Jahrbuch Für Antisemitismusforschung 27 (2018)
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Jahrbuch für Antisemitismusforschung 27 Herausgegeben von Stefanie Schüler-Springorum Metropol Jahrbuch für Antisemitismusforschung 27 Herausgegeben von Stefanie Schüler-Springorum für das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Redaktion: Marcus Funck, Ufa Jensen, Juliane Wetzel Redaktionelle Bearbeitung und Lektorat: Adina Stern Redaktionsanschrif: Zentrum für Antisemitismusforschung Technische Universität Berlin Ernst-Reuter-Platz 7 D–10587 Berlin ISBN: 978-3-86331-447-7 ISBN: 978-3-86331-791-1 (E-Book) ISSN: 0941-8563 © 2018 Metropol Verlag Ansbacher Straße 70 · D–10777 Berlin www.metropol-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Druck: Arta-Druck, Berlin Inhalt Stefanie Schüler-Springorum Vorwort 7 ANTISEMITISMUS IN LITERATUR UND MUSIK Rahel Stennes Der Jude und der Philister. Die Konstruktion komplementärer Feindbilder bei Clemens Brentano 13 Boris Blahak Der mauschelnde Mime. Zur Sprache „verdächtiger“ Operngestalten Richard Wagners im Kontext seiner antijüdischen Musikkonzepte 40 ANTISEMITISMUS IN EUROPA IN GESCHICHTE UND GEGENWART Cordelia Hess Eine Fußnote der Emanzipation? Antijüdische Ausschreitungen in Stockholm 1838 und ihre Bedeutung für eine Wissensgeschichte des Antisemitismus 65 Andreas Brämer Tierschutzbewegung und Antisemitismus in der frühen Bundesrepublik. Karl-Ferdinand Finus und der Protest gegen die rituelle Schlachtpraxis der Juden 88 Margit Reiter Antisemitismus in der FPÖ und im „Ehemaligen“-Milieu nach 1945 117 Inhalt Nora Lege · Stefan Munnes Postmoderner Antisemitismus? Im Spannungsfeld von Individualismus und Gemeinschafsorientierung: Ergänzende Betrachtungen zu den „Mahnwachen für den Frieden“ 150 VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Max Laube Die Verschwörungstheorie „Plan Andinia“. Eine Medienanalyse des chilenischen Falls „Rotem Singer“ (2011–2016) 177 Eren Yildirim Yetkin Imperialer Wahn und Untergangsfantasien. Zum Antisemitismus der konservativ-nationalistischen Szene in der Türkei 204 DEBATTE: MIT RECHTEN REDEN Sina Arnold Party für Alle 231 Marcus Funck Wer redet, ist nicht tot 236 Sabine Hark Wenn Rechte reden 242 Samuel Salzborn Mit Rechten (öfentlich) reden? Nein. 247 Die Autorinnen und Autoren 252 Stefanie Schüler-Springorum Vorwort Das Zentrum für Antisemitismusforschung beschäfigt sich größtenteils mit – man ahnt es – Antisemitismus. Dies ergab eine kürzlich erstellte Statistik aller unserer Aktivitäten der letzten fünf Jahre, also Veröfentlichungen, Tagungen, Workshops und Vortragsveranstaltungen. Weitere dominante Temenfel- der sind die deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit sowie die Geschichte des N ationalsozialismus bzw. des Holocaust. Für ein vergleichend und interdiszi- plinär arbeitendes Institut, das auch aktuell intervenieren möchte, sind dage- gen die Bereiche Rassismus, Islamfeindschaf, Homophobie und Antiziganis- mus erstaunlich deutlich unterrepräsentiert. Das diesjährige Jahrbuch spiegelt diesen Befund wider, sodass man ihm fast den Untertitel „Antisemitismus von den A nfängen bis in die Gegenwart“ verleihen könnte – wenn man denn damit den modernen Antisemitismus meinte und dessen Genese auf den Beginn des 18. Jahrhunderts datieren möchte. Den Anfang macht Rahel Stennes mit der detaillierten Untersuchung einer Rede, die Clemens von Brentano im Jahr 1811 vor den Mitgliedern der Deutschen Tischgesellschaf hielt. Nun ist der Antisemitismus dieser Gruppe hinlänglich bekannt, faszinierend ist jedoch, wie Brentano im Modus der Persifage einer wissenschaflichen Untersuchung die Bilder des Philisters und des Juden immer wieder gegen- und übereinanderlegt, sodass sich die Wirkung der Abwertung noch steigert, aber durch den angeblichen „Witz“ wiederum pseudo-entschärf wird. Ganz ähnlich hat bislang die Wagner-Forschung argumentiert, wenn sie die Mime und Alberich-Figuren im „Ring“ als leicht zu decouvrierende antise- mitische Zerrbilder interpretierte. Dass dies nicht ganz so einfach ist, wenn man sich dabei lediglich auf die angeblich „jiddische“ Sprechweise der besagten Pro- tagonisten konzentriert, belegt die sprachwissenschafliche Analyse von Boris B lahak: „Mime mauschelt nicht“, fasst er seinen Befund zusammen, was jedoch 8 Stefanie Schüler-Springorum der s ubkutanen Wirkung auf das zeitgenössische Publikum keinen Abbruch getan zu haben scheint. Genau hundert Jahre vor dem deutschen Novemberpogrom, das sich in die- sem Jahr zum 80. Mal jährte, kam es in Stockholm zu antijüdischen Ausschrei- tungen, bei denen auch die Privatwohnungen jüdischer Bürger angegrifen wur- den. Cordelia Heß verankert diese im Kontext der schwedischen Emanzipations- debatten, die – ähnlich wie in Deutschland – eine Verschiebung von religiösen hin zu kulturell-ethnischen Ausgrenzungsargumenten mit sich brachten. Juden galten fortan als ein eigener „Stamm“, als „Nation innerhalb der Nation“ und damit als potenziell illoyal. Entgegen der landläufgen liberalen Meistererzählung modernisierte sich in dieser Phase also nicht nur der schwedische Staat mit seiner gerade verabschiedeten Emanzipationsgesetzgebung, sondern zugleich auch das antisemitische Wissen, unter tatkräfiger Mitarbeit übrigens der schwedischen Medien. Einem nur auf den ersten Blick völlig anderen Tema widmet sich Andreas Brämer, waren doch der Tierschutz bzw. die in seinem Namen veranstalteten Kampagnen gegen das Schächten im ganzen 19. Jahrhundert ein beliebtes anti- semitisches Deck-Ressentiment. Es ist jedoch geradezu atemberaubend, wie unver- hohlen der im Mittelpunkt seines Beitrags stehende Tierschutzfunktionär Finus seinem in der NS-Zeit zur vollen Entfaltung kommenden Judenhass auch nach 1945 weiter freien Lauf lassen konnte, ohne dass dies irgendjemandem aufgefallen zu sein scheint. Angesichts des vielfach beschriebenen philosemitischen Habitus der frühen Bundesrepublik ist dies ein wichtiger Befund, will man die Persistenz eines über Jahrzehnte in die Kommunikationslatenz verschobenen Antisemitis- mus in Deutschland verstehen. Für Österreich galten dagegen, dies macht der Aufsatz von Margit Reiter mehr als deutlich, nach 1945 andere Regeln, kann doch von einer „Kommunikationslatenz“ zumindest in der frühen FPÖ keine Rede sein. Im Gegenteil, die von ihr untersuchten Quellen belegen eindeutig eine völlig ungebrochene Kontinuität zum nationalsozialistischen Denken und Fühlen, wie es beispielsweise in der Difamierung der „Emigranten“ – die Philister der Neu- zeit, sozusagen – und eigener innerparteilicher Konkurrenten als „jüdisch“ zum Ausdruck kam. Erst viel später als in Deutschland setzte sich in Österreich die Tabuisierung von öfentlich geäußertem Antisemitismus durch, was letztlich, so Reiter, zu einer Art „Double Speak“ führte, die sich bis heute bei der FPÖ – und Vorwort 9 nicht nur dort – nachweisen lässt. Mit einem ganz ähnlichen Tema befassen sich Nora Lege und Stefan Munnes, die sich noch einmal, nach ihrem Aufsatz im Jahr- buch von 2016, mit den „Montagswachen“ bzw. „Mahn wachen für den F rieden“ auseinandersetzen. Ging es ihnen damals um den Nachweis struktureller anti- semitisch grundierter Gemeinsamkeiten, blicken sie nun auf Diferenzen und Widersprüche in den dort zu Wort kommenden, sehr heterogenen Äußerungen und Konzepten. Mit guten Argumenten regen sie dazu an, über einen gewandel- ten, „postmodernen Antisemitismus“ nachzudenken, der sehr wohl kosmopoli- tisch-individualistische Vorstellungen in sich aufnehmen kann, ohne damit sein altes Feindbild zu verlieren. Eher klassisch geht es dagegen in Chile und in der Türkei zu: Max Laube zeichnet mithilfe einer detaillierten Analyse der Medienberichterstattung zum „Fall Rotem Singer“ nach, wie ein durch einen israelischen Touristen im Jahr 2011 hervorgerufener Waldbrand alte antisemitische Verschwörungstheorien ungebro- chen aktualisieren konnte. Der „Plan Andinia“, der in den 1960er-Jahren aus dem Umfeld der Eichmann-Söhne in Argentinien lanciert wurde, verdächtigt Israel der geplanten Landnahme in Patagonien, was zwar im Hinblick auf die mittlerweile 70-jährige Existenz Israels einigermaßen absurd erscheinen mag, aber, so belegt Laube, angesichts seiner ofensichtlichen antisemitischen Mobilisierungsmacht keineswegs zu unterschätzen ist. Ähnlich beeindruckend sind die verschwörungs- theoretischen Beispiele, die Eren Yildirim Yetkin aus Veröfentlichungen dreier konservativ-nationalistischer Publizisten in der Türkei herausdestillieren kann. Besonders aufschlussreich ist hier, dass diese Umschreibung des republikanischen historischen Narrativs mittels antijüdischer Feindzuschreibungen vor allem natio- nal bzw. nationalistisch argumentiert – und nur implizit auch religiös –, um damit zugleich die Vergangenheit eines supra-nationales Imperiums, des Osmanischen Reichs, zu verklären. Mit der bewussten Grenzverschiebung bzw. intendierten Neuakzentuierung in Bezug auf die deutsche Vergangenheit hatten wir es hierzulande in den ver- gangenen Monaten ebenfalls immer wieder zu tun, wobei jedoch antijüdische R essentiments wohlweislich nicht ofen bedient, sondern eher indirekt über Begrife wie „Denkmal unserer Schande“ oder „Vogelschiss“ transportiert werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich uns allen immer wieder die Frage, ob, wo und mit wem genau man sich über rechtspopulistische Inhalte auseinandersetzen soll. 10 Stefanie Schüler-Springorum Der das Jahrbuch abschließende Debatten-Teil nimmt dieses Tema auf und stellt vier unterschiedliche Positionen vor: Ich freue mich sehr, dass sich neben dem Initiator dieses neuen Formats, Marcus Funck, auf diese Weise auch unser Gast Samuel Salzborn sowie unsere neue Kollegin Sina Arnold dem Lesepublikum des ZfA