Die SS. Ein Beitrag Zur Soziologie Des Nationalsozialismus

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Die SS. Ein Beitrag Zur Soziologie Des Nationalsozialismus VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 2. Jahrgang 1954 1. Heft/Januar KARL O. PAETEL DIE SS Ein Beitrag zur Soziologie des Nationalsozialismus. Vorbemerkung des Herausgebers: Die Forschungen über die SS befinden sich noch in den Anfängen. Es fehlt dazu bisher nicht nur an Quellen, sondern vielfach auch an der richtigen Fragestellung. Im Rahmen der Entwicklung der nationalsozialisti­ schen Ideologie und Organisation nahm die SS unstreitig eine Sonderstellung ein, die bereits viel erörtert, jedoch noch keineswegs klar definiert worden ist. In dieser Situa­ tion bieten die überwiegend typologischen Untersuchungen, die Karl O. Paetel hier auf Grund alles bisher erreichbaren Materials vorlegt, eine Fülle von Beobachtungen, die tief in die Problematik des Gegenstandes einführen. Ohne den Charakter des Vor­ läufigen verleugnen zu wollen, geben sie bereits wichtige Aufschlüsse über jene Prin­ zipien und Zusammenhänge, die im „Schwarzen Orden" wirksam waren. Die Opposition des Verfassers gegen Hitler, die ihn früh in die Emigration gezwun­ gen hat, lebt aus dem Geist der Jugendbewegung. Dieser war Paetel von Jugend auf und ist er noch heute verbunden. Er wurde seinerzeit bekannt als Herausgeber der Monatsschrift „Die sozialistische Nation" und als Verfasser des „Nationalbolschewi­ stischen Manifests", das im Januar 1933 herausgegeben und sofort beschlagnahmt wurde. Heute gibt Paetel in Amerika die Informationsbriefe „Deutsche Gegenwart" heraus. Vor einigen Monaten erschien, von ihm zusammengestellt, eine Ernst-Jün­ ger-Bibliographie. T. E. I. Drei Formen des deutschen Nationalsozialismus Um den deutschen Nationalsozialismus in seinen inneren Bewegungsgesetzen zu erklären, hat man oft seine Schlagworte mit Äußerungen früherer deutscher Schriftsteller verglichen und diese Männer dann als Vorläufer der Bewegung be­ zeichnet. Im allgemeinen hat man daraus die Folgerung gezogen, daß die Hitler­ bewegung nur hat aktiv werden lassen, was als kennzeichnender Habitus der ge- * Das dieser — hier gekürzt wiedergegebenen — Arbeit zugrunde liegende Material besteht aus englischsprachigen und deutschen Quellen. In einigen Fällen war es nicht möglich, den deutschen Originaltext einzusehen, dann wurde auf Sekundär-Material zurückgegriffen. So 2 Karl O. Paetel samten deutschen Geistesgeschichte latent zugehört und dem deutschen Volks- charakter mehr oder minder angeboren oder anerzogen worden war.1 Es ist anzunehmen, daß wie bei jedem andern bei dem frühen Adolf Hitler die Begegnung mit bestimmten Büchern ebenso Einfluß ausgeübt hat wie die mit be­ stimmten Menschen. Aber nicht zufällig ist, auf welche Art Lektüre man in be­ stimmten Situationen positiv reagiert. Die Besonderheiten des Nationalsozialismus, die ihn sehr deutlich etwa vom Vor­ Weimarer Antisemitismus in Deutschland unterscheiden2, hegen weitgehend in solchen besonderen Gegebenheiten einer bestimmten historischen Situation, der sich seine Wortführer und Interpreten gegenübersahen. Vor allem gilt das für die Tatsache, daß er — mehr als jede andere politische Bewegung unserer Tage — in den von ihm durchlaufenen Phasen verschiedene sich ablösende typenbildende Vor­ bilder herausstellte, die jeweils, eher instinktiv als geplant, den sich wandelnden Erfordernissen der Realpolitik Rechnung trugen. Das Gesicht seiner repräsenta­ tiven Träger wechselte damit auch in der Realität. Die völkische, antisemitische, kleinbürgerliche Schicht, die etwa aus dem „Deutschvölkischen Schutz- und Trutz­ bund" in den ersten Jahren nach 1919 in seine Gruppen einströmte, die weitgehend im Raum großstädtischer Arbeitslosenämter entstandenen, das „Recht auf die Straße" verlangenden braunen Bataillone, die Angehörigen der KZ-Totenkopf- verbände und die Panzersoldaten der Waffen-SS hatten als Typ wenig gemeinsam. Das Gemeinsame war der weite Rahmen der NS-Weltanschauung und die Treue­ pflicht dem gleichen Führer gegenüber. Literarische Ahnenforschung, die die Hauptkennworte der Hitlerschen „Weltanschauung" mit denen sogenannter „Vor­ fahren" vergleicht, muß unscharf werden, wo der typenmäßige Wandel in der Realität der Bewegung „Nationalsozialismus" sich der Konfrontierung mit Zitaten entzieht. Den deutschen Nationalsozialismus von seiner embryonalen Bierstubenperiode bis zu den illusionären Dekreten aus dem Berliner Führerbunker als eine Einheit zu sehen, ist falsch. fehlen einige Originalseitenangaben, und so mußten einige Zitate in freier Rückübersetzung gegeben werden. Obwohl bestrebt, eine Überlastung durch Fußnoten zu vermeiden, hat es der Autor aus Gründen intellektueller Redlichkeit relativ oft für notwendig gehalten, Referenzen heranzuziehen, auch wenn auf direkte Zitate verzichtet wurde. Auf Vollständigkeit wird dabei kein Anspruch erhoben. Eine ausführliche Buchveröffentlichung über das gleiche Thema ist in Vorbereitung; eine französische Bearbeitung erscheint im Rahmen einer vom „Conseil International de la philosophie et des sciences humaines" (UNESCO) besorgten Unter­ suchung über die Wurzeln des Nationalsozialismus, aus der die vom gleichen Institut her­ ausgegebene mehrsprachige Zeitschrift „Diogenes" einen Ausschnitt bringt. 1 Vgl. Paul Winkler, The Thousand-Year Conspiracy, Secret Germany Behind the Mask, New York 1943, 381 S.; Derwent Wittlesey, German Strategy of World Conquest, New York 1942, 293 S.; Stephen Raushenbush, The March of Fascism, New Haven 1939, Yale Univer- sity Press, 355 S.; Rohan D'O Butler, The Roots of National Socialism, New York 1942, 304 S. sind Beispiele dieser Art Geschichtsbetrachtung. 2 Vgl. Paul W. Massing, Rehearsel for Destruction, A Study of Political Antisemitism in Imperial Germany, New York 1949, 341 S. Geschichte und Soziologie der SS 3 1923, 1933, 1939 und 1945 gab es den deutschen Nationalsozialismus. Aber er hatte stets ein verschiedenes Gesicht, und das nicht etwa nur deshalb, weil genera­ tionsmäßig neue Jahrgänge nachrückten. Der frühe Hitler hatte, als er sich entschloß, „Politiker zu werden", die aus Wien mitgebrachte alldeutsch-völkische Ideologie, die er mit Bitterkeit gegen das kaiser­ liche Deutschland und abgrundtiefem Haß gegen die „Novemberverbrecher" ver­ band. Gefühlsgrundlage war und blieb der — für das Deutschtum, nicht nur das Deutsche Reich — verlorene Krieg. Vorstellungen dieser Art hoben ihn um kein Haar aus den zahllosen nationalen, antisemitischen und völkischen Gruppen in Deutschland und im deutschsprachigen Grenzland heraus. Bald stellte er fest, daß das Rüstzeug dieses Nationalismus allein nicht mehr ausreichte. Für die germanisch-esoterischen Schwarmgeister im völkischen Lager hat er nie Verständnis gehabt. Schon in „Mein Kampf" stehen ein paar sarkastische Bemerkungen über sie. Seine wirkliche Entdeckung — für Deutschland — war die propagandistische Aus­ wertung der sudetendeutsch-österreichischen Losung eines „Nationalen Sozialis­ mus", einer echten Ursprungsideologie der Zeit. Mehr als einer der durch das Fiasko der bürgerlichen Ordnung und gleichzeitig von der Novemberrevolution Enttäuschten horchte damals auf. Nicht nur Entwurzelte neigten ihr zu. Hitler selbst hat dabei lange Zeit zwischen restaurativer und revolutionärer Pro­ paganda laviert. Einerseits erklärte er am 9. November 1923, das „Unrecht der Re­ volution" wieder gutmachen zu wollen, andererseits spielte er eine Zeitlang mit dem Gedanken, seine eigene Partei als „Sozialrevolutionäre" zu firmieren. Es gab für Jahre antisozialistische Nationalisten, pro-russische Sozialisten, Priester und Heiden, Monarchisten und Republikaner in der NS-Partei. Nicht einmal der radikale Anti­ semitismus war unbestritten. Gegen Streicher und seinen Kreis sind von den „Linken" der Partei ungezählte Ausschlußanträge eingebracht worden. Nach dem mißlungenen Novemberputsch, nach dem gescheiterten Einigungs­ abenteuer mit der Wulle-Graefeschen „Deutschvölkischen Freiheitsbewegung", nach der Landsberger Festungshaft änderte sich — zuerst unmerklich — das Gesicht der neuen NSDAP, die nach dem aufgehobenen Verbot an die alte Bewegung an­ knüpfte. Zweckideologien der verschiedensten Art traten den ursprünglichen For­ mulierungen an die Seite. Propagandist von Format, verstand Hitler die Technik synthetischer Ideen­ herstellung nur zu gut. Das völkische Element trat bald hinter der Militanz des „sozialistischen" Sturmrufs vom „unbekannten SA-Mann" merklich zurück. Es war nicht immer leicht für die bayerische Zentrale, die divergierenden Kräfte zusam­ menzuhalten. Als Otto Strasser 1930 nach seiner berühmten Unterredung mit Adolf Hitler die Parole ausgab „Die Sozialisten verlassen die Partei", folgten ihm dennoch nur wenige. Die norddeutsche SA-Rebellion des Hauptmann Stennes, die für ein paar Tage das Gefüge der Partei zu erschüttern schien, blieb gleichfalls letzt­ lich ohne nachteilige Folgen für die inzwischen auf ihrem Wege zum parlamenta- 4 Karl O. Paetel rischen Sieg zur Massenpartei gewordene NSDAP. Die Zentripetalkraft der Hitler­ gruppe erwies sich als stärker als man angenommen hatte. Betrachtet man heute die einzelnen Phasen des NS-Regimes, so erscheint es durch­ aus verständlich, daß in den ersten Jahren nach 1933 sowohl echte Konservative wie Hermann Rauschning, wie auch Reaktionäre wie Fritz Thyssen im „Aufbruch der Nation" eine bürgerliche Restaurationsbewegung sehen konnten3, deren radi­ kaler Überschwang sich — wie sie hofften — geben würde und deren Ausschreitun­ gen staatlich gesühnt werden würden (soweit diese als gegen gefährliche Elemente von links gerichtet sowieso „nicht ohne gewisse Berechtigung" schienen!). Als Hitler in Potsdam sich vor dem Marschall des Kaisers
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