Rundbrief 4/08 AG Rechtsextremismus/Anti faschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE

Aktuelles zu Rechtsextremismus und Antifaschismus

INHALT

EDITORIAL ...... 3 Dr. Reiner Zilkenat

DAS THEMA: AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Rechts ist nicht links. Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes ...... 4 Dr. Gerd Wiegel, Ulla Jelpke MdB und Dr. Nick Brauns Wahlergebnisse der extremen Rechten am 28. September 2008 ...... 8 Dr. Gerd Wiegel und Dr. Andreas Bernig MdL Landtagswahlen in Bayern ...... 10 Dr. Horst Helas Die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) – eine neonazistische Jugendorganisation ...... 11 Dr. sc. Roland Bach Für die Wiederherstellung des Konsenses „Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus“ ...... 15 Ulrich Sander Wer nicht fühlen will muss hören – Mit Musik gegen Nazis ...... 18 Zur „linken“ Streikultur in Deutschland. Zum Beispiel: Antisemitismus in der DDR? Ja, aber … ...... 20 Dr. Horst Helas

HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Der Kisch Geburtstag 1935 ...... 26 Professor Dr. Dieter Schiller Das Münchner Abkommen 1938 – gestern und heute ...... 32 Dr. Günter Wehner Barbarischer Terror. Vor 65 Jahren überfiel Hitlerdeutschland Italien ...... 34 Dr. Martin Seckendorf Zur „Schlacht um Berlin“ Juni 1948 – „Operation Bird Dog“ und das Ende der Gewerkschaftseinheit in Berlin ...... 37 Werner Ruch

BERICHTE UND INFORMATIONEN Erklärung der Landes-Arbeitsgemeinschaft Antifaschistische Politik der LINKEN Sachsen ...... 39 Willi-Bredel-Gesellschaft – Geschichtswerkstatt e. V...... 40 René Senenko

ZUR DISKUSSION Anregungen zum Umgang mit der Geschichte. Erklärung des Ältestenrates der Partei DIE LINKE ...... 41 An Tatsachen nicht vorbeimogeln! ...... 45 Michael Wolff Dialektik der sozialen globalen Evolution ...... 46 Professor Dr. Heinz Engelstädter

LESERBRIEFE A. Gr. und Ernesto Herrmann zu René Senenko: Im Schatten der Thungasse, Heft 3/2008 ...... 47 LITERATURBERICHT Das Jahr 1968 in den drei Welten ...... 48 Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN Hindenburg: „Komisskopp“, Staatsmann, Marionette? ...... 53 Dr. Reiner Zilkenat Jedes menschliche Gefühl erstickt: Flick ging über Leichen ...... 54 Ulrich Sander „Wir stellten das hier schon her, bevor die Nazis kamen“ ...... 56 Yves Müller NS-Verbrechen in Deutschland 1945 ...... 57 Dr. Siegfried Ransch Neues zur Politik der NPD ...... 59 Dr. sc. Roland Bach

ZEITGESCHICHTE IM INTERNET Zeitgeschichte im Internet, Teil 1: Die „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ ...... 61 Dr. Reiner Zilkenat

ANHANG Vor 70 Jahren: Brennende Synagogen in Deutschland. Eine Dokumentation ...... 65 Dr. Horst Helas unter Mitarbeit von Dr. Reiner Zilkenat EDITORIAL

Während dieses Heft erarbeitet wurde, dies noch vor wenigen Monaten erahnen das Nazi-Gesindel offenbar auf einem begann eine globale Finanz- und Wirt- können! ihrer Treffpunkte, der Skater-Anlage, schaftskrise die Welt in Atem zu halten. Fast von selbst versteht es sich, dass „gestört“ fühlte, wird brutal verprügelt. Ökonomische Fachtermini, die bis dahin Neonazis und in ihrem Dunstkreis agie- Inzwischen haben sich die Hinweise ver- nur einem kleinen Kreis eingeweihter Fi- rende Publikationsorgane jetzt Morgen- dichtet, dass es sich bei dem einen oder nanzprofis geläufig waren, wie zum Bei- luft für ihre Verschwörungstheorien und anderen der mutmaßlichen Täter um spiel „Leerverkäufe“, „Asset Backed Se- Anklagen gegen das US-amerikanische Mitglieder der NPD handeln soll. curities“, „Private Equity Fonds“, „Cross Kapital „von der Ostküste“ wittern. Sie Weshalb wurden diese Vorgänge so Border Leasing“, „Credit Default Swaps“ wollen die Finanz- und Wirtschaftskrise ausführlich referiert? Weil sie uns oder „Private Public Partnership“ gingen zum willkommenen Anlass nehmen, um schlaglichtartig vor Augen führen, dass Politikern und Journalisten bereits nach die Ursachen für die entstandene Situa- Wahlergebnisse allein über keine hinrei- kurzer Zeit problemlos über die Lippen. tion letztlich dem „raffenden Kapital“, al- chende Aussagekraft hinsichtlich des Staunend registrierte das Publikum, wie so „den“ Juden, anzudichten. So, wie es politischen Einflusses bzw. des herr- gleichsam über Nacht nur noch in Mil- auch schon ihre Vorgänger von Adolf Sto- schenden Terrors der Rechten verfügen. liarden, ja gelegentlich sogar schon in ecker bis Adolf Hitler taten. Wir werden Mit Sicherheit gibt es in Deutschland, in Billionen gerechnet wurde, wie Regie- im kommenden Rundbrief, Heft 1/2009, West wie in Ost, noch manch’ anderes rungen und Notenbanken, die ansonsten in einer ersten Analyse einige dieser Ela- Schöneiche ohne neofaschistische Ge- eilfertig beteuerten, es sei kein Geld für borate vorstellen und kommentieren. meinde- oder Stadträte, aber mit Ein- dringend benötigte Sozialleistungen und In der vorliegenden Ausgabe haben wir wohnern entsprechender Gesinnung die Modernisierung der öffentlichen In- unter anderem viel Platz der Analyse di- bzw. braunen Schlägertrupps, die Angst frastruktur vorhanden, mit ruhiger Hand verser Landtags- und Kommunalwahlen und Schrecken verbreiten. Übrigens: In Bürgschaften und Bares für die Rettung gewidmet. Zwar konnten die Rechten Schöneiche haben inzwischen der zu- von Großbanken und Industriekonzer- nicht die gewünschte Anzahl von Man- ständige Polizeipräsident aus Frankfurt nen auf den Tisch legen konnten. daten in Gemeindevertretungen, Stadt- an der Oder und die Verfassungsschutz- Noch wissen wir nicht, wohin die Reise verordnetenversammlungen, Kreis- und präsidentin des Landes Brandenburg gehen wird. Doch eines scheint bereits Landtagen erringen, Gründe zur Entwar- „nach dem Rechten“ gesehen. Auch ers- jetzt sonnenklar zu sein: Der Neolibera- nung gibt es jedoch nicht. te Ermittlungsverfahren sind offenbar lismus, die Anschauung, dass Märkte, Nehmen wir als Beispiel den branden- eingeleitet worden. wenn der Staat sich aus dem wirtschaft- burgischen Ort Schöneiche in unmittel- Wir möchten die Leserinnen und Leser lichen Geschehen weitgehend heraus- barer Nachbarschaft von Berlin. Dort des „Rundbriefs“ darauf hinweisen, dass hielte, stets von allein ins Gleichgewicht traten DVU bzw. NPD nicht zur Wahl der wir in der Rubrik „Zur Diskussion“ die kämen, hat einen völligen Bankrott erlit- Gemeindevertretung an. Nichtsdesto- Wortmeldung des Ältestenrates der Par- ten. Mehr noch: Bei immer mehr Men- weniger herrschen hier mittlerweile Zu- tei zu Fragen der Geschichtsaufarbeitung schen wächst langsam das Gefühl, es stände, die schlimmste Befürchtungen innerhalb der LINKEN und eine kritische ginge hier nicht nur um den Neolibera- hervorrufen. Stellungnahme hierzu abgedruckt haben. lismus, eine Variante des Kapitalismus, Neonazis terrorisieren seit Wochen Die hier angesprochenen Themen sind sondern um den Kapitalismus selbst. den Ort. Am 19. Oktober wurde das jü- und bleiben aktuell, wie man auch im- „Legitimationsprobleme im Spätkapita- dische Laubhüttenfest in der „Kulturgie- mer die jeweiligen Meinungsäußerungen lismus“ hieß ein 1973 veröffentlichtes, ßerei“ von Schöneiche massiv gestört, bewerten mag. An Beiträgen und Stel- viel gelesenes Buch von Jürgen Haber- zehn Tage später das Mahnmal zu Ehren lungnahmen aus der Leserschaft, die wir mas. Tempi passati? der von den Faschisten ermordeten jü- selbstverständlich abdrucken werden, Wie auch immer, jetzt helfen womöglich dischen Einwohner geschändet und zer- sind wir jedenfalls sehr interessiert. auch keine ideologischen Bürgschaften stört. Mehr als 250 Bewohner Schönei- Ein besonderer Hinweis gilt dem „An- eines Friedrich Merz mehr, der seinem ches protestierten mit einer Mahnwache hang“ dieses Heftes, einem von Dr. soeben veröffentlichten Buch – welch’ gegen dieses Barbarentum. Doch damit Horst Helas zusammengestellten, aus- unfreiwillige Satire – ausgerechnet den nicht genug. Im Internet wird dazu auf- führlichen Beitrag zur Reichspogrom- Titel „Mehr Kapitalismus!“ gab. gerufen, das Haus des stellvertretenden nacht am 9. November 1938. Vor allem Und tatsächlich: Wie auf dem Grün- Bürgermeisters anzuzünden, der sich die abgedruckten Quellen – das eine dungsparteitag der LINKEN im vergan- in aller Deutlichkeit gegen die Machen- oder andere davon war bislang unver- genen Jahr von Lothar Bisky und Gregor schaften der Braunen ausgesprochen öffentlicht oder nur an entlegener Stelle Gysi angekündigt, stellt sich die „Sys- hatte. Am 27. Oktober lauern ihm drei publiziert – sollen das Ausmaß des Pog- temfrage“. Zunächst einmal hat der Karl vermummte Nazis vor seinem Haus auf roms und die bei den Opfern verursach- Dietz Verlag daraus großen Nutzen zie- und drohen ihm die Anwendung körper- ten Gefühle der Ausgrenzung, der Angst hen können. Das bei ihm verlegte „Ka- licher Gewalt an. Am 1. November fin- und der Ohnmacht verdeutlichen, aber pital“ von Karl Marx erwies sich plötz- det sich im Netz sogar der Aufruf, den auch die ganze Brutalität der Täter doku- lich als ein Bestseller! Mittlerweile ist stellvertretenden Bürgermeister „zu er- mentieren. Es handelt sich dabei nicht in es ausverkauft und bedarf dringend ei- schießen“. Jugendliche und Mitglieder jedem Falle um eine einfache, wohl aber ner Nachauflage. Dem Verleger Jörn der Freiwilligen Feuerwehr, die den Na- notwendige Lektüre, auch im 70. Jahr Schütrumpf wurde im Berliner „Tages- zis den Zugang zu einem Ortsfest ver- danach. spiegel“ gar eine halbe Seite einge- wehrt hatten, werden bedroht, zwei von räumt, um die Renaissance des Marx- ihnen zusammengeschlagen. Auch ein Dr. Reiner Zilkenat schen Werkes zu erläutern – wer hätte erst 13 jähriger Junge, von dem sich (Redaktionsschluss: 20. November 2008)

3 DAS THEMA: AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Rechts ist nicht links. Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes „Üblicherweise bezeichnet sich kein und mit dem ungerechtfertigten Ver- totalitarismus (und eben nicht der An- Extremist als Extremist. Er erhält viel- dikt der Verfassungsfeindlichkeit belegt tifaschismus) als Gründungskonsens mehr dieses Werturteil zugewiesen von werden. Dennoch kommt es auch von seit 1949. Hauptbezugspunkt dieses den Inhabern der Definitionsherrschaft Seiten linker Politiker und Politikerinnen bis in die Schulcurricula hineinwirken- über die zentralen Standards einer Ge- immer wieder zu einer Unterschätzung den Totalitarismusansatzes – die schu- sellschaftsordnung, die ihre Bestands- der strategischen Intention des Extre- lische Vermittlung war bis in die 70 er gefährdung zurückweist, indem sie den mismusansatzes, etwa wenn Abgeord- Jahre obligatorisch – war der aus dem vermuteten bzw. erkannten Zerstö- nete der LINKEN zur Bekämpfung des Faschismus übernommene Antikommu- rer der Basisstabilität als Extremisten Neofaschismus im Bündnis mit den bür- nismus, der sich gegen die „aktuellen“ markiert und ihn damit von jeder uner- gerlichen Parteien in allgemeine Klau- Gegner im Kalten Krieg, die Sowjetuni- wünschten Einflußnahme auszugrenzen seln einwilligen, die sich undifferenziert on und die DDR, richtete. versucht.“ (Manfred Funke, konservati- gegen „Extremismus“ richten. Leicht Totalitarismus und Extremismus unter- ver Vertreter des Extremismusansatzes, kann sich DIE LINKE hier selbst ein Bein scheiden sich im Sinne der Vertreter die- in: Mickels Handlexikon zur Politikwis- stellen. ser Ansätze durch die Stichworte Reali- senschaft) tät bzw. Potentialität: Mit Totalitarismus Theoretischer Hintergrund und werden historisch oder gegenwärtig re- In der politischen Auseinandersetzung Akteure des Extremismusansatzes ale Herrschaftssysteme beschrieben, hat die Verwendung des Extremismus- Die staatliche Thematisierung und Aus- wogegen Extremismus auf Bewegungen begriffs mindestens drei Funktionen: einandersetzung mit der extremen und Parteien angewandt wird, die in Op- Er soll erstens die inhaltlichen Unter- Rechten in der Bundesrepublik erfolgt position zum liberalen Verfassungsstaat schiede zwischen der radikalen Linken seit 1949 vor dem Hintergrund des Ex- stehen. und einer extremen Rechten nivellieren tremismusansatzes, der den Kern so- Die beiden wohl führenden Vertreter des und somit die Linke durch die begriff- wohl des Selbstverständnisses der Extremismusansatzes in der Bundesre- liche Gleichsetzung mit der extremen Bundesrepublik (antiextremistisch/an- publik, Uwe Backes und Eckhard Jesse, Rechten diskreditieren; er soll zweitens titotalitär) als auch der Bewertung ab- definieren den Begriff folgendermaßen: die politische Mitte unabhängig von den weichender politischer Vorstellung „Der Begriff des politischen Extremismus hier vertretenen Inhalten legitimieren rechts und links kennzeichnet. soll als Sammelbezeichnung für unter- und alle Abweichungen von dieser Mitte Es handelt sich bei diesem Ansatz um schiedliche politische Gesinnungen und unter den Verdacht des „Extremismus“ keine begründete, wissenschaftliche De- Bestrebungen fungieren, die sich in der stellen; dadurch definiert der Extremis- finition oder Analyse verschiedener poli- Ablehnung des demokratischen Verfas- musbegriff drittens einen legalen poli- tischer Ausrichtungen, sondern letztlich sungsstaates und seiner fundamentalen tischen Raum (die Mitte) und stellt alle um ein politisches Kampfinstrument, Werte und Spielregeln einig wissen, sei abweichenden politischen Vorstellungen mit dessen Hilfe eine ungerechtfertigte es, dass das Prinzip menschlicher Funda- unter den Verdacht der Verfassungs- Gleichsetzung völlig gegensätzlicher po- mentalgleichheit negiert (Rechtsextremis- feindlichkeit. Diese Definition der legiti- litischer Richtungen vorgenommen wird. mus), sei es, dass der Gleichheitsgrund- men Mitte erfolgt jedoch nicht inhaltlich, So findet sich dieser Ansatz vor allem im satz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt etwa entlang den Grundwerten der Ver- Bereich der staatlichen und administra- wird und die Idee der individuellen Frei- fassung, sondern rein formal, das heißt. tiven Auseinandersetzung mit politisch heit überlagert (Kommunismus), sei es, gemäß dem Bekenntnis zur freiheitlich- abweichenden Meinungen (Parlamente, dass jede Form von Staatlichkeit als ‚re- demokratischen Grundordnung, zu der Polizei, Verfassungsschutz, Gerichte), pressiv‘ gilt (Anarchismus).“ nach herrschender Auffassung auch das wogegen er im wissenschaftlichen Be- Wichtigstes Merkmal ist hier die Ableh- kapitalistische Wirtschaftssystem der reich umstritten und selbst von einzel- nung der Werte und Normen des demo- Bundesrepublik gehört. nen Befürwortern nur als begrenzt taug- kratischen Verfassungsstaates. Neben Darüber hinaus ist der Extremismusan- lich angesehen wird. der Ablehnung des liberalen Verfas- satz eng mit der Totalitarismustheorie Theoretisch basiert der Extremismus- sungsstaates nennen Backes und Jesse verbunden, deren historisch-politische begriff auf der sehr viel älteren Totali- weitere Merkmale des Extremismus, die Funktion für die konservative Rechte in tarismustheorie, die – entstanden in sie in einer allen extremistischen Kräf- einer Relativierung und Verharmlosung den 20 er Jahren des 20. Jahrhunderts ten gemeinsamen Denkstruktur sehen: des Faschismus und der gleichzeitigen in Italien – in ihrer klassischen Ausprä- „Alle extremistischen Doktrinen erheben Bekämpfung der politischen Linken be- gung eine Gleichsetzung der politischen auf die eine oder andere Weise den An- steht. Systeme des Kommunismus und Fa- spruch auf exklusiven Zugang zur histo- DIE LINKE sollte einen solchen Extre- schismus vornahm. Beide – Kommu- risch-politischen Wahrheit – gleichgültig mismusbegriff ablehnen, da hierdurch nismus und Faschismus – werden hier ob man sich auf die Gesetze der Natur ihr eigenes politisches Handeln und das als „wesensgleich“ beschrieben. In der oder der Vernunft beruft. “ Diese inhalt- zahlreicher Verbündeter eingeschränkt Bundesrepublik gilt bis heute der Anti- liche Gleichsetzung wird noch um ei-

4 nen Punkt weitergetrieben: „ Ihr strate- Thesen: mus“ auszuweiten. Weder die wissen- gisches Waffenarsenal ist weitgehend Die verstärkte Artikulation des Extre- schaftliche Begleitforschung der alten austauschbar: kein Mittel der extremen mismusbegriffs in öffentlichen Debat- Programme noch die aktuellen Ein- Linken, das nicht auch bereits von der ten ist eine Folge des relativen Erfolgs schätzungen der Sicherheitsbehörden extremen Rechten angewendet worden der antifaschistischen Bewegung, die gaben irgendwelche Hinweise, die eine wäre – und umgekehrt. “ Phänomene des Neofaschismus stär- solche Ausweitung und damit Verwäs- Somit erscheint rechter und linker Ex- ker in den öffentlichen Diskurs zu brin- serung der Programme rechtfertigten. tremismus in der Wahl seines Gegners gen. Die von links betriebene Sensibili- Hintergrund dieses Vorstoßes, der nur (liberaler Verfassungsstaat), der Wahl sierung für das Thema Neofaschismus dank des Zusammenwirkens von SPD, seiner Mittel und in seiner Agitations- zwingt auch bürgerliche und konservati- Opposition und Öffentlichkeit verhin- struktur als gleich. Erübrigt hat sich mit ve Politiker und Eliten dazu, sich mit die- dert werden konnte, war der zentrale dieser Definition jede weitere inhalt- sem Thema zu beschäftigen. Der Preis Bezug der Union auf den Extremismus- liche Dimension. Entscheidend ist nicht der Linken für diese Anerkennung des ansatz. das wofür, sondern das wogegen, womit Problems Neofaschismus ist die partiel- die politische Mitte, der liberale Verfas- le Akzeptanz des Extremismusansatzes Bündnis für Demokratie und sungsstaat, zum einzigen Maßstab wird, auf der verbalen Ebene. Toleranz/Bundeszentrale für jedoch nicht inhaltlich, sondern rein auf Der in der alten BRD seit 1949 und in politische Bildung die Form bezogen. Nicht die Inhalte, son- Gesamtdeutschland seit 1990 veran- Im Mai 2000 wurde durch das Bundes- dern das formale Bekenntnis zum libe- kerte Antikommunismus verleiht dem ministerium des Innern und das Bun- ralen Verfassungsstaat, sind das Kriteri- Extremismusansatz im Alltagsverstand desministerium der Justiz das „Bündnis um. Egal welche inhaltliche Veränderung eine hohe Plausibilität. Dennoch ist die- für Demokratie und Toleranz – Gegen dieser Verfassungsstaat zum Beispiel im ser Ansatz nicht grundsätzlich hegemo- Extremismus und Gewalt“ (BfDT) ge- Rahmen der aktuellen Sicherheitsdebat- nial, sondern ständig umkämpft. In Tei- gründet. Zwar trägt dieses Bündnis den te nehmen wird, an seiner Definition und len der Linken gibt es die Einstellung, die Extremismusansatz schon im Namen, am Selbstverständnis als liberaler Ver- Anerkennung des Problems Neofaschis- dennoch liegt der inhaltliche Schwer- fassungsstaat wird sich nichts ändern. mus (durch die bürgerliche Mitte) sei den punkt des staatlich finanzierten Bünd- Zentrale Institutionen und Personen bei Preis des Extremismusansatzes wert. nisses in der Auseinandersetzung mit der Verbreitung des Extremismus- bzw. Dies erweist sich schnell als Fehler – der extremen Rechten. So vergibt des Totalitarismusansatzes sind das Han- bezogen auf die eigene Definition von BfDT jährlich zahlreiche Preise an bür- nah-Arendt-Institut (HAIT) in Dresden außen und bezogen auf antifaschisti- gerschaftliche Initiativen die sich ge- (eng verbunden mit der sächsischen sche Bündnispolitik nach links. gen Rassismus, Ausgrenzung und die CDU und der Landesregierung), der Im Folgenden soll an ausgewählten Bei- extreme Rechte engagieren und Wer- von Prof. Klaus Schröder geleitete For- spielen die aktuelle politische Auswir- te wie Demokratie und Toleranz ver- schungsverbund SED-Staat an der FU- kung des Extremismusansatzes deutlich mitteln. In der 15. Wahlperiode äußerte Berlin, die Stiftung zur Aufarbeitung der gemacht werden, bevor abschließend die Unionsfraktion im Rahmen einer SED-Diktatur, Prof. Eckhardt Jesse (Uni Vorschläge zum Umgang mit dieser Er- großen Anfrage (Bundestags-Drucksa- Chemnitz) und Dr. Uwe Backes (HAIT). scheinung vorgestellt werden. che 15/5535) den Verdacht, das Bf- Die beiden letztgenannten geben seit DT würde „linksextremistische“ Ver- 1989 das Jahrbuch „Extremismus und Bundesprogramme gegen eine und Projekte auszeichnen. Seit Demokratie“ heraus. Rechtsextremismus Beginn dieser Legislaturperiode gibt es Ende 2006 liefen die von der rot-grü- von Seiten der Union den Versuch, den Aktualität und politische Nutzung nen Koalition aufgelegten Bundespro- thematischen Schwerpunkt „Rechts- des Extremismusansatzes gramme gegen Rechtsextremismus extremismus“ zu relativieren und ver- Seit 1990 gehört der Extremismusan- (Civitas, Entimon, Xenos) planmäßig stärkt zum Thema „Linksextremismus“ satz (wieder) verstärkt zum Waffenar- aus. Politisch stand die schwarz-rote aktiv zu werden. Bisher scheiterten die- senal des Konservatismus. Aufgrund Regierung vor der Frage, ob und wie di- se Vorstöße an der Tatsache, dass von des massiven Anstiegs der Bedrohung ese Programme weitergeführt werden Seiten der Union keinerlei bürgerschaft- durch die extreme Rechte hat sich die sollten. Während die Union den Pro- liche Bündnisse genannt werden konn- Problemwahrnehmung in diesem Be- grammen immer misstrauisch gegen- ten, die sich mit dem Thema „Links- reich jedoch verschoben. Spätestens überstand, den gemeinsamen Antrag extremismus“ befassen, noch konnten seit dem „Aufstand der Anständigen“ von SPD, Grünen, FDP und PDS (Bun- Problemregionen benannt werden, in (2001) und den von der Rot-Grünen destags-Drucksache 14/5456), aus denen dieses Thema eine relevante Rol- Bundesregierung ins Leben gerufenen dem schließlich die Bundesprogramme le spielt. staatlich finanzierten Projekten gegen hervorgingen, als einzige Fraktion nicht Ganz ähnliche Vorstöße von Seiten der Rechtsextremismus, hat sich diese ver- unterstützte und die durch das Bundes- Union gibt es im Beirat der Bundes- änderte Problemwahrnehmung (d. h. ein programm finanzierten Projekte immer zentrale für Politische Bildung. Auch verstärkter Blick auf die extreme Rech- wieder unter den Verdacht des „Links- hier wird die angeblich zu einseitige te) auch auf staatlicher Seite durchge- extremismus“ stellte, wollte sie mit der Ausrichtung auf den Bereich der extre- setzt. Mit der Rückkehr der Union in die Regierungsbeteiligung ab 2005 den men Rechten beanstandet, verbunden Bundesregierung lässt sich seit 2005 Charakter dieser Programme grund- mit der Forderung, das Thema „Links- verstärkt der Versuch beobachten, di- sätzlich ändern. So sah der erste Vor- extremismus“ stärker zu behandeln. ese verschobene Problemwahrneh- schlag des von der CDU geführten Fa- Auch hier steht nicht die Frage der ge- mung rückgängig zu machen, ohne da- milienministeriums zur Fortführung der sellschaftlichen Relevanz im Mittel- mit offen eine Leugnung des Problems Programme vor, diese auf die Bereiche punkt, sondern der ideologische Be- „Rechtsextremismus“ zu betreiben. „Linksextremismus“ und „Islamis- zugspunkt des Extremismusansatzes.

5 Neufassung des in den Regelungen zur Gemeinnützigkeit Ziel dieser „extremistischen“ Organisa- Versammlungsrechts von Organisationen ab Januar 2009 fol- tion wird der „Aufbau einer neuen Ge- Mit der so genannten Föderalismusre- genden Passus einfügen: „Die Steuerver- sellschaft auf der Basis ökonomischer form I ist die Zuständigkeit in Fragen des günstigung setzt voraus, dass die Kör- und sozialer Gleichheit sowie politischer Versammlungsrechts vollständig in die perschaft nach ihrer Satzung und ihrer Freiheit bei freien geistigen und mate- Zuständigkeit der Bundesländer überge- tatsächlichen Geschäftsführung kein riellen Gestaltungsmöglichkeiten der gangen. Erste Gesetzentwürfe zur Ver- extremistisches Gedankengut fördert Menschen“ genannt. Die AKP bezeich- änderung des Versammlungsrechts in und sich im Rahmen der verfassungs- ne sich als anti-religiöse und anti-isla- Bayern und Sachsen lassen erkennen, mäßigen Ordnung hält.“ Mit der Formu- mische Partei und thematisiere in erster dass unter dem Label des Kampfes ge- lierung „extremistisches Gedankengut“ Linie die „Situation der Industriearbeiter gen die extreme Rechte auch hier der wird jede inhaltliche Bestimmung – ana- im Iran, dortige Menschenrechtsverlet- Extremismusansatz die Feder führt. So log zum Extremismusansatz – vermie- zungen sowie Studentenproteste sowie richte sich der bayrische Entwurf zum den. Schließlich hätte man auch rassisti- das militärische Engagement der USA Beispiel gegen „militant und aggressiv sches, antisemitisches, nationalistisches im Irak“. In Deutschland sei die Partei auftretende Versammlungen aus den und NS-Verherrlichendes Gedankengut mit zahlreichen, meist friedlichen Ver- extremistischen Spektren“. Die pau- sanktionieren können. Angesicht der Be- anstaltungen in Erscheinung getreten. schale „Unzuverlässigkeit“ eines Ver- obachtung der LINKEN durch die Verfas- Der Extremismusvorwurf macht sich al- sammlungsanmelders reicht bereits für sungsschutzbehörden im Bund und in so offenbar allein daran fest, dass die ein Verbot aus. Versammlungen kön- zahlreichen Bundesländern kann durch AKP „den revolutionären Umsturz der nen darüber hinaus verboten werden, eine solche Bestimmung jederzeit auch Islamistischen Republik“ als notwen- wenn sie „die öffentliche Sicherheit ge- die Rosa-Luxemburg-Stiftung betroffen dig für die Erreichung ihrer Ziele ansieht fährden, die Rechte Dritter unzumut- sein. Dasselbe gilt für zahlreiche der LIN- und dabei auch den Einsatz von Gewalt bar beeinträchtigen oder grundlegende KEN nahestehenden Vereine. befürwortet. Eine tatsächliche Anwen- ethische und soziale Anschauungen ver- dung von Gewalt wird der im Iran kaum letzen.“ Mit einer solchen inhaltsleeren „Ausländerextremismus“ vertretenen AKP nicht einmal von der Formulierung können und werden, wie Besonders problematisch ist die Begriff- Regierung in Teheran vorgeworfen. schon bei vorherigen Einschränkungen lichkeit des Ausländerextremismus, die Und selbst das Kriterium der Gewalt- sichtbar, auch (radikale) linke Demonst- linke, rechte, nationalistische, faschis- befürwortung wird von den Extremis- rationen und sogar Streikposten verbo- tische und islamistische Gruppierungen mustheoretikern hier nicht konsequent ten werden. zusammenfasst. Zum einem werden von angewandt, gelten doch Gruppierungen, Noch weiter ging der erste Entwurf zur staatlicher Seite die bereits auf deut- die sich für eine Bombardierung des Iran Änderung des Versammlungsrechts in sche Gruppierungen angewandten Extre- stark machen, in der Regel nicht als ex- Sachsen. Hier wurde explizit und in be- mismuskriterien genutzt. Dies führt da- tremistisch, weil die von ihnen geforder- kannter totalitarismustheoretischer Ma- zu, dass beispielsweise die „Föderation te Gewalt ja von einer westlich-staatli- nier die „Schutzwürdigkeit“ von Opfern Demokratischer Arbeitervereine“ (DIDF) chen Seite ausgehen soll. der „nationalsozialistischen und der als „extremistisch“ eingestuft wird, also kommunistischen Gewaltherrschaft“ eine Organisation, die eng mit der LIN- Umgang der LINKEN mit als möglicher Verbotsgrund angeführt, KEN arbeitet und auf deren Liste auch dem Extremismusansatz im zudem hieß es weiter, „Beschränkun- eine Bundestagsabgeordnete steht. Als parlamentarischen Feld gen von Versammlungen, welche die weiteres Kriterium für eine Einstufung Für DIE LINKE stellt sich das Problem, kommunistische Gewaltherrschaft be- als „ausländische extremistische Verei- dass zahlreiche parlamentarische und treffen, werden ermöglicht, um die Aus- nigung“ kommt hinzu, ob eine Gruppie- öffentliche Initiativen gegen „den“ Ex- gewogenheit des Gesetzentwurfs im rung im Heimatland zur Erreichung po- tremismus in der Öffentlichkeit mit dem Hinblick auf die Präambel der Verfas- litischer Ziele auch Gewalt befürwortet Label „Kampf gegen den Rechtsextre- sung des Freistaates Sachsen zu stär- oder anwendet. Hier stellt sich die ganze mismus“ legitimiert werden, womit es ken.“ Unverkennbar stand der Totalita- schon im Zusammenhang mit den EU- für uns schwerer wird, diese Initiativen rismus- bzw. Extremismusansatz diesem Terrorlisten und dem Paragraphen 129 b abzulehnen. Entwurf Pate. Gravierende verfassungs- des Strafgesetzbuches aufgeworfene Das Versammlungsrecht ist in der prak- rechtlichen Bedenken und Proteste des Problematik, ob wir es mit Freiheits- tischen Auseinandersetzung mit der Koalitionspartners SPD führten schließ- kämpfern oder Terroristen zu tun haben, extremen Rechten ein wichtiges Ins- lich dazu, dass dieser Entwurf überar- die von staatlicher Seite in der Regel mit trument. Immer wieder kommt es zu beitet wurde. der möglichen „Gefährdung auswärtiger Versuchen, Naziaufmärsche gerichtlich Belange der Bundesrepublik Deutsch- untersagen zu lassen und immer wie- Vereinsrechtliche Beschränkung land“ beantwortet wird. Außenpolitische der werden diese, mit Verweis auf das „extremistischer“ Vereine Interessen sind hier für die Einstufung geltende Versammlungsrecht, durch die Nachdem aufgrund der V-Leute-Proble- einer Gruppierung als extremistisch ent- Gerichte genehmigt. Eine Verschärfung matik der zweite Anlauf für ein NPD-Ver- scheidend und nicht die tatsächlich ver- hier trifft somit auch auf die Zustim- bot erneut gescheitert ist, hat sich die tretenen politischen Ziele oder das ak- mung zahlreicher AntifaschistInnen und Innenministierkonferenz darauf verstän- tuelle Verhalten einer solchen Gruppe in auch auf die Zustimmung unserer Leute digt, die Finanzen der extremen Rech- Deutschland. vor Ort. Während auf der einen Seite das ten stärker in den Blick zu nehmen. Die Exemplarisch für die Absurdität des Ex- mögliche konkrete Verbot von Naziauf- konkrete Umsetzung dieses Vorhabens tremismusbegriffs mag hier die Nennung märschen steht, erscheint die Proble- ist jedoch vom Extremismusansatz gelei- der kleinen „Arbeiterkommunistische matisierung des Extremismusansatzes tet und soll nicht nur die extreme Rech- Partei Iran“ im Verfassungsschutzbe- und der Gleichsetzung von rechts und te treffen. So will das Finanzministerium richt von Nordrhein-Westfalen sein. Als links als abstrakt und theoretisch.

6 Ähnlich verhält es sich bei anderen Initi- Ein letztes Beispiel: Nach dem Einzug der erfolgreich gegen eine solche Etikettie- ativen, die unter der Überschrift „Kampf NPD in den Landtag von Mecklenburg- rung öffentlich zur Wehr setzen kann, gegen Rechtsextremismus“ extremis- Vorpommern haben die Landesregierung können dies AntifaschistInnen, G8-Geg- mustheoretische Argumentationen ver- und namentlich der Innenminister Caffier nerInnen, VVN und andere nicht. Auch breiten. So wurde im Thüringer Landtag zahlreiche Initiativen gestartet, um den diesen Bündnispartnern ist es DIE LIN- 2006 auf das ursprüngliche Betreiben Einfluss der NPD zu begrenzen. So wur- KE schuldig, dem Extremismusansatz von PDS und SPD ein Antrag mit dem de mittels Rundschreibens des Innenmi- öffentlich zu widersprechen. Titel „Initiative für Demokratie und Tole- nisters darauf verwiesen, dass Bewer- Wie oben gezeigt abstrahiert der Extre- ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ ber für Landrats- und Kommunalwahlen mismusansatz von jeder inhaltlichen Be- zusammen mit der CDU verabschiedet. nur dann in eine Beamten- oder Ehren- stimmung seines Gegenstandes. Für uns Während die Diktion des Antrages dem beamtenverhältnis übernommen werden ist es deshalb entscheidend, immer wie- klassischen Extremismusansatz folgt können, wenn sie auf dem Boden der der die Inhalte der extremen Rechten als und sich gegen jede Form von Extre- freiheitlich demokratischen Verfassungs- Begründung für unseren Kampf gegen mismus ausspricht, wird an mehreren ordnung stehen. Zwei NPD-Bewerber rechts hervorzuheben: Rassismus, Anti- Stellen der „Rechtsextremismus“ als wurden daraufhin von den bevorstehen- semitismus, Nationalismus und NS-Ver- gegenwärtig dringendstes Problem in den Wahlen ausgeschlossen. Unverkenn- herrlichung – dass sind die Gründe für Thüringen benannt. Aus Sicht der Ge- bar knüpfen diese Maßnahmen an den Maßnahmen gegen die extreme Rechte, nossInnen in Thüringen wäre es nach Radikalenerlass aus dem 1970er Jahren nicht ihre formale Nähe oder Ferne zum außen nicht zu vermitteln gewesen, an, nur dass sie sich aus linker Sicht jetzt liberalen Verfassungsstaat. Es kann al- warum man aufgrund allgemeiner Äu- gegen „die Richtigen“ wenden, weshalb so nicht um die finanzielle Beschneidung ßerungen zum Extremismus einem An- auch DIE LINKE hier kein Veto einlegte von extremistischen Vereinen gehen, son- trag, der zahlreiche eigene Punkte zur (was ebenfalls schwer nach außen ver- dern um Vereine, die rassistisches, anti- Bekämpfung der extremen Rechten auf- mittelbar gewesen wäre). semitisches und NS-Verherrlichendes greift, nicht mittragen sollte. Aus der Gedankengut propagieren. Nicht ex- Sicht zahlreicher Initiativen und Antifas Die Alternative zum Extremis mus an- tremistische Aufmärsche sollten einge- in Thüringen hat die PDS mit diesem An- satz und Spannungsfeld für DIE LINKE schränkt werden, sondern solche, die trag die Gleichsetzung linker Gruppen Der Extremismusansatz samt seiner Ter- für Rassismus, Antisemitismus und für mit der extremen Rechten und die Legi- minologie kann kein positiver Anknüp- eine Verklärung des Faschismus stehen. timierung von Repression gegen „Links- fungspunkt für DIE LINKE sein. Der da- DIE LINKE kann und soll Gewalt als Mit- extremisten“ mit zu verantworten. mit transportierte Inhalt immunisiert tel der politischen Auseinandersetzung In Mecklenburg-Vorpommern wurde im den liberalen Verfassungsstaat vor jegli- verurteilen. Dennoch muss es möglich Herbst 2007 auf Initiative der PDS.Lin- cher Kritik, verschiebt das Problem der sein, die inhaltlichen Unterschiede zwi- ken über eine Staatszielbestimmung extremen Rechten auf den Randbereich schen Gewalt gegen schwache, ausge- debattiert, die sich vor allem gegen des politischen Spektrums und leugnet grenzte und randständige Gruppen und die Wiederbelebung „nationalsozialis- die Wechselwirkung zwischen Diskursen Gewalt gegen Sachen und die Staatsge- tischer Ideologien“ richten sollte. Die der politischen Mitte und der Stärkung walt zu thematisieren. Partei hatte dafür ein Volksinitiative ge- etwa der extremen Rechten („Extremis- Bei allen gemeinsamen Initiativen mit an- startet und circa 17.000 Unterschriften mus der Mitte“). deren Parteien/Partnern, die unter dem gesammelt. Die ursprüngliche Formulie- Mit der unzulässigen Gleichsetzung von Stichwort „Extremismus“ die extreme rung „rechtsextremistisch“ wurde von rechts und links durch den Terminus „Ex- Rechte im Auge haben, sollte DIE LIN- der CDU nicht mitgetragen und – auf In- tremismus“ werden die fundamentalen KE auf einer möglichst genaue Beschrei- itiative der LINKEN – in „rassistisches Unterschiede zwischen rechts (= Un- bung der Inhalte der extremen Rechten oder anderes extremistisches Gedan- gleichheit, Hierarchie, Nationalismus, bestehen. So geht es im Rahmen zum kengut“ umgewandelt. Zwar taucht Rassismus) und links (= Gleichheit, Soli- Beispiel von Präventionsstrategien nicht auch hier der „Extremismus“ auf, durch darität, Internationalismus, Klassenana- um die Sensibilisierung von SchülerInnen die inhaltliche Kennzeichnung als „ras- lyse) nivelliert. Da Sprache jedoch das gegenüber „Extremismus“, sondern um sistische“ wird jedoch deutlich, dass es Verständnis der Welt prägt und wie diese Rassismus, Antisemitismus und die Ide- sich um die extreme Rechte handelt, wahrgenommen wird, und der Extremis- ologie der Ungleichheit. Mit dem von der da es auf der Linken keinen program- musansatz auf einem in Westdeutsch- LINKEN vertretenen Verständnis der bür- matischen Rassismus gibt. Problema- land fest verwurzeltem Antikommu- gerlichen Freiheitsrechte und der sozi- tischer erscheint demgegenüber die Be- nismus basiert (der in Ostdeutschland alen Grundrechte, wie sie sich aus dem gründung aus den Reihen der LINKEN durch die vollständige Diskreditierung Grundgesetz ergeben, sollten wir offen- wenn sie anführt, die LINKE vertrete der DDR wieder belebt wurde), trägt der siv den Vorwurf des Extremismus zurück- in Mecklenburg-Vorpommern kein „ex- unhinterfragte Gebrauch dieser Termino- weisen und ihn vielmehr gegen diejeni- tremistisches“ Gedankengut. Das legt logie zur Verfestigung seiner Inhalte bei. gen wenden, die diese Rechte täglich mit die Annahme zugrunde, dies ließe sich ihrer Politik verletzen. Entscheidend ist objektiv beurteilen. Tatsche ist aber, Nicht DIE LINKE hat die Definitions- dabei der Hinweis, dass das Grundgesetz dass diese Bezeichnung politisch moti- macht darüber, wer oder was als ex- keine Wirtschaftsverfassung vorschreibt, viert vergeben wird und jederzeit auch tremistisch bezeichnet wird. DIE LINKE der Kapitalismus somit nicht zum Kern- wieder auf DIE LINKE in Mecklenburg- wird in der Mehrzahl der Verfassungs- bestand der Verfassung gehört und dem- Vorpommern angewandt werden kann. schutzberichte von Ländern und Bund nach Antikapitalismus nicht unter Extre- Zudem verbindet sich damit die Aner- als „extremistisch“ eingestuft, kann al- mismusverdacht gestellt werden kann. kennung des Extremismusansatzes ge- so innerhalb dieser Logik mit den für nerell und seine Anwendung auf andere Extremisten vorgesehenen Maßnahmen Dr. Gerd Wiegel, Ulla Jelpke MdB linke Gruppen. belegt werden. Wo sich DIE LINKE noch und Dr. Nick Brauns

7 Wahlergebnisse der extremen Rechten am 28. September 2008

Die Wahlergebnisse der extremen sein. Dort, wo sie angetreten sind, be- tet werden. Allerdings ist er ein deut- Rechten bei den Kommunalwahlen in wegen sich die Ergebnisse der extre- liches Warnsignal an alle Demokraten. Brandenburg und den Landtagswahlen men Rechten auf einem relativ hohem Sie sind gefordert, in den Kommu- in Bayern lassen sich alles in allem als Niveau: So konnte die NPD 4,6 Prozent nalparlamenten politische Entschei- durchschnittlich bezeichnen. Weder in Dahme-Spreewald, 4,5 Prozent in dungen unter weitestgehender Einbe- kann von einem Desaster der extremen Oder-Spree, 4,3 Prozent in Oberhavel, ziehung der Bürgerinnen und Bürger Rechten gesprochen werden, noch gab jeweils 4 Prozent in Havelland, Spree- zu treffen und den oft engen Gestal- es unerwartete Erfolge. Nach den er- Neiße und in der Uckermark erzielen. tungsspielraum in deren Interesse zu nüchternden Ergebnissen von NPD In Cottbus zieht sie mit 3 Prozent ins nutzen. Zu beachten ist ferner, dass und DVU bei den Landtagswahlen in Stadtparlament ein. sich hinter dem einen oder anderen Niedersachsen, Hessen und Die DVU erzielte ihr bestes Ergebnis Bürgerbündnis, das sich erfolgreich an können die Ergebnisse in Bayern und mit 5,1 Prozent in Elbe-Elster und kam den Kommunalwahlen beteiligt hatte, Brandenburg als Stabilisierung gewer- in Oberspreewald-Lausitz auf 4,4 Pro- durchaus rechtsextremistisches Wäh- tet werden. Während in Brandenburg zent, in Märkisch-Oberland auf 3,3 Pro- lerpotenzial befindet. Kurzum: Um den eine deutliche Ausweitung der kommu- zent, in Teltow-Fläming auf 2,7 Prozent, erneuten Einzug einer rechtsextre- nalen Mandate erreicht wurde, konnte in der Prignitz auf 2,5 Prozent und in mistischen Partei in den Brandenbur- in Bayern sowohl von der NPD als auch Potsdam-Mittelmark auf 2,4 Prozent. gischen Landtag zu verhindern, bedarf von den Republikanern die für die Wahl- Außerdem zieht die DVU mit 2,0 Pro- es weiterer erheblicher Anstrengun- kampfkostenerstattung wichtige 1-Pro- zent in das Stadtparlament von Pots- gen aller demokratischen Kräfte und zent-Marke überschritten werden. dam ein. Parteien. Kam die extremen Rechte bei den letz- Brandenburg ten Kommunalwahlen noch auf ein Er- Bayern Bei den Kommunalwahlen 2008 sind gebnis von 43.000 Stimmen, so konn- Anders als in Brandenburg war die rechtsextremistische Parteien in fast ten NPD und DVU diesmal mehr als Landtagswahl in Bayern von der lan- alle Landkreistage und Stadtverord- 100.000 Wähler auf sich vereinigen. desweiten Konkurrenz extrem rechter netenversammlungen der kreisfreien Auf der einen Seite verdeutlicht die Parteien gekennzeichnet, wenn man Städte eingezogen. Mit anderen Wor- Kommunalwahl in Brandenburg, dass die „Republikaner“ entgegen der Wer- ten, dort wo DVU und NPD angetreten der Pakt zwischen DVU und NPD aktu- tung der Verfassungsschutz-Behörden sind, wurden sie, wenn auch mit unter- ell noch funktioniert und Wirkung zeigt. weiterhin zu diesem Spektrum zählen schiedlichem Ergebnis, gewählt. Nicht Beide Parteien vermieden Konkurrenz- will (mit der Bayernpartei kam eine wei- angetreten waren diese Parteien in kandidaturen und konnten in den jewei- tere rechts-konservative Partei hinzu). Frankfurt an der Oder, in Brandenburg ligen Kreisen alle extrem rechten Stim- Die NPD erzielte in Bayern ein Lan- an der Havel sowie im Landkreis Ostp- men auf sich vereinen. Auf der anderen desergebnis von 1,2 Prozent (123.273 rignitz-Ruppin. Seite lässt sich absehen, dass der re- Stimmen) und überspringt damit die für Im Landesdurchschnitt erreichte die lative Erfolg für die NPD Begehrlich- die Wahlkampfkostenerstattung wich- NPD 1,8 Prozent der Stimmen, auf die keiten wecken wird, in einem Stamm- tige 1-Prozent Hürde. Gleiches gilt für DVU entfielen 1,6 Prozent. Beide Par- land der DVU die eigene Stellung noch die Republikaner mit einem Anteil von teien gemeinsam kamen also auf einen weiter auszubauen. Da vor allem die 1,4 Prozent (145.951 Stimmen). In ih- landesweiten Stimmenanteil von 3,4 NPD den Weg über die Kommunen für ren besten Bezirken erreichte die NPD Prozent. Das sind immerhin 1,9 Pro- sich erkoren hat und hier auch wesent- zwischen 0,7 Prozent (Oberbayern) und zent mehr als 2003, wo sie 1,5 Prozent lich alltagspräsenter ist als die DVU, 1,7 Prozent (Oberpfalz, Oberfranken). der Stimmen erreichten. Diese rechts- könnte das Ergebnis auch der Auftakt Die Republikaner kamen auf Ergeb- extremistischen Parteien haben also für eine verstärkte Konkurrenz der bei- nisse zwischen 1,1 Prozent (Oberbay- ihren Stimmenanteil mehr als verdop- den Parteien sein. Der in der Presse ern) und 1,9 Prozent (Unterfranken). pelt. Bei den Kommunalwahlen 2003 mit Genugtuung registrierte Nicht-Ein- Vor dem Hintergrund der dramatischen zog die DVU in 6 Kreistage und in die zug eines verurteilten rassistischen Ge- Verluste der CSU konnte keine Partei Stadtverordnetenversammlung Pots- walttäters (Hetzjagd von Guben 1999) der extremen Rechten von diesen Ver- dam mit insgesamt 9 Abgeordneten der NPD in Guben hat als Kehrseite, lusten profitieren, weshalb aus bei- ein. Die NPD war zunächst in 3 Kreis- dass die NPD trotz solcher Kandidaten den Lagern verlautet, man habe die tagen mit 4 Mandatsträgern vertreten, auch im Kreis Spree-Neiße auf ein Er- eigenen Wahlziele nicht umsetzen kön- verlor dann aber ihren Sitz im Kreistag gebnis von 4 Prozent kam. nen, was von Seiten der NPD vor allem der Prignitz durch den Wechsel eines Festzuhalten bleibt, dass es in Bran- auf die Zersplitterung des „nationalen Mitgliedes zur offen neonazistischen denburg nicht gelungen ist, den Ein- Spektrums“ zurückgeführt wird. Zu- „Bewegung neue Ordnung“, die inzwi- zug rechtsextremistischer Parteien in dem konnten die Parteien der extre- schen verboten worden ist. die kommunalen Parlamente zu verhin- men Rechten offensichtlich keine Mo- Und 2008? Während die NPD in 6 Kreis- dern. Sie konnten ihren Stimmenanteil bilisierung bei Nichtwählern in Gang tage und in das Stadtparlament von erhöhen und somit ihre Ausgangsbasis setzen. Eine genauere Analyse wird zei- Cottbus einziehen wird, wird die DVU für die Landtagswahlen im Jahre 2009 gen müssen, ob es hier einen Zusam- ebenfalls in 6 Kreistagen und der Stadt erweitern. Der Stimmenzuwachs darf menhang mit dem Ergebnis der LIN- Potsdam mit Abgeordneten vertreten aber auch nicht als dramatisch bewer- KEN gibt.

8 Ein kurzer Blick ins Ausland: stärkster Partei (29,7 Prozent) heran. Für Deutschland kommt eine sol- Österreich Für beide Parteien ist ein aggressiver che Entwicklung gegenwärtig nicht in Vor dem Hintergrund der etwas altba- Rassismus gegen Migrantinnen und Frage, weil hier das Angebot auf der ckenen deutschen extremen Rechten Migranten kennzeichnend, verbunden Rechten nicht akzeptabel und für den gerät leicht aus dem Blick, welches Po- mit populären sozialen Forderungen Mainstream kompatibel ist (was in Ös- tenzial eine moderne extreme Rechte und einer deutlichen Wendung gegen terreich der Fall ist) und weil DIE LIN- in Europa gegenwärtig hat. Österreich das politische Establishment, dass KE ein glaubwürdiges Angebot auch als Prototyp einer modernen, populis- durch die lähmende Große Koalition re- für die Wählerschichten bereithält, die tisch auftretenden extremen Rechten präsentiert wird. sonst von rechts ansprechbar wären. hat erneut gezeigt, dass dieses Poten- Der auch in Österreich vorhandene Sollte DIE LINKE den Platz als antago- zial noch längst nicht ausgeschöpft Verdruss gegenüber großen Teilen der nistisches Korrektiv zur herrschenden ist. Mit den erdrutschartigen Erfolgen etablierten Politik, verbunden mit einer Politik verlassen und in der Wahrneh- für die rechten Parteien FPÖ und das realen Angst vor den sozialen Verwer- mung der WählerInnen zum Teil des von ihr 2005 abgespaltene BZÖ (Bünd- fungen durch den globalen Kapitalis- Mainstreams werden, würde sich auch nis Zukunft Österreich) übertrifft die mus und dem Fehlen einer linken Kraft, hier eine rechte Wählerbasis öffnen – populistische Rechte bei diesen Wahl- die diese Stimmungen bündeln und für die es allerdings noch ein erfolg- en ihr bisher bestes Ergebnis von 1999 jenseits rassistischer Agitation zum versprechendes Angebot geben müss- (26,9 Prozent): Mit 18 Prozent für die Ausdruck bringen kann, führt zu einer te. FPÖ und 11 Prozent für das BZÖ kom- weiteren Erosion des politischen Ge- men die beiden Rechtsparteien zusam- füges und einer deutlichen Rechtsver- Dr. Gerd Wiegel und men nahe an das Ergebnis der SPÖ als schiebung. Dr. Andreas Bernig MdL

Richard Müller – eine Entdeckung Ralf Hoffrogge In der Revolutionsregierung von 1918 war Müller Vorsit- Richard Müller. zender des „Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte“. Der Mann hinter der Formal war Richard Müller damit sogar das Staatsober- Novemberrevolution haupt der „Deutschen Sozialistischen Republik“ – einer Vorwort von Wolfgang Republik, die allerdings nur einige Monate unter diesem Wippermann Geschichte Titel firmierte und heute als „Weimarer Republik“ in den des Kommunismus und Geschichtsbüchern verzeichnet ist. Linkssozialismus, Bd. VII 240 Seiten, Hardcover, Müllers Einfluss in Berlin überstieg 1918 bei weitem den mit 7 Abb.,19,90 Euro, von Karl Liebknecht, der über Müller scharf fluchen konn- ISBN 978-3-320-02148-1 te, wenn er und die Spartakusgruppe sich wieder einmal in eine Nebenrolle verwiesen sahen. Das Kräfteverhält- nis zwischen den Revolu tionären Obleuten und der Nach- Liebknecht-KPD sollte sich frei lich drehen. Unabhängiger Sozialismus und Rätesystem, jene Prinzipien, die Richard Müller vertrat, wurden zwischen den Mühlsteinen von So- Von einem Rieinem Richard Müller wissen zumeist nur zialdemokratie und Marxismus- Leninismus zermahlen. noch Fachhistoriker, dass er in der Novemberrevolution von 1918 eine zentrale Rolle spielte: Richard Louis Müller Trotzdem beeinflusst Müller bis heute noch das Denken (1880–1943) war als Leiter der „Revolutionären Obleu- der Historiker. Seine dreibändige Revolutionsgeschichte te“ wesentlich an der Vorbereitung des 9. November be- mit dem Obertitel „Vom Kaiserreich zur Republik“, in den teiligt. Im Deutschen Metallarbeiter-Verband, seinerzeit Jahren 1924 und 1925 erschienen, bildet die wichtigste der größten Gewerkschaft der Welt, galt er als der An- zeitgenössische Revolutionsdarstellung aus marxistischer führer des linken Flügels. Schon die großen Berliner Mas- Sicht. senstreiks der Jahre 1916 bis 1918 hatte er illegal organi- siert. Autor: Ralf Hoffrogge, geboren 1980, Historiker. Studier- te Geschichte, Politik und Psychologie an der FU Berlin „Dieser Krieg hat vielen unserer Kollegen den Kopf ver- und an der Wa shington University in St. Louis (USA). Lan- dreht … und Auffassungen aufkommen lassen, wie man ge Zeit bildungspolitisch aktiv, u. a. als Hochschulreferent es vorher nicht für möglich gehalten hat.“ des AStA FU Berlin. Richard Müller

9 Landtagswahlen in Bayern Nicht drin – alles was ganz rechts ist. Aber: Die Wand ist weg!

Zu den eher unspektakulären Erfolgen stopp“) deutliche Erfolge. 1 Und mit dem scher Kräfte als auch in der Einbindung der Landtagswahlen in Bayern gehört, NPD-Multifunktionär Karl Richter prä- nationalkonservativer Kräfte in die CSU. dass rechtsextremistischen Parteien sentierten die Neonazis einen Reprä- Das Haus ist nun weg, und alle agieren- wiederum der Einzug in einen Landtag sentanten, der bei seiner Vereidigung de Parteien müssen sich neu orientie- verwehrt wurde. Damit ist der mehrfach als Stadtrat in München den Hitler-Gruß ren. und lauthals von NPD-Spitzenfunktionä- zeigte. Dieses Verhalten verdeutlichte In den letzten Tagen war immer wieder ren als sichere Erwartung angekündig- schlaglichtartig Elemente rechtsextre- als Hauptmerkmal der FREIEN WÄHLER te „Westaufschwung“ der Partei ausge- mistischer Grundpositionen. zu lesen, diese Gruppierung sei „Fleisch blieben. Kenner der rechtsextremen Szene im vom Fleische der CSU“. Spätestens Für die NPD entschieden sich in Bay- Freistaat hatten schon nach den Kom- jetzt ist zu fragen, was damit gemeint ern 123.273 Wahlberechtigte und diese munalwahlen differenzierte Analysen sein könnte und welchen rationalen Partei erreichte damit 1,2 Prozent aller und Einschätzungen vorgenommen. Sie Kern diese Behauptung hat. Die FREI- abgegebenen Stimmen. Wie schon zu- werden ihre kontinuierliche Arbeit si- EN WÄHLER haben mit 10,2 Prozent vor in Hessen und Niedersachsen ein cher nach den Landtagswahlen fortset- ein fulminantes Wahlergebnis eingefah- Desaster, eine deutliche Niederlage. zen. Eher aus der Ferne und im Vergleich ren und ihre Spitzenkandidatin Gabrie- Aber immerhin, es gibt vom Staat über zum aktuellen Stand rechtsextremisti- le Pauli sitzt nun im bayerischen Land- 100.000 Euro Wahlkampfkostenmittel scher Aktivitäten und zivilgesellschaftli- tag neben Abgeordneten ihrer früheren erstattet, die in der Parteikasse will- cher Gegenwehr in anderen Bundeslän- Partei CSU. kommen sein werden. dern fallen zwei Aspekte auf. In Bayern wie zum Beispiel auch in Bran- Die Partei der Republikaner, die seit Erstens denburg und anderswo verdienen Bür- kurzem von der Staatsregierung nicht Nicht nur die regionalen Zeitungen in gerbündnisse, die den erklärten Wil- mehr als rechtsextrem eingestuft und Bayern sind voll mit Berichten über De- len vieler Wähler ausdrücken und auf deshalb in Verfassungsberichten nicht monstrationen rechtsextremistischer kommunaler und Landes-Ebene eine mehr vorkommt, kam auf 1,4 Prozent. Parteien und zunehmender Gewalt im anerkannte Politik in „Sachfragen“ be- Auch dies reicht wenigstens, um Geld Freistaat. Aber auch von wachsendem treiben, Aufmerksamkeit und unbefan- in die Parteikasse zu bekommen. Es Engagement gegen die NPD und ande- genes Entgegenkommen anderer de- handelt sich um das Geld, das allen, die re Rechtsextreme kann man lesen. So mokratischer Kräfte. Ein Prüfstein wird die 1-Prozent-Hürde überspringen, laut wurde in diesem Jahr der Rudolf-Heß- sein, wie sich alle demokratischen Kräf- Parteiengesetz zusteht. Dem „Deutsch- Gedenkmarsch in Wunsiedel nicht nur te, einschließlich Bürgerbündnisse, auf landpakt“ gemäß trat in Bayern die DVU wegen eines Aufmarschverbotes für die abgestimmte Positionen gemeinsa- nicht in Konkurrenz zur NPD zu den aus ganz Deutschland und dem Ausland men praktischen Handelns gegen alle Wahlen an. angereisten Rechtsextremisten ein so rechtsextremistischen Erscheinungen Der spektakulärere Erfolg dieser Wahlen wenig wie nie beachtetes Ereignis. Ge- vor Ort und ganz grundsätzlich verstän- ist das Ende der absoluten Herrschaft festigt und ausgebaut wurde hingegen digen werden. Und dies kann in Bayern der CSU im Freistaat. Für diese letz- das Bündnis gesellschaftlicher Kräfte nur unter Einschluss der Partei DIE LIN- te, bisher absolutistisch herrschende aus allen demokratischen Parteien so- KE gelingen. Partei in einem deutschen Bundesland wie aus vielen örtlichen Organisationen Die Partei DIE LINKE hat aus dem Stand auch ein Desaster, in diesem Fall kann und Vereinen in Wunsiedel. bei der ersten Landtagswahl, zu der man auch von einer historischen Nie- sie in Bayern angetreten ist, 4,3 Pro- derlage sprechen. Es ist kein Wunder, Ein anderes Beispiel. Kommunalpolitiker zent erreicht, dies ist ein unbestreit- dass bayerische NPD-Kandidaten im und viele Einwohner beteiligen sich in barer Erfolg. Vor allem aber ist damit Wahlkampf starke Kritik an der CSU als der Gemeinde Warmensteinach (Ober- auch eine hervorragende Ausgangsba- Hauptrepräsentanten „des Systems“ pfalz) an Protesten gegen die NPD. Ein sis für die noch effektive Bekämpfung übten. Von Korruption, Vetternwirt- Lichtergottesdienst unter freiem Him- von Rechtsextremismus, Rassismus, schaft und politischer Unfähigkeit war mel 2 verdeutlichte, dass die NPD zu Ausländerfeindlichkeit und Antisemi- zu hören und zu lesen. In den Chor der- Wahlveranstaltungen im Ort nicht will- tismus gegeben Mitglieder und Sympa- jenigen, die unmittelbar nach der Wahl kommen ist und man sich den Begehr- thisanten der Partei DIE LINKE werden zuvorderst Genugtuung über die Nie- lichkeiten, im Ort eine Immobilie für auch in Bayern als zuverlässige, aktive derlage der CSU äußerten, stimmten Schulungszwecke der Partei zu erwer- Mitstreiter in überparteilichen Bündnis- auch bayerische NPD-Funktionäre mit ben, vehement und ausdauernd entge- sen geschätzt. ein – allerdings aus ganz anderen Mo- genstellen wird. tiven als die demokratischen Parteien. Zweitens Dr. Horst Helas Der bayerische Landesverband der NPD Und was ist mit der nun fehlenden ist (noch vor Sachsen) mit 1.100 Mit- Wand? 1 Zu den Ergebnissen rechtsextremistischer Parteien gliedern der stärkste Landesverband. Von Franz Josef Strauß stammt der und Organisationen vgl. Michael Barthel, in. Rund- Zu den Kommunalwahlen erzielte die selbstbewusste Satz: „Rechts von der brief, Heft 3/2008, S. 19 ff. und Andreas Thom- NPD über Tarnkonstruktionen in Mün- CSU ist nur noch die Hauswand!“ Diese sen, Ergebnisse der bayerischen Kommunalwahlen aus Sicht der LINKEN, in: Studienreihe „Zivilgesell- chen („Bürgerinitiative Pro München Behauptung hatte in Bayern viele Jahre schaftliche Bewegungen – Institutionalisierte Poli- e. V. – patriotisch und sozial“) und Bestand – sowohl hinsichtlich der Zu- tik“, April 2008. Nürnberg („Bürgerinitiative Ausländer- rückdrängung offen rechtsextremisti- 2 Siehe: Frankenpost, 29. 9. 2008.

10 Die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) –

Zur Diskussion um deren Verbot Die HDJ ist fest eingebunden in das ge- von 17 sowjetischen Panzern durch In der Vergangenheit sind Publikatio- samte rechtsextreme Spektrum in der den Nazi flieger Rudel, der Geburtstag nen und Meldungen, die sich mit dem BRD. des Nazidichters Hans Baumann und Auftreten der HDJ, ihren Zielen und Ak- Obwohl sie sich seriös und jugendpfle- der Todestag des belgischen Faschis- tivitäten in den verschiedenen Teilen gerisch in ihrer Internetpräsentation tenführers Leon Degrelle, der Geburts- Deutschlands beschäftigen, eher spo- gibt, spricht ihre gesamte Aktivität ei- tag des Hitler-Stellvertreters Rudolf radisch erschienen. Dies hat sich in ne andere Sprache. Die HDJ operiert Heß und der Tag der Hinrichtung der jüngster Zeit geändert. Offensichtlich in enger Verbindung mit der NPD, der Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg); unter Erklärungsdruck äußern sich nun Kameradschaftsszene und diversen an- in der Werbung für faschistische Bü- zunehmend auch Politiker und Verfas- deren rechtsextremen Organisationen. cher (z. B. des SS-Führers Erich Kern- sungsschutzorgane. Es mehren sich die Ein wichtiger Unterschied besteht da- mayer). Forderungen nach einem Verbot dieser bei darin, dass sie „einen bewussten - in der Teilnahme ganzer HDJ-Einheiten Organisation. Gegenpol zur neonazistischen Popmo- an der Ehrung faschistischer Führer. Im folgenden geben wir informativ eine derne mit all ihren provokant-peinlichen So wurde das Grab von Jutta Rüdiger Übersicht über die Ergebnisse der von Inszenierungen bildet. Sie sorgt für (1937 bis 1945 Reichsführerin des verschiedenen Journalisten, Politikern Selbstvergewisserung und bedient das Bundes Deutscher Mädel) besucht, und Behörden angestellten Recherchen, Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Hatecore, jährlich nimmt die HDJ am sogenann- die die Notwendigkeit erhärten, in der Anglizismen, grölende Saufgelage, Pier- ten „Tollense – Marsch“ bei Neubran- Öffentlichkeit stärker als bisher über die cings, einen ‚Black Block‘ – all das fin- denburg teil, der dem Andenken an HDJ aufzuklären und ihre Tätigkeit zu det man auf den Lagern der HDJ nicht, das faschistische Idol Horst Wessel unterbinden. Die wichtigste bisher er- stattdessen klare Hierarchien, militä- gewidmet ist. In Bad Reichenhall ge- schienene Publikation dazu ist die Ende rische Disziplin, festgelegte Geschlech- dachten HDJ-Mitglieder gefallener An- 2007 von Andrea Röpke verfasste Bro- terrollen und dazu das passende Out- gehöriger der SS-Division „Charle-ma- schüre 1 Die Autorin, eine seit langem fit in Uniformen und Haartrachten, die gne“. engagierte Streiterin gegen die neona- deutlich den alten Idealen von Hitler-Ju- - Selbstverständlich ist in der HDJ zistischen Umtriebe in der BRD und oft gend und dem Bund Deutscher Mädel die Verwendung nazistischer Be- auch persönlich bei ihrer Arbeit von Ne- nachempfunden sind“ 2. zeichnungen wie „Führerbunker“ onazis attackiert, hat in den letzten Mo- Weltanschaulicher Geist, ideologische zur Kennzeichnung von Zelten oder naten selbst umfangreich dazu beige- Ausrichtung und körperliche Ertüchti- von Sprachregelungen wie „Germa- tragen, ihre Erkenntnisse über die HDJ gung in der HDJ lassen keinen Zweifel nia“, „Reichshauptstadt“, „Reichsfah- in der Öffentlichkeit zu verbreiten. zu, dass es sich hier um eindeutige Ori- ne“, „großdeutscher Freiheitskampf“. entierung am Hitlerfaschismus, an der Selbst Hakenkreuzsymbole fanden Wie lassen sich die wesentlichen „nationalsozialistischen Jugenderzie- sich bei Durchsuchungen nach einem Erkenntnisse über die HDJ hung“ handelt. Die Belege bei Andrea Zeltlager bei Güstrow im August 2008 zusammenfassen? Röpke, im Informationsdienst „Blick (auf Schriftstücken und Geschirrhand- Die HDJ – offiziell in Eigenbezeichnung nach rechts“, in Zeitschriften und Ta- tüchern, Tagebüchern, Liedtexten seit 2001 „Heimattreue Deutsche Ju- geszeitungen sind vielfältig und können und kopierten Druckwerken). „Heil gend (HDJ) – Bund zum Schutz für Um- inzwischen auch nicht mehr von den Dir“ bzw. „Heil Euch!“ als Anrede welt, Mitwelt und Heimat e. V.“ – war Verfassungsschutzbehörden ignoriert von Führern und Mitgliedern ist gang ursprünglich eine Abspaltung aus dem werden. Sie finden sich und gäbe. Fahrtenmesser mit Flam- 1958 gegründeten „Bund Heimattreu- - bei der HDJ in der Auswahl der Vor- menzeichen werden verliehen wie SS- er Jugend“, einer der zahlreichen in der bilder und im vermittelten Geschichts- Ehrendolche. Geschichte der BRD gestarteten Ver- bild, in den Themen der Schulungen, - in direkten Begegnungen mit den noch suche, in der Nachfolge der 1945 un- in der Gestaltung der Feierstunden, verbliebenen Altnazis. Unter dem Mot- tergegangenen und verbotenen „Hitler- Flaggenspiele und anderen Rituale, in to „Jung fragt Alt, wie es wirklich ge- jugend (HJ)“, völkisch-nationalistische der weitgehenden Übernahme von HJ- wesen ist“ traf man sich mit ehema- Jugenderziehung neu zu beleben. So Sprache, in den Gedenkmärschen und ligen Angehörigen der Waffen-SS auf wie die HDJ einen Schleier um ihre wirk- in der Konzeption der körperlichen Er- Einladung der „Hilfsgemeinschaft auf lichen Ziele legt, so ungenau ist auch tüchtigung. Gegenseitigkeit der ehemaligen Ange- ihr zentraler Sitz mit einer Adresse in - in den Texten der Verbandszeitschrift hörigen der Waffen-SS (HIAG)“ in Hes- Berlin und ihrem bekannten Führungs- „Funkenflug“, die die faschistischen sen einschließlich „Eintopfessen“ wie zentrum in Plön. Im Dunst ist auch ihre Kriegshelden preisen, einen Lobge- zur Nazizeit. Mitgliederstärke, die auf 500 Mitglieder sang auf die Hitlerjugend anstim- geschätzt wird. Ihre Zielgruppe – „deut- men, Nazidichter wie Kurt Eggers Paramilitärische Übungen sche“ Kinder und Jugendliche im Alter (SS-Division „Totenkopf“) oder Her- Alle Autoren und Recherchen heben her- von 7 bis 29 Jahren – ist bundesweit bert Böhme (SA-Lyriker) vorstellen; in vor, dass militaristische oder paramilitä- anzutreffen und so hat sie in den ver- den Jahreskalendern der HDJ (im Ka- rische Abrichtung – von der HDJ selbst gangenen Jahren natürlich einen weit lender 2006 beispielsweise als „Ge- oft mit „soldatische Erziehung“ bezeich- größeren Kreis Heranwachsender nazis- denktage“ die „Rückkehr des Memel- net – ein weiteres wichtiges Kennzeichen tisch beeinflussen können. landes“ zum „Reich“, die Vernichtung der HDJ ist. Demokratische Erziehung

11 kommt bereits als Begriff bei der HDJ nen „Wikinhjugend“ (WJ) darstellt. Die- WJ-Aktivist Stefan Köster, heute Landes- nicht vor, Toleranz ist hier ein Schimpf- se nazistische Jugendorganisation, die vorsitzender der NPD in Mecklenburg- wort ( das sei ein „Kampfbegriff jener, sich ganz bewusst an ihr Vorbild, die Di- Vorpommern, aufgestiegen. die dem deutschen Volk Tag für Tag je- vision der Waffen-SS „Wiking“ anlehn- derlei abartige und dekadente Zumu- te, war zwar seit ihrer Gründung 1952 Heimattreue Deutsche Jugend tungen zukommen lassen“, hieß es in der jahrzehntelang in der BRD unbehelligt und NPD Verbandszeitschrift). Die HDJ ist klar am geblieben. Doch schließlich musste die Die Verbindungen und Beziehungen zwi- Führerprinzip ausgerichtet. Das schließt Bundesregierung in ihrer Verbotsverfü- schen HDJ und NPD sind umfassend. ein die Erziehung zum „Kämpfer“: „Wir gung zugeben, dass die Wikingjugend Praktisch betrachtet die neonazistische brauchen eine Jugend, die hart ist. (…) das Ziel verfolgt, „mit ihrer Tätigkeit die Partei die HDJ als Nachwuchs – und als Wir brauchen Kämpfer von fanatischer verfassungsmäßige Ordnung fortlau- Hilfsorganisation. Die Mitglieder der Besessenheit und zäher Ausdauer“, hieß fend zu untergraben und letztendlich zu HDJ finden bei der NPD Vorbilder und es im „Funkenflug“ und schon der erste beseitigen“. Das ergebe sich schon oh- Anleitung. Immer wieder treten führen- Bundesführer der HDJ, Alexander Scholz, ne weiteres aus dem Umstand, dass die de Funktionäre der NPD bei der Schu- deklarierte es so: „Wir verpflichten uns WJ in Programm, Vorstellungswelt und lung von Mitgliedern der HDJ auf. Jürgen Deutschland, indem wir geistige und kör- Gesamtstil eine Wesensverwandtschaft Rieger, inzwischen zum stellvertre- perliche Wehrhaftigkeit ausbilden“. In mit der früheren NSDAP und ihrer Teil- tenden NPD-Vorsitzenden aufgestiegen, straff durchorganisierten Lagern in Som- organisation „Hitlerjugend“ aufweise. gab in seinem Hetenhof in der Lünebur- mer und Winter werden anstrengende Andrea Röpke hat in ihrer Broschüre ger Heide jahrelang dem nazistischen Märschen, im Extremfall bis 150 Km seitenlang alles Wesentliche zur WJ auf- Nachwuchs Unterschlupf und war geis- und mit Gepäck, Geländeausbildung und gelistet. Es ist für die HDJ kennzeich- tiger Inspirator des Schulungszentrums. Härtetests („Überleben in der freien Na- nend, dass sie ihre Tätigkeit zwar in Als Leiter der „-Germa- tur“) durchgeführt. „Wir verlangen Diszi- Worten formal von der früheren WJ ab- nische Glaubensgemeinschaft“ konn- plin und Gehorsam!“ heißt es im HDJ-Ka- grenzt, in Arbeitsweise, Stil und Metho- te er dort seine rassistischen Thesen lender „Unser Leben 2008“. den aber nachahmt und fortführt. verbreiten. Er war auch Hauptredner Alle HDJ-Mitglieder tragen eine unifor- Sie weist auch personell nicht wenig bei einem der „Märkischen Kulturtage“, mähnliche Kleidung mit schwarzen Ho- Kontinuität zur WJ auf. So war der heu- die von der HDJ mitgetragen werden. sen und Jacken für Jungen und langen tige Bundesführer Sebastian Räbiger Auch die Hetzrede des führenden Neo- Röcken für Mädchen. Jeans sind ver- vor der Auflösung der WJ deren letzter nazis Ralph Tegethoff auf einem dieser pönt. Die Anführer tragen sichtbar ver- „Gaubeauftragter“ in Sachsen. In Dres- „Kulturtage“ ist dokumentiert, in der er schieden farbige Streifen auf der linken den fungierte auch Eric Kaden mit Wi- die Abschaffung des „BRD-Systems“ Brusttasche ihrer Uniform: goldene für kingjugend-Vergangenheit und dann ne- und seine Ersetzung durch einen „völ- Bundesführer und Bundesführerin, dann ben zahlreichen anderen Funktionen in kischen Staat“ propagierte. abgestuft in der Hierarchie silberne, ro- der rechtsextremen Szene bei der „Leit- Besonders eng sind die Verbindungen te, blaue und weiße. Verantwortliche im stelle Mitte“ der HDJ. Bereits in dritter der HDJ mit der NPD in Mecklenburg- Dienst tragen auch verschieden farbige Generation ist die Familie Nahrath in WJ Vorpommern nach deren Einzug in den Kordel- und Pfeifenschnüre. Das Mitte und HDJ aktiv. Raoul Nahrath war der Schweriner Landtag. Wünschte man sich 2007 erlassene Verbot des Bundesin- erste Bundesführer der WJ, Sohn Wolf- im „Funkenflug“ mehr Leute mit einer nenministeriums, Uniformen zu tragen, gang und Enkel Wolfram folgten ihm an Einstellung wie Udo Pastörs, dem Vor- wird missachtet. Nicht nur, dass die der Spitze. Auch Wolframs Bruder Dirk sitzenden der NPD-Landtagsfraktion, so HDJ gegen das Verbot Einspruch erhob, war 1994 „Gauführer“ Franken der WJ. lobt dieser im Gegenzug die Jugendar- die HDJ-Bundesführung spottete auch, Inzwischen sind deren Kinder schon in beit der HDJ als vorbildlich. Schließlich man sei nur „mäßig beeindruckt“ von den neonazistischen Jugendlagern ange- kommt Pastörs selbst aus der Wiking- der Tatsache, „dass man uns in die stil- kommen. Auch Wolfram Nahrath, heute jugend. Im starken Unterstützerkreis lose BRDisten-Uniform zwingen will. Wir als Rechtsanwalt für die NPD tätig, tritt für die HDJ in der Fraktion wirken ne- entscheiden immer noch selbst, wel- immer noch in Veranstaltungen der HDJ ben den Abgeordneten Tino Müller und che Kleidungsstücke wir tragen“. Daran auf und übernimmt auch mal die Ver- Stefan Köster auch die Mitarbeiter Da- ändere auch „ein Stück Papier mit amt- teidigung, wenn ein Funktionär der HDJ vid Petereit, Torgej Klingbiel und Jörg lichem Briefkopf nichts“. gerichtlich belangt wird. Ähnliche Fa- Hähnel mit. Tino Müller ist auch Anmel- Praktiziert wird die Anwendung körper- milientradition aus ihrem Leben in der der der Internetseite der HDJ. Hähnel, licher Strafen bei „Vergehen“ im Lager. WJ pflegt auch die NPD-Familie Börm. jetzt NPD-Landesvorsitzender in Berlin, Für das Verlieren oder Vergessen von Börm, heute Mitglied des Parteivorstan- ist mit seiner Frau Hella (ehemals Palau Sachen wurden zum Beispiel Liegestüt- des der NPD und Leiter ihres „Ordnungs- und ehemalige Partnerin des HDJ-Bun- ze verordnet. Auch Scheinhinrichtun- dienstes“, 1979 wegen Mitgliedschaft in desführers Räbiger) auch verbandelt gen wurden demonstriert und fotodoku- einer terroristischen Vereinigung und mit der „Einheit Preussen“ der HDJ. mentarisch festgehalten. Nicht zuletzt eines Überfalls auf ein Munitionsdepot In nicht wenigen Fällen übernehmen zeigen Waffenfunde bei Aktivisten der der Bundeswehr zu einer Haftstrafe ver- HDJ-Mitglieder Ordnerfunktionen bei HDJ, dass es bei ihnen nicht jugend- urteilt, war früher Gauführer der WJ in NPD-Veranstaltungen. Wie beim Pres- pflegerisch zugeht und gefährliche Ziele Niedersachsen. Im Sinne des „Lebens- sefest der NPD-Zeitung „Deutsche Stim- verfolgt werden. bund-Konzepts“ der WJ heiratete er die me“, findet man HDJ-Gruppen auch bei Schwester von Wolfram Nahrath, führte der „kulturellen Umrahmung“ für die Ne- In der Nachfolge der „Wikingjugend“ seine Kinder frühzeitig in die Reihen der onazipartei. So wie es auch zahlreiche Es liegen ausreichende Beweise dafür WJ und nimmt noch heute mit seiner Fa- Verbindungen zu anderen Neonaziorga- vor, dass die Tätigkeit der HDJ im Grun- milie an zahlreichen Aktivitäten der HDJ nisationen, insbesondere verschiedenen de eine Nachfolge der 1994 verbote- teil. Mit Börm ist auch der ehemalige Kameradschaften, gibt, so führen natür-

12 lich erst recht viele Wege von HDJ-Mit- mannsland“ (Westfalen und westliches schutzberichten auf die Gefährlichkeit gliedern zu den „Jungen Nationaldemo- Niedersachsen) und Nordrhein-Westfa- der HDJ hinwies. Gleichzeitig wurde in kraten“, der Jugendorganisation der NPD. len. „Süd“ kommandiert die Einheiten Berlin Kritik an Bayern und Hessen laut, Doppelmitgliedschaften werden dabei in Franken, Schwaben und Bayern. „Mitte“ die mit dem Verzicht auf die Erwähnung der Regel nicht öffentlich gemacht. schließlich ist für die Einheit „Preußen“ der HDJ in den Berichten deren Gefahr (früher „Berlin“) zuständig. Offensicht- herunterspielten. Erst recht hätte aber Rassismus, Antisemitismus lich hat sich aber der Aktionskreis über Kritik nach Sachsen gerichtet werden und hierarchisches Prinzip Brandenburg hinaus auch nach Sachsen- müssen, wo im Herbst 2007 das Innen- innerhalb der HDJ Anhalt und auf die neu gebildete Einheit ministerium bei Anfragen der Grünen Es vervollständigt nur das Charakterbild Sachsen/Niederschlesien ausgeweitet. und der Linken im Landtag immer noch der HDJ, wenn immer wieder auch von Da die Hauptform der HDJ-Zusammen- behauptete, dass von der Existenz eines rassistischen und antisemitischen Ten- künfte die Lager sind, finden sich solche sächsischen Landesverbandes der HDJ denzen in ihren Reihen berichtet wird. Veranstaltungen entsprechend vor allem nichts bekannt sei, während die HDJ be- Artikel im „Funkenflug“ hetzen gegen auf dem flachen Land, in der freien Na- reits im April stolz über die Feiern zur andersfarbige Fußballer und Kinder, ge- tur, in Jugendherbergen oder auch auf Gründung von Einheiten in Sachsen und gen „Zigeuner“ in Rumänien und ande- Privatgrundstücken. Bestimmte Schwer- Thüringen berichtete. ren Balkanländern. Die Kampagne des punkte deuten auf die Aktivität der ein- Das Bundesinnenministerium be- Deutschen Fußballbundes gegen den zelnen Einheiten hin. Viele Lager sind schränkte sich 2007 auf die Ablehnung Rassismus wird verhöhnt. Nazistische aber auch bundesweit angelegt, an de- eines Antrages der HDJ auf Zulassung Sprachregelungen zu den angeblichen nen verschiedene Einheiten teilnehmen. ihrer Kleidung, stellte aber fest, dass sie Vorzügen der „weißen Rasse“ oder zum Nicht wenige Aktivitäten wie Lager, Mär- die HDJ nicht als jugendpflegerische, Volk als „Schicksals- und Leistungsge- sche und Wanderungen konzentrieren sondern eindeutig als politische Organi- meinschaft“ bzw. „Erbanlagengemein- sich auf das Weserbergland, wo sich für sation betrachtet. Die von der HDJ dage- schaft“ werden übernommen. HDJ-Akti- die HDJ reichlich Anknüpfungspunkte gen formulierte Klage wurde ausgerech- visten wie Christian Fischer aus Vechta zum germanischen Kult finden lassen. net von Rechtsanwalt Wolfram Nahrath, und Ragnar D. (früher ansässig in Ber- Hervorstechend sind auch die Aktivitäten dem letzten Bundesführer der Wikingju- lin, jetzt in Wusterhusen, Student in in Mecklenburg und Franken. Zugenom- gend eingereicht. Greifswald, wo er auch als „Führer der men haben diese auch in Sachsen. Zunehmende Kritik der Medien an „hilf- Leitstelle Nord“ gilt) organisierten im losen“ und „wegschauenden“ Behörden Januar 2008 eine sogenannte „Ras- Der Weg zum Verbot gegenüber der HDJ und immer neue Be- seschulung“. Nach Ermittlungen des Zunächst ist festzuhalten, dass für ein richte über erhöhte Aktivitäten der Or- Staatsschutzes, der im Mai deren Woh- Vereinsverbot bei Vorliegen entspre- ganisation im Jahre 2008 haben nun zu nungen „wegen des Verdachts der straf- chender Gründe keine so schwierigen einer veränderten Situation geführt, die baren Verbreitung rechtsgerichteter Hürden wie für ein Parteiverbot beste- die Frage des Verbots der HDJ auf die Ideologien“ durchsuchte, soll D. mehre- hen, weshalb ja Innenminister von Bund Tagesordnung der Politik setzt. Sie ist re Vorträge gehalten und dabei den ver- und Ländern davon auch Gebrauch ge- nun auch im Bundestag angekommen, botenen NS-Hetzfilm „Der ewige Jude“ macht haben, wie zum Beispiel beim wo im Juni 2008 die Fraktionen Bündnis gezeigt haben. Außerdem soll er Kopi- Verbot von Kameradschaften oder wie 90/Die Grünen und der FDP in ähnlich en des Films gefertigt und verbreitet zu zuletzt bei dem rechtsextremen Verein formulierten Anträgen die Bundesregie- haben. Verdeckte antisemitische Hetze in Vlotho. rung auffordern, ein Verbot der „Nazi- findet sich, wenn in einem Artikel über Weiter ist bekannt, dass schon seit län- Jugendorganisation“ bzw. des „Vereins“ den ehemaligen Telekomchef Ron Som- gerer Zeit in mehreren Bundesländern Heimattreue Deutsche Jugend zu prü- mer dieser als „Israeli Aaron Sommer“ die Aktivitäten der HDJ von den Polizei- fen. In ihrer Begründung stützen sich vorgestellt wird, der „Deutschland ver- behörden beobachtet werden und ver- die Fraktionen dabei auf aktuelle Mel- kauft und verschachert“ habe oder in einzelt auch der Verfassungsschutz in dungen, aber im Kern auch auf den neu- der Diffamierung des Tagebuchs der Berichten Warnungen aussprach. So en Verfassungsschutzbericht des Bun- Anne Frank. führte in Brandenburg das polizeilich des für 2007, in dem der neonazistische Die HDJ verfügt über eine klar struktu- festgestellte provokatorische Auftreten Charakter der HDJ, ihre Rolle im rechts- rierte hierarchische Organisation. Weni- von uniformierten HDJ- Mitgliedern in extremen Spektrum und ihre umfangrei- ger klar zu erkennen sind die Auswahl Oranienburg zu Hausdurchsuchungen chen szeneübergreifenden Kontakte be- der Orte ihrer wichtigsten Aktivitäten und staatsanwaltschaftlichen Ermittlun- tont werden. Verbotsforderungen haben und die Methoden, mit denen Öffent- gen. Der bayrische Innenminister Herr- inzwischen der Zentralrat der Juden in lichkeit und Aufsichtsbehörden hinters mann stellte am 26. Oktober 2007 klar, Deutschland und weitere führende SPD- Licht geführt werden. dass die HDJ mindestens seit 2004 Beo- Funktionäre erhoben. Zunächst existieren vier verschiedene bachtungsobjekt ist, wobei er allerdings Die jüngste Verlautbarung aus dem Leitstellen – Nord in Greifswald, West meinte, noch keine gerichtsverwertba- Bundesinnenministerium zur Thematik in Detmold, Süd im bayrischen Alzenau, ren Erkenntnisse gewonnen zu haben, verzichtete weiter auf eine öffentliche Mitte in Berlin. Diesen sind so genann- wonach die HDJ als Nachfolgeorganisa- Festlegung. Ministeriumssprecher Ste- te „Einheiten“ als Untergruppierungen tion der Wikingjugend anzusehen sei. fan Paris erklärte am 13. August: „Über zugeordnet, die jedoch nicht einfach Deutlich forderte Berlins Innensenator Verbote sprechen wir nicht, Wir spre- identisch mit Bundesländern sind. Zu Erhart Körting Ende 2007 und im Mai chen sie aus.“ Er versicherte, dass man „Nord“ gehören die Einheiten Meck- 2008 ein Verbot der HDJ, unterstützt im Bereich der Sicherheitsbehörden in lenburg und Pommern, Nordland in von innenpolitischen Sprechern der SPD alle Richtungen, die damit zusammen- Schleswig-Holstein und Niedersachsen. und der Linkspartei. Berlin war das erste hängen könnten, denke und prüfe. Zu „West“ gehören die Einheiten „Her- Bundesland, das in seinen Verfassungs- Auch im Falle der HDJ ist klar, dass

13 ein Verbot allein nicht ausreicht, dass wie das zivilgesellschaftliche Engage- satz von Rechtsradikalismus“ müss- es nicht nur entschlossener Maßnah- ment gegen die neonazistischen und ten wir leben. Jesse, der auch die CDU- men zur Durchsetzung, sondern auch anderen rechtsextremen Strukturen. Fraktion im sächsischen Landtag berät, weiterer umfassender Aufklärung in bleibt seiner Rolle treu, neonazistische der Öffentlichkeit bedarf. Wichtige Zei- Nachbemerkung Gefahren zu bagatellisieren, so wie er chen setzten dabei zum Beispiel eine In der „Super-Illu“, Nr. 37/2008, „Fra- es auch im Falle der NPD zu tun pflegt. Elterndemonstration in Detmold gegen ge der Woche“, S. 7, übernahm es aus- Die oben erwähnten Fakten scheut er die Verführung von Kindern und Jugend- gerechnet ein „Rechtsextremismus- sich offenkundig, zur Kenntnis zu neh- lichen im Aktionsraum der Einheit „Her- Experte“ an der Universität Chemnitz, men. mannsland“ der HDJ, die rasche Auflö- Professor Eckhard Jesse, angesprochen sung des HDJ-Camps in Hohen Sprenz auf die bekannt gewordenen Aktivitäten Dr. sc. Roland Bach nach Hinweisen aufmerksamer Bürger der HDJ in ihren Ferienlagern in Meck- oder die Entfernung des HDJ-Führers lenburg-Vorpommern, deren Gefahr – 1 Vgl. Andrea Röpke, Ferien im Führerbunker. Die Ragnar Dam (wChef der Einheit Meck- einmal mehr – klein zu reden. Dies sei neonazistische Kindererziehung der Heimattreu- lenburg-Pommern und „Führer“ der Leit- eine „kleine, gesellschaftlich isolierte en Deutschen Jugend (HDJ). Mit einem Vorwort stelle Nord) aus dem Technischen Hilfs- Gruppe“. Die Gefahr bestehe eher dar- von Gideon Botsch, hrsg. v. d. Bildungsvereini- gung Arbeit und Leben Niedersachsen, Arbeitsstel- werk in Greifswald, wo er sich ebenfalls in, dass „wir sie größer machen, als sie le Rechtsextremismus und Gewalt, Braunschweig eingenistet hatte. ist“. Unsere Demokratie sei sehr wach- 2007. Vor allem gilt es, die demokratische Ju- sam, der Staat tue genug gegen den 2 Monitor, rundbrief des apabiz, Nr. 31, August 2007. gendarbeit ebenso weiter zu stärken Rechtsradikalismus, mit einem „Boden-

Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.) Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2008, 175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9

Antisemitismus sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie nach 1945 im- ist in der deut- mer Antifaschismen gegeben. Das entsprechende Handeln schen Gesell- von Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschau- schaft eine seit ung gründet sich auch in der Gegenwart auf unterschiedliche vielen Jahren re- Motive. Zudem meint Antifaschismus heute immer auch ein lativ unverän- PRO, das Eintreten für bestimmte Grundwerte der bestehen- derte Einstellung den Gesellschaft, ihre Verteidigung wie Ausgestaltung. eines großen Teils 2. „Die Linke“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung der Bevölkerung. zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der erneu- Trotz dieses Be- ten Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten ihrer fundes ist die Geschichte differenziert, kritisch und sachlich auseinander- Hartnäckigkeit setzen. Auch hier versteht es sich von selbst, die äußeren der vielen Akteure beim Kampf um die Zurückdrängung des Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten Kriegs, zu Antisemitismus in Deutschland bewunderns- und unterstüt- berücksichtigen. Dies sollte aber nicht zur Entschuldigung zenswert. Mehrere Beiträge in dieser Publikation belegen für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen und auch Ver- die lange Entwicklungsgeschichte von Antisemitismus. An- brechen im jeweiligen Deutschland. Dies gilt auch für eine dere beleuchten aktuelle Aspekte dieses Phänomens. Sie solche Frage wie die, ob es in der DDR Antisemitismus ge- bekräftigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus einen geben habe. Dieses Spezialthema der Geschichte der DDR unverwechselbar eigenständigen Platz in der Bekämpfung verdient Aufmerksamkeit. von Phobien verschiedenster Art innehat, der nicht relati- 3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten soll- viert werden sollte. ten aufhören, zwischen Rechtsextremismus und soge- Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausgewähl- nanntem Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu set- te Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz der zen – auch hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort wur- gesellschaftlicher Praxis sollte man den Trennungsstrich de das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen der zwischen all jenen Kräften, die die demokratische Grund- Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem breiten ordnung in Deutschland als ihren Handlungsrahmen anse- Interessentenkreis zugänglich zu machen. hen, und jenen, die das „ganze System“ und „alle System- parteien“ überwinden wollen, klar kenntlich lassen. Die Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätz- 4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir lichen Haltung benennen: immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussa- 1. Für Menschen, die sich zu „den Linken“ zählen, ist der Anti- gen von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. Di- faschismus ein unverzichtbarer Grundwert. Dass dieser Anti- es geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte möge faschismus keinesfalls monolithisch zu verstehen ist, versteht sich rechtfertigen.

14 Für die Wiederherstellung des Konsenses „Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus“

Zum 3. Oktober 2008, da das verein- fragten im Westen an. Nicht zustimmen land (35 Prozent) meinte zudem, dass te Deutschland mit 18 Jahren volljährig mochte rund die Hälfte aller Befragten Krieg ethisch gerechtfertigt sein kön- geworden war – so die allgemeine Les- der Aussage, sie könne es nachempfin- ne, um Freiheit und Menschenrechte art –, da erfuhren wir alle möglichen den, wenn jemand militärische Werte zu schützen. Dieser Aussage stimmten Zahlen über den Zustand und das Wol- und Tugenden bewundere (Ostdeutsch- nur 27 Prozent der befragten Westdeut- len der Deutschen, vom Verbrauch an land: 50 Prozent/Westdeutschland: 53 schen zu. Das bedenkliche Verhältnis Bier im ganzen Leben bis zu erotischen Prozent). Dass schon die Androhung zum Militär wurde auch darin deutlich, Vorlieben. Völlig untergegangen ist lei- militärischer Gewalt großen Schaden dass 40 Prozent der Ostdeutschen mei- der eine Umfrage, die zum 3. Oktober anrichtet, glauben 62 Prozent der Ost- nen, der Staat müsse über militärische veröffentlicht wurde und die Frage nach deutschen und 45 Prozent der West- Stärke verfügen, um bei internationalen Krieg und Frieden beinhaltete – ein The- deutschen. Konflikten glaubhaft verhandeln zu kön- ma, das die Deutschen in beiden deut- Es wäre interessant zu erfahren, wie die nen. Im Westen schlossen sich nur 33 schen Staaten Jahrzehnte lang umtrieb. Umfragewerte aussähen, wenn sie für Prozent dieser Aussage an. Die Befür- Geteilt nach Ost und West wurde in ei- Gesamtdeutschland erfragt worden wä- wortung des militärisch starken Staa- ner repräsentativen Studie von Prof. Dr. ren. Darüber gibt es nur eine Zahl, die tes, der Menschenrechtskriege und der Elmar Brähler, dem Leiter der Selbstän- immer wieder genannt wird, seit Forsa Außenpolitik der Stärke sind alles nati- digen Abteilung für Medizinische Psy- im Februar 2007 damit begann, nach onalistische und rechte Positionen, die chologie und Soziologie der Universität der Haltung der Deutschen zum Krieg sich in der Leipziger Studie äußern. Sie Leipzig, ermittelt: in Afghanistan zu fragen. 75 bis 80 Pro- müssen in Beziehung gesetzt werden Die Ostdeutschen stehen Krieg und zent werden genannt, die den Rückzug zu den rund 20 Prozent Deutschen, die Militär skeptischer gegenüber als ih- der deutschen Truppen aus Afghanis- ein mehr oder weniger geschlossenes re westdeutschen Landsleute – auch tan und keine neuen deutschen Trup- rechtsextremes Weltbild haben. 18 Jahre nach der Wiedervereinigung. pen dorthin wünschen. Doch so erfreut 75 Prozent der befragten Ostdeutschen sich die Friedensbewegung über diese Mehr Antifaschismus als gaben an, Krieg sei grundsätzlich mo- Umfragewerte äußert, so bleiben doch Antimilitarismus im Lande? ralisch verwerflich, während im Wes- Zweifel, ob damit eine ausreichende all- Es ergab sich, dass am 20. September ten Deutschlands nur 63 Prozent dieser gemeine Ablehnung von Kriegen seitens nicht nur in Stuttgart und Berlin für den Aussage zustimmten. Alles Militärische der Deutschen gegeben ist. Vor allem Frieden und den Abzug der deutschen als abstoßend empfinden nach eigener ergibt sich daraus noch keine Bereit- Truppen aus Afghanistan demonstriert Aussage 55 Prozent der Ostdeutschen, schaft, für den Frieden auf die Straße zu wurde, sondern auch in Köln gegen ein im Westen sagten dies nur 48 Prozent gehen, aktiv zu werden. Die Friedensde- internationales Treffen von Rassisten der Befragten. Dass die Bundesrepublik monstrationen in Berlin und Stuttgart und Ausländerfeinden, die sich auf Ein- weniger Geld für Rüstung ausgeben soll- am 20. September hätten sonst viel ladung der rechtsextremen „pro NRW“- te, meinten 64 Prozent der Menschen in größer und mächtiger ausfallen müssen Bewegung eingefunden hatten, um sich Ostdeutschland und 41 Prozent im Wes- als sie es waren. unter dem Vorwand der Islamkritik und ten. Sehr deutlich wurde in der Studie der Ablehnung von Moscheebauten für zudem, dass vor allem Frauen allem Mi- Was sind die Gründe? Offenbar engagie- die nächsten Wahlen zu positionieren. litärischen kritisch gegenüberstehen. ren sich weit weniger Menschen heute Über 50.000 Menschen aus Nordrhein- in Deutschland für den Frieden als es Westfalen bereiteten dem rechten Tref- Die Deutschen und der Krieg heute vor 1989 der Fall war. Bemerkenswert fen eine schwere Niederlage. Für die Studie hatten Prof. Brähler und ist gar die mangelnde Bereitschaft, die Antifaschistischer Protest wird also stär- Dr. Christopher Cohrs von der nordiri- wirklich ernsten sozialen Probleme mit ker, antimilitaristischer schwächer? Das schen Queen‘s University Belfast 2.524 der Abrüstungsfrage in Verbindung zu könnte man meinen. Es muss aber zu repräsentativ ausgewählte Personen in bringen. So erklärten in der Leipziger Köln auch beachtet werden, dass „pro Deutschland befragen lassen. In per- Studie trotz der grundsätzlichen Ableh- NRW“ auf einer Welle mit jenen kriegs- sönlichen Interviews wurden ihnen Aus- nung von Kriegen 44 Prozent der Ost- hetzerischen Positionen aus der Mit- sagen zu ethischen Aspekten von Krieg deutschen, die Bundeswehr solle mit te schwimmt, die unter dem Vorwand und Militär vorgelegt, zu denen sie sich besserer Technik ausgerüstet werden, des Kampfes gegen den „islamistischen zustimmend, ablehnend oder auch un- was lediglich 23 Prozent rundweg ab- Terrorismus“ für den Krieg agieren. In- entschieden äußern sollten. Dabei lehnten (Westdeutschland: 36 zu 25 sofern waren die Kölner antifaschisti- stimmte die Hälfte der im Westen Be- Prozent). Die Arbeitsplatzsicherheit in schen Demonstranten auch friedenspo- fragten der Aussage nicht zu, wonach der Rüstungsindustrie – Deutschland litisch engagiert. Krieg auf Grund der Natur des Men- ist viert größter Exporteur von Kriegs- Die Militärdoktrin des Neonazismus und schen unvermeidlich sei. Noch stärker waffen – scheint vielen wichtiger zu der anderen Kräfte der Rechten bleibt auf Ablehnung stieß die Aussage im Os- sein als die Bewahrung und Schaffung zumeist unbeachtet. Selbst wenn die ten, wo 63 Prozent der Befragten diese sozialer Standards durch Abrüstung. Nazis in Dortmund nun schon im vierten Annahme zurückwies. 69 Prozent der Die Haltung „das beste für unsere Sol- Jahr am Antikriegstag Anfang Septem- Ostdeutschen meinte, dass eine Welt daten“ und „Deutschland vorn“ spiegelt ber ihren bundesweiten „nationalen An- ohne Kriege im Prinzip möglich sei. Dem sich da ebenfalls wider. tikriegstag“ begehen, so begegnen dem schlossen sich auch 58 Prozent der Be- Ein Drittel der Menschen in Ostdeutsch- die Antifaschisten zumeist nur mit den

15 Losungen wie „Nazis raus aus unserer ten missbraucht, indem sie der Losung älteste Teilnehmer und zugleich der mit Stadt“ oder mit Äußerungen gegen die ‚Nie wieder Krieg …‘ die Worte hinzu- der persönlich größten militärischen Gewalt der Faschisten, nicht gegen die fügten ‚… nach unserem Sieg, dem Erfahrung wird Herbert Schweiger ge- Gewalt der Faschisten, die sich in ihrer Sieg des nationalen Sozialismus.‘ (So wesen sein: Als Kriegsfreiwilliger der Kriegsbereitschaft und Kriegshetze äu- geschehen im September 2005 in der Waffen-SS und letztlich im Range eines ßert. Rede von Neonaziredner Siegfried Bor- Untersturmführers (Leutnant) war er Jetzt haben sich ältere Dortmunder Anti- chardt.) Anstelle der Globalisierung ver- vom April 1941 bis zur Niederlage 1945 faschistinnen und Antifaschisten diesem langen die heutigen Nazis den weltwei- im Einsatz. Sein Fazit der vierten De- rechten Treiben mit sowohl antifaschis- ten Sieg des Nationalsozialismus, den monstration zum Antikriegstag in Dort- tischen als auch antimilitaristischen Ar- sie ‚nationalen Sozialismus‘ nennen; mund am 6. September: ‚Damals beim gumenten entgegengestellt. Eine „Ak- auf die Frage, was dann aus dem jü- Militär hätten wir gesagt: Manöverziel tion 65 plus“ führte am 6. September dischen, dem ‚auserwählten‘ Volk wer- erreicht!‘ “ Das sind gewiss keine Frie- in Dortmund einen 700 köpfigen spon- de; wird geantwortet, ihm gehöre dann denspositionen. tanen Demonstrationszug an. Ihre Er- doch ‚das Himmelreich‘. Die Staats- klärung lautete unter anderem.: anwaltschaft Dortmund verfügt über Deutschland soll wieder als „Aktion 65 plus – Wir haben es erlebt. Unterlagen, dass solche Äußerungen militärische Großmacht agieren Nie wieder. unter anderem im September 2005 Die Neonazis sind – und da unterschei- Bombennächte. Ständige Angst. Haus- in Dortmund gefallen sind. Doch die den sie sich nicht wesentlich von der durchsuchungen. Die Eltern im KZ. Ver- Staatsanwaltschaft erklärte, derartiges offiziellen deutschen Militärpolitik – für wandte sterben im Krieg. Nachbarn mit ist „noch nicht“ Volksverhetzung. Of- eine starke Bundeswehr, gegen Abrüs- dem gelben Stern werden abgeholt. fenbar ist in den Augen der deutschen tung, für den Kampf um deutsche Inter- Nachts träumen wir davon. Die Nach- Justiz die Kriegshetze keine Volksver- essen. Sie drängen in die Bundeswehr, folger der Nazibande, die das verschul- hetzung, nachdem Deutschland wieder allein schon um das „Waffenhandwerk“ dete, erheben wieder ihr Haupt. Jahr für an Kriegen beteiligt ist. zu erlernen. Sie sind zahlreich in den Jahr kommen sie nach Dortmund. Sie Bei der 2007 er Dortmunder „Anti- Reservistenverbänden vertreten. Sie rufen ‚Nie wieder Krieg‘ und fügen hin- kriegskundgebung“ der Neonazis sagte stehen in der Tradition der Wehrmacht. zu: ‚… nach unserem Sieg, dem Sieg ein ausländischer Redner: Er wolle Ihre Militärpolitik ist auf Revanche ge- des ‚nationalen Sozialismus‘. nicht den Holocaust leugnen, nein, er richtet. Das Maß ist voll. Sie reden von Frie- beglückwünsche die deutschen Ka- „Gegen eine von der extremen Rech- den, Antikapitalismus, ja Sozialismus. meraden zu ihrer Geschichte, und da- ten imaginierte Funktion der Einkrei- Das taten Hitler und Goebbels auch. zu gehöre auch Auschwitz. Auch diese sung als Mittel der Schwächung und Es kam zum furchtbarsten aller Kriege. Äußerung blieb ohne juristische Konse- Niederhaltung Deutschlands fordert sie Zur schlimmsten Form des Kapitalis- quenz. Deutschlands ‚Lebensrecht und Mis- mus: Nicht nur Ausbeutung durch Ar- Die „Aktion 65 plus“ auf ihrer Presse- sion‘, schreibt Fabian Virchow in sei- beit, sondern Vernichtung durch Arbeit. konferenz: „Wir verweisen besonders ner Studie über „Internationale Bezie- Es kam zur Versklavung und zum Holo- darauf, dass die Ankündigung des welt- hungen und Militär in den politischen caust. Wir sehen nicht mehr zu. Wir Äl- weiten Sieges des ‚nationalen Sozia- Konzeptionen der extremen Rechten“, teren, die Aktion 65 plus, werden den lismus‘ durch die heutigen Nazis sich die der Mitarbeiter des Marburger Uni- Nazis am 6. 9. entgegentreten. Wir wer- als die Drohung mit Krieg, Faschismus, versitätszentrum für Konfliktforschung den sie blockieren. (…)“ Völkermord und Massenmord an den unter dem Titel „Gegen den Zivilismus“ Juden erweist.“ Bei der Gelegenheit herausbrachte (Wiesbaden 2006). Die Die Kriegshetze der Neonazis heute wurde auch angekündigt, dass sich die mit der „kleinstdeutschen Einheit vom Die „Aktion 65 plus“ forderte auf einer Senioren an die Orte der Stolpersteine Rhein zur Oder“ verbundenen Gebiets- Pressekonferenz – leider vergeblich – zum Gedenken an NS-Opfer begeben verluste werden von den Rechten be- das Verbot des Nazi-Aufmarsches zum wollten, um den Nazis das Betreten die- klagt: „Was ist schon ein Deutschland „Nationalen Antikriegstag“, der am ser Orte zu verweigern und sich ihnen ohne Schlesien, Ostpreußen, Öster- 6. September stattfand. Dabei wird von in den Weg zu stellen. Dies wurde der reich oder Südtirol?“ (Zitat auf S. 112 den Neonazis nicht der 1. September „Aktion 65 plus“ von der Polizei verbo- bei Virchow) Die extreme Rechte, so 1939, Tag des Kriegsbeginns durch den ten. Virchow, strebt mit ihrer Friedensrhe- Überfall auf Polen, das heißt in ihrer Die Nazis von heute ergehen sich in ei- torik die Durchsetzung eines völkisch- Sprache des „Zurückschießens ab 5.45 ner Friedenspropaganda, die von vielen arrondierten und mit umfassenden Uhr“ (so Hitler) als Anlass genannt, son- Antifaschisten als Friedensdemagogie Gewaltmitteln ausgestatteten Groß- dern der Tag des Kriegseintritts des mit erkannt wird. Das ist ungenau definiert. Deutschland an. „Dieses soll nach weit- Polen verbündeten Großbritanniens und Die Nazis sind nämlich wirklich gegen reichender Militarisierung von Militär Frankreichs am 3. September 1939. diesen Imperialismus, wie er sich heu- und Gesellschaft als imperiale europä- Sprecher der „Aktion 65 plus“ dazu: te darstellt, gegen diese Kriege unter ische Ordnungsmacht und weltpolitisch „Am 1. September 1939 überfiel Na- deutscher Beteiligung, wie wir sie erle- als Gegenpol gegenüber den USA auf- zideutschland Polen. Die Nachfolger ben. Man könnte es zusammenfassend treten.“ der Nazis, die in ihren Programmen so sehen: Sie sind gegen den Krieg, weil die Beseitigung der polnischen Nach- er und den USA dient. Sie wollen Ultrarechte sind keine Verbündeten kriegsgrenzen und das Annektieren ihre eigenen deutschen Kriege. der Friedensbewegung polnischen Gebietes fordern, sie bla- (Demonstrationsleiter Die faktische Zweiteilung der antimili- sen erneut zum Feldzug gen Osten. unzähliger Naziaufmärsche) fasste die taristischen und der antifaschistischen Es wurde bereits wiederholt der Anti- Erfahrungen seiner Naziclique am 6. 9. Bewegung in der Gegenwart muss kriegstag 1. September von NS-Leu- in Dortmund so zusammen: „Der wohl überwunden werden. Ultrarechte sind

16 im Friedenskampf keine Verbündeten, fassungswidrige Bundeswehreinsatz in diesem Vertrag sagen wir Nein! Eben- auch wenn sie wie Peter Gauweiler von Heiligendamm 2007 stellte einen wei- so lehnen wir die nach wie vor immens der CSU gegen den Afghanistan-Ein- teren Schritt zur inneren Militarisierung hohen Rüstungsausgaben in Deutsch- satz wirken. Diese Leute wollen nicht dar. Mit der geschürten Anti-Terror-Hys- land und die damit finanzierte Umrüs- die Überwindung der Kriege, sondern terie werden an breiter Front in einem tung der Bundeswehr zur Interventions- andere Kriege. nie da gewesenen Maße demokratische armee ab. Stattdessen unterstützen Die VVN-BdA beschloss im Mai dieses Grundrechte ausgehöhlt.“ Statt „Rassis- wir Maßnahmen ziviler Konfliktbearbei- Jahres auf ihrem Bundeskongress in mus und Fremdenfeindlichkeit – auch tung und fordern deren Ausbau.“ Zum Berlin „die Wiederherstellung des anti- unter dem Deckmantel des Kampfes inneren Zustand der Truppe heißt es: faschistischen und antimilitaristischen gegen den Terrorismus“ zuzulassen gel- „Wir verurteilen die Traditionsarbeit in Konsenses.“ In der Resolution heißt es: te es, so die VVN-BdA, „die Demokra- der Bundeswehr nach dem Muster der Der Einstieg der deutschen Politik in tie und die Menschenrechte“ zu vertei- Hitler-Wehrmacht. Neben der rechten Kriegshandlungen wurde damit begrün- digen. „Gegen die Militarisierung ist die Haupttendenz der Truppe, existiert die det, man müsse Krieg führen, um ein Forderung nach Abschaffung der Wehr- neofaschistische Wühlarbeit in der Trup- Auschwitz nicht wieder zuzulassen. Es pflicht zu setzen, und jede neue Form pe weiter. Nazis wollen Einfluss in der gilt jedoch: Auschwitz wurde erst durch von Zwangsdiensten („Zivildienst durch Bundeswehr und in der Gesellschaft, Krieg möglich. Die Verpflichtung „Nie alle“ á la CSU) ist entschieden zurück- und sie wollen Waffen und Waffenkun- wieder Krieg – nie wieder Faschismus“ zuweisen.“ de. Dagegen ist Wachsamkeit geboten. mit ihren beiden Seiten ist wiederher- Der Einfluss alter und neuer Nazis auf zustellen. Das Völkerrecht verbietet, Unabdingbar: die Bundeswehr ist zu unterbinden.“ entsprechend der UNO-Charta Artikel Aussagen zu Israel und zur EU 53 und 107, Deutschland das Kriegfüh- Im Entwurf zu der Resolution, vorgelegt Ein Fazit ren. Das Grundgesetz mit seinem Ver- von der Landesdelegiertenkonferenz Erforderlich ist die enge Verbindung bot der Vorbereitung und Führung von Nordrhein-Westfalen der VVN-BdA, von Antimilitarismus/Antifaschismus Angriffskriegen (Artikel 26) und das hieß es auch: „Der Konflikt zwischen mit der Friedensbewegung. Wir brau- Völkerrecht sind zu verteidigen und an- Israel und den Palästinensern ist trotz chen eine Friedensbewegung, die auch zuwenden. Von diesen Prinzipien gehen aktueller positiver Zeichen nach wie vor eine Demokratiebewegung ist, eine wir aus, wenn wir uns in die Aktionen von Gewalt geprägt. Wir setzen uns ein Bewegung gegen Ausgrenzungen, Ab- der Friedenbewegung einbringen. Vor für ein Ende der Besatzung des Iraks schiebungen und Verweigerung des allem in drei Bereichen gefährdet die und für eine Verhandlungslösung des Asylrechtes. Dazu müsste an den Kon- Politik der Bundesregierung eine fried- Iran-Atomkonflikts. Wir setzen uns ein sens von 1945 wieder angeknüpft wer- liche Entwicklung unseres Landes: Es für ein Ende der Gewalt im Nahost-Kon- den, der besagt: „Die Vernichtung des sind die Auslandseinsätze der Bundes- flikt und für dessen politische Lösung, Nazismus mit seinen Wurzeln ist un- wehr, das Festhalten an der Teilhabe welche in der Beendigung der Beset- sere Losung. Der Aufbau einer neuen Deutschlands an Atomwaffen im Rah- zung der palästinensischen Gebiete Welt des Friedens und der Freiheit ist men der NATO und die innerstaatliche durch Israel, die Bildung eines palästi- unser Ziel.“ (Schwur von Buchenwald) Aufrüstung und Militarisierung.“ „Aus- nensischen Staates und der gegensei- Das bedeutet vor allem: Die Einhaltung führlich wird gegen die „innerstaatliche tigen Anerkennung Israels und des pa- der UNO-Charta und des Völkerrechts. Militarisierung“ argumentiert: „Eine be- lästinensischen Staates liegen muss.“ In Potsdam wurde den Deutschen je- drohliche Entwicklung nimmt die Mili- Die nordrhein–westfälische Landes- de nazistische und militaristische Be- tarisierung im Innern unseres Landes. delegiertenkonferenz der VVN-BdA im tätigung und Propaganda verboten. Bis zu eine Million Soldaten stehen als Februar 2008 hielt nicht nur eine Aus- Deutschland hat sich aufgrund seiner Reservisten ständig zum Militäreinsa- sage zum Nahen Osten für unabdingbar, Geschichte ganz aus Kriegen fernzuhal- tz im Innern der Republik bereit – ge- sondern auch eine Stellungnahme zur ten. Es gelten die UNO-Charta-Artikel gen unser Demonstrationsrecht, gegen Aufrüstung und zur EU. „Statt der EU fort, die Deutschland das Kriegführen Streiks und freie Meinungsäußerung. eine Verantwortung für eine friedliche verbieten. Und es gilt das Grundgesetz, In Bund und Land, in Stadt und Land- Entwicklung in der Welt zuzuschrei- dessen Grundrechte-Katalog und des- kreis werden Polizei und Bundeswehr, ben, legt der aktuelle EU-Reformver- sen antimilitaristische und demokra- z. T. auch Geheimdienste zusammenge- trag eine ständige Aufrüstung fest, fer- tische Bestandteile zu verteidigen sind. fasst, um als schwerbewaffneter Hei- ner den Einsatz von EU-Kampftruppen matschutz zu agieren.“ (…) Der ver- und einen eigenen Militärhaushalt. Zu Ulrich Sander

17 Wer nicht fühlen will muss hören – Mit Musik gegen Nazis

Während die staatliche Unterstützung so Falco Schuhmann vom apabiz (An- über Musik-Zeitschriften und auf Kon- für Initiativen gegen Rechtsextremis- tifaschistisches Pressearchiv und Bil- zerten sowie an Schulen kostenlos ver- mus immer weiter gekürzt wird, star- dungszentrum) in Berlin. teilt wird. Das apabiz ist eines der wich- tete die Berliner Punkband ZSK auf tigsten Bildungszentren zum Thema eigene Faust ein deutschlandweites Worum es geht Rechtsextremismus in Deutschland. 3 Jugend-Projekt gegen Rechts. Mit Bei der vergangenen Bundestagswahl Die erste Auflage betrug insgesamt mehr als 100.000 kostenlosen DVDs hat die NPD ihr Wahlergebnis von 0,5 70.000 Exemplare. Finanziert wurde und 500.000 Schülerzeitungen gegen auf 1,6 Prozent mehr als verdreifacht. die komplette Filmproduktion aus ei- Rechts beziehen Künstler Stellung ge- Das sind rund 750.000 NPD-Zweitstim- genen Mitteln der Band ZSK. Die Pres- gen Rassismus und rechte Ideologien. men, aus denen sich wiederum eine sung der DVDs wurde durch die Spen- Im April 2006 erschienen die erste Auf- Wahlkampfkostenrückerstattung von den von mehr als 25 Sponsoren und lage der kostenlosen DVD „Kein Bock 630.000 Euro im Jahr ergibt. Zudem Einzelpersonen ermöglicht. Zusätzlich Auf Nazis“ und die gleichnamige Schü- hat die die NPD, mit Hilfe militanter zur DVD wurde kurze Zeit später eine lerzeitung. In den zwei Jahren Laufzeit Kameradschaften, nach eigener Anga- gleichnamige Schülerzeitung in einer hat das Projekte tausende Pakete mit be schon über 100.000 Exemplare, der Auflage von 500.000 Stück gedruckt DVDs, Flyern und Zeitungen an lokale so genannten Schulhof-CD mit rechts- und verteilt. Initiativen, Schülergruppen und Kam- extremer Musik und Propaganda an Die „Kein Bock Auf Nazis“ – DVD ist in pagnen gegen Rechts verschickt. Die Schulen verteilt. vier Teile gegliedert: Interviews mit den Resonanz ist groß. Jede Woche kom- Gleichzeitig steigt die Anzahl der Straf- beteiligten Musikern, Schauspielern; ei- men mehr als 100 Mails von Jugend- taten von Rechts immer weiter an. Vie- ne 40minütige Dokumentation der „Bil- lichen, die sich an dem Projekt betei- lerorts hat sich eine rechte Jugendkul- dungsvereinigung Arbeit und Leben ligen wollen. tur fest etabliert und Neonazis gehören Niedersachsen“ mit dem Titel „Wir ero- Unterstützt wird Kein Bock Auf Na- schon ins normale Stadtbild. Fast jeden bern die Städte vom Land aus! Portrait zis von Prominenten der deutschen Tag gibt es irgendwo in Deutschland einer neonazistischen Keimzelle“; Por- Musikszene wie: Die Ärzte, Wir Sind Übergriffe auf alternative Jugendliche, traits von vier erfolgreichen Jugend-In- Helden, Fettes Brot, Beatsteaks, Die Migranten und Obdachlose. In letzter itiativen gegen Rechtsextremismus; im Toten Hosen, Donots, ZSK, Muff Pot- Zeit gibt es immer häufiger Angriffe von Abspann werden in jeweils 2 bis 3 Sät- ter, Julia Hummer, Culcha Candela und Rechts. Solche Vorfälle sind kein Einzel- zen die Einzelschicksale von 138 Men- Madsen. Über Musikmagazine, auf Kon- fall. Die Berliner Beratungsstelle für Op- schen beschrieben, die in den letzten zerten und über die Webseite werden fer rechter Gewalt Reachout e. V. zähl- Jahren von Neonazis in Deutschland er- die Gratis-DVDs an Jugendliche, Schu- te im vergangenen Jahr allein in Berlin mordet wurden. len und Jugendzentren in ganz Deutsch- 122 Gewalttaten von Rechts; das sind In den Interviews mit den Musikern und land verteilt. drei Mal so viele Übergriffe wie im Jahr Schauspielern erzählen diese von ihren „Mit ‚Kein Bock Auf Nazis‘ wollen wir 2003 (42). 1 Die Beratungsstelle Op- Erfahrungen mit Neonazis und erklä- ein klares Zeichen gegen Rassismus ferperspektive e. V. zählte in den letz- ren, warum sie sich als Künstler gegen und gegen Rechts setzen. Es hilft nicht, ten zehn Jahren 138 Todesopfer durch Rechts stark machen. Die Initiativen wenn man das Rechtsextremismus- rechte Gewalt. 2 stellen ihre Arbeit vor und berichten Problem ignoriert oder verharmlost. Ziel des DVD-Projekts ist es, Jugend- von ihren Erfahrungen bei der Arbeit Man muss den Rechten immer und lichen Mut zu machen, sich gegen rech- gegen Rechtsextremismus. überall offensiv entgegentreten“, sagt te Tendenzen in ihrem Umfeld zu weh- Die Dokumentation der „Bildungsver- Joshi, Sänger der Band ZSK. „Gerade ren und eine nicht-rechte Jugendkultur einigung Arbeit und Leben Niedersach- in Zeiten, wo sich die Neonazis betont zu fördern. „Vor allem in ländlichen Re- sen“ mit dem Titel „Wir erobern die modern und jugendlich zu geben versu- gionen sind kulturelle Alternativange- Städte vom Land aus! Portrait einer ne- chen, ist es umso wichtiger deutlich zu bote ein wichtiger Schritt um den rech- onazistischen Keimzelle“ wurde 2005 machen, dass es für die menschenver- ten Mainstream in den Jugendkulturen von André Aden und Andrea Röpke ge- achtende Ideologie der Rechten keinen zu durchbrechen. Eigeninitiativen von dreht und für die „Kein Bock Auf Na- Platz geben darf“, ergänzt Flori, Schlag- nicht-rechten Jugendlichen haben so- zis“ – DVD freundlicherweise zur Ver- zeuger von ZSK. mit eine herausragende Bedeutung im fügung gestellt. Die Aktivitäten von Der 80minütige Film enthält Inter- Kampf gegen Rechts und sollten des- Neonazis und ihre Versuche, sich im views mit den beteiligten Musikern und halb nach Kräften unterstützt und ge- ländlichen Raum zu etablieren, bilden Schauspielern, eine Dokumentation fördert werden“, erklärt Falco Schuh- den Hintergrund dieser Dokumenta- über rechte Strukturen in Deutschland mann vom apabiz. tion. Obwohl der Film sich primär mit und Portraits von vier erfolgreichen Ju- Neonazis-Strukturen in Niedersachsen gend-Initiativen gegen Rechtsextremis- Zum Konzept des Projekts beschäftigt, ist die geschilderte Situati- mus. „Diese DVD zeigt Jugendlichen, Die Berliner Band ZSK (www.z-s-k.de) on beispielhaft für Neonazi-Aktivitäten dass sie nicht alleine dastehen, wenn hat in Kooperation mit dem Antifaschis- in vielen teilen Deutschlands. sie ihre Stimme gegen Rechts erheben. tische Pressearchiv und Bildungszent- Folgende Jugend-Initiativen werden auf Verschiedene Initiativen und promi- rum Berlin eine Informations-DVD ge- der DVD vorgestellt: nente Künstler machen Mut und zeigen, gen Rechtsextremismus produziert, Die „We will Rock you“ – Kampagne. dass Engagement auch cool sein kann“, welche über die Webseite des Projekts, Die Kampagne hat sich zum Ziel ge-

18 setzt, Rechtsrock in seinen Struktu- Das Festival findet jedes Jahr in einem die Vernetzung all derer voran bringen, ren öffentlich zu machen und führt Bezirk statt, der in den Medien oft als die ganz einfach keinen Bock auf Nazis Demonstrationen und Outingaktionen „national-befreite Zone“ benannt wird. in ihrer Szene haben, sondern mit Spaß gegen rechtsradikale Läden, Labels und Auf diesem Festival haben nicht-rechte und ohne Ausgrenzung nette Konzerte, Bands durch. In Nordrhein-Westfalen Jugendliche die Möglichkeit, eine Par- Partys und Feste organisieren und er- hatte die Kampagne große Erfolge und ty nur für sie zu besuchen und ihre Ju- leben wollen. Etliche Labels, Plattenlä- wird zurzeit auch in Berlin und Branden- gendkultur im eigenen Bezirk auszule- den, Versände, Bands, Manager oder burg durchgeführt. Die Kampagne rich- ben, vor allem aber einen Abend lang Produzenten haben bereits gemeinsam tet sich an alternative Jugendliche im ohne Angst vor Übergriffen durch Neo- mit „Turn it Down“ klar gemacht, dass Allgemeinen, aber auch an „normale“ nazis gemeinsam zu feiern. Das Festival „Gegen Rechts“ für sie mehr als eine Bürger, die zum Teil gar nicht wissen, ist ein enormer Schub für diese Jugend- Imagefrage ist. dass der neue Laden in der Nachbar- lichen und vermittelt nur zweitrangig po- Die DVD richtet sich an alle Jugend- schaft knallharte Nazi-Musik verkauft. litische Inhalte. Mit mehreren Hundert lichen, die nicht mit der menschen- Die Kampagne „Stop Thor Steinar“. Besuchern ist das Festival ein wichtiger verachtenden Ideologie der Neonazis Die Kampagne richtet sich gegen die Schritt zur Förderung einer nicht-rech- einverstanden sind. Es sollen Möglich- rechte Klamottenmarke Thor Steinar ten Jugendkultur in Berlin-Treptow und keiten zum eigenen Handeln gegen und versucht mit öffentlicher Aufklä- ein gutes Beispiel wie man mit einer sol- Rechts aufgezeigt werden und Mut ge- rung der Marke den Markt zu entzie- chen Veranstaltung eine nicht-rechte Ju- macht werden, diese Möglichkeiten hen. Durch die umfangreiche Medienar- gendkultur in einem von Rechts domi- auch auszuschöpfen. Außerdem soll beit der Kampagne gab es schon einige nierten Bezirk fördern kann. der Vernetzungsgedanken für eine al- Erfolge und die Positionen der Initiati- „Turn it Down“ – Initiative gegen Rech- ternative, nicht-rechte Jugendkultur in ve konnten eine breite Medienöffent- te Musik. Deutschland gefördert werden. lichkeit erlangen. Unter anderem kann Das Projekt „Turn it Down“ beschäftigt das gerichtliche Verbot des Runen-Lo- sich seit langem mit rechter Jugendkul- Mehr Infos gibt es unter: gos der Marke nach § 86a im letzten tur, insbesondere mit rechter Musik. Zu- www.keinbockaufnazis.de Jahr auf die Medienarbeit der Initiative sammen mit Leuten aus verschiedenen zurückgeführt werden. Musikszenen entstand die Idee, ein Fo- 1 Vgl. www.reachoutberlin.de Die Organisation des „Le Monde est a rum für Musik und Kultur sowie gegen 2 Vgl. www.opferperspektive.de nous“ – Festivals in Berlin-Treptow. Rechts zu erstellen. „Turn it Down“ will 3 Vgl. seine Internet-Seite: www.apabiz.de

19 Fast zwanzig Jahre später: Zur „linken“ Streitkultur in Deutschland. Zum Beispiel: Antisemitismus in der DDR? Ja, aber …

Im Herbst 1989, als die DDR von einem an gehindert worden, am antifaschisti- jungen Wissenschaftler, die in der DDR souveränen Staat zu einem „Anschluss- schen Kampf mitzuwirken, nicht Wenige sozialisiert und ausgebildet worden wa- gebiet“ mutierte, gaben mir persönlich wurden von den „eigenen Leuten“ er- ren, hatten und haben oft mit Karriere- zwei Ereignisse Hoffnung für eigenes mordet. Tatsache ist auch: in der Kom- knick oder gar zwangsläufigem Berufs- künftiges politisches Engagement und munistischen Internationale herrschte wechsel zu kämpfen. für das Beschäftigen mit Gewesenem. das strikt durchgesetzte Gebot, die In- Die Beachtung der Würde jedes Men- Erstens war da der Satz in Michael Schu- teressen der sowjetischen Außenpoli- schen, das Geben wie Nehmen von kol- manns Referat auf dem Außerordent- tik hätten in jedem Einzelfall absoluten legialer Herzenswärme und Solidarität lichen Parteitag der SED am 16. Dezem- Vorrang gegenüber nationalen Bündnis- spielen mit eine wichtige Rolle, wenn ber 1989: „Wir brechen unwiderruflich möglichkeiten. Dies behinderte zeitwei- ich erklären soll, warum ich immer noch mit dem Stalinismus als System!“ 1 Ich lig den antifaschistischen Kampf in ver- „links“ bin und mich weiterhin unter an- halte diese Aussage (wie die gesamte schiedenen Ländern. derem mit der Geschichte des 20. Jahr- Rede) immer noch für einen zentra- hunderts beschäftige. Seit dem Herbst len Bestandteil „linken“ Geschichtsver- Zwischenbemerkung 1989 begegnen mir – bei wechselnden ständnisses. Auch wenn dieses Konzept Wenn ich von „linker“ Streitkultur spre- Gegenständen – immer wieder die glei- seinerzeit vor allem auf das politische che, meine ich durchaus Verschiede- chen Stereotype, die als gegebene Ar- Agieren für einen verbesserten Sozia- nes, das macht die Sache schwierig. gumentationsmuster daher kommen. lismus gemünzt war, sollte nicht hinter Da ist zunächst die Formel „links“. Dazu Vieles an ihnen mag zur Erklärung dieses Erkenntnisniveau zurückgefal- rechne ich all jene in der bunten Palette von Sachverhalten hilfreich sein, letzt- len werden – sowohl für selbstkritische von Akteuren, die die Zustände der ge- lich überzeugen tun sie in der Summe und kritische „linke“ Beschäftigung mit genwärtigen Gesellschaft nicht für gott- nicht. Geschichte als auch wegen der Glaub- gegeben, sondern für veränderbar und Anhand der Debatte um die Wanderaus- würdigkeit gegenüber anderen demo- veränderungsbedürftig halten. Ich mei- stellung der Amadeu-Antonio-Stiftung kratischen Kräften in Deutschland wie ne alle jene, die dies mit legitimen Mit- „Das hat’s bei uns nicht gegeben!“ An- im Ausland. teln erreichen wollen, für die die Men- tisemitismus in der DDR möchte ich Auch das wieder häufiger zu hörende schenrechte universell gültig sind und darauf näher eingehen. Selbstverständ- Argument, das Stalinismus-Thema habe in jedem Falle absolute Priorität haben. lich ist meine Wahrnehmung subjektiv. sich in den politischen Auseinanderset- Das wäre die eine Richtung der Debat- Die Debatte um diese Ausstellung wur- zungen der vergangenen zwanzig Jahre te, in der sich „Linke“ manchmal durch de vor allem durch die Heftigkeit man- eigentlich erledigt, es wäre ein „Neben- ihre „Streitkultur“ untereinander eher cher Dispute zu einem besonders spek- kampfplatz“ geworden, halte ich für trü- öffentlich blamieren als dass sie für an- takulären Fall „erhoben“. Eigentlich gerisch. Die kontroversen Debatten um dere Vorbild sind. steht diese Ausstellung und ihr Begleit- das neue Denkzeichen in Berlin-Fried- Die andere Richtung betrifft den Platz, programm in einem Kontext zu zahl- richsfelde für die Opfer des Stalinismus, den „linker“ Umgang mit Geschichte in reichen vergleichbaren Aktivitäten des innerhalb wie außerhalb „der Linken“, der deutschen Gesellschaft von heute Bemühens um eine kritische und selbst- bezeugen in aller Deutlichkeit, dass „objektiv“ ausfüllen muss. Zunächst re- kritische Aufarbeitung von Vorgängen nach wie vor erhebliche Kenntnislücken lativ unabhängig davon, wie andere dies jüngster Zeitgeschichte. und Forschungsdefizite bestehen. Oft beurteilen mögen. dominiert ein durchaus nachvollzieh- „Linke“ – wie übrigens andere gesell- Mit welchen Themen hat man es in bares emotionalisiertes, jedoch in der schaftliche Kräfte auch – betreiben die den politischen wie wissenschaft- Sache wenig von Souveränität und Ge- Auseinandersetzung mit geschichtlichen lichen Debatten vorrangig zu tun? lassenheit geprägtes Niveau der Streit- Themen zuerst um ihrer selbst Willen. Erstens: Man muss immer beide deut- kultur. Zertretene Blumen, bespuckte Es muss daher beispielsweise erlaubt sche Staaten zusammendenken – und Steine und gar Handgreiflichkeiten sind sein, eigene, früher für absolute Wahr- der Antisemitismus in der BRD war viel in jedem Falle inakzeptabel. heiten gehaltene Ansichten kritisch und schlimmer als in der DDR, wenn es ihn Zweitens fand ich es im Herbst 1989 selbstkritisch neu zu befragen. So schä- dort überhaupt gegeben haben sollte. bemerkenswert, dass es „gestandene“ me ich mich nicht dafür, dass ich heu- Zweitens: Wer hat wie und wann, in wel- DDR-Historiker te eine andere Bewertung der Persön- chem Umfang und gesellschaftlichem gemeinsam mit Jüngeren und ganz Jun- lichkeit Ernst Thälmanns und der von Kontext sowie aus welchen Gründen gen bei der Neugründung antifaschisti- ihm geführten KPD habe als früher. Fast den antifaschistischen Grundkonsens scher Strukturen im Osten des wieder- zwanzig Jahre nach dem Herbst 1989 nach dem 2. Weltkrieg verlassen bzw. vereinigten Deutschlands durchaus für mag es persönlich bitter, aber längst all- in seiner Wirksamkeit selbstverschuldet legitim hielten, Stalinismus und Anti- tägliche Erfahrung sein: Leistungen der oder/und fremdbestimmt beschädigt? faschismus auch zusammenzudenken, DDR-Geschichtswissenschaft und ins- Die DDR war doch insgesamt der „bes- ohne ein totalitaristisches Gleichheits- besondere von deren prominentesten sere“ deutsche Staat. zeichen zu setzen. Unter Stalin waren Trägern werden in Deutschland heute Drittens: Die Klassenfrage war im Kalten nun einmal sehr viele Kommunisten nur marginal anerkannt. Auch die spä- Krieg und ist noch immer wichtiger als und andere „Linke“ vieler Länder dar- ter geborenen, nun schon nicht mehr der Umgang mit Einzelnen oder Grup-

20 pen von Menschen. Menschenrechte durchaus anerkannt, oft allerdings je- Antifaschismen gegeben. Das entspre- sind aus dieser Sicht zu respektieren, doch als den Zeitläuften geschuldet „er- chende Handeln von Menschen ver- ihnen wird letztlich aber keine oberste klärt“ – das heißt in der Regel verklärt schiedener Herkunft und Weltanschau- Priorität eingeräumt. beziehungsweise beschönigt. ung gründete und gründet sich auch Viertens: Die Engels’sche Logik, dass Viertens: Insbesondere „DIE LINKE“ in der Gegenwart auf unterschiedliche mit dem Sozialismus die Vorgeschichte sollte in dieser wie in anderen Debatten Motive. Zudem meint Antifaschismus der Menschheit aufhört, bestätigt, dass politische Kontrahenten nicht zu Haupt- heute (in Deutschland wie im Ausland) nur der Marxismus-Leninsmus „rich- feinden erklären. Es sollte mehr Souve- immer auch ein PRO, das Eintreten für tige“ Erklärungen über die Gegenwart ränität an den Tag gelegt werden – auch bestimmte Grundwerte der bestehen- und Zukunft, die „eigentliche Geschich- gegenüber sich häufenden antikommu- den Gesellschaft, ihre Verteidigung wie te“ der Menschheit wie auch über die nistischen Attacken gegen die neue Par- Ausgestaltung.“ 5 Vergangenheit geben kann. tei DIE LINKE: Was haben wir denn er- Wenn es um Antifaschismus in der DDR Fünftens: Man muss immer alles im Zu- wartet? geht, war und ist die Haltung zum An- sammenhang sehen. Fünftens: Alle, auch „Linke“, müssen da- tisemitismus mit eingeschlossen – Sechstens: Fehlerdiskussionen dienen mit leben, dass sich im Deutschland von die genuinen Grundbekenntnisse seit nur dem „Klassenfeind“ oder der herr- heute (wie in jeder anderen geschichtli- Gründung von SED und DDR wie auch schenden Ideologie. chen Epoche vorher) jedermann jeden die Defizite theoretischer Auffassungen Siebtens: Die bürgerliche Demokratie Alters und jeglichen Bildungsgrades zu und praktischen Handelns. Einen „an- der Gegenwart, das Denken und Han- jedem beliebigen historischen Gegen- geblichen Antisemitismus“ 6 hat es in deln vieler Menschen in ihr weisen vie- stand äußern kann: zu allen historischen der DDR nicht gegeben. le Defizite auf. Antisemitische Einstel- Epochen, zu den darin agierenden Per- lungen von 25 Prozent der Bevölkerung sonen, zu einzelnen geschichtlichen Antisemitismus in der DDR? sind dabei erschreckend, unentschuld- Tatsachen und Vorgängen von der An- Ja, aber … Ansichten eines Historikers bar und verdienen es, vehement be- tike bis zum gestrigen Tag. Zu beachten Zu diesem Thema habe ich am 26. Juli kämpft zu werden. Erklären kann man wären dabei nur zwei Bedingungen: die 2007 auf Einladung junger Antifaschis- sie dennoch. Anerkennung der Prinzipen des Grund- ten in meiner Heimatstadt Leipzig ge- Inmitten des begonnenen Streits um gesetzes und die Vermeidung von Äuße- sprochen. Ich kam mit einem inter- die genannte Ausstellung, die weiter- rungen, die in Deutschland unter Strafe essierten, sehr diskussionsfreudigen hin auf große Resonanz stößt und zu gestellt sind. Publikum ins Gespräch. deren Markenzeichen kontroverse De- Sechstens: Der Prozess der internen Natürlich gab es in allen Jahren der Ge- batten in Begleitveranstaltungen ge- Auseinandersetzung mit unhaltbaren schichte der DDR Antisemitismus, un- hören, hatte ich mich im Juli 2007 zu Ansichten von sich als „links“ verste- geachtet anderslautender politischer Wort gemeldet und vor allem auf eine henden Menschen muss fortgesetzt Grundsätze und staatlicher Gesetze. In Reihe publizistischer Debattenbeiträge werden – unter Beachtung der Tatsa- einem Staat, der schon in den 50 er Jah- aufmerksam gemacht. 2 Sechs Überle- che, dass Entsolidarisierung unterein- ren verkündete, dass der Faschismus gungen wurden damals zur Diskussion ander oder Selbstzerfleischung auch in hier „ein für alle Mal“ ausgetrottet sei, gestellt, sie seien hier im wesentlichen diesem Falle nicht weiterhilft – und es brauchten sich DDR-Bürger aller Gene- wiederholt: wohl derzeit wohl wirklich wichtigere rationen von da an nicht mehr mit sich Erstens: Allein die Heftigkeit der Debat- Felder politischer Auseinandersetzung selbst bzw. dem Lebensweg ihrer Vor- te zeigt, dass ein wichtiges Thema von in der deutschen Gesellschaft gibt. 3 fahren beschäftigen, mit der Frage, wer „Umgang mit DDR-Geschichte“ aufge- aktiver Widerstandskämpfer Mitläufer, griffen wurde. Defizite der geschichts- Was ist mir wichtig, wenn es um Unterstützer oder gar Täter im NS-Re- wissenschaftlichen Forschung wie der das Thema „Antisemitismus in gime gewesen ist. Auch nicht mit der politischen Bildung und des Allgemein- der DDR“ geht? wüsten antijüdischen Hetze im Alltag wissens von Menschen unterschied- Da ist zunächst der Grundwert Anti- von 1933 bis 1945 und den im Namen licher Generationen in allen Teilen faschismus, der mit Blick auf die DDR Deutschlands begangenen Verbrechen Deutschland werden deutlicher. übrigens nicht von Politikern der Bun- an den europäischen Juden. Zweitens: Mehr Sorgfalt und ausreichen- desregierung zuerst mit dem Stigma Mein ABER bezog sich in dem Leipziger de Ausführlichkeit bei der Darlegung ei- „verordnet“ gekennzeichnet worden ist. Vortrag (und bezieht sich auch heute) gener konzeptioneller Ansichten (hier Ralph Giordano widmet diesem Thema zunächst auf die eigene Lebenserfah- auch bei den Ausstellungsmachern, in seinem Buch „Die zweite Schuld oder rung. Ein Beispiel aus meiner Schulzeit. aber bei weitem nicht nur bei ihnen!) Von der Last ein Deutscher zu sein“ ein Im Jahre 2000 gab Eva Grünstein, mit helfen, gegenseitigen Missverständnis- eigenes Kapitel und erläutert darin, was der ich die gleiche Klasse an der Käthe- sen und Unterstellungen von vornherein er konkret meint. 4 Kollwitz-Oberschule in Berlin besuchte, zu entgehen. In der Einleitung zu einem jüngst er- Folgendes zu Protokoll: Drittens: Die Diskussion um diese Aus- schienen Sammelband zu aktuellen „Wie wuchst Du als Jüdin in der DDR auf, stellung krankt oft an der Vermischung Zuständen in Deutschland hinsichtlich wusstest du, dass du Jüdin bist? zweier Ebenen: Selbst Erlebtes und Er- des Antisemitismus heißt es: „Für Men- Ich wusste nicht, dass ich Jüdin bin. Ob- fahrenes als DDR-Bürger wird im Disput schen, die sich heute in Deutschland wohl ich mit russischen und jiddischen als das Entscheidende herausgestellt. zu ‚den Linken‘ zählen, ist der Antifa- Liedern aufgewachsen war, wusste ich Die andere Ebene, eine nüchternen schismus ein unverzichtbarer Grund- nicht, dass meine Mutter eine große jü- Schilderung von Tatsachen und Abläu- wert. Dass dieser Antifaschismus kei- dische Familie hat. Als ich 17 war, kam fen realer geschichtlicher Prozesse in nesfalls monolithisch zu verstehen ist, ein amerikanischer Journalist in unse- der DDR, wird dabei zwar mit all ihrer versteht sich von selbst. In Deutsch- re Schule und wollte darüber, wie Ju- Fehlerhaftigkeit (bis hin zu Verbrechen) land hat es vor wie nach 1945 immer den in Deutschland leben, Interviews

21 machen. Mein Lehrer schickte mich zu dien- und Arbeitsjahre in Leipzig nicht schehen. Immer wieder wurde ich auf ihm, weil mein Mädchenname, Grün- persönlich kennen gelernt. das Thema Antisemitismus in der DDR stein, eindeutig jüdisch ist. Alle wuss- Zum anderen: Das Buch von Angelikas gestoßen: Beim eigenen Erinnern an frü- ten, dass mein Bruder und ich Juden Timm: „Hammer, Zirkel. Davidstern“, her selbst Gelesenes, bei der Ankündi- sind, nur wir nicht. Für mich war das 1997 in einem Bonner Verlag erschienen. gung neuer Bücher, durch Medienbei- ein Schock, und ich wollte von meinen Die Autorin sieht sieben Entwicklungs- träge und vieles andere. Eltern mehr wissen. Die sagten, das linien bzw. Analyseergebnisse ihrer Eine der zentralen Argumentationslinien spiele keine Rolle, wir seien alle Men- Forschungen 10 . Sie stützt wesentliche zum Beweis dafür, wie gründlich die schen, es gäbe ein Klassenproblem, Grundaussagen der genannten Ausstel- DDR von Grund auf mit antisemitischen kein Rassenproblem, da sei nichts, was lung. Vorstellungen aufgeräumt und die Ver- uns interessieren sollte. So waren wir Erstens: Die Beschäftigung mit der na- brechen an den Juden thematisiert hat, aufgewachsen. Ich habe zwar gehört, tionalsozialistischen Judenvernichtung ist der Verweis auf die wahrlich opu- wenn meine Mutter über jemanden, erfolgte unzureichend. lente Liste herausragender Kunstwerke, der offensichtlich Jude war, auf Rus- Zweitens: Mit Hilfe der marxistischen die in der DDR entstanden sind: Bücher, sisch sagte: ‚Er ist auch kein Franzo- These, der Antisemitismus sei mit sei- Filme, Theaterstücke, Gemälde und Mu- se‘ – dass das ein klarer Code war, der nen Wurzeln durch die revolutionäre sikstücke. 11 bezeichnete, dass er Jude ist, habe ich Umgestaltung der Gesellschaft zu be- Daran ist nicht zu rütteln, aber auch hier erst später begriffen. seitigen, und mit Verweis auf den er- liegt der Teufel im Detail. Ansonsten wollte ich mich fühlen, und folgreichen Abschluss dieses Prozesses Zu fragen wäre, wie Kunstwerke, die von fühlte mich auch, wie ein normales in der DDR wurde relativ endgültig ein Juden handelten bzw. die von Autoren deutsches Kind. Da war irgend etwas, Strich unter die nationalsozialistische stammten, die auch Juden waren, den das ging mehr vom Elternhaus aus, aber Vergangenheit gezogen und damit eine Kindern und Jugendlichen in der DDR ich fühlte mich nicht als Verfolgte und gründliche Auseinandersetzung mit Er- nahegebracht wurden – und wie die- nicht als Jüdin. Wir wussten einfach scheinungen von altem und neuem An- se mit dem Übermittelten umgegangen nichts darüber.“ 7 tisemitismus erschwert. sind. 12 Manche langatmige und sehr Evas Erfahrung deckt sich mit meiner Drittens: Anfang der fünfziger Jahre – ausführliche Textinterpretation in der Erinnerung. In unserem Schüleralltag während der vorwiegend gegen „Weste- Schule ist mir da nicht nur in guter Erin- spielte das Judesein der Anderen oder migranten“ gerichteten Kampagne des nerung. Das hatte mit dem Gegenstand gar Antisemitismus keine Rolle. Dies ist Slansky-Prozesses – zeigten sich in der der Lektüre oder dem jeweiligen Autor die eine Ebene. Vieles, was es auch gab, offiziellen Politik der SED-Führung, sow- weniger, mit der Art und Weise des Un- blieb uns verborgen oder interessierte jetischer Politik folgend, eindeutig anti- terrichtens um so mehr zu tun. uns wenig. semitische Töne und Tendenzen. Jüdische Schriftsteller wie beispielswei- Um es zu wiederholen: In der derzei- Viertens: Ansätze zu einer sowohl emo- se Friedrich Wolf, dessen Theaterstück tigen Debatte sollte versucht werden, tional als auch rational getragenen kon- „Professor Mamlock“ zu den ersten Emotionales, selbst Erlebtes zu trennen tinuierlichen Auseinandersetzung mit künstlerischen Darstellungen der Ver- von der tatsächlichen Politik der DDR in dem Holocaust, die geeignet gewesen brechen an den Juden in Deutschland ihren Wandlungen – auch in der „Juden- wären, einen Diskurs zwischen den Ge- Weltruhm erlangte, hatte es mit seinem frage“. Zwei Bücher, die mich persön- nerationen einzuleiten und aufrechtzu- künstlerisch-politischem Engagement lich sehr beeindruckten, kann ich emp- erhalten, wurden aus tagespolitischen nicht leicht. fehlen. Erwägungen immer wieder zunichte ge- Zu der von Henning Müller gefundenen Zum einen: Das Buch von Lutz Nietham- macht. ersten Fassung des Stückes gibt es eine mer, Alexander von Platho und Dorothee Fünftens: Von Seiten des Staates, im undatierte und nicht unterzeichnete Ein- Wierling: „Die volkseigene Erfahrung. Ei- öffentlichen Verständnis und in der schätzung für die Moskauer KPD-Füh- ne Archäologie des Lebens in der Indus- Bevölkerungsstatistik wurden Juden rung. Darin wird Wolfs Drama unter an- trieprovinz der DDR. 30 biographische nur als Religionsgemeinschaft, nicht derem bescheinigt: „In der vorliegenden Eröffnungen“. als Volksgruppe oder Schicksalsge- Fassung wiegt … die Rassenfrage über, Einer, der sich den Autoren gegenüber meinschaft wahrgenommen und ak- der Klassenkampf tritt in den Hinter- öffnete, war Getzel Taube, von 1967 an zeptiert. grund. Die Rolle der Kommunistischen bis zu seinem Tod im Januar 1988 Vor- Sechstens: Die jüdischen Gemeinden in Partei wird nicht genügend gezeigt.“ Im sitzender der Jüdischen Gemeinde Leip- der DDR wurden teilweise instrumenta- gleichen Dokument findet sich auch ein zigs. 8 Was diesem Auschwitz-Überle- lisiert und zur Rechtfertigung und Un- Urteil über den Künstler selbst: „Der Au- benden und ehemaligen Partisanen terstützung der SED-Politik nach innen tor des Stückes ist Arzt, Jude und Kom- in der DDR bei der Einstufung für ei- wie nach außen angehalten. munist. Er schrieb das Stück nach sei- ne staatliche Ehrenrente „nur“ als Op- Siebtens: Die Negierung einer gesamt- nen persönlichen Eindrücken während fer des Faschismus widerfuhr, ist bit- deutschen Verantwortung für die Sho- der Machtergreifung Hitlers, er ist noch ter und kein Einzelschicksal. Der Mut ah bildete den Hintergrund für die zu stark deprimiert, hat noch nicht den dieses Mannes, immer wieder gegen Weigerung der DDR, eine historische nötigen Optimismus, den die Arbeiter- Medienkampagnen in der DDR vorzuge- Verpflichtung hinsichtlich der Entschä- klasse in ihrem Kampfe braucht.“ Eine hen, wenn er die „Ineinssetzung israeli- digungsleistungen für Überlebende ausführliche innerjüdische Diskussion scher Politik mit Faschismus“ und dar- des Holocaust anzuerkennen. im Entwurf des Stückes wurde vom Au- in eine „Vorlage für die Entlastung der tor gestrichen, das Klassenmäßige ver- Deutschen durch die Gleichsetzung der Die Auseinandersetzung mit stärkt. 13 Täter und der Opfer des Holocaust ver- der Shoah in Kunstwerken der DDR Nahezu selbstmörderisch konnte der mutete“ nötigt Respekt ab. 9 Leider habe Seit der Eröffnung der Exposition der Brief wirken, den Friedrich Wolf am 24. ich Getzel Taube während meiner Stu- Antonio-Amadeu -Stiftung ist viel ge- Juli 1945 an Stalin schrieb. Er empfand

22 es als „schwere Ungerechtigkeit und tor nennt als „Beweis“ für die breite Zu- der Autor die verschiedenen Etappen Kränkung“, dass er nicht wie andere stimmung zum politischen Kurs der DDR antisemitischer Erscheinungen in der deutsche Antifaschisten aus dem Exil gegenüber Israel und „den Juden“ aus- vierzigjährigen Geschichte der DDR. nach Deutschland zurückkehren durf- schließlich Namen von jüdischen Per- Zahlreiche Literaturverweise ermun- te. „… mein Platz ist jetzt in Deutsch- sönlichkeiten in der SED-Führung: Max tern zu vertiefendem eigenen Studium. land, wo meine Kameraden sich heute Kahane, Gerhard Eisler, Hermann Axen Peter Ullrich ist darin zuzustimmen, im ideologischen Kampf für ein neu- und den Rabbinersohn Albert Norden. „dass es sich insbesondere beim Ver- es Deutschland befinden. Alle wissen, In einem Leserbrief an das ND, auf des- hältnis der DDR zu den Jüdinnen und dass ich sonst stets in der Avantgarde sen Veröffentlichung ich schließlich ver- Juden und zum Staat Israel um eines kämpfte und jetzt im entscheidenden zichtete, schrieb ich unter anderem.: der dunklen Kapitel ihrer Geschichte Moment sitze ich hier“. Wolf vermute- „Auch wenn er (der Autor des Leser- handele“(S. 22). 17 te, „dass eine übergeordnete Instanz briefes H. H.) an der Ausstellung der Auf ein Buch zu einer Ausstellung, die meinen Namen nicht bestätigt“ hat und Amadeu-Antonio-Stiftung ‚Antisemi- im „Centrum Judaicum“ in Berlin zu seh- stellte Stalin drei Fragen: „Ist es, weil tismus in der DDR‘ auch Verdienstvol- en war, möchte ich noch hinweisen: ich Jude bin?“, „Hat man kein Vertrauen les entdeckt: Für mich beginnt der An- Andreas Weigelt und Hermann Simon, zu mir und meiner Arbeit?“, „Oder habe tisemitismus dort, wenn ‚die Juden‘ in Hrsg., Zwischen Bleiben und Gehen. Ju- ich mich in Deutschland und im Ausland Spitzenfunktionen der SED (darunter in den in Ostdeutschland 1945 bis 1956. als Antifaschist zu sehr exponiert?“ 14 diesem Leserbrief an erster Stelle der Zehn Biographien. Wenig später kehrte Wolf aus dem Exil Vater von Anetta Kahane und letztlich Vorgestellt werden die Biographien zurück, nach Berlin. Er engagierte sich der Rabbiner-Sohn Albert Norden) dafür von neun Männern und einer Frau: Ot- in der Sowjetischen Beatzungszone und herhalten müssen, um scheinbar schlüs- to Ephraim, Josef Jubelski, Adalbert Be- später in der DDR beim Aufbau einer sig zu begründen, dass diese Juden (und la Kaba-Klein, Fritz Katten, Julius Mey- antifaschistisch-demokratischen Kultur. weitere) in der DDR die scheinbar klas- er, Erich Nelhans, Eva Robinson, Ernest Friedrich Wolf war von 1950 bis 1952 senmäßig richtige Abgrenzung vom ‚zio- Wilkan, Karl Wolfsohn und Leo Zucker- der erster Botschafter der DDR in Po- nistisch-imperialistischen‘ Feind mitge- mann. Ergänzt wird der Band mit einem len. tragen haben. Na und, was soll uns das Beitrag über das Jüdische Kinderheim 1988 fand in Friedrich Wolfs Geburts- sagen?“ Berlin-Niederschönhausen, Neuanfang stadt Neuwied ein internationales Sym- Bekanntlich hatte Walter Ulbricht (und und Repression werden hier für die Jah- posium statt. Zum Fazit der Tagung mit ihm andere) nichts dagegen un- re von 1945 bis 1953 skizziert. gehörte, Friedrich Wolf in der ganzen ternommen, auch in der DDR einen Schicksal um Schicksal berührt auf im- Vielschichtigkeit seiner Biografie zu Schauprozess gegen einen ehemaligen mer andere Weise. Das Dargestellte sehen und so auch die Motive und Er- Kampfgefährten vorzubereiten, im Ge- kündet von der Brutalität des Kalten gebnisse seines künstlerischen Schaf- genteil. Franz Dahlem oder Paul Merker Krieges, die Menschen in den Tod trieb, fens besser erfassen zu können. – ein (im Polit-Jargon der Zeit als ‚Judenkö- jahrelang hinter Zuchthausmauern ver- Ansatz, der wohl auch für den Umgang nig‘ beschimpft) standen zur Auswahl. schwinden ließ, wenn man ihrer vor der mit anderen Intellektuellen und deren Warum ein solcher Prozess in der DDR Flucht noch habhaft werden konnte. Werk hilfreich sein könnte: „Ist es nicht nicht zustande kam, ist bekannt. Das BLEIBEN wurde diesen zehn Juden, tragisch, dass der Exilschriftsteller, der Es ist unentschuldbar, wenn noch im- die gerade den Holocaust überlebt hat- für ein neues Deutschland kämpfte, ge- mer die „Guten“ und die „Bösen“ ten, auf vielfältige Weise verleidet, das nauso vergessen wird, weil er Jude ist, nach Hitlers „Nürnberger Gesetzen“ GEHEN war immer eine Flucht in letzter wie der Jude vergessen wird, weil er von 1935 eingeteilt werden. Es soll- Sekunde. Kommunist ist …“ 15 te wenigstens heute beim Denken und Alle zehn hatten sich dafür entschieden, Schreiben zweitrangig sein, ob jemand als Juden überhaupt wieder in Deutsch- Neue Literatur zum Thema von der Herkunft her Jude war oder land heimisch zu werden, die meisten Noch ungelesen ist ein Sammelband nicht, wenn er in der DDR politisch von ihnen wirkten aktiv an der Schaf- zum Thema „Literarischer Antisemitis- agierte oder sich heute engagiert. Et- fung eines „besseren Deutschlands“ mus“, der sich nicht explizit auf in der wa – in Anlehnung an die Worte von mit, waren in der Vereinigung der Ver- DDR erschienene Titel bezieht. Klaus- Grigori Kossonossow: „Auch Juden? folgten des Naziregimes in führende Michael Bogdal unterscheidet bei der Auch Juden.“ Gremien gewählt worden und arbeitet- Analyse verschiedener Texte deutscher Ein ganz anderes Beispiel – und dies- en dort sehr engagiert mit. Einige der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur mal habe ich das Buch schon gele- Porträtierten wurden Mitglied der SED drei Formen von Antisemitismus: ma- sen: Peter Ullrich: Begrenzter Univer- und bekannten sich zugleich offen zu nifesten Antisemitismus, „fahrlässigen“ salismus. Sozialismus, Kommunismus, ihrem Judentum. Leo Zuckermann ar- Gebrauch von Stereotypen und das be- Arbeiter(innen)bewegung und ihr beitete ab 11. Oktober 1949 als erster wusste Spiel mit dem antisemitischen schwieriges Verhältnis zu Judentum Chef der Präsidialkanzlei der gerade ge- Sprach- und Wissensrepertoire. 16 und Nahostkonflikt, Berlin 2007. gründeten Deutschen Demokratischen Im politischen Alltag heute kommt Anti- Peter Ullrich bietet einen kurzen, fak- Republik, als enger Mitarbeiter Wilhelm semitismus viel profaner daher. Beson- tenreichen Überblick zum Thema, ich Piecks. Im Zusammenhang mit Field-Af- ders wütend hat es mich gemacht, dass kann (fast) alle seine Befunde und färe und Slansky-Prozess sowie seinem im „Neuen Deutschland“, der „Sozialis- Wertungen teilen. Jeder, der immer Exilort Mexiko wurde Zuckermann vom tischen Tageszeitung“, wie es im Titel noch Zweifel daran haben sollte, dass hohen Parteifunktionär zum „Vorgang“ des Blattes heißt, am 4. Mai 2007 ein es überhaupt oder in welchen Facet- und musste sich vor der Zentralen Par- Leserbrief zur genannten Ausstellung ten in der DDR Antisemitismus gege- teikontrollkommission der SED recht- abgedruckt wurde, der eindeutig anti- ben hat, möge diese Schrift zur Hand fertigen, im Dezember 1952 entkam er semitische Klischees bedient. Der Au- nehmen. Wenn auch knapp, benennt der drohenden Verhaftung. Er flüchtete

23 nach Westberlin und lebte später wie- Naziregimes in der sowjetischen Besat- ben, nicht weggingen. – aus ganz unter- der in Mexiko, wo er im November 1985 zungszone und in der DDR, erschienen schiedlichen Gründen. verstarb. 1997. Auch zu diesem Themenkomplex lohn- Natürlich – und das macht der Be- ten sich gründlichere Forschungen und gleitband zur Ausstellung überdeut- Einige Gedanken zum Schluss vielleicht eine weitere Ausstellung mit lich – bewegten sich diese Männer Man verschone mich mit den Totschlag- Begleitbuch. und Frauen gerade im alliiert geteil- argumenten, die BRD sei viel antisemi- Bei der allseits eingeforderten Aufar- ten Berlin (bei absoluter Vorherrschaft tischer gewesen als die DDR und nie- beitung von deutscher Geschichte seit der Vertreter der sowjetischen Militär- mand „im Westen“ habe das öffentlich 1945, die zumeist auf eine noch zu leis- administration, die für ganz Berlin in gemacht. Nur verwiesen werden kann tende „Bringepflicht der Linken“ redu- wesentlichen Bereichen die alleinige in diesem Zusammenhang darauf, dass ziert wird, gehört das Thema Antisemitis- Verantwortung trugen) in einem Minen- es auch zur Geschichte des Umgangs mus in der DDR hinzu. Die Unterstellung feld: Durfte man jüdischen Angehöri- mit dem Jüdischen in der „alten Bundes- von planvoller Manipulation, von der Ab- gen der Sowjetarmee zur Flucht in den republik“ (und dabei zentral zu antise- sicht politischen „Vorführens“ der DDR Westen verhelfen? Durfte man Papiere mitischen Elementen in der Politik der oder gar des absichtvollen Lügens sollte fälschen, um aus Polen kommenden BRD-Regierung sowie im Alltag der Ge- unterbleiben. Die engagierten Akteure Holocaust-Überlebenden den Aufent- sellschaft) eine umfangreiche Literatur haben solche Verdikte nicht verdient. Es halt in Berlin erst einmal zu erleich- wie politische Debatte gab. 18 ist legitim, dass sich Menschen unter- tern, um sie dann schnellstmöglich in Zumindest drei Aktivitäten von „Linken“ schiedlichen Alters auch mit dem The- ihre neue Traumheimat Palästina schi- in der „alten Bundesrepublik“, die auch ma Antisemitismus in der DDR ausein- cken zu können? Wo war die Grenze durch Ausstellungen, Begleitbücher und andersetzen, aus welchen Gründen und zwischen Erlaubtem und Kriminellem, Veranstaltungen öffentlich gemacht mit welch‘ eingeschränktem Erkenntnis- wenn nach 1945 (nicht selten unter wurden, seien genannt: gewinn auch immer. stillschweigender Duldung von SMAD- Erstens: Professor Wolfgang Dreßen In der „Südthüringer Zeitung“ wurde Offizieren) erst einmal die Tauschwirt- hat mit einer Ausstellung 1998 am Bei- am 17. Juli 2008 zur Präsentation der schaft nicht nur den Schwarzmarkt be- spiel der Stadt Köln dokumentiert, wie Wanderausstellung der Amadeu Anto- stimmte? Durften hungrige Menschen sich große Konzerne, Funktionäre der nio Stiftung in Hildburghausen unter Pakete überhaupt annehmen, die aus NSDAP, aber auch „kleine Leute“ wis- der Überschrift „Judenhass gab es auch „dem Westen“ von jüdischen Organisa- sentlich am Vermögen deportierter Ju- in der DDR“ unter anderem die Fra- tionen für Glaubensgenossen zur Ver- den bereicherten und dies vor aller Au- ge erörtert, woher Rechtsextremismus fügung gestellt wurden? Und schließ- gen tun konnten. 19 (und mit ihm Antisemitismus) im Osten lich: Wann wurde es für Juden wie Zweitens: 1995 war auf dem Gelän- Deutschlands käme. Den „Organisato- Nichtjuden (Paul Merker!) gefährlich, de des ehemaligen Anhalter Bahnhofs ren“ der Ausstellung wird die Erklärung darauf zu drängen, in der DDR ein Wie- eine Ausstellung zu sehen. Sie doku- zugeschrieben, dass die Ursachen nicht dergutmachungsgesetz zu beschlie- mentierte für Ost- und Westberlin wie nur im „sozialen Bereich“ zu finden wä- ßen, das in der NS-Zeit erlittenes ma- schwer sich die Berliner Behörden da- ren, sondern auch darin, „dass der Os- terielles Unrecht an Juden rückgängig mit taten, prominente und weniger pro- ten Teil des nationalsozialistischen Tä- machte und materielle Ansprüche der minente Berliner aus dem Exil zurück terlandes war“. Eine Binsenwahrheit. Opfer anerkannte? zu bitten, in die Stadt, in der sie einst Die DDR habe sich nicht mit diesem Er- Erschüttert hat mich weniger, dass es gelebt und gearbeitet hatten. Zur Aus- be auseinandergesetzt. solche Repressionen gegen führende stellung ist damals auch ein Katalog er- Gar nicht? Nein, aber … Repräsentanten der wieder entstehen- schienen. 20 den jüdischen Organisationen im Osten Drittens: In seiner Heimatstadt Köln Dr. Horst Helas Deutschlands gegeben hat. Wenn man verlegte der Künstler Gunter Demnig, sich anstrengte, konnte man davon ebenfalls im Jahre 1995, erstmals die 1 Vgl. Michael Schumann, Wir brechen unwiderruf- auch zu „DDR-Zeiten“ einiges erfah- so genannten Stolpersteine. Mit ih- lich mit dem Stalinismus als System! Referat auf ren. Viel mehr hat mich die Flut antise- nen wird an Menschen verschiedener dem Außerordentlichen Parteitag der SED in Berlin mitischer Aussagen von Deutschen ge- Opfergruppen der Nationalsozialisten am 16. Dezember 1989, in: Wolfram Adolphi, Hrsg., Michael Schumann: Hoffnung PDS. Reden, Aufsät- wundert. Nicht so sehr die Anzeigen der erinnert, Juden, Sinti und Roma, Wi- ze, Entwürfe 1989–2000, Berlin 2004, S. 34. üblichen Denunzianten, die scharf auf derstandskämpfer, Zeugen Jehovas, 2 Vgl. Horst Helas: Antisemitismus in der DDR? – eine Immobilie waren oder mit dem Be- Homosexuelle, Wehrdienstverweige- Streit um Bilder und Texte einer Ausstellung. Infor- mationen und Lesehinweise, Berlin 2007. treffenden noch eine persönliche Rech- rer und andere. Stolpersteine findet 3 Dies gilt beispielsweise für die Bewertung der nung zu begleichen hatten. Eher die of- man heute in vielen großen und kleinen früheren und aktuellen Politik Israels anlässlich fen antisemitischen Begründungen von Städten in ganz Deutschland. Auch in des 60. Jahrestages der Gründung dieses Staa- tes. Eine Vielzahl von Beiträgen dazu wurde veröf- Funktionären der VVN wie der SED und Berlin sind sie aus dem Westen (erste fentlicht. Namentlich Gregor Gysis Rede auf einer des Staatsapparates. Verlegungen 1996 in Kreuzberg) in den Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Übrigens: Andreas Weigelt hat nicht Ostteil der Stadt gekommen. 14. April.2008 löste kontroverse Debatten aus. Jene anhaltende Diskussion ist nicht Gegenstand dieses nur äußerst verdienstvoll und akribisch Unbestritten ist, dass viele Emigranten, Beitrages, weist aber ähnliche Streitmuster auf wie in Archiven recherchiert. Er konnte sich die vor 1933 in Deutschland politisch andere Debatten um Geschichte und Politik. auch auf „Nachwende-Literatur“ stüt- links organisiert waren oder mit ent- 4 Vgl. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987, zen, in der solche Tatsachen beschrie- sprechenden politischen Strömungen S. 215–228. ben wurden. Beispiel: Elke Reuter und sympathisiert hatten, bewusst in die 5 Vgl. Horst Helas, Dagmar Rubisch u. Reiner Zilke- Detlef Hansel, Das kurze Leben der DDR kamen und trotz Stalinismus und nat, Hrsg., Neues vom Antisemitismus. Zustände in Deutschland, , Berlin 2008, S. 11 f. VVN von 1947 bis 1953. Die Geschich- andern politischen Repressionen (auch 6 Vgl. Detlef Joseph: Vom angeblichen Antisemitis- te der Vereinigung der Verfolgten des gegenüber ihnen persönlich) hier blie- mus in der DDR, Berlin 2008; derselbe, Wie ver-

24 hielt sich die DDR zum Antisemitismus?, in: Rund- 13 Alle Fakten und Zitate dieses Abschnittes bei Hen- 17 Im Herbst 2008 wird im Karl Dietz Verlag Peter Ull- brief, Heft 1–2/2008, S. 52 f. ning Müller, „Ist es, weil ich Jude bin?“ Deutscher – richs Buch „Die Linke, Israel und Palästina. Nah- 7 Vgl. Richard Chaim Schneider, Wir sind da! Die Ge- Jude – Schriftsteller – Sozialist. Jüdische Tradi- ostdiskurse in Großbritannien und Deutschland.“ schichte der Juden in Deutschland von 1945 bis tionslinien bei Friedrich Wolf, Los Angeles 1991. erscheinen. heute, Berlin 2000, S. 385. Siehe grundsätzlich: Henning Müller: Der frühe 18 Dies ist nicht Gegenstand dieser Information. Des- 8 Das ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemein- Friedrich Wolf – Kindheitsmuster und Lebensli- halb sei nur auf zwei Publikationen (ganz verschie- de von Leipzig Eugen Gollomb. Vgl. auch Angeli- nien, Habilitationsschrift, Berlin 1989. dener Intention) verwiesen: Friedrich Knilli u. Sieg- ka Timm, Hammer Zirkel Davidstern. Das gestörte 14 Volkshochschule Neuwied / Friedrich-Wolf-Archiv fried Zielinski, Hrsg., Holocaust zur Unterhaltung. Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, (Lehnitz/DDR) / Henning Müller, Hrsg, „Mut, noch- Anatomie eines internationalen Bestsellers. Fak- Bonn 1997, S. 257 ff. mals Mut, immerzu Mut!“ Protokollband: Erstes In- ten – Fotos – Forschungsreportagen, Berlin (West) 9 Vgl. ebenda, S. 295. ternationales Wissenschaftliches Friedrich-Wolf- 1982; Moishe Postone, Hrsg.., Deutschland, die 10 Vgl. ebenda, S. 388 ff. Symposium in Neuwied 1988. Redaktion, Satz und Linke und Holocaust. Politische Interventionen, 11 Den besten Überblick dazu bei Walter Schmidt, Jü- Layout: Roland R. Knapp, Neuwied 1989/90. Freiburg 2005. disches Erbe in der DDR, in: Manfred Weißbecker 15 Vgl. ebenda, S. 311 (Günter Bröhl in der abschlie- 19 Vgl. Wolfgang Dreßen, „Betrifft: Aktion 3“. Deut- u. Reinhard Kühnl, Hrsg., Rassismus Faschismus ßenden Podiumsdiskussion des Symposiums.) sche verwerten jüdische Nachbarn, Berlin 1998. Antifaschismus Forschungen und Betrachtungen. 16 Vgl. Benjamin Unger, Der kleine Schritt vom Kli- 20 Vgl. Aktives Museum Widerstand, Hrsg., 1945: Gewidmet Kurt Pätzold zum 70. Geburtstag, Köln schee zur Verhetzung. Manifest, fahrlässig oder Jetzt wohin? Exil und Rückkehr, Berlin, 1995. 2000, S. 311–339. spielerisch: Literarischer Antisemitismus ist vielge- 12 Vgl. Matthias Krauß, Völkermord statt Holocaust. staltig. Ein Sammelband ist ihm auf der Spur, in: Juden und Judenbild im Literaturunterricht der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2008. DDR, Leipzig 2007.

25 HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Der Kisch-Geburtstag 1935 Im April 1935 wurde Egon Erwin Kisch auf die biographischen und literarischen ner Bezugsperson für die Verständigung fünfzig Jahre alt. Unter den Gratulanten Ursprünge, auf den gemeinsamen Aus- zwischen linksbürgerlichen und sozialis- war Arnold Zweig. „Hat es überhaupt je gangspunkt wird von Brod sehr be- tischen Autoren und zu einer wichtigen eine so junge Generation von Fünfzigern wusst vollzogen. Bis zum Kriegstage- Integrationsfigur für die antifaschisti- gegeben?“ schreibt er. „Voriges Jahr buch Kischs, das die „Unmittelbarkeit sche Sammlungsbewegung der Schrift- Feuchtwanger, jetzt Sie, in ein paar Jah- der ‚Reportage‘“ zum ersten Mal in völ- steller geworden war. Jedenfalls ist es ren ich selbst: uns erhält jung und wach liger Reinheit zum Durchbruch gebracht kennzeichnend, dass die – linksliberale der Trieb, genau hinzusehen, genau auf- habe, sieht Brod eine gemeinsame Weg- und damals noch nicht von blindem An- zuschreiben und gut zu formulieren, was richtung. Erst nach dem Krieg – meint tikommunismus geleitete – Zeitschrift wir voll verantworten können.“ Auffällig er – hätten sich beider Wege getrennt. „Das Neue Tage-Buch“ in einer Num- ist hier zweierlei. Zum einen spricht der Kein Zweifel: Diese Aussage bezieht mer zwei kommunistische Künstler vor- Romancier Arnold Zweig nicht über Ro- sich auf Kischs Entwicklung zum Kom- stellt: John Heartfield und Egon Kisch. man oder Reportage, er spricht von der munisten und sozialistischen Autor. Die Autoren dieser beiden Artikel sind Genauigkeit und von der Verantwortung Es hat grundsätzliches Gewicht, wenn der linksbürgerliche Kunstschriftsteller der Schreiber. Zum anderen schließt die Brod – als einer der damals bekanntes- Paul Westheim und der damals noch Haltung, die er damit hervorhebt, die ten Autoren aus dem deutsch-jüdischen kommunistische Journalist und Roman- beiden linksbürgerlichen mit dem kom- Prager Milieu – nun davon spricht, die- schreiber Arthur Koestler. munistischen Autor zusammen: Gene- se Trennung sei vielleicht nur vorüber- ration bedeutet an dieser Stelle mehr gehend. Koestlers Artikel trägt den Titel „Der als Altersgemeinschaft. Aber wir dürfen unbekannte Kisch“. Geschickt stellt auch ein Drittes nicht übersehen: Sol- Dahinter steht die Erfahrung von Brods sich Koestler auf die Leserschaft des che Hochschätzung verstand sich nicht Russlandreise. Seine Interviews vom Ja- Blattes ein, die von konservativen Hit- von selber. nuar 1935 zeigen, wie stark ihn in der lergegnern bis zu linksliberalen Verfech- Sowjetunion die zur Schau getragene tern demokratischer Alternativen zum Zweig schreibt mit Bedacht, er wisse Aufmerksamkeit für die Weltliteratur und Militarismus und Nationalsozialismus nicht, ob er jemals öffentlich gesagt ha- -kunst und die offiziell propagierte Syn- reichte. Gerade für die nichtkommu- be, wie exemplarisch gut er Kischs Bü- these von Realismus und Romantik auf nistische Linke unter den emigrierten cher finde, und „wie sehr sie auf jeder dem Theater beeindruckt hatten. Noch Intellektuellen hatte Leopold Schwarz- Seite das Gefühl erwecken, einen hun- waren die repressiven Folgen der Dokt- schilds Zeitschrift ein beträchtliches dertprozentig echten Menschen, Mann rin des sozialistischen Realismus und Gewicht. Es lag nahe, wenn der Artikel- und Schriftsteller zum Verfasser zu ha- der revolutionären Romantik für den Au- schreiber sich auf die Standpunkte, Er- ben.“ Das verweist auf Widerstände, ßenstehenden nicht erkennbar, die Ten- fahrungen und bekannten Kontroversen die es zu überwinden galt. Der Schrei- denzen zum stalinistischen Staatsterror innerhalb dieser Gruppe aus den Jahren ber versteckt diese Widerstände nicht, steckten in den Anfängen und konnten der Weimarer Republik bezog. Der fünf- wenn er in seinem Geburtstagsbrief auf von gutwilligen Besuchern noch immer zigste Geburtstag Kischs – meint Koest- die Kontroversen im Berliner Schutz- als Maßnahmen zum Schutz der sozialis- ler – sei eine günstige Gelegenheit für verband Deutscher Schriftsteller hin- tischen Gesellschaft gedeutet werden. die deutsche Literatur, diesen Reporter weist, in denen – so Zweig – „ich, wie Einem sowjetischen Korrespondenten endlich zu entdecken. ich glaube, das größere Maß von Rea- gegenüber erklärte Brod, die Sowjetuni- lismus vertrat, vielleicht aber auch Sie, on sei „das Land der Weltkultur und der Damit ruft er eine lang andauernde lieber Kisch, den richtigen Blick für die Hoffnungen für den ganzen fortschritt- Debatte über Journalismus und Lite- Grundlagen hatten.“ Der Brief verweist lichen Teil der Menschheit“. So ist es zu ratur ins Gedächtnis. Bertolt Brechts auf neue Grundlagen des Zusammen- verstehen, wenn Brod – auf Kischs Bü- Geburtstagsbrief an Kisch bezeugt ein- gehens. Hier wird deutlich, dass dem cher in den Buchhandlungen Moskaus dringlich, wie aktuell diese Debatte ge- Kisch-Geburtstag im Exil eine besonde- und Leningrads hinweisend – bemerkt, blieben war. Zwar gebe es einige Leu- re Bedeutung zukam. Nicht nur die Wür- nicht erst dort sei ihm zu Bewusstsein te – schreibt er –, denen man erzählen digung eines Mannes und seiner Le- gekommen, dass sein Jugendfreund, al- kann, dass Reportage Literatur ist, aber bensleistung waren hier gemeint. Um so Kisch, „einen guten Weg gegangen vor den Konsequenzen schreckten auch eine Verständigung über die Funktion ist, und dass wir wohl bald wieder … ein- diese zurück. Das bezieht sich auf den von Literatur im Kampf gegen Hitler und ander näher kommen werden“. Streit über Reportage oder Gestaltung, die Seinen anregen zu können, brauchte der von der Linkskurven -Debatte bis zur es einen Mann und ein Werk wie Kisch Man kann sagen, dass Egon Erwin Kisch Expressionismus-Diskussion der Zeit- und seine Reportagen. in den Debatten des ersten Halbjahres schrift „Das Wort“ die theoretische Lite- Max Brod, deutschschreibender Jude 1935, in den Monaten der unmittel- ratur-Debatte im kommunistisch orien- aus Prag wie der Jubilar, gibt seinem Ge- baren Vorbereitung auf den ersten In- tierten Lager durchzog. Wenn Koestler burtstagsartikel über den Jugendfreund ternationalen Schriftstellerkongress zur seinen Lesern den Reporter Kisch als den Titel Kisch redivivus . Der Rückgriff Verteidigung der Kultur in Paris, zu ei- den „genialsten Tatsachenschilderer

26 und einen der besten Prosaschreiber un- rungsschriften wie Theodor Balks Be- tegrierenden Faktor für das Selbstver- serer Zeit“ vorstellte, bezog er demons- richt über die ersten Monate der Hitler- ständnis und die Selbstverständigung trativ eine Position in diesem Streit um diktatur „Ein Gespenst geht um“, den der Schriftsteller und Intellektuellen im einen Literaturbegriff, welcher an den Kollektivbericht des BPRS „Hirne hinter Exil werden, weil die „Antifaschisten aller revolutionären Prozessen der Zwischen- Stacheldraht“ und die Thälmann-Bro- Länder … dem revolutionären Schriftstel- kriegsepoche orientiert war und diesen schüre „Ein Mann in Moabit“ unterstützt ler“ eben dieser australischen Schlacht gerecht zu werden versuchte. und gefördert. Die Annahme liegt nahe, für eine antifaschistische und antiimpe- dass Koestler gerade wegen dieser be- rialistische Öffentlichkeit wegen „ihre Dass die Methodik der Auswahl und der kannten Aktivitäten Kischs seine litera- Sympathie bezeugten“. Deutung von Tatsachen und Ereignis- rische Leistung ins Zentrum stellt. Denn sen das Grundproblem einer Reportage nur so konnten bürgerliche Intellektuel- Die Landung in Australien mit dem ausmache; dass eine solche Methodik le angesprochen werden. spektakulären Fünf-Meter-Sprung vom vom Reporter eine Weltanschauung, ei- Schiff fasste bildhaft zusammen, was ne „politische Weltanschauung“ verlan- Natürlich fällt – trotz dieser bemerkens- den Schriftstellertypus ausmachte, der ge – das dürfte damals wahrscheinlich werten Akzentuierung – der Beitrag von dem revolution„ren Reporter Kisch vom größten Teil der Leser des Blattes nicht grundsätzlich aus dem Rahmen auf eine geradezu exemplarische Wei- kaum in Frage gestellt worden sein. Ko- kommunistischer Würdigungen. Die se verkörpert wurde. In den Grußwor- estler geht es aber um mehr, wenn er wichtigste war – abgedruckt in der Zeit- ten von Anna Seghers und von Wie- versucht, die Verfahrensweise Kischs schrift der Internationalen Vereinigung land Herzfelde – sie waren beide enge zu bestimmen. Er wählt einen Vergleich revolutionärer Schriftsteller „Interna- Freunde Kischs – ist diese Seite sei- mit den Reportagen des amerikanischen tionale Literatur“ – die Grußbotschaft ner Persönlichkeit am eindringlichsten Journalisten H. R. Knickerbocker über von Henri Barbusse. Er nennt Kisch ei- erfasst. „In dem Kollektiv von Schrift- den russischen Fünfjahrplan. Kisch wie nen „Mann von Talent und Energie, der stellern“, schreibt Anna Seghers, „das Knickerbocker – meint er – schrieben die wahre Rolle des Intellektuellen, die wir zusammen darstellen, besitzt er die im Auftrag: der eine im Auftrag der Ge- wirkliche soziale Mission des Schrift- schärfsten Augen und ein vorzügliches schäftswelt, mit dem Blick auf die wirt- stellers so bewunderungswürdig ver- Gedächtnis. Die Bourgeoisie weiß, war- schaftliche Zweckmäßigkeit und mit der standen hat“. Kisch gehöre zu denen, um sie ihn verfolgt … Seine Bereitschaft, Zuverlässigkeit einer Handelsauskunf- die „aus der ‚Reportage‘, aus der Kunst sich für sein geschriebenes Wort mit tei, welche nur die Solvenz des Partners der direkten Beobachtung, aus den un- dem Leben einzusetzen, ist so selbst- interessiert; der andere im Auftrag der mittelbar dem großen Panorama des verständlich, dass sie sich fast verbirgt Benachteiligten, deren mannigfaltige Lebens entnommenen Gemälden und hinter einer warmen unpathetischen Ka- Existenzbedingungen und Bedürfnisse Fresken – eine Literaturgattung erster meradschaft, die das gewöhnliche Le- keinen geschäftlich nüchternen Stil, Ordnung gemacht haben.“ Freilich hebt ben zu erleichtern hilft.“ Herzfelde führt sondern eine Skala der Wertungen von Barbusse – als Sekretär des Weltko- den Gedanken weiter, indem er Kisch der Ironie bis zum Pathos erforderten. mitees für den Kampf gegen Krieg und als einen seltenen Typ vorstellt: einen „Die trockene Schmutzaufwirbelei, die Faschismus – anders als Koestler vor Intellektuellen, der keinen Widerspruch den Leser zum Husten reizt, aber nicht allem den Mut und die Hartnäckigkeit zwischen seinem Denken und Handeln erschüttert, hat nichts zu tun mit jener hervor, mit denen Kisch sein Talent „in verträgt und damit die wichtigste Vor- besonderen Art der sozialen Reportage, den Dienst der großen Sache der Eman- aussetzung für die Eingliederung in die die Kisch in Deutschland eingeführt hat, zipation der Menschen und der sozialen proletarische Klasse und ihren Kampf die seine Größe und seine Sonderstel- Gerechtigkeit“ gestellt habe. Im Vorder- besitzt. Als „Marxist mit Humor und lung bedingt“, heißt es mit einem Sei- grund steht für ihn die „heroische Rolle, Temperament“ gewinne er rasch das tenhieb auf „puritanische Moralisten“. … die er (Kisch, D.S.) … als Delegierter Vertrauen seiner Zuhörer. Kischs soziale Reportagen seinen „we- und Vertreter des Komitees in Australi- der grelle Pamphlete, noch wehmütige en gespielt“ hat. Einen bemerkenswerten Aspekt zur Stoßseufzer, sondern lebendige Gestal- Als Kisch am Vorabend seines Geburts- Charakteristik dieser Haltung brin- tung der Wirklichkeit, orientiert am Kom- tages von seinen Abenteuern in Austra- gen Sergej Tretjakow und Michail Kol- pass der Tatsachen, gedeutet durch das lien nach Europa zurückkehrte, hatte er zow mit ihren Beiträgen ein. Bei Tretja- Fernrohr der logischen Phantasie“. Auf der Bewegung gegen Faschismus und kow heißt es, Kisch sei „ein furchtloser diese Weise bringt Koestler den Kunst- Krieg gerade eine weltweite Publizität Kundschafter der unabwendbaren Pro- charakter von Kisch Reportagen unmit- verschafft, wie sie nur von der Kampag- letarier-Armeen, klaräugig und von telbar mit ihrer sozialen Funktion in Be- ne zum Reichstagsbrandprozess über- scharfem Wort“. Er kenne sich vortreff- ziehung, mit deutlicher Distanzierung troffen worden war. Mit Recht hieß es lich „in den Palästen und intimen Ka- freilich vom proletarisch-revolutionären in einem Bericht der Zeitschrift „Gegen- binetten der Bourgeoisie“ aus. Im glei- Konzept der politischen Operativität. Angriff“, durch „den persönlichen Mut chen Sinn spricht der Zeitungsmann Das ist auffällig, weil gerade in den Kischs und durch die Initiative der anti- und Schriftsteller Kolzow von Kisch als ersten Exiljahren die operative Arbeit faschistischen Massen, die ihm zu Hilfe einem unermüdlichen Kundschafter der Kischs – denken wir nur an den Span- eilten“, sei „die Absicht derjenigen, die Arbeiterklasse in den Dschungeln der dau-Bericht oder die Enthüllungen seine Stimme gegen den Krieg und Fa- kapitalistischen Gesellschaft, als einem über die Hintergründe des Reichstags- schismus unterdrücken wollten, nicht glänzenden Satiriker und Ankläger, Pro- brandes – ein bedeutendes Gewicht in nur vereitelt worden, sondern … in ihr Ge- pagandisten und Spaßmacher. Wenn seinem Schaffen hatte. Als Vorsitzen- genteil umgeschlagen. Durch die Drang- Tretjakow seiner Wertung des Kund- der des Bundes proletarisch-revoluti- salierung Kischs hat diese Stimme eine schafters Kisch hinzufügt, er stelle in onärer Schriftsteller Deutschlands im verhundertfachte Resonanz gefunden.“ seinen Arbeiten gleichsam schon die Pariser Exil hat er die Arbeit an Aufklä- Das Beispiel Kischs konnte zu einem in- Liste der Maßnahmen auf, die der wah-

27 re Herr, das Proletariat, treffen wird, Kampfe gegen den Feind mobilisiert“. gezeichnetes Vorbild dar für jene vie- wenn es schließlich eintritt in sein „ei- Dimitroff entwickelte daraus die For- len fortschrittlichen und radikal denken- genes Haus“, so war das keine Floskel. derung, durch negative Beispiele – wie den Schriftsteller und Intellektuellen“, Es ging durchaus um ein grundsätzli- van der Lubbe – zu zeigen, wie ein Ar- die „angesichts der Ereignisse unserer ches Problem. beiter zur Waffe des Klassenfeinds wer- Zeit, angesichts der faschistischen Bar- den könne, vor allem aber die Helden barei und der Gefahr eines neuen grau- In seinem Essay „Egon Erwin Kisch und der proletarischen Bewegung darzustel- envollen imperialistischen Krieges ih- die Reportage“ – der Text wurde auch len, Gestalten, denen „Millionen nachle- re Schritte hinwenden zum Lager der in die Sammlung von Kisch-Reporta- ben können“. Revolution, zur Sowjetunion“. Das li- gen „Abenteuer in vier Kontinenten“, teraturpolitische Modell, welches dem Paris 1936, aufgenommen – hat Theo- In einem Brief vom März 1935 aus Pa- zugrunde liegt, weist auf die Ziele hin, dor Balk einen detailreichen Abriss der ris hat Johannes R. Becher dem von ihm die von der sozialistischen deutschen Entwicklung des Autors Kisch und der hoch verehrten Dimitroff zugestimmt, Literaturbewegung mit der Vorberei- Besonderheiten seiner Kunst der Re- dass die proletarisch-revolutionäre Be- tung des Internationalen Schriftsteller- portage zu geben versucht. Kisch wird wegung die Gestaltung vorbildlichen kongresses in Paris verbunden waren. als „Reporter des Proletariats“ vorge- Verhaltens, die Gestaltung von „Helden- Diese Ziele waren bereits im Januar stellt, der vom bürgerlichen zum sozia- schicksalen“ noch scheue. Doch warnt 1935 – in einer Generalversammlung listischen Realisten geworden sei. „Die er den Leiter der Komintern auch da- des Schutzverbandes deutscher Schrift- Entwicklung des Standpunktlosen zum vor, die Erfolge der proletarischen Lite- steller im Exil – dargelegt worden, einer Standpunkthabenden, des Impressio- ratur zu unterschätzen. Zwar sei Selbst- Bündnisorganisation in Paris, in der seit nisten zum Dialektiker vollzog sich im gefälligkeit wenig am Platze in einer dem Herbst 1933 proletarisch-revolu- gleichen Schritt, da aus dem Berichter- Zeit, da bürgerliche Schriftsteller den tionäre, linksbürgerliche und liberale statter der Elendsexotik der Berichter- Büchermarkt beherrschten und die Be- Schriftsteller zusammengewirkt hatten. statter des arbeitenden Menschen, aus mühungen um eine „breite Einheits- Das programmatische Referat dieser dem kleinbürgerlichen Gesellschaftskri- front“ dazu führten, dass „viele ‚Meister Generalversammlung über die Aufga- tiker der wissenschaftliche Marxist ge- des Wortes‘ zu uns kommen“. Aber – ben der antifaschistischen Schriftsteller worden ist“, schreibt Balk in seiner Wür- gibt Becher zu bedenken – „es wäre bei der Vorbereitung der großen Tagung digung Kischs. Doch macht er auch eine schlecht für unsere Literatur und ihre zur Verteidigung der Kultur wurde von wesentliche Einschränkung, in dem er Entfaltung, dabei kritische Methoden zu Alfred Kantorowicz gehalten, der da- betont, dass Kisch bisher den Kampf verwenden, die lediglich darauf ausge- mals eng mit Becher zusammenarbei- des Proletariats selbst noch nicht zum hen, Fehler zu entdecken, und die jeden tete und führend im Schutzverband tä- Thema seiner großen Reportagen ge- großzügigen kameradschaftlichen Geist tig war. Er definierte den Schutzverband macht habe, dass er „dem Proletariat bei dieser Kritik vermissen lassen.“ Ge- als eine „Kampforganisation“. Das blieb in seinen großen Kämpfen … in seinen gen solche Methoden sucht Becher die nicht unbestritten, wurde aber doch Sturmangriffen und Rückzügen, seinen Unterstützung Dimitroffs, um die antifa- von einem Großteil der deutschen Exi- Streiks, seinen Aufständen und Revolu- schistische Literatur besser fördern zu lautoren akzeptiert. „Wir kämpfen als tionen“ noch nicht gefolgt sei. Kisch – können. Schriftsteller: das heißt: schreibend“, lautet Balks Résumée‚ – „ist der große sagte der Redner. Weil Darstellung der Reporter-Ankläger. Noch mehr wäre er, Gewiss, eine Kritik solcher kritischen Wirklichkeit ihre Kritik einschließe, Kri- wenn er der Reporter des kämpfenden Verfahren traf für Balks Kisch-Essay tik der heutigen Wirklichkeit aber eine Proletariats sein würde.“ Die nächste kaum zu, der ganz und gar darauf aus Kampfansage an die Macht der faschis- und höchste Entwicklungsetappe stehe war, den Meister der Reportage zu neu- tischen Diktaturen sein müsse, sei das noch aus. em Schaffen anzuregen und seine Leis- entscheidende Merkmal der Literatur in tungen zu würdigen. Doch die Gefahr, der Emigration: eine „Kampfliteratur“ zu Eine solche Sicht kam nicht von unge- unangemessene, nicht aus der schöpfe- sein. fähr. Nur wenige Wochen, nachdem rischen Praxis entwickelte Forderungs- Balk diesen Essay niedergeschrieben kataloge aufzustellen, war durchaus Doch bedeute – hieß es weiter – die- hatte, hielt Georgi Dimitroff in Moskau gang und gebe. Balks Hoffnung auf die se Forderung an die Emigrationslitera- auf einem antifaschistischen Abend im künftigen Arbeiten Kischs war übrigens tur nicht, nun von jedem Schriftsteller Haus der Sowjetschriftsteller eine Rede nicht aus der Luft gegriffen. Schon das „direkte Attacken gegen den Hitleris- zum Thema „Die revolutionäre Litera- nächstes Buch, „Landung in Australien“, mus“ zu verlangen. Sie trage vielmehr tur im Kampfe gegen den Faschismus“. stellte sich dem neuen Thema. Das ge- der Tatsache Rechnung, dass gerade Im Vorfeld des VII. Weltkongresses der schah freilich auf eine eigenwillige Wei- die bürgerlichen Schriftsteller, die den Kommunistischen Internationale wur- se: als Bericht über Kischs eigene Aus- Mut und die Konsequenz zur Emigrati- den hier Grundlinien einer revolutio- tralien-Mission. Balks Unterscheidung on aufgebracht haben, durch ihre Erfah- nären antifaschistischen Literaturpolitik zwischen Reporter-Ankläger und Repor- rungen „näher an die Wirklichkeit her- aus kommunistischer Sicht entwickelt. ter des kämpfenden Proletariats konn- angerückt“ seien. Diese Wirklichkeit Im Zentrum von Dimitroffs Überle- te die tatsächlichen Entwicklungen in aber zeige beinahe schon unverhüllt die gungen stand die grundlegende Ein- Kischs Schaffen nicht zutreffend be- Alternative an: „Aufstieg im Sozialismus sicht, nicht der sei ein revolutionärer schreiben. Gerade darauf kam es aber oder Untergang in der Barbarei“. Die Schriftsteller, der immer nur wiederhole letztlich an. Formulierung zeigt, ein wie langer und „Es lebe die Revolution!“ Nur der könne komplizierter Erkenntnisprozess es war, als revolutionärer Schriftsteller gelten, Das Grußwort Johannes R. Becher zum bis die ganze Differenziertheit und Wi- der „den Prozess der Revolutionierung Kisch-Geburtstag hebt hervor, der Weg, dersprüchlichkeit der antifaschistischen der Arbeitermassen fördert, der sie zum den Kisch gegangen sei, stelle „ein aus- Front in der Literatur voll erfasst und

28 analysiert werden konnte. Es stellte da- Verdauung der Bürger“. Sein Bekennt- tische Wochenzeitung „Der Gegen-An- bei durchaus ein wesentliches Hemmnis nis lautete: „Wir wollen nicht beruhi- griff“ ihm eine volle Seite widmete. dar, dass von den proletarisch-revoluti- gen, sondern aufstacheln, nicht ablen- onären Schriftstellern – den Kommunis- ken, sondern ins Zentrum führen, nicht Im kommunistisch redigierten „Gegen- ten vor allem – noch nicht deutlich zwi- den Mußestunden dienen, sondern zum Angriff“ polemisiert der Historiker und schen dem strategischen Nahziel des Kampf vorbereiten“. Bekenntnis und Zeitungsmann Kurt Kersten gegen das, Sturzes des Hitlerfaschismus und der Programm münden in die These: „Un- was er die Kisch-Legende nennt, die Perspektive einer proletarischen Revo- sere Funktion ist nicht die Erheiterung Ansicht nämlich, dem „rasenden Re- lution unterschieden wurde. Noch im der Gesellschaft, sondern ihre Erzie- porter“ Kisch falle es leicht, Chancen Mai 1935 ist in einer „Zweijahresbilanz hung; nicht ihre Bestätigung, sondern wahrzunehmen und Erfolge zu errin- der Verbrannten“ von F. C. Weiskopf ei- ihre Veränderung“. gen. Kisch, dieser „europäische Journa- ne deutliche Diskrepanz zwischen einer list“, habe schwer arbeiten müssen, um differenzierten Analyse der literarischen Solche rigorosen Formulierungen las- schließlich „zu einem der besten revo- Situation im Exil und einem Konzept an- sen jedoch leicht übersehen, daß hier lutionären, proletarischen Publizisten“ tifaschistischer Literatur zu spüren, das keineswegs nur die proletarisch-revolu- zu werden. Gewissen, Fleiß und Kom- weite Teile der Emigrationsliteratur aus tionären Vorstellungen vergangener Jah- binationsgabe, die durch revolutionäres der antifaschistischen Front ausgrenz- re fortgeführt wurden. Der Text dieser Bewusstsein geschult ist – darin sieht te, weil ihre Vorstellungen vom Faschis- Rede über „Aufgaben und Perspektiven Kersten die Charakteristika von Kischs mus nicht mit denen der Kommunisten der nicht gleichgeschalteten deutschen Talent. Dass er als bekannter Repor- vereinbar waren. Schriftsteller“ wurde erst im März in der ter, als Mann von vierzig Jahren, ange- Zeitung „Gegen-Angriff“ veröffentlicht. sichts seines so mühsam erreichten li- Unter den Emigranten – schreibt Weis- Das lässt auf schwierige Klärungspro- terarischen Durchbruchs, sich bewusst kopf – seien solche, die nur mangels zesse innerhalb der proletarisch- revo- noch einmal der Frage gestellt habe, arischer Urgroßeltern auswanderten, lutionären Schriftstellergruppe in Paris welchen Leser er erreichen wollte – das und solche, die in Mystik, Exotik oder in schließen, ob – um eine Formulierung ist für Kersten die beste Widerlegung monarchistisch-konservative Anschau- Bechers aufzugreifen – „durch die Ein- der Kisch-Legende. ungen flüchten. Aber auch „erklärte heitsfront unsere proletarische Kern- Feinde des Nationalsozialismus“ will literatur nicht verschwiegen“ werde. Stärker drängen Bruno Frei und F. C. Weiskopf nicht ohne weiteres als Anti- Die Überzeugung Bechers und nicht Weiskopf in ihren Artikeln im „Gegen-An- faschisten betrachtet wissen: „… viele weniger seiner Freunde war es, dass griff“ auf Verallgemeinerungen. Dem ei- von ihnen sehen noch immer im Nati- die „Sammlung aller antifaschistischen nen – Bruno Frei – geht es um die Kunst onalsozialismus eine Art grausigen Zwi- Schriftsteller der Welt und der Plan ei- der Reportage. Wichtigste Lehre Kischs schenspiels, einen Rückfall in die Bar- ner Konferenz … unsere gesamte Lite- Berichterstattung sei, dass die „Leiden- barei des Mittelalters, eine besondere raturentwicklung gewaltig anzuregen … schaft der Tatsachen … überzeugender Entartung des Geisteszustandes eines und neue Möglichkeiten … (für) die pro- (ist) als die Tatsache der Leidenschaft“. ganzen Volkes, … nicht jedoch das or- letarische Literatur als … Kern dieser In der Fähigkeit, das „Einzelobjekt in ganische Erzeugnis des sterbenden Ka- Bewegung“ zu erschließen vermöchte. den gesellschaftlichen Zusammenhang pitalismus“. So wichtig, so richtig und Dafür trat er ein, darauf richteten sich hineinzustellen“ und beide – Objekte notwendig eine solche Kritik auch in der seine Bemühungen im Vorfeld des Pari- wie Zusammenhang – gleichermaßen Sache sein mochte, sie rechtfertigte na- ser Kongresses. wichtig zu nehmen, bestehe der Wahr- türlich nicht, diese Auffassung von den heitsgehalt der Reportagen Kischs. gesellschaftlichen Wurzeln des Faschis- Was lag da näher, als solchen Bemü- Dem anderen – F. C. Weiskopf – geht mus als einzig entscheidendes Kriteri- hungen das Beispiel des Mannes dienst- es um die Kunstwirkungen in Kischs um des Antifaschismus festzuschreiben bar zu machen, der als Reporter und großen Reportagen. Mit dem Blick auf und antifaschistische Haltung letztlich Schriftsteller nicht nur auf exempla- die novellistischen Motive und epischen mit einem Bekenntnis zur sozialisti- rische Weise den Übergang zur sozia- Gestaltungsmittel in den Reportagebü- schen Revolution gleichzusetzen. Dar- listischen Literaturbewegung vollzogen chern Kischs behauptet Weiskopf, der über schuf der VII. Weltkongress der hatte, sondern darüber hinaus zum ei- große Reporter erziele „die stärksten Kommunistischen Internationale mit nen von der literarischen Avantgarde als Wirkungen vor allem deshalb, weil er ein seiner strategischen Konzeption der Schöpfer eines neuen Typus von Repor- bedeutender Schriftsteller, weil er eine proletarischen Einheitsfront als Kern ei- tage anerkannt war und zum andern so- originelle, phantasievolle, mit der Kraft ner antifaschistischen Volksfront weni- wohl unter linken Intellektuellen als auch des Fabulierens begabte, reiche litera- ge Monate später Klarheit. unter klassenbewussten Arbeitern Reso- rische Persönlichkeit“ sei. nanz gefunden hatte. Zu alledem kommt Eben deshalb war es von größter Be- noch, dass er im Jahre 1935 einer von Die Frage nach dem Kunstcharakter der deutung, wenn Weiskopf das Lernen den nicht gerade zahlreichen deutsch- Reportagen Kischs bestimmt die Mehr- von der Wirklichkeit, die Annäherungs- sprachigen kommunistischen Autoren zahl der Beiträge zum Kisch-Geburtstag, und Übergangsprozesse, den wachsen- war, die einen internationalen Ruf, wenn soweit sie über eine nur politische Wür- den Willen zum Engagement der Schrift- nicht gar weltliterarischen Rang besa- digung oder bloße Erinnerungsskizzen steller im antifaschistischen Kampf ßen. So erklärt sich der im Exil beispiel- hinausgehen. Die Positionen der Schrei- stark betont. Auch Kantorowicz verall- lose Vorgang, dass nicht nur die litera- ber sind dabei höchst widerspruchs- gemeinert die Erfahrungen des Schutz- rischen Zeitschriften „Internationale voll. In den „Neuen Deutschen Blättern“ verbandes in Paris, wenn er sagt, keiner Literatur“ und „Neue Deutsche Blätter“ findet sich – vom Herausgeber freilich der Verbannten schreibe „heute mehr Sondernummern zum Kisch-Geburtstag betont von den übrigen Beiträgen des bewusst oder unbewusst zur besseren herausbrachten, sondern auch die poli- Heftes über Kisch abgerückt – eine Be-

29 sprechung zu Kischs „Geschichten aus dene Richtungen des Nachdenkens über baufähig gewesen wäre, ist eine offene sieben Ghettos“ von Werner Türk. Die den Platz der Reportage und des Repor- Frage geblieben – der Autor jedenfalls „künstlerische Rangerhöhung“ der Re- ters in der modernen Literatur. konnte ihr nicht mehr nachgehen, weil er portage durch Kisch wird hier damit be- in die Mühlen des stalinistischen Terrors gründet, der Reporter berichte selten Man kann Schmückles Studie als den geriet. Die Argumentation Schmückles im landläufigen Sinne. Er nutze „Mittel Versuch betrachten, dort weiterzuden- lässt freilich vermuten, dass von seinem und Methoden“ zur Darstellung der Tat- ken, wo Georg Lukács‘ Argumentati- Ansatz her die spezifische Funktion und bestände, die „der Werkstatt des Künst- on in die Sackgasse führte. Reportage die kunstgeschichtliche Stellung der so- lers entstammen“. So trügen seine Re- ist für Schmückle ein „echtes Kind un- zialen Reportage Kischs kaum zuläng- portagen zu einem großen Teil „den seres Zeitalters“, gekennzeichnet durch lich hätte bestimmt werden können. Charakter von Erzählungen“. Ganz un- die „Muttermale dieser Epoche“. Wie Hier aber setzte Bihalij-Merin mit seiner verkennbar wird hier freilich das neue verhält sich nun das „wissenschaft- Untersuchung ein. Hinter dem recht un- Genre einem alten ästhetischen Nor- liche Element“, das analytische Verfah- spezifischen Titel „Ein großer deutscher menkatalog subsumiert – und damit in ren in Kischs Arbeitsweise zur „schöp- Reporter“ verbirgt sich bei ihm in der seiner Eigenart negiert. In dieser Sicht ferischen Phantasie“? fragt Schmückle. Sache eine recht gründliche Abrech- besteht die Qualität der Reportage Um Antwort zu finden, greift er den nung mit politisch-voluntaristischen Kischs darin, keine Reportage zu sein. Gedanken Tretjakows vom Kundschaf- Vorstellungen vom Wirken literarischer Im Gegensatz dazu hat Georg Lukács in ter Kisch auf, formt ihn jedoch auf eine Texte, aber auch mit den verbreiteten seiner kurzen Studie über Kisch – ver- charakteristische Weise um: Zur Kunst Versuchen, klassische Kunstprinzipien öffentlicht in der „internationalen Li- habe Kisch die Reportage erhoben, in- zu Orientierungsgrößen für die antifa- teratur“ – Kisch als eine „bedeutende dem er ihr Eigenschaften einverleibte, schistische Literatur zu machen. Bihalij- Figur unter unseren proletarisch-revolu- die „den Späher und Entdecker ausma- Merins Frage ging dahin, wie „Ausdruck tionären Schriftstellern“ gewürdigt, als chen“. Das heißt hier, die „aktiven, he- und Form des Abbildes der Wirklich- Schriftsteller, der „in unserer Literatur roischen Züge … der Realität“, die „ver- keit und die Methode ihrer Gestaltung“ und für unsere Literatur … den Typus borgene Wahrheit“ in den Stoffen und sich in den großen technischen, wissen- des revolutionären Reporters“ geschaf- Gegenständen zu entdecken. Das aber schaftlichen und sozialen Umwälzungen fen habe. Sein Lob auf Kisch als „Meis- könne nur im sinnlich-farbigen, körper- der Geschichte verändern. ter der legitimen und bedeutenden Form lichen Stoff, in der Sache selbst, mittels der Reportage“, sein Plädoyer für „die einer von Erfahrungen genährten Vor- Er entwirft eine Entwicklungsskizze von echte, durchschlagskräftige Form der stellungskraft und Entdeckerphantasie Zeitung und Bericht als Medien „des Reportage“ verbindet Lukács aber mit geschehen, die von Anfang an ein for- Austauschs … der Erfahrungen des bür- einer strikten Abgrenzung der „schöp- mendes und gestaltendes Element ein- gerlichen Bewusstseins“ und als „Ins- ferischen Methode der Reportage“ ge- schließe. Offenkundig geht Schmückle trument der bürgerlichen Herrschaft“. genüber dem Roman, dem Drama oder weniger von einer Analyse der Kisch- Eben dieser Doppelaspekt lasse in der der Novelle. Kaum eingegliedert in ein Reportagen aus. Er sucht vielmehr ein Gegenwart den Reporter in der herr- proletarisch-revolutionäres Literatur- Modell des „Arbeitsprozesses“ in der schenden bürgerlichen Presse zum konzept, werden Reporter und Reporta- Kunst zu entwerfen, das ihm – in deut- „commis voyageur der Unwahrheit“ ge so wieder aus dem Kernbereich des lichem Unterschied zu Lukács übri- werden. Zugleich werde auch die Repor- literarischen Prozesses ausgegrenzt. gens – erlaubt, die strenge Scheidung tage zum Ausdruck eines veränderten Sie werden verwiesen in den Vorhof des der Gattungsgrenzen mit dem Verweis künstlerischen Weltbildes, das die „Si- „großen Realismus“, in eine ästhetische auf die künstlerische Leistung Kischs zu multaneität der Schall- und Bildwellen- Sackgasse. Was bleibt, ist eine litera- durchbrechen. Der Künstler – er wird in übertragung“ ebenso zu verarbeiten hat rische Ehrenerklärung. Schmückles Überlegungen durch Kisch sie die „Begriffsveränderungen von Zeit repräsentiert – operiere als Entdecker und Raum, von Tempo und Präzision“. Zwei Studien sind es vor allem, in denen mit einem sinnlich-wahren Denken. Be- Kisch aber sei einer von denen, die „die kommunistische Publizisten die exemp- wusst oder unbewusst von seiner Welt- Bedeutung der Reportage für die Ge- larische Bedeutung von Kischs Schaf- anschauung bestimmt, schließe dieses genwart erfasst haben, die Notwendig- fen für die Selbstverständigung unter sensuell-ideelle Erspähen der Dinge ei- keit, den Ablauf der Ereignisse mit Prä- antifaschistischen Schriftstellern über ne Auswahl ein, eine Auswahl des We- zision und Schnelligkeit auf den Markt Funktion und Perspektive ihrer Arbeit sentlichen und eine Präformation des des Wortes zu bringen“. theoretisch zu erörtern suchen. Beide Kunstwerks. Im Zusammenspiel von Studien können als zentrale Beiträge „sinnlicher Anschauung des Künstlers“ Ob damit die Funktion der großen Re- der Organe gelten, in denen sie erschie- und „Entdeckergedanken“ gewinne die portage Kischs erfasst ist, mag zweifel- nen sind, als Ausdruck ihrer jeweiligen Kunst Kischs „den dringlichen Akzent haft sein. Wesentlich erscheint mir vor programmatischen Grundorientierung, des Reports“, und gleichzeitig werde allem die Beschreibung der Reportage von der aus die Vielzahl Zuschriften der „Report zum Kunstwerk“. als einem repräsentativen literarischen und Meinungen zu Kisch gelesen wer- Genre in der Gegenwart. Als Charak- den sollen. Ich meine den Aufsatz „Lob Schmückle sucht mit dieser Konstrukti- teristikum tritt das Durchbrechen der der Entdeckerkunst“ von Karl Schmück- on eine Vermittlung zu finden zwischen strengen, einander ausschließenden le aus der Kisch-Nummer der „Internati- dem Realismus-Konzept des Kerns Darstellungsmethoden in den „klas- onalen LKiteratur“ und den Aufsatz „Ein der Moskauer Schriftstellergruppe um sischen Künsten und Wissenschaften“ großer deutscher Reporter“ von Pierre die „Internationale Literatur“ und den hervor. Merins Begründung lautet: „Die Merin – das ist Otto Bihalij-Merin – aus künstlerischen Verfahren der linksbür- Kunstformen, die aus der Periode der dem Sonderheft der „Neuen Deutschen gerlichen und sozialistischen Avantgar- kapitalistischen Entwicklung hervor Blätter“. Beide repräsentieren verschie- de-Kunst. Ob ein solcher Versuch aus- wuchsen – Film, Funkliteratur, Foto-

30 montage – basieren auf Resultaten der und morgen“ notiert Wolf Franck – ein lat ironisch und versicherte seinen angewandten Wissenschaft, werden Rundfunkmann und Aktivist des Schutz- Zuhörern in komischem Ernst, in „un- durch wissenschaftliche Apparatur re- verbandes – die Veranstaltung sei „von gebrochener körperlicher und geisti- alisiert. Die Reportage, als die früheste umfassender symbolischer Tragweite“ ger Frische“ zu sein. In der „von ihm Form dieser modernen Kunstgattungen, gewesen, ja der Kisch-Geburtstag habe meisterhaft beherrschten Form unmit- steht noch an der Grenze der beiden eigentlich nur einen Vorwand gebildet, telbarer Erzählung“ berichtete er von Gebiete. Im wesentlichen gebraucht um Heerschau zu halten – wie die aktu- der eigentlichen Idee seiner Austra- sie eine Synthese wissenschaftlicher elle Situation es verlangte. lien-Reise: einen Redefeldzug gegen und künstlerischer Methoden bei der den Faschismus zu führen. Von seinen Reproduktion der Wirklichkeit.“ Soweit Unter dem Vorsitz des Franzosen Je- australischen Abenteuern sprach er in der historisch theoretische Ansatz im an-Richard Bloch kamen als Vertre- einer Weise, dass – wie Wolf Franck Konzept Merins. Das Neue in der Me- ter des Weltkomitees gegen Krieg und mitteilt – sich der Saal vor Lachen und thode Kischs bei seiner Arbeit als sozi- Faschismus Friedländer und als Über- Begeisterung bog. aler Reporter wird als Versuch erklärt, bringer eben erschienener Bücher der den Marxismus auf dem Gebiet der Re- Schriftsteller Gustav Regler zu Wort. Es war ein gelungener, ein erfolg- portage anzuwenden, im Versuch, den Wieland Herzfelde, der Malik-Verleger, reicher Abend. Aber: Geben die knap- „Weg vom lebendigen Augenschein berichtete von der Moskauer Kisch-Fei- pen Berichte Auskunft über die weit zum abstrakten Denken und von die- er, und John Heartfield brachte Grüße wichtigere Frage, ob tatsächlich mit sen beiden zur Praxis der objektiven aus Prag – unter anderem von Kischs all den Bemühungen der Boden für das Realität“ in seinen Reportagen zu ge- Mutter. Der Vorsitzende des Schutzver- Bündnis der Schriftsteller im Zeichen stalten. bandes Rudolf Leonhard und der Schau- der Verteidigung der Kultur bereitet spieler-Sänger Ernst Busch grüßten. werden konnte? Gewiss nur in Bruch- Es wäre reizvoll, an dieser Stelle einen Vaillant-Couturier, der Vorsitzende der stücken. Lassen Sie mich deshalb am Vergleich mit Bihalij-Merins wenige Mo- französischen Vereinigung revolutio- Schluss noch ein Detail hervorheben, nate später in der „Internationalen Lite- närer Schriftsteller und Künstler (AE- das auf eine mögliche Antwort weist. ratur“ erschienenem Aufsatz über „Das AR), und Henri Jeanson vom „Canard Bei Wolf Franck ist zu lesen, auf der Werk des Bert Brecht“ anzustellen. Da- enchain“, – einer satirischen Wochen- Kundgebung zu Ehren Kischs sei auch zu ist hier nicht der Raum. Auch so mag schrift – sprachen für die Franzosen. eine kleine Arbeit von Brecht verteilt deutlich geworden sein, dass in der Rolland und Barbusse hatten Grußtele- worden: „Fünf Schwierigkeiten beim Beschäftigung mit Kisch und seinem gramme geschickt. Als russischer Ver- Schreiben der Wahrheit“. In dieser Reportagenwerk Grundprozesse der treter war Michail Kolzow unter den Schrift konzentriere sich die „Quintes- Selbstverständigung antifaschistischer Rednern, schriftlich gratulierten Pilnjak senz des Geistes, zu dem diese Kund- Schriftsteller ausgemacht werden kön- und Fedin. Selbst aus Australien fand gebung beitragen sollte“, meint der Be- nen. Der antifaschistische Konsens bei sich eine Sprecherin ein. Der Abend richterstatter. der Würdigung des Schriftstellers und wurde umrahmt von Rezitationen des Kämpfers Kisch steht neben tief grei- revolutionären Sprechdichters Erich Wie aber liest er die Schrift Brechts? fenden Divergenzen der Kunstkonzepte, Weinert. Die Kisch-Feier war – wie der Fast verblüfft nimmt er wahr, wie die- in welche diese Würdigung eingeschlos- Bericht in der Emigrantenzeitung „Pa- ser Brecht, ein „Kommunist … von der sen ist. Konsens und Divergenz schlie- riser Tageblatt“ versichert – auf einen extremsten Einseitigkeit, die in der an- ßen einander nicht aus, ja, es scheint „wirklich erfreulichen Ton der Kamerad- tifaschistischen Front vertreten ist“, sogar, als bedeute die schrittweise Aus- schaft und des ungebrochenen Kampf- es verstanden habe, sich ganz auf die prägung von solchen eigenständigen willens der Emigration gestimmt“. Das „Kampfsituation des Augenblicks“ ein- Kunstanschauungen sogar einen Ge- war 1935 keine Selbstverständlichkeit, zustellen, ohne dabei seinen kommu- winn an Integrationskraft der proleta- sondern hervorhebenswert. Auch Wolf nistischen Standpunkt zu verleugnen. risch-revolutionären Literaturbewegung Franck beschreibt in seinem – schon Brechts „kampfmethodische“ Vor- gegenüber ihren literarischen Bündnis- zitierten – Bericht die Atmosphäre auf schläge könnten die Schreibenden für partnern verschiedener Richtungen. ähnliche Weise. Er meint, die geisti- das allgemeine Ziel und die einzige ge Gemeinschaft der Sprecher sei vor Idee mobilisieren, „wie sie gerade di- Das lässt sich zumindest auf dem Höhe- allem darin zum Ausdruck gekommen, ese Kundgebung um Egonek so glück- punkt all der Bemühungen zu Kischs 50. dass sie sämtlich in „Egonek“ mehr als lich verkörperte: den Antifaschismus“. Geburtstag feststellen, als die Feier des eine einzelne Person feierten – näm- Hier, wenigstens hier, ist der Weg frei- Schutzverbandes und der Deutschen lich eine große Sache, die Sache der gekämpft zum politisch-literarischen Freiheitsbibliothek am 23. Mai 1935 in Erniedrigten und Beleidigten auf der Bündnis im Zeichen einer Einheits- und Paris stattfand. Fünfhundert Plätze fass- ganzen Welt. Volksfront. Es war ein steiniger Weg te der Veranstaltungssaal, und sie wa- und es zeigte sich bald, dass er immer ren besetzt – wie Berichterstatter in Auch der „Jubelgreis“ selber nahm wieder verbarrikadiert wurde. der zeitgenössischen Presse festgehal- das Wort, begrüßte wie gewohnt die ten haben. In seiner Zeitschrift „Heute Nazi spitzel vom deutschen Konsu- Professor Dr. Dieter Schiller

31 Das Münchner Abkommen 1938 – gestern und heute

Wer Böhmen besitzt, beherrscht Euro- te der Außenminister insbesondere die tions- und Propagandaarbeit zu leisten. pa – so lautete jahrhundertlang ein Leit- „Umgestaltung der Ostgrenze“, die Su- Ab 1936 nahm das NS-Regime, dass spruch der Feudalherrn im „Heiligen Rö- detenfrage und andere Gebietsver- bis dahin notgedrungen ein äußerlich mischen Reich deutscher Nation.“ änderungen zu Gunsten des „Dritten friedliches Verhältnis zur CˇSR bewahrt An diesen Grundsatz knüpften die deut- Reiches“, wie zum Beispiel den so ge- hatte, Kurs auf die offene Konfrontati- schen Imperialisten an, insbesondere nannten Anschluss Österreichs. 3 on gegenüber dem Nachbarland. Eine die braunen Machthaber der NS-Dik- Das von Neurath in seinen Ausfüh- dramatische Zuspitzung des Gegenein- tatur. Seit ihrer Gründung verfocht die rungen am 7. April 1933 vertretene Prin- anders in den deutsch besiedelten Ge- deutsche Nazipartei das Ziel, die Ergeb- zip, wonach „außenpolitische Konflikte bieten der Tschechoslowakei brachte nisse des Ersten Weltkrieges in Bezug so lange zu vermeiden sind, bis wir völ- der mit militärischen Mitteln erzwun- auf die Gründung der Tschechoslowakei lig erstarkt sind“ 4, gene Anschluss Österreichs an das zu revidieren. 1 Zu den frühen Äuße- fand auch hinsichtlich der offiziellen Be- „Dritte Reich“ am 12. März 1938. Die rungen der deutschen Faschisten gehört ziehungen zur CˇSR seine Anwendung. Sommermonate des Jahres 1938 stan- ein Artikel im Parteiorgan „Völkischer Dabei wird die Doppelstrategie der NS- den ganz im Zeichen provokatorischer Beobachter“ vom 31. Oktober 1928. Diktatur wieder sichtbar: Institutionen Aktionen der Sudetendeutschen Partei Darin schlug der Verfasser vor, die Po- der Nazipartei förderten noch aktiver als (SdP). Auftragsgemäß organisierte sie len und Tschechen aus ihrer Heimat zu vor 1933 und mit dem Einsatz groß di- „Protestkundgebungen“ gegen die CˇSR vertreiben. Diese barbarische Absicht mensionierter finanzieller Mittel ein An- und die Prager Regierung. Sie führte be- enthüllte Hitler auch im Sommer 1932, schwellen der profaschistischen Betäti- waffnete Überfälle auf Polizei, Gendar- als er auf einer Tagung der Nazipartei gung in der Tschechoslowakei, vor allem merie und Zollstationen sowie gegen zu Landwirtschaftsfragen sagte: „Die im Sudetengebiet und an der Grenze deutsche Antifaschisten durch. Auf die- Tschechen müssen heraus aus Mittel- auf deutschem Territorium. Die tsche- se Provokationen antwortete die Regie- europa.“ Den Weg dazu wies er mit den choslowakischen Behörden reagierten rung der CˇSR am 13. September 1938 Worten, „ das böhmisch-mährische Be- mit neuen Gesetzen, polizeilichen und mit der Verkündung des Standrechts cken“ müsse in Zukunft von deutschen richterlichen Maßnahmen gegen die- über die betroffenen Gebiete. Bauern besiedelt werden, wohingegen se Welle faschistischer Kundgebungen, Nun sah sich das NS-Regime am Ziel, „die Tschechen und Böhmen nach Si- Demonstrationen und Publikationen in die Abrennung des „Sudetenlandes“ zu birien oder in wohlynische Gebiete zu den dreißiger Jahren. Ein gutnachbar- fordern, um – wie es scheineilig hieß – verpflanzen seien.“ 1 So sollte also sich liches Nebeneinander beider Staaten die „Sicherheit“ der dort lebenden Deut- die angestrebte „Vereinigung aller Deut- konnte nicht eintreten, weil das NS-Re- schen zu garantieren. schen“ vollziehen, so gedachte man die gime seine Revanchepolitik planmäßig Mit dem Münchner Diktat vom 29. Sep- Sätze des offiziellen Kommentars zum fortsetzte und alles tat, um seine An- tember 1938 begann die unmittelbare Parteiprogramm der NSDAP von 1927 hänger in der CˇSR gegen die Politik ih- Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges. zu verwirklichen, in denen es hieß: „Wir res Staates anzustacheln. Vor allem ir- Großbritannien und Frankreich wa- verzichten auf keinen Deutschen im Su- redentistische Vorstellungen erhielten ren bemüht, mittels ihrer Beschwich- detenland, in Südtirol, in der Völker- jede erdenkliche Unterstützung. tigungspolitik Deutschland auf eine bundskolonie Österreich.“ 2 In der Tschechoslowakei sahen die Nazis Aggression gegen die Sowjetunion fest- Als Voraussetzung für das Durchset- ein Hindernis für ihre Aggressionspläne. zulegen. Hitler erhielt mit der Duldung zen dieser Aggressionsziele ging es, Das Nachbarland setzte allein durch sei- der Regierungschefs Frankreichs und wie Hitler nur fünf Tage nach seiner Er- ne Existenz eine Grenze in ihrem Stre- Großbritanniens, Daladier und Cham- nennung zum Reichskanzler vor den Be- ben, Mitteleuropa zu beherrschen und berlain, jetzt freie Hand, unverzüglich fehlshabern der Reichswehr feststellte, nach Südosteuropa vorzudringen. Hin- in die überwiegend von Deutschen be- um die Wiedereinführung der allgemei- zu kam, dass die Tschechoslowakei un- wohnten Gebiete der Tschechoslowakei nen Wehrpflicht. eigennützig viele deutsche Emigranten einzumarschieren und sie in das „Drit- Die offizielle Außenpolitik der NS-Regie- aufnahm und ihnen die Möglichkeit bot, te Reich“ zu integrieren. Kaum, dass die rung sah sich aber zunächst zur Zurück- illegal nach Deutschland hineinzuwir- faschistische Wehrmacht, dass haltung gezwungen, dennoch hob der ken. Gemeinsam agierten sie mit tsche- und SD in die „sudetendeutschen“ Ge- damalige Reichsaußenminister Kons- chischen Kommunisten, Sozialdemo- biete einmarschiert waren, begann eine tantin von Neurath am 7. April 1933 in kraten und parteilosen Antifaschisten gut vorbereitete Verhaftungswelle ge- einer Kabinettsberatung hervor, dass gegen die braune Diktatur. gen Antifaschisten. In den Tagen nach die Revision des Versailler Vertrages In den Jahren von 1933 bis 1938 fanden der Reichspogromnacht wurden Syna- „die vitalste Aufgabe Deutschlands“ sei. 8.000 bis 10.000 verfolgte deutsche gogen angezündet, Juden gedemütigt Das müsse allerdings „verhältnismä- Bürger Asyl in der CˇSR. Heinrich, Tho- und verfolgt. ßig langsam und möglichst geräusch- mas und Klaus Mann sowie viele andere Nach seiner Rückkehr aus München los“ erfolgen. Als politische Methode Verfolgte wurden Bürger der Tschecho- verkündete der britische Premierminis- empfahl Neurath die „Einzelrevision“. slowakei. Trotz mancher Ausweisungen ter Neville Chamberlain vor dem Lon- Zu den Zielen auf territorialem Gebiet, deutscher Antifaschisten gelang es, mit doner Regierungssitz, den von ihm un- für deren Verwirklichung die Regie- Hilfe der tschechischen Bruderparteien terschriebenen Text des Abkommens rung „jeweils den außenpolitisch güns- eine gewisse Volksfront zu schaffen und in der Hand, dass der Frieden in Euro- tigen Zeitpunkt“ zu wählen habe, zähl- bedeutende antifaschistische Organisa- pa jetzt langfristig gesichert sei. Seine

32 Voraussage sollte sich als sehr folgen- Betzel, Eva Blank, Adolf Buchholz, Hans tember 1938 in München kommt. Die schwere Fehleinschätzung erweisen. Busch, Max Dankner , Wilhelm Gaida, Menschheit läuft gegenwärtig in Ge- Bereits am 15. März 1938 annektierte Franz Gold, Herta Gräf, Stefan Gürtler, fahr, die Lehren aus der Geschichte des das NS-Regime Böhmen und Mähren (in Dezider Hammer, Josef Hergelt, Stefan Zweiten Weltkrieges zu vergessen und der Sprache der Faschisten: die „Rest- Heym, Albert Hößler, Raimund Hübner, bewußt zu verdrängen. Tschechei“) und zerschlug damit end- Max Kahane, Werner Knapp, Ernst Kut- gültig die Tschechoslowakei. schera, Ernst Langguth, Robert Leh- Dr. Günter Wehner Die nun erneut zur Flucht verurteilten mann, Erika und Klaus Mann, Paul Ma- deutschen Antifaschisten fanden vor- tick, Robert Neumann, Gerhard Oertel, 1 Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, Zürich wiegend in Frankreich, Großbritannien Anton Paldauf, Bruno und Elisabeth Pe- 1940, S. 42. und den USA Asyl. Von dort setzten sie tersen, Hedwig Rahmel-Robens, Anton 2 Axel Kuhn: Hitlers außenpolitisches Programm. ihren Kampf gegen die Nazidiktatur fort. Ruh, Max Schneider, Martin Weikert Entstehung und Entwicklung 1919–1939. Stuttgart 1970. S. 74. Nicht wenige kämpften nach der Entfes- und Joseph Winternitz. 3 Dokumente zur Deutschen Geschichte 1933– selung des Zweiten Weltkrieges in den Das Wirken der deutschen Antifaschis- 1935. Hrsg. von Wolfgang Ruge u. a. Berlin 1977, Armeen der Antihitlerkoalition. Stell- ten in den Armeen der Antihitlerkoaliti- Dok. 4, S. 23 f. 4 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918– vertretend seien hier genannt: Elsa Ar- on sollte für uns Mahnung und Verpflich- 1945 Serie C Bd. 1,2 Göttingen 1971 Dok. 326. nold, Richard Barme, Robert Barth, Tat- tung sein alle Kräfte zu mobilisieren, 334 u. 366, S. 577, 589 ff. u. S. 26 f. jana Bauer, Thea Beling, Charlotte Beier, dass es nie wieder zu einem völker- Walter Behling, Helene Berner, Julius rechtswidrigen Diktat wie am 29. Sep-

33 Barbarischer Terror Vor 65 Jahren überfiel Hitlerdeutschland Italien – Weit über hunderttausend Ermordete und planmäßige Ausplünderung des Landes waren die Folge

Am 8. September 1943 meldeten anglo- Erheblichen Einfluss auf die Entwick- Zehntausende Soldaten wurden von der amerikanische Rundfunkstationen, Ita- lung in Italien hatte der Sieg der Ro- Wehrmacht erschossen. Etwa 650.000 lien habe mit den Westalliierten einen ten Armee bei Stalingrad. Dort wurde italienische Soldaten wurden zur Waffenstillstand abgeschlossen und mit der 8. Armee der kampfkräftigste Zwangsarbeit abtransportiert. Um die das Bündnis mit Deutschland verlassen. italienische Großverband zerschlagen. internationalen Konventionen für Kriegs- Daraufhin löste das Oberkommando der Die Krise spitzte sich zu, als die gefangene nicht anwenden zu müssen, Wehrmacht (OKW) das Stichwort „Ach- deutsch-italienischen Truppen in Afrika bezeichnete man die Gefangenen als Mi- se“ aus. Unter dieser Deckbezeichnung im Mai 1943 kapitulierten und am 9. Ju- litärinternierte. Deren Arbeits- und Le- waren seit längerer Zeit Maßnahmen li 1943 die Alliierten auf Sizilien lande- bensbedingungen waren auch von den vorbereitet, um die italienischen Streit- ten. Um einem Machtwechsel „von un- Folgeerscheinungen wie Krankenstand kräfte zu entwaffnen und in Italien sowie ten“ zuvorzukommen, wurde Mussolini und Sterberate mit jenen zu vergleichen, in den Besatzungszonen des Verbünde- am 25. Juli 1943 durch eine Fronde aus unter denen die als „bolschewistische ten in Südfrankreich und auf dem Bal- Vertretern der besitzenden Kreise, des Untermenschen“ bezeichneten sowjeti- kan die deutsche Herrschaft zu errich- Königshauses, des Vatikans, der Gene- schen Kriegsgefangenen Sklavenarbeit ten. Hitlers Truppen besetzten das nach ralität und hoher Faschisten entmach- in der deutschen Wirtschaft verrichten deren Landung auf Sizilien im Juli noch tet und ein Politikwechsel „von oben“ mussten. Übrigens: Die Bundesrepu- nicht von den Alliierten befreite Gebiet durchgeführt. Das faschistische Regime blik Deutschland verweigert bis heu- Italiens. Zum ersten Mal unterwarfen brach ohne Gegenwehr wie ein Karten- te diesen inzwischen betagten, wegen die Deutschen einen Bundesgenossen. haus zusammen. Die neue Regierung der Sklavenarbeit häufig gebrechlichen 1940 war Italien an der Seite Hitler- schloss insgeheim mit den Alliierten ei- Menschen, jegliche Entschädigung. deutschlands in den Krieg eingetreten. nen Waffenstillstand. Nach der militärischen Besetzung bil- Im Schatten der Nazigroßmacht wollte deten etwa 300.000 deutsche Solda- das Regime unter dem Faschistenführer Großdeutschland bis zur Adria ten das Rückgrat der deutschen Be- Benito Mussolini eigene ausufernde Ex- Die deutsche Reaktion auf den „Ab- satzungsherrschaft und des Kampfes pansionsziele verwirklichen. So wurde sprung“ fiel besonders hart aus. Erste gegen die westalliierten Truppen. Ita- ein nordostafrikanisches Kolonialreich Opfer waren die italienischen Soldaten. lien wurde zerstückelt. Das sich an die von Libyen über Ägypten, den Sudan Die Wehrmacht ging rigoros gegen sie Hauptkampflinie (HKL) Richtung Nor- und Äthiopien bis nach Somalia ange- vor. Mit völkerrechtswidrigen Befehlen den anschließende Territorium war strebt. Für Jugoslawien, Griechenland des Oberkommandos der Wehrmacht Operationsgebiet. Dort übten die Ar- und Südfrankreich wollte man die Vor- (OKW) und der in Italien verantwortli- meeoberbefehlshaber die Herrschaft herrschaft erreichen. Bald erwies sich, chen Generalfeldmarschälle Erwin Rom- aus. Zehn Provinzen im Nordosten wur- dass die Expansionsziele in krassem mel und wurden die den als „Opera tionszonen“ von Ita- Missverhältnis zu den ökonomischen deutschen Soldaten zu brutalem Vorge- lien de facto abgetrennt. Sie wurden und militärischen Potenzialen des itali- hen gegen die Italiener regelrecht auf- zügig germanisiert und sollten später enischen Imperialismus standen. Man geputscht. Der Oberbefehlshaber der Teil des „Großdeutschen Reiches“ wer- war dringend auf die Unterstützung Heeresgruppe E, Alexander Löhr, forder- den. Die „Reichsgrenze“ wollte man so durch den deutschen Faschismus an- te, bei der Behandlung der italienischen bis an die Adria verschieben. Die Wirt- gewiesen, was von den italienischen Eli- Soldaten „alle Hemmungen fallenzulas- schaft in diesem Gebiet, insbesonde- ten als demütigend empfunden wurde. sen“. In einem Befehl des XIV. Panzer- re der kriegswichtige Bergbau, wur- Italienische Aggressionen gegen Grie- korps vom 11. September 1943 heißt es de sofort unter „deutsche Verwaltung“ chenland und Ägypten gerieten zu De- zur Entwaffnung der italienischen Trup- gestellt. Entlang der Schweizer und bakeln, aus denen vorübergehend nur pen im Raum Neapel: „Dem bzw. den der französischen Grenze bildete man Interventionen der Wehrmacht wieder mil(itärischen) Befehlshabern in Neapel die Operationszone „Nordwest – Al- heraushalfen. Die sich für die faschis- ist (…) ein ganz kurz befristetes, schärfs- pen“. In dem restlichen Gebiet wurde tischen Mächte seit Ende 1942 drama- tens gehaltenes Ultimatum zur sofor- eine deutsche Militärverwaltung ein- tisch verschlechternde Kriegslage, die tigen Waffenstreckung zu übermitteln gerichtet. Unter deren Aufsicht ent- hohen italienischen Verluste an den (…). Bei Nichtannahme des Ultimatums stand eine Kollaborationsregierung Fronten sowie die rapide Verschlech- ist unverzüglich unter rücksichtsloses- mit dem von deutschen Kommandos terung der Lebenslage breiter Volks- tem und brutalstem Einsatz aller Macht- aus der Haft befreiten Faschistenfüh- schichten erzeugten ei9ne ausgepräg- mittel jeder ital(ienische) Widerstand zu rer Mussolini an der Spitze. Sie sollte te Kriegsmüdigkeit. Es verbreitete sich zerschlagen. Gefangene ital(ienische) die „unpopulären“ Maßnahmen bei der die Meinung, dass der Krieg nicht zu ge- Offiziere, vor allem Kommandeure, sind Bekämpfung des Widerstandes, der De- winnen sei. Das seit 1922 herrschende sofort als Freischärler zu erschießen. portation von Zwangsarbeitern und der Mussolini-Regime geriet Ende 1942/ Gen(eral)-K(omman)do betont, dass je- wirtschaftlichen Ausbeutung durchsetzen. Anfang 1943 in eine sich schnell ver- des noch so scharfe Durchgreifen un- Die geringe Resonanz der Mussolini- schärfende innenpolitische Krise. Die ter allen Umständen gedeckt wird, auch Faschisten im Volk und die wachsen- von linken politischen Kräften dominier- wenn ganz Neapel in Flammen auf- de Widerstandsbewegung führten da- te antifaschistische Widerstandsbewe- geht! Auf die Zivilbevölkerung kann kei- zu, dass deutsche Dienststellen immer gung gewann zunehmend an Gewicht. nerlei Rücksicht genommen werden.“ unverhohlener die Exekutive auch im

34 Mussolini-Gebiet übernahmen. Das be- fizielle Politik war. Zunächst wollte man fe des Mittels (…) über das bei uns üb- satzungspolitische und militärische mit der Brutalität eine Botschaft an die liche, zurückhaltende Maß hinausgeht“. Kalkül der Deutschen in Italien folgte anderen faschistischen Vasallen sen- Das Massaker in Padule di Fucècchio der Defensivstrategie, zu der die Na- den. Die gnadenlose Unterjochung des am 23. August 1944 zeigt, dass nicht zis nach den Niederlagen bei Stalin- wichtigsten Verbündeten sollte „Ab- nur der Exzess „von oben“ befohlen grad und in Nordafrika, aber besonders sprungkandidaten“ zeigen, dass die worden war, sondern die Straffreiheit seit dem Debakel in der Schlacht am Deutschen die Bündnistreue notfalls mit auch zur Auslebung von Perversitäten Kursker Bogen gezwungen waren. Das exzessiver Gewalt erzwingen werden. anreizte. In dem Sumpfgebiet westlich Land fungierte in den deutschen Pla- Ein weiterer Grund für den besonders von Florenz vermuteten Feindlagebeob- nungen als Glacis vor den deutschen grausamen Terror ist darin zu suchen, achter einen Partisanenunterschlupf. Grenzen. Hinter festungsmäßig ausge- dass die in Italien einmarschierende Die Panzeraufklärungsabteilung 26 bauten Linien wollte man unter Ausnut- Wehrmacht in ein ständig radikalisier- wurde zu einer „Säuberungsaktion“ zung der für den Verteidiger günstigen tes Befehlssystem eingebunden war, ausgesandt. Der Divisionskommandeur, Geographie die näher rückenden alli- das auf den Erfahrungen der Deutschen Eduard Crasemann, befahl, „auch Frau- ierten Armeen hinhaltend bekämpfen. im Kampf gegen Befreiungsbewegungen en und Kinder“ zu erschießen. Wäh- Die Gebiete vor diesen Linien wa- vor allem in der Sowjet union und auf rend der Aktion hatte die Abteilung kei- ren für die totale wirtschaftliche Räu- dem Balkan beruhte. Dieses System ne „Feindberührung“. Als die Soldaten mung und Zerstörung vorgesehen. wurde in Italien vom ersten Tag an zur nach sieben Stunden „die Aktion“ be- Die Zivilbevölkerung sollte vertrieben Norm. Ein Befehl des OKW vom 16. De- endeten, hatten sie 175 Italiener, dar- oder der Zwangsarbeit zugeführt wer- zember 1942 verlangte, im Kampf ge- unter 27 Kinder und Kleinkinder sowie den. Die landwirtschaftlich, indus- gen Partisanen die „allerbrutalsten Mit- 63 Frauen, ermordet. Unbeschreib- triell und rohstoffmäßig wertvollen tel ohne Einschränkungen auch gegen liche Szenen müssen sich abgespielt Regionen Oberitaliens sollten lange ge- Frauen und Kinder (…) anzuwenden“. Die haben. Selbst ein Fall von Nekrophilie halten und für die deutsche Kriegswirt- deutsche Militärführung war sich klar an einer namentlich bekannten, noch schaft planmäßig ausgenutzt werden. darüber, dass dabei massenhaft Kriegs- warmen Frauenleiche ist verbürgt. Die alliierte Strategie begünstigte das verbrechen begangen werden, die in Eine weitere Ursache für den hem- Konzept. Trotz erdrückender Überle- „normalen“ Armeen juristisch geahndet mungslosen Terrorismus der Besatzer genheit stießen die Alliierten auf dem worden wären. Deshalb folgte als zwei- lag in der nahen Hauptkampflinie zwi- Landweg nach Norden mühsam vor. Mit te Komponente die Versicherung, dass schen Deutschen und Alliierten. Das geringen Kräften konnten sie von den kein Soldat wegen seines Verhaltens „im deutsche Konzept, mit geringen mili- Deutschen immer wieder aufgehalten Bandenkampf“ kriegsgerichtlich oder tärischen Kräften den Vormarsch der werden. So brauchten die anglo-ameri- disziplinarisch belangt werden dürfe. Alliierten zu verzögern, um das Land kanischen Truppen von November 1943 Die deutschen Befehlshaber in Italien optimal für die deutsche Wirtschaft aus- bis Mitte Mai 1944, um den ersten Fes- handelten genau in diesem Sinne. Am zunutzen, konnte nur aufgehen, wenn tungsriegel, die „Gustavlinie“ nördlich 24. Februar 1944 befahl der General die Verbindungen zur Front und zum von Neapel mit dem Bergmassiv Mon- der Gebirgstruppe Ludwig Kübler, Mi- Abtransport der geraubten Güter und te Cassino im Mittelpunkt, zu passie- litärbefehlshaber der „Operationszo- der Zwangsarbeiter nach Deutschland ren. Operative Überraschungen wie die ne Adriatisches Küstenland“, bei der nicht durch Partisanen gefährdet waren. von den Deutschen angesichts der lan- Behandlung der Partisanen „und ih- Deshalb sollte jeglicher Widerstand mit gen italienischen Küsten befürchteten rer freiwilligen Helfer ist äußerste Här- „größter Schärfe“ gebrochen werden. „überholenden Landungen“ im Rücken te geboten. Gefangene Banditen sind Generalfeldmarschall Kesselring befahl der Wehrmacht, fehlten fast vollkom- zu erhängen oder zu erschießen. Wer am 17. Juni 1944: „Die Bandenlage“ sei men. Nur zwei Großlandungen erfolg- die Banden durch Gewährung von Un- „eine ernste Gefahr für die kämpfende ten. Dadurch kamen die Alliierten nur terschlupf oder Verpflegung, durch Ver- Truppe und ihre Versorgung sowie die langsam vorwärts und die Deutschen heimlichung ihres Aufenthalts oder Rüstungswirtschaft (…). Der Kampf ge- konnten lange Zeit ihr Ausbeutungskon- durch irgendwelche Maßnahmen frei- gen die Banden muss daher mit allen zept verwirklichen. willig unterstützt, ist todeswürdig und zur Verfügung stehenden Mitteln und zu erledigen.“ Danach folgt die Zusi- mit größter Schärfe durchgeführt wer- Brutales Vorgehen der Wehrmacht cherung von Straffreiheit: „Im Kampf ist den.“ Es sollten starke, frontfähige Kräf- Die deutsche Herrschaft in Italien galt alles richtig, was zum Erfolg führt. Ich te mit allen zur Verfügung stehenden als besonders brutal. Bis heute wird werde jede Maßnahme persönlich de- Waffen, einschließlich schwerer Artil- darüber gerätselt, warum sie derart bar- cken, die diesem Grundsatz entspricht.“ lerie und Bombern, eingesetzt werden. barischen Charakter annehmen konn- Nebenbei bemerkt: Kübler, der seine Das hatte verheerende Folgen für die te. Historiker aus Deutschland und Ita- Soldaten unmissverständlich dazu auf- Bevölkerung in den als „Bandengebie- lien kamen 2002 zu dem Schluss, die rief, Kriegsverbrechen zu begehen, war ten“ eingestuften Landstrichen. Die ge- Massaker in Italien seien hauptsächlich viele Jahre Namenspatron von Unter- radezu eruptiv einsetzende Barbarei traf auf die „nationalsozialistische Indoktri- künften bundesdeutscher Gebirgsjäger. die Bevölkerung völlig unvorbereitet. nation“ vornehmlich der Waffen-SS zu- Auch in dem Befehl Kesselrings vom Fragt man Überlebende der Massaker, rückzuführen. Dadurch wird vor allem 17. Juni 1944 wurde angewiesen, den warum gerade ihre Ortschaft und deren die Wehrmachtsführung entlastet. Man Kampf gegen die Partisanen, deren Hel- Bewohner vernichtet wurden, bekommt übersieht, dass im Partisanenkampf die fer und Sympathisanten „mit allen zur man noch heute vielfach die Antwort SS in Italien der Wehrmacht unterstellt Verfügung stehenden Mitteln und mit „senza alcuno motivo“ – ohne ersicht- war. Es wird weitgehend ignoriert, dass größter Schärfe“ zu führen. Danach folgt lichen Grund seien die Besatzer über der barbarische Terror wesentlicher Teil die Versicherung, er „werde jeden Füh- ihr Dorf hergefallen. Die deutschen Ge- des Besatzungskonzepts und damit of- rer decken, der in der Wahl und Schär- nerale hatten nämlich aus dem Kampf

35 gegen Partisanen auf dem Balkan und 1945 ihre Karriere in der Bundesrepub- te aus dem italienischen Raum heraus- in der Sowjetunion den für die italie- lik fortsetzten. Etwa der SS- und Poli- zuholen“. Aus jenen Gebieten Süditali- nische Bevölkerung fatalen Schluss ge- zeichef von Mailand, Theo Saevecke. ens, die von den Alliierten bald erreicht zogen, man müsse gleich zu Beginn, Er wurde stellvertretender Leiter der werden konnten, wurde alles Brauch- schon beim geringsten Anlass, hart zu- Sicherungsgruppe Bonn des Bundesk- bare nach Norden abtransportiert. 1,5 schlagen, um durch Abschreckung eine riminalamtes. Max Pemsel, General- Millionen Tonnen „Räumungsgüter“ effiziente Widerstandsbewegung in Ita- stabschef der Ligurien-Armee, der brachte man nach Deutschland. Oberi- lien erst gar nicht entstehen zu lassen. zuvor schon in Jugoslawien verbreche- talien wollte man planvoll und intensiv Grässliche Massaker schon in der An- rische Befehle erarbeitet hatte, war für die deutsche Wirtschaft nutzen. Am fangszeit folgten. Leutnant Wolfgang nach 1945 Kommandierender General 11. September 1943 schrieb Rommel, Lehnigk-Emden ließ am 13. Oktober eines Bundeswehrkorps. Nachdem die dass „die planmäßige Ausnutzung aller 1943 in einem Dorf bei Neapel 24 Ein- italienische Justiz bei der Verfolgung wirtschaftlichen Möglichkeiten Italiens wohner, darunter zehn Kinder, auf bes- von Kriegsverbrechern mit Rücksicht von entscheidender Bedeutung für die tialische Weise umbringen. Die Deut- auf den bundesdeutschen NATO-Ver- Gesamtkriegsführung“ sei. Eine beson- schen vermuteten, dass aus dem Dorf bündeten lange Zeit äußerst zurück- dere Beute war die Beschlagnahme der den nahen Alliierten Blinkzeichen gege- haltend agierte, hat sie in den letzten italienischen Goldvorräte im Wert von ben worden seien. Nach 1945 war er in Jahren wichtige Verfahren gegen eine über 300 Millionen Reichsmark. In die Koblenz Architekt und gefeierter Karne- größere Anzahl deutscher Verbrecher Okkupa tionsverwaltung waren in groß- valspräsident. Auch die im Dezember abgeschlossen. Sie können sich, soweit er Zahl Spitzenmanager der deutschen 1943 in Oberitalien ausgebrochenen, sie in Deutschland leben, trotzdem si- Privatwirtschaft integriert. Nach Fest- politisch eher harmlosen Lohnstreiks cher fühlen, denn die Bundesrepublik stellung des Auswärtigen Amtes un- wurden sofort mit unbarmherziger Här- liefert die Verurteilten nicht aus, und die terlag „der gesamte italienische Wirt- te niedergeschlagen, um eine Ausbrei- deutsche Justiz zeigt keine Eile bei der schaftsapparat deutscher Steuerung“. tung zu verhindern. Verschärft wurde Einleitung von Ermittlungsverfahren. Die Manager dachten weiter. Das Vor- der Terror durch den Hass der deut- Der Terror nimmt berechtigterweise ei- standsmitglied des IG-Farben-Konzerns schen Machthaber auf „die Italiener“ nen herausgehobenen Rang bei wissen- Fritz ter Meer, zugleich Bevollmächtig- wegen des 8. September. Die Grund- schaftlichen und politischen Diskursen ter für die Übernahme der chemischen linien des Propagandakrieges sind in über die Aufarbeitung der deutschen Industrie Italiens, schrieb am 21. Sep- der Sondermeldung des OKW vom 10. Okkupation Italiens ein. Dabei geriet al- tember 1943: „In Norditalien richten wir September 1943 vorgegeben. Der „Ab- lerdings die ungeheure wirtschaftliche uns für Dauer ein.“ Als persönliche Beu- fall“ Italiens sei „ein Verrat, wie er grö- Ausbeutung fast völlig aus dem Blick- te schickte er ein Paket mit fünf Kilo- ßer und hinterhältiger in der Geschichte feld. Italien wurden in großem Umfang gramm Platin und Gold nach Frankfurt/ kaum zu finden ist“. Verrat und Hinter- Werte entzogen, den Italienern gewal- Main. 1948 erhielt ter Meer im IG-Far- hältigkeit aber seien wesentliche Seiten tige Lasten aufgebürdet sowie die ita- ben-Prozeß eine Gefängnisstrafe, wur- des Volkscharakters „der Italiener“. Der lienische Volkswirtschaft und die Wäh- de aber 1951 vorzeitig entlassen und Hass, „die Verachtung für die Verräter“, rung nachhaltig geschädigt. Italien saß von da an in Vorständen und Auf- wie es in der Sondermeldung hieß, wur- hatte auf einigen Gebieten wie der Le- sichtsräten mächtiger Konzerne wie der de durch die Propaganda und die Vor- bensmittelproduktion, der Rohstofför- Bayer AG und der Commerzbank. Um gesetzten in die Truppe getragen. Ge- derung, der Fertigwarenindustrie sowie dem Raub einen legalen Anstrich zu ge- neralfeldmarschall Rommel nannte die bei der Bereitstellung von Arbeitskräf- ben, sollten die Besatzer einen Teil der italienischen Soldaten, die sich nicht ten für die deutsche Wirtschaft erheb- Waren kaufen. Die dafür benötigten Li- ergeben wollten, „Gesindel“. Propagan- liche Bedeutung. Außerdem sollte das re-Beträge musste die Kollaborations- daminister Joseph Goebbels meinte, nach Millionen zählende Heer von Sol- verwaltung als Besatzungskosten zur die Italiener seien ein „Volk von Zigeu- daten und Angestellten des Okkupati- Verfügung stellen. Italien hatte im Mo- nern“. Dem Terror fielen etwa 70.000 onsapparates aus dem Lande ernährt natsdurchschnitt 850 Millionen Reichs- Zivilisten zum Opfer. werden. Allein die in Italien stationierte mark zu zahlen, was zu Inflation und ra- Heeresgruppe hatte einen täglichen pider Verelendung vieler Italiener führte. Wirtschaftliche Ausbeutung Verpflegungsbedarf von 2.000 Tonnen. Bisher wurden die dem Land und den In der öffentlichen Diskussion um die Der „Reichsbevollmächtigte“ in Italien, Italienern auf diese Weise zugefügten deutschen Verbrechen in Italien spielt Rudolf Rahn, notierte am 11. Oktober Schäden noch nicht reguliert. die Tatsache eine große Rolle, dass füh- 1943, die deutsche Führung „ist fest rende Vertreter des Terrorregimes nach entschlossen, rücksichtslos das äußers- Dr. Martin Seckendorf

36 Zur Schlacht um Berlin“ Juni 1948 – „Operation Big-Dog“ und das Ende der Gewerkschaftseinheit in Berlin

Am 1. Januar 1948 wünschten die vier erfolgreichen Entwicklung der Einheits- „Nur eine Handvoll deutscher Finanz- Berliner Stadtkommandanten Howley gewerkschaften ein Hindernis für ihre fachleute ahnte, was kommen wür- (USA), Herberts (Großbritannien), Ga- Politik. Wer, wie die Westmächte in der de; sie waren seit dem 20. April 1948 neval (Frankreich) und Kotikow (UdS- „Schlacht um Berlin“, die Spal tung der sieben Wochen lang auf dem von SR) den Berlinern alles Gute. Tatsäch- Stadt einkalkulierte, dem waren starke den Amerikanern genutzten Flugplatz lich gab es dann aber am Ende des Einheitsgewerkschaften, die außerhalb Rothwesten bei Kassel kaserniert wor- Jahres 1948 in einer Stadt neben den des damaligen Parteiensystems und des den, wo sie- eigentlich einflusslos, vier Militärregierungen mit ihren Sek- Stadtparlamentes in den Industrie- und wie einer von ihnen, der Hamburger torenkommandanten zwei deutsche Baubetrieben, in Verwaltungen, Schu- Finanzsenator Walter Dudek, später Verwaltungen, denen zwei Oberbür- len und im Dienst leistungsgewerbe, im erklärt – alliierte Kollegen über De- germeister vorstanden. Der eine, Ernst Verkehr und Handel ihre Basis hatten, tails der Reform beraten durften: ‚Lei- Reuter (SPD), zuständig für Westber- ein Dom im Auge. der teilte man uns kurz nach dem Be- lin und der andere, Friedrich Ebert Ihnen ging auch gegen den Strich, ginn unserer Arbeit mit, dass in den (SED), Sohn des ersten Reichspräsi- dass die erste nach der Befreiung vom Hauptpunkten die drei Regierungen denten der Weimarer Republik und da- Faschismus frei gewählte Stadtverord- in Washington, London und Paris be- maligen Parteivorsitzenden der SPD, netenversammlung 1947 mehrheitlich reits Entscheidungen getroffen hat- zuständig für den Ostteil der Stadt. In die Konzernenteignung und die Bestra- ten…‘“. Wolfram Bickerich verweist in den drei Westzonen sind die Vorbe- fung der Nazi- und Kriegsverbrecher diesem Zusammenhang auf die minuti- reitungen für die Gründung der Bun- mit den Stimmen der SPD, SED und ös von den USA geplanten „Operation desrepublik im vollen Gange. Ein par- CDU sowie noch im gleichen Jahr eine Big Dog“. Die Teilnehmer der Londoner lamentarischer Rat hatte im August einheitliche demokratische Schulre- Sechsmächtekonferenz, zu denen die 1948 als Vorparlament auf Befehl der form beschlossen hatte. Im Namen der westlichen Siegermächte und die Be- der drei westlichen Besatzungsmäch- Freiheit sollte Schluss sein mit allen Er- nelux-Staaten zählten, habe im Febru- te seine Tätigkeit aufgenommen und neuerungsversuchen der Grundlagen ar/März 1948, wenig später nach der mit der Ausarbeitung einer vorläufigen der Gesellschaft durch die Schaffung zum Scheitern gebrachten Londoner Verfassung (Grundgesetz) begonnen. von Gemeineigentum und die Verwirk- Außenministerkonferenz vom Dezem- In der sowjetischen Besatzungszone lichung anderer Sozialisierungsvorstel- ber 1947 beschlossen, dass sich die hatte der vom 2. Volkskongress ge- lungen, denen sich nicht nur die Ar- drei Westzonen am Marshallplan be- wählte Deutsche Volksrat am 18. März beiterparteien und Gewerkschaften teiligen und womöglich in einem Bun- 1948 seine Tätigkeit zur Verhinderung verpflichtet sahen. So gesehen ist das desstaat organisieren sollten. Ludwig der Teilung Deutschlands und seiner zeitliche Zusammentreffen der Wäh- Erhard, Direktor der Wirtschaftsver- Hauptstadt, für die Einheit und einen rungsspaltung mit der Beseitigung der waltung der Bizone, habe dann die Ein- gerechten Frieden aufgenommen. Gewerkschaftseinheit in Berlin kein führung der D-Mark genutzt, um die „Die Schlacht um Berlin“ lautete die Zufall. Es war gewiss auch kein Zufall, von der Vormacht der Konzerne und Überschrift eines längeren Kommen- dass sich die Einzelgewerkschaften in Großbanken geprägte „Freie Markt- tars in der Neujahrsausgabe der im den Ländern der Westzonen erst im wirtschaft“ zu begründen. Letztere wa- August 1945 von den Amerikanern li- Oktober 1949, also nach Ausrufung ren ja die eigentlichen Gewinner der zenzierten Zeitung „Der Tagesspiegel“. der Bundesrepublik Deutschlands, Währungsreform. Deren Eigentum und Die Redaktion entnahm sie der der Re- zum Gründungskongress des einheit- Vermögen ging 1:1 in die Neubewer- gierung nahe stehenden englischen lichen Deutschen Gewerkschafts- tung der ehemaligen Reichsmark ein, Zeitung „The New Statesman and Nati- bundes zusammen raufen konnten. während dem „kleinen Mann“ seine on“ zur Kennzeichnung der Berliner Si- Dies, nachdem durch die Währungsre- übrig gebliebene Reichsmark mit dem tuation zum Jahres wechsel 1947/48. form und die Staatsgründung die alten Kurs 1:10 abgewertet wurde. Analog, Man geht nicht fehl in der Annahme, Besitz- und Machtverhältnisse restau- aber viel schmerzvoller vollzog sich in dass die sich Anfang 1948 rapide zu- riert waren. Die Gewerkschaften wur- einer bis dahin einheitlichen Stadt die spitzenden Auseinandersetzungen in den weder in Westdeutschland noch in mit dem Aufdruck „B“ versehene Ein- den Berliner Gewerkschaften mehr Berlin bei der Währungsreform zu rate führung der D-Mark in den drei westli- oder weniger auch Teil dieser im Her- gezogen worden, dafür aber die Banki- chen Besatzungssektoren. zen Europas ausgetragenen „Schlacht“ ers und über Jahrzehnte bewährte Ge- Am 1. Mai 1948 passiert etwas Un- des Kalten Krieges waren. Immer- folgsmannen des deutschen Finanzka- geheuerliches. Die „Unabhängige Ge- hin hatte der Freie Deutsche Gewerk- pitals und engen Freunde Adenauers werkschaftsopposition“ (UGO) im schaftsbund (FDGB) trotz aller Quere- Hermann Abs und Robert Pferdmen- FDGB führt erstmalig, organisiert von len in den eigenen Reihen mit seinen ges. Wolfram Diedrichs, Wirtschafts- einem eigenen Maikomitee, eine se- 600.000 Mitgliedern in allen dama- journalist und Autor der Biographie parate Kundgebung zum l. Mai vor ligen 20 Bezirken der Stadt ein bedeu- „Die D-Mark“, lässt wissen, wie die dem im Bezirk Tiergarten gelegenen tendes Gewicht im öffentlichen Leben Währungsreform mit in den USA ge- Reichstagsgebäude mit Genehmigung erlangt. Die Berlin-Strategen der West- druckten Banknoten überfallartig vor- des britischen Stadtkommandanten mächte witterten von Anfang an in der bereitet wurde: durch. Auf der Maitribühne fanden

37 sich jene Politiker ein, die sich fünf an. Es kann auch kein Zufall sein, dass auch beim FDGB Bauchschmerzen an- Monate später ihrer Verantwortung am 23. Juni 1948, dem Tag der Einfüh- gesichts der Streikforderung nach Ab- für die währungspolitische und wirt- rung der D-Mark in Berlin, die Tätigkeit zug der westlichen Besatzungsmächte schaftliche Spaltung der Stadt ent- des FDGB im amerikanischen Sektor aus Berlin, und der komplizierten La- zogen und die Stadtverordnetenver- untersagt wird und die Besetzung der ge und Kräfteverhältnis in einigen Kon- sammlung nach Westberlin verlegen Bezirksbüros des FDGB, die Beschlag- zernbetrieben der Westsektoren und sollten. Diese Kundgebung stieß auch nahme von Gewerkschaftseigentum dem dann doch sehr wahrscheinlichen auf Widerspruch in den Reihen der Ge- und Drangsalierung von Funktio nären Eingreifen der Westmächte zum Schüt- werkschaftsopposition. Jene, die ei- des FDGB auch im britischen und fran- ze ihrer Interessen auf diesem Höhe- ne Kursveränderung des FDGB an- zösischen Sektor beginnt. punkt der „Schlacht um Berlin“. Ein strebten, wollten aber nicht die nach Diese Vorgänge in der „Schlacht um Rückblick bringt in Erinnerung, dass zwölf Jahren Nazidiktatur mit sechs Berlin“ lösen Empörung und hef- die Spaltung des FDGB in Berlin und Jahren Krieg schwer errungene ge- tige Proteste in vielen Betriebsbeleg- die Einführung der D-Mark wesentlich werkschaftliche Einheit aufgeben. schaften und Betriebsräten aus. Be- der Wiederherstellung der alten mo- Nachdem sich die zur UGO beken- triebsdelegationen überbringen, von nopolkapitalistischen Machtverhält- nenden Delegierten auf der 3. Stadt- Zorn getragen, dem Magistrat und der nisse und der Verschärfung des Kalten delegiertenkonferenz des FDGB nicht Stadtverordnetenversammlung Reso- Krieges nutzte. als mehrheitsfähig erwiesen, ver- lutionen mit den Forderungen ihrer ließen sie die Konferenz. Der Spal- Kollegen. Tausende Berliner Arbeiter Werner Ruch tungsprozess in den Gewerkschaften und Angestellte hatten sich vor dem beschleunigt sich. Am 29 Mai 1948 er- Stadthaus in der Parochialstraße ein- Literaturhinweise nennt sich der Aktionsausschuss der gefunden um gegen die Spaltung Berli- Marl Altten, Spaltung nach Drehbuch. UGO zur „kommissarischen Leitung ns durch das Nebeneinanderbestehen Berlin, Juni 1948 – die Währungstei- des FDGB Groß-Berlin“. Der Vorstand zweier Währungen zu protestieren. Die lung und die so genannte Luftbrücke, des FDGB Groß-Berlin schlägt am 14. Bezirksverordnetenversammlungen in: Junge Welt, 20. 6. 2008. Juni Alarm und ruft zur Verteidigung wurden aufgefordert, auf die Stadtver- Derselbe, Berlin zweigeteilt. Die SPD der Gewerkschaftseinheit mit einer waltung einzuwirken. Weißenseer Be- spaltete vor 60 Jahren unter US-An- Großkundgebung im Friedrichstadtpa- triebsräte richteten in einem Schrei- leitung die Stadtverwaltung, in: Junge last auf. Da dessen dreitausend Plätze ben an den Berliner FDGB-Vorstand Welt, 6. 9. 2008. nicht ausreichen, muss eine Lautspre- die Aufforderung, eine Vollversamm- „Berlin ist einen Krieg wert …“ Wäh- cherübertragung in den umliegenden lung aller Berliner Betriebsräte, gleich rungsreform, Luftbrücke, Spaltung Straßen erfolgen. welcher gewerkschaftlichen Richtung, Berlins – Die Berliner Krise 1948/49, Der 19. Juni, an dem die „Operation einzuberufen. In dieser Zusammen- (Beiträge zur Berliner Geschichte des Big Dog“ mit der Währungsreform in kunft soll über einen Aufruf für einen Arbeitskreises Geschichte bei der DKP den Westzonen anläuft, wird in Ber- Generalstreik für ganz Berlin beraten Neukölln), Berlin 2008. lin für den FDGB von der amerika- werden. Der FDGB Vorstand zeigte Reiner Zilkenat, „Eine taktische Epi- nischen Besatzungsmacht zum Tag X Verständnis, sah aber von der Vorbe- sode im strategischen Kampf um gemacht, indem sie der UGO umge- reitung eines Generalstreiks ab, zumal ganz Deutschland“. Die Berliner Krise hend ihre vorläufige Anerkennung aus- die UGO nichts Eiligeres zu tun hatte, von 1948/49 – Ursachen und histo- spricht. Die Engländer und Franzosen als einen Streik „in der gegenwärtigen rische Bedeutung, in: Rundbrief, Heft schließen sich dem wie abgesprochen Situation“ abzulehnen. Sicher gab es 3/2008, S. 52–66.

38 BERICHTE UND INFORMATIONEN Erklärung der Landes-Arbeitsgemeinschaft Antifaschistische Politik der LINKEN Sachsen Am 11. September 2008 verhalfen der Wir stellen fest, dass die Ablehnung von In der LAG Antifaschistische Politik Landtagsabgeordnete Ronald Wek- NPD-Anträgen gängige Praxis der Links- haben sich Menschen zusammenge- kesser und andere Mitglieder der Par- fraktion im Sächsischen Landtag wie schlossen, denen als Mitglieder der tei DIE LINKE im Stadtrat der Landes- auch in den Kreistagen und Kommunen Partei DIE LINKE oder als Parteilo- hauptstadt Dresden, wo sie sich in der war und ist. Diese Art des Agierens ist se die Zurückdrängung der extremen Fraktion „Linkspartei.PDS“ zusammen- in unterschiedlichen Gremien immer Rechten ein zentrales Anliegen ist. Wir geschlossen haben, den Neonazis zu wieder thematisiert und konkretisiert haben in den vergangenen Jahren mit ihrem ersten Abstimmungserfolg seit- worden. Die betreffenden Parteimit- Freude gesehen, dass DIE LINKE in dem diese im Freistaat in kommunalen glieder können sich also nicht auf Un- Sachsen ihr Profil in diesem Themen- Parlamenten vertreten sind. Weckesser kenntnis berufen. feld deutlich geschärft hat. Wir sehen, und einige seiner Fraktionskolleg_Innen Wir stellen fest, dass es im konkreten dass zahllose Genossinnen und Ge- stimmten für einen Antrag des NPD- Fall Alternativen zum letztlich erfolgten nossen vor Ort in tagtäglicher Kleinar- dominierten „Nationalen Bündnisses Handeln gegeben hätte. Diese reichen beit versuchen, der extremen Rechten Dresden“ für eine Gedenkminute für die von der Nichtteilnahme an der Ab- auf allen Ebenen möglichst wirkungs- Opfer des 11. September. Da auch CDU stimmung bis zum Stellen eines erwei- voll zu begegnen. Diese Arbeit wird und Bürgerfraktion diesem Antrag ih- ternden Änderungsantrages. durch das Verhalten von Ronald We- re Stimmen gaben, erhielt er die Mehr- Für uns reicht es nicht aus, wenn Ro- ckesser und einigen seiner Fraktions- heit. nald Weckesser nachträglich einräumt, kolleg_Innen mit Füßen getreten. Per- Wir erklären dazu als Sprecher_Innen einen „politischen Fehler“ begangen zu sonen, die derart eklatant gegen den der LAG Antifaschistische Politik: haben. Es gibt politische Fehler, die un- antifaschistischen Grundkonsens der Für uns ist es nicht hinnehmbar, dass terlaufen können und aus denen man Partei DIE LINKE handeln, sollten dort Mitglieder der Partei DIE LINKE für ei- lernt. Und es gibt politische Fehler, die keinen Platz mehr finden. nen Antrag der NPD oder anderer Or- unentschuldbar sind und die zeigen, ganisationen der extremen Rechten dass man nichts gelernt hat. Die Zu- Grimma, den 16. September 2008 stimmen. Dies gilt auch dann, wenn stimmung zum Antrag des „Nationalen das Anliegen des fraglichen Antrags an- Bündnisses Dresden“ gehört für uns zu Kerstin Köditz MdL, Jens Thöricht, sonsten geteilt wird. letzterer Kategorie. Tim Detzner

Der „Rundbrief“ im Internet Seit kurzem können ältere Ausgaben des „Rundbriefs“ tionen sowie Literaturberichte ins Netz stellen, auch aus auf der Internet-Seite der LINKEN aufgerufen und herun- früher publizierten „Rundbriefen“. ter geladen werden. Es handelt sich dabei um die Hefte Die Verfahrensweise funktioniert wie folgt: 3+4/2007, 1+2/2008 und 3/2008. 1. Anklicken „ http://die-linke.de/die_linke/aktuelle“. 2. Dann Button „Zusammenschlüsse“ auf der rechten Außerdem haben wir einzelne Artikel, die uns für die ak- Seite anklicken. tuelle Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus 3. Bei der dann erscheinenden Rubrik „Überblick“ besonders wichtig erscheinen, gesondert ins Internet ge- anklicken: „BAG Rechtsextremismus/Antifaschismus“. stellt. Dies gilt ab sofort auch für derartige Beiträge, die in 4. Jetzt „Publikationen“ anklicken: „Antifa aktuell“ oder der Redaktion eingetroffen sind, um in einer der nächsten „Rundbrief“. Unter der Rubrik „Analysen“ finden sich Ausgaben unserer Zeitschrift veröffentlicht zu werden. zum Teil schon eingereichte Beiträge, die für die Publi- Demnächst werden wir speziell Rezensionen und Annota- kation in einem der nächsten Hefte vorgesehen sind.

39 Willi-Bredel-Gesellschaft – Geschichtswerkstatt e. V.

Die Willi-Bredel-Gesellschaft ging 1988 darin ein kleines Museum zum Thema mete in den vergangenen Jahren Adam aus einer Bürgerbewegung für die Ein- „Zwangsarbeit in Hamburg“ eröffnet. Scharrer, Konrad Wolf, Anna Seghers, richtung einer Gedenkstätte im Torhaus In den beiden erhaltenen Baracken er- Louis Fürnberg, John Heartfield , Fried- des ehemaligen Konzentrationslagers innert die Bredelgesellschaft mit der rich Wolf und Ernst Busch seine Veran- Fuhlsbüttel hervor. Es war nur folgerichtig kleinen Dauerausstellung an das ehe- staltungen, Filmtage und Exkursionen. dass mehrere ehemalige Widerstands- malige Zwangsarbeiterlager des Garten- Im Juni 1996 ist es dem Verein gelun- kämpfer, die im KolaFu, wie das berüch- baubetriebes Kowahl & Bruns und da- gen, die Privatbibliothek Willi Bredels, tigte KZ genannt wurde, eingesperrt wa- mit exemplarisch an das Schicksal der die im Schweriner Schloss eingelagert ren, zu den Gründungsmitgliedern der insgesamt etwa fünfhunderttausend war, nach Hamburg zu überführen. Im Bredelgesellschaft gehörten. Der Ver- Zwangsarbeiter, die in der Endphase Jahr 2008 konnte der Verein das Fritz- ein gab sich den Namen Willi Bredels des 2.Weltkrieges in der Hansestadt ar- Hüser-Institut in Dortmund gewin- nicht nur, weil der Arbeiterschriftsteller beiten mussten. 2008 wurde diese klei- nen, diesen Buchbestand aus Bredels 1933/34 im KolaFu dreizehn Monate in- ne Gedenkstätte als Zivildienststelle an- Nachlass als Dauerleihgabe zu über- haftiert gewesen war, sondern weil sei- erkannt. nehmen und der interessierten Öffent- ne Heimatstadt das Andenken an sein Jährlich gibt der Verein einen „Rundbrief“ lichkeit ab 2009 wieder zugänglich Werk und an die Person des Kommu- heraus, der über die umfangreichen Ak- zu machen, – ein Service den die Bre- nisten Bredel vergessen gemacht hat. tivitäten des Vereins informiert und For- delgesellschaft mit ihren begrenzten Heute ist die Bredelgesellschaft eine schungsergebnisse vorstellt. Zudem Kapazitäten nicht zu leisten vermag. von 15 Hamburger Geschichtswerk- wurde im Laufe der Jahre eine Reihe Die Willi-Bredel-Gesellschaft be- stätten, unterhält im alten Eingangsge- weiterer Publikationen veröffentlicht; sitzt nicht nur Ausgaben nahezu aller bäude des Sommerbades Ohlsdorf ein darunter der inzwischen vergriffene Ti- Schriften Bredels, sondern auch viele Büro, ein Stadtteilarchiv und eine Bi- tel „Fuhlsbüttel unterm Hakenkreuz“. Erstausgaben, Autografen, Fotos und bliothek zur Regionalgeschichte, zum Zuletzt erschienen Karl Heinrich Biehls persönliche Gegenstände des Schrift- antifaschistischen Widerstand und zur „Zwangsarbeit im Hanseatischen Ket- stellers, u. a. seinen Schreibtisch und Geschichte der Hamburger Arbeiterbe- tenwerk (Hak) in Langenhorn“ und die seine Schreibmaschine. wegung. von Ulla Suhling verfasste Publikati- Die Geschichtswerkstatt wird vom Be- Ein wichtiges Standbein der Vereins- on „Rebellische Literatur – Quelle mo- zirksamt Hamburg-Nord gefördert. Sie arbeit ist sein Engagement für eine ralischer Kraft Hedwig Voegt (1903 bis arbeitet ausschließlich auf ehrenamt- kritische Aufarbeitung der Stadtteil- 1988)“. licher Basis und ist mit über 110 Mit- geschichte in Hamburgs Norden. Da- Seit einigen Jahren hat sich der Ver- gliedern eine der mitgliederstärksten zu führt die Bredel-Gesellschaft all- ein durch sein Engagement für abriss- Geschichtswerkstätten Deutschlands. jährlich zahlreiche Veranstaltungen bedrohte Gebäude in Fuhlsbüttel, Klein Die Mehrheit der Mitglieder sind Ham- (Vorträge, Zeitzeugengespräche, Ex- Borstel und Langenhorn einen Namen burgerinnen und Hamburger, die sich kursionen) und Stadtteilrundgänge in gemacht. So konnte zwar der Abriss des der Bredelgesellschaft wegen ihres ge- den Stadtteilen Fuhlsbüttel, Ohlsdorf, „Alsterkruges“, des ältesten Hauses von schichtskritischen Wirkens und wegen Klein Borstel und Langenhorn durch. Fuhlsbüttel, nicht verhindert, aber des- ihrer lokalen Aktivitäten angeschlossen Auch die seit 1992 im Monat Novem- sen Sturzbalken aus dem Jahre 1767 haben. Aber der Verein zählt auch ei- ber organisierten „Fuhlsbüttler Film- gerettet werden. Nach seiner Restau- ne Reihe von Freunden aus den neuen tage“ sind zu einem Markenzeichen rierung schmückt er heute das Ortsamt Bundesländern, die sich dem Erbe Wil- des Vereins geworden. Die letzten Fuhlsbüttel. li Bredels verbunden fühlen, zu seinen Filmtage im November 2008 stellten Durch Lesungen, Vorträge und die Vor- Mitgliedern. Verfilmungen von Werken Hermann stellung neuer Publikationen widmet Kants vor. Der Autor selbst war bei sich der Verein – oft in Zusammenarbeit Die Adresse: dieser Gelegenheit Gast in seiner Va- mit Autoren und Verlagen, mit Hambur- Willi-Bredel-Gesellschaft terstadt Hamburg und stellte sich den ger Theatern oder Buchhandlungen – Geschichtswerkstatt e. V. Fragen der Besucher. der Pflege des literarischen Erbes von Im Grünen Grunde 1, 22337 Hamburg, Die Bredelgesellschaft hat die letzten, Willi Bredel. Auch vertritt die Bredelge- Tel. 040 591107, Fax 040 591358, weitgehend im Originalzustand erhal- sellschaft das Urheberrecht am Werk [email protected], tenen Zwangsarbeiterbaracken Ham- Bredels. Doch der Verein fühlt sich www.Bredelgesellschaft.de burgs gerettet und im Jahr 2003 nach auch anderen antifaschistischer Auto- langjährigen Erhaltungsmaßnahmen ren und Künstlern verpflichtet und wid- René Senenko

40 ZUR DISKUSSION Anregungen des Ältestenrats der Partei DIE LINKE zum Umgang mit der Geschichte Anregungen des Ältestenrats der Par- früheren Fehlentscheidungen wie erst der kapitalistischen Marktwirtschaft ge- tei DIE LINKE zum Umgang mit der Ge- recht die Verurteilung von Untaten, die prägt ist, wäre mehr denn je ein gefähr- schichte im Namen des Sozialismus begangen licher Irrweg für die Partei DIE LINKE.. wurden, bleiben unverzichtbar. Dies um Bereits in seinem Angebot zur Pro- so mehr in Hinsicht auf die neuen Her- Das Traditionsverständnis der Partei DIE grammdebatte hat der Ältestenrat im ausforderungen, vor denen die Gesell- LINKE sollte eindeutig auf ihrer Haltung Februar 2008 darauf verwiesen, dass schaft und damit auch die LINKE stehen. zu der Jahrhunderte alten Geschichte sich die Partei DIE LINKE auch zu einem Nur sollte man nach unserer Auffassung der emanzipatorischen Bewegung der ihrem politischen Profil entsprechenden nicht der Benennung von Fehlern den unterdrückten Klassen beruhen, primär Geschichtsverständnis bekennen sollte. dominierenden Platz einräumen. Eine der deutschen und weltweiten Geschich- Der Umgang mit der Geschichte, darun- kritische Bewertung geschichtlicher Er- te der Arbeiterbewegung, vor allem der ter der eigenen, – oder anders ausge- eignisse darf auch nicht in Verkennung sozialdemokratischen, linkssozialisti- drückt das vorherrschende Geschichts- oder gar bei bewusster Negierung der schen, kommunistischen wie gewerk- bild einer Partei – widerspiegelt stets jeweiligen konkreten historischen Situ- schaftlichen. Als eine deutsche Partei ihre politische Positionierung zur Gegen- ation vorgenommen werden. Dagegen sollte sie sich insbesondere zum Ver- wart und Zukunft. sollte sie mit dem Hinweis auf zukunfts- mächtnis von Karl Marx und Friedrich orientierte Lehren zum Gewinn neuer Engels, August Bebel und Rosa Luxem- Dabei kann es nicht um eine Deutungs- aktueller Erkenntnisse beitragen. Kon- burg wie von weiteren deutschen und in- hoheit über die Geschichte gehen, nicht traproduktiv halten wir daher realitäts- ternationalen Kämpfern für eine sozialis- um den Anspruch eines gewählten Gre- fremde und bedenkliche Urteilen über tische Gesellschaftsordnung bekennen. miums oder einzelner Mandatsträger geschichtliche Vorgänge, wie sie gele- Bei den letzteren dürfte das besonders der Partei, in welcher Weise Repräsen- gentlich leider auch von Mandatsträgern auch für jene gelten, die wie Lenin ent- tanten oder gar alle Mitglieder der Partei der Partei geäußert werden. Es sind zu- gegen allen Verleumdungen einen blei- den Verlauf der Geschichte oder einzel- dem Positionen, die von vielen Mitglie- benden Beitrag zum heute nicht minder ne Aspekte zu bewerten und öffentlich dern und Sympathisanten eindeutig aktuellen wissenschaftlichen Sozialis- zu propagieren haben. Dennoch ergibt missbilligt werden. Mit Nachdruck wen- mus geleistet haben. Unsere Zugehörig- sich für jede Partei unverkennbar ein den wir uns deshalb auch gegen Dif- keit zur Europäischen Linken sollte uns enges Wechselverhältnis zwischen ih- famierungen und Verleumdungen des Anlass sein, sich stärker einer Betrach- rem vorherrschenden und in die Öffent- untergegangenen zweiten deutschen tung der Geschichte der linken Kräfte auf lichkeit getragenen Geschichtsverständ- Staates der Nachkriegsentwicklung. unserem Kontinent, insbesondere auch nis und ihrer aktuellen Politik. unserer Partner in der Europäischen Lin- Wir betrachten es als zentrales Anliegen ken zuzuwenden. In der aktuellen Situation wie in abseh- bei der Vermittlung unseres Verständ- barer Zukunft gilt das für die Partei DIE nisses von der Geschichte, in überzeu- Nach unserer Auffassung gilt es deut- LINKE ganz besonders. Grundsätzlich gender Weise jene Traditionen zu benen- lich hervorzuheben, dass in der sozialis- haben wir es ja mit analogen Widersprü- nen, auf die sich die Partei DIE LINKE tischen Bewegung stets der Kampf für chen, Gebrechen und Gefahren des Ka- berufen und stützen kann. Das darf kei- die Durchsetzung und Verbesserung po- pitalismus zu tun wie die sozialistische nesfalls auf eine Beschönigung oder litischer und sozialer Menschenrechte, Bewegung im vorigen Jahrhundert. Sie Glorifizierung hinauslaufen, sollte aber gegen Ausbeutung und Militarismus, ge- haben sich sogar weiter zugespitzt, da- vor allem deutlich machen, dass wir uns gen jede Spielart von Faschismus und bei in mancher Hinsicht eine neue Qua- dem Vermächtnis früherer Generationen Kolonialismus, für Frieden, Freiheit und lität angenommen, selten eine bessere. verpflichtet fühlen, die durch ihr theore- Gleichheit im Mittelpunkt stand. Wer Zugleich hat sich jedoch das Kräftever- tisches Wirken und ihre politischen Akti- sich in der Gegenwart gegen aggres- hältnis, vor allem in Europa, beträchtlich onen unter den jeweiligen konkreten Be- sive imperiale Kriege wendet, wird dann zu Ungunsten der antikapitalistischen dingungen im 19. wie im 20. Jahrhundert glaubhaft und überzeugend sein, wenn Kräfte verändert. Um so mehr sollten für den Sozialismus stritten. Ein derar- er den Kampf von Karl Liebknecht gegen wir die in der Vergangenheit erkämpften tiges Herangehen schließt die notwen- den imperialistischen Krieg und auch Errungenschaften deutlich machen, an dige kritische Sicht ein, ganz besonders das von der russischen Oktoberrevolu- sie anknüpfen, die Möglichkeit und Not- auch die Verdeutlichung von erforder- tion 1917 verkündete Dekret über den wendigkeit hervorheben, wie sie im Ein- lichen Lehren für die weitere Zukunft. Frieden in sein Traditionsbekenntnis ein- klang mit der in Deutschland wie global Eine solche Traditionspflege dürfte auch bezieht. so stark veränderten Situation genutzt als eine Voraussetzung gesehen wer- und modifiziert werden können. den, um jüngere Mitstreiter für die Par- Die Partei DIE LINKE sollte den guten tei DIE LINKE zu gewinnen. Die Anpas- Usus der Erinnerung an Jahrestage pfle- Das schließt durchaus kritisches Heran- sung an das heute vorherrschende und gen und eine eigene Gedenk- und Erin- gehen an die Bewertung der Vergangen- instrumentalisierte Geschichtsbild, das nerungskultur pflegen. Dies um so mehr, heit ein. Sowohl eine Distanzierung von von Antikommunismus und Idealisierung da in den kommenden zwei Jahren heu-

41 te noch denkwürdige und damit aktuelle tengemeinschaft in Europa die his- internationale Geschehen ausübte. Dies Ereignisse der Jahre 1989/90 wie auch torisch seit längerem herangereifte bleibt als reale Tatsache unbestritten, von 1949 und 1945 eine große Rolle in Übergangsperiode in der Weltgeschich- kann selbst dadurch nicht in Frage ge- der politischen Propaganda und in der te ihre Fortsetzung findet und nicht als stellt werden, dass der europäische So- Öffentlichkeit spielen dürften. Der Stel- abgeschlossen gelten kann. Die Notwen- zialismus seinen emanzipatorischen An- lenwert des Umgangs mit der Geschich- digkeit der Suche nach einer antikapita- spruch schließlich nicht zukunftsträchtig te, vor allem mit der eigenen aber nicht listischen Alternative ergibt sich nach durchzusetzen vermochte und mit sei- nur mit ihr, ergibt sich für jede Partei unserer Auffassung auch im 21. Jahr- nem Zusammenbruch am Ende des 20. natürlich nicht nur aus bevorstehenden hundert grundsätzlich aus analogen ver- Jahrhunderts eine Niederlage von histo- Jahrestagen. Er beruht auch darauf, dass hängnisvollen Widersprüchen, die schon rischem Ausmaß erlitt. Ausgelöst durch ein vermitteltes Geschichtsbild unwei- im vergangenen Jahrhundert den Auf- den Zweiten Weltkrieg kam es mit der gerlich mit der strategischen Richtungs- bau einer sozialistischen Gesellschafts- Niederlage des Aggressors nicht nur in wahl der Partei in Verbindung gebracht ordnung erforderlich gemacht hatten. Europa zu einem neuen Aufschwung des wird und daher unmissverständlich im Neue systemimmanente Widersprüche antikapitalistischen Kampfes und der ei- Einklang mit ihren programmatischen des gegenwärtigen Kapitalismus mit der ner wachsenden national-revolutionären Zielen und aktuellen Forderungen ste- noch mehr dominierenden Rolle des Fi- Befreiungsbewegung. Es entstand ein hen sollte. Wir dürfen uns schon gar nanzkapitals haben die existentiellen System von sozialistischen Staaten, es nicht die Themenwahl, die Argumente Gefahren für die Menschheit sogar wei- zerfiel das imperialistischen Kolonial- und damit die Geschichtsinterpretation ter vergrößert. Daraus ergibt sich für system. Der so tiefe Widerspruch zwi- von politischen Gegnern aufdrängen las- die Partei DIE LINKE die Forderung, sich schen den zwei antagonistischen Ge- sen. verstärkt weiterhin einer Bewertung von sellschaftsformationen, zwischen dem Schlüsselproblemen der deutschen Ge- weiter bestehenden Kapitalismus und Zur Bewertung geschichtlicher Ereig- schichte im 20. Jahrhundert, ganz be- dem sich neu herausbildenden Sozia- nisse kann und wird es in der Partei sonders der so unterschiedlichen Ent- lismus, wurde erstmals zum prägenden auch weiterhin unterschiedliche Auffas- wicklung der beiden deutschen Staaten Element der Geschichte. Trotz beträcht- sungen geben. Das entspricht dem We- nach der vom Hitlerfaschismus herbei- licher negativer Erscheinungen und bei sen einer Partei, die sich in ihrem Statut geführten nationalen Katastrophe zuzu- eindeutiger Verurteilung aller selbstver- zum Pluralismus bekennt. Zudem beruht wenden.. schuldeten Deformationen, die mehr ein Diskurs zu Geschichtsthemen auf und mehr die Stabilität und Ausstrah- den jeweilig vorliegenden differenzier- Zur Bewertung von Schlüsselproblemen lung der neuen Gesellschaftsordnung ten Ergebnissen der historischen For- der Geschichte sollten wir uns auch auf behinderten, sollten die aktiven Bemü- schung. So könnte die Partei DIE LINKE bewährte Erfahrungen eines marxisti- hungen um die Errichtung einer sozia- im Interesse ihrer Identität und ihrer Öf- schen Herangehens, darunter des dia- listischen Gesellschaftsordnung und die fentlichkeitswirksamkeit zu einem Ge- lektischen und historischen Materialis- dabei auf vielen Gebieten erreichten Er- schichtsverständnis beitragen, das im mus stützen. Dazu gehört die sorgfältige folge mit ihren international positiven breiten Diskurs erarbeitet wurde und für Analyse des Wechselverhältnisses zwi- Wirkungen, die der sozialistische Auf- weiterführende Debatten offen bleibt. schen objektiven und subjektiven Fak- bruch auslöste, einen hohen Stellenwert toren, die notwendige Einordnung aller im Traditionsbewusstsein einer linken Das Geschichtsverständnis der Partei Ereignisse in die jeweiligen konkreten Partei behalten. DIE LINKE sollte sich auf Schwerpunkte historischen Umstände, (innere wie äu- und vordringlich auf jene Probleme ori- ßere), die Unterscheidung von jeweils 2. Die linken Kräfte in Deutschland, vor entieren, die jeweils von aktueller Be- aktuellen Herausforderungen, abseh- allem SPD und KPD haben im Interes- deutung in der politischen Auseinander- baren Spätwirkungen und zunächst se der Arbeiterbewegung in der Weima- setzung sind. Vordergründig betreffen nicht erkennbaren nachhaltigen Folgen. rer Republik wichtige Forderungen zur sie die jüngste Geschichte. Gemeint ist Verbesserung der sozialen Lage und der die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in Als Anregung für den weiteren Diskurs politischen Rechte der Lohnabhängi- dem sich mit der russischen Oktober- benennen wir aus unserer Sicht hierzu gen und aller Werktätigen erhoben und revolution und ihren Ergebnissen welt- einige Schlüsselprobleme, die bei der zum Teil auch durchgesetzt. Ausgehend weit das Anfangsstadium einer neuen, Vermittlung des Geschichtsverständnis- von höchst unterschiedlichen Auffas- komplizierten und widerspruchsvollen ses der Partei DIE LINKE ihren Platz fin- sungen über die Wege zum Sozialismus Epoche in der Entwicklung der mensch- den könnten: setzten sie sich für Ziele und Aktionen lichen Zivilisation eröffnete. Sie unter- 1. Im 20. Jahrhundert errang die sozia- ein, die auch heute ihre grundsätzliche lag in den Jahren 1989–1991 einem tie- listische Bewegung ihre größte Stärke Bedeutung im Kampf gegen Kapitaldo- fen Umbruch, da der Zusammenbruch und Ausstrahlung in der Geschichte. Sie minanz, Militarismus, chauvinistischen des europäischen Sozialismus globale entwickelte sich als antikapitalistische Rassismus und Einschränkung der von Auswirkungen hatte. Weltweit und ganz Alternative zu einem wirksamen Motor den Volksmassen erzwungenen demo- besonders auch in Deutschland sahen für sozialen Fortschritt im Weltmaßstab. kratischen Rechte keineswegs einge- sich alle linken Kräfte mit neuen Bedin- Das 20. Jahrhundert stand damit in sei- büßt haben. Verheerend mussten je- gungen und Herausforderungen kon- nem ganzen Verlauf weitgehend im Zei- doch die Folgen der im Verlauf des frontiert, die zusätzlich zu den überkom- chen der russischen Oktoberrevolution Weltkriegs von 1914 -18 eingetretenen menen zu bewältigen sind. von 1917, die zur erstmaligen Heraus- Spaltung sein, die nach der Niederlage bildung eines Staates führte, der sich der Novemberrevolution bis zum Ende Von ihrer Bewältigung hängt es daher den Aufbau einer sozialistischen Ge- der Weimarer Republik zu einer zuneh- weitgehend ab, ob auch nach dem Zu- sellschaftsordnung zum Ziel setzte und menden Konfrontation zwischen SPD sammenbruch der sozialistischen Staa- wachsenden Einfluss auf das gesamte und KPD führten. Sie ergab sich aus der

42 gesamten damaligen Situation, nicht zu- dere 1945/46 erheblichen Einfluss auf bei die Situation in Berlin, darunter das letzt aus der Verkennung der verhäng- den politischen Neuanfang hatten, dürf- Wirken linker Kräfte in der gespaltenen nisvollen Folgen, zu denen sie beitragen te auch heute aktuelle Bedeutung zu- Stadt erfordern. musste. Beiderseitige strategische Fehl- kommen. Das betrifft auch die Haltung einschätzungen der Parteiführungen zu dem nach 1945 in Ostdeutschland 6. Bei der Analyse der deutschen Nach- machten zudem Versuche und Ange- verwirklichten antifaschistisch-demo- kriegsgeschichte bleibt es eine zentra- bote zur Herstellung einer wie auch im- kratischen Reformwerk wie zu den von le Aufgabe die unterschiedlichen Ursa- mer gearteten Einheitsfront zur Durch- Millionen geforderten und getragenen chen aufzuzeigen, warum es zum Zerfall setzung linker Politik zunichte. Trifft Bemühungen um das Zusammenwir- der Sowjetunion und der sozialistischen die Hauptschuld für die Errichtung der ken und die Einheit aller Anhänger eines Staatengemeinschaft, zum Zusammen- faschistischen Diktatur das Großkapi- neuen, eines demokratischen und fried- bruch des Sozialismus in Europa, zum tal und dessen politische Repräsentan- liebenden Deutschland im Kampf gegen Ende der DDR und ihren Anschluss an ten, die bürgerlichen, vor allem die kon- ein Wiederaufleben reaktionärer Kräfte. die BRD kam. Wir müssen dafür die un- servativen Parteien, begünstigte doch DIE LINKE sollte überzeugend vermit- mittelbar wie die mehr längerfristig wir- der Bruderkampf in der Arbeiterbewe- teln, dass unmittelbar nach 1945 auch kenden inneren und äußeren Faktoren gung, zu dem beide Seiten beigetragen in Deutschland zunächst wichtige Wei- wie ihre wechselseitige Einwirkung ana- haben, eine verhängnisvolle Entwick- chen für einen historischen Neubeginn lysieren. Sie schließen neben den Aus- lung, die zur Entfesselu ng eines barba- gestellt wurden. Sie sollte es mit einer wirkungen der gegen die sozialistischen rischen Vernichtungskrieges durch den Analyse verbinden, warum die Chance, Länder gerichteten zunehmenden Kon- deutschen Imperialismus und in dessen die sich aus der Befreiung vom Faschis- frontationspolitik und des Kalten Krieges Ergebnis zur nationalen Katastrophe mus ergeben hatte, nicht in Erfüllung vor allem die Reformunwilligkeit der Deutschlands führte. ging. Dazu haben die Führung des SPD meisten Staatsführungen in den sozia- durch den verschärft propagierten Anti- listischen Ländern ein, ganz besonders 3. Zu den wichtigsten Traditionen gehö- kommunismus und die Führung der SED auch ihre wachsende Unfähigkeit, sich ren die Aktivitäten im antifaschistischen durch die nicht minder verhängnisvolle neuen Herausforderungen zu stellen, Kampf, einschließlich die Bemühungen Verketzerung eines „Sozialdemokratis- um die wissenschaftlich-technische Re- um Gemeinsamkeiten, so inkonsequent mus“ beigetragen. Erst in den achtziger volution konsequent durchzusetzen. Wie sie sich auch erwiesen. Dennoch wur- Jahren bahnten sich neue Tendenzen bitter es auch ist, der Sozialismus in Eur- den sie zum eigentlichen Höhepunkt zum Zusammenwirken an, vor allem opa hat es trotz anfänglich so gewaltiger des deutschen Beitrags im Kampf ge- bei der Sicherung des Friedens und der und international ausstrahlender Erfolge gen die faschistische Barbarei. Vertreter Überwindung der so gefährlichen Ausu- beim Aufbau einer dem ganzen Volk die- der Arbeiterbewegung hatten von 1933 ferung des Kalten Krieges. nenden neuen sozial-ökonomischen Ord- bis 1945 den größten und opferreichs- nung das von ihm proklamierte Ziel nicht ten Anteil an der deutschen antifaschis- 5. In unserem Geschichtsverständnis erreicht. Er hat es nicht vermocht, die tischen Widerstandsbewegung. Zwar sollten in diesem Zusammenhang auch gesellschaftlichen Verhältnisse für die sollte er in seiner Wirksamkeit nicht ausdrücklich die verhängnisvollen Fol- Menschen überzeugend so zu gestalten, überschätzt werden. Die Niederringung gen der Spaltung Deutschlands und die dass sie den kapitalistischen Verhältnis- der faschistischen Diktatur mit ihrem unterschiedlichen Grundzielsetzungen sen überlegen sind. Verwiesen sei auch Terrorregime, die Befreiung der euro- und damit verbundenen Wertevorstel- auf einen zunehmenden Entfremdungs- päischen Völker, auch des deutschen lungen von BRD und DDR wie ihrer Par- prozess zwischen den politischen Füh- Volkes, von der faschistischen Barbarei teien einen deutlichen Platz finden. rungen und den Menschen und auf die musste, wie die Geschichte bewies, von Bei Anerkennung der Legitimität bei- Inkonsequenz bei Entscheidungen zur außen, durch die Streitkräfte der Anti- der deutscher Staaten und ihrer Ge- Überwindung von Deformationen und hitlerkoalition und die Partisanen- und sellschaftsformationen – und das auch Entstellungen des humanistischen und Widerstandsbewegung erfolgen. In un- als Ergebnis der deutschen Geschich- demokratischen Grundgehalts eines so- serem Geschichtsbild sollte dabei dar- te, einschließlich des Verlaufs der Ar- zialistischen Aufbruchs. auf verwiesen werden, dass die Sow- beiterbewegung – gilt es, den Akzent jetunion – und zwar als sozialistischer auf die so grundsätzlich verschiedene Zugleich sollten wir uns jedoch gegen die Staat – sich letztlich als jene Kraft er- Wirtschafts- und Sozialpolitik, Außen- fatalistische These wenden, dass es im wies, die den entscheidenden Beitrag und Innenpolitik, sowie die gegensätz- vorigen Jahrhundert alternativlos zu dem zum Sieg über den Faschismus leistete. lichen Geschichts- und Zukunftsvor- real eingetretenen Misserfolg oder einer Sie rettete die menschliche Zivilisation stellungen zu setzen. Bei notwendiger wesensgleichen Entwicklung kommen vor ihrem Absturz in die Barbarei, dieser Hervorhebung der gerade für Deutsch- musste. Viele nachhaltige Erfahrungen damals akuten Gefahr, die sich letztlich land so ausgeprägten und spezifischen der sich zum Sozialismus bekennenden aus den systemimmanenten Widersprü- Auswirkungen des Kalten Krieges und Länder mit ihren so grundsätzlichen Ver- chen und dem Wesen des Kapitalismus damit der eindeutigen Einbindung der änderungen haben von Anfang an welt- ergeben hatte. Geschichte beider deutscher Staaten in weit und auch in Deutschland eine deut- die internationale Systemauseinander- liche Spur für eine gegenwärtig nicht 4. Nach dem militärischen Zusammen- setzung und speziell die Politik der vier minder als im vergangenen Jahrhundert bruch des Faschismus zogen die Linken Mächte, sollten wir vor allem die posi- erforderliche, ja für das Weiterbestehen in ganz Deutschland zunächst überein- tiven Leistungen wie auch die Unter- der menschlichen Zivilisation sogar le- stimmende oder ähnliche Schlussfol- lassungen, Defizite und ausgesprochen bensnotwendige Transformation – ob gerungen. Gerade dem Bekenntnis zu entspannungsfeindlichen Konzepte und eine mehr evolutionäre oder eine mehr den ersten Dokumenten und Aktivi- Aktivitäten deutscher Politiker bewer- revolutionäre – hinterlassen. Eine echte täten der Nachkriegszeit, die insbeson- ten. Spezielle Aufmerksamkeit wird da- Transformation aber kann in historischer

43 Perspektive nur die Ablösung der kapita- gesamtdeutschen Partei sozialistischer Konzentration auf eine Distanzierung listischen durch eine sozialistische Ge- Orientierung eingeräumt werden. Aus von der Politik sozialistischer Führungs- sellschaftsordnung bedeuten. unserer Sicht ergibt sich dabei ein aus- kräfte im 20. Jahrhundert, von damaligen gesprochener Nachholbedarf vor allem Unzulässigkeiten, Fehlern, sonstigen ne- Antikapitalismus heute versteht sich aus für eine Bewertung der Geschichte der gativen Handlungen und ihren nachwir- der Einbeziehung wesentlicher Elemente Bundesrepublik Deutschland, um so kenden Folgen zu überwinden. Ein solch aus den sozialistischen Bewegungen mehr, da sich eben diese heute bei allen einseitiges Geschichtsbild kann gerade des 20. Jahrhunderts, bei Hervorhebung Veränderungen ungebrochen fortsetzt. gegenüber vielen jüngeren Menschen ihrer Unterschiedlichkeit in verschie- zur sicher ungewollten Verunglimpfung denen Ländern wie auch ihrer gemein- 8. Seit bald zwei Jahrzehnten ist nicht nur des Sozialismus als eines angeblich men- samen Grundzüge. Deshalb bleibt eine in Deutschland eine völlig neue Periode schenfeindlichen Systems missbraucht Analyse der siebzigjährigen Praxis und angebrochen. Auch sie sollte mit ihren werden. Es entspricht weitgehend dem ihrer globalen Wirkungen, einschließlich Problemen und den bereits gesammel- heute besonders auch in der Bundesre- der Wesensmerkmale, die für die DDR ten Erfahrungen eine geeignete Aufnah- publik instrumentalisierten Geschichts- maßgebend waren, auch in Deutschland me in unser Geschichtsverständnis fin- revisionismus, der eindeutig durch die weiterhin eine notwendige Herausforde- den. Sie ist mit der national wie global antisozialistische Grundhaltung der herr- rung an jede Partei, die sich nicht nur in wirkenden Restauration des kapitalisti- schenden Kreise geprägt wird. Diese An- Worten für eine antikapitalistische Alter- schen Systems in einem beträchtlichen lehnung an den „Zeitgeist“ muss sich als native ausspricht. Sie muss auch nach Raum verbunden, hat aber nicht nur Hemmschuh für eine linke deutsche Par- wie vor mit einer Analyse der Deforma- dort zu grundlegenden politischen und tei erweisen. Das gilt auch für eine selbst tionen sozialistischer Praxis und Theo- sozial-ökonomischen Veränderungen nur andeutungsweise Billigung der heu- rie, darunter eines nie überwundenen geführt. Gewandelt haben sich die Me- te propagierten verleumderischen These Demokratiedefizits, sowie einer strikten thoden zur Stabilisierung der kapitalisti- von den „zwei deutschen Diktaturen“. Verurteilung jeglichen subjektivistisch schen Machtstrukturen wie der profito- oder sonst wie begründeten Machtmiss- rientierten Ökonomie und ihrer globalen Erforderlich ist eine wahrheitsgetreue, brauchs und begangener oder zugelas- Entfaltung. Neue Bedingungen sind für eine durchaus differenzierte Bewertung sener Verbrechen verbunden sein. die linken Parteien und Bewegungen, für der jüngsten Geschichte Wir erklären alle unter kapitalistischer Ausbeutung daher mit aller Deutlichkeit: Bei einer 7. Die Partei DIE LINKE ist im politischen und imperialistischer Expansionspolitik unbedingt auch weiterhin notwendigen System der Bundesrepublik Deutschland leidenden Menschen, darunter viele Völ- Verurteilung aller selbstverschuldeten bereits heute fest verankert. Gerade ker entstanden. Deformationen bei der Verwirklichung weil sie mit wachsender Unterstützung einer angestrebten antikapitalistischen vieler Sympathisanten die Lebensinter- Spezifische Probleme haben sich durch Alternative sollten wir uns dennoch essen des Volkes repräsentiert, sind al- den Beitritt der DDR an die BRD ergeben, überzeugend zur Legitimität der Heraus- le anderen in den Parlamenten vertre- genauer gesagt durch den rasant vollzo- bildung sozialistischer Gesellschafts- tenen Parteien, die Staatsmacht und genen Anschluss eines international an- formationen im 20. Jahrhundert beken- ganz besonders auch die Massenme- erkannten und durch seine Entwicklung nen, darunter auf deutschem Boden, so dien bestrebt, sie auch mit Mitteln der geachteten Staates, in dem der Kapitalis- unvollkommen und mit Fehlern belas- Geschichtsklitterung auszugrenzen und mus überwunden war, einen Anschluss tet die Entwicklung der DDR in den vier als für die BRD angeblich wesensfremde an den anderen, den kapitalistischen Jahrzehnten ihrer Existenz bis zu ihrem und perspektivlose Partei zu verdam- deutschen Staat. Diese spezifischen Pro- Zusammenbruch auch war. Wer sich im men. Um so mehr sollten wir einen kla- bleme hatten Auswirkungen auf die Situ- 21. Jahrhundert für eine demokratischen ren Standpunkt zur Geschichte der Bun- ation im gesamtdeutschen Rahmen und Sozialismus einsetzt, wird daher bei un- desrepublik Deutschland, angefangen sogar darüber hinaus. Da der im letzten umgänglicher Kritik aller negativen Er- von ihrer Entstehung beziehen. Das gilt Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts in scheinungen vielfältige Erfahrungen und für die Innen- wie Außenpolitik der maß- vielen Staaten vollzogene tiefe Umbruch, reale Leistungen des Sozialismus im 20. geblich herrschenden Kreise und nicht der zudem globale Wirkungen zeigt, noch Jahrhundert nicht übergehen oder gar weniger für das Wirken der recht unter- im Gange und keineswegs gefestigt oder pauschal ablehnen dürfen. Und das be- schiedlichen linken Kräfte, Bewegungen zeitlich abgeschlossen ist, dürfte seine trifft ganz besonders unsere Haltung zur und Parteien. Es betrifft die ganze Zeit Bewertung nur provisorisch und unvoll- Geschichte der DDR – und wir werden nach 1945, angefangen von der Nach- ständig sein. Trotzdem sollten wir stärke- auch in absehbarer Zukunft bei ganz un- kriegsperiode über die Höhen und Tie- re Bemühungen darauf verwenden, wie terschiedlichen Gelegenheiten immer fen des Kalten Krieges bis zur Eingliede- auch dieser neue Abschnitt in die Ge- wieder danach befragt. Die DDR war ein rung der DDR in die kapitalistische BRD. schichte und in unsere Vorstellungen von organischer Bestandteil der deutschen Sie war keine über Jahrzehnte gerade der Zukunft einbezogen werden kann. Geschichte, verstand sich als Beherzi- von linken Kräften in beiden deutschen Das gilt nicht zuletzt für die neuen Erfah- gung ihrer Lehren und als Fortsetzung Staaten angestrebte Wiedervereinigung. rungen, auf die bereits die linken Kräfte einer Jahrhunderte alten wichtigen und Die Geschichte beider deutscher Staa- zurückblicken können, positive aber auch unverzichtbaren Traditionslinie. Sie er- ten hat die gesamtdeutsche Entwicklung negative. gab sich nach 1945 als historisch her- in über vier Jahrzehnten geprägt, jeweils angereifte Antwort auf die von den in unterschiedlicher aber auch gegen- Abschließend und zusammenfassend Machthabern des deutschen Imperialis- seitig einwirkender, ob positiver oder sei von uns nochmals ein Grundanliegen mus verursachte nationale Katastrophe. negativer Art. Dem sollte unbedingt ein hervorgehoben. Die Mitglieder des Äl- Sie war damit das Projekt eines neuen wichtiger Stellenplatz im Geschichtsver- testenrats halten es für erforderlich, ei- Deutschland und sollte auch als dieses ständnis der jetzt entstandenen neuen ne bisher oftmals noch vorherrschende entsprechend gewürdigt werden.

44 An Tatsachen nicht vorbeimogeln!

Im länglichen Papier des Ältestenrates brochene Ordnung hatte mit den im Kom- nommen. Ein Bekenntnis zu unserer Ver- der LINKEN wird in mehreren Thesen ei- munistischen Manifest entwickelten Vor- antwortung, Schuld bzw. Mitschuld ist ne im wesentlichen ungebrochene Tradi- stellungen recht wenig gemein, sie stand kein Kniefall vor wem auch immer, son- tionslinie der sozialistischen Bewegung vielmehr im krassen gegensatz dazu. dern Voraussetzung für einen ehrlichen zu zeichnen versucht. Neben Bekanntem Zweitens: Diese Tatsachen hat ihre Ursa- Neuanfang linker Politik. findet sich manch Fragwürdiges (War chen in wesentlichen Konstruktionsfeh- Insofern ist die These von den „einsei- das 20. Jahrhundert wirklich ein bishe- lern dieser Ordnung und kann nicht mit tigen Entschuldigungen“ strikt zurück- riger Höhepunkt der sozialistischen Be- „Schwierigkeiten beim Aufbau“ oder Un- zuweisen, unabhängig davon, ob es bei wegung und nicht vor allem auch ein ab- fähigkeit der Führungspersonen erklärt „Teilen der Basis gar nicht gut ankommt“. soluter Tiefpunkt?), die verschiedentlich werden. Wenn einige Ältere, die in der DDR an we- gepflegte Legende von der Ausgrenzung Drittens: Die guten Absichten und der oft sentlichen Stellen Verantwortung getra- der LINKEN, ein unkritischer Gebrauch Kräfte zehrende Einsatz vieler DDR-Bür- gen haben, immer noch nicht bereit sind, des Wortes Sozialismus sowie auch er- ger und SED-Mitglieder (der Autor dieser ihren Anteil an Verantwortung und Schuld hobene Zeigefinger. So wird kritisches Zeilen eingeschlossen) hat letztlich we- zu übernehmen, so müssen es die Jünge- Herangehen zugelassen, sollte aber nach der den Zusammenbruch noch die Fehl- ren tun. Fazit: Das vorgelegte Papier fällt Meinung der Autoren nicht einen domi- entwicklungen und die im Namen des hinter bereits erstritten geglaubte Positi- nierenden Platz einnehmen. Meines Er- Sozialismus begangenen Verbrechen onen der PDS/LINKEN zurück, was na- achtens sollten bei allen längeren Refle- verhindern können. türlich in einer demokratischen und plu- xionen über Sozialismus und zukünftigen Viertens: Schlimmer noch, durch unseren ralistischen Partei möglich ist. Sozialismus folgende Dinge unmissver- Einsatz haben wir auch die Herrschafts- ständlich klar festgehalten werden. verhältnisse der DDR (ich bleibe mal bei Michael Wolff Erstens: Die 1989 bis 1991 in der DDR, dieser) stabilisiert und damit vieles (z. B. (zuerst abgedruckt in: Osteuropa und der UdSSR zusammenge- auch die Mauertoten) billigend in Kauf ge- Neues Deutschland, 9./10.8.2008)

45 Dialektik der globalen sozialen Evolution

Erstens: Während des 20. Jahrhunderts gegen die Schwachstelle militanter nicht vollziehen, denn es muss Wider- ist die Menschheit in ihre globale Evo- Vorherrschaft, die Gewalt an Mensch spruch in Ereignissen ausschließen. lution eingetreten. Aber diese neue Di- und Natur. Nur so kann es folgerichtig identifizie- mension verwirklichen ökonomisch Fünftens: Anders als erwartet sucht ren und schlussfolgern. Deshalb aber und sozial bisher weder das kapita- und findet demnach die globale sozi- geht es stets von gedanklichen Vorau- listische System noch sozialistische ale Evolution ihren Weg des Überle- setzungen aus, die bereits vorgegeben Versuche. Selbst in überlebenswich- bens. Die erweiterte ökonomische und sind. Die Denkweise bleibt linear und tigen Ereignisfeldern des 21. Jahrhun- soziale Reproduktion der Menschheit historischer Irrtum wie Manipulation derts stehen sie sich konfrontativ ge- ist fortan zu gewährleisten, nicht nur sind jederzeit logisch exakt begründ- genüber. Leben auf der Erde muss aber die einer Gruppe, Klasse, Nation, oder bar. Wissenschaftliche und gesell- auf Dauer gesichert werden. Nicht nur Gesellschaft. Dieses höhere Potenti- schaftliche Diskurse treiben deshalb äußeren Konfrontationen und Bedro- al menschlicher Energien reift schritt- leicht in unsachgemäße binäre Be- hungen ist zu begegnen. Im Interesse weise im Ringen um die Lösung univer- schreibungen hinein, die konfronta- von Freiheit und Demokratie muss vor seller Aufgaben. Nach den Erfahrungen tives Denken und Handeln auslösen. allem die widersprüchliche Eigendyna- des 20. Jahrhunderts genügt dem die Zehntens: Materialistisch-dialektisch mik der globalen sozialen Evolution er- bloße Veränderung politischer und orientierte Theorie und Praxis der glo- mittelt werden, die der Kapitalismus ökonomischer Herrschaftsverhältnisse balen Evolution hat deshalb keine Soll- hervorbringt. noch nicht. Die globale Reproduktion werte, sondern das reale Handeln von Zweitens: In der Wissenschaft ist diese muss menschlich gestaltet werden. Menschen und Gemeinschaften zum Frage bisher nicht aufgeworfen. Aber Sechstens: Denn in ihr entstehen die Ausgangspunkt. Dieses elementare Er- materialistische Dialektik ist nicht der dissipativen, d. h. veränderbaren Struk- eignis sozialer Evolution ist in sich wi- einstige dialektische und historische turen des heutigen Kapitalismus und dersprüchlich, d. h. konkrete Tat, die Materialismus, der Menschen die hu- anderer Herrschaftssysteme. Nicht als Handlung zugleich sozialen Verhält- mane Selbstorganisation von Syste- nur deren soziale Missstände, sondern nisse hervorbringt. Der materialistisch- men nicht vermittelte. Aber in allen die aller Klassengesellschaften können dialektische Sachverhalt des Handelns Produktionsweisen wirkt außer Pro- in der globalen Evolution schrittweise erschließt dessen realen historischen duktivkräften, Produktionsverhältnis- aufgehoben werden. Das betrifft vor Inhalt und folglich den des jeweiligen sen und Überbauten die erweiterte allem die Deformation gemeinsamen Denkens, Fühlens und Wollens von ökonomische und soziale Reprodukti- Eigentums und seiner Arbeitsteilung in Menschen. on. Sie ist die ganzheitliche materiel- der Welt sowie die der politischen und Elftens: Der Menschheit steht dem- le Grundlage gesellschaftlichen Fort- geistigen Kultur. nach bevor, das gewohnte alltägliche schritts und seiner Kulturen. Darin Siebtens: Dagegen kann jeder seinen und logische Denken um materialis- finden Menschen und Gemeinschaften Beitrag leisten, sobald er es will, denn tisch-dialektisches zu ergänzen – eine das objektive Kriterium ihres Han- im globalen Reproduktionsprozess erweiterte gedankliche und praktische delns. Alle seine humanen und inhu- selbst entstehen die nötigen Voraus- Aneignung von Wirklichkeit. Sie ist un- manen gesellschaftlichen Wirkungen setzungen. Neuartige universelle Wir- gewohnt und vollzieht sich selbst wi- können vernünftig ermittelt werden, kungen aller seiner Strukturen (c+v+m) dersprüchlich: Unverkennbar drängt d. h. in ihren realen persönlichen, loka- setzen ein, besonders durch neue die globale Wirklichkeit zur Dialektik. len, nationalen, regionalen und globa- Werkzeuge und Rohstoffe, die direkt Mehr soziale Gerechtigkeit wird gefor- len Verhältnissen. aus Wissenschaft und Technologie her- dert und gegenwärtiges Wirtschaften Drittens: Völlig neue Aufgaben sozi- vorgehen. Ferner durch menschenwür- als irrational bezeichnet. Seit einiger aler Gestaltung entstehen in der glo- dige Bildung und Weiterbildung in der Zeit wird in Wissenschaften nach ganz- balen gesellschaftlichen Evolution und Welt, vor allem aber durch den univer- heitlicher Theoriebildung gefragt, so- ihrer Reproduktion. Sie haben univer- sellen Gebrauch des Mehrprodukts. wohl aus der Naturwissenschaft als sellen Charakter. Frieden, persönliche Achtens: Philosophie und Wissen- neuerdings auch aus Sozial- und Geis- Sicherheit, Arbeit, Demografie, Ökolo- schaften, Politik, Wirtschaft und Kul- teswissenschaften. Gleichzeitig wer- gie und andere betreffen die Angehö- tur stehen folglich vor komplexen Lö- den „Systeme starren Materialismus“ rigen aller sozialen Klassen und Grup- sungen. Nicht nur einzelne Fakten abgelehnt. Eine Anthropologie ent- pen. Die Stellung jedes einzelnen im und Trends sind wahrzunehmen, son- steht, die nicht nur materialistischer gesellschaftlichen Lebensprozess än- dern die widersprüchliche Gesamtheit Dialektik, sondern sogar der Aufklä- dert sich grundlegend: Die global le- ihrer vorstellbaren Verhältnisse. Der rung und moderner Naturwissenschaft benswichtigen Aufgaben sind nur ge- Menschheit würde die verlorene di- widerspricht. meinschaftlich zu bewältigen! alektische Reflexion der Wirklichkeit Auch unter solchen Aspekten wird Viertens: Systeme, die sich nicht dar- wiedergewonnen. weltweit komplexes Verständnis der auf einstellen, verlieren ihre Wirksam- Neuntens: Dafür ist das Konzept ei- globalen sozialen Evolution benötigt, keit. Als Träger dieses qualitativ neuen ner entwickelten Dialektik vonnöten, vor allem unter der wissenschaftlichen, Vorgangs wirken schon im 20. Jahr- die konkreten Ereignissen in deren in- künstlerischen und religiösen Intelli- hundert Allianzen für Frieden, für sozi- neren Verhältnissen nachgeht, d. h. ih- genz in Politik, Wirtschaft und Kultur. ale Sicherheit durch menschenwürdige rem natürlichen bzw. sozial Allgemei- Politik und Wirtschaft. Sie richten sich nen. Logisches Denken allein kann das Professor Dr. Heinz Engelstädter

46 LESERBRIEFE Zu René Senenko, Im Schatten der Thungasse, in: Rundbrief, Heft 3/08, S. 48 ff. Die Spitzeltätigkeit und das schließliche gruppen von Akteuren: Widerstands- (‚Grauens Frankreich‘ oder so ähnlich). Ende des von Ihnen recherchierten ‚Go‘ kämpfer – Nazi-Staatsapparat mit allen Oder ein anderes Beispiel: Dänemark. kommen mir so unwirklich vor, so wi- seinen Gliederungen – Denunzianten. Vor ca. zwei Wochen hatte der dänische derspruchsvoll, dass ich nicht recht Dass in beliebigen Diktaturen das De- Spielfilm „Tage des Zorns“ Premiere. In weiß, was ich davon halten soll. (…)Im nunziantentum aufblüht, ist ja allgemein diesem Zusammenhang kamen in einer Übrigen hat, soweit ich weiß, die So- bekannt. Radio-Rezension solche frappierenden PaDe (Exilvorstand der SPD) eine pe- Aber eine der größten Tragödien des Zahlen zur Sprache: Der dänische Wi- riodisch erscheinende Warnliste über deutschen Widerstands war wohl neben derstand hatte zahlenmäßig ca. 900 An- Gestapospitzel veröffentlicht. Ist Max seiner extrem zahlenmäßigen Begrenzt- gehörige/Teilnehmer/Kämpfer. Ob das Gold(e)mann darin zu finden? Hinsicht- heit der Umstand, dass sich unverhält- zu viel oder zu wenig ist, lässt sich viel- lich des von ihm angerichteten Scha- nismäßig viele Denunzianten fanden, leicht im Vergleich erkennen: Ca. 5.000 dens wäre er sicherlich vergleichbar mit die ohne erkennbare Repressionen sei- (!) Dänen zogen als Freiwillige mit der Herbert Lessig („Bert“) bzw. mit Max tens des Nazi-Staats ihr furchtbares deutschen Wehrmacht gen Osten … Troll („Theo“) bei den deutsch-kommu- Werk taten. Ich finde, dieses Phänomen Da kann man etwa erahnen, wir allein nistischen Emigranten. deprimiert einen doch sehr bei der Be- und auf verlorenem Posten sich Men- A. Gr. (Berlin) trachtung des Widerstands. Wobei der schen gefühlt haben müssen, die gegen Widerstand innerhalb der Grenzen des die Nazis in verschiedensten Aktionen Der von Dir dem Vergessen entrissene Nazi-Reichs (vor Kriegsbeginn) als so ge- aufgetreten sind. Aber auch, warum di- Fall Go. bietet genug Anlass zur Analy- nannter ‚Deutscher Widerstand‘ sich von ese so genannte Entnazifizierung nach se des deutschen antifaschistischen Wi- dem in den okkupierten europäischen dem Krieg gegen den Baum gehen derstands im allgemeinen, aber auch im Ländern unterscheidet. So erinnere ich musste. besonderen unter psychologischen As- mich an eine sehr interessante Publi- pekten im Hinblick auf die drei Haupt- kation über die Situation in Frankreich Ernesto Herrmann (Berlin)

47 LITERATURBERICHTE Das Jahr 1968 in den drei Welten Stefan Bollinger, 1968 – die unver- wie auch sozialreformerische Sozialde- demokratischen Phrase verpackten Welt- standene Weichenstellung, Karl Dietz mokratie an der Macht“ (S. 24). Er kenn- herrschaftsanspüche der USA noch den Verlag, Berlin 2008 (Texte der Rosa- zeichnet verschiedene Dimensionen des sowjetischen Führungsanspruch, der eng Luxemburg-Stiftung, Bd. 44). Weltvorgangs von damals: wissenschaft- mit einem demokratiefeindlichen Sozi- Vier Jahrzehnte nach den internationa- lich-technische Revolution/Produktiv- alismusmodell verbunden ist. Der Autor len Krisen- und Umbruchsjahr 1968 ha- kraftrevolution, Krise und vielleicht das lässt offen, ob die Revolution auf der Ta- ben Fachexperten unterschiedlicher Pro- Endes des Fordismus, nationale Befrei- gesordnung stand oder ob nur ein solcher venienz tiefer gehende Analysen über ungsrevolution nach dem Afrikanischen Punkt erreicht war, „an dem wesentliche die Vorgänge in West- und Osteuropa, Jahr, veränderte Systemauseinanderset- Bedingungen vorhanden waren, aber im Reich der Mitte, in den USA und La- zung unter den Bedingungen des Gleich- doch nicht die für eine Explosion notwen- teinamerika vorgelegt. Aber gerade zu gewichts des Schreckens. dige Zuspitzung erfolgte“ (S. 111). diesem Jubiläum versuchen nicht weni- Der Autor belegt mit historischen Tatsa- Die „langen“ 60 er Jahre mit der Kulmina- ge Politiker und ideologisch aufgeheizte chen und Argumenten, was sich damals tion 1968 waren nach ersten großen Kri- Journalisten, für die schon seit fast zwei tatsächlich im Vorfeld, in der Hochzeit se am Ende des Ersten imperialistischen Jahrzehnten des „Ende der Geschichte“ (1966–1969) und in den Nachwehen Weltkrieges (Oktoberrevolution 1917) die eingetreten ist, die welthistorische Grö- dieser „Weltrevolution“ ereignete, wel- größte Herausforderung an das kapitalis- ße der Ereignisse von damals klein zu re- che inneren Zusammenhänge zwischen tische Gesellschaftssystem überhaupt, den, zu dämonisieren, abzuwerten, mehr den revolutionären und evolutionären das seit einem halben Jahrhundert nicht noch – das Jubiläum zu missbrauchen, Ereignissen in den „drei Welten“ beste- mehr allein herrschend auf dem Pla- es sogar für eine neoliberale und expan- hen – von Westberlin über Paris bis zu neten war. Im Unterschied zu den po- sive Politik zu instrumentalisieren. den USA, von Prag über Moskau bis Pe- litischen Eliten des Staatssozialismus Vor allem hierzulande reduzieren tonan- king und in wichtigen Zentren der „Drit- sowjetischen Typs begriffen die großen gebenden Medien den großen Umbruchs- ten Welt“ (Vietnam, Mexiko, Algerien, Kapitaleigner, ihre theoretischen Ide- prozess mit der Chiffre 1968 auf einige Kuba). Er macht auch deutlich, das die engeber, politischen und ideologischen Vorgänge in der damaligen BRD, zumeist regionalen und nationalen Ereignisse al- Platzhalter, vor allem in Europa und Nor- auf einen der Ausläufer – den Terror der lerdings schwer auf einen Nenner zu brin- damerika, die globale Krise 1968 als RAF. Der Historiker Götz Aly sieht sogar gen sind und damals weder von den Ak- Herausforderung und stellten sich ihr er- eine Kontinuitätslinie zwischen den Na- teuren noch den Theoretikern in dieser folgreich. Wie so oft in der menschlichen zischlägern von 1933 und der 68 er Be- im Nachhinein festgestellten Größenord- Geschichte war es dadurch möglich ge- wegung, der er selbst angehörte. Einige nung erkannt worden sind. Daher auch worden, dass das ursprüngliche antika- der Akteure von 1968 gelangten in ho- der Titel „1968 – die unverstandene Wei- pitalistische und pro-sozialistische Ziel he Staatsämter und wurden zu Verfech- chenstellung“. Er beurteilt die globalen der meisten Akteure im Laufe der Zeit in tern einer neoliberalen Politik und An- Vorgänge mit Claus Leggewie („1968 – das Gegenteil verkehrt wurde. stifter kriegerischer Aktionen im Namen ein transnationales Ereignis und seine Die Ergebnisse des weltrevolutionären der Menschen- und Freiheitsrechte. Noch Folgen“) als „erste weltgeschichtliche Aufbruchs machen Leitungen und Gren- immer wird vor allem die Bedeutung des Bewegung und als Ausdruck einer post- zen der agierenden Kräfte dieser „Weltre- Jahres 1968 in Osteuropa bewusst un- industriellen als auch postsozialistischen volution von 1968“ deutlich. Sie blieben terbewertet – als Nebenschauplatz oder Weltrevolution“ (S. 23). aber dennoch weit hinter der Erwar- gar nur Randgeschehen. Es soll in Ver- Stefan Bollinger geht aber weiter und tungen. Im Westen kam es nicht zur sozi- gessenheit geraten, dass 1968 die größte sieht in der aufkommenden Technologie- alistischen, rätedemokratisch organisier- Herausforderung für die beiden vorherr- revolution den eigentlichen Auslöser und ten neuen Gesellschaft freier Individuen. schenden Gesellschaftssysteme war – für das letztlich alles bewegende Element. Aber auch im Osten misslang es, De- den realen Kapitalismus ebenso wie für Die neue Epoche der Produktivkräfte be- mokratie, Sozialismus und Technolo- den Realsozialismus sowjetischen Typs. schleunigt die Trennung von der Arbeit gierevolution zu verbinden, den Staats- In einer Zeit also, wo das globale Erbe von und der Information, schuf die Voraus- sozialismus sowjetischen Typs in einen 1968 verfälscht und aus dem Gedächtnis setzung für eine völlig veränderte Situ- demokratischen Sozialismus umzubauen. der Völker verdrängt werden soll, ist die ation gesellschaftlicher Arbeit und ihre Mehr noch: hier wurde die letzte Chance Streitschrift des Berliner Historikers und Akteure in Ost und West: Die Intelligenz für eine sozialistische Evolution vertan. Politikwissenschaftlers Stefan Bollinger wuchs zu einer zahlenmäßigen Schicht, Die Fähigkeit des Kapitalismus war grö- „1968 – die unverstandene Weichenstel- während die Arbeiterklasse unwichtiger ßer, seine verkrustete Gesellschaft auf- lung“ zur rechten Zeit gekommen. Der wurde. Er untersucht den Zusammen- zubrechen, die nun geforderte Individu- Autor knüpft an eine der wenigen Arbei- hang zwischen J. Bernals Entdeckung ei- alität, Kreativität und Selbständigkeit in ten an, die den damaligen Auf- und Um- ner Wissenschaftlich-Technischen Revo- sein System zu integrieren und damit bruch als Weltrevolution definieren und lution und der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit dem Freiheitsanspruch seines eman- fügt zu Imanuel Wallersteins Weltrevolu- der beiden Weltsysteme, diese zu nut- zipatorischen Kerns zu berauben. Un- tions-Begriff („systemkritische, antikapi- zen. Die revolutionären Forderungen in ternehmerfreiheit galt ebenso wie Ei- talistische soziale Bewegung“) zu Recht Ost, West und Süd waren einhellig, aber genverantwortung und Flexibilität der noch hinzu „plus der staatlich organi- sie wurden damals nicht durchgesetzt: Produzenten. Mit dieser Vereinnah- sierte Sozialismus sowjetischer Prägung Wir mögen weder die mit der freiheitlich- mung der Gegenseite konnte der verän-

48 derte Kapitalismus letztlich 1989 über les Forschungsnetzwerk von über 80 Das betrifft unter anderem die Rolle Le- den stagnierenden Realsozialismus tri- Historikern und Zeitzeugen aus Russ- onid Breshnews und der Militärs in den umphieren und „die scheinbare Vere- land (Staatsarchiv für Zeitgeschichte, damaligen Konflikt- und Entscheidungs- wigung seiner nun unbegrenzten kapi- Akademie der Wissenschaften), Euro- prozessen. Der Generalsekretär der talistischen Welt ermöglicht“ (S. 125) pa (z. B. Institute für Zeitgeschichte in KPdSU gab den Ausschlag, dass der in erreichen. Dieses Dilemma, das bis heu- Prag, in München und Berlin) und den der UdSSR aufgewachsene und perfekt te aktuell geblieben ist, umschrieb da- USA (Center der Universität russisch sprechende Alexander Dubcek mals der Philosoph Herbert Marcuse New Orleans). Einbezogen waren wei- im Januar 1968 Antonin Novotny als mit diesen Worten: „Wir begriffen, dass tere Institutionen aus Tschechien und Parteichef ablöste. Der Kremlchef sah die Bourgeoisie, die herrschende Klasse der Slowakei, Aserbaidschan, Bulgarien, in „Sascha“ zunächst „seinen“ Mann in jedem Lande der ‚freien Welt‘ es sich Belorussland, Dänemark, Estland, Finn- für die Tschechoslowakei. Aus den ver- leisten kann, dass kritische Minoritäten land, Frankreich, Großbritannien, Ita- öffentlichten Dokumenten geht her- über Probleme der eigenen und frem- lien, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, vor, dass er geduldig versuchte, seinen den Gesellschaft diskutieren, das sie be- Ukraine, Ungarn, den USA (Boston, New „Zögling“ zunächst für eine politische reit sind, jede Diskussion zu gestatten, York, Washington, Philadelphia) und Ru- Lösung des Konflikts, d. h. für die Been- jede Diskussion, die theoretisch bleibt.“ mänien. Nicht zuletzt mit dem Segen digung des Prager Frühlings, zu gewin- Und – so sollte man hinzufügen – Dis- des damaligen österreichischen Bun- nen. In den persönlichen Telefonaten kussionen und Schritte, die den Rahmen deskanzlers Wolfgang Schüssel und des vom 9. und 13. August 1968 gab er aber dieser veränderten kapitalistischen Ge- russischen Präsidenten Wladimir Putin Dubcek auch unmissverständlich zu sellschaft sprengen, zu verhindern. Das begann 2005 offiziell das zweijährige verstehen, dass nun die „letzte Chance“ scheint wohl die Kardinalfrage nach dem Projekt zur Erforschung der Geschichte gekommen sei, „die Sache ohne größe- „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuya- des Prager Frühlings, das nun in Gestalt ren Schaden zu retten“. ma) seit 1989 zu sein. der zwei voluminösen Bände vorliegt. Doch die militärischen Besetzung des Sehr ausführlich und grundsätzlich ana- Die Quellenedition in deutscher Spra- Landes seit dem 20/21. August 1968 lysiert der Autor die neuen Theorien che (mit abgedruckten russischen, wurde ein politischer Fehlschlag: das und weltanschaulich Ansätze. Sein Fa- teilweise englischen Originaltexten) ganze Land leistete friedlichen Mas- zit: Wirksam wurden solche Theoretiker eröffnet eine Rede auf dem richtung- senwiderstand, kein Kollaborateur fand wie Georg Lukacs, Ernst Bloch, Jean Paul weisenden Januar-Plenum der KPC von sich, eine Marionettenregierung zu über- Sartre, Herbert Marcuse, aber auch Max 1968, die der engagierten Reformkom- nehmen. Leonid Breshnew sah sich da- Horkheimer oder Theodor W. Adorno, munist Josef Smrkovsky hielt, ein an- her gezwungen, wieder mit „Sascha“ zu die mit der Revolte wenig im Sinn hat- tifaschistischer Widerstandskämpfer verhandeln und setzte noch einmal auf ten. Die globale Bewegung brachte we- und Führers des Prager Mai-Aufstandes ihn. Als Dubcek aus der karpato-ukrai- nig theoretische Köpfe hervor. Um so 1945, den das Gottwald-Regime 1951 nischen Haft am 23. August 1968 nach dringlicher auch das theoretische und zu lebenslanger Haft verurteilte und der Moskau gebracht wurde, war er sich be- praktische Werk der nicht wenigen Re- erst 1963 rehabilitiert wurde. Die vor- wusst, dass die sowjetische Führung in formkommunisten in Osteuropa und in letzte Quelle, der streng geheime Polit- einer aussichtslosen Lage und ihr Ziel der UdSSR, der Linkssozialisten vor und bürobeschluss des ZK der KPdSU vom nicht aufgegangen war. Der Generalse- seit 1917 zu erschließen und neu zu be- 30. April 1969, zeigt an, dass dem „Pra- kretär der KPdSU tat so, als sei nichts fragen. Dass bevorstehende zwanzigjäh- ger Frühling“ der „osteuropäische Win- geschehen und erklärte ihm leutselig: rige Jubiläum der „friedlichen Revolution ter“ gefolgt war: Mit Zufriedenheit wird „Wir wollen Dir nicht persönlich vorwer- 1989“ wird Anlass sein, die Geschichte dort festgestellt, dass einer der „Anfüh- fen, dass Du schuld bist. Du könntest der ersten Form des Sozialismus aus die- rer der Rechten Smrkovsky“ zum April- das auch nicht gewusst haben.“ Es blieb ser Sicht weiter zu analysieren und linke plenum der KPC am 17. April 1969 nicht Breshnew nichts weiter übrig, Dubcek Geschichtspolitik und -theorie offensiver zugelassen und endlich auch Alexander wieder als Parteichef zu akzeptieren. zu gestalten: Staatssozialismus war nicht Dubcek als Parteichef durch die „prin- Als dann auch der verhaftete Minister- von Anfang an zum Untergang verurteilt, zipientreue, energische Persönlichkeit“ präsident hinzugezogen wurde, meinte er besaß durchaus Potenzen und Mög- Gustav Husak ersetzt worden ist. Da- der Kremlchef: „Vielleicht sollten wir ei- lichkeiten, herangereifte Probleme zu er- nach folgt das letzte der 232 Dokumen- ne Regierung mit Genossen Cernik an kennen und zu lösen, den Weltfortschritt te – ein Erlass des Obersten Sowjets der der Spitze bestätigen (!).“ Jetzt solle voranzubringen. Dass die Transforma- UdSSR vom 4. Juni 1971 über die Ver- man zusammenhalten und die Lage nor- tion zum demokratischen, ökonomisch leihung von Orden „für die vorbildliche malisieren – so auch Regierungschef effizienten Sozialismus nicht gelang und Erfüllung der Dienstpflicht während der Alexej Kossygin, und erst danach „kön- von bestimmten politischen Kräften vor tschechoslowakischen Ereignisse“. Ein nen wir uns gegenseitig kritisieren, wer allem im eigenen System mehrmals ver- beträchtlicher Teil der meist erstmals die größten Fehler gemacht hat.“ hindert wurde, ist die eigentliche histo- veröffentlichten Quellen, vor allem eine Die Protokolle der Politbüro- und ZK-Sit- rische Tragöde und Katastrophe. Reihe von Beschlüssen und Protokollen zungen bestätigen: Im Unterschied zur des Politbüros des ZK der KPdSU, gibt Stalin-Zeit gab es unter Breshnew (wie Stefan Karner u. a., Hrsg., Prager Antwort auf eine Reihe bislang offener auch zuvor unter Nikita Chruschtschow) Frühling. Das internationale Fragen und bewertet einige Ereignisse eine „kollektive Führung“. Darunter wa- Krisenjahr 1968, Böhlau Verlag, Köln- neu. Die im ersten Band enthaltenen ren auch ausgesprochene Falken, die Weimar-Wien 2008, 2 Bände. 70 Aufsätze von Wissenschaftlern und von Anfang an auf eine Militärinterventi- Unter der Leitung des Grazer Ludwig Zeitzeugen (u. a. vom damaligen Wiener on drängten, wie zum Beispiel Verteidi- Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen- Bürgermeister H. Zilk, dem Iswestija - gungsminister Marschall Gretschko und forschung und seines Direktors Stefan Korrespondenten in Prag B. Orlow) in- KGB-Chef Andropow, die ukrainische Karner entstand 2003 ein internationa- formieren darüber. und belorussischen Parteiführer Sche-

49 lest und Mazurow, deren Machtbereiche on Soldaten beginnen. Auch die strate- nin, eine neue Botschaft: den Beginn am stärksten von den Wirkungen des gischen Kräfte für den Atomangriff wur- Intervention gegen die CSSR. Das Ge- Prager Frühlings betroffen waren. Liest den in volle Kampfbereitschaft versetzt. sprächsprotokoll lässt erkennen, dass man die Aufzeichnungen über die Tref- Die Militäraktion kostete 94 Tschechen dem Präsidenten der vorgesehen Le- fen der Führer der Fünferkoalition wird und Slowaken das Leben, die Interven- ningrad-Gipfel wichtiger erschien als eine weitere, bisher nicht ausreichend tionstruppen hatten 87 Todesopfer, die diese Ankündigung. Sein Vize Hubert beachtete Tatsache deutlich nämlich, meisten von ihnen starben durch Unfälle Humphrey, zugleich demokratischer dass der Einfluss vor allem Walter Ul- und unvorsichtigen Umgang mit Waffen. Kandidat für die bevorstehenden Präsi- brichts, Wladislaw Gomulkas und To- Die jetzt vorliegenden Dokumente und dentschaftswahlen, erklärte: „Wir kön- dor Schiwkows auf die Entscheidungen die Aufsätze unter der Rubrik „Die nen lediglich unser Unbehagen aus- des Kremls zur Intervention und der da- Atommächte“ korrigieren eine Reihe von drücken und palavern.“ Ihn kümmerte nach folgenden Politik zur Restauration Mythen und Legenden über die Rolle mehr, dass sein Rivale Richard Nixon des Staatssozialismus sowjetischen Ty- der USA und ihrer Nato-Verbündeten im daraus Vorteile im Wahlkampf ziehen ps weitaus größer gewesen ist, als dies Prager Frühling. Nach der militärischen könnte. Sorgen bereitete Johnson ledig- bisher dargestellt wurde. Intervention in der Dominikanischen lich, dass Moskau bei dieser Gelegen- Das wurde auch dadurch begünstigt, Republik und denbekannt gewordenen heit auch Rumänien und Jugoslawien dass Breshnew – im Unterschied zu Ch- Kriegsverbrechen in Vietnam, sah sich besetzten werde. Verteidigungsminis- ruschtschow – ein vorsichtig und mit Präs ident Lyndon B. Johnson im Vorfeld ter Cliffort beurteilt die „Prager Ope- Bedacht agierender Politiker war, der der Präsidentschaftswahlen im Novem- ration“ des Warschauer Paktes am 23. die nach Stalins Tod eingeführte Me- ber 1968 zu einer weiteren Interventi- August als „gut geplant sowie effizient thode der „kollektiven Führung“ gegen- on in Europa außerstande. Im Senat klug“, aber zugleich auch als ein poli- über den osteuropäischen Führern bei gab es zudem die Forderung, Truppen tisches Desaster für Moskau. Der US- schwierigen Entscheidungen anwandte aus Deutschland abzuziehen, um Kos- Präsident ging zum Tagesgeschäft über und deren Initiativen und Vorschlä- ten zu sparen. Seit der Tet-Offensive und nahm Urlaub auf seiner Ranch in ge nutzte, manchmal auch abbremste. des „Vietcong“ im Januar 1968 ent- Texas. Es ist bisher kein Dokument über Im Dezember 1968 bemerkte Vertei- schied Johnson, nicht wieder zu kandi- eine geheime Absprache zwischen Mos- digungsminister Marschall Gretschko, dieren. 1968 war für die USA selbst ein kau und Washington gefunden worden. Breshnew sei tagtäglich auch von Ost- nationales Krisenjahr: die Protestbewe- Aber beide Seiten respektierten ein- berlin, Warschau und Sofia zum Trup- gung gegen den Vietnamkrieg weite- deutig ihre in Jalta abgesteckten Inter- peneinmarsch gedrängt worden. Nach- te sich aus und erfasste alle Schichten essensphären. Die USA tolerierten die dem der Kremlchef die Führungen der der Bevölkerung, die landesweiten Aus- „Breshnew-Doktrin“, weil sie die mili- DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens schreitungen nach der Ermordung des tärische Intervention gegen die CSSR am 24. August 1968 über den Stand der Bürgerrechtskämpfers Martin Luther nicht verhindern konnten. Nicht wenige Dinge informiert hatte und ihnen mitteil- King demonstrierten die nach wie vor Historiker und Politiker leiteten daraus te, dass kein Weg an Dubcek und Cernik virulenten Rassenschranken. Auch die lange Zeit alberne Verschwörungstheo- vorbeiführen wird, waren Ulbricht und Ermordung des demokratischen Präsi- rien ab. Gomulka entsetzt darüber. Breshnew dentschaftskandidaten Robert Kenne- Einige Spezialisten zur Geschichte versuchte, sie zu beschwichtigen: „Ver- dy löste weitere bürgerkriegsähnliche Frankreichs, Großbritanniens, der BRD, steht uns bitte nicht so, dass wir auch Zustände im August 1968 in Chicago Jugoslawiens, Rumäniens und Chinas nur einen Schritt zurückweichen wollen. aus. Bereits im Juli 1968 hatte Außen- bringen auch neue Erkenntnisse über Wir berichten lediglich über die Kompli- minister Dean Rusk dem sowjetischen die Lagebeurteilung und Reaktionen ziertheit der Situation.“ Man müsse spä- Botschafter versichert, die USA seien durch de Gaulles und den Quai d’Orsy, ter Dubcek natürlich „umpostieren.“ gegen jede Einmischung in der Tsche- London und Bonn sowie über die Rol- Eine Reihe neuer Dokumente belegt choslowakei. Es gab in der US-Admi- le der Kremlopponenten Tito, Ceauce- auch den Zeitpunkt der Entscheidungs- nistration die klare Entscheidung, die scu und Mao Tse-tung. Auch Untersu- findung für die Militärintervention der sowjetische Einflusszone Osteuropa zu chungen zur Rolle des KGB, der CIA und Fünferkoalition, die als möglich Alterna- respektieren. Die westdeutschen Politi- des Ministeriums für Staatssicherheit tive und äußerste Maßnahme schon auf ker wurden ermahnt, keine provokato- der DDR erhellen eine Reihe von Fragen der Dresdner Konferenz im März und rischen Aktionen zu unternehmen. Das aus dieser Zeit. Auch über Dänemark auf dem Aprilplenum des Zentralkomi- US-Verteidigungsministerium berech- als Horchposten und über Finnland zwi- tees der KPdSU 1968 in Betracht ge- nete, dass bei einer NATO-Intervention schen Versuchslabor und dem begin- zogen wurde. Der sowjetische Verteidi- mit mehr als einer Brigade sechs Mo- nenden KSZE-Prozess wird referiert. gungsminister erließ schon am 8. April nate erforderlich sind, um je zwei deut- Wesentliche Erkenntnisse vermitteln 1968 die erste Direktive für den Einsatz sche und französische Divisionen ein- die Untersuchungen zur Rolle des neu- der sowjetischen Luftlandetruppen auf setzen zu können. tralen Österreichs. Die Auswirkungen dem Gebiet der CSSR, die sich Ende Ju- Präsident Johnson erhielt am 19. Au- des Prager Frühlings auf die innere Ent- li 1968 auf ihre Wartepunkte begaben. gust 1968 von Leonid Breshnew die Ein- wicklung der Länder der Fünferkoaltion Die Dokumente belegen, dass die end- ladung für Gipfeltreffen über wichtige wird sehr differenziert beurteilt. Wie die gültige Entscheidung zur Intervention internationale Probleme, besonders die Untersuchungen von Historikern aus am 16. August 1968 im KPdSU-Politbüro Abrüstung betreffend, in Leningrad. Ei- den westlichen Unionsrepubliken, dem fiel und zwei Tag später von den Führern nen Tag danach verkündete er dazu: Nordkauaksus und Aserbaidschan be- der DDR, Polens, Ungarns und Bulgari- „Das könnte der größte Erfolg meiner legen, war das Echo dieser Ereignisse ens vorbehaltlos bestätigt wurde. Die Administration werden.“ Ein paar Stun- nicht allzu groß. Allerdings: In Moskau „Operation Donau“ sollte am Abend des den später überbrachte der sowjetische war es der Beginn der Dissidentenbe- 20. August 1968 mit einer halben Milli- Botschafter in den USA, Anatoli Dobry- wegung.

50 Die militärisch erfolgreiche Prager Ope- und spannende Aspekte zum Schlüssel- formers Reszö Nyers kam es ebenfalls ration vor 40 Jahren hatte unter anderem jahr 1968 vor. Stefan Karner informiert in Ungarn zu einer „Reformebbe“. Auch dazu geführt, dass nun auch sowjetische über die neuen Ergebnisse des von ihm im jugoslawischen Selbstverwaltungs- Streitkräfte in der Tschechoslowakei geleiteten Forschungsprojekt und die sozialismus wurde seit 1974 das Wirken dauerhaft für ein Vierteljahrhundert sta- herausgegebene Quellendition (vgl. die der Marktkräfte zugunsten eines Sys- tioniert wurden. Sie standen nun an der obige Rezension). Für das Verständnis tems von Sozialverträgen zwischen Be- Grenze zu Bayern. Die Militärintervention des damaligen Versuchs einer Transfor- trieben und den örtlichen und regional- des Warschauer Paktes hatte einen enge- mation des osteuropäischen Staatsso- staatlichen Institutionen (Republiken) ren Zusammenschluss der NATO-Länder zialismus in einen demokratischen und eingeschränkt. Der Übergang zur sozi- zur Folge. Auch Paris näherte sich dem ökonomisch effektiven Sozialismus bil- alistischen Marktwirtschaft barg in sich Bündnis wieder an. Ein Sicherheitssys- den im Kontext mit wirtschaftlichen nicht nur die Gefahr des Aufbrechens tem mit Moskau ohne die USA kam nicht Stagnationserscheinungen und der ein- nationaler (wie in Jugoslawien), sondern mehr in Betracht. Aber ungeachtet des- setzenden Produktivkraftrevolution die sozialer Konflikte zwischen der Reform- sen erhielt in den nachfolgenden Jahren Reformen von oben die Schlüsselfrage. bewegung und der Arbeiterschaft, in der die Ost- und Entspannungspolitik obers- Vor allem Jörg Roesler, Stefan Bollinger Egalitarismus in der Lohn- und Sozialpo- te Priorität. Die neu zugänglichen Quel- (beide Berlin), Hannes Lachmann (Prag) litik ausgeprägt waren. Sie hätte in einer len bestätigen eine schon seit langem und Peter Heumos (München) geben ei- demokratisch verfassten Gesellschaft begründete These, dass der Staatssozi- nen differenzierten Überblick über die und Wirtschaftsdemokratie durchaus alismus sowjetischen Typs, wie er sich in den 60 er Jahren eingeleiteten Wirt- ausbalanciert werden können und stell- seit der Oktoberrevolution 1917 wesent- schaftsreformen, deren Wechselwir- ten keine grundsätzliche Gefahr für den lich in Europa durchgesetzt hatte, durch- kung mit den Reformen des politischen sich erneuernden Sozialismus dar. aus reformierbar ist, vor allem durch den Systems. Die erste Hälfte der 60 er Jah- Der Zeitzeuge Adam Michnik und die Übergang zu einer effizientes Marktwirt- re war in allen osteuropäischen Ländern polnischen Historiker Stefan Garsztecki schaft und die Zulassung demokratischer gekennzeichnet durch Auseinanderset- und Karol Sauerland informieren über und freiheitlicher Grundrechte. zungen zwischen Befürwortern, Skep- den freiheitlichen Aufbruch und die an- Wer sich mit der Geschichte des Prager tikern und Gegner der ökonomischer tisemitische Antwort von oben in Polen. Frühlings auch weiterhin befassen will, Reformer. Nach der sowjetischen Liber- Die Studentenproteste im März 1968 wird von der Tatsachen- und Erkennt- mann-Diskussion billigte auch die KPd- gehen auf die enttäuschten Hoffnungen nisgrundlage dieses neuesten Standard- SU dass Kossyginsche Wirtschaftspro- zurück, die mit dem einstigen Reform- werkes ausgehen müssen. Es ist auch in jekt, das im Januar 1966 in Kraft trat. kommunisten Wladislaw Gomulka im den gegenwärtigen Debatten zum Prager Mit dieser „ökonomischen Entstalini- Jahre 1956 verbunden waren, die schon Frühling höchst aktuell. In einer Zeit, wo sierung“ kam es auch zu Versuchen, 1964 im offenen Brief von Karol Modze- sich bereits erneut eine neue Form des das geistig-kulturelle und politische Le- leweski und Jacek Kuron an die Führung Kalten Krieges zwischen den USA und ben zu liberalisieren. Sie wurden aller- der PVAP prägnanten Ausdruck gefun- Russland andeutet, werden die Ereig- dings, sieht man von Jugoslawien und den hatten (vgl. S. 84 f.). Die Programm- nisse von einigen Journalisten und Po- der Tschechoslowakei zwischen Januar erklärung der Studenten der Universität litikern zum Anheizen der internationa- und August 1968 ab, unterdrückt. Die Warschau befand sich auf der gleichen len Situation gezielt genutzt. So wird das Prager Reformer erkannten, dass letzt- Wellenlänge wie der zu dieser Zeit in Schreckgespenst des „russischen Pan- lich die Wirtschaftsreformen „nur un- Gang gekommene Prager Frühling und zerkommunismus“ von 1968 genutzt, um ter Druck der reformfreundlichen Öf- das Aktionsprogramm der KPC. Der na- die aggressive Politik der USA in der Kau- fentlichkeit zu verwirklichen waren, die tionalistisch-antisemitische Parteiflü- kasus-Region zu rechtfertigen. Nicht der dazu erst bereit sein würde, wenn man gel der so genannten Partisanen unter von den USA durch die „Rosenrevolution“ ihre Forderungen nach weitgehender Innenminister Mocar, unterstützt vom an die Macht in Georgien gehievte Mari- Liberalisierung und Demokratisierung einstigen Reformer und Krisenbewäl- onette Saakaschwili ist der Urheber und einschließenden gesamtgesellschaft- tiger des „polnischen Oktober 1956“, Täter des jüngsten Aggressionsakt gegen lichen Reformen akzeptierte“ (S. 201). Parteichef Gomulka, unterdrückte die Südossetien. Erst danach begann Mos- Damit wurde aber der von Moskau für linke demokratische Bewegung. Im Un- kau die Gegenaktion. Das hindert staats- die Staaten des Warschauer Paktes vor- terschied zur DDR, gab es in Polen nach nahe Medien nicht, Georgien als Opfer gegebene Rahmen überschritten. Des- 1968 keine nennenswerten Anhänger russischer „Panzeraggression“ hoch zu halb ließ die „Zustimmung Ulbrichts und einer Evolution und Reform des Sozia- stilisieren. Man muss schon sehr unwis- Kadars zu Dubceks Reformen … nach, lismus mehr. Ein Teil der reformsozia- send, manipuliert oder böswillig sein, sobald das politische Profil des ,Prager listischen Kräfte, die sog. Revisionisten wenn man das für bare Münze nimmt. Frühlings‘ erkennbar wurde“ (S. 202). besaßen in der antikommunistischen Die militärische Intervention der Fün- Opposition der 70 er und 80 er Jahre Angelika Ebbinghaus, Hrsg., ferkoalition am 21. August 1968 stärkte und auch anfänglich in der III. Republik Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. die Reformgegner, die sich darin bestä- seit 1989 eine wesentliche Rolle. Analysen und Berichte über ein tigt fühlten, dass jede Wirtschaftsreform Für den deutschen Leser sind die Bei- Schlüsseljahr, VSA-Verlag, den Keim politischer Instabilität und da- träge von Krunoslaw Stojakovic und Hamburg 2008. mit angeblich die „Konterrevolution“ in Boris Kanzleiter über die Ereignisse in Profilierte Spezialisten aus Deutschland sich trage. Sie fanden deshalb bald ein Jugoslawien besonders informativ. In und Osteuropa tragen in diesem von jähes Ende nicht nur durch Dubceks diesem Land kamen 1968 im internatio- der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin und Sturz in der CSSR (1969), sondern auch nalen Vergleich zwei Spezifika zum tra- der Stiftung für Sozialgeschichte des ein Jahr später in der DDR mit der darauf gen: Erstens integrierte die Studenten- 20. Jahrhunderts in Bremen geförder- folgenden Machtübernahme durch Erich bewegung Elemente beider entgegen ten Sammelband neueste Forschungen Honecker. Mit der Ablösung des Chefre- gesetzten Systeme und zweitens zielte

51 dieser Protest nicht frontal gegen den Aktivisten dieser Bewegung an der De- rungen“ verfolgt wurden, die ihre Arbeit Selbstverwaltungssozialismus – des re- mokratiserung Jugoslawiens fest und verloren, deren bisherige soziale Lebens- al existierenden dritten Weges zwischen leistete Widerstand gegen den bald auf- welten, Familien und Freundschaften Stalinismus und Kapitalismus. Die Stu- kommenden kroatischen, slowenischen zerbrachen (Markete Spiritova). In ihrer denten kritisierten das jugoslawische und serbischen Nationalismus. Aber ein Einführung zeichnet die Herausgeberin Modell, das weltweite Ausstrahlung be- Teil der Belgrader „Praxis-Gruppe“ und Angelika Ebbinghaus auf der Grundlage saß, hinsichtlich der Erfüllung der Ziele kritischen Intellektuellen versanken im der 16 Beiträge ein komplexes Bild über des Bundes der Kommunisten: „Wir Sumpf der national-populistischen Pro- die letzte Chance zur Evolution des ost- haben kein eigenes Programm. Unser jekte und gehörte zu den Totengräbern europäischen Staatssozialismus. Den Programm ist das der fortschrittlichen des Selbstverwaltungssozialismus und Texten beigefügt sind Grundsatzdoku- Kräfte unserer Gesellschaft – das Pro- der politischen Großmacht Jugoslawien mente (Aktionsprogramm der KPC, Lud- gramm der BdKJ und unserer Verfas- seit Ende der 80 er Jahre. vik Vaculiks „2000 Worte“, Politisches sung.“ Die studentische und intellek- Weitere Beiträge informieren über katho- Aktionsprogramm der Belgrader Stu- tuelle Bewegung war inspiriert vom lische Jugendgruppen in Ungarn (Arpad denten), Briefe und Flugblätter von DDR- „jungen“ Marx, von Herbert Marcuse, von Klimo), die Ereignisse in Rumänien Bürgern sowie zahlreiche Fotos über Ak- Ernst Bloch, Max Horkheimer und Theo- (Richard Wagner), das Aufbegehren in teure und Aktionen jener im wahrsten dor W. Adorno, aber auch von Schriften der DDR (Marc-Dietrich Ohse, Ute Kät- Sinne des Wortes weltbewegenden Zeit Leo Trotzkis, Ernest Mandels, Karel Ko- zel) und über die Hexenjagd des Husak- vor vier Jahrzehnten. siks, Leszek Kolakowskis und anderer. Regimes gegen zwei Millionen Tschechen Auch nach 1968 hielt ein großer Teil der und Slowaken, die im Zuge der „Säube- Professor Dr. Karl-Heinz Gräfe

Medizin gegen die Menschlichkeit

Adélaïde Hautval Erklärung Medizin gegen die Menschlichkeit Ich, der unterzeichnende Dr. Miklós Nyiszli, bin Arzt und Die Weigerung einer nach ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Auschwitz; ich Auschwitz deportierten Ärztin, war beschäftigt im Krematorium und an den Scheiterhaufen, an medizinischen Experimenten wo das Feuer Millionen Körper von Vätern, Müttern und Kin- teilzunehmen dern verzehrte. Hrsg. von Florence Hervé und Ich erkläre als unmittelbarer Zeuge, daß ich meinen Bericht Hermann Unter hinning hofen über diese finsterste Zeit der Menschheitsgeschichte nach Einführung und Nachwort von der Wirklichkeit, ohne Übertreibung und ohne zu beschöni- Anise Postel-Vinay gen, niedergeschrieben habe. Übersetzt aus dem Französischen von Hermann Unterhinninghofen Als Arzt beim Auschwitzer Krematorium angestellt, formulierte 144 Seiten, Broschur, 9,90 Euro, ich ungezählte ärztliche und gerichtsmedizinische Protokolle ISBN 978-3-320-02154-2 über Sektionen von Leichen; ich unterschrieb sie eigenhändig mit der mir eintätowierten Häftlingsnummer. Anschließend wurden diese Dokumente von dem mir vorgesetzten SS-Arzt Adélaïde Hautval war keine Widerstandskämpferin. Sie Dr. Mengele signiert und gelangten mit der Post an folgende übte weder Sabotage gegen die Besatzer, noch beteilig- Adresse: „Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre te sie sich am bewaffneten Kampf. Doch die elsässische und Eugenik, Berlin-Dahlem“ – also an eines der bekanntes- Ärztin passte sich nicht dem Antisemitismus und Rassis- ten medizinischen Institute der Welt. mus des Vichy-Regimes an, sondern zeigte Zivilcourage, Es ist sehr wahrscheinlich, daß man die Protokolle noch heute wo die meisten schwiegen. im Archiv dieses Institutes vorfinden kann. Nagyvarad, im März 1946 Vor 65 Jahren wurde Adélaïde Hautval nach Auschwitz Dr. Miklós Nyiszli deportiert; viele Jahre später schrieb sie ihre Erinne- rungen auf. Sie informiert über den Alltag in der De- portation, in den Konzentrationslagern, berichtet über medizinische Menschenversuche, über moralische Ent- scheidungen und Eigenverantwortung in extremen Situ- ationen. Sie zeigt: Auch unter menschenunwürdigen Be- dingungen war und ist es möglich, „Nein“ zu sagen, sich nicht zu fügen und den aufrechten Gang zu bewahren. Miklós Nyiszli Im Jenseits der Menschlichkeit Die Bescheidenheit von Adélaïde Hautval haben dazu ge- Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz führt, dass sie relativ spät „wahrgenommen“ wurde. Erst Hrsg. von Friedrich Herber und nach ihrem Tod und nach dem Erscheinen ihres Buches Andreas Kilian, 208 Seiten in Frank reich wurden Stimmen über die aufrechte Ärz- Broschur, mit 19 Abb., 12,40 Euro tin laut. ISBN 978-3-320-02061-3

52 REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN Hindenburg: „Komisskopp“, Staatsmann, Marionette? Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler Siedler Verlag, Berlin 2007

Dickleibige Biographien haben in der jekt, nicht Subjekt in dieser brisanten te und sein Schicksal zumal während Geschichtswissenschaft seit einigen politischen Entscheidungssituation an des Krieges in dessen Hände legte.“ Jahren Konjunktur. 1.000 Seiten Um- der Jahreswende 1932/33 war. Man (S. 22) „Hindenburg wirkte wie ein Ma- fang sind dabei keine Seltenheit. Jetzt lese hierzu beispielsweise die quellen- gnet auf die (!!) Berliner Bevölkerung, hat Wolfram Pyta ein derartiges, au- gesättigten Studien des leider schon die zum ersten Mal überhaupt den wohl ßerordentlich opulentes Werk über den verstorbenen DDR-Historikers Joachim berühmtesten lebenden Deutschen (im kaiserlichen Generalfeldmarschall und Petzold. Im Übrigen ist zu fragen: War November 1919–R. Z.) zu Gesicht be- Reichspräsidenten der Weimarer Re- Hindenburg entgangen, dass die SA, kam.“ (S. 406) publik Paul von Hindenburg vorgelegt, angestachelt vom neu berufenen Gau- Genug. Pyta hat eine altmodische Bio- das auch auf bislang für Historiker nicht leiter Dr. Joseph Goebbels, seit 1926 in graphie verfasst, aufgepeppt mit einigen verfügbare Teile seines Nachlasses ba- der Berliner Innenstadt immer von neu- Versatzstücken aus der Theorie charis- siert. em regelrechte Jagden auf Juden veran- matischer Herrschaft Max Webers, de- Lohnt die mühevolle Lektüre „von De- staltet hatte und politische Gegner mit rer sich ja auch Hans-Ulrich Wehler in ckel zu Deckel“? Eher nicht. terroristischen Mitteln verfolgte? Seine seiner „Gesellschaftsgeschichte“ bei Der Autor überhöht die historische von Pyta zitierte Aussage vom 24. März dem Versuch bediente, Hitlers Aufstieg Bedeutung Hindenburgs, dem er ei- 1933, er erkenne erst jetzt „die groß- zur Macht zu erklären und – natürlich – ne „charismatische Erscheinung“ zu- en Gaben und Fähigkeiten des Herrn dem Jargon modischer Kulturgeschichts- schreibt. Er sei gewissermaßen die Per- Reichskanzlers unbedingt an“, charak- schreibung. Dies kann jedoch nicht sonifizierung des allgemeinen Strebens terisiert den amtierenden Reichsprä- kaschieren, dass die Bedeutung des po- nach „nationaler Einheit“ gewesen, die sidenten aufs Vortrefflichste – genau litischen Reaktionärs und – vorsichtig von der Masse des deutschen Volkes, eine Woche vor dem ersten „Juden- formuliert – geistig wenig anspruchs- von der Zeit des Kaiserreiches, über die boykott“ und angesichts des sich in al- vollen Hindenburg in der Zeit des Ersten Weimarer Republik bis in die NS-Zeit ler Öffentlichkeit vollziehenden Terrors Weltkrieges wie im politischen Kräfte- hineinreichend, angestrebt worden sei. gegen Andersdenkende, dem in den ei- parallelogramm der Weimarer Republik Er sei geradezu die „Verkörperung der lends errichteten „wilden Konzentrati- sehr stark übertrieben wird. Ein zumeist Nation“ gewesen – so zitiert Pyta zu- onslagern“ der SA nicht wenige Gegner Getriebener begegnet uns als zweckra- stimmend den Historiker Erich Marcks. des Regimes bereits zum Opfer gefallen tional handelnder Politiker. Auf diesen Autoren von Biographien entgehen ge- waren. Gedanken wären nicht einmal die engs- legentlich nicht der Gefahr, sich mit ih- Die folgenden Formulierungen würde ten Vertrauten Hindenburgs gekommen! rem „Helden“ in einem solchem Maße man eher in Auftragswerken zum Ruh- So bleibt am Ende die Erkenntnis: Nicht zu identifizieren, dass die notwendige me absoluter Fürsten erwarten, viel- jeder Versuch der Neuinterpretation ei- kritische Distanz auf der Strecke bleibt. leicht auch in Lore-Romanen, frisch ner historischen Persönlichkeit gebiert Wolfram Pytas Band scheint bedauer- vom Zeitungskiosk am Hauptbahnhof, Erkenntnisfortschritte, sondern mitun- licherweise dieser Kategorie von Bio- nicht aber in einer wissenschaftlichen ter einen Rückfall in die überwunden graphien anzugehören. Hindenburg, ein Biographie aus dem Jahre 2007: „Dass geglaubte Anschauung: „Männer ma- kranker und den Einflüssen seiner Ka- er um Haaresbreite dem Tod entron- chen Geschichte!“ Man darf gespannt marilla ausgesetzter alter Herr, ein geis- nen war, nahm er kaltblütig zur Kennt- sein, welche angeblich „charismatische“ tig nicht eben anspruchsvoller Reaktio- nis und erledigte seine Aufgabe unge- Persönlichkeit der Zeitgeschichte das när, erscheint hier als in jeder Situation rührt weiter“ (S. 15). „Nach dem Tod nächste Beispiel für eine Neuinterpre- hellwacher und die politischen Fäden seiner ersten Verlobten dauerte es fast tation bürgerlicher Biographik sein wird. knüpfender Akteur. acht Jahre, bis er sein Herz wieder ver- Mit dem Anfangsbuchstaben „H“ im Fa- Besonders ärgerlich sind die Passagen, schenkte.“ (S. 20) „Außer bei der Fami- miliennamen gäbe es da noch den einen die sich mit der Machtübertragung an lie fand Hindenburg Rückhalt und Trost oder anderen … Hitler befassen. Gerade anhand dieser im Glauben. Er war gottesfürchtig in Thematik ist der Nachweis geführt wor- dem Sinne, dass er sich Gott anvertrau- Dr. Reiner Zilkenat den, dass Hindenburg letztlich nur Ob-

53 Jedes menschliche Gefühl erstickt: Flick ging über Leichen Johannes Bähr, Axel Drecoll, Bernhard Gotto, Kim Christian Priemel und Harald Wixforth, Der Flick-Konzern im Dritten Reich, Oldenbourg Verlag, München 2008

Als die VVN-BdA von Nordrhein-West- Kon stanz) neben Krupp von Bohlen und mit all den Mythen und Lügen abgerech- falen Anfang 2008 die Aktion „Spu- Halbach als der ökonomische Kriegsver- net, die Friedrich Flick über sich in die rensuche: Verbrechen der Wirtschaft brecher schlechthin, quasi als der das Welt setzen ließ. Allerdings entsteht ein 1933–1945‘“ startete, um eine Publika- Verbrechen der Wirtschaft in seiner Ge- Bild des Einzeltäters; auch diese Studie tion und eine Ausstellung über ein bis- samtheit verkörpernde Unternehmer. stellt sich nicht in den Dienst einer Auf- her unbeackertes Feld der Geschichts- So wurde er in Nürnberg vor Gericht ge- arbeitung der Verbrechen der Klasse, arbeit vorzubereiten, da schrieb sie stellt – und als solcher empfing er die sondern gerade Flicks ausgeprägter eis- einen Brief an den Ministerpräsidenten Solidarität seiner Klasse, die ganz froh kalter Egoismus, sein verbrecherisches Jürgen Rüttgers aus dem Land an Rhein war, dass er pars pro toto genommen Handeln auch gegen andere Konzerne und Ruhr, das wohl die meiste Veran- wurde. Seine Klassenbrüder, erleichtert und Konkurrenten lassen ihn als Aus- lassung zu einem solchen Tun hätte. Es nicht vor Gericht gestellt zu werden, nahme von der Regel erscheinen. Da ist wurden Mittel für die Spurensuche er- setzten sich dann auch für ihn ein, nann- nichts mehr von pars pro toto. beten und die Notwendigkeit einer sol- ten ihn einen unschuldig Verfolgten, und Friedrich Flick hat wie kein anderer My- chen Aktion auch mit der Bürgerinitia- er stellte schon in der Haft seine Kon- then um sich verbreitet, bis hin zur Be- tive „Flick-ist-kein-Vorbild“ begründet, takte wieder her, um nach seiner Kar- hauptung, er sei Opfer des NS-Systems die von ehemaligen Schülern des Fried- riere in der Weimarer Republik und der und ein guter Chef der ihm zugewiesenen rich-Flick-Gymnasiums in Kreuztal/Sie- Nazizeit nun einen dritten Aufstieg unter Zwangsarbeiter gewesen. Nun wurden gerland geschaffen werden musste, um Konrad Adenauer zu organisieren. neue Quellen erschlossen. Kaum einer endlich die Schule vom Namen eines So fühlten sich denn auch seine Erben war 1933–45 so erfolgreich wie Flick. „ruchlosen Kriegsverbrechers“, so die überhaupt nicht zuständig, als im Jahr Dabei war er 1932/33 pleite und beina- Formulierung auf einer erregten Bürger- 2000 die wichtigsten Konzerne Geld ein- he vom Sockel gestürzt. Der Staat – der versammlung, zu befreien. zahlen mussten, um einen Zwangsarbei- untergehende von Weimar und der auf- Der Ministerpräsident ließ durch die terentschädigungsfonds zu speisen. Es strebende der Nazis – rettete ihn. Als Landeszentrale für politische Bildung waren nur noch diese Enkel da, und die Friedrich Flick – kein Mitglied etwa der antworten, deren Dr. Hans Wupper-Te- kauften vom Blutgeld Gemäldesamm- „Ruhrlade“ der großen Herren von Rhein wes darauf hinwies, es sei eine Unter- lungen und besaßen ein gewaltiges An- und Ruhr – im Jahre 1932 seine wertlos stellung zu behaupten, „dass die Wirt- lagevermögen. Die Gemälde stellten sie gewordenen Gelsenbergaktien, und da- schaft bislang nichts unternommen großzügig als Dauerleihgaben zur Verfü- mit seine Aktienmehrheit an den Verei- habe, ihre Geschichte während der NS- gung, bis der Protest gegen eine solche, nigten Stahlwerken, weit überteuert an Zeit aufzuarbeiten“, denn „eine Rei- auch noch vom Bundeskanzler Gerhard das Reich, an die Regierung Brüning, he von Unternehmen unterschiedlicher Schröder geförderte Haltung, zu groß verkaufte und die „Ruhrlade“ darin eine Größenordnung haben in den letzten wurde. Zwar zahlten die Enkel noch im- Bevorzugung Flicks durch die Regierung 20 Jahren selbst Studien zu Fragen, wie mer nichts ein in die Stiftung „Erinne- Brüning und ein Stück „Sozialisierung“ dem Umgang mit Zwangsarbeitern im rung Verantwortung Zukunft“, aber sie sah, da konnte Flick auf die Zustimmung eigenen Unternehmen, in Auftrag ge- gründeten eine eigene „F. C. Flick Stif- Görings und dann auch Hitlers verwei- geben.“ Dies ist unbestritten richtig. tung gegen Fremdenfeindlichkeit, Ras- sen, weil sonst ein deutsches Werk un- Falsch sind aber die Warnungen der sismus und Intoleranz“, Sitz Potsdam, ter Umständen in polnische oder franzö- Landeszentrale vor einer „Pauschalisie- und sie rüsteten sie mit 10 Millionen sische Hände geraten wäre. Flick bekam rung der Fragestellung, wie sie Ihr Pro- Mark aus. Davon wurde nun einiges für den Nennwert von 99 Millionen, obwohl jekttitel nahe legt“. Es gibt die betriebli- die Herausgabe des Buches “Der Flick- der Börsenwert nur 24 Millionen betrug. chen Studien, von denen Wupper-Tewes Konzern im Dritten Reich” bereitge- Flick hatte sich abgesichert, er hatte sei- spricht, aber sie können nicht darüber stellt, das in diesem Jahr das Licht der nen Vertrauten Otto Steinbrinck in den hinwegtäuschen, dass „die Wirtschaft“ Welt erblickte. NSDAP-nahen Keppler-Kreis von Nazi- eben nichts zustande gebracht hat, Es unterscheidet sich, das sei voraus- freundlichen Unternehmern gesandt. was etwa den Bemühungen der Berufs- geschickt, sehr von den übrigen Be- Steinbrinck stand schon seit den 20 er gruppen von den Ärzten bis zu den Ju- triebs- und Konzernstudien. Jeder Anflug Jahren mit Göring und der Reichswehr- risten ähneln würde. Ganz abgesehen von Reinwaschung des Konzerns von Generalität in Verbindung. von der Geschichtsschreibung der klei- Schuld unterbleibt. Andere Studien wa- Zweifellos wollte Flick den Krieg. Er nen Leute aus den sechziger Jahren, da ren zu einer Zeit erschienen, da es noch drängte „ab Frühjahr 1933 in das Rüs- die VVN-BdA die Geschichte des Wider- ratsam war, vor allem in der Zwangsar- tungsgeschäft. Er gehörte schon bald zu stands, auch des Arbeiterwiderstandes beiterfrage den Eindruck zu erwecken, den Unternehmern, die besonders reso- für die BRD schrieb, bevor professio- die Sklavenarbeit sei dem Unternehmer lut und hartnäckig um Rüstungsaufträ- nelle Historiker diese Thematik für sich sehr fremd gewesen, sie seien sogar ge warben,“ schreibt Johannes Bähr. Im „entdeckten“. Opfer einer NS-Wirtschaftspolitik ge- Herbst 1933 startete Flick eine erfolg- Nun liegt wieder eine Einzelstudie vor. worden, die ihnen Sollzahlen und damit reiche „Informationskampagne“. Sein Zunächst galt Friedrich Flick (geb. 1883 die „Fremdarbeiter“ aufzwang. Konzern füge sich besser in die rüs- in Kreuztal-Ernsdorf, gest. 1972 in In dieser Studie wird nun schonungslos tungswirtschaftlichen Planungen als die

54 Ruhrindustrie, gab er den neuen Herren Harald Wixforth wies die Flick-Freunde sche Staat zahlte gar 20 Millionen Euro, zu verstehen und verwies darauf, dass in einem Streitgespräch in Kreuztal zu- quasi als Entschädigung. er Kohle- und Erzbergbau und Stahlpro- rück: Der Nationalsozialismus bot gu- Weit vor Ende der Haftzeit, zu der er ver- duktion betreibe, nicht auf Rohstoffim- te Rahmenbedingungen für Flick, – er urteilt wurde, kam Flick aus dem Ge- porte angewiesen sei. Ab 1933 stieg die war nicht einfach „tüchtig“ und „erfolg- fängnis Landsberg frei. Wixforth schreibt Zahl der Beschäftigten. Und des Profits: reich“, sondern er war erfolgreich in der hierzu: „Viele weitere Industrielle hätten Von 1933 225 Millionen auf 1 Milliarde Diktatur und wegen der Diktatur. eingesperrt werden müssen. Sie waren Reichsmark Wixforth wies auf einen wenig er- ganz froh, dass Flick quasi als Symbol Flicks Arisierungspolitik gehörte neben forschten Teil der Geschichte hin, den der Industrie galt. Es hagelte Solidarität.“ der Kriegstreiberei zu weiteren großen er den NS-Antikapitalismus nannte. Die Die „Ungerechtigkeit“, dass Flick einge- Verbrechenskomplexen, die Ausbeu- staatlichen Reichswerke Hermann Gö- sperrt wurde, andere nicht, sie wurde tung von Zwangsarbeitern und die Aus- ring, erwiesen sich als Gegenspieler der nicht dadurch gelöst, dass weitere ein- plünderung besetzter Gebiete sollten Ruhrindustrie – und dann auch Flicks. gesperrt wurden, sondern dadurch, dass folgen. Für die Arisierung der Petschek- Im Krieg ging Flick bisweilen leer aus; Flick eher entlassen wurde. Wixforth er- Konzerne lässt er ein Gesetz entwerfen, anders die Banken und die Chemie – sie innert an Josef Neckermann, diese Licht- das dann von Göring am 3. Dezember profitieren extrem im Osten, wenngleich gestalt des Wirtschaftswunders und der 1938 in der Verordnung über den Ein- auch Flick in der Ukraine auf Erfolge Olympischen Bewegung. Es war ein Ver- satz jüdischen Vermögens befolgt wird. verweisen konnte. Im Westen klappte brecher, der mit den Kleidungsstücken Flick hatte argumentiert: Der Ignaz-Pet- es besser, so in Lothringen. der Juden von Auschwitz seinen ersten schek-Konzern dürfe nur solchen Unter- Zeitweilig waren 50 Prozent der bei schwunghaften Handel betrieb. nehmen zufallen, „deren Interesse aus Flick Beschäftigten Zwangsarbeiter. In Das Fazit lautet: „Der Flick-Konzern im nationalsozialistischen Gesichtspunk- einzelnen Flick-Betrieben lag der An- Dritten Reich“ legt detailreich strate- ten zu begründen ist.“ Aus dieser For- teil der Zwangsarbeiter bei bis zu 85 gisch-ökonomische Entscheidungen, mulierung machte Flick später einen Prozent. Die neue Studie belegt bisher Lobbymethoden gegenüber der NS-Poli- NS-Auftrag an ihn, dem er sich nicht nicht Gekanntes zu den Arbeits- und Le- tik und interne Entscheidungsstrukturen entziehen konnte; er habe unter Druck bensbedingungen der „Fremdarbeiter“. der Flick KG dar. Kein Unternehmer hat gehandelt, wäre so etwas wie ein NS- Sie waren am schlechtesten bei Flick. die Wirtschaftspolitik der Nationalsozi- Opfer. Jedoch: „Von den Arisierungen,“ So geht es jedenfalls aus den Aussa- alisten so produktiv genutzt wie Fried- so Axel Drecoll, „profitierte der Konzern gen einzelner Autoren und Kapitel des rich Flick. In den zwölf Jahren der NS- quantitativ wie kein anderes privates Buches, weniger aus dem kollektiven Diktatur verzehnfachte er die Zahl der Unternehmen.“ „Fazit“ der Autoren (ab Seite 721) her- Beschäftigten und baute seinen Kon- Zu den Mythen um Flick gehört die vor. Wixforth: „Flick hat seine 65.000 zern zum zweitgrößten privatwirtschaft- Behauptung von seinem unterneh- Zwangsarbeiter so schlecht behandelt lichen Stahlerzeuger des Deutschen merischen Geschick. CDU-Kreise in wie kein anderer deutscher Unterneh- Reiches aus. Oft wird gesagt: Ein Nati- Südwestfalen halten an der Gymnasi- mer und überzog dabei sogar in den Au- onalsozialist war Flick nicht, er trat erst umsbenennung fest, weil doch Friedrich gen des Regimes: Er war bereit, über 1937 in Hitlers Partei ein. Ist das wich- Flick so ein vorbildlicher heimatverbun- Leichen zu gehen. Das Streben nach tig? Wichtig ist: Er suchte und gewann dener Unternehmer war. Doch das bis Profit, ließ bei ihm jegliches menschli- 1933 die Gunst der neuen Machthaber zu achtzigprozentige Wachstum seines ches Mitgefühl im Keim ersticken.“ Im und profitierte in großem Ausmaß von Konzerns in der NS-Zeit war nicht durch Nürnberger Prozess sagte Flick aus, er „Arisierungen“, Zwangsarbeit und dem unternehmerisches Geschick erreicht habe von allem nichts gewusst. Das ist immensen Bedarf an Rüstungsgütern. worden, sondern durch staatliche Wirt- eine Legendenbildung. Sein Konzern Dafür wurden die Führungskräfte des schaftspolitik der Nazis ermöglicht. Das war zu straff geführt, er wusste alles. Konzerns vor dem Internationalen Mili- Wachstum übertraf bei weitem das vie- Zum Beispiel die Selbstmorde durch tärtribunal in Nürnberg zur Verantwor- ler Konkurrenten. Seine Entscheidung, verzweifelte Zwangsarbeiter in Flicks tung gezogen, der Konzernchef Flick als unter dem brutalen deutschen Besat- Betrieben. Dazu finden sich im Buch Kriegsverbrecher verurteilt. Doch trotz- zungsregime in Lothringen eine Firma Fotos – gefunden in Konzernunterla- dem konnte er nach 1945 seinen drit- zu leiten, schreibt Johannes Bähr, mach- gen. Es gab für die Zwangsarbeiter we- ten Aufstieg realisieren und seine Ver- te ihn „zum Komplizen dieser Politik“ niger Kalorien als bei der Konkurrenz. brechen verschleiern. Allerdings gab es auch konzerninterne Warum? Es galt Kosten zu senken. So Der Erfolgsgeschichte Flick und Wei- Instrumente, die nur Flick besaß und war das Flick-System schlimmer als die mar sowie Flick und die Nazis wurde je- seinen „Erfolg“ mit begründeten: Da war Sklaverei, denn der Sklave wird nicht ne nach Gründung der Bundesrepublik Flicks dezentrale und zentrale Macht, zerstört durch die Arbeit, er ist wichtig hinzugefügt. Die aber müsste in einem sein Holdingprinzip. Er musste auf kei- für die Produktion. Doch Flick ließ die anderen Buch geschildert werden. Und ne Aktionäre Rücksicht nehmen. Er war Menschen zerstören. Er hätte auch an- auch die der deutschen Industrie und „autark“. Zur Montanindustrie des Flick ders handeln können, er hatte Freiräu- der Verschleierung ihrer Verbrechen im kam der Ausbau des Maschinenbaus – me, wie andere Konzerne auch. Er woll- Ditten Reich. Eine neue Rüstungsbran- und der Rüstungsproduktion. Vor allem: te sie nicht nutzen. Das Resultat in dem che wurde gebraucht, die alten Besitz- Flick herrschte über alles selbst – wie Streitgespräch: Er kann kein Vorbild und Machtverhältnisse wurden wieder Krupp. Er hatte ein System der Informa- sein in der heutigen Gesellschaft. hergestellt (DGB-Programmaussage). tionsbeschaffung und Informationsver- Nach dem Krieg blieben Flick nur 25 Da konnte die Geschichte des Mordma- breitung aufgebaut wie kein zweiter. So Prozent des Konzerns, weil er im Osten nagements und der Mordsprofite nur schrieb er indirekt mit am Vierjahres- enteignet wurde. Daraus erwuchs sein stören. plan 1936. Er hatte beste Kontakte zu Mitleidsmythos. Im Westen blieb er von Göring, er hat ihn bestochen. Entflechtungen verschont. Der bayeri- Ulrich Sander

55 „Wir stellten das immer schon her, bevor die Nazis kamen.“ Forschungsgruppe Zyklon B, Hrsg., Zyklon B. Die Produktion in Dessau und der Missbrauch durch die deutschen Faschisten, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2007.

Bereits seit den 80 er Jahren setzen sich kämpfung (Degesch), die wiederum die Die von den Nazis verwandten Begriffe immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Monopolrechte auf die Herstellung von zur Umschreibung des Massenmords der Bundesrepublik kritisch mit der Ge- Zyklon B innehatte. Doch auch in Frank- können nur als zynisch gedeutet wer- schichte ihrer Region auseinander. So reich und der Tschechoslowakei existier- den: „Desinfektions-Anstalt“ nannte tragen zum Beispiel Geschichtswerk- ten Werke, in denen der Giftstoff herge- man euphemistisch die Gaskammern. stätten wesentlich dazu bei, Regional- stellt wurde. Hunger beschreibt, wie Die Vergasten – Frauen und Männer, Al- geschichte aus dem akademisierten diese und weitere Firmen durch Produk- te und Kinder, Schwache und Kranke – Kontext herauszunehmen und einer tion und Lieferung von Zyklon B sowie erfuhren eine „Sonderbehandlung“. Da- breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu Ausbildung von Angehörigen der SS am bei dienten diese Begriffe keineswegs machen. Mit dem ‚mikroskopischen‘ Massenmord beteiligt waren. „Die Ver- nur der Verschleierung der Verbrechen, Blick einer ‚Geschichte von unten‘ ver- wendung von Zyklon B als eines der vie- wie die Autorin richtig feststellt, sie suchen die Geschichtswerkstätten, re- len Produkte der deutschen Wirtschaft führten ebenso zu einer Entmenschli- gionale Geschichte anzueignen und in für den Krieg erschien ganz normal und chung der Opfer, die in jahrelanger Pro- das große Ganze einzubetten. erbrachte auch für die Aktionäre der paganda als „Ungeziefer“ und „Ratten“ Die ‚Forschungsgruppe Zyklon B‘ grün- Dessauer Zuckerraffinerie eine erfolg- diffamiert wurden. Auch – und das er- dete sich 1996 in Dessau mit dem Ziel reiche Gewinnsteigerung.“ (S. 67). wähnt die Autorin eben sowenig – be- der Erforschung der Produktion des Gift- Dass sich Zyklon B zur Massenvernich- lasteten die Erschießungen die Psyche gases Zyklon B in der sachsen-anhaltini- tung von Menschen eignet, stellte man der SS-Leute. Wenn also die Einrichtung schen Kleinstadt und seiner unheilvollen erstmalig 1941 fest: Im September des der Gaskammern in den Vernichtungs- Verwendung in den Gaskammern der fa- Jahres wurden daher im Vernichtungs- lagern von den verantwortlichen Nazis schistischen Vernichtungslager. Die Er- lager Auschwitz-Birkenau sowjetische mit der Unmenschlichkeit anderer Tö- gebnisse der Forschung wurden in dem Kriegsgefangene zu „Testzwecken“ ver- tungsmethoden begründet wird und vorliegenden Band akribisch zusammen gast. Im Frühjahr 1942 begannen die man „für eine anständige Art der Tö- getragen. systematischen Vergasungen. Diejeni- tung“ (so der im KZ Ravensbrück tätige So wurde Chlorgas, der Vorgänger von gen, die bei der Ankunft in Auschwitz SS-Arzt Treite; S. 149) sorgen wollte, so Zyklon B, bereits im Ersten Weltkrieg an der Rampe von den SS-Ärzten als ar- ist nicht unbedingt die Unmenschlich- durch das Deutsche Reich verwendet. In beitsunfähig eingestuft und selektiert keit gegenüber den Ermordeten, son- den 20 er Jahren setzte die Versuchspro- wurden, schickten die Nazis sofort in die dern die psychischen Belastungen für duktion von Zyklon B ein, das ab Ende Gaskammern. Eine Gaskammer fasste die Mörder gemeint. der 20 er regulär produziert und expor- bis zu 2.000 Menschen. Antje Tietz be- Es ist nur ein Fall bekannt, in dem ein tiert wurde. Nach der Machtübernahme schreibt in ihrem Beitrag über die Ver- Mensch die Gaskammer überlebte: Es durch die Nazis – der Autor Hans Hun- wendung von Zyklon B in den Konzent- handelte sich um ein Baby. das von ei- ger verwendet leider den veralteten und rationslagern, die Krematorien, in denen nem SS-Mann erschossen wurde. In den relativierenden Begriff der ‚Machtergrei- täglich mehrere zehntausend Menschen Gaskammern von Auschwitz wurden fung‘ – ist ein Anstieg der Produktion verbrannt werden konnten. „Die Ausch- nach Schätzungen 631.000 bis 711.000 zu verzeichnen. Mit Beginn des Zweiten witzer Dimensionen sprengten alles, Menschen ermordet. Noch einen Tag Weltkriegs wurde die Produktion des was bis dahin in anderen Konzentrati- vor der Befreiung von Auschwitz durch Schädlingsbekämpfungsmittel kriegs- onslagern geschah.“ (S. 139). So konnte die Rote Armee am 27. Januar 1945 wichtig. Über den Einsatz von Zwangs- die Dessauer Zuckerraffinerie gar nicht wurde die letzte Gaskammer durch die arbeitern in der Produktion des Zyklon B schnell genug Zyklon B nachliefern. Als SS zerstört. Die letzte Vergasung fand ist indes wenig bekannt, so der Autor. die Firma Tesch & Stabenow Transport- noch am 28. April im KZ Mauthausen Der Leser wird über die vielschichti- probleme bekam, schickte die SS ei- statt. gen Verflechtungen der an der Pro- genständig einen LKW nach Dessau, um Es bleibt die Frage, ob und was die Men- duktion des Schädlingsbekämpfungs- die Lieferung des Zyklon B sicherzustel- schen in Dessau von der Vernichtung in mittels Blausäure beteiligten Betriebe len. Im März 1944 schränkten erstmals den Konzentrationslagern durch Zyklon aufgeklärt. Dabei verwirrt die Fülle an Bombentreffer die Produktion ein – zu B wussten. Schon 1931 verfügte die Informationen und technischen Details diesem Zeitpunkt erreichte die Vernich- NSDAP über die absolute Mehrheit in bisweilen. Besonders die IG Farben pro- tung von Juden und Jüdinnen, Sinti und der Stadtverordnetenversammlung; ein fitierte vom Nationalsozialismus, indem Roma ihren Höhepunkt. Endgültig lahm Jahr später stellten die Nazis die Regie- sie den Nazis Waffen lieferte, Frauen gelegt wurde die Produktion im Janu- rung von Anhalt. Ab 1933 waren etliche und Männer als Zwangsarbeiter in den ar 1945. „Totalschaden, Rohmaterialla- Behörden des Naziregimes in Dessau Fabriken zu Tode schuften ließ und am ger ausgebrannt. Alles vernichtet. Was beheimatet. In der Dessauer Zuckerraf- industriellen Massenmord verdiente. tun? Bitte Antwort.“ (S. 104), hieß es in finerie selbst gründeten sich 1931 die Die IG Farben hielt Anteile an der Deut- einem Schreiben an den Generaldirek- ersten nationalsozialistischen Betriebs- schen Gesellschaft für Schädlingsbe- tor der Degussa, Hermann Schlosser. zellen. Hunger zeigt, wie die jüdische

56 Bevölkerung auch in Dessau ausge- für die Vernichtungen in den Gaskam- stattete das Kriegsschäden-Amt nach grenzt, verfolgt und letztlich deportiert mern direkt oder indirekt Verantwor- 1945 gar einen nicht geringen Betrag wurden. Als dann die ersten Zyklon B- tung tragen, einen guten Einblick in als Ausgleich für verloren gegangenes Behälter zur Wiederverwendung aus die Verwicklung deutscher Firmen Zyklon B. Bis in die 60 er Jahre wur- den KZ zurück kamen und an ihnen Blut mit den Verbrechen der Nazis. Mitun- den Schädlingsbekämpfungsmittel aus und Haare klebten, wunderte sich wohl ter bleiben Zitate jedoch allzu unkom- Blausäure hergestellt. Eine juristische niemand. mentiert. Auch die Verwendung des Aufarbeitung fand nie statt. Die Verant- Reich bebildert mit Fotografien und Buchtitels „Die Produktion in Dessau wortlichen wurden von einer selbst NS- Originaldokumenten wird dieses am- und der Missbrauch durch die deut- belasteten Justiz frei gesprochen. So ist bitionierte Werk zu einem Fundus für schen Faschisten“ scheint mir unbe- das Buch nicht nur nach historischen alle Interessierten, die sich mit der dacht gewählt. Nicht erst die Nazis Gesichtspunkten eine Bereicherung. Geschichte der Shoa oder der Stadt- missbrauchten Zyklon B. Wie die Auto- Dass unzählige deutsche Unterneh- geschichte Dessaus befassen. Auch ren selbst feststellen, fand ein Vorgän- men bis heute keine Entschädigungen vermitteln die Zeugenaussagen derje- ger im Ersten Weltkrieg schon Verwen- an Opfer des NS-Regimes zahlen, zeigt nigen, die als SS-Offiziere, Angestell- dung. Nach dem Zusammenbruch des die Aktualität eindrücklich auf. te in den Betrieben oder Führungs- Naziregimes wurde die Produktion von kräfte in den Chefetagen der Konzerne Zyklon B fortgesetzt. Der Degesch er- Yves Müller

NS-Verbrechen in Deutschland 1945 Ulrich Sander, Mörderisches Finale. NS-Verbrechen in Deutschland bei Kriegsende, PapyRossa Verlag, 2008.

Die Publikation bietet erstmalig eine zu- den 1945 er Kriegsmonaten; die Hinrich- „Ruhrkessel“. Grundsätzlich waren sie sammenfassende Dokumentation von tungen von KZ-Insassen und Zwangsar- befohlen von Heinrich Himmler, dem Naziverbrechen, die am Ende des Zwei- beitern in dieser Zeit; Todesmärsche Reichssicherheitshauptamt,, von dem ten Weltkrieges in Deutschland statt- aus den Konzentrationslagern in Rich- SS-Gruppenführer und Generalleutnant fanden. Von der fachhistorischen Wis- tung Westen und Norden; Hinrichtungen der Polizei, Liessem, Höherer SS- und senschaft gibt es bisher keinen Versuch in den Zuchthäusern und die Ermordung Polizeiführer West in den Gauen Düs- einer Übersicht zu diesem Thema. Allein von Kriegsgefangenen – detaillierte seldorf, Essen, Köln-Aachen, Westfalen- schon wegen des dürftigen Forschungs- Darstellungen einzelner faschistischer Nord, Westfalen Süd und im Wehrkreis standes kann auch die bei Ulrich Sander Mordaktionen. So zu dem Verbrechen VI. In einer Gestapo-Anordnung vom vorgelegte Dokumentation nur fragmen- in Isenschnibbe bei Gardelegen (Sach- 24. Januar 1945 an die Leiter der Staats tarisch sein. In sie sind frühere Darstel- sen-Anhalt), wo am 13. April 1945 in ei- polizei(leit)stellen Düsseldorf, Münster, lungen von Willi Herzog (Massenmorde ner Scheune 1.016 Menschen, KZ-Häft- Dortmund und Köln heißt es: „Die ge- im Rombergpark und in der Bittermark), linge und Zwangsarbeiter, darunter 63 genwärtige Gesamtlage wird Elemente Dirk Krüger (Massenmord in der Wen- jüdische Häftlinge, von NSDAP-Fanati- unter den ausländischen Arbeitern und zelbergschlucht), Lore Junge (Verbre- kern verbrannt oder auf der Flucht er- auch ehemalige deutsche Kommunis- chen im Ruhrkessel), Regina Mentner schossen wurden. Zu den Ermordeten ten veranlassen, sich umstürzlerisch (Stalag VI D Westfalenhalle Dortmund), gehörten auch Hunderte Zwangsar- zu betätigen … Es ist in allen sich zei- Dieter Saal (Verbrechen in Südwestfa- beiter des Konzerns der Industriellen- genden Fällen sofort und brutal zuzu- len), Wera Richter (Massenmord in Gar- Familie Quandt (Varta, Altana, BMW). schlagen. Die Betreffenden sind zu ver- delegen), Karl Stankiewitz (Fall Penz- Nur einen Tag nach dem Massenmord nichten, ohne im formellen Weg vorher berg), Ergebnisse von Recherchen des rückte die US-amerikanische Armee in beim RSHA Sonderbehandlung zu bean- Autors, von Mitarbeitern und Mitarbei- Gardelegen ein. Sie sorgte dafür, dass tragen.“ Verantwortlich für die Massen- terinnen des Internationalen Romberg- Einwohner von Gardelegen das Verbre- mordserie im „Ruhrkessel“ waren auch parkkomitees, von VVN-BdA-Landes- chen zur Kenntnis nehmen müssen und der Oberbefehlshaber der Wehrmacht- vereinigungen sowie weiterer Autoren die Opfer bestattet werden. Nebenbei West, Generalfeldmarschall Walter Mo- eingeflossen. Das Publikationsprojekt bemerkt: Noch im April 1945 gab das del, und insbesondere Albert Hoffmann, entstand, wie es in einer Nachbemer- Amerikanische Kriegsinformationsamt NSDAP-Gauleiter Westfalen-Süd, SS- kung von Gisa Marschefski (Internati- im Auftrag des Oberbefehlshabers der Brigadeführer, befehlsführender Reichs- onales Rombergparkkomitee) im Buch Alliierten Streitkräfte, General Dwight verteidigungskommissar West. Zu den heißt, als Ergebnis eines Treffens von D. Eisenhower, einen Bildbericht über Mordgewaltigen gehörten auch Kon- Antifaschisten 2005 aus Anlass des 60. fünf Orte faschistischer Verbrechen zernherren, wie Dr. Albert Vögler, Ver- Jahrestages der Befreiung vom Faschis- heraus, darunter einen Bericht über einigte Stahlwerke, der zum „Freundes- mus. den Massenmord in Isenschnibbe. Die- kreis Heinrich Himmler“ gehörte und im Das Buch enthält neben kursorischen se Broschüre zeigt erschütternde Bilder. November 1932 die „Industrielleneinga- Übersichten zu nazistischen Verbre- Sie steht jetzt unter www.nrw.vvn-bda. be“ an Reichspräsident Hindenburg un- chensfeldern – Erschießung von un- de im Internet zur Verfügung. terschrieben hatte, im dieser gebeten gefähr 8.000 deutschen Soldaten als Detaillierter gibt Sander Bericht vor worden war, Hitler zum Reichskanzler „Fahnenflüchtige“ und Deserteure in allem über die Naziverbrechen im zu berufen, jetzt war er Staatsrat von

57 Hitlers Gnaden und Herr über einen Der Autor bleibt bei der Darstellung der als Kommentar eines Historikers – ei- riesigen Rüstungskonzern, zu dem der Verbrechen stets konkret-historisch. Er nen Auszug aus dem Werk von Reinhard Dortmund-Hörder Hüttenverein gehörte, fragt nach den Ursachen für dieses mör- Opitz „Faschismus und Neofaschismus“ ein Werk mit der größten Walzstraße derische Finale. Bei der Erklärung flüch- (1984). Sein Resümee: „Der fortgesetz- Europas; sein „Asphaltierwerk II“ – ein tet er sich nicht in schlecht-abstrakte te Massenvernichtungswahnsinn des Tarnname – war eine Panzerschmiede. Formeln wie „Zeitalter der entgrenz- Jahres 1944 und der militärische Durch- Das Zwangsarbeiter- und Gefangenen- ten Gewalt“ oder gar „Hitler war`s“. Er haltewahnsinn des Jahres 1945 hat- lager des Hörder Hüttenvereins wurde zeichnet klar das Gesamtgefüge und ten in bezug auf das Ziel, Hitler an der von Mitarbeitern des Konzerns gelei- die Motive des faschistischen Mordsys- Macht zu halten, also tatsächlich keine tet, von Dr. Hans Bühler, Johann Preuss, tems der „letzten Stunde“: Sicherung ‚Rationalität‘, sie entsprangen beide der Vollrath Hoeck und Emil Krause. Krause der Grundlagen des Monopolkapitals imperialistischen Rationalität – schon besaß einen SS-Rang und war Verbin- für die Zeit „nach Hitler“, Vernichtung des nächsten Krieges.“ dungsmann zur Gestapo. jeder demokratischen Opposition und Eine notwendige Nachbemerkung zu Aus diesem Lager der Dortmunder Hör- insbesondere der Kommunisten, hem- dieser Rezension: der Hüttenunion (später Hoesch, heute mungsloser Rassismus bis zuletzt, dem Der Autor des rezensierten Buches, Ul- KruppThyssen) wurden im Rombergpark vor allem Juden, Slawen sowie Sinti und rich Sander, ist einer der Bundesspre- und in der Bittermark nahe Dortmund im Roma zum Opfer fielen. cher der VVN-BdA. Seit Jahren enga- März und April 1945 ungefähr 300 Men- Es sei hier hinzugefügt: Den Massen- giert er sich dafür, dass Verantwortliche schen ungeheuer grausam ermordet, morden innerhalb Deutschlands gegen für Verbrechen der faschistischen deut- darunter vor allem russische Zwangsar- Ende des Weltkrieges ging in der Sow- schen Gebirgsjäger zur Rechenschaft beiter, Juden und deutsche Antifaschis- jetunion mit dem Ende der deutschen gezogen werden. 1 Doch „Gebirgsjäger“ ten. Herrschaft eine nochmalige Aufgipfe- und „Unbekannt“ verfolgen und terrori- Am 12. April 1945 holte die Gestapo 12 lung der Vernichtung voran, wie in der sieren Sander. Im Jahr 2003 taucht in Gefangene aus Gefängnissen in Hagen kürzlich veröffentlichten Studie „Die Sachen Gebirgsjäger ein gefälschtes ab, fesselte sie mit Stacheldraht und er- Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Schreiben auf, das Ulrich Sander an- schoss sie im Donnerkuhler Wald bei Militärbeatzung und einheimische Be- gelastet wird. Obwohl es offensichtlich Hagen. Am 13. April 1945 wurden in der völkerung in der Sowjetunion 1941– ist, dass jenes Schreiben nicht von San- Wenzelnbergschlucht bei Solingen 71 1944“ von Dieter Pohl nachgewiesen der stammt, verfolgt ihn die Dortmun- antifaschistische Widerstandskämpfer wird. Und hier waren Millionen Men- der Justiz, es folgen Haussuchung und aus dem Zuchthaus Lüttringhausen von schen dem Kriegsterror zum Opfer ge- Beschlagnahmung seines PC. Sander Gestapo-Mördern durch Genickschuss fallen. Pohl nennt als gravierende Ursa- musste lange kämpfen, um sein um- ermordet. chen der Vernichtung die rücksichtslose fangreiches Arbeitsmaterial zurückzu- Die Mörder und ihre Auftraggeber wur- ökonomische Ausbeutung von Bevölke- bekommen. Jetzt stellt der „Kamera- den entweder nie zu Verantwortung ge- rung und Ressourcen der besetzten Ge- denkreis Gebirgstruppe e. V.“ an Sander zogen oder kamen mit skandalös nied- biete sowie die Sicherung militärischer die Forderung, er solle ihn nicht in Ver- rigen Strafen, die fast immer nicht Operationen. Mit der Wehrmacht bindung mit der NS-Wehrmacht und ih- einmal voll verbüßt wurden, davon. Im herrschte eine Unterwerfungs-, Aus- ren Kriegsverbrechern und Kriegsver- Buch ist das insbesondere am Rom- beutungs- und Vernichtungspolitik. Die brechen bringen. Und diese Forderung bergparkprozess von 1952 dargestellt. Bevölkerung wurde ethnisch-rassistisch wurde per Einstweiliger Verfügung vom Die vom Autor geschilderten Naziver- klassifiziert: „gegen Russen ging man Landgericht Nürnberg-Fürth am 2. Ju- brechen müssen beim Leser natürlich brutaler vor als gegen Teile der Bevöl- li 2008 ausgesprochen, mit der Straf- Qualen auslösen, aber Ulrich Sanders kerung in den Randgebieten der Sowje- androhung von 250.000 Euro bzw. Darstellungsweise drückt den Leser tunion (Baltikum, beziehungsweise Kau- 6 Monaten Haft. Es ist klar, dass sich nicht herab. Sanders Stil zeichnet sich kasus). Juden und Kommunisten galten Sander und VVN-BdA – trotz drohender aus durch einen sachlichen Ton auch im faktisch als vogelfrei.“ Und auch er stellt hoher Prozesskosten – wehren werden. Abscheu vor den faschistischen Mör- fest, dass die meisten der für die deut- Ebenso klar sollte die Solidarität mit Ul- dern und Schindern, er ist präzis, nie- sche Besatzungsherrschaft in Planung rich Sander sein. mals schwülstig. Sanders Sprache ist und Durchführung Verantwortlichen nie feinfühlig bei der Beschreibung der ge- zur Rechenschaft gezogen wurden. Dr. Siegfried Ransch schundenen Menschen. In den kurzen Porträts von Ermordeten erweist sich Speziell für die Situation des „Nati- 1 Vgl. hierzu: Bundesregierung antwortet auf Kleine Sander als achtungsvoller Chronist an- onalsozialismus“ kurz vor und nach Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Treffen der Ge- tifaschistischen Widerstandes. dem 8. Mai 1945 enthält die Publikati- birgsjäger, in: Rundbrief, Heft 3–4/2007, S. 37 ff. on „Mörderisches Finale“ am Schluss – u. Martin Seckendorf, Gebirgsjäger der Wehrmacht in Griechenland 1941–1944, in: ebenda, S. 40 ff.

58 Neues zur Politik der NPD Andrea Röpke u. Andreas Speit, Hrsg., Neonazis in Nadelstreifen. Die NPD auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft, Chr. Links Verlag, Berlin 2008. Angelika Beer, Hrsg., MdEP: Braune Gefahr für Deutschland. Ein Text von Andreas Speit, A. Beer-Büro im Deutschen Bundestag, Berlin 2008.

Zwei Publikationen, ein Buch und eine betrachteten Publikationen? Bereits mit neuen Erkenntnissen über die poli- Broschüre, erschienen fast zur selben die Titel zeigen verschiedene Akzent- tischen Stimmungen im Süden der Re- Zeit, verfasst im Wesentlichen von den setzungen. Sollen im Buch die Anstren- publik und das Potential der NPD, die gleichen Autoren zur gleichen Proble- gungen der Neonazis, in die Mitte der mittlerweile dort den mitgliederstärks- matik, rechtfertigen, diese auch zusam- Gesellschaft zu gelangen, genauer un- ten Landesverband besitzt. men zu besprechen. An der Wichtigkeit tersucht werden, geht es in der Bro- 26 Seiten lang ist der Versuch von An- des Themas ist angesichts der Rolle und schüre stärker um das Herausstreichen dreas Speit, die „intellektuelle Aufrüs- der wachsenden Aktivität der NPD und der Gefahren aus der eskalierenden Ge- tung“ der NPD als Bestandteil ihrer Mo- ihres neonazistischen Umfeldes ohne- walt und dem teilweisen Versagen des dernisierung darzustellen (S. 40–66). hin nicht zu zweifeln. Gemeinsamkeiten Staates, dieser zu begegnen. Die Her- Die NPD braucht diese, um damit die und Unterschiede in den Publikationen ausgeberin der Broschüre als Abgeord- Grundlage für ihre innere Bildungsar- sind im Folgenden mit zu betrachten. nete des Europäischen Parlaments zielt beit und für eine noch erfolgreichere Gemeinsam ist zunächst das Ziel. Es natürlich auch auf Information in die- „Wortergreifung“ nach außen zu schaf- geht um die Gefahren von Rechtsext- sem Rahmen und fügt im letzten Ab- fen. Deutlich wird sie in der Verände- remismus insgesamt, um Warnung vor schnitt daher Aussagen zum Agieren rung und Erweiterung von inhaltlichen den braunen Umtrieben, um die Entlar- der Rechtsextremen auf der europä- Themen, vor allem in der Hinwendung vung vor allem der NPD an Hand reich- ischen Ebene an. zu den sozialpolitischen und umwelt- haltigen Faktenmaterials, ihrer Strategie Wie gelingt es nun den Autoren, ihre politischen Fragen, ohne dass dabei und Taktik, um das Treiben ihrer Hilfsor- zentralen Anliegen deutlich, „beweis- ihr Geschichtsrevisionismus oder ihre ganisationen. Das geschieht natürlich kräftig“ zu machen? Die Kette der Be- ausländerfeindliche Hetze aufgegeben im Buch ausführlicher als in der von An- weise für Veränderungen und Moder- würde. Wie sie dabei tief in die theore- gelika Beer herausgegebenen Broschü- nisierungen bei der NPD ist lang. Als tischen Müllkisten des italienischen und re mit ihren verknappten Ausführungen, zentrale Figuren dafür wirken neben deutschen Faschismus, in die Trickkis- wobei die Autoren hier nicht ganz der dem Bundesvorsitzenden , ten der Alten und Neuen Rechten greift, Versuchung entgehen, die Farbigkeit der sich trotz aller parteiinternen Aus- wird gezeigt, ist allerdings eher für be- der vielen Beispiele über die Klarheit einandersetzungen und Flügelkämpfe reits kundige Leser nachzuvollziehen. der Aussagen triumphieren zu lassen. immer wieder behauptet hat, vor allem Einfacher ist schon zu verstehen, dass Beide Publikationen stellen keine expli- der ehemalige Waldorflehrer und jetzige bei allen Bemühungen um „Intellektua- zite Auseinandersetzung mit dem Wi- Leiter des Amtes Bildung der NPD, An- lisierung“ immer wieder Widersprüche derstand und der Gegenwehr gegen die dreas Molau, aber auch Udo Pastörs, auftreten, Rückschläge öfter als Fort- neonazistische Gefahr dar, gehen nur der Fraktionsvorsitzende der NPD im schritte zu verzeichnen sind. Dass je- im Zusammenhang verschiedener Er- Schweriner Landtag, Jürgen Gansel und doch die Zunahme von Gymnasiasten, eignisse darauf ein. Schwerpunkte bil- Karl Richter, der nun neben seiner „Be- Studenten, Juristen, Ärzten und anderen den hier wie da das Agieren der NPD auf ratertätigkeit“ im sächsischen Landtag Intellektuellen in den Reihen der NPD der Straße und in den Parlamenten, die zugleich im Münchener Stadtrat sitzt. und der Jungen Nationaldemokraten Aufdeckung ihrer Finanzierung und ih- Tatsache ist, dass die Mitgliederzahlen sichtbar ist, darf nicht ausgeblendet rer Immobilienkäufe, ihr Verhältnis zur der NPD weiter gewachsen sind, dass werden. Eine wichtige Rolle spielen da- Gewalt und ihre Jugend- und Kinderar- sie jetzt mehr Mitglieder als konkurrie- bei auch die Printmedien der Partei und beit, die Rolle rechtsextremer Musik. rende DVU oder Republikaner aufweist, ihre Internetpräsenz, an deren Moder- Das umfangreichere Buch kann durchaus dass die NPD die errungenen Landtags- nisierung derzeit eifrig gearbeitet wird. in Fortsetzung des 2005 erschienenen mandate und damit verbundene staat- Dass die Geldbeschaffung sowie der Er- Buches von Thoralf Staud „Moderne Na- liche Zuwendungen effektiv zu nutzen werb von Häusern, Grundstücken nicht zis. Die neuen Rechten und der Aufstieg versteht, dass ihre kommunale Veran- zuletzt mit Hilfe des umtriebigen An- der NPD“ betrachtet werden. Die dyna- kerung (wenn auch sehr differenziert) walts und Mitglied des Parteivorstan- mische Weiterentwicklung der damals zunimmt, dass ihre „Wortergreifungs- des Jürgen Rieger, für die Bildungsarbeit angezeigten Tendenzen ist deutlich. strategie“ in Parlament und Öffentlich- Priorität besitzt, weiß der Vorsitzende Heute lassen sich weder das Streben keit – also ihre argumentative Störung Voigt genau, der einst selbst das Schu- der NPD-Vertreter nach einem bürger- demokratischer Veranstaltungen – Wir- lungszentrum der Partei in der Toskana lichen Image, die Erweiterung ihres Ein- kungen zeigt und auch im Outfit der leitete. flusses im örtlichen Vereinsleben und in meisten Neonazis wesentliche Verände- Unbestritten ist auch, dass für die Rea- angesehenen Geschäftskreisen, die Per- rungen sichtbar geworden sind. Mit Ro- lisierung des strategischen Zieles „grö- fektionierung ihrer „Wortergreifungsstra- bert Andreasch hat Andreas Speit zu- ßerer Einfluss in der Gesellschaft“ die tegie“ bei gleichzeitigem engeren Schul- dem ein spezielles Kapitel über Bayern Themenfelder Frauen, Jugend und Kin- terschluss mit der Kameradschafts- und eingefügt, um die Ziele der stärkeren der zunehmend Bedeutung erlangen. Rechtsrockszene übersehen. Ausstrahlung in die westlichen Bundes- Im Buch ist das richtig dargestellt. Das Worin bestehen Unterschiede bei den länder zu demonstrieren, ein Gewinn vorhandene Wissen über das „famili-

59 enfreundliche“ Aussehen der NPD bei nen nationalistisch-völkischen Staat zu irrig sei zu erwarten, damit seien alle der Veranstaltung von Kinderfesten, errichten. An verächtlichen Ausfällen Probleme gelöst. Darüber sind sich heu- in Elternvertretungen und mit entspre- gegen den Parlamentarismus und das te auch die meisten Antifaschisten und chenden Kampagnen wird ergänzt mit Parteiensystem fehlt es bei der NPD Demokraten im Klaren. Ihre folgenden der Aufklärung über die Rolle des „Rings nicht. In eine solche „Mitte“ will sie of- Sätze sind jedoch nicht schlüssig, wenn Nationaler Frauen“ als Unterorganisati- fenbar nicht. „Auch Neonazis in Nadel- sie Verbote und Repressionen von oben on und der „Gemeinschaft Deutscher streifen bleiben Neonazis“, resümieren dem zivilgesellschaftlichen Engagement Frauen“. Die Autoren können bei der Er- die Autoren. von unten mit den Worten entgegen- örterung des rechtsextremen Potentials Und dazu ist zu fragen: Ist bei dem in stellt: „Wir aber wissen: Rechtsextre- unter den Frauen auf die Erkenntnisse vielen aktuellen Untersuchungen nach- mismus lässt sich nicht durch Verbote solcher Wissenschaftlerinnen wie Re- gewiesenen rechtsextremen und teilwei- und Repressionen von oben bekämp- nate Bitzan zurückgreifen. Die Darstel- se rassistischen Potential in großen Tei- fen. Vielmehr müssen wir ihn von unten lung der Aktivitäten der „Heimattreuen len der Bevölkerung einschließlich ihrer mit Zivilcourage und demokratischen Deutschen Jugend“ (HDJ) ist für Andrea Eliten nicht auch denkbar, dass die NPD Mitteln bekämpfen“ (S. 3). Das ist zu- Röpke dagegen Wiederholung, hat sie nicht nur ihrerseits zur Mitte strebt, son- mindest missverständlich, denn gera- doch kurz zuvor erst ihr ausführliches dern dass auch längst aus der Mitte her- de gegen die rechtsextremistische Ge- Buch über die neonazitische Jugendor- aus stärkere Bestrebungen zum rechten walt müssen zum Schutz der Menschen ganisation in der Nachfolge der „Wiking- Rand verlaufen? Oder wie soll man all auch Mittel der Repression und des Ver- jugend“ und deren Verbindungen mit die antidemokratischen Bestrebungen bots angewandt werden und wer be- der NPD veröffentlicht (siehe dazu den bis hin zum Innenminister und Vertei- hauptet denn – außer den Neonazis speziellen Beitrag in diesem Rundbrief). digungsminister und zu weiteren CDU- selber – dass das Abschneiden von Fi- Fazit: Wenn in der Überschrift des Kreisen werten? Gefahr für Deutschland nanzquellen der Neonazis, die Festle- Buches behauptet wird, dass die NPD allemal, wie tief schwarzbraun sie zu- gung von Einschränkungen bei Demons- „auf dem Weg in die Mitte der Gesell- nächst auch erscheint oder nicht. trationen, die Auflösung hetzerischer schaft“ ist, so fehlt es nicht an Markie- Damit kehren wir noch einmal zum wich- Nazikonzerte oder eben auch Organisa- rungen, die diesen Weg bereits kenn- tigen Kapitel „Wir machen dich fertig!“ tionverbote „undemokratische Maßnah- zeichnen. Dennoch sind nicht alle in der Broschüre zurück. Vieles auch an men“ seien? Fragen beantwortet. Der Streit, was un- Einzelheiten über den Umfang rechts- Also Dank den Verfassern, die bewei- ter der „Mitte der Gesellschaft“ zu ver- extremer Gewalt in Deutschland ist be- sen, dass es in der Auseinanderset- stehen ist, ist noch nicht zu Ende. Und kannt. Dies komprimiert hier zu lesen, zung mit Rechtsextremismus und Ne- wenn darunter das demokratische Zen- überzeugt und macht nachdenklich. Ist onazismus keine Pause geben kann, trum der Gesellschaft verstanden wird, aber der Zusammenhang dieser noch dass immer wieder auch Beobachtung so ist doch bei allen formalen Beteue- brutaler werdenden und ausufernden und Analyse dieser Szene erforderlich rungen der NPD um parlamentarischen Gewalt mit den neonazistischen Struk- sind. Ihre Hilfe gerade auch im Vorfeld Einfluss bis hin zum Bundestag in im- turen und der Politik der NPD erkannt, des „Superwahljahres 2009“ werden mer neuen Auslassungen davon die kann die Antwort von Angelika Beer die Leserinnen und Leser zu schätzen Rede, das nur als Sprungbrett zu be- nicht befriedigen. Unter Verweis auf wissen. nutzen, das „System“ dieser parlamen- den wiederholten Ruf nach einem Ver- tarischen Demokratie umzustürzen, ei- bot der NPD betont sie richtig, dass es Dr. sc. Roland Bach

Redaktioneller Hinweis Die Landtagsfraktion der LINKEN in Niedersachsen Dr. Hans-Joachim Kausch, Braune Wurzeln – Alte hat vor kurzem eine sehr informative Broschüre her- Nazis in den niedersächsischen Landtagsfraktionen ausgegeben, in der die braune Vergangenheit von von CDU, FDP und DP. Zur NS-Vergangenheit von ehemaligen CDU-, FDP- und DP- Abgeordneten doku- niedersächsischen Landtagsabgeordneten in der mentiert wird. Sie kann kostenlos unter www.links- Nachkriegszeit, Hannover 2008, 22 Seiten. fraktion-niedersachsen.de bestellt werden:

60 ZEITGESCHICHTE IM INTERNET Zeitgeschichte im Internet, Teil 1 Für alle, die zur Geschichte bzw. zu ak- Viktor Agartz, Ulrich Albrecht, Elmar Alt- Dies gilt vor allem für die programma- tuellen Problemen von Rechtsextre- vater, Fritz Baade, Ulrich Beck, Theodor tischen Debatten innerhalb des DGB mismus und Antifaschismus sowie zu Bergmann, Ludwig Bergsträsser, Ernst und seiner Einzelgewerkschaften sowie beliebigen anderen Themen der Zeitge- Bloch, Wilfried von Bredow, Christoph für die Diskurse zur Mitbestimmung. schichte recherchieren, existiert mitt- Butterwegge, Ralf Dahrendorf, Wolf- Später, in den 80er und 90er Jahren, lerweile die Möglichkeit, auf eine er- gang Däubler, Walter Dirks, Willi Eichler, sind zahlreiche Beiträge der „Zukunft freulich große Anzahl von nützlichen Thomas Ellwein, Gert von Eynern, Iring der Arbeit“, den neuen Anforderungen homepages zurückgreifen zu können. Fetscher, Heiner Flassbeck, Ossip K. an gewerkschaftliche Tarifpolitik, den Die Redaktion des „Rundbriefs“ wird zu- Flechtheim, Otto Heinrich von der Gab- Debatten um eine sich angeblich ent- künftig in unregelmäßiger Folge den Le- lentz, André Gorz, Wilfried Gottschalch, wickelnde „new economy“ und der Glo- serinnen und Lesern einige von ihnen Günter Grass, Alfred Grosser, Wilhelm balisierung mit ihren Folgen für die ge- vorstellen. Wir wollen damit helfen, die Hankel, Eduard Heimann, Wilhelm Heit- werkschaftliche Interessenvertretung antifaschistische Bildungsarbeit zu un- meyer, Friedrich Hengsbach S.J., Sebas- gewidmet. Vom ersten Jahrgang an wird terstützen. tian Herkommer, Klaus-Peter Kisker, Ar- aus gewerkschaftlicher Perspektive die Heute geht es um die Möglichkeit, die no Klönne, Eugen Kogon, Lorenz Knorr, konjunkturelle Entwicklung in der Bun- „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ Erich Kuby, Wolf Lepenies, Alexander desrepublik eingehend analysiert. (GMH) kostenlos herunter zu laden. In Mitscherlich, Wolf-Dieter Narr, Oskar Es wird aber auch erfreulich oft der den nächsten Ausgaben werden wir Negt, Oswald von Nell-Breuning S.J., Blick über den bundesdeutschen Teller- die Internet-Seiten von apabiz – antifa- Erich Nölting, Peter von Oertzen, Claus rand geworfen, nicht zuletzt in Richtung schistisches pressearchiv und bildungs- Offe, Theo Pirker, Helmut Plessner, USA, Frankreich und Großbritannien. zentrum berlin e. V. – sowie der Vier- Heribert Prantl, Ludwig Preller, Harry Ebenso werden die politischen Entwick- teljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) Pross, Helmut Schelsky, Theo Sommer, lungen in der damaligen UdSSR und vorstellen, die vom Institut für Zeitge- Franz Spliedt, Otto Stammer, Friedrich in der DDR kontinuierlich beobachtet, schichte in München herausgegeben Stampfer, Fritz Tarnow, Michael Vester, wenn auch zumeist – wie sollte es auch werden. Fritz Vilmar, Leopold von Wiese, Wla- anders sein – unter den seinerzeit vor- dimir Woytinski, Bodo Zeuner und Ralf herrschenden Anschauungen des Kal- Gewerkschaftliche Zoll: fast ein „Who is who?“ des linken ten Krieges. So ist noch lange Zeit von Monatshefte (GMH) und liberalen westdeutschen Geistesle- der DDR als der „Sowjetzone“ die Re- Unter http://library.fes.de/gmh kön- bens, „Edelfedern“ allesamt, Intellektu- de. Sehr breiten Raum nehmen desglei- nen alle vom Januar 1950 bis zum De- elle, von denen einige über Jahrzehnte chen die Auseinandersetzungen um die zember 2004 erschienenen Hefte auf- hinweg einen beträchtlichen Einfluss europäische Integration und die Krieg- gerufen und sämtliche Beiträge herunter auf das geistig-politische Leben in der Frieden-Problematik ein. Von Beginn an geladen werden. Die Digitalisierung der Bundesrepublik ausgeübt haben. kommen auch vor allem die wirtschaft- Zeitschrift ist dankenswerter Weise von Nicht zu vergessen: Autoren wie Fritz lichen Entwicklungen in den Entwick- der Friedrich-Ebert-Stiftung realisiert Baade, Eduard Heimann, Erich Nölting, lungsländern und der Nahost-Konflikt worden. Ludwig Preller, Franz Spliedt, Fried- nicht zu kurz. Die Gewerkschaftlichen Monatshefte rich Stampfer und Wladimir Woytinski Historische Themen werden schwer- waren bis zu ihrer Einstellung vor vier hatten bereits in der Weimarer Repu- punktmäßig in folgenden Heften abge- Jahren sicherlich eines der wichtigs- blik führende Positionen innerhalb der handelt: Heft 11/1980: Geschichte der ten politischen Periodika in der Bun- Arbeiterbewegung bekleidet bzw. sie Arbeit und der Freizeit; Heft 4–5/1983: desrepublik Deutschland. In der Nach- hatten schon damals wesentliche the- Aufstieg des Nationalsozialismus – Un- folge der vom Allgemeinen Deutschen oretische Ausarbeitungen in sozialde- tergang der Weimarer Republik – Zer- Gewerkschaftsbund (ADGB) in der mokratischen und freigewerkschaft- schlagung der Gewerkschaften; Heft Weimarer Republik herausgegebenen lichen Publikationsorganen, wie zum 4/1985: 8. Mai 1945 – 40 Jahre da- Zeitschrift „Die Arbeit“ wurden hier Bei- Beispiel dem „Vorwärts“ und in der „Ar- nach; Heft 3/1987: „Entsorgung“ der träge von Gewerkschaftsführern aus beit“, veröffentlicht. Geschichte; Heft 10/1988: Novem- Deutschland und dem Ausland, von Interessant ist es nachzuvollziehen, wie berpogrom – Nacht der Schande; Wissenschaftlern, Politikern und Publi- sehr sich bei dem einen oder anderen Heft 2/1990: Geschichte der Gewerk- zisten sowohl zu aktuell-politischen als der genannten Personen die Anschau- schaften; Heft 4–5/1992: Geschich- auch theoretischen und historischen ungen zu ökonomischen wie politischen te und Perspektiven der Arbeiterbewe- Themen abgedruckt. Die Liste der Au- Fragen im Laufe der Zeit – zum Teil in gung; Heft 10/1994: Gewerkschafter im toren ist beeindruckend: Von den Poli- recht drastischer Weise – geändert ha- Widerstand gegen Hitler; Heft 5/1995: tikern, die zur Feder griffen, seien hier ben; insofern vermittelt die Lektüre Vor 50 Jahren – 50 Jahre danach; Heft nur Willy Brandt, Herbert Ehrenberg, der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ 4/1998: Revolution 1848/49 – Volks- Fritz Erler, Jakob Kaiser, Oskar Lafon- auch einen recht plastischen Eindruck bewegung – Arbeiterbewegung; Heft taine, Hans Matthöfer, Karl Schiller, vom sich wandelnden „Zeitgeist“ in der 6/2003: Der 17. Juni 1953. Die in diesen Carlo Schmid und Helmut Schmidt ge- BRD. Heften publizierenden Historiker und nannt. Zu den Wissenschaftlern und Pu- Natürlich stehen in dieser Zeitschrift ge- Politikwissenschaftler sind unter ande- blizisten zählten Wolfgang Abendroth, werkschaftliche Fragen im Mittelpunkt. rem Dan Diner, Helga Grebing, Rüdiger

61 Hachtmann, Karin Hausen, Eike Hennig, zum Beispiel die Ausgabe vom Novem- senschaft (GEW), der in Heft 12/1989 Ulrich Herbert, Eckart Kleßmann, Dieter ber 1990 dem Thema „Was tun gegen schreibt: „Für die Gewerkschaften gibt Langewiesche, Wolfgang Leonhard, Sus- rechts?“ gewidmet; Autoren sind un- es keinen Grund mehr, ihre Beschlüs- anne Miller, Reinhard Neebe, Jürgen Reu- ter anderem Micha Brumlik, Hajo Fun- se den Vorstellungen einer alternativen lecke, Reinhard Rürup, Richard Saage, ke und Richard Stöss. Im Heft 6/2001, Gesellschaftsordnung zugrunde zu le- Michael Schneider, Klaus Schönhoven, S. 366 ff., veröffentlichen Ralf Ptak und gen – es gibt derzeit keine realistische Hans-Josef Steinberg und Klaus Tenfelde. Fabian Virchow, beide übrigens auch Vorstellung einer wünschenswerten Al- Besonders häufig vertreten ist Hans Autoren des „Rundbriefs“, einen Beitrag ternative.“ (S.716) Mommsen, der in den „Gewerkschaft- zum Thema „Gewerkschaft und extreme Insgesamt bieten die Gewerkschaft- lichen Monatsheften“ mehrfach seine je- Rechte zur Zeit des Neoliberalismus“. In lichen Monatshefte ein Spiegelbild der weils neuesten Forschungsergebnisse, den darauf folgenden Ausgaben der Ge- vielfältigen gesellschaftspolitischen etwa zum Novemberpogrom 1938 und werkschaftlichen Monatshefte entwi- Auseinandersetzungen in der BRD bzw. zu seinem Echo in der deutschen Bevöl- ckelt sich eine kontroverse Debatte zu in den ersten 15 Jahren der Existenz der kerung sowie zum antifaschistischen Wi- diesem Artikel. Giselher Schmidt ist Au- um die ehemalige DDR vergrößerten derstand, veröffentlicht hat. tor von Studien zur „Frühgeschichte“ Bundesrepublik Deutschland. Für jeden, Eine besondere „Entdeckung“ war für der NPD in den sechziger Jahren: Kul- der sich mit der Geschichte seit 1945 den Verfasser dieser Zeilen ein Artikel tur- und Kunstanschauungen der NPD, auseinander setzt, insbesondere mit von Erich Kuby: Es waren keine Mars- in: Heft 7/1967, S. 441 ff. und vor allem der Sozial- und Wirtschaftsgeschich- menschen, in: Heft 2/1964, S. 65 ff., der auch heute noch sehr lesenswerten te der BRD, ist dank der Digitalisierung in dem er den Deutschen während der Studie: Biologismus, Rassismus und An- der Gewerkschaftlichen Monatshefte Nazizeit den Spiegel vorhält, die nach tisemitismus – der ideologische Kern die Möglichkeit geschaffen worden, ei- 1945 beteuerten, von Verbrechen und der NPD, in: Heft 8/1968, S. 477 ff. ne sehr wichtige publizistische Quelle Völkermord nichts gewusst zu haben. Ausdrücklich möchte der Autor auf ei- am heimischen PC nutzen und ihn inter- Manches in diesem Beitrag klingt ange- nen Artikel des US-amerikanischen essierende Beiträge problemlos herun- sichts der seit den 90er Jahren entfach- Sozialwissenschaftlers Norbert Birn- terladen zu können. Wer sich der Mühe ten „Täter“- und „Mentalitätsforschung“ baum hinweisen, der im Heft 6/2004, unterzieht, in den Gewerkschaftlichen für die Zeit des NS-Regimes recht ak- S. 344–369, veröffentlicht worden ist: Monatsheften zu lesen, wird in jedem tuell und hat damals – die Adenauer- Das Vermächtnis des New Deal in der Falle „Entdeckungen“ machen. Schade, Ära war gerade zu Ende gegangen – bei amerikanischen Politik. Er kann nach dass diese überaus interessante Zeit- manchen Lesern sicherlich keinen An- unserer Auffassung auch bei gut infor- schrift seit 2005 nicht mehr existiert: klang, sondern schärfste Zurückwei- mierten Lesern sehr viel zum tieferen Am Ende reichte die Zahl der Abon- sung gefunden: „Es gibt eine deutsche Verständnis der US-Innen- wie Außen- nenten nicht mehr aus, die Zeitschrift postnationalsozialistische Arithmetik, politik am Vorabend der aktuellen Prä- auch ferner aus dieser Quelle finanzie- ein Hexeneinmaleins aus Gummizahlen, sidentschaftswahlen und angesichts ren zu können. Und welche Großorga- die sich beliebig zusammendrücken und der tief greifenden Wirtschafts- und nisation, auch unter denen der Linken, dehnen lassen. Danach waren es jener, Finanzkrise beitragen, zumal er seine besitzt schon die Klugheit, eine an- die von den KZ wussten, höchstens ein Analysen und Argumente vor dem Hin- spruchsvolle Zeitschrift und damit die paar Tausend, jener aber, die Juden hal- tergrund der Wandlungen des US-ameri- geistige Auseinandersetzung um den fen, waren es Millionen. In Wirklichkeit kanischen Kapitalismus seit den 1930er einzuschlagenden politischen Kurs und war es umgekehrt.“ (S. 67) Am Rande Jahren begründet. das eigene Selbstverständnis, zu sub- bemerkt: Kuby wurde im gleichen Jahr Abschließend sei auf zwei Beiträge hin- ventionieren? eine Vortragsveranstaltung an der Frei- gewiesen, die beim Autor dieser Zeilen, Beim Stöbern und Lesen in den Gewerk- en Universität Berlin zu den Nachwehen fast 60 bzw. 20 Jahre nach ihrer Publi- schaftlichen Monatsheften wird einem des deutschen Faschismus vom damals kation in den GMH, gelegentlich auch schnell bewusst, dass eine wichtige pu- amtierenden Rektor untersagt, was zu ein Schmunzeln hervorriefen: Willy blizistische Stimme im Konzert der se- ersten größeren Protesten der Studen- Brandt, Was geschieht am Tag X? Pro- riösen politischen Zeitschriften in der tenschaft an der FU führte. bleme der deutschen Wiedervereini- Bundesrepublik leider verstummt ist. Zu Rechtsextremismus und Neofa- gung, in: Heft 11/1951, S. 591 ff. und Und das wohl für immer. schismus findet der interessierte Leser Dieter Wunder, damals Vorsitzender gleichfalls eine Fülle von Artikeln. So ist der Gewerkschaft Erziehung und Wis- Dr. Reiner Zilkenat

62 63 64 Dr. Horst Helas unter Mitarbeit von Dr. Reiner Zilkenat Vor 70 Jahren: Brennende Synagogen in Deutschland. Eine Dokumentation

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- beteiligt sich auch die Berliner Bevöl- sichtbar ein Abzeichen an den Mantel- derts war der 9. November dreimal ein kerung. Die Mehrheit der Synagogen aufschlag. Es war die Staatsflagge Ju- besonderer Tag in der deutschen Ge- wird von der SA angezündet, darunter goslawiens, dessen Bürgerin sie vor schichte. die Gebäude in der Prinzregentenstraße kurzem geworden war. Sie fuhr nach Am 9. November 1918 riefen Karl Lieb- und der Fasanenstraße. Auch andere jü- Oranienburg, in das KZ Sachsenhausen. knecht und etwa zeitgleich Phillip dische Einrichtungen, z. B. die Poliklinik Die selbstbewusst auftretende junge Scheidemann die Republik aus. Das der Jüdischen Gemeinde am Alexander- Frau machte Eindruck, außerdem schien Kaiserreich war in den Stürmen einer platz und die Volksschule in der Chori- sie eine Ausländerin zu sein. Um Unan- Revolution untergegangen. ner Straße, werden verwüstet. Im Osten nehmlichkeiten zu vermeiden, erhielt Am 9. November 1923 endete in Mün- Berlins dringen nach einem Bericht die Edith Karpel die gewünschte Auskunft. chen ein Putsch („Marsch auf die Feld- SA-Leute in Wohnungen ein, ramponie- Ja, Isaak Karl Karpel ist hier Häftling. Er herrenhalle“) rechtsextremer Verschwö- ren die Einrichtungen und werfen Mö- wird sofort entlassen, wenn er bis spä- rer gegen die Weimarer Republik mit bel aus den Fenstern. Insgesamt wer- testens März 1939 ein Reisedokument einer Niederlage. General Erich Luden- den während des Pogroms über 12.000 ins Ausland vorzeigen kann. Edith Kar- dorff und Adolf Hitler hatten die Akti- männliche Juden verhaftet. Einige, vor pel versprach, dafür zu sorgen. Mit Hilfe on angeführt, weitere, später führende allem Ältere, sterben an Schlaganfällen von Verwandten und Freunden wurden Politiker des NS-Regimes, hatten an ihr noch vor ihrem Transport ins Konzent- für Karl Karpel und seine Frau Einreise- teilgenommen: Unter ihnen Hans Frank, rationslager Sachsenhausen. Aufgrund visa nach Kuba beschafft. Zu jener Zeit Hermann Göring, Heinrich Himmler. Im von Misshandlungen, Hunger und star- hatte in der antijüdischen Politik der Na- politischen Kalender der faschistischen kem Frost verliert dort eine Reihe wei- tionalsozialisten die Vertreibung der Ju- Bewegung in Deutschland hatte dieses terer Berliner ihr Leben. Viele der nach den aus Deutschland noch den Vorrang Datum fortan einen herausragenden einigen Wochen gegen das schriftliche vor Deportation und Vernichtung. Platz. Versprechen sofortiger Auswanderung Während des Novemberpogroms 1938 Schließlich der 9./10. November 1938, entlassenen KZ-Häftlinge müssen spä- verhaftet, hatte Karl Karpel in Sachsen- dem die Nazis wegen der wüsten Zerstö- ter im Jüdischen Krankenhaus versorgt hausen, wie so viele andere Glaubens- rung in jüdischen Gotteshäusern sowie werden.“ 1 genossen, Hunger und Qual erdulden in Geschäften und Privatwohnungen den müssen. Kartengrüße, die seine Frau ins Namen „Reichskristallnacht“ gaben. Zwei Zeitzeugenberichte Lager schickte, waren für die SS-Leute Den 9. November 1938 empfanden Be- Zu den aus Berlin in das KZ Sachsen- willkommene Gelegenheit, dem Adres- teiligte, Täter wie Opfer und die vielen hausen im November 1938 Verschlepp- saten kräftig in die Geschlechtsteile Zuschauer, als den Beginn einer neuen ten gehörte zu treten. Als seine Frau nicht mehr Etappe antijüdischer Politik in Deutsch- Isaak Karl Karpel, der in Berlin-Mitte, in schrieb, blieb ihm diese Art Erniedri- land. Das ist auch der Grund, warum der der Münzstraße, ein renommiertes Tep- gung und höllischer Schmerz erspart. 9. November 1938 im Gedenken an die pichgeschäft betrieb. Im Januar 1939 war der Vater wieder Verbrechen der Nationalsozialisten an Aus der Aufzeichnung des mündlichen nach Hause gekommen. Der abgema- den europäischen Juden bis heute einen Berichts seiner Tochter Edith Karpel- gerte, kahlgeschorene Mann sprach lan- herausragenden Platz einnimmt. Coulson: „Auch in der ersten Novem- ge kein Wort. Mehrere Wochen musste berwoche des Jahres 1938 war Karl er das Bett hüten. Von den Tritten im Novemberpogrom 1938 – Karpel wie üblich jeden Tag in sein Ge- Lager behielt der Vater ein chronisches Ereignisse und Bilanz schäft in der Münzstraße gegangen. An Nierenleiden zurück; daran ist er später Ereignisse in Berlin einem dieser Tage (das genaue Datum in den USA gestorben.“ 2 Am 9./10. November 1938 kam es vie- ist seiner Tochter nicht mehr in Erin- Walter Tikotzki, dessen Vater Isidor Ti- lerorts in Deutschland zur Schändung nerung – d. Verf.) gingen im Geschäft kotzki in der Alten Schönhauser Straße jüdischer Gotteshäuser, zu Plünde- sechs Fensterscheiben zu Bruch, die ein Wäschegeschäft besaß, kann sich rungen in Privatwohnungen und zu zahl- Waren wurden aus den Regalen geris- an den Pogrom genau erinnern. 3 reichen Verhaftungen jüdischer Männer, sen und die ‚Kunden‘ bedienten sich, „An die so genannte Kristallnacht kann die in Konzentrationslager eingeliefert ohne zu bezahlen. Auf dem Heimweg, ich mich erinnern, sehr gut sogar. Als wurden. direkt vor der Haustür, wurde der Va- dieser junge Mann in Paris auf die- Für Berlin heißt es in einer Beschrei- ter verhaftet. Umsonst hatten Frau und sen deutschen Botschaftsangehörigen bung: „Überall in der Reichshauptstadt Tochter oben in der Wohnung auf das geschossen hatte, sagte mein Vater: werden Geschäfte durch SA-Trupps, Geräusch des Fahrstuhls gelauscht. Die ‚Wenn der stirbt, wird etwas Fürchter- aber auch durch Angehörige der Hitler- Mutter war verzweifelt. Sechs Wochen liches passieren‘. Das haben wir alle jugend demoliert. Als besonders verhee- lang ging sie in den gleichen Kleidern, gewusst. Und ich erinnere mich noch, rend werden die Zerstörungen in den bis sie wusste, wo ihr Mann war, im KZ ich war im Geschäft meines Vaters, an Geschäftsgegenden Kurfürstendamm, Sachsenhausen. einem Nachmittag. Das war wohl am 8. Potsdamer Straße, Unter den Linden Bevor Edith Karpel an einem Dezem- November 1938 4. Und meine Schwes- in Zeugenberichten geschildert. An den bertag im Jahre 1938 die elterliche ter hat angerufen , sie habe im Radio ge- Plünderungen in den zerstörten Läden Wohnung verließ, steckte sie sich gut hört, der deutsche Diplomat sei tot.

65 Mehr brauchte sie gar nicht sagen. Mein hat mir die Schlüssel vom Hinterein- Zur Gesamtbilanz für Deutschland gibt Vater hat sofort entschieden, heute gang des Geschäfts gegeben, da war es verschiedene Angaben Nacht bleiben wir nicht in unserer Woh- so ein Vorhängeschloss. Ich habe das Während des Novemberpogroms 1938 nung. Meine Eltern, meine Schwester aufgemacht, bin in das Geschäft rein- wurden circa 25.000 Männer verhaf- und ich sind nach Charlottenburg ge- gegangen, ging an die Kasse, da lag die tet 5, 7.500 geplünderte Geschäfte wur- fahren zu meiner Tante, die mit einem goldene Uhr. Ich habe sie in die Tasche den gezählt. nichtjüdischen Mann verheiratet war. gesteckt und verließ den Laden. Der Novemberpogrom war seit 1933 Und dorthin kamen auch noch andere Ich war kaum oben in der Wohnung, da das herausragende Ereignis in einer unserer Verwandten. Und ich weiß, die hörten wir draußen Lärm, Krawall. Wir Fülle judenfeindlicher Maßnahmen in Wohnung war voll, wir haben auf dem schauten aus dem Fenster. Da waren Deutschland. Diese Aktion war vorläu- Fußboden geschlafen, denn es gab nicht im Nu vielleicht zweitausend Menschen figer Höhepunkt einer kontinuierlich genügend Betten. Was kommen würde, in der Straße, Männer und Frauen. Mit und zielstrebig verfolgten Politik. Aller- hatten wir geahnt. Beilen und mit langen Eisenstangen, die dings bedeutete erst das Verbrechen Als wir unsere Wohnung in der Alten man zum Aufmachen von großen Holz- an den europäischen Juden, der Holo- Schönhauser Straße verlassen hatten kisten benutzt. caust, den Tiefpunkt einer jahrelangen und zur S-Bahn gingen, um nach Char- In der ganzen Straße war nur ein ein- Entwicklung. 6 lottenburg zu fahren, sahen wir durch ziges Geräusch, dieses Gehacke. die Fenster der Eckkneipen. Damals Mit den Beilen haben sie alles zerhackt. Anlass, Verlauf, Bewertung gab es in Berlin fast an jeder Ecke eine Und auch das zersplitternde Glas hat Anlass: Eine Abschiebeaktion und ein Kneipe. Und sehr viele Kneipen waren viel Krach gemacht. Und die meisten Attentat Sitz einer SA-Abteilung. Wir sahen, wie Frauen, die da waren, hatten einen Kin- Der Novemberpogrom 1938 war Zeichen SA-Männer Beile und Äxte verteilten. derwagen bei sich. Da waren aber kei- einer „maßlosen Radikalisierung der Ju- Wir haben genau gewusst, dass sie kein ne Kinder drin. Die Wagen haben sie nur denverfolgung in Deutschland“. 7 Schon Holz hacken wollten. gehabt, damit sie die möglichst viel Wa- in den beiden Vormonaten des Novem- Nachdem wir bei meiner Tante über- re reintun konnten. ber 1938 wurde dies besonders deut- nachtet hatten, am nächsten Tag, hat So können sie mehr wegschleppen, als lich. mein Vater mich aufgeweckt, früh, und sie tragen konnten. Vor unserem Ge- Erstens wir sind runtergegangen, und er hat ei- schäft hat das Ganze vielleicht fünfzehn Eine seit Januar 1933 kontinuierlich ver- ne Taxe bestellt und hat dem Fahrer ge- Minuten gedauert. Dann war alles weg. folgte Grundargumentation nationalsozi- sagt, wo er hinfahren soll. Er ist erst mal Die haben sogar die Bretter aus den Re- alistischer Politik sah im „Weltjudentum“ durch Straßen gefahren, die große Ge- galen gerissen. Und so weiter. Mein Va- den angeblichen Hauptfeind deutscher schäftsstraßen waren. Und da haben ter und ich haben zum Fenster rausge- Selbstbestimmung. Insbesondere durch wir gesehen, das alles voller Glas war. guckt und haben das gesehen. Da waren die Revision der Versailler Verträge, die Das war ein furchtbares Bild. Die Ge- manche in Uniform, aber die meisten als Schmach angesehen wurden (und schäfte waren vollkommen ausgeraubt, waren in Zivil. Sie haben auch gelacht an denen auf deutscher Seite mit dem nicht nur, dass die Scheiben zerstört und gejubelt. In kurzer Zeit, in ganz Kur- damaligen Außenminister Walter Rathe- und zertrümmert waren und überall das zer Zeit war nichts mehr da. nau ein Jude maßgeblichen Anteil geha- Glas gefunkelt hat, die Geschäfte waren Es gab in der Alten Schönhauser Straße bt habe), sollte erreicht werden, dass leer. eine ganze Reihe jüdischer Geschäfte. Deutschland einen gleichberechtigten Und da hat mein Vati zu mir gesagt: ‚Na Möbel-Rubin, ein Garngeschäft, Kürsch- Platz in der internationalen Staatenge- ja, jetzt weiß ich schon, was wir sehen nermeister Ullmann, einen Malermeis- meinschaft zurückbekommt. Territoriale werden, wenn wir zu unserem Geschäft ter, noch einen Möbelladen. Begehrlichkeiten Deutschlands wurden kommen‘. Und da hat mein Vater dem Wir haben auch gehört, dass sie in Woh- als legitim und rechtens angesehen. Fahrer gesagt: ‚Jetzt fahren Sie mal in nungen randaliert haben. In unsere In einer Rede am 26. September 1938 die Alte Schönhauser Straße‘. Und wir Wohnung ist jedoch keiner gekommen. begründete Hitler beispielsweise aus- sind auch dort hin gefahren, sind am Ich weiß, dass mein Vater den Schaden führlich die Berechtigung deutscher Geschäft vorbeigefahren. Es war alles aus der eigenen Tasche bezahlen muss- Forderungen nach Anschluss der „Su- in Ordnung. Das war vielleicht um zehn te, ebenso die neuen Waren. Später detengebiete“ an Deutschland. In völ- Uhr morgens. Nichts war zerstört, in der kam ein Mann von der Partei. Der kam liger Umkehrung der Tatsachen behaup- ganzen Straße. Mein Vater war vollkom- rein, hat sich einmal schnell umgedreht, tete er außerdem: „Die Juden freuen men überrascht. Wir sind dann in unse- und ist wieder raus. Das war ein Schät- sich, dass uns Deutschen schon wieder re Wohnung gegangen, auf die andere zer, der den Wert unseres Geschäftes ein Krieg droht.“ 8 Seite in der Alten Schönhauser Straße auf 500 Mark geschätzt hat. Die Quit- Zweitens Nummer 7 bis 8, das Haus steht noch. tung habe ich noch dafür. Das Geschäft Die Nazis waren seit 1933 bemüht, die Von unserer Wohnung aus hat Vater musste verkauft werden, jedoch konnte Zahl der in Deutschland lebenden Juden dann bei der Tante angerufen, es sei al- mein Vater selbst bestimmen, an wen, zu minimieren – vorerst vor allem durch les in Ordnung. es musste aber ein ‚Arier‘ sein. (mit terroristischen Mitteln geförderte) Trotzdem hat mein Vater zu mir gesagt: Vater hat das Geschäft dann an eine Ermunterung zur „freiwilligen“ Emigrati- ‚Weißt du, das sieht mir alles zu schön langjährige Angestellte verkauft. Sie on. Viele Juden verließen Deutschland, aus, da stimmt was nicht. Geh mal hieß Rita Lanati, eine sehr treue Dame, andere wollten lieber abwarten, bis schnell ins Geschäft. Ich habe in der die gleich nach ihrer Schulzeit bei ihm Hitler „abgewirtschaftet“ hatte. Kasse unten drin eine goldene Uhr. Die angefangen hatte. Sie hat das Geschäft Wieder andere hielten ihre Familien für hat ihm jemand als Pfand hinterlassen‘. geführt – wie lange weiß ich nicht. Mein privilegiert, weil sich das Familienober- Mein Vater meinte, die Uhr gehört nicht Vater hat das Geschäft nie wieder be- haupt im 1. Weltkrieg an der Front aus- uns, wir müssen sie aufbewahren. Er treten.“ gezeichnet hatte. Für diese trügerische

66 Annahme gab es ein äußeres Zeichen: mund und Kaiserslautern Synagogen Spitzenfunktionäre der NSDAP und „Al- Der „Führer und Reichskanzler“ Adolf abgerissen worden. Aber auch in länd- te Kämpfer“ treffen sich traditionsge- Hitler verlieh auch an Juden ein „Ehren- lichen Regionen, so z. B. in Franken, mäß zu einem Kameradschaftsabend kreuz für Frontkämpfer“, das nach einer kam es zu Angriffen auf jüdische Got- im Münchner „Alten Rathaus“. Verordnung vom 13. Juli 1934 „zur Er- teshäuser. 9 21.00 Uhr: Hitler und Goebbels wird innerung an den Weltkrieg 1914/1918“ Zum anderen: In Hessen hatten Pog- während des gemeinsamen Essens der vom Reichspräsidenten und ehemaligen rome schon am 7. November begonnen, Tod vom Raths mitgeteilt. Hitler verlässt kaiserlichen Generalfeldmarschall Paul so in Kassel sowie weiteren Städten und unmittelbar nach dem Essen die Veran- v. Hindenburg gestiftet worden war. Gemeinden Nordhessens. Eines zen- staltung, ohne – wie sonst üblich – zu Auf dem nächstgelegenen Polizeirevier tralen Befehls hatte es dazu nicht be- den Anwesenden gesprochen zu haben. konnte man sich Medaille nebst Urkun- durft. 10 22.00 Uhr: Goebbels hält im Alten Rat- de abholen. Mehrere Historiker 11 haben sich die Mü- haus eine Rede, in der er auf mancher- Und wieder andere waren in Deutsch- he gemacht, den Verlauf des Novem- orts schon begonnene Ausschreitungen land Staatenlose, die während des berpogroms 1938 zu rekonstruieren. Ihr gegen Juden hinweist und die offizielle 1. Weltkrieges als willkommene Arbeits- übereinstimmendes Fazit: Die Instrukti- Version der Bewertung der Vorkomm- kräfte vor allem aus polnischen Gebie- onen zur Durchführung des reichsweiten nisse vorgibt: „Der Führer habe auf sei- ten angeworben worden waren und die Pogroms wurde erst gegen Mitternacht nen Vortrag entschieden, dass derar- man in den Wirren des Bürgerkrieges vom 9. zum 10. November 1938 gege- tige Demonstrationen von der Partei nach 1918 nicht wieder los wurde. Die ben. Stellt man in Rechnung, dass es weder vorzubereiten noch zu organisie- meisten dieser Menschen in Deutsch- von der Befehlsgebung im fernen Mün- ren seien, soweit sie spontan entstün- land waren zu arm, um nach Übersee chen bis zur praktischen Mobilisierung den, sei ihnen aber auch nicht entge- weiterzuwandern. Die deutsche Staats- von SA-Verbänden, NSDAP-Ortsgrup- genzutreten.“ angehörigkeit wurde ihnen verwehrt pen und HJ-Einheiten vor Ort einiger 22.30 Uhr: Der Kameradschaftsabend und die Rückkehr nach Polen schien Zeit bedurfte, lässt sich feststellen: Die löst sich auf. Anwesende Gauleiter ru- wenig verlockend. Pogromnacht war eher ein Pogromtag. fen ihre Gauleitungen bzw. Gauprop- Da Deutschland zu Polen im Jahre 1938 Zumindest in Berlin gab es wohl erste agandaleitungen an und geben mehr noch normale zwischenstaatliche Bezie- Aktionen im Morgengrauen des 10. No- oder weniger präzise Anweisungen zur hungen unterhielt, versuchte man eine vember 1938. Die meisten Brandstiftun- Durchführung des Pogroms vor Ort. Gewaltaktion. gen, Plünderungen und Verhaftungen 23.55 Uhr: Der Chef des Geheimen Vom 27. bis zum 29. Oktober 1938 wur- geschahen jedoch am hellen Tage – vor Staatspolizeiamtes, Heinrich Müller, un- den 18.000 Juden polnischer Staats- aller Augen. terrichtet per Fernschreiben die Staats- bürgerschaft nachts zwangsweise an polizeileitstellen über die zu erwar- die Grenze zu Polen, nach Zbaszyn, ge- Chronologie der Ereignisse tenden Ausschreitungen. Er gibt Befehl, bracht. Buchstäblich in letzter Minute Montag, 7. November 1939 dass sich die Staatspolizei aus den Akti- sollten sie in ihr Herkunftsland abge- In den Vormittagsstunden schießt Her- onen heraushalten soll. schoben werden, dessen Staatsbürger- schel Grynszpan in der Deutschen Bot- In dem Fernschreiben heißt es u. a.: schaft sie noch besaßen, ein Zustand, schaft in Paris auf den Legationsrat „ Es werden in kürzester Frist in ganz den die polnische Regierung gerade vom Rath. Am Spätnachmittag sendet Deutschland Aktionen gegen Juden, aufzuheben versuchte. Die polnische Hitler hochrangige Ärzte von Münster insbesondere gegen deren Synago- Regierung verweigerte den Abgescho- nach Paris zur Unterstützung der fran- gen, stattfinden. Sie sind nicht zu stö- benen die Einreise. Mehrere Wochen zösischen Ärzte. Reichspropagandami- ren. Jedoch ist im Benehmen mit der bleiben diese Menschen im Niemands- nister Goebbels instruiert die Presse, in sicherzustellen, dass land. welcher Weise über das Attentat zu be- Plünderungen und sonstige besonde- Betroffen von dieser Aktion waren auch richten sei. re Ausschreitungen unterbunden wer- die Angehörigen von Herschel Grynsz- Dienstag, 8. November 1938 den können. (…) Es ist vorzubereiten die pan, der in Paris im Exil lebte und seit In den Morgenzeitungen erscheinen Festnahme von etwa 20.000 – 30.000 Februar 1938 keinen gültigen Pass mehr groß aufgemachte Artikel zum Attentat Juden im Reiche. Es sind auszuwählen besaß. Der Mitarbeiter der deutschen in Paris. Der Leitartikel im „Völkischen vor allem vermögende Juden. Nähere Botschaft in Paris vom Rath hatte Her- Beobachter“ endet mit der Drohung: Anordnungen ergehen noch im Laufe schel Grynszpan Hilfe bei der Klärung „Die Schüsse in Paris werden nicht nur dieser Nacht. (…)“ 12 seiner Passangelegenheiten verspro- den Beginn einer neuen deutschen Hal- 0.20 Uhr: Geheimer Funkspruch des chen, aber nichts unternommen. Alar- tung in der Judenfrage bedeuten …“ Chefs der Sicherheitspolizei Reinhard miert von Briefen seiner Verwandten Tagsüber finden erste Pogrome statt, Heydrich an die Stabsführer der SS- schoss der erst 17 Jahre alte polnische z. B. in Nordhessen und Magdeburg-An- Oberabschnitte. Er schlägt vor, dass Jude am 7. November 1938 auf den Bot- halt. 21.00 Uhr: Hitler hält seine tradi- „die Befehlsstellen der Allgemeinen SS schaftsangehörigen. tionelle Rede im Bürgerbräukeller, auf angewiesen werden, zu veranlassen, das Attentat in Paris geht er mit keinem dass SS-Angehörige an den von den po- Der Verlauf des Pogroms: Wort ein. litischen Leitungen veranstalteten De- 9. und 10. November 1938 Mittwoch, 9. November 1938 monstrationen nur in Zivil und an den Wie wenig der Tod des deutschen Di- Um die Mittagszeit findet der feier- polizeilichen Maßnahmen, zu denen sie plomaten tatsächlich mit dem Pogrom liche Gedenkmarsch zur Feldherren- hinzugezogen werden, im Dienstanzug in ursächlichem Zusammenhang stand, halle statt. 17.30 Uhr: Der von Hitler teilnehmen“. 13 dafür seien zwei Beispiele genannt: Zum unmittelbar nach dem Attentat zum 1.20 Uhr: Geheimes Blitzfernschreiben einen: Schon vor dem November 1938 Gesandtschaftsrat 1. Klasse beförder- Reinhard Heydrichs an alle Staatspo- waren in München, Nürnberg, Dort- te vom Rath stirbt in Paris. 20.00 Uhr: lizeileit- und Staatspolizeistellen und

67 an alle SD-Oberabschnitte und SD-Un- Besonders infam war es, dass die Hitler- Die deutschen Juden müssten auf ir- terabschnitte. Ein ganzer Maßnahme- Regierung von den Opfern eine „Süh- gendeine Weise dafür bestraft werden, katalog wird angeordnet, u. a. diese: neleistung“ für die entstandenen Schä- was in Paris geschehen sei, aber da „Geschäfte und Wohnungen von Juden den in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark Deutschland ein Staat sei, der sich an dürfen nur zerstört, nicht geplündert bestimmte. die Gesetze halte, sollte bis zu dem Zeit- werden. (…) Sobald der Ablauf der Er- punkt, an dem der Führer entschieden eignisse dieser Nacht die Verwendung Pogromnacht oder zumeist Pogromtag? hätte, welche Art von Buße die deut- der eingesetzten Beamten hierfür zu- In fast jeder Publikation über den No- schen Juden zahlen müssten, nichts ge- lässt, sind in allen Bezirken so viele Ju- vemberpogrom 1938 findet sich ein Fo- schehen. Nun, ich glaubte mit Sicher- den – insbesondere wohlhabende – to der Synagoge Oranienburger Straße. heit, dass es genau so kommen würde, festzunehmen, als in den vorhandenen Flammen lodern zum nächtlichen Him- und sicher glaubten das auch alle meine Hafträumen untergebracht werden kön- mel, begleitet von dicken Rauchschwa- Kollegen. Die meisten von ihnen gingen nen. Es sind zunächst nur junge männ- den. Diese Foto hat sicher die Formel schlafen. liche Juden nicht zu hohen Alters festzu- von der „PogromNACHT“ wesentlich mit Aber ich wartet darauf, dass die Mor- nehmen. (…)“ 14 geprägt. Es entstand aber erst im Jahre genzeitungen herauskamen, und sie ka- Donnerstag, 10. November 1938 1943 und zeigt Folgen eines britischen men ein bisschen verspätet, weil sie die Nach Mitternacht beginnt die reichs- Luftangriffs. Nachricht vom Tod von vom Rath brach- weite Mobilisierung verschiedener NS- Mögliche Indizien dafür, dass in Berlin ten. 21 Ich hatte buchstäblich gerade das Funktionsträger, in Uniform oder zivil. vor allem am 10. November 1938 ein Büro verlassen und wartete im fünften Dieter Obst unterscheidet vier Mobi- PogromTAG stattgefunden hat. Stock des Gebäudes, in dem ich arbei- lisierungsphasen: Erstens: Die Mobili- In Berichten über brennende Synago- tete auf den Fahrstuhl. Ich hatte einen sierung aus den Partei- und SA-Loka- gen, etwa in der Fasanenstraße und in deutschen Angestellten, der abends len am späten Abend des 9. November, der Oranienburger Straße in Berlin, ist mit mir zusammen arbeitet, und er kam wo die Nazis (ähnlich wie in München) ohne nähere Angaben immer von „der heraus und sagte: ‚Mr. Peters, da ist je- nach dem Ende der lokalen Parteifeiern Nacht vom 9. zum 10. November 1938“ mand für sie am Telefon. Er will seinen noch bei Bier und Wein zusammen sa- die Rede. Für die Synagoge in der Ora- Namen nicht nennen, aber er sagt, es ßen; zweitens: die Mobilisierung aus der nienburger Straße ist bekannt, dass der wäre sehr wichtig, dass er mit Ihnen Wohnung in der Nacht zum 10. Novem- Vorsteher des Polizeireviers am Hacke- sprechen kann.‘ Also ging ich ins Bü- ber und in den frühen Morgenstunden; schen Markt, Wilhelm Krützfeld, „am ro und ans Telefon, und eine Stimme drittens: die Mobilisierung von der Ar- Morgen“ (d. h. des 10. November 1938) sagte; ‚Brooks“ und ich sagte: ‚Ja‘. Er beitsstätte im Laufe des 10. November eine Brandstiftung größeren Ausmaßes sagte: ‚Falls Sie meine Stimme erken- und viertens: die Mobilisierung nach Fei- verhinderte. 17 Zuvor, wann genau ist nen, sagen sie meinen Namen nicht‘. erabend am Spätnachmittag und Abend nicht überliefert, muss es aber SA-Leu- Ich sagte: „Ich erkenne Ihre Stimme“, des 10. November. 15 ten gelungen sein, in dem Raum unmit- und so war es. Es war ein junger Medi- In den Morgenzeitungen, die in der telbar vor dem Eingang zur Hauptsyn- zinstudent an der 2 Uhr an der Berliner Nacht gedruckt worden waren und früh- agoge Feuer zu legen. Spuren davon Universität, ein entschiedener Nazigeg- zeitig von den Zeitungshändlern ange- wurden unmittelbar nach dem Pogrom ner … Er sagte: ‚Wenn Sie um Kreuzung priesen wurden, wird über den Tod vom beseitigt. 18 Friedrichstraße/Leipziger Straße sind, Raths am Vortage berichtet. In Erinnerungen von Schülern der jü- werden Sie etwas zu sehen bekommen, Nachmittags lässt Goebbels im Rund- dischen Schule in der Großen Hambur- was für die Leser der New York Times funk einen Aufruf verbreiten, die „spon- ger Straße in Berlin-Mitte wird mehrfach von Interesse sein wird. ‚Klick‘, er legte tanen antijüdischen Ausschreitungen davon berichtet, dass sie von Lehrern auf. Nun, ich kannte den Mann. Er war der Bevölkerung“ zu stoppen. Die Über- der Schule unmittelbar vor Schulbeginn kein Mann, der Witze machte. Also war griffe dauern aber bis in die späten auf der Straße angehalten wurden, zum ich um 2 Uhr an der Kreuzung Fried- Abendstunden dieses Tages an. Beispiel auf dem Hackeschen Markt, vor richstraße und der Leipziger Straße und Freitag, 11. November 1938 dem damaligen S-Bahnhof Börse. Sie fast genau um 2 Uhr kam eine Autoko- Auf den Titelseiten der Morgenzeitungen wurden mit der Nachricht nach Hause lonne die Friedrichstraße hinunter. Sie heißt es: „Es geht nunmehr an die ge- geschickt, dass der Unterricht vorerst kam aus der Richtung des Geländes der samte Bevölkerung die strenge Auffor- ausfällt und ihre Eltern benachrichtigt Berliner Universität. Es war eine Kolon- derung, von allen weiteren Demonstra- werden, sobald der Unterricht weiter ne von etwa einem Dutzend Mecedes- tionen und Vergeltungsaktionen gegen gehen würde 19 Limousinen. Sie bogen von der Fried- das Judentum, gleichgültig welcher Art, C. Brookes Peters war in den 30 er richstraße nach rechts in die Leipziger sofort abzusehen. Die endgültige Ant- Jahren Korrespondent der „New York Straße ab, wobei sie auf der rechten wort auf das jüdische Attentat in Paris Times“ in Berlin. Er hat den November- Straßenseite blieben. Wagen Nummer wird auf dem Wege der Gesetzgebung pogrom 1938 in Berlin erlebt. 20 Eins hielt an. Er parkte in einem sol- bzw. der Verordnung dem Judentum er- „Alle Naziführer waren am 9. November chen Winkel, dass seine Scheinwerfer teilt werden.“ 16 1938 in München, wo sie den Jahres- die rechte Straßenseite beleuchteten. Hermann Göring, dem das Schicksal tag des ‚Putsch‘ (im Original deutsch. Wagen Nummer Zwei hielt ebenfalls auf der drangsalierten Juden gleichgültig d. Ü.) feierten … Goebbels sprach im der rechten Straßenseite, aber in einem war, regte sich darüber auf, dass beim staatlichen Rundfunk. Ich hörte diese solchen Winkel, dass seine Scheinwer- Pogrom so viele Sachwerte vernich- Sendung irgendwann am späten Nach- fer alles auf der linken Straßenseite be- tet worden waren. Der Minister für den mittag oder frühen Abend. Er sagte, leuchteten. Nummer Drei drehte sich Vierjahresplan hatte dabei vor allem die der Attentäter von Paris wäre ein Mit- nach innen, Nummer Vier nach außen, immensen Kosten der Aufrüstung für glied der jüdischen Verschwörung, die und genauso machten es Fünf, Sechs, den kommenden Krieg im Sinn. das deutsche Volk unterwerfen wollte. Sieben und Acht. (…) Die Kerle mit den

68 Brechstangen schlugen die Fenster al- das Niederbrennen der Synagoge in der waren durchaus miteinander verbun- ler Läden ein, bei denen der Name des Fasanenstraße. Es war einfach Glück, den, ohne dass es einen kausalen Zu- Besitzers außen aufgemalt war, und die dass ich mit dem Mann zusammentraf. sammenhang gegeben hat. Kerle mit den Handschuhen langten Ausschließlich Glück. Ich war auf dem Erstens hinein, nahmen, was immer an Ware im weg nach Hause.“ 1938 war für das Hitlerregime ein außen- Schaufenster lag und warfen es auf die Auch Zeev Rebhun erlebte am Tage politisch sehr erfolgreiches Jahr, ja das Straße. Ich sah kein einziges Mal, dass Schreckliches, Helgard Behrendt hat erfolgreichste seit 1933. Zwanzig Jahre einer von diesen Kerlen irgend etwas un- seine Erinnerungen aufgezeichnet. nach Deutschlands selbstverschuldeter ternahm und in die Tasche steckte oder „Der Pogrom, die sogenannte Kris- Niederlage im 1. Weltkrieg, die mit dem es ins Auto warf. Es war einfach sinn- tallnacht im November 1938. Der Va- Versailler Vertrag manifestiert worden lose Zerstörung. Sobald sie mit diesem ter kommt schon nach wenigen Minu- war, gelangen spektakuläre Gebietser- Gebiet fertig waren, rückten sie gerade ten von seinem täglichen Gang in den weiterungen im Zentrum Europas. Am so weit vor, dass sie die nächste Gruppe Tempel zurück. ‚Sie zünden die Syna- 12. und 13. März 1938 wurde der „An- von Läden auf beiden Seiten beleuchte- gogen an‘, berichtet er entsetzt. Ich schluss“ Österreichs an das „Deutsche ten. Das ging so die ganze Strecke von stand sofort auf, sagt Zeev Rebhun, ich Reich“ vollzogen. Mit dem „Münchener der Friedrichstraße bis zum Potsdamer habe mein Morgengebet gesprochen, Abkommen“ vom 29. September 1938 Platz. (…) gefrühstückt. Inzwischen war es acht besiegelten Großbritannien und Frank- Dann fuhr ich hinaus in den Westen. Uhr, und es wurde hell. Es war halbtrü- reich mit ihrer Unterschrift das Schick- Hier passierte genau das Gleiche, mit be, ein Berliner Novembertag. Ich bin sal der Tschechoslowakei. Wenige Tage einem Unterschied. Die Bars schlossen nicht runtergegangen wie gewöhnlich. später erfolgte der Einmarsch deutscher um 4 Uhr, und es gab jede Menge Frau- Gegenüber das Zigarettengeschäft, die Truppen in das Sudetengebiet. Völker- en, die in den Bars arbeiteten. Ich sah, Bäckerei – alles war zunächst noch ru- rechtswidrig wurde das Staatsgebiet dass einige dieser Mädchen Schmuck hig. Dann, ungefähr gegen neun Uhr, der Tschechoslowakei wesentlich be- und Pelzmäntel stahlen und berichtete hörten wir von weit her das Geräusch. schnitten. Im März 1939 hörte mit der darüber in meinem Artikel. Ich ging in Es war wie das Echo von einem wei- Errichtung desdeutschen Protektorats mein Büro zurück, nachdem ich noch ei- ten Donner. Dort, wo Juden wohnten, Böhmen und Mähren sowie durch die ne weitere Stunde zugesehen hatte, weil warfen sie alles aus den Fenstern, Mö- Konstituierung eines angeblich selb- alles ganz genauso ablief und so weit bel, Geschirr – alles. Die Angst: nicht ständigen Slowakischen Staates die ich sah, war das alles, was passieren um das Geschäft – aber was würden Tschechoslowakei auf zu existieren. würde. Also schloss ich mein Büro ab sie mit den Menschen machen. Und Kein Schuss war gefallen und die Mit- und ging etwas essen, in einem Lokal, dann kam es immer näher. Und da unterzeichner des „Münchener Abkom- wo hohe Nazibeamte, Diplomaten und standen wir alle und wünschten, es mens“ Großbritannien und Frankreich ausländische Journalisten verkehrten. sollte vorbei sein. Ich habe aus dem sahen sich in ihrer Beschwichtigungspo- Es war das einzige Lokal in Berlin, das Fenster gesehen. Es waren nicht viele litik (appeasement) gegenüber Deutsch- die Erlaubnis hatte, die ganze Nacht hin- Leute in der Straße, und ich registrier- land (und außerdem Italien) scheinbar durch zu öffnen. te, dass sie nicht schrieen und die SA- bestätigt – ein fataler Irrtum. Deutsch- Ich aß etwas und wollte gerade nach Leute nicht anfeuerten. Ich bemerkte land hatte in seiner aggressiven Au- Hause gehen, um zu schlafen, als ein auch Bekannte, Nachbarn, die Kinder, ßenpolitik wichtige Siege errungen, die rumänischer Diplomat, den ich flüch- die schon in der Hitlerjugend waren Aufrüstung für den sich abzeichnenden tig kannte, hereinkam und sagte: „Sind und die netten Mädels im BDM. Und Weltkrieg konnte weiter forciert wer- sie draußen in der Fasanenstraße ge- dann plötzlich unsere Portiersfrau. Sie den. wesen?“ Und ich sagte; „Nein, wie- muss da gestanden haben. Jetzt höre Zweitens so?“ Er sagte: „Na, sie fangen an, die ich einen fragen: ‚Wo wohnen die Ju- Schritt für Schritt komplettierte und Synagoge in der Fasanenstraße nie- den hier im Haus?‘ Als Antwort fängt verschärfte das NS-Regime 1937/38 derzubrennen.“ (…) Ich fuhr hinaus zur sie an zu schreien: ‚Was glauben Sie, seinen Katalog judenfeindlicher Maß- Synagoge und dem angrenzenden Ge- hier in meinem Haus wohnen Juden?‘ nahmen. Einige Beispiele: meindehaus in der Fasanenstraße. Sie So hat sie es gesagt, und die haben 16.11.1937: Das Reichsinnenministe- standen in Flammen. Es war eine große das ernst genommen und sind weiter- rium weist an, die Ausgabe von Reise- Anzahl Feuerwehren da, die die angren- gezogen. Und alle, die drumrum wa- pässen an Juden auf wenige Fälle zu be- zenden Häuser und die Autos mit Was- ren, blieben stumm. Wir standen wie schränken. Juden erhalten Pässe nur bei ser bespritzten, aber es wurde keiner- versteinert. Es war eine einfache Frau, Emigration, bei volkswirtschaftlichem lei Anstrengung gemacht, die Synagoge sie hatte so was Berlinisches, die Güte Interesse, bei Erkrankung und Todesfäl- zu retten. Man wollte, dass sie nieder selbst. Zu meiner Mutter hatte sie ei- len von Angehörigen im Ausland, bei ei- brannte. (…) nen guten Kontakt, manchmal kam sie gener Erkrankung sowie bei Besuch von Ich ging wieder nach Hause und hatte zu uns rein. Kindern in ausländischen Erziehungsan- Schwierigkeiten, die Story loszuwerden, Das sich heute hier stehe, sagt Zeev stalten. denn das Pariser Büro hatte geschlos- Rebhun, verdanke ich auch zwei guten 26. 4.1938: Mit der „Verordnung über sen, und nach New York kam ich nicht Menschen. die Anmeldepflicht jüdischen Vermö- durch. Schließlich kam ich nach London Zwei halfen, Millionen sahen weg.“ 22 gens“ wird das jüdische Eigentum im durch. Mein Bericht war die Spitzenmel- ganzen Reich einer staatlichen Kon- dung in der Ausgabe vom selben Tag in Vorgeschichte: trolle unterstellt. Juden müssen ihr ge- New York. Das war das einzige Mal in Das dramatische Jahr 1938 samtes in- und ausländisches Vermö- meiner journalistischen Laufbahn, dass Zwei Ereignisketten im Jahre 1938 gen registrieren lassen, wenn der Wert ich eine Weltnachricht, einen „Knüller“ prägten für Deutschland das politische 5.000 RM übersteigt. Ausgenommen hatte. Niemand sonst auf der Welt hatte Geschehen in besonderer Weise. Sie von diesem Meldezwang sind nur der

69 Hausrat und die persönlichen Gegen- Der Novemberpogrom stieß jedoch auf Novemberereignisse von 1938 zu tief- stände der Betroffenen. Alle Rechtsge- große Ablehnung – und dies aus ganz greifenden Kontroversen in der Füh- schäfte mit Juden wie zum Beispiel Ver- unterschiedlicher Motivation: Gottes- rungsriege des NS-Staates, nament- kauf, Verpachtung oder Neueröffnung häuser zu schänden, egal welcher Reli- lich zwischen Goebbels und Göring, von Gewerbebetrieben unterliegen nun gion, „das gehört sich nicht“, meinten führten. Beider Ansichten unterschie- einer Genehmigungspflicht. Diese Be- nicht wenige „Volksgenossen“. Diese den sich nur in Nuancen und hinsicht- stimmungen bezwecken sofortige Ge- plötzliche Brutalität gegenüber Men- lich der konkreten Vorgehensweise. Sie werbe- und Kapitalbeschränkungen und schen, die einfach nur Nachbarn wa- waren darin einig, dass die Opfer zur bereiten das spätere Gewerbeverbot so- ren, entsetzte und wurde als inhuman Schadensbegleichung massiv herange- wie die Enteignung vor. abgelehnt. Und dann war da noch die zogen werden sollten. Sicher ist auch, 13.–19. Juni 1938: Aktion zur Unterbrin- sinnlose Zerstörung so vieler materiel- dass Hitler den Pogrom zumindest still- gung arbeitsfähiger „Asozialer“ in KZs. ler Werte. Solches Handeln widersprach schweigend billigte. Darunter befanden sich weit über 2.500 der Sparsamkeit der „kleinen Leute“, Entsetzt über den Ausbruch zügelloser Juden, die wegen einer mehr als einmo- die mit ihrem Einkommen keine großen Gewalt und so noch nicht in der Öffent- natigen Gefängnisstrafe als vorbestraft Sprünge machen konnten. Diese Hand- lichkeit gesehenen Terrors zeigten sich galten. Ziel war bei Juden die Ausreise- lungen stimmte zudem mit erklärten auch in Deutschland akkreditierte Di- erzwingung, sobald Angehörige ein Vi- Grundsätzen nationalsozialistischer Po- plomaten. Wie Hermann Simon recher- sum beschafft hatten. litik, die immer wieder zu hören waren, chiert hat 24 , berichteten viele über das 17. Juni 1938: In Berlin Kennzeichnung nicht überein. Schließlich wurde von der Erlebte in ihre Heimatländer. Einzelne, bzw. Zwangskennzeichnung jüdischer viel beschworenen „Volksgemeinschaft“ die sich direkt im Auswärtigen Amt be- Geschäfte mit dem Namen des Inhabers ohne Ansehen der Person Opferbereit- schwerten, wurden auf wenig diploma- (in weißen Buchstaben in Augenhöhe schaft und Einsatzwille erwartet. Ei- tische Weise abgefertigt. Man verbitte am Ladeneingang). Am Nachmittag (es ne Aussicht auf materiellen Belohnung sich jede Einmischung in innere Ange- ist ein Sonnabend) werden unter ande- wurde dabei nicht in Aussicht gestellt. legenheiten Deutschlands und behalte rem am Kurfürstendamm und am Alex- sich offizielle Schritte gegen Kritiker anderplatz jüdische Geschäfte von Na- Der Gestapo-Spitzel Kurt Bergmann und deren Botschaften vor. Dennoch zis in Zivil mit roter Farbe beschmiert. (Deckname), tätig im Dortmund-Hörder- agierte das NS-Regime auch in die- 5.10.1938: Mit der „Verordnung über Rei- Hüttenverein, berichtet am 24. Novem- sem Falle eher vorsichtig. Das Bild vom sepässe von Juden“ werden alle Reise- ber 1938 seiner Dienststelle: friedliebenden deutschen Staat sollte pässe jüdischer Deutscher ungültig. Sie „Die Aktion gegen die Juden wurde von im Ausland nicht getrübt werden. Terror müssen bei der zuständigen Passbehör- den vielen Arbeitern, mit denen ich dar- und Brutalität des Pogroms wurden als de innerhalb von zwei Wochen abgege- über sprach, nicht gutgeheißen! ‚Ara- Handlungen einzelner bagatellisiert. ben werden. Die Reisepässe mit Geltung ber sind Freiwild‘, schrieb in der vergan- Die politischen Gegner des Nationalso- für das Ausland werden nur dann wieder genen Woche die Landeszeitung. – ‚Und zialismus, namentlich KPD und SPD so- gültig, wenn sie mit einem gestempelten was sind die Juden in Deutschland?‘ wie zahlreiche ins Exil gejagte und aus „J“ versehen sind, das den Inhaber ein- höhnte man. Man spricht abfällig über Deutschland ausgebürgte Intellektuel- deutig als Juden kennzeichnet. die SA und SS und viele Arbeiter – auch le, verurteilten den Novemberpogrom Nach d em Durchleben all dieser Ein- jüngere Leute – sprachen wörtlich: ‚Die außerordentlich scharf und in seltener griffe in das persönliche Leben und Juden hätten den ersten besten Lum- Übereinstimmung. schließlich nach dem Novemberpog- pen über den Haufen schießen müssen. Die Kommunistische Partei Deutsch- rom erkannten immer mehr Juden in Zu verlieren haben sie ja doch nichts lands gab anlässlich des November- Deutschland, dass es höchste Zeit war, mehr!‘“ 23 pogroms eine Sonderausgabe ihres ille- die Flucht zu ergreifen. Der reichsweite Novemberpogrom 1938 gal erscheinenden Zentralorgans „Rote war ein Ereignis, das als Bestandteil der Fahne“ heraus. 25 Resonanz und Folgen langfristig angelegten Staats- und Par- In der Erklärung des ZK der KPD „Ge- Der Novemberpogrom 1938 war alles teipolitik angesehen werden kann. Es gen die Schmach der Judenpogrome!“ andere als ein „spontanes Überkochen bedurfte keines zentralen Plans, um vor wurden die Pogrome scharf kritisiert. der Volksseele“. Seit dem 30. Januar Ort zu handeln. Im Unterschied zum an- Die KPD hielt solches Vorgehen für un- 1933 war die Bevölkerung systematisch tijüdischen Boykott am 1. April 1933, vereinbar mit den Traditionen der deut- daran gewöhnt worden, dass Juden in wo eine von Julius Streicher eigens ge- schen Arbeiterklasse und dem geistigen Deutschland keine gleichberechtigten gründete zentrale Leitstelle von Mün- Erbe deutscher Dichter und dem geis- Bürger mehr waren. Judenfeindschaft chen aus die Aktion steuerte und dazu tigen Denker seit den Zeiten der Auf- bestimmte durch permanente Propa- eine ganze Anzahl verbindlicher Wei- klärung. Die Behauptung vom angeb- ganda sowie eine Flut neuer Erlasse sungen herausgab, die im „Völkischen lich spontan ausgebrochenen Volkszorn und Verordnungen das Alltagsleben we- Beobachter“ veröffentlicht worden wa- wurde zurückgewiesen, ebenso die Be- sentlich mit. Dahinter konnte man sich ren, verhielt es sich im November 1938 hauptung, „die Juden“ seien schuld an bequem verstecken, alles schien nach anders. der sozialen Lage von Arbeitern, Bauern „Recht und Gesetz“ zuzugehen. Nur Keine zentralen Direktiven – weder von und Mittelstand. Die Führer der NSDAP wenige Menschen zeigten sich mit Ju- Goebbels oder gar von Hitler unter- wurden als jene Rädelsführer bezeich- den solidarisch, unterstützten sie heim- schrieben – lagen dem Novemberpog- net, die im Interesse der Konzerne und lich, einige wenige sogar ganz offen. rom zu Grunde. Gleichwohl wähnten ihrer wirtschaftlichen Interessen und Zugleich beteiligten sich immer mehr sich die Anführer vor Ort durch den Expansionsabsichten handelten. Ge- Menschen an Aktionen zur Entrechtung Trend der allgemeinen Politik gedeckt, würdigt wurde, dass Menschen aus al- und Enteignung von Juden – auch zum ja ermuntert. len Klassen und Schichten Juden in ih- eigenen Vorteil. Zu den Legenden gehört auch, dass die rer Bedrängnis solidarisch beistanden.

70 Es wurde die Überzeugung ausgespro- nerhalb der Nazi-Propaganda wird dar- werden. Hier hat der Nazibürgermeister chen, dass erst mit der völligen Zer- an appelliert, dass die tätige Solidarität von Gailingen eingegriffen. Er hat den schlagung des NS-Regimes auch dem mit den Juden, beginnend im Klassen- SS-Leuten klargemacht, dass nur noch Terror gegen Juden jeder Boden entzo- zimmer, mehr Mut erfordere als das wenige alte Leute im Spital und Alters- gen werden würde. An alle anderen po- stillschweigende Dulden der Ausgren- heim wären und dass darum in einigen litischen Kräfte wurde appelliert, im an- zung von Menschen, die gestern noch Jahren dieses schöne Gebäude doch in tifaschistischen Kampf zusammen zu „normale“ Nachbarn gewesen waren. das Eigentum der Gemeinde komme. wirken. Es wird die Erwartung ausgesprochen, Daraufhin wurde von der Zerstörung Ab- In Artikeln von Wilhelm Pieck, Walter dass sich junge Menschen auch nach stand genommen. Ulbricht und Franz Dahlem wurde die der Schulzeit ihr „natürliches Gerech- In Konstanz wurden die Straßen um die Grundargumentation der Erklärung nä- tigkeitsgefühl“ bewahren mögen. Durch Synagoge herum vor der Zerstörung ab- her erläutert. solche Grundhaltung werde man wirk- gesperrt. Der Brand brach aber lange Wilhelm Pieck verwies unter anderem lich zu einem Helden werden. In einem nicht aus und die Leute sagten: ‚Das ers- auf die Mitverantwortung englischer abschließenden Artikel wurde das in- te Mal hat eine Nazibrandlegung nicht und französischer Politiker, die mit dem ternationale Echo auf den Pogrom do- geklappt.‘ Als später die Feuerwehr ein- „Münchner Abkommen“ die Tschecho- kumentiert. Führende Politiker, wie zum traf, wäre die Synagoge mit der größten slowakei ihrem Schicksal überlassen Beispiel der Präsident der USA Franklin Leichtigkeit noch zu retten gewesen, und die Hitler-Regierung zur Fortsetzung D. Roosevelt, wurden ebenso zitiert wie aber die Feuerwehr richtete das Was- ihres aggressiven Expansionskurses er- Äußerungen kirchlicher Würdenträger ser nicht etwa auf die Synagoge, son- muntert hatten. Wilhelm Pieck betonte: und Artikel in renommierten Zeitungen. dern nur auf die umliegenden Gebäude. „Der Hitlerfaschismus wendet sich mit Auch die Exilleitung der SPD verfolgte Die Synagoge konnte ruhig weiter bren- seinem grausamen Terror gegen die jü- den Pogrom genau und verurteilte ihn. nen. Sie war aber massiv gebaut und dische Bevölkerung, weil sie unter den Aus dem Deutschlandbericht der So- brannte darum nicht richtig ab. Dafür werktätigen Massen klassenmäßig der zialdemokratischen Partei Deutsch- brach dann in einigen Tagen nochmals schwächere Teile ist, den sie entweder lands (Sopade) vom 5. Dezember 1938 ein Brand aus, der so ‚schwer‘ war, dass vollständig aus dem Lande vertreiben zum Verlauf des Novemberpogroms in er nicht gelöscht werden konnte und so oder physisch vernichten zu können Südwestdeutschland und Berlin sei fol- das Gebäude endlich abbruchreif wur- glaubt. Die besonders gegen die Juden gendes Zitat wiedergegeben 26 : „In Ra- de. Die Leute lachen, wenn jemand be- gerichtete Rassentheorie von der Über- dolfzell am Bodensee befindet sich ka- hauptet, diese Zerstörungen seien ein legenheit der arischen Rasse ist die der sernierte SS. Sehr zum Verdruss der ‚Ausdruck des Volkszorns‘.(…) imperialistischen Raubpolitik angepass- dortigen Bevölkerung, die den SS-Leu- Berlin: An den Plünderungen in der Kö- te Ideologie und dient sowohl der Ver- ten wegen ihrer Rotznäsigkeit überall nigstraße in der Nähe des Rathauses be- hetzung der einzelnen Volksteile gegen- aus dem Wege geht. Diese SS in Ra- teiligte sich auch ein 13jähriger Hitler- einander als auch der chauvinistischen dolfzell hat nun im ganzen Bodensee- Junge in Uniform. Er wurde von einer Aufpeitschung des Volkes zum Krieg.“ gebiet die Zerstörungen befehlsmäßig vorübergehenden Frau aufgefordert, In Walter Ulbrichts Beitrag wird der „ab- durchführen müssen. Sie wurde in der die entwendeten Sachen wieder zurück scheuliche Sadismus“ der Pogromtäter Nacht vom Donnerstag zum Freitag ab- zu legen oder sie abzuliefern. Darauf- angeprangert. Als ein Motiv für den Pog- teilungsweise in Lastwagen verladen, hin gab er zur Antwort: ‚Sie haben mir rom wurde genannt, dass so vom „Mas- um gemäß den erhaltenen Befehlen die gar nichts zu sagen. Ich bin im Dienst!‘ senhass gegen die Kriegswirtschaft und Synagogen in Gailingen, Randegg, Wan- Als die Frau ihm weitere Vorhaltungen gegen die Rüstungsgewinnler abgelenkt gen und Konstanz zu zerstören. Hierzu machte, holte der HJ-Junge einen SA- werden“ sollte. Im Beitrag von Franz wird aus den einzelnen Orten berichtet: Mann zu seinem Schutz herbei, der die Dahlem wird die Erwartung ausgespro- In Wangen wurden die Juden aus dem Frau aufforderte, sofort weiter zu gehen chen, dass nun der Zusammenschluss Schlaf geholt, auf der Straße zusammen- und jede Bemerkung zu unterlassen, „in der Einheitsfront und Volksfront sich getrieben und misshandelt. Unter ihnen sonst würde sie verhaftet werden. in der Arbeiterschaft und in den Mittel- befand sich auch der in der dortigen Ge- Nach allem, was man erfahren hat, ist schichten Bahn bricht“. gend überall beliebte jüdische Arzt Dr. aus Anlass der Aktion sehr viel gestoh- In einem weiteren Beitrag unter der Wolf, Inhaber des Eisernen Kreuzes 1. len worden. So hat man z. B. besonders Überschrift „Wie sich der Abscheu und Klasse. Nach den Misshandlungen wur- in den Nebenstraßen des Kurfürsten- die Abscheu des Volkes äußerten“ wer- den die Juden abtransportiert. damms, in den Schuhgeschäften viel ge- den Beispiele aus verschiedenen Or- In Gailingen an der Schweizer Grenze klaut. Zunächst hat man die Schuhe und ten vorgestellt, die belegen, dass der wurde die Synagoge zum Einsturz ge- die Schuhkartons in hohem Bogen auf Pogrom unter der Bevölkerung auf Ab- bracht. Sie sollte zunächst auch abge- die Straße geworfen, so dass sie bis auf lehnung stieß. Unter der Überschrift brannt werden, aber sie stand so, dass den Fahrdamm fielen und die Autos dar- „Der Jude ist schuld! – Nein, Hitler ist die benachbarten Häuser zu stark ge- über hinweg fuhren. Dann aber hat man schuld!“ wird daran erinnert, dass das fährdet worden wären. Da es also mit ergriffen, was man greifen konnte und Schüren antisemitischer Vorurteile ei- Feuer nicht ging, sprengte man sie mit manche Leute sind mit fünf bis sechs ne lange Tradition in der europäischen Ekrasit, das die abkommandierte SS aus Schuhkartons unter dem Arm abgezo- Geschichte hatte. Namentlich wird auf Radolfzell vorsorglich mitgebracht hat- gen. Auch in einem Geschäft, das Wie- Frankreich in den 70er Jahren des 19. te. Ebenso wurden an diesem Orte auf ner Moden, vor allem Strickkleider verk- Jahrhunderts erinnert sowie an das En- dem israelitischen Friedhof die schöns- aufte, haben 20- bis 30jährige Mädchen de der Zarenherrschaft im Jahre 1917. ten Grabdenkmäler mittels SS-Ekrasit verschiedener Herkunft an sich gerissen, Ein spezieller Beitrag richtet sich an die in die Luft gesprengt. Das israelitische was sie konnten und manche haben sich „deutsche Jugend“. In direkter Ausein- Landesspital und jüdische Altersheim mit drei bis vier Kleidern aus dem Staube andersetzung mit dem Heldenkult in- sollte ebenfalls zum Einsturz gebracht gemacht. Polizei war nicht in der Nähe.

71 In einem Konfitürengeschäft in der Sogar Mr. Chamberlain wirkt etwas stapo vielleicht zum Schweigen brin- Kleiststraße wurde viel Ware zertre- verstört. Eine Welle des Protestes rollt gen – auslöschen werden sie ihn nicht. ten, aber auch sehr viel entwendet. Aus durch die zivilisierte Welt. Eines ist völ- Es gibt in Deutschland immer noch mo- einem Photogeschäft wurden Filme und lig klar: diesmal ist Herr Hitler, der nach ralische und politische Kräfte, die stark Apparate, zum Teil sehr teuere, mitge- seinen neuen Erfolgen immer unver- genug, mächtig genug sind, ein neues nommen. Hier erschien eine Polizei- schämter wird, entschieden zu weit ge- Deutschland zu schaffen – nach dem abteilung unter Führung eines Polizei- gangen. Die Welt von heute ist an viele Sturz Hitlers. leutnants, die den Laden durch einen Schandtaten gewöhnt. Doch was jetzt ‚Nach dem Sturz Hitlers – das Chaos!‘ Kordon absperrte, hinter dem dann das in Deutschland passiert ist, mutet sogar Diese Goebbels-Parole wurde millionen- Werk der Zerstörung vollendet wurde. in unserer Zeit nicht allzu großer Sensi- fach wiederholt – und verblüffenderwei- Aber auch hier gab sich die Polizei nicht bilität zu stark an. Jeder, der noch einen se hat die Welt sie geglaubt. die Mühe, die Leute, die Sachen ent- gewissen Sinn für Menschenwürde sein Ich bin sicher, dass Hitler, als er sei- wendet hatten, zu verfolgen. eigen nennt, ist zutiefst angewidert. nen Freund Chamberlain sah – denn In einem kleinen Charlottenburger Deutscher zu sein oder von Deutschen schließlich ist dieser ja sein Freund – Schreibwarengeschäft hatte sich die abzustammen, ist fast eine Schande ge- , sagte: ‚Natürlich könnten Sie mich SA darauf beschränkt, die Schaufens- worden. zu Fall bringen – aber wissen Sie, was ter und die Einrichtung zu zerschla- Ich sage ‚fast‘, weil ich betonen will, nach mir kommen würde? Der Bolsche- gen. Kurze Zeit darauf kamen Scharen dass nicht alle Deutschen für diese un- wismus! Das Chaos!‘ von Jungen und Mädels und entwende- aussprechlichen Gräuel verantwortlich ‚Nach dem Sturz Hitlers – das Chaos!‘ – ten Schreibhefte, Bücher, Zeichenmap- sind und nicht alle unsere Landsleute aber warum? pen, Bleistifte usw. Eine Dame, die vor- das verbrecherische Vorgehen Hitlers, Es ist durchaus nicht meine Absicht, das beiging, stellte die Kinder zur Rede und Goebbels‘ und Streichers billigen. Viele deutsche Volk zu verteidigen, denn ich hielt ihnen vor, dass das Diebstahl sei. von ihnen sind zutiefst angewidert – weiß, dass es in vieler Hinsicht schuldig Darauf antworteten die Kinder: ‚Unser nicht minder als jeder amerikanische ist. Aber ist es dieser Nation gegenü- Vater hat gesagt, das ist kein Diebstahl, oder britische Bürger. Und ich rede nicht ber nicht irgendwie beleidigend zu glau- die Juden haben uns das ja alles auch nur von den Deutschen, die im Ausland ben, sie verfüge über keine konstrukti- vorher weggenommen.‘ leben, sei es hier oder woanders. Ich ven Kräfte, um einen neuen Staat, eine Im Norden Berlins sind mir dagegen kei- weiß, dass sich viele Deutsche inner- bessere Ordnung zu schaffen, wenn die- ne Diebstähle bekannt geworden. Aber halb des Reichs genauso schämen, dass ser Staat des Bösen mit seiner falschen auch hier ist die Zerstörung ganz sys- sie genauso entsetzt sind. In Deutsch- Ordnung endlich verschwunden ist? tematisch und gründlich durchgeführt land müssen sie schweigen; doch schon Nach dem Sturz Hitlers- die bessere worden. Man konnte beobachten, dass dieses Schweigen war der Naziführung Ordnung! Die deutsche Republik – ei- man die kleinen Geschäfte besonders irgendwie peinlich. Schweigen vieler, un- ne wahrhaft demokratische – nach dem schlimm zugerichtet hatte. In einem zähliger Deutscher, welches Goebbels Sturz Hitlers! kleinen Uhrmacherladen wurde jeder zu der Einsicht brachte, dass die Mehr- Die wahrhafte Toleranz aller Nationen, kleinste Gegenstand zerstört, so dass heit des deutschen Volkes diese Art von aller Rassen, allen Religionen gegenü- nichts im Laden ganz blieb. Zum Teil Gräueln nicht billigte, und nicht wollte. ber; ein ehrenvoller Frieden; ein Frieden wurden auch die anschließenden Woh- Ich bin selbst Deutscher und gehöre ei- für unsere Zeit und die Zeiten unserer nungen zerschlagen. ner alten deutschen Familie an, die für Kinder und Enkelkinder – nach dem Am wildesten hat man offenbar in Char- das wahre Deutschland wesentlich ty- Sturze Hitlers!“ lottenburg, Wilmersdorf und Friedenau pischer ist als bestimmte Leute, die Auch der im amerikanischen Exil leben- gehaust. Im allgemeinen ist festzustellen, kaum wissen, wie man deutsch spricht de Stefan Heym meldete sich zu Wort. dass die Etagengeschäfte weniger be- oder schreibt. Die deutsche Traditi- Unter der Überschrift „Pogrome und troffen wurden als die Ladengeschäfte. on der Familie Mann ist reiner und äl- Terror regieren Deutschland“ erschien Auch Wohnungen hat man offenbar in ter als die deutsche Tradition des Herrn der folgende Zeitungsartikel 28 : Berlin nicht in größerer Zahl zertrüm- Schicklgruber-Hitler aus Braunau in Ös- „Ein Pistolenschuss wurde von den Na- mert. Es ist allerdings wiederholt vorge- terreich. Wir sind angewidert von den zis als Auslöser für einen der schlimms- kommen, dass bei den Verhaftungen von Gräueln der Nazis, und unsere Vorfah- ten Pogrome der Geschichte benutzt – Juden auch die Wohnungseinrichtungen ren, jene würdigen Patrizier der Freien schlimmer als die Pogrome gegen die schwer beschädigt wurden.“ Hansestadt Lübeck, wären es auch ge- Juden unter dem Zaren – schlimmer Der Schriftsteller Klaus Mann nahm in wesen. Und ich weiß, dass Tausende, und systematischer noch als die Ver- einer Ansprache zu dem Ereignis Stel- Millionen von deutschen Familien – in- folgungen unter der Inquisition in Spa- lung 27 : „ Nur wenige Wochen nach dem nerhalb des Reiches und im Ausland – nien … Doch geschah dies gegen den Münchner Abkommen, diesem ‚ehren- genauso fühlen und denken wie wir. Willen der Mehrheit des Volkes. Über- vollen Frieden‘, diesem sonderbaren Wenn ich hier meine eigenen Gefühle all in Deutschland standen die Men- ‚Frieden für unsere Zeit‘, zeigen die Na- ausspreche, die Gefühle meines Vaters, schen schweigend und entsetzt. Ihr zis der Welt wieder einmal ihr wahres die Gefühle meiner Geschwister und Schweigen war ein sehr hörbarer Pro- Gesicht – und es ist ganz und gar ekel- Freunde, spreche ich für jene Tausende test … Jetzt sollen die Juden in Ghettos erregend. Selbst die britischen Konser- und Millionen von deutschen Familien, gesperrt werden, um dort allmählich vativen, die vorher so erpicht darauf spreche ich für das ‚andere Deutsch- zugrunde zu gehen, zum sadistischen waren, sich mit Herrn Hitler zu verständi- land‘. Ich weiß, dass es existiert. Vergnügen der Nazi-Herren, und ihnen gen, sind über die jüngsten Gräueltaten Hitler ist nicht Deutschland. Es gibt ei- leicht verfügbar für neue Schändlich- der Nazis – über diese unmenschliche, nen Widerstand gegen ihn in unserem keiten … Aber warum hat die Nazi-Re- unchristliche Verfolgung rassischer und Land und unter den Deutschen im Aus- gierung ihre brutalen Schläger gera- religiöser Minderheiten – schockiert. land; die Nazis können ihn mit ihrer Ge- de jetzt losgelassen? Dieser Terror ist

72 die direkte Folge des Verrats von Mün- dem deutschen Volke zu helfen, De- Moabit (Denkmal zur Erinnerung an chen. Die Nazis waren sich klar darü- mokratie, Kultur und Menschlichkeit in den früheren Standort einer Synagoge, ber, dass die Weltöffentlichkeit auf- unsere alte Heimat zurückzubringen.“ die zum Sammellager für die Deporta- schreien würde. Aber sie wissen, dass tion wurde) und im Jüdischen Kranken- Chamberlain und Daladier nicht pro- Zum Gedanken an den 9. November haus im Wedding. An den Gedenkorten testieren werden, sie spüren, dass 1938 in Deutschland in der Gegenwart in Wedding und Moabit tragen Schüler sie sich alles leisten können, solange Gedenken und Erinnern Texte zur Auseinandersetzung mit den sie die Unterstützung der Reaktion in Siebzig Jahre nach dem Novemberpog- Verbrechen an den Juden vor. Anschlie- Frankreich und England, und in den rom 1938 spiegelt der Umgang mit die- ßend setzen sich zwei Gedenkmärsche USA, genießen … Deutschland wurde sem Geschehen anschaulich den Rang in Bewegung, die sich an der Putlitzbrü- erniedrigt durch Hitler. Nur der Sturz von Vergangenem in der Gegenwart der cke treffen, wo sich ein Mahnmal für die des blutigen Hitler-Regimes kann die- Gesellschaft. ermordeten Berliner Juden befindet. se Schande wegwaschen. Das Regime Ein Blick in viele Regionalzeitungen be- Veranstaltungsreihen zur jüdischen Ge- ist reif zum Sturz. Aber wie wollen die stätigt im Jahre 2008, dass folgende bit- schichte im Heimatort, organisiert von Deutschen es stürzen, wenn immer teres Urteil einer in Berlin lebenden Jü- Nichtjuden und Juden, finden vielerorts wieder im entscheidenden Moment din nicht mehr zutrifft: Juden gibt es in regen Zuspruch. Überlebenden des Ho- Leute wie Chamberlain auftreten und Berlin im Jahr nur zweimal, im Februar locaust wird von jungen Leuten, entge- Hitler stützen…? Der Pogrom gegen (Gedenken an die „Fabrikaktion) und im gen allen Vorurteilen über deren Des- die Juden ist ein Stück Krieg so wie die November (Erinnern an den Pogrom). interesse und Geschichtsmüdigkeit, Bomben auf unschuldige spanische In Krefeld wurde kürzlich eine neu er- größte Aufmerksamkeit und Respekt oder chinesische Kinder … Der ameri- richtet Synagoge feierlich eingeweiht. entgegengebracht. kanische Präsident hat das Recht, nicht „Stolperstein“-Projekte in vielen Orten Andererseits prägen auch heute antise- nur ein Embargo zu verhängen gegen Deutschlands, zuerst im Westen, seit mitische Vorurteile, Einstellungen und die Nazis, sondern überhaupt alle Han- Jahren nun auch im Osten, vereinen Taten das Bild von der deutschen Gesell- delsbeziehungen zu ihnen abzubre- Menschen verschiedener Generationen schaft mit. Träger solcher Meinungen chen. Theodore Roosevelt, der große bei Recherchen über die Biografie von und Handelnde kommen aus allen Ge- Vorgänger Franklin Delano Roosevelts, Juden, die einmal Nachbarn gewesen nerationen, üben die unterschiedlichs- tat dies im Falle des zaristischen Rus- waren. Im brandenburgischen Fürsten- ten Berufe aus und haben verschiedene slands, nachdem dessen Behörden walde haben die Nachforschungen bis- Weltanschauungen. ein Pogrom gegen die jüdische Bevöl- her Kenntnisse über den Lebensweg „Im statistischen Schnitt wird in der kerung der Stadt Kischinew angeord- von mehr als 170 jüdischen Frauen Bundesrepublik Woche für Woche ein net hatten. Diesmal handelt es sich Männern, und Kindern erbracht. jüdischer Friedhof geschändet. Soziolo- nicht nur um eine Stadt, sondern um Im bayerischen Rothenburg ob der Tau- gische Untersuchungen belegen: Mehr ein ganzes Land. Wir Deutschamerika- ber fanden Wochen vor dem Pogrom am als ein Drittel der Deutschen ist latent ner fordern eine solche Maßnahme im 22. Oktober 1938 unter großer Beteili- antisemitisch eingestellt – im Westen Interesse des Landes unserer Geburt. gung der Bevölkerung und der Schulen der Republik übrigens mehr als im Os- Wir kennen und lieben dieses Land wie „Freudenfeiern“ statt: Die letzten in der ten. Das ist der aktuelle Befund. Antise- unsere Mutter. Aber unsere Mutter be- Stadt noch lebenden Juden waren ver- mitismus ist aber keine politische Kritik. findet sich in den Händen sadistischer trieben worden. Es ist nur konsequent, Antisemitismus ist eine menschenver- Irrer, die sie quälen. Das Nazi-Regime dass es in dieser Stadt zur Tradition ge- achtende Ideologie.“ kann nicht als eine deutsche Regierung worden ist, die Gedenkveranstaltung Begegnen kann man dem Antisemitis- betrachtet werden, ebenso wenig wie zum Novemberpogrom schon für den mus nur durch beharrliche Aufklärung, Al Capone, übernähme er das Weiße 22. Oktober geplant ist … 29 Wissensvermittlung und striktes, sofor- Haus, als legitime Regierung der USA In Berlin-Mitte wird jährlich im Novem- tiges Einschreiten, wo immer es antise- gelten könnte. Mord ist Mord, Gangs- ber gleich an drei Orten an früheres mitische Vorkommnisse gibt. ter sind Gangster. Wir Deutschameri- jüdisches Leben und an den Pogrom Hoffnungsvoll stimmt, dass sich 2008 kaner beugen unser Haupt in Scham, erinnert: im Tiergarten (Gedenktafel mehr Menschen als in den Jahren zu- dass Mörder und Gangster heute in Sigismund Hof, Erinnerung an eine jü- vor erinnern und gedenken wollen, den Berlin herrschen. Wir werden unser dische Schule und den Sitz der Isra- 70. Jahrestag des Novemberpogroms in Bestes tun, um die Demokratie in un- elischen Synagogengemeinde) in der Deutschland zur sie selbst betreffenden serm neuen Lande zu verteidigen und Levetzowstraße- Ecke Jagowstraße in Angelegenheit machen.

73 ANHANG

Weitere Erinnerungen an den seid alle Lügner! Ihr wollt uns vernich- Opa sagte nichts; sein lebenslanges Ver- Novemberpogrom 1938 ten. Wenn Sie schon dabei sind, warum trauen und auch sein Bild vom „Rechts- Der damals 17 jährige Robert Gold- nehmen Sie ihn nicht auch gleich mit?“ staat“ mußte zumindest erschüttert, mann über die Erlebnisse seiner Fa- schrie sie, auf mich deutend. wenn nicht zerbrochen sein. milie während der Reichspogrom- Ich fühlte mich in die Höhle des Löwen Aber warum war Roeth so geduldig? nacht am 9. und 10. November 1938 geworfen und wartete nun darauf, ver- Was konnte an dem Tag des allgemei- in Frankfurt am Main. 31 speist zu werden. Aber ich traute mich nen „spontanen Volkszorn“ nur hinter Wir hatten am 9. November den ganzen nicht, auch nur ein einziges Wort von seiner scheinbaren Besorgnis stecken? Tag über am Radio und am Telephon ver- mir zu geben. Ich war wie betäubt, vol- Es herrschte Kälte im Zimmer und in un- bracht, als die Nazis in großem Stil ihre ler Angst und ohne den festen Grund, seren Gedanken und Gefühlen. Nichts Warnungen vor dem spontanen Volks- auf dem ich bis dahin so solide und zu- schien mehr etwas zu bedeuten. Ges- zorn“, der sich als Folge des Mordes verlässig gestanden hatte. Hier standen tern nach war meine Mutter damit be- an vom Rath über ganz Deutschland wir nun, in unseren Schlafanzügen und schäftigt, alles sauber und ordentlich ergoß, verbreiteten. Die vertraute anti- Schlafröcken, mit den bis auf den Boden zu halten. Was machte das noch aus? semitische Rhetorik lief zu ihrer Hoch- heruntergebrannten Synagogen. Mein Würde Papi nach Buchenwald gebracht, form auf, erreichte den Gipfel widerwär- Vater machte sich fertig, um einem un- Gerüchten zufolge ein Konzentrations- tigster Schimpfreden. „Der Stürmer“ bekannten und wahrscheinlich fürchter- lager, in das die jüdischen Männer ge- schwang überall in der Luft. Und wir lichen Schicksal entgegenzugehen. Mei- schickt werden sollten? Was würden sie hatten Angst. Der Brand aller über das ne Mutter beschimpfte die Menschen, dort mit ihm machen? Würden sie auch ganze Land verteilten Synagogen war die unbegrenzte Macht über uns hatten, mich abholen? Wenn ich nach Buchen- vorhergesagt worden. Der „spontane gegen die man sich nicht wehren oder wald käme, würde ich ihn finden, damit Volkszorn“ war bloß ein anderes Wort auflehnen konnte. wir wenigstens zusammen waren und für „angeordnet“. Am Abend sahen wir Mein Vater hörte Mutters Schimpftira- uns gegenseitig helfen konnten? den glutroten Schein über der nahege- de – wie hätte er sie auch überhören Wir hatten nicht viel Zeit, um uns mit legenen Synagoge in der Friedberger können – und kam, angezogen und mit diesen quälenden Gedanken zu beschäf- Anlage, der den grauen Herbsthimmel seinem Mantel bekleidet, an die Tür. Er tigen. Ein Knall vor der Haustür ließ uns erleuchtete. Wir wußten, daß unsere legte meiner Mutter nahe, mich ins Bett zusammenfahren. Ein Haufen von 15 bis Synagoge am Börneplatz, wie alle ande- zu bringen, da er letzte Nacht eine er- 20 brutalen Kerlen brüllte antisemitische ren, ebenfalls brannte. Wir fühlten uns höhte Temperatur bei mir gemessen Parolen: „Saujuden, verdammte Aussau- schutzlos und waren es. Zum ersten Mal habe und davon ausgehe, daß ich eine ger, jetzt kriegt ihr, was ihr verdient“, stand uns unsere Nacktheit angesichts Grippe bekäme. Ich verstand, was er da- während sie uns in die Küche drängten, der Armee von SA und SS, ausgestattet mit sagen wollte, und Mutti glücklicher- die Tür hinter uns zuknallten und dazu mit raffinierten und schnell feuernden weise auch, trotz ihrer Wut. Mein Vater übergingen, die Möbel im Speisezimmer Waffen, klar und kalt vor Augen. suchte nach einer letzten, wenn auch umzuwerfen. Wir wußten, was sie taten, Polizist in blauer Uniform mit schwarzem wenig hoffnungsvollen Möglichkeit, da wir hörten, wie die große Vitrine fiel Helm. Der Polizist sprach ruhig und höf- mich vor der Gefangennahme zu bewah- und das Glas und Porzellan am Boden lich: „Ich habe den Befehl, Herrn Dr. ren. Roeth stimmte sofort zu, indem er zerschmetterte. Wir hörten das Holz kra- Goldmann auf das Polizeirevier mitzu- sagte, daß meine Mutter gut daran täte, chen, weiteres Geschirr zersprang auf nehmen. Sorgen Sie dafür, daß er sich dem Rat des Arztes zu folgen. Er fügte dem Boden. Und der schrille Klang der bereitmacht.“ In der Zwischenzeit war hinzu, daß er keinen mich betreffenden brechenden Gläser mischte sich mit den mein Vater zu uns getreten und ging wie- Befehl habe. „Wie alt ist Ihr Sohn?“ Schreien „weiter, weiter – dort drüben“ der, um sich wortlos anzuziehen. Auch fragte er. „17“, antwortete Mutter und und ähnlichen Ausrufen, die auf erneute der SS-Mann blieb still. Nur meine Mut- sagte in rasender Wut: „Aber macht Entdeckungen und gegenseitige Anfeue- ter nicht: „Ich weiß, was Sie vor haben das für euch irgendeinen Unterschied?“ rungen schließen ließen. Wir gaben kei- schrie sie den Polizisten an, der sich als „0 nein, Frau Goldmann“, sagte Roeth, nen Laut von uns, waren reglos und emo- Herr Roeth vorgestellt hatte. „Sie wollen „diese Anordnung betrifft nur jüdische tionslos. Was bedeutete uns das noch, meinen Mann in ein Konzentrationsla- Männer ab 18. Also, bitte machen Sie nachdem sie Papi weggebracht hatten. ger stecken!“ Sie brach nun vollkommen sich keine Sorgen wegen Ihrem Sohn, Wir alle würden bald tot sein … was gin- mit ihrem früheren Verhaltensmuster schicken Sie ihn ins Bett, damit er seine gen uns noch die Möbel an? das aus Vorsicht und Besorgnis bestan- Grippe kuriert. Und ich bin ganz sicher, Das waren unsere Gedanken in der Kü- den hatte, das in ihrem und meinem Le- daß Dr. Goldmann bald zurückkommt.“ che; später tauschten wir uns darüber ben so großgeschrieben wurde und das Mein Vater küßte meine Mutter und aus, was wir während der wenigen Minu- jeden Versuch meines Vaters, zu oppo- mich zum Abschied (Opa war in seinem ten der Zerstörung, die uns wie Stunden nieren oder zu emigrieren, rigoros un- Zimmer geblieben), gab meiner Mutter vorkamen, empfunden hatten. Plötzlich terbunden hatte. Sie schlenderte den mit einem Blick und einer Geste zu ver- kehrte Ruhe ein. Die Küchentür öffnete beiden Repräsentanten der Macht an stehen, daß sie sich beruhigen solle, sich, und der Anführer sagte: „Sie kön- der Tür Haß und Beleidigungen entge- und ging mit den Männern fort. Der SS- ne jetz‘ rauskomme, wir sin‘ fertig.“ Wir gen. Als Roeth versuchte, sie zu beru- Mann hatte nicht ein einziges Wort ge- sahen auf ein Meer von Scherben und higen, indem er ihr sagte, daß sein Be- sagt. Wir riefen Opa und berichteten spitzen Glas- und Kristallsplittern. fehl nur laute, meinen Vater auf das ihm, was geschehen war; dann wurde Der Name „Kristallnacht“ war in un- Polizeirevier zu bringen, unterbrach sie ich ins Bett geschickt. Meine Mutter war serem Fall nicht ganz richtig. „Kristall- ihn: „Sie lügen, und das wissen Sie! Ihr vor Erschöpfung ganz still geworden. morgen“ wäre genauer gewesen. Ei-

74 gentlich und fälschlicherweise stand der ohne weiteres in sämtliche Zimmer, wo Herrenzimmer: Der große eingebaute Name für den Brand der Synagogen, der sie wie die Verrückten von einer Ecke in Bücherschrank aus der Wand gerissen, sich in der Tat nachts ereignete, und die die andere liefen. Telefone wurden so- zerschlagen, der Schteibtisch zu Brand- Verhaftung der jüdischen Männer. Das fort abgeschnitten, Radio – meines und holz zerkleinert, Inhalt – ca. 1.100 RM – zerbrochene Glas war nicht das Wich- Helmuts – zertrümmert. Zuerst sah ich nicht mehr auffindbar. Bronce – wie tige, da es sich um wiederherstellbares mir dies an, dann fragte ich vorsichtig, der Sieger und das alte französische und ersetzbares, materielles Gut handel- ironisch, überkorrekt: ‚Verzeihung, was Schreibzeug – unser Stolz – total zer- te. Ich denke seit langem, daß der Name oder wen suchen Sie, vielleicht kann ich schlagen. Gardinen zerrissen. - auch wenn er für ein unwissendes Pu- Ihnen Auskunft geben.‘ Keine Antwort. Speisezimmer: Eckschränke mit dem blikum eindrucksvoller klingt – die tiefe Das blödsinnige Laufen von je 2 Mann wertvollen antiken Porzellan, also mit menschliche und kulturelle Wunde her- in jedem Zimmer hörte nicht auf. gesamtem Inhalt, vernichtet. Tisch um- abminderte, die während dieser Nacht Achselzuckend ergab ich mich, zumal gestülpt. Mit Äxten zerkleinert. Alle 12 und am nächsten Morgen geschlagen Maria Blut schwitzte, vor Angst, ich Stühle unbrauchbar. wurde und die Deutschlands große, le- könnte mal wieder etwas unvorsichtiges Anrichte: Alle Schränke entleert, Inhalt bendige und vertrauensvolle Jüdische sagen. Frau Betty und Lore eng um- zertreten. Garderobe, Waschtisch und Gemeinde – ja im Grunde ganz Deutsch- schlungen, standen zitternd mit Jaco- Spiegel zur Unkenntlichkeit zertrüm- land – getroffen hatte. Die Deutschen ba in meinem Schlafzimmer. Maria und mert, WC ausgerissen aus dem Boden. hatten zu dem Zeitpunkt ihren Führer ich standen oder saßen auf den Sessel- Wasserkasten aus der Wand gerissen, nicht nur akzeptiert, sie verehrten ihn lehnen des Sessels, der an der Schlaf- und im Wasser schwammen unsere Mö- sogar. Aber war das wirklich so einfach? zimmertüre stand. Plötzlich hieß es ‚al- bel, Hüte, Pelze etc. Halle: Hannes Bü- Ist das alles mit dem splitternden Glas le in dieses Zimmer‘ (Schlafzimmer), cherschrank samt Büchern vom Podest und den Möbeln zu Bruch gegangen? Die und nachdem dies geschehen, erschien herunter geworfen, zerschlagen. (…) deutschen Werte „ Dem Wahren, Schö- ein Zivilist und fragte einen SA-Mann: Was wir, während all dies vor sich ging, nen, Guten“ prangten weiter auf dem ‚Ist alles soweit?‘ Als dies bejaht wurde, durchlebten, lässt sich natürlich nicht Frankfurter Opernhaus, und was war schnauzte der Zivilist uns in gröbster Wei- einem Briefe niederschreiben. Wir wa- mit „Faust“, mit seiner kühnen und ver- se an: ‚Ist das die Familie?‘ Als er keine ren einfach gelähmt. Nur Jacoba hatte trauensvollen Wette im Hinblick auf den Antwort erhielt, stellte er die Frage noch den einzigst richtigen Gedanken: Rolla- menschlichen Anstand? Die Ideale der einmal. Ich sagte: ‚Familie? Ich bin al- den hoch, damit wir evtl. in den Garten Emanzipation, hergeleitet von der Fran- lein stehend, dies ist meine Freundin mit fliehen können. zösischen Revolution und ihren deut- Tochter und dies sind meine Hausgehil- Wie lange die Prozedur dauerte, weiß schen Nachfahren, hatten einen Moses finnen.‘ Und nun entspann sich folgende ich nicht zu sagen, jedenfalls wurde Mendelssohn dazu bewogen, seine Wet- Konversation: ‚Hausgehilfinnen? Pah, Ju- plötzlich die Tür aufgerissen und herein te mit dem deutschen Volk abzuschlie- denknechte. Pfui (Und dabei spuckte er stürmte diese entmenschte Horde. Der ßen – ob die Wette ihm nun nicht verwe- aus) Und wo ist der Jude?‘ Keine Antwort. Anführer, wenigstens hielt ich diesen er- gen erscheinen würde? Frage in drohendem Ton wiederholt: ‚Wo wähnten Zivilisten dafür, kam teuflisch ist der Jude?‘ ‚Hier ist kein Jude.‘ ‚So, und grinsend mit funkelnden Augen, Hände Die Krefelder Jüdin Adelheid Herz be- was sind sie?‘ ‚Jüdin.‘ ‚Wo ist ihr Mann?‘ reibend auf uns zu und fragte mit höh- schreibt in einem Brief vom 29. Januar (Mit Inbrunst) ‚Gott sei Dank, seit lan- nischer Stimme: ‚Nun, meine Damen, 1939 ihre Erlebnisse in der Nacht vom gem tot.‘ Er: ‚Kinder?‘ ‚Oh ja, vier Söhne.‘ wie fühlen Sie sich nun?‘ Es erfolgte kei- 10. zum 11. November 1938 32 ‚Wo sind diese Judenschweine?‘ ‚Nicht in ne Antwort. ‚Ach, meine Damen, es geht „Meine Lieben, jetzt sollt ihr endlich den Deutschland.‘ Mit gut gespielter Entrüs- Ihnen noch immer nicht gut – dann – Bericht über die Vorgänge jener Nacht tung und einer Träne in der Stimme: ‚Und dann wollen wir mal!‘ und damit nimmt vom 10. zum 11.11.38 haben. Betty und die arme alte Mutter haben diese Kanail- er einen Stuhl und fängt an, im Schlaf- Lore T. waren schon den ganzen Tag bei len alleine und elend, hilflos zurückge- zimmer alles zu zerschlagen. Jacoba mir, da man Leo T. schon morgens ge- lassen?‘ ‚Weder elend noch hilflos.‘ ‚Ich reißt die Türe auf und schreit: ‚ Raus, holt hatte. Sie blieben auch nachts. Es hätte allerdings meine arme alte Mutter kommen Sie alle. Gnädige Frau, bitte, gingen tolle Gerüchte, aber gleichzeitig nicht so dem Elend preisgegeben. Aber – kommen Sie doch!‘ Der Kerl springt hin wurde halbstündlich im Radio die Extra- Juden! (Ausspucken!) Keiner verlässt das und brüllt: ‚Jawohl raus mit euch Ge- meldung durchgegeben, dass Goebbels Zimmer! Es passiert Ihnen nichts. Wir sindel.‘ Er erwischt Betty T. und die be- alle Einzelhandlungen etc. verböte – Ge- sind human.‘ kommt einen Schlag ins Genick, das sie gen 1 Uhr nachts legten wir uns zu Bett. Damit ging er in die Halle. Wir sahen uns fast ohnmächtig von den anderen he- Lore im kleinen Salon, Betty im Herren- an, wortlos, und dann – ging es los! rausgeschleift werden musste. zimmer, Türen durcheinander offen. Mit Äxten, Hämmern, Beilen wurde al- Und ich – stehe mitten im Schlafzimmer, Punkt halb 2 Uhr nachts ein schrilles les zertrümmert, sämtliche Kronleuch- von diesen die Möbel zertrümmernden Klingeln. Alles sprang hoch, stürzte ins ter, Fensterscheiben, Möbelstücke, kurz Bestien umgeben, jetzt wirklich hilflos Entree – und schon ging es los. Man und klein geschlagen. Sofas etc. wur- dem Pack ausgeliefert, mit zitternden wollte die Türe einschlagen. Nachdem den zerschnitten. Inhalt der Schränke, Knien und doch wie gelähmt und sehe geöffnet war, quoll uns eine braune Flut des Schreibtisches etc. herausgerissen den schrecklichen Kerl mit erhobenen entgegen, SA und 3 oder 4 SS. Wie viele und unbrauchbar gemacht. Der klei- Fäusten auf mich zukommen. In dem es im ganzen waren, ist schwer zu sa- ne Salon: Der Schreibschrank, Bücher- Moment überkam mich plötzlich eine gen, aber alleine in unserer Wohnung schrank von Großmutter, rote Couch, eiserne Ruhe, eine Gleichgültigkeit, ei- kamen ca. 20 Mann und ebenso viele Portsuits, – alles ein einziger Trümmer- ne merkwürdige Stimmung – ich kann zum Mindesten verteilten sich auf die haufen, Teppich zerschnitten, und Pris- sie einfach nicht beschreiben! Ich hat- beiden anderen Stockwerke. Sie traten menkronleuchter nicht eine einzige te das Gefühl, immer länger und länger sämtliche Türen ein und ergossen sich Prisme mehr ganz. zu werden, ‚Um Gottes Willen‘, sagte ich

75 mir, ‚dem Kerl nur keine Angst zeigen.‘ Firma Hoebertz und Hoffs, Breitestraße, die Kinder nach Hause geschickt, weil Ich sah ihm ruhig entgegen und, da der Elektrotechniker gewesen – immer von in der Nacht sämtliche Fensterschei- Kerl vorhatte, mich niederzuschlagen, einer Leibwache der SA begleitet, zu uns, ben der Schule eingeschlagen worden denn er kam mit erhobenen Fäusten hauchte mich an, weil ich ‚altes Juden- waren. Auch habe er auf dem Nachhau- und einem Gesichtsausdruck, der das schwein‘ gelogen hätte, das Mädchen sei seweg gesehen, dass die jüdischen Ge- Schlimmste befürchten ließ, auf mich zu, ja in Deutschland geboren und keine Hol- schäfte, an denen er vorbeigekommen muss wohl in meinem Blick etwas gele- länderin. Und nun machte er einen Lap- war, demoliert worden seien. Auch ha- gen haben, was ihn bändigte. Vielleicht, sus, der festgehalten werden muss. Er be man ihm erzählt, dass die große Syn- kam ihm in dem Moment die Erinnerung sagte: Es sei ja auch wahr, der Jude lebt agoge in Flammen stehe. daran, dass er auch einmal ein Mensch mit der Wahrheit und stirbt mit der Lü- Meine Frau versuchte, in ihrem Schuh- war, jedenfalls lässt er dicht vor mir ste- ge. Dies bekräftigten wir mit einem kräf- geschäft anzuläuten. Es meldete sich hend die Fäuste sinken und sagte: ‚Sie tigen ‚jawohl‘, worauf er sich verbesserte niemand. Sofort begab ich mich dort- mit Ihrer erhabenen Ruhe werden auch und es richtig sagte, der Jude lebt mit der hin. Unterwegs konnte ich schon sehen, noch mal das Laufen lernen. Machen Lüge und stirbt mit der Wahrheit. Darauf wie truppenweise zum Teil mir bekannte Sie sich raus! Rraus!‘ Und ich ging- lang- schwiegen wir natürlich. Zum Schluss Juden von Polizisten abgeführt wurden sam und bedächtig, weil ich anders nicht empfahl er mir, zur Gestapo zu gehen oder auf Polizeiautos an mir vorüber- konnte. Schritt für Schritt immer in To- und um Aufnahme in ein Obdachlosen- fuhren. Auch ich stellte fest, dass sämt- desangst., jetzt wird Dir auf der Flucht Asyl zu bitten, denn in wenigen Minuten liche jüdischen Geschäfte, an denen etwas passieren, raus in den Garten, wo werde das Haus in Flammen aufgehen. ich vorbeikam, schwer demoliert wor- vier angsterfüllte Menschen mich aufat- Dann zogen sie ab, mit den Worten: ‚Jetzt den waren. Den gleichen Zustand fand mend empfingen. können wir ins nächste Haus, kommt.‘ ich natürlich bei dem Geschäft meiner Schon flog auch der Inhalt meines Wir pirschten uns nach einigen Minu- Frau vor. Ich begab mich sofort zu der Kleider- und Wäscheschrankes hinter mir ten wie Indianer ans Haus heran, kamen Einbruchs- und Glasversicherung, de- her über die Brüstung auf das Rosenbeet, zur weit offen stehenden Haustüre. In ren Geschäftsräume sich in der Nähe ein Hüne von SA-Mann warf mir Streich- Garderobe und Anrichte brannte Licht, befanden und meldete den Schaden an, hölzer zu und schrie: ‚Du Judensau, ver- vorsichtig und leise gingen wir herein damit diese nicht später sagen könnten, brenne Deinen Plunder.‘ Als er sah, dass und besahen uns die oben schon ge- der Schaden sei zu spät gemeldet wor- ich dieser freundlichen Aufforderung schilderte Verwüstung. Allerdings, die den. Von dem unweit gelegenen Haupt- nicht nachkam, kam er näher, nahm obige Schilderung kann bei weitem nicht bahnhof versuchte ich dann, meine Frau drohende Haltung an und wollte mich die Wirklichkeit schildern. So etwas in der Wohnung anzuläuten. Es meldete nun, indem er mich mit unflätigen Wor- muss man gesehen haben. Wir fanden sich niemand. Die Leitung musste un- ten beschimpfte und bedrohte, zwingen, dann den Mut, durch das ganze Haus terbrochen sein. mein letztes Hab und Gut zu verbrennen. vom Keller bis Speicher zu gehen. In der Nunmehr wusste ich, was los war, und Ehe ich mich entschließen konnte, was Küche sah es toll aus. Überall waren die ich beschloss, nicht mehr nach Hau- ich nun tun sollte, war es wieder Jaco- Wasserhähne auf. Wir schlossen diese se zurückzukehren und nach Berlin zu ba, die einen rettenden Gedanken hatte: im ganzen Haus und löschten auch über- fahren. Genügend Geldmittel hatte ich sie zupfte den Kerl am Ärmel und sagte: all das Licht aus. Stellenweise konnten bei mir, um notfalls auch noch weiter zu ‚Sie, ich bin arisch und Holländerin. Ich wir nicht weiter, weil wir nicht über die fahren und eine Zeitlang irgendwo un- will meine Papiere aus dem Haus haben.‘ Trümmer steigen konnten. Unten wie- bekannt zu leben. Der nächste Zug nach Maria sagte: ‚Ich bin auch arisch und will der angelangt, verschloss ich die Türe, Berlin ging 10.25 Uhr. Die anderthalb meine Sachen auch haben.‘ Der Kerl ließ so gut das noch ging, und Betty, Lore Stunden bis dahin auf dem Hauptbahn- daraufhin von mir ab, dreht sich um, und ich irrten gegen 4 Uhr nachts durch hof zu bleiben, erschien mir nicht rat- geht mit Beiden ins Haus und war kons- die Bismarckstraße. Nach ungefähr ei- sam. Ich begab mich daher nochmals in terniert, dass eine Ausländerin in Mitlei- ner halben Stunde hörten wir leise aus die Stadt, nachdem ich mich mit einem denschaft gezogen war. Betty zog mich Siegmunds früherem Haus ein ‚Pst, pst‘. Bekannten, dem ich für alle Fälle noch dann ins Gebüsch und wir blieben eng an Schon wurde von unsichtbarer Hand die einiges mitteilen wollte, an einem be- die Wand gedrückt, frierend, da nur not- Haustüre geöffnet und schon waren wir stimmten Punkte in einer wenig von Ju- dürftig bekleidet, dort stehen. bei Oskar G., bzw. Kasha H. Diese hatte den bewohnten Gegend telefonisch ver- Hin und wieder kamen SA-Patrouillen man verschont, nachdem Kasha sich als abredet hatte. durch den Garten, hin und wieder wur- Arierin zu erkennen gegeben hatte.“ Unterwegs jedoch erteilte mich mein den Bemerkungen gemacht wie ‚Aha, Geschick. Auf der Tauentzienstraße un- da sind sie ja, die Judensäue, die Juden- Der Breslauer Rechtsanwalt Max mittelbar vor dem amerikanischen Kon- huren‘ und dergleichen mehr. Aus der Moses Polke über seine Verhaftung sulat erkannte mich ein Mann, den ich ersten Etage hörten wir Geschrei. Die nach der Reichspogromnacht am vor Jahren einmal wegen Widerstands alte Dame war Gott sei Dank verreist, 10. November 1938 und die Internie- gegen die Staatsgewalt verteidigt hat- aber ihre Tochter und ein Verwandter rung im KZ Buchenwald. 33 te. Er hetzte einen neben sich befind- wohnten dort. Beide wurden übel zuge- Als ich mit meiner Frau am 9. November lichen Menschen auf mich, der mich so- richtet und flohen im Nachthemd durch spät abends aus Berlin zurückkehrte, fort anpöbelte, begleitet von anderen den Garten über die Mauer in einen an- war in den Breslauer Hauptstraßen, die Radaubrüdern. Vergeblich versuchte deren Garten, wo sie die Nacht verweil- wir auf dem Nachhauseweg passieren ich die Leute durch Hinweis darauf zu ten. Dann wurde es auch in der 2. Etage mussten, nichts von kochender Volks- beschwichtigen, dass ich ihnen doch hell, und begann die gleiche Zerstörung. seele oder dergleichen zu bemerken. nichts getan hätte, im Gegenteil sei hier Als sich nichts mehr zum Zerstören im Am nächsten Morgen aber kam mein ein Mann, der durch mich in schwerer ganzen Hause fand, kam der besagte Zi- zweiter Sohn kurz nach 8 Uhr von der Lage unterstützt worden war. Den An- vilist – man sagt, es sei der Inhaber der Schule zurück und teilte mit, man habe pöbeleien folgten bald körperliche Miss-

76 handlungen. Blutend versuchte ich, ßerdem erhielt jeder ein großes Stück Den ersten Teil bis Liegnitz fuhr ich die- mich in einen Hausflur zu retten. Aber frisches Brot, das ich mir wohlweislich selbe Strecke zurück; die ich knapp der davor stehende Portier stieß mich aufhob, denn mir war bekannt, dass der 24 Stunden vorher mit meiner Frau in zurück. Das alles waren Zivilisten – Po- Aufenthalt bei der Polizei mit einer sehr einem schönen D-Zug zurückgelegt hat- lizei, SS und SA waren weit und breit gründlichen Hungerkur beginnt. Aus die- te. Es verbot uns niemand zu sprechen, nicht zu sehen. sem Grunde hatte ich schon seit Mona- aber wir redeten nur wenig. Dabei be- Ich weiß nicht, was mir tatsächlich ten in ständiger Furcht vor plötzlicher nahmen sich die Wachmannschaften noch geschehen wäre, wenn sich nicht Verhaftung in meiner Wohnung stets anständig, erlaubten uns zu rauchen, ein baumstarker Mensch, etwa der Typ griffbereit ein großes Paket Dauerkeks einige von ihnen nahmen auch Mittei- eines Möbelpackers, meiner angenom- stehen gehabt, um es im Falle der Ab- lungen zur Weitergabe an die Angehö- men, mich unter den Arm gefasst und zu holung noch schnell einstecken zu kön- rigen entgegen. Auf den Stationen, auf den Umstehenden gesagt hätte: „Hört nen. Nun befanden sich diese Verhaf- denen der Zug hielt, durften wir auch jetzt auf, der Jude hat genug Keile be- tungskekse, wie sie von meinen Kindern ohne das Abteil zu verlassen, Einkäufe kommen.“ immer genannt wurden, wohlbehalten in machen. Aber der Zug war natürlich bei Zu mir allerdings sagte mein Retter: der Wohnung. Während wir in den Hö- den Gastwirtschaften nicht angemeldet, „Wenn Sie nicht jetzt mit mir auf das Po- fen des Polizeipräsidiums herumstan- so dass es nur wenigen gelang, etwas zu lizeipräsidium gehen, dann kommen Sie den, hörten wir dreimal Detonationen ergattern. Bald merkte ich an den Stati- nicht lebendig davon.“ Ich leistete keinen von Sprengungen. Sie galten der be- onen, wohin es ging, und früh um 9 Uhr Widerstand, und mein Begleiter brachte nachbarten Synagoge, deren Zerstörung kamen wir in Weimar an, mir von meiner mich in das in der Nähe befindliche Poli- durch Feuer den Nazis offenbar zu lange Schulzeit her geläufig als der Inbegriff zeipräsidium, vorbei an der brennenden dauerte. Der Staub von den Explosionen deutscher Kultur – der Ort, in dem Goe- neuen Synagoge. Ihre große Kuppel lag flog uns ins Gesicht. the seine unsterblichen Werke geschrie- schräg. Flammen schossen aus dem In- Um halb acht Uhr wurden wir aus den ben hat, jetzt bekannter geworden als nern heraus. Ich musste an die Zerstö- kleinen Höfen in den großen Hof des Eisenbahnstation des auf keiner Karte rung des Tempels in Jerusalem denken. Polizeipräsidiums geführt und in Reih verzeichneten, aber doch in der ganzen Im Polizeipräsidium wurde ich zunächst und Glied angestellt. Einige schwer Welt bekannten Buchenwald. einmal einem Polizeiarzt vorgeführt mit Kriegsverletzte wurden nach Hause ge- Ich weiß nicht, wie lange wir im Tunnel den Worten: „Da ist mal wieder einer schickt, die übrigen in Gruppen zu zehn des Bahnhofes warten mussten, das einem anderen auf die Hand gefallen.“ Mann herausgeführt und zunächst vor Gesicht der Wand zugekehrt. Alle Au- Der Polizeiarzt wandte blutstillende Mit- der schauerlich verwüsteten Synago- genblicke hörte man Schreie von Men- tel an und trug meinen Namen und die ge aufgestellt, von der nur noch rauch- schen, die wahllos misshandelt wurden. Art der Verletzung sorgfältig in ein Buch geschwärzte Teile der Umfassungsmau- Wehe dem Unglücklichen der es gewagt ein. Preußische Ordnung bleibt preu- ern vorhanden waren. Dann ging es hätte, sich umzudrehen. Endlich wurden ßische Ordnung. die Breslauer Tauentzienstraße entlang wir in versteckte Lastautos verladen, Nunmehr kam ich in einen Hof des Po- zum Güterbahnhof. Die Opfer der Akti- und nach etwa einstündiger Fahrt wa- lizeipräsidiums, wo schon viele Juden on vom 13. Juni 1938 hatte man dorthin ren wir in Buchenwald, wo wir mit Kol- standen, darunter auch Bekannte von auf Lastautos transportiert, wir muss- benstößen aus den Lastautos herausge- mir. Sie erkannten mich nicht wieder, da ten zu Fuß laufen. An jeder Seite jeder trieben wurden. (…) mein Gesicht völlig angeschwollen und Reihe ging ein SS-Mann mit schussbe- Immer mehr suchten wir uns mit un- entstellt war. Meine Lippen waren so ver- reitem Karabiner unter dem Arm. Die serem Schicksal abzufinden. Der bereits dickt, dass ich kaum sprechen konnte. Straßen waren abgesperrt, aber von erwähnte Regierungsrat Mandowsky Ich stellte fest, dass vier untere und ein Menschen umsäumt, die man mit Na- hatte im Augenblick seiner Verhaftung oberer Vorderzahn stark gelockert wa- zijargon als Untermenschen bezeich- noch ein Taschenschach eingesteckt, ren. Alle Augenblicke kamen neue Trans- nen muss. Es handelte sich offenbar um das uns gute Dienste leistete. In den porte mit aufgegriffenen Juden an. Ich bestellte Individuen, die es an gemeins- Baracken veranstalteten wir auch in traf immer mehr Bekannte. So standen ten Beschimpfungen nicht fehlen ließen, der Woche und am Sonnabend Gottes- und standen wir. Die einzige Abwechs- von denen „Juda verrecke“ im Chor noch dienste. Kantoren hatten wir zur Genü- lung war, dass man uns Taschenfeuer- das mildeste war. Die SS-Leute muss- ge. Schließlich fingen sogar die Rabbi- zeuge, Messer und Scheren abnahm. ten uns vor Tätlichkeiten schützen. Sie ner an zu predigen. Niemand störte uns Die Wertsachen beließ man uns. trieben uns andererseits mit Kolbenstö- bei dieser Betätigung. Immer aber las- Das lange Stehen wurde immer uner- ßen zur Eile an und nahmen auf Kranke tete über uns die bange Sorge, was aus träglicher, zumal die meisten, frühmor- und Schwache nicht die geringste Rück- uns werden soll; die Beschäftigungslo- gens aus ihren Wohnungen heraus ver- sicht. sigkeit trug dazu bei, uns auf schlimme haftet, seitdem noch nicht gegessen Am Güterbahnhof wurden wir – etwa Gedanken kommen zu lassen. hatten. Da erschien etwa nachmittags 1000 Mann – zu unserem Erstaunen Hin und wieder hatten wir auch Gelegen- um 5 Uhr ein alter Polizeiwachtmeister nicht in Viehwagen verladen, sondern heit zu Einkäufen, die Preise waren hor- und teilte folgendes mit: „Es gibt jetzt in einem Personenzug untergebracht. rend. Für eine Flasche Selterswasser etwas zu essen, worin weder Fleisch In jedem Doppelabteil saßen 19 Mann mussten wir eine Mark bezahlen. Zigaret- noch Fett enthalten ist. Auch die rituell und ein Polizeiwachtmeister mit schuss- ten kosteten das Fünffache des Laden- lebenden Juden können ruhig essen.“ In bereitem Gewehr. Darüber, dass jeder preises. Für ein Paar Socken, die nach der Tat gab es aus Essnäpfen eine recht Fluchtversuch sofort mit Erschießen be- Ansicht der Fachleute einen Verkaufs- schmackhafte Kartoffelsuppe mit gut straft wird, waren wir schon im Polizei- wert von 60 Pfennigen besaßen, zahlte gekochten Kartoffeln. Sowohl ich wie präsidium vor dem Abtransport belehrt ich 2,50 Reichsmark. Einmal wurde uns andere hatten den Eindruck, dass sie worden. Um 9 Uhr abends setzte sich ein nicht mehr ganz neuer „Völkischer mit frischer Butter zubereitet war. Au- der Zug langsam in Bewegung. Beobachter“ für zehn Mark angeboten,

77 aber niemand kaufte ihn. Ich hatte bei dinen ließ man unversehrt, so dass die bei Ihnen war, um mit Ihnen darüber meiner Verhaftung zufällig gerade 450 Verwüstungen von der Straße aus nicht zu sprechen, dass die Kirche ihren Ge- Reichsmark bei mir gehabt. So konnte zu erkennen waren. Nachdem man so meinden ein Wort zur Behandlung der ich vielen Bekannten mit Darlehen aus- innen ein Abbild von Sodom und Go- Juden in Deutschland sagen müsse. Das helfen. morrha geschaffen hatte, rief einer der Wort der Kirche ist nicht gekommen. Vandalen: ‚Lasst die Judenweiber wie- Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt Günter Reich (geb. 1923) erinnert sich der rein!‘ Die beiden total verzweifelten und müssen nun weiterleben mit dem an den 10. November 1938 in Luther- Frauen wurden von ihrem Pranger er- Wissen, dass wir daran schuld sind. Als stadt Wittenberg: 34 löst. Schluchzend betraten sie die Woh- wir zum 1. April 33 schwiegen, als wir „Wir wohnten damals im Hause des nung und ließen sich entsetzt in dem sie schwiegen zu den Stürmerkästen, zu Kaufmanns Richard Hirschfeldt auf der umgebenden Trümmerfeld nieder, müh- der satanischen Hetze der Presse, zur Mittelstraße 51 in der 2. Etage. Mein sam nach den wenigen unversehrten Vergiftung der Seele des Volkes und der Vater war seit etwa 1920 als Zuschnei- Habseligkeiten Umschau haltend.“ Jugend, zur Zerstörung der Existenzen der im Hirschfeldtschen Konfektions- und der Ehen durch so genannte ‚Ge- geschäft tätig, um an der Herren- und Zeitgleich mit den antijüdischen Ge- setze‘, zu den Methoden von Buchen- Knabenbekleidung den Wünschen der walttaten veranstalten die Stadt und wald – da und tausendmal sonst sind Kunden entsprechende Änderungen die evangelische Luthergesellschaft wir schuldig geworden am 10. Novem- vorzunehmen. Wohnungen waren da- Wittenberg am 10. November eine ber 1938. Und nun? Es scheint, dass mals in Wittenberg schwer zu bekom- „Lutherfeier“: 35 die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun men, und so war mein Vater froh, im „Die Feier von Luthers Geburtstag wur- wirklich die Steine schreien, es der Ein- Hause seines Arbeitgebers preiswert de gestern 7.30 Uhr durch Glockenge- sicht und dem Mut des einzelnen Pfar- wohnen zu können. Die Hirschfeldts, läut und das Blasen des Lutherliedes rers überlassen, ob er etwas sagen will, zu deren Familie noch vier erwachsene ‚Ein feste Burg‘ vom Turm der Stadt- und was.(…) Kinder gehörten, waren freundliche und kirche eingeleitet. Die Stadtverwal- In solcher Situation hilft nur der Einsatz umgängliche Leute. Ich kann mich an tung legte am Denkmal des Reforma- aller Kräfte am entscheidenden Punkt, keine Ärgernisse mit ihnen erinnern. tors auf dem Marktplatze einen großen und das würde hier heißen: dass die Kir- Am 10. November brachen die Tumulte Lorbeerkranz nieder, dessen Schleifen che in jedem Falle strikt als Kirche han- vor den jüdischen Geschäften und Woh- in den Reichsfarben in Goldbuchsta- delt, ohne rechts und links zu sehen, nungen in Wittenberg aus. Überall ver- ben die Widmung trugen: ‚10. Novem- ohne Taktik, ohne zu fragen: was wird sammelten sich die Leute, um zu schau- ber 1938 – Lutherstadt Wittenberg‘. Auf daraus, allein nach ihrem Wesen und ih- en, was vor sich geht. Als ich nach dem Kaffeetisch unserer Volksgenossen rem Auftrag, dass sie sich selbst ganz Hause kam, standen vor Haus und Ge- erschienen als traditionelles Gebäck ernst nimmt. Und dass sie vorbereitet schäft, das seine Front zur Collegien- die beliebten Martinshörnchen. Um 17 ist auf das, was kommt. Kommen tut straße hatte, SA-Posten in Uniform. Nur Uhr veranstaltete die hiesige Ortsgrup- nach Ankündigung der Regierung zwei- mit Schwierigkeiten gelang es mir, in un- pe der Luthergesellschaft in Verbin- fellos die völlige Trennung zwischen Ju- sere Wohnung zu kommen. Im Geschäft dung mit der Lutherhalle in der histo- den und Nichtjuden. bemühte sich der neue Geschäftsinha- rischen Lutherstube des Lutherhauses Es gehen Gerüchte um, dass ein Zei- ber Arthur Höller, den in Zivil gekleide- eine sehr zahlreich besuchte Lutherge- chen an der Kleindung beabsichtigt sei. ten ‚zornigen Volksgenossen‘ klar zu denkfeier. Der denkwürdige Raum wur- Unmöglich ist nichts in diesem Lande, machen, dass das Geschäft bereits ‚ari- de durch Kerzenlicht beleuchtet, was das wissen wir.(…)Wir haben die Ver- siert‘ ist und nicht zerstört zu werden die weihevolle Stimmung der Stunde nichtung des Eigentums erlebt, zu die- braucht. noch erhöhte. Die Feier leitete der Sän- sem Zweck hatte man im Sommer die Von der Familie Hirschfeldt war nur gerchor des Predigerseminars mit dem Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu die Mutter mit einer der beiden Zwil- Gesang der beiden ersten Strophen des über, die Menschen zu bezeichnen – so lingstöchter in der Wohnung. Den Vater Lutherliedes ein, ‚Nun freut euch, liebe liegt ein Schluss nah, den ich nicht wei- hatte man – wie wohl auch eine Reihe Christeng’mein‘. Dann ließ Direktor Lic. ter präzisieren möchte. Und niemand anderer männlicher Juden der Stadt – Thulin Luther zu seinen Zuhörern spre- wird behaupten wollen, dass diese Be- schon vorher verhaftet. Während der chen.(…) Mit dem vom Seminarchor ge- fehle nicht ebenso prompt, ebenso ge- ‚Visitation‘ der Wohnung wollte man, wie sungenen Liede ‚So Gott der Herr nicht wissenlos und stur, ebenso böse und ich dem Wortwechsel entnehmen konn- bei uns hält‘, klang die stimmungsvolle sadistisch ausgeführt würden wie die te, die beiden ‚Judenweiber‘ nicht da- Gedenkfeier aus. Bei dem um 20 Uhr jetzigen. Ich habe schon diesmal von bei haben. So zwang man Arthur Höller, in der Stadtkirche veranstalteten zahl- grauenhaften blutigen Exzessen gehört. ein Schild zu malen mit der Aufschrift: reich besuchten Gemeindeabend hielt Die Presse der ganzen Welt ist voll von ‚Ich bin eine Judensau! Bitte spuckt auf Generalsuperintendent D. Eger einen dieser Katastrophe, und hier hat man mich!‘ Das hängte man einer der beiden Vortrag über Luthers Bedeutung für die den Eindruck, dass sie schon jetzt, wo Frauen um den Hals und trieb dann joh- Gegenwart. Der allgemeine Gesang des die zahllosen Verhaftungen noch andau- lend beide die Collegienstraße auf und Lutherliedes gab dem Gemeindeabend ern, bei den Menschen wieder verges- ab. Währenddessen ‚beschäftigte‘ man Einstimmung und Ausklang.“ sen wird – auch in kirchlichen Kreisen. sich mit der Wohnung. Man kann sich Darf die Kirche das zulassen? die folgende Verwüstung nicht vorstel- Brief der Studienrätin Dr. Elisabeth Ich bin überzeugt, dass – sollte es dahin len. Die Möbel wurden umgestürzt und Schmitz an den Pfarrer Helmut Goll- kommen – mit dem letzten Juden auch mit einem Beil zertrümmert. Den Lüster witzer (Berlin-Dahlem) vom 24. No- das Christentum aus Deutschland ver- riss man von der Decke und zerschlug vember 1938 36 schwindet.“ ihn. Die Betten wurden aufgeschlitzt, „Ich weiß nicht, ob Sie sich besinnen, das Geschirr zerschlagen. Nur die Gar- dass ich vor einigen Wochen einmal

78 Der jüdische Kaufmann Walter Tausk Ausdruck für eine Synagoge. Mir selbst und geschleift (darunter effektiv kran- schildert seine Erlebnisse in Breslau fielen die Worte eines Liedes ein, das ge- ke, schwache, elende Naturen bis hin- am 10. November 1938. 37 rade die Hitlerjugend gern singt: ‚Steckt auf zur Grenze von achtzig Jahren…) „Donnerstag morgen gehe ich, wie üb- die Synagogen an.‘ Und ich ging, zumal und brachte sie in großen Trupps auf lich, um dreiviertel neun runter, um den ich sowieso auf die Wallstraße musste, den Verladbahnhof Breslau-Ost, Ofener- Postboten zu erreichen. Ferner musste in Richtung ‚Mauschelhalle‘. straße, und Breslau-West, wo man sie ich zum Zahnarzt. Den Postboten erwar- Je näher man in die Stadt kommt, desto in die diversen Lager ‚verfrachtete‘. Au- te ich gewöhnlich einige Häuser weiter wüstere Bilder sinnlosester Verwüstung genzeugen im dichten Spalier des an- vorn, dort ist eine Likörfabrik Reich- sieht man: ausgeraubte Zigarrenläden, geblichen ‚Volkes‘ schätzen die Zahl auf mann. Mir fällt schon beim Nähergehen in denen die Einrichtung auch noch zer- weit über viertausend. Und gestern er- eine Menschenmenge auf, die vor dem trümmert durcheinander liegt. Möbel- fuhr man, dass hauptsächlich Akademi- Laden steht und erregt ist. Also im Bo- firmen, wo man die Schaufenster-Mö- ker (Mediziner) und führende Personen gen rum! Der Laden ist vollkommen zer- bel, die man nicht zerschlagen konnte, geholt worden waren. Ebenso waren trümmert, das Kunterbunt von Flaschen mindestens stark zerkratzte (und zwar aber Knaben von vierzehn bis sechzehn und ausgelaufenem Inhalt ist nicht wie- mit Glasscherben). Ausgeraubte oder Jahren abgeholt worden! Man verlud derzugeben. Ich ahne aus allem einen wahllos durcheinander geworfene Re- sie in Viehwagen – aus dem jüdischen ‚Ladensturm‘, denke mir meinen Teil gale mit und ohne Inhalt in anderen Lä- Krankenhaus hat man mit den Ärzten und erwische jetzt den Postboten. Er den. Die Straße dick mit gaffendem und auch die Kranken geholt! macht eine bekümmerte Geste, sieht heftig diskutierendem Publikum, teils in Sonntag, den 13.11., schreibe ich mich ebenso an und geht, ebenfalls in heller Begeisterung vom Kinde bis zu al- weiter(…)Man hat fast allen Juden di- weitem Bogen, seinen Weg. ten Leuten. Aber trotzdem eine fürch- em Telefone gesperrt. Man griff jeden Ich kehre um und gehe die Sadowastra- terliche Beklommenheit bei allen: es Juden, der verreisen wollte, auf und ße in Richtung Teichstraße. Unterwegs schien den meisten nicht recht. Die Poli- führte ihn ab. Jeder Reisende wurde ge- erhasche ich von einem Geschäftskut- zei „regelte den Verkehr“. Hier und dort fragt, und zwar an der Sperre oder be- scher, der sich unterhält, diese Worte: stand einer, den Sturmriemen unterm reits am Kartenschalter, ob er Jude sei. „Wenn ich mitgegangen wäre, mit bei- Kinn, vor einem Laden oder Geschäfts- Unterwegs befindliche Juden hielt man den Armen hätte ich geholfen, für die hauseingang. Es war gegen dreiviertel gleichfalls fest und führte sie ab. Es Winterhilfe wegschaffen, was die für die zehn, als ich den Schlossplatz erreichte, war also eine Judenhetze und Judenver- Winterhilfe weggeschafft haben!“ Und um in die Wallstraße einzubiegen: die so folgung wie noch nie in der Geschich- ich ahne immer deutlicher und mehr: genannte Mauschelhalle, ein bekannter te. Man verhaftete Juden, die sich auf man hat die jüdischen Geschäfte ganz schöner Bau von Oppler (romanischer den Postämtern ‚postlagernde Briefe‘ einfach gestürmt und ausgeräumt. Die Kuppelbau) war nur noch eine rauchen- oder solche aus ihren Schließfächern Bestätigung finde ich bald auf der Teich- de Ruine. Die obere Kuppel hatte sich holen wollten, sofern man sie als Ju- straße: Bäckerei Hirschlik, Eisenwaren- bereits nach einer Seite zu senken an- den erkannte. Man gab ihnen keine te- handlung Brauer und Sohn, die kleine gefangen und musste nachmittags von lefonischen Verbindungen nach ande- Konfektionsfirma Cheimowitz sind nicht zwei bis vier gesprengt werden, wozu al- ren Orten usw., nur hier in Breslau. In zum Wiedererkennen: Was Glas war, le Einwohner der umliegenden Häuser kleinen schlesischen Provinzorten, und ist – bis auf geringe Reste – akkurat die Wohnung zu verlassen hatten. wo man nur wenig jüdische Geschäfte bis zum Rahmenwerk der Fenster aus- Die Wallstraße war abgesperrt. Ich kam hatte und dito Einwohner, ging man in geputzt, die Schilder sind zertrümmert, nicht zu meinem Kunden Katz, Wallstra- die Wohnungen, die man zerstörte. Die die Schaufensterinhalte liegen teils auf ße 9 (im Haus der Synagogen-Gemein- Menschen hieb man durch oder führte der Straße, teils im Fenster bunt durch- de), das ebenfalls von Polizei gesichert sie ab.(…) In Beuthen führte man die Ju- einander, die Fenster sind regulär aus- war. Bei Katz waren die Jalousien, wie den vor die brennende Synagoge , ließ geraubt, und die Verwüstung setzt sich gewöhnlich bei Geschäftsschluss, run- sie in Gliedern antreten und teilweise nach hintenzu fort. Um die Ecke, Gar- tergelassen. Aber im Hof war die Menge niederknien mit abgenommenem Hut.“ tenstraße, eine kleine Drogerie: dort hat noch beim Plündern der dort liegenden man aus den Regalen alles bunt durch- Engros- und Fabrikationsfirmen bis hin- einander geworfen, dazu Kisten und Ge- auf zum Dach! Die Polizei „regelte nur rümpel. Ich wusste genug. den Verkehr“.(…) In teilweise stark übernächtigtem Zu- Gegen elf Uhr war ich zu Hause: aus- stand wogten Gruppen halbwüchsiger gepumpt und völlig müde.(…)Zu Hause Jungen und Mädel von fünfzehn bis acht- hörte ich weiter, gegen zwölf Uhr mit- zehn Jahren auf und ab. Die Burschen tags, die Verhaftungen unter den Juden rühmten sich, unter lautem Geschrei hatten bereits frühmorgens eingesetzt der Mädel, ‚wie sie reingesommert hät- mit Polizei, SS, Hilfspolizei. Und ganze ten‘ (sommern: gleich‚ pfeffern‘), und Scharen, dito einzelne Trupps oder so- führten ihre ‚Damen‘ von einem Laden gar einzelne eskortierte Personen wa- zum andern herum. Das ältere Publikum ren und wurden dauernd auf das Präsi- war sehr geteilter Ansicht, die allgemei- dium beziehungsweise auf die Reviere ne Stimmung aber war entschieden ge- gebracht. Wieder andere SS-Trupps gin- gen diese Ereignisse.(…) gen Haus für Haus ab, ‚ob hier noch Ju- Auf der Garvestraße stehen vier Hitler- den wohnen‘, und nahmen einfach jeden jungen. Einer sagt: ‚Ihr müsst auch mal mit.(…)Die gefangenen Opfer dieses und die Mauschelhalle ansehen.‘ ‚Mauschel- des nächsten Tages hat man abends tri- halle‘ ist der vom ‚Stürmer‘ geprägte umphaliter durch die Stadt geschleppt

79 LITERATUR (AUSWAHL)

18 Hermann Simon, der Direktor der Stiftung Neue Andreas Friedrich Bareiß: Herschel Fei- Staatsrat und Volkskammer der DDR Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, wurde auf bel Grynszpan. Der Attentäter und die gedenken der Opfer der faschistischen diesen Fakt in einem Gutachten im Zusammen- hang mit den Bau- und Aufbauarbeiten des Gebäu- „Reichskristallnacht“. Eine tatsachener- Pogromnacht vom 9. November 1938. des 1991 aufmerksam. Vgl. Hermann Simon: Neue zählung, Gießen 2005 Begegnung Erich Honeckers mit jü- Quellen zum Novemberpogrom – Mannheim. in: dischen Bürgern im Staatsrat. Son- Hermann Jung, Hrsg., Spurensicherung. Der Kom- ponist Ernst Toch (1887–1964) – Mannheimer Wolfgang Benz: Der Holocaust, 4. un- dersitzung der Volkskammer, Dresden Emigrantenschicksale,, Sonderdruck 2007, S. 30. veränderte Auflage, München 1999 1988 19 Es gibt ein Problem, dass eher der zu geringen Sorgfalt der Fragenden als dem Erinnerungsver- mögen der „Zeitzeugen“ geschuldet ist. In der Li- Bernward Dörner: Die Deutschen und „Und lehrt sie: Gedächtnis!“. Katalog zur teratur findet sich selten ein genaues Datum, war der Holocaust. Was niemand wissen Ausstellung des Ministeriums für Kultur nun der 9. oder erst der 10. November 1938 der wollte, aber jeder wissen konnte, Ber- und des Staatssekretariats für Kirchen- Tag solch gravierender Ereignisse? Leider kann im Nachhinein Versäumtes kaum nachgeholt werden. lin 2007. fragen in Zusammenarbeit mit dem Ver- 20 Vgl. Übersetzung: Statement von c. Brooks Peters band der Jüdischen Gemeinden in der interviewt am 5. Mai 1983 v. Robert S. Frey (in Ar- beitsmaterial z. Thema Kristallnacht, hrsg. v. Cen- Wolf Gruner: Die Reichshauptstadt und DDR zum Gedenken an den faschisti- ter for Holocaust Studies, Brooklyn, New York., Ko- die Verfolgung der Berliner Juden 1933 – schen Novemberpogrom vor fünfzig Jah- pie Archiv Horst Helas. 1945. In: Jüdische Geschichte in Berlin. ren, Berlin 1988 21 Vom Rath starb am 9. November 1938 gegen 17.30 Uhr. Um die Nachricht in die Morgenausga- Essays und Studien, hrsg. von Reinhard ben bringen zu können, wurde offensichtlich der Rürup, Berlin 1995, S. 229 ff.) Verfolgung Vertreibung Vernichtung, Redaktionsschluss in die Abendstunden verscho- Dokumente des faschistischen Antise- ben. Morgenzeitungen wurden in der Nacht ge- druckt und waren am frühen Morgen, hier also des Wolf Gruner: Judenverfolgung in Berlin mitismus 1933 bis 1942, Hrsg. Kurt Pät- 10. November 1938, zu haben. 1933–1945. Eine Chronologie der Be- zold, Leipzig 1983 22 Vgl. Horst Helas, Juden in Berlin-Mitte, S. 67 ff. 23 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Hoppegarten, ZB II hördenmaßnahmen in der Reichshaupt- 7102, Bl. 34. stadt, Berlin 1996 24 Vgl. Hermann Simon, „Bilder, die sich Dante nicht 1 Vgl. Wolf Gruner: Judenverfolgung in Berlin 1933– vorstellte, denn die Höllenpeinigungen haben das 1945. Eine Chronologie der Behördenmaßnahmen Raffinement ihres jeweiligen Jahrhunderts“. Gesand- in der Reichshauptstadt, Berlin 1996, S. 58 f. Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biogra- ter Jaime Jaramillo Arango an den Staatspräsidenten 2 Zitiert nach: Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Bio- fien Orte Begegnungen, 2., ergänzte und Kolumbiens, Eduardo Santos, am 12. November grafien Orte Begegnungen, 2., ergänzte und durch- 1938. Neue Quellen zum Novemberpogrom in Ber- durchgesehene Ausgabe, Berlin 2001 gesehene Ausgabe, Berlin 2001, S. 104 f. lin. Vortrag im Verein Porta Pacis am 7.11.1998. ab- 3 Zitiert nach: ebenda, S. 78 ff. gedruckt in: Via Regia Nr. 64/65, 1999, S. 21–35. 4 Der Legationssekretär an der deutschen Botschaft 25 Vgl. Erklärung des ZK der KPD „Gegen die Schmach Heinz Knobloch: Der beherzte Revier- in Paris vom Rath starb erst am 9.11.1938. der Judenpogrome!!“ vom November 1938, in: Die vorsteher, Berlin 1990 5 Vgl. Bernward Dörner: Die Deutschen und der Ho- Rote Fahne. Sonderausgabe gegen Hitlers Juden- locaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder pogrome, Jg. 1938, Nr. 7. wissen konnte, Berlin 2007, S. 418. 25 Zitiert nach: Kurt Pätzold u. Irene Runge, Pogrom- Wolf-Arno Kropat: „Reichkristallnacht“. 6 Für Berlin sieht Wolf Gruner folgende Etappen der nacht 1938, a. a. O., S. 185–189. judenfeindlichen Maßnahmen: Der Judenpogrom vom 7. bis 10. Novem- 26 Zitiert nach: Deutschland-Berichte der Sozialdemo- Die ersten Verfolgungen: Frühjahr 1933 – Früh- ber 1938 – Urheber, Täter, Hintergrün- kratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934– jahr 1935; Die zweite Verfolgungsphase: Sommer 1940, Fünfter Jahrgang 1938, 3. Aufl., Frankfurt de, Wiesbaden 1997 1935–Sommer 1937; Die Koordinierung der Ver- a. M. 1980, S. 1336 ff. folgung: Herbst 1937–Herbst 1938; Neue Verfol- 27 Zitiert nach: Klaus Mann, Hitler ist nicht Deutsch- gungsstrategien: November 1938–Sommer 1939; land. Ansprache vor Deutschamerikanern in York- Dieter Obst: „Reichskristallnacht“. Ur- Leben in der Zwangsgemeinschaft: September ville, in: Klaus Mann, Zweimal Deutschland. Auf- sachen und Verlauf des antisemitischen 1939–Sommer 1941; Der Beginn der Deportati- sätze, Reden, Kritiken 1938–1942, hrsg. v. Uwe onen: Herbst 1941–Herbst 1942; Die letzte De- Pogroms vom November 1938, Frank- Neumann u. Michael Töteberg, Reinbek 1994, portationsphase: Dezember 1942–März 1943; Die S. 38 ff. furt a. M./Bern/New York/Paris 1991 letzten Juden in Berlin: April 1943–April 1945. Vgl. 28 Zitiert nach: Stefan Heym, Nachruf, 8. Aufl., Frank- Wolf Gruner: Die Reichshauptstadt und die Verfol- furt a. M. 2002, S. 165 f. gung der Berliner Juden 1933–1945, in: Jüdische Kurt Pätzold/Irene Runge: Pogromnacht 29 Vgl. Fränkischer Anzeiger, 9. 9. 2008. Geschichte in Berlin. Essays und Studien, hrsg. von 30 Vgl. Petra Pau: Rede im Deutschen Bundestag zum 1938, Berlin 1988 Reinhard Rürup, Berlin 1995, S. 229 ff. 60. Geburtstag der Gründung des Staates Israel, 7 Vgl. Bernward Dörner: Die Deutschen und der Ho- in: Rundbrief, Heft 3/2008, S. 72 f., hier S. 73. locaust, S. 418. Walter H. Pehle (Hrsg.): Der Juden- 31 Aus: Robert Goldmann, Flucht in die Welt. 8 FN noch offen!!!. Ein Lebensweg nach New York, Frankfurt a. M. pogrom 1938. Von der „Reichskristall- 9 Vgl. Wolf-Arno Kropat: „Reichkristallnacht“. Der Ju- 1996, S. 58–62. denpogrom vom 7. bis 10. November 1938 – Urhe- nacht“ zum Völkermord, Frankfurt am 32 Aus: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, Nr. 45, ber, Täter, Hintergründe, Wiesbaden 1997, S. 43 ff. 4.11.1988, S. 31. Main 1988 ff. 10 Vgl. ebenda, S. 57 ff. 33 Aus: Margarete Limberg u. Hubert Rübsaat, Hrsg., 11 Vgl. Uwe-Dietrich Adam, Wie spontan war der Pog- Sie durften nicht mehr Deutsche sein. Jüdischer rom?, in: Walter H. Pehle, Hrsg., Der Judenpogrom Gerhard Schoenberner: Der gelbe Stern. Alltag in Selbstzeugnissen, Berlin 2003, S. 257– 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völker- 269. Die Judenverfolgung in Europa 1933– mord, Frankfurt am Main 1988., S. 74 ff.; Wolf-Arno 34 Aus: Ronny Kabus, Juden der Lutherstadt Witten- Kropat, „Reichskristallnacht“; Dieter Obst, „Reichs- 1945, neu durchgesehene und neu be- berg im III. Reich, Wittenberg 2003, S. 100. kristallnacht“. Ursachen und Verlauf des antisemi- arbeitete Ausgabe, München 1998 35 Wittenberger Tageblatt, 11. November 1938; Fak- tischen Pogroms vom November 1938, Frankfurt simile in: Ronny Kabus, Juden der Lutherstadt Wit- a. M. u. a. 1991; Kurt Pätzold u. Irene Runge, Pog- tenberg im III. Reich, S. 99. romnacht 1938, Berlin 1988. Hermann Simon: „Bilder, an die Dante 36 Zitiert nach: Manfred Gailus, Hrsg., Elisabeth 12 Zitiert nach: Gerhard Schoenberner, Der gelbe Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Juden- nicht im Traum gedacht hätte“ – Neue Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945, verfolgung. Konturen einer vergessenen Biografie Quellen zum Novemberpogrom in Ber- Berlin 1998, S. 21. (1893–1977), Berlin 2008, S. 223 ff. 13 Vgl. Kurt Pätzold u. Irene Runge, Pogromnacht lin. In: November 1938. Vom Pogrom 37 Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933–1940. 1938, S. 113 f. Herausgegeben v. Ryszard Kincel, Berlin 2000, zum Völkermord. Dokumentation einer 14 Vgl. ebenda., S. 115 f. S. 181 ff. Veranstaltung des Vereins Porta Pacis 15 Vgl. Dieter Obst, „Reichskristallnacht“., S. 101. am 7. November 1998 im Gedenken an 16 Vgl. ebenda, S. 94. 17 Vgl. Heinz Knobloch: Der beherzte Reviervorsteher, die Reichspogromnacht vor 60 Jahren, Berlin 1990 u. ö. Berlin 1999, S. 16–46.

80

Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Regel Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfah- einmal je Quartal, und wird herausgegeben von rungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu- der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim chungen zum Thema Rechtsextremismus und Bundesvorstand der Partei DIE LINKE. rechter Zeitgeist. Damit soll die antifaschistische V.i.S.d.P. Dr. Reiner Zilkenat Arbeit demokratischer Organisationen und inter- essierter Personen unterstützt werden. Der Rund- Adresse: Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin brief ist über die AG zu beziehen. Telefon: 030 24009-236 Zuschriften und Beiträge sind willkommen. Telefax: 030 24009-215 Layout und Satz: MediaService GmbH E-Mail: [email protected] BärenDruck und Werbung