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MY BLOODY VALENTINE: LOVELESS

Ruben Jonas Schnell

Das Cover ist rot. Rot ist auch der nicht Melodie und Songstruktur – Schriftzug: My Bloody Valentine. die Musik generiert sich durch die Der Rest verschwimmt. Klangmischung. Das für Popmusik Und so wie auf dem Plattencover herkömmliche Instrumentarium aus Formen und Linien im pink-roten Gitarre, Schlagzeug, Bass plus Ge- Farbnebel verschwimmen, löst sich sang wurde im Studio von Kevin die Gitarrenband My Bloody Valen- Shields, dem Kopf und Gründer der tine mit ihrem Album Loveless (1991) Band, sowie 18 Tontechnikern so aus den Konturen gängiger Musik- nachbearbeitet, dass keine einzelnen genres. Pop? Rock? Punk? Indie? Klangquellen mehr auszumachen Nichts von dem, das üblicherweise sind. Sie sind verzerrt und verwo- mit Gitarrenmusik in Verbindung ben, als würde der Sound einer gebracht wird, scheint zu greifen: Gitarren-Armee von einer un- Melodien, Rhythmen und Bilder, die gleichmäßig drehenden Kurbel be- sonst durch Text und Musik trans- wegt: Loveless eiert, mächtig und portiert werden, treten schemenhaft undurchdringlich. Ein gigantischer in den Hintergrund. Zurück bleibt Bienenschwarm, aus dem nach und ein übermächtiges Wabern. nach einzelne Partikel hervortreten, »Wall of Sound« – der amerikani- durch die Ohrmuschel kreiseln, am sche Produzent baute Trommelfell kratzen – und dann in den frühen 1960er Jahren als wieder im großen Ganzen versinken. erster jene Mauern aus Klang, die in Hi-Hats, verirrte Töne verzerrter die Popmusikgeschichte eingingen. Gitarren, Stimm-Schnipsel der Sän- Doch während seine Soundwände gerin – immer wie- nur als Tapeten für Pop-Songs die- der rückt ein winziger Sound ins nen – Schicht um Schicht vollge- Zentrum des Geschehens. Dazu ge- pumpt mit Tonspuren aus Strei- hören auch kaum wahrnehmbare chern, Bläsern und Percussions –, Geräusche wie das schrabbelnde machen My Bloody Valentine die Plektrum auf dem Stahl der E-Gi- Klangwand zum eigentlichen Thema tarre – von separaten Mikrophonen ihrer Musik. aufgenommen und laut abgemischt Obwohl nur von vier Musikern ein- steht es plötzlich der Gitarrenmauer gespielt, klingen die Songs wie ein gleichberechtigt gegenüber. Darü- mächtiger Brei aus unzähligen Gi- ber, darunter und drum herum wogt tarren – ein Effekt der Aufnahme- ein Vorhang ungleichmäßig laufen- technik. Im Mittelpunkt stehen hier der Loops, immer bereit, die Einzel-

123 RUBEN JONAS SCHNELL gänger zuzudecken. der Soundwand überdeckt: Dadurch Erst nach einer Weile gelingt es, sich wird Loveless zeitlos. durch diesen riesigen Sound hin- Zwei Jahre lang hat die Band um durchzuhören und seine Transpa- Kevin Shields an diesem Sound zwi- renz zu erkennen. Melodien tauchen schen Brillanz und Diffusion gear- auf, bieten Orientierung im Klang- beitet. Die Musik animiert dazu, geflecht. Und machen deutlich, dass ständig die Grenze zwischen Song die konfuse Größe der Klangmauer und reinem Klang zu reflektieren – nur eine scheinbare ist: Die Mecha- einem Klang, der so mächtig ist, nismen, mit denen herkömmliche dass er den Hörer rauschgleich iso- Songs Emotionalität transportieren, liert. Und so wie im großen Klang sind bei My Bloody Valentine von Loveless Details erst langsam ebenso vorhanden – als beständiges hörbar werden, wird auch bei länge- Flimmern im Auflösen von Hinter- rem Betrachten des Platten-Covers grund und Vordergrund. Musikali- allmählich ein Bild erkennbar: Hin- sche Klischees – Melodien oder ter der roten Farbmauer erscheinen Strukturen, mittels derer sich ein die Schemen einer elektrische Gi- Song üblicherweise in einem be- tarre, vor der sich etwas – vielleicht stimmten zeitlichen Rahmen veror- eine Hand – hin- und herbewegt ten lässt – werden in dem Spiel mit und das Bild wieder verwischt.

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