Affidavits zu erhalten. Elfreda Fuchs berichtet, während dieser Zeit- spanne komplett isoliert von der nichtjüdischen Gesellschaft gelebt zu haben.591 Und auch an- dere ZeitzeugInnen berichten von einer ähnlichen Situation. Nach dem Novemberpogrom wurde auch der Schulbetrieb für jüdische SchülerInnen im Ferdinandeum eingestellt.592 Batja Tuchendler ist diese Zeit wie folgt in Erinnerung geblieben: „Wir Kinder haben keine Schule, haben den ganzen Tag, haben wir gespielt, im Hof ha- ben wir nicht spielen können, die Nazikinder haben uns weggejagt, ‚Jud, Jud spuck in Hut‘, sodass wir könnten, wir durften nicht rausgehen, sind wir Zuhause gehockt und, und haben „Mensch ärgere dich nicht“ und gelesen und so alles, aber nichts, keine Schule gehabt.“593

Eric Newman, der nach der Verhaftung seines Vaters und seiner Onkel als Vierzehnjähriger das älteste männliche Familienmitglied war, wurde gleich am Morgen nach der „Kristallnacht“ von seiner Familie beauftragt, sämtlichen Schmuck der Verwandten einzusammeln und zu ei- nem Anwalt zu bringen, damit ihnen dieser nicht abgenommen werden konnte. Generell be- richtet der Zeitzeuge davon, sich in der folgenden Zeit um die Familie gekümmert und die

589 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 0:56:19–0:57:02. 590 Ebda.,Tape 1. 0:39:58–1:03:11. 591 FUCHS, Interview 53605, Tape 2. 0:18:31–0:20:06. 592 Pars pro toto: DORTORT, Interview 54747, Tape 1. 0:23:23–0:25:08. 593 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:15:41–0:16:54. 123

Mutter, die sehr aufgebracht war, beruhigt zu haben. Er gibt an, dass seine Jugend ab diesem Zeitpunkt schlagartig beendet war: „I think from that day on I became an adult, very much aware of my role in life and so purpose of living now is to try and get out of Austria as quickly as possible.“594 Auch Elfreda Fuchs berichtet davon, dass sie ihrer Familie eine große Stütze sein musste. Nachdem neben dem Vater auch noch die Mutter verhaftet worden war, mar- schierte sie in die Polizeiwache Paulustorgasse und erklärte dem dortigen „Kommissar“595 sehr bestimmt und etwas hysterisch, wie sie meint, die Situation und, dass eine baldige Ausreise der Familie nur erreicht werden konnte, wenn man die Mutter entließ, damit sie mit den Reisevor- bereitungen fortfahren könne. Dabei erreichte sie auch wirklich die Freilassung der Mutter.596 Auch Laura Cohn musste ab diesem Zeitpunkt selbstständig werden. Die Zeitzeugin erzählt, wie sie eine ältere Verwandte nach Wien in das jüdische Altersheim brachte, da sich die alte Dame die Strapazen einer Emigration nicht mehr zutraute und der Familie nicht zur Last fallen wollte. Als Vierzehnjährige nutzte sie diese Fahrt schließlich ebenso dazu, um beim Palästi- naamt um ein Zertifikat für die Einreise anzusuchen, welches ihr nach ein paar Wochen auch gewährt wurde.597 Während bereits die Verhaftung der Väter von den ZeitzeugInnen als sehr traumatisch beschrieben wurde, so gilt dies ebenfalls für die Rückkehr der Männer. Mehrere ZeitzeugInnen berichten, regelmäßig am Bahnhof auf die Züge gewartet zu haben, die nach und nach die Grazer Juden aus Dachau zurückbrachten. Batja Tuchendler beschreibt, dass sie und ihre Ge- schwister den Vater gar nicht erkannten, als er nach sechs Wochen vom Konzentrationslager zurück nach Graz kam, da er verletzt und stark abgemagert war.598 Neben Batja Tuchendler beschreiben auch Eric Newman und Elfreda Fuchs die Rückkehrer als wandelnde Skelette. Eric Newman meint, dass ihm damals vorkam, als wäre der Vater während der vier bis fünf Wochen im Konzentrationslager Dachau um zehn Jahre gealtert.599 Elfreda Fuchs beschreibt ihren Vater bei seiner Rückkehr folgendermaßen: „He was always a very thin, small man, very compact and he had an [unverständlich] but he came back, we say in German ‚Haut und Beine‘, which means skin and bones. And I was on the station when he came back because I had been every single day. First of all, they had shorn off his hair, I mean, so he had a small head and I want to tell you that the

594 NEWMAN, Interview 26760, Tape 2. 0:08:04–0:10:03. 595 Die Zeitzeugin gibt an, bei einem Kommissar vorgesprochen zu haben. Ob es tatsächlich ein Kommissar oder doch ein anderer Beamter war, kann nicht festgestellt werden. Generell ist jedoch anzumerken, dass ZeitzeugInnen bei Personen in Uniform oftmals Generalisierungen vornehmen und ihnen Rollen wie „Gestapobeamte“ oder „SS- Männer“ zuschreiben, auch wenn dies oftmals nicht stimmt, sondern die Personen einer anderen Gruppe angehör- ten. 596 FUCHS, Interview 53605, Tape 2. 0:08:38–0:11:39. 597 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:24:12–0:25:46. 598 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:52:54–0:53:15. 599 NEWMAN, Interview 26760, Tape 2. 0:06:52–0:08:04. 124

hair that grew afterwards was white. He [unverständlich] had pitch black hair, and really, a nice-looking man. He came back a skeleton in just a such a short while.”600

Harald Salzmann erinnert sich, dass er den Vater ebenfalls kaum erkannte, als dieser schwer- krank aus dem Konzentrationslager zurückkam.601 Edith Basch gibt, an dass ihr Vater ebenso furchtbar aussah, als er von Dachau zurückkehrte, viel Gewicht verloren hatte und emotional zutiefst aufgewühlt war.602 Spätestens ab dem Novemberpogrom berichten die ZeitzeugInnen, dass ihnen und ihren Familien bewusst war, dass ein Leben in Österreich für sie nicht länger möglich war. Die Aus- reise erschwerte sich mit verschärften Einreisebestimmungen möglicher Emigrationsziele je- doch zusehends. Dennoch gelang es den ZeitzeugInnen auf unterschiedlichen Wegen das Land zu verlassen und die nationalsozialistische Diktatur so zu überleben.603

5.3.3. Emigration Lisa Gerber gelang es gemeinsam mit ihren Eltern über die Schweiz nach Shanghai zu emig- rieren.604 Brigitte Wachs‘ Mutter und Tante gelang es, Visa für die Philippinen zu erlangen. Darüber, warum man die Heimat verließ, wurde mit der damals Sechsjährigen nicht gespro- chen, meint die Zeitzeugin. Dennoch erinnert sie sich, dass die Ausreise mit Hilfe eines deut- schen katholischen Geschäftsmannes gelang, der dem nationalsozialistischen Regime ableh- nend gegenüberstand. Außerdem erzählt Brigitte Wachs, dass sie bemerkte, dass ihren Eltern nicht bewusst war, was sie auf den Philippinen erwarten würde – einem Land, dass sie nur als Dschungel von Postkarten kannten. Während Haushaltsartikel und einige Spielzeuge der Fami- lie nach Manila verschifft wurden, durfte die Zeitzeugin einen Teddybären im Handgepäck mitführen, den die Familie zum Schmuggeln benutzte, wie sie erzählt: „Well, I did carry a teddy bear which had some, either money or jewelry in it, and I knew that I had to take really good care of this toy.“605 Zu Jahresbeginn 1939 ging die Reise schließlich über Genua mit der „Canta Bianca Mano“ vier Wochen lang nach Manila.606 Kurt Landskroner verließ Graz gemeinsam mit seiner Schwester mit einem Kindertransport im Jänner 1939 nach England.607 Auch Eric Newman emigrierte nach England. Als der Haushalt der Familie im Dezember liquidiert wurde,

600 FUCHS, Interview 53605, Tape 2. 0:14:14–0:17:05. 601 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 156. 602 BASCH, Interview 13330, Tape 2. 0:00:03–0:02:24. 603 Für eine Übersicht von Emigrationsrouten sowie Kindertransporten siehe DRAGARIĆ Dietmar, Krieg und Holocaust. Kindertransporte retten Leben. In: Dietmar DRAGARIĆ (Hg.), Kinderschicksale im 20. und 21. Jahrhundert. Zeitgeschichtliche Fallbeispiele. Graz 2012. 604 GERBER, Emigranten-Existenz, 1996, p. 301–302. 605 WACHS, Interview 6069, Tape 1. 0:12:17–0:13:11. 606 WACHS, AHC 3310, Tape 1. 0:09:04–0:12:19. – WACHS, Interview 6069, Tape 1.0:09:39–0:28:16. 607 LANDSKRONER, Interview 48062, Tape 1. 0:13:43–0:14:19. 125

wohnte man bei entfernten Verwandten in Wien und versuchte von dort aus Bewilligungen zur Einreise in andere Länder zu erlangen, was schließlich auch geschah. Gemeinsam mit seiner Mutter, die eine Arbeitsberechtigung als Hausmädchen erhalten hatte, verließ er am 12. Jänner 1939 mit dem Zug Graz.608 Helma Goldmark gelangte mit ihrem Vater Mitte Jänner 1939 illegal über die jugoslawische Grenze nach Zagreb. Als der Vater dort im Februar 1942 deportiert wurde, gelang der Zeitzeugin die Flucht nach Südtirol, wo ihre Schwester lebte, und schließlich weiter nach Rom, wo sie bis nach dem Kriegsende lebte.609 Edith Baschs Mutter gelang es, eine Arbeitsstelle als Hausmädchen in England zu bekommen. Nach Rücksprache mit dem Konsulat wurde ihr genehmigt, ihre minderjährige Tochter mitzubringen, sofern sie in England eine Fa- milie finden würde, die sich um das Mädchen kümmern würde. Nachdem dies durch die Hilfe einer Tante gelang, konnten Mutter und Tochter am 1. Februar 1939 ihre Reise antreten.610 Auch Leo Dortorts Familie versuchte verzweifelt das Land zu verlassen. Für den englischen Kindertransport wurde der Zeitzeuge nicht zugelassen und so kam es, dass die Familie am 12. März 1939 von Graz per Zug nach Ehrenhausen aufbrach, um von dort weiter nach Jugoslawien zu gelangen. Nachdem man eine Zeit in Zagreb gewohnt hatte, konnte Leo Dortort von dort aus 1940 mit der Jugendalijah nach Palästina gelangen. Der Zeitzeuge erzählt, wie er dieselbe Klasse dreimal besuchte. Das erste Mal in Österreich, dann noch einmal in Jugoslawien und schließlich ein drittes Mal in Palästina, da er aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse jedes Mal zurückgestuft wurde.611 Laura Cohn konnte ein Jugendzertifikat für Palästina bekommen und reiste im April 1939 per Zug von Graz über Mürzzuschlag und Wien nach Triest und von dort per Schiff nach Tel Aviv.612 Eisler Gerda und ihr Bruder standen auf der Liste für einen Kindertransport nach Schweden. Nachdem die Mutter der Kinder eine Mitarbeiterin bat, die Kinder zusammenzulassen, weil der Sohn ohnehin etwas melancholisch veranlagt sei, wurden beide Kinder von der Liste gestrichen, da man es den schwedischen Familien nicht zumuten könne, sich um melancholische Kinder kümmern zu müssen. Nachdem diese Fluchtmöglichkeit der Kinder ein jähes Ende fand, konnte sich die Familie schließlich doch im April 1939 mit einem illegalen Transport nach Palästina in Sicherheit bringen.613 Während die jüngere Schwes- ter von Hilda Busch mit einem Kindertransport nach Schweden kam und die ältere als Dienst- mädchen nach England ging, war Hilda Busch zu alt für ersteres und zu jung für zweiteres. Aus

608 NEWMAN, Interview 26760, Tape 2. 0:10:30–0:29:59. 609 GOLDMARK, AHC 168, Tape 1. 0:06:30–1:59:36. 610 BASCH, Interview 13330, Tape 2. 0:03:52–0:12:53. 611 DORTORT, AHC 4066, Tape 1. 1:01:16–1:43:04. – DORTORT, 2019.253.1815, Tape 2. 0:00:00–0:30:33. – DORTORT, Interview 54747, Tape 1. 0:30:50–1:02:43. 612 COHN, 1997.A.0382.1, Tape 2. 0:32:12–0:41:01. 613 EISLER, Alles, woran ich glaube, 2017, p. 46–51. 126

diesem Grund hoffte sie, Graz mit ihren Eltern auf irgendeinem anderen Weg verlassen zu kön- nen. Im Mai 1939 wurde die Familie dann jedoch für mehr als eine Woche verhaftet, nach Wien und von dort weiter an die deutsch-polnische Grenze gebracht. Dort wurde ihnen nun aufgetra- gen, die Grenze zu überqueren, was erst nach einigen Versuchen gelang, da man des Öfteren aufgegriffen und wieder zurückgeschickt worden war. In Polen wurde man nach einiger Zeit von der sowjetischen Armee nach Sibirien gebracht. 1943 gelangte man nach Tashkent, wo man bis nach dem Kriegsende lebte, ehe Hilda Busch über Polen wieder nach Graz zurück- kehrte, von wo sie später nach Großbritannien auswanderte.614 Elfreda Fuchs gelang es mit Hilfe der Jugendalijah nach Palästina zu gelangen, und sie erinnert sich daran, dass sie über- glücklich war, Österreich zu verlassen.615 Otmar Silberstein berichtet, nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager dem Stadtkibbuz in Wien beigetreten zu sein, um an einer Be- rufsumschulung für Palästina teilzunehmen. Nachdem er und sein Bruder jedoch eine Einreise- bewilligung für die USA bekommen hatten, wählten sie die Vereinigten Staaten als Emigrati- onsland. Im Wiener Konsulat endete dieses Vorhaben jedoch beinahe bereits wieder, als sein jüngerer Bruder angab, in den USA seinem Onkel im Geschäft helfen zu wollen. Erst durch eine telegrafische Bestätigung, dass der Junge in Amerika in die Schule gehen würde, wurde die Reise schließlich genehmigt. Diese Verzögerung hatte jedoch zur Folge, dass Otmar Silber- stein bereits einige Tage länger in Österreich verbrachte als es durch die Frist genehmigt war. Da er sich aus diesem Grund bei keinem Amt melden konnte, versteckte er sich jeden Abend bei anderen FreundInnen. Auch die Schiffskarten mussten umgetauscht werden, wobei ein Auf- schlag von 50 Prozent verlangt wurde, den sich die Familie jedoch keinesfalls leisten konnte. Nur durch das Eingreifen der Grazer Reiseagentur konnten die Karten ohne Aufpreis umge- tauscht werden und die Reise im Sommer 1939 von Wien aus über den Bremer Hafen und England bis in die USA angetreten werden.616 Harald Salzmanns Familie wurde von seiner Halbschwester, der Tochter seines Vaters aus einer früheren Beziehung, darin unterstützt, nach Tanger ausreisen zu können. Obwohl man in den Jahren zuvor keinen Kontakt gehabt hatte, so beschreibt der Zeitzeuge, dass die jüdische Gemeinschaft in dieser Zeit der Not besonders eng zusammenrückte und gegenseitig aushalf. Vor der Abreise machte man sich große Sorgen, ob man die in Graz eingezogenen Pässe anstandslos zurückerhalten würde, um die Reise nach Ma- rokko auch wirklich antreten zu können. Nachdem dies jedoch ohne Probleme geklappt und man Visa erhalten hatte, ging es am 6. Juli 1939 von Graz über Wien und Marseille nach

614 BUSCH, Interview 33714, Tape 2–3. 615 FUCHS, Interview 53605, Tape 3. 0:00:00–0:06:20. 616 SILBERSTEIN, 1999.A.0122.931, Tape 1. 1:14:05–1:27:06. 127

Tanger.617Alleine musste Batja Tuchendler ihre Reise nach Palästina antreten. Während die älteste Schwester bereits als Hausmädchen nach England gelangt war, die Eltern mit den zwei anderen älteren Schwestern illegal nach Palästina emigriert waren und der jüngere Bruder mit Hilfe eines Kindertransportes in Sicherheit gebracht wurde, blieb nur mehr Batja übrig, die für den illegalen Transport zu jung und für den Kindertransport zu alt war. So blieb die Zeitzeugin ab dem März 1939 alleine in Wien in einem Kinderheim zurück. Zehn Monate war sie von ihrer Familie getrennt, als sie durch Zufall einen Bekannten aus Graz in Wien traf, der Palästinat- ransporte organisierte und ihr ein Zertifikat vermittelte. Mit dem letzten Schiff konnte Batja Tuchendler zu Silvester 1940 schließlich alleine die Reise nach Palästina antreten. Dort ange- kommen, wurde die Familie bereits am nächsten Tag wieder vereint.618 Die erfolgreichen Fluchtgeschichten der ZeitzeugInnen sollen jedoch nicht darüber hin- wegtäuschen, dass einem großen Teil der Jüdinnen und Juden, wie auch den jüdischen Kindern und Jugendlichen die Flucht nicht gelang und sie der nationalsozialistischen Diktatur zum Op- fer fielen.

617 SALZMANN, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen, 1991, p. 160–165. 618 TUCHENDLER, LBIJER AHC 108, Tape 1. 0:16:54-0:30:33, 0:0:48:16-0:48:56. 128

6. CONCLUSIO Die Kindheit und Jugend ist für jeden Menschen eine besondere Zeit, an die man sich sein ganzes Leben lang zurückerinnert. Im Falle der in der vorliegenden Arbeit zu Wort gekomme- nen ZeitzeugInnen sind diese Erinnerungen geprägt von schönen Momenten mit der Familie und FreundInnen, von Schulerinnerungen und Freizeitunternehmungen. Hinzu kommen jedoch auch antisemitische Erlebnisse sowie oftmals traumatische Erinnerungen an die Machtüber- nahme Hitlers in Österreich und den folgenden Ausschreitungen sowie der Flucht bis hin zum Aufbau eines neuen Lebens im Exil, dem meist keine Rückkehr in die Heimat folgte. Die vor- liegende Arbeit hat versucht nachzuzeichnen, wie sich für Jüdinnen und Juden Kindheit und Jugend während der Zwischenkriegszeit in Graz gestaltete. Die dabei gesetzten Schwerpunkte orientierten sich an den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Die jüdische Volksschule verfolgte einerseits das Ziel, die jungen Jüdinnen und Juden in ihrem Glauben zu stärken und andererseits sie auch vor dem herrschenden Antisemitismus so gut es ging zu schützen. Dass vor allem das zweite Vorhaben durchaus erfolgreich war, wird in einem Vergleich der Aussagen von jenen, die die jüdische Volksschule besuchten, mit jenen, die eine andere Volksschule besuchten, ersichtlich. Auch wenn sich antisemitischen Anfein- dungen in den ersten Schuljahren eher zurückhielten, so bekamen die jüdischen Kinder in öf- fentlichen Schulen dennoch sehr klar zu spüren, dass sie als „anders“ wahrgenommen wurden. Diese Haltung der nichtjüdischen MitschülerInnen und Lehrpersonen verstärkte sich in der wei- teren Schulzeit zusehends. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass zwar ein antisemitischer Grund- ton herrschte, einzelne Lehrpersonen wie auch nichtjüdische SchülerInnen den jungen Jüdinnen und Juden sehr wohl aber auch unvoreingenommen entgegentraten. Was die religiöse Erzie- hung betrifft, so berichten die ZeitzeugInnen, diese mit wenig Interesse verfolgt zu haben. Sehr wohl kann den Berichten jedoch entnommen werden, dass seitens der Kultusgemeinde ein gro- ßes Interesse an einem geregelten jüdischen Religionsunterricht herrschte. In den 60 Jahren, die zwischen der nach der „Judensperre“ erfolgten Niederlassung des ersten Juden und der Zwischenkriegszeit liegen, konnte die jüdische Gemeinde eine beachtliche „jüdische“ Infrastruktur etablieren. Mit dem Erbau einer eigenen Synagoge und Volksschule, der Anstellung eines Schächters und einem großen Angebot an jüdischen Vereinen, war es für die Grazer Jüdinnen und Juden möglich, in einem zum größten Teil jüdischen Umfeld zu agie- ren. Obwohl die Kinder und Jugendlichen berichten, selbst auch hauptsächlich mit anderen Jü- dinnen und Juden in Kontakt gewesen zu sein, so ist doch anzumerken, dass sie selbst meist keinen Unterschied machten, ob jemand jüdisch war oder nicht und jedenfalls miteinander spielten. Erst durch den Einfluss der Eltern oder anderer Erwachsener wurde nichtjüdischen

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Kindern bewusst gemacht, dass sie sich von den jüdischen Kindern abgrenzen sollten. Dies hatte zur Folge, dass die jüdischen Kinder zwar oftmals Schulfreundschaften entwickelten, in der Freizeit jedoch getrennte Wege gingen. Verstärkend wirkte hierzu sicherlich auch die Ver- einslandschaft, die klar zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung unterschied. Die Aufteilung in jüdische und „arische“ Vereine führte zu einer weiteren Spaltung der Grazer BürgerInnen. Die ZeitzeugInnen berichten jedoch nicht nur von antisemitischen Vorfällen in Vereinen und Schulen. Auch auf offener Straße waren Anpöbelungen keine Seltenheit und so wuchsen die jüdischen Kinder in der Gefahr auf, jederzeit wegen ihrer Religion beschimpft oder angegriffen zu werden. Viele ZeitzeugInnen berichten, sich parallel zur Pflege der jüdi- schen Traditionen und Sitten auch stark an das nichtjüdische Umfeld angepasst zu haben. Vor- schriften wurden abgeändert oder gar nicht beachtet und Bräuche, wie beispielsweise jener des Christbaums und der Weihnachtsfeier mit Geschenken, in die eigene Lebenswelt aufgenom- men. Man sah sich in erster Linie als ÖsterreicherIn jüdischer Religion, die jedoch der Liebe zum Vaterland nichts abtat. Selbst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1938 wollte vor allem die El- terngeneration nicht wahrhaben, dass sich der Staat gegen die jüdische Bevölkerung stellte. Während einige ZeitzeugInnen berichten, gemerkt zu haben, dass ein Verbleib in Österreich nicht länger möglich ist, meinen wieder andere, die Situation aufgrund ihres Alters überhaupt nicht einschätzen gekonnt zu haben. Ein in der Erinnerung der ZeitzeugInnen besonders gut verhaftetes Ereignis stellt das Novemberpogrom dar. Das gewaltsame Eindringen der National- sozialistInnen in das eigene Zuhause sowie die Verhaftung der Väter waren für die ZeitzeugIn- nen ein traumatisches Erlebnis. Konnte man sich die Situation als Erwachsener schon nur schwer bis gar nicht erklären, war es wohl für die meisten Kinder absolut unverständlich, wa- rum dies geschah. Der Weg in die Emigration ist den meisten ZeitzeugInnen auch noch sehr klar vor Augen, handelt es sich dabei doch um jenen Punkt in ihrem Leben, an dem sie gezwun- gen wurden, alles Gewohnte hinter sich zu lassen, um sich, oft auf sich allein gestellt, in eine ungewisse Zukunft aufzumachen. Obwohl sich in den Erzählungen der ZeitzeugInnen viele Parallelen finden und somit Rückschlüsse auf die Situation jüdischer Kinder und Jugendlicher im Graz der Zwischenkriegs- zeit gezogen werden können, so muss dennoch angemerkt werden, dass diese Aussagen nicht auf die Gesamtheit der jüdischen Kinder und Jugendlichen in Graz während diesen Zeitraums übertragen werden können, finden sich doch mehrheitlich Aussagen von Kindern, die in gut bürgerlichen Milieus aufgewachsen sind, während Kinder mit streng orthodoxem Hintergrund oder aus Arbeiterfamilien aufgrund fehlender Quellen kaum zu Wort kommen.

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Durch die Bereitschaft der ZeitzeugInnen ihre Lebensgeschichten weiterzugeben und fremde Menschen daran teilhaben zu lassen, konnten in dieser Arbeit sehr persönliche Einblicke in das Aufwachsen jüdischer Kinder und Jugendlicher im Graz der Zwischenkriegszeit gegeben werden. Die oftmals als zu wenig „objektiv“ kritisierten Produkte der Oral History, aber auch die persönlichen Aufzeichnungen, boten das Potential, subjektive Wahrnehmungen analysieren und interpretieren zu können. Die Erzählungen der Jüdinnen und Juden deckten unbekannte Aspekte auf, die so in keinen anderen Quellen zu finden sind. Zudem offenbarten die Erzählun- gen auch den emotionalen Wert, den die Erinnerungen für die Erinnernden haben. Die Kontex- tualisierung mit Akten und anderen Quellen half dabei, die Aussagen der ZeitzeugInnen besser einordnen und interpretieren zu können. Dadurch konnte ein Einblick in das Leben der jüdi- schen Kinder und Jugendlichen im Graz der Zwischenkriegszeit gegeben werden, das stark von Tradition, Assimilation und Antisemitismus beeinflusst worden war.

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7. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS A.B. Augsburger Bekenntnis Anm. L.G. Anmerkung Lena Gussmagg Bd. Band Betar Berit Trumpeldor Ken Graz Gestapo Geheime Staatspolizei H.B. Helvetisches Bekenntnis IKG Israelitische Kultusgemeinde Jg. Jahrgang k. u. k. kaiserlich und königlich KZ Konzentrationslager LReg Landesregierung LSchRalt Landesschulrat alt N. N. nomen nescio, Name unbekannt Nationalfonds Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus NS Nationalsozialismus p. Seite SA Sturmabteilung StLA Steiermärkisches Landesarchiv u. a. unter anderem USA United States of America USHMM United States Holocaust Memorial Museum vgl. vergleiche zit. in zitiert in

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11. ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Werbung Purimveranstaltung der Hakoah, Graz, 1932. N. N., Anzeige Purimveranstaltung. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom März 1932, p. 5. Abbildung 2: Briefpapierkopf der Hakoah, Graz, 1922. StLA, 206-So-012-1936. Abbildung 3: Skizze Uniform des Betar, Graz, 1934. StLA, StLA, LReg-206-Ju-031-1936. Abbildung 4: Hermine Loetsch mit ihrer letzten Volksschulklasse, Graz, 1923. StLA, Nachlass Loetsch Hermine. K.1. H 2. Abbildung 5: 1. Klasse der jüdischen Volksschule, Graz, 1927. Interview mit Otmar Silberstein, 2004, Archiv des Tauber Holocaust Library of the Jew- ish Family and Children’s Services Holocaust Center. Abbildung 6: 4. Klasse der jüdischen Volksschule, Graz, 1930. Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem. 1495/9. Abbildung 7: Zeugnis der jüdischen Volksschule, Graz, 1932. Schulzeugnis der israelischen Privat-Volksschule in Graz für Dorit Beatrice Braun, Graz 11. Februar 1933 - 1. Juli 1933, Papier, Tinte, 29,7 x 20,9 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2010/209/2, Schenkung von Trixie Wachsner. Abbildung 8: Anzeige Klavier- und Englischunterricht, Graz, 1937. N. N., Anzeige Unterricht. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1937, p. 6. Abbildung 9: Anzeige Französische Kinderspielschule und Französisch- und Englischkurse, Graz, 1933. N. N., Anzeige Kinderkurse. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom September 1933, p. 6. Abbildung 10: Henry Heinz Brecher und seine Eltern beim Spaziergang im Stadtpark, Graz, 1934. United States Holocaust Memorial Museum, Photograph 85384. https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1182705 [Abruf: 02.03.2021]. Abbildung 11: Anzeige Jüdisches Kinderferienheim Herrmann, Graz, 1933. N. N., Anzeige Jüdisches Kinderferienheim Herrmann. In: „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Graz” vom Mai 1933, p. 8. Abbildung 12: Henry Heinz Brecher beim Schlittenfahren, Graz, Februar 1935. United States Holocaust Memorial Museum, Photograph 85383. https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1182704 [Abruf: 02.03.2021].

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