Werner Grünzweig, Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit, Neumünster: von Bockel 2019

Schlagworte/Keywords: Bernhard Lang; composition and music theory; ; Georg Fried- rich Haas; Gösta Neuwirth; ; Interviews; ; Komposition und Musiktheorie; Orm Finnendahl; Peter Ablinger

KONTEXT Vor diesem Hintergrund erscheint der Band Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs Der an fast jeder größeren Musikhochschule im Komponisten und einer Komponistin über ihre deutschsprachigen Raum angebotene Komposi- Studienzeit mit dem Versuch, »eine Innenan- tionsunterricht ist ein Bereich der künstlerisch- sicht davon [zu vermitteln], was es bedeutet, akademischen Lehre, welcher für den externen Komposition zu studieren« (so der Klappentext) Blick oftmals verschlossen bleibt. Innerhalb der als eine lohnenswerte Unternehmung, um dem Hochschule ist das bereits durch das größen- interessierten Blick von außen erhellende Ein- bedingte Nischendasein der Kompositionsstu- sichten in die Sphäre des akademischen Kom- diengänge mitbedingt, und auch die vorherr- positionsunterrichts zu gewähren und so po- schenden Lehrformate – studiengangsinterne tenzielle Anknüpfungspunkte an ganz unter- Kleingruppen und, besonders im Hauptfach, schiedliche Diskurse (kompositionstheoreti- Einzelunterricht – tragen nicht zur Durchlässig- sche, musikpädagogische, historiographische, keit des Lehrbetriebs bei. Daneben ist aber hochschulpolitische) aufzuzeigen. Eine zusätz- auch das Fehlen eines breiteren, von außen liche, explizit für die musiktheoretische Rezep- zugänglichen Diskurses über Ansätze, Metho- tionsperspektive relevante Dimension ergibt den und Praktiken des Kompositionsunterrichts sich aus dem personellen Gravitationszentrum 1 zu verzeichnen. Das verwundert nicht nur der sieben im Band versammelten Interviews, angesichts der langen Tradition institutionali- welche Werner Grünzweig, der langjährige sierter Kompositionslehre, sondern auch wegen Leiter der Musikarchive der Berliner Akademie der signifikanten Rolle, welche dem Komposi- der Künste, mit sechs Komponisten und einer tionsstudium in den individuellen Karrieren Komponistin geführt hat. Denn alle sieben junger Komponist*innen nach wie vor zu- Gespräche umkreisen – mal entfernter, zumeist kommt. Denn trotz der in letzter Zeit beobacht- aber in unmittelbarer Nähe – das Wirken des baren Tendenz, im Zuge zunehmender Trans- 1937 geborenen Komponisten und Musiktheo- und Interdisziplinarität auch traditionell außer- retikers Gösta Neuwirth. Genauer gesagt, geht akademisch verortete Musikszenen, -stile und es um Neuwirths Wirken als Hochschullehrer -praktiken in die Sphäre der neuen Musik mit und insbesondere seine Rolle als »alternativer einzubeziehen, so ist ein abgeschlossenes Kompositionslehrer« (Klappentext), welche alle Kompositionsstudium doch nach wie vor eine sieben Interviewten in je eigener Weise als hilfreiche, teils sogar notwendige Vorausset- prägend erlebt haben. Als besonders bemer- zung, um Zugang zur institutionellen Konzert-, kenswert kann das insofern gelten, als Neu- Festival- und Förderkultur zu erhalten. wirth nie als institutioneller Kompositionslehrer tätig war, sondern offiziell – zuerst in Graz und 1 Ausnahmen bilden hier musikpädagogische von 1983 bis 2002 als Professor an der Univer- Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Ver- sität der Künste (vormals Hochschule der Küns- mittlungspraxis neuer oder experimenteller te) Berlin – ausschließlich Musiktheorie unter- Musik zumeist in schulischen Kontexten, vgl. richtete. Gleichwohl übte er auf eine Vielzahl Schlothfeldt 2015; Wieneke 2016; Schloth- von Kompositionsstudierenden – die im Band feldt/Vandré 2018.

ZGMTH 17/1 (2020) | 207 TOM ROJO POLLER interviewten Peter Ablinger, Orm Finnendahl, nenz der Namen gestützt, ebenso unterstreicht Georg Friedrich Haas, Hanspeter Kyburz, die bemerkenswerte stilistische Diversität der Bernhard Lang, Isabel Mundry und Enno Poppe sieben Komponist*innen Neuwirths Einfluss. So bilden hier nur eine Auswahl besonders promi- sind etwa mit Peter Ablingers Konzeptualismus- nenter Schüler*innen – einen Einfluss aus, des- ansatz, Haas’ Mikrotonalitätsaneignung oder sen Wirkung mit jener des Kompositionshaupt- Bernhard Langs Loop-Musik ausgesprochen fachunterrichts vergleichbar war oder diese unterschiedliche Denkschulen und Traditions- sogar noch übertraf. Aus musiktheoretischer linien in Neuwirths Schülerschaft vertreten. Sicht interessant erscheint also die Frage, wie Schon durch Selektion und formale Zusam- genau sich das von Neuwirth verkörperte enge menstellung seiner Interviewpartner weist Wechselverhältnis von Musiktheorie und Kom- Grünzweig also auf die im Verlauf der Gesprä- positionslehre darstellte und ob eine produktive che auch inhaltlich thematisierte Qualität von Übertragung in die heutige Zeit möglich und – Neuwirths pädagogischem Wirken hin, in Rich- wenn ja – wünschenswert ist. tung ganz unterschiedlicher ästhetischer Dispo- sitionen und Präferenzen seine Wirkung entfal- AUFBAU tet zu haben. Der Textteil des Bandes umfasst sieben Kapitel, PERSPEKTIVITÄT die jeweils ein Komponist*innen-Gespräch enthalten, und wird eingeleitet von einem kur- Die grundlegende, im Vorwort explizit reflek- zen Vorwort Grünzweigs. In diesem erfährt tierte Entscheidung Grünzweigs, die sieben man unter anderem, dass die Gespräche bereits Gespräche unkommentiert nebeneinanderge- in den Jahren 2007 und 2008 geführt wurden, stellt zu präsentieren, erzeugt im Resultat eine dass sie Grünzweig allerdings erst 2017 für Multiperspektivität, welche sowohl für den eine Veröffentlichung in Erwägung zog. Ob es informativen Gehalt der einzelnen Gespräche sich in der nun veröffentlichten Form um die wie auch für die Leseerfahrung und Wirkung gesamten Gespräche handelt, inwieweit sie des Bandes als Ganzes konstitutiv ist. Auf in- gekürzt oder nach welchen Kriterien Teile aus- haltlicher Ebene bildet die Person Neuwirths gewählt wurden, bleibt dagegen leider unklar. das gemeinsame Objekt, auf das die sieben Offenkundig hingegen ist, dass die Überarbei- Interviewten – durch Grünzweigs Fragestellun- tungen der (bis auf ganz wenige Flüchtigkeits- gen mal mehr, mal weniger gezielt gelenkt – fehler) sehr sorgfältig edierten Gesprächstran- ihren subjektiven Fokus richten. Neben den skriptionen sehr dezent ausgefallen sind, denn naturgemäß individuell unterschiedlichen der jeweilige individuelle Tonfall der Inter- Wahrnehmungen, Meinungen und Wertungen, viewpartner*innen vermittelt sich ebenso un- die in das jeweils gezeichnete Neuwirth-Porträt mittelbar wie die naturgemäß teils assoziative, einfließen, ist es dabei auch die zeitliche Kom- sprunghafte oder abschweifende Dramaturgie ponente, welche das entstehende Gesamtbild des Interviewformats. weiter auffächert. Denn einerseits wird von Bei der Anordnung der sieben Gesprächs- seiner Anfangszeit in Graz, in die Georg Fried- kapitel scheint sich Grünzweig primär chrono- rich Haas’ und Peter Ablingers Bekanntschaft logisch am Geburtsjahr seiner Interviewpart- mit Neuwirth fällt, bis zum Ende des Studiums ner*innen orientiert zu haben. So gehören die von Enno Poppe, als Neuwirth kurz vor seiner sieben interviewten Komponist*innen – vom Emeritierung stand, fast dessen gesamte Hoch- 1953 geborenen Georg Friedrich Haas bis zum schulkarriere in den zeitlichen Horizont mit jüngsten vertretenen Neuwirth-Schüler, dem einbezogen, andererseits schreibt sich unwei- 1969 geborenen Enno Poppe, reichend – min- gerlich auch die bekanntermaßen kreative Dy- destens drei unterschiedlichen Studierenden- namik des Gedächtnisses in die zum Ge- generationen an. Die im Vorwort formulierte sprächszeitpunkt teils über 30 Jahre zurücklie- These Grünzweigs, dass Neuwirth »zu den genden Erinnerungen mit ein. Zusammenge- einflußreichsten Kompositionslehrern seiner nommen mit dem zehnjährigen Intervall zwi- Zeit zu zählen ist« (7) wird aber nicht nur schen Interviews und Veröffentlichung ergibt durch diese temporale Breite und die Promi- sich mithin eine multiple zeitliche Brechung,

208 | ZGMTH 17/1 (2020) REZENSION: WERNER GRÜNZWEIG, WIE ENTSTEHT DABEI MUSIK? welche die Autorität eines einheitlichen, um- Denn dadurch, dass sich als Fokus der Gesprä- fassenden Bildes oder Narrativs von vornherein che ganz klar die Konturierung eines mosaikar- in Frage stellt. Ganz ähnlich wie in Akira Kuro- tigen Neuwirth-Porträts herauskristallisiert, sawas berühmtem multiperspektivisch erzähl- kann der sinnstiftende Leseakt je nach Indivi- ten Rashomon (1950), einem Lieblingsfilm dualinteresse einzelne Aspekte – sowohl inner- Neuwirths, auf den er auch in seinem Unter- halb als auch außerhalb dieses Rahmens – in richt immer wieder zu sprechen kam, ist man den Vordergrund treten lassen, miteinander als Leser*in dadurch automatisch dazu heraus- verbinden oder auch vollkommen ausblenden. gefordert, auf Zusammenhänge und Bezüge So wird z. B. jemand, der sich für das österrei- zwischen den unterschiedlichen Darstellungen chische Musikhochschulwesen der 1970er zu achten und aus den angebotenen Sichtwei- Jahre interessiert, in den Gesprächen mit Peter sen ein eigenes Bild zu extrahieren. In man- Ablinger, Bernhard Lang und Georg Friedrich chen Fällen gelingt das problemlos – über Haas, in denen diese schildern, wie sie Neu- Neuwirths eben erwähnte Referenz auf japani- wirth als eine der wenigen Personen an der sche Filmkunst z. B. wird einhellig berichtet –, ansonsten eher regressiven Grazer Musikhoch- in anderen Fällen – besonders was die Bewer- schule kennen und schätzen lernten, sicher die tung von Neuwirths Lehrerrolle und sein Ver- eine oder andere neue Information finden. ständnis von Musiktheorie angeht – gilt es hin- Nichtexperten hingegen werden diesbezügli- gegen immer wieder auch, voneinander ab- che Details, Personen und auch manches weichende Positionen und komplementäre Anekdotische einfach überlesen. Ebenso kann Informationen miteinander abzustimmen. Eine man – das jeweilige Interesse vorausgesetzt – solche aktiv-konstruierende Lesehaltung kann ohne Frage auch Aufschlussreiches über indi- freilich zur Selbstreferentialität tendieren (und viduelle Lebensläufe der interviewten Kompo- ist daher normalerweise auch eher in literari- nist*innen und über konkrete damit in Verbin- schen Kontexten zu finden); im vorliegenden dung stehende historische Gegebenheiten er- Fall steht sie allerdings ganz im Dienst der fahren, so etwa wenn Isabel Mundry stim- Gesamtwirkung. Diese kann sich erstaunlich mungsvoll von ihrer musikalischen Sozialisati- effektiv entfalten, einerseits weil die Gespräche on im West-Berlin der 1980er Jahre erzählt und eine ausgewogene Balance aus Kon- und Di- z. B. von der Schwierigkeit berichtet, über- vergenzen, aus offensichtlichen Sinnangeboten haupt einen qualifizierten Privatlehrer für und versteckten Interpretationsaufforderungen Komposition zu finden. Und auch kompositi- bieten und andererseits weil die Herausforde- onsmethodisch Interessierte werden immer rung des sinnstiftenden Leseakts die – im Ver- wieder auf eingestreute Details stoßen, etwa gleich zu einem konzise ausformulierten dass offenbar noch vor zwei Lehrendengenera- schriftsprachlichen Text – naturgemäß relativ tionen (namentlich bei an geringe bzw. sehr schwankende Informations- der Hochschule der Künste) ein an kontrapunk- dichte aufmerksamkeitsökonomisch kompen- tischen Exempla und Praecepta orientierter, aus siert. Durch die im Laufe der Kapitel immer heutiger Sicht antiquiert wirkender Unterricht deutlicher werdende multiperspektivische im Hauptfach Komposition praktiziert wurde. Grunddisposition erhält der Band, der zunächst Doch sieht man von solchen oder anderen eher noch als leichte, in flüssigem Konversationston von Partikularinteressen geleiteten Perspektiven gehaltene Lektüre erscheint, mithin eine an- ab, so werden die meisten Leser*innen die fangs nicht erahnte infratextuelle Tiefendimen- genannten Einzelaspekte doch wohl primär sion, welche ganz wesentlich zur Lust am Text eher als Hintergrund für das wahrnehmen, was beiträgt. sich ohne Frage in den Vordergrund des Sicht- feldes drängt: die Person und das Wirken Gösta VIELSCHICHTIGKEIT Neuwirths. Versucht man, aus einer übergeordneten, Die skizzierte Multiperspektivität bietet nicht um Ausgewogenheit bemühten Perspektive nur den kohärenzstiftenden formalen Rahmen heraus die unterschiedlichen Sichtweisen auf der sieben Gespräche, sie begünstigt auch eine Neuwirth zusammenzubringen, so ergibt sich inhaltlich vielschichtige Leseweise des Bandes. ein komplexes, vielschichtiges Bild, auf dessen

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Oberfläche gleichwohl einige Merkmale deut- grundlegend querständig-rebellischer Haltung lich hervortreten: so etwa die vorurteilslose gegenüber institutionellen Vorgaben und Zwän- Offenheit und das aufrichtige Interesse, das gen zusammenhing. Neuwirth gegenüber allen aufbrachte, die sich Wenn die hier sehr grob zusammengefass- ernsthaft mit der künstlerischen Moderne im ten Grundzüge sich – in unterschiedlicher Ak- Allgemeinen und der neuen Musik im Beson- zentuierung – durch alle sieben Gespräche deren beschäftigen wollten, und – damit ver- ziehen, so weichen die Darstellungen anderer knüpft – die großzügige Bereitschaft, für diese Aspekte in den Augen von Neuwirths früheren Interessierten ein Ausmaß an Zeit und Energie Schüler*innen doch auch signifikant voneinan- aufzubringen, welches den Rahmen der Lehr- der ab. Diese Varianzen lassen sich einerseits verpflichtungen regelmäßig sprengte und daher durch unterschiedliche zeitliche Perspektiven oft in außerakademische, halb-private, teils auf, im Grunde genommen, konstante Merkma- auch freundschaftliche Formate kanalisiert le von Neuwirths Wirken erklären. Während wurde. Zu nennen wäre aber auch Neuwirths z. B. Haas und Ablinger davon erzählen, dass auf den ersten Blick alles andere als charismati- sie Neuwirth in seiner Grazer Zeit als Verfech- sche, sondern vor allem ein Höchstmaß an ter einer ›echten‹ Avantgarde kennenlernten, Intellektualität und zuweilen auch Zaudern und der aus einer selbstbewusst-kritischen Perspek- Skepsis ausstrahlende Erscheinungs- und Aus- tive heraus aufgezeigt habe, dass »man die drucksweise, welche aber offenbar immer wie- Sachen überhaupt auseinandernehmen kann, der eine ungeahnt enthusiastische Intensität zu die erstmal so kompakt daherkommen« (48), so vermitteln in der Lage war. Das hing wohl vor berichtet Orm Finnendahl aus seiner ca. allem auch mit Neuwirths spezifischer Art zu- 15 Jahre später gewonnenen Perspektive heraus sammen, von jenen persönlichen, teils recht dagegen von seinem Gefühl, dass »Gösta viel spezifischen Interessen auszugehen, von denen von der Entwicklung der zeitgenössischen auch die übersichtliche Zahl seiner fachbezo- Künste nicht mitbekommen hat, aber in seinem genen Publikationen zeugen (vor allem sind Selbstverständnis ständig auf der Höhe seiner hier Franz Schreker, die Wiener Schule und die Zeit war« (162); und Isabel Mundry hinterfragt franko-flämische Vokalpolyphonie zu nennen), nicht zuletzt auch von ihrer Position als Kom- diese aber immer auch schon zu entpersonali- positionsprofessorin aus, ob Neuwirths unbe- sieren und, teils extrem assoziativ und spekula- dingter Anspruch auf kompositorische Auto- tiv, in größere, die Grenzen von Musiktheorie nomie und künstlerische Unkorrumpierbarkeit und Komposition sprengende Kontexte einzu- den Studierenden nicht auch ein problemati- betten. Die virtuose Trans- bzw. Interdisziplina- sches, heutzutage nicht mehr legitimierbares rität dieses scheinbar paradoxen, objektiviert- Beispiel potenzieller Kommunikationsverwei- individuellen, domestiziert-wilden Denkens gerung gegeben habe (134–141). Scheinbar wurde von vielen Kompositionsstudierenden – relativ konstante Auffassungen, Interessen und insbesondere wenn ihr Hauptfachunterricht Eigenschaften Neuwirths werden hier also aus eng umgrenzt und vor allem auf handwerkliche unterschiedlichen Perspektiven ganz verschie- Fertigkeiten ausgerichtet war – als eine be- den gesehen. Andere Abweichungen sind da- freiende Horizonterweiterung erfahren, wes- gegen viel stärker durch die Beziehungsarten halb sich viele von ihnen immer wieder auch und -intensitäten zu Neuwirth sowie die unter- mit eigenen kompositorischen Arbeiten an schiedlichen Persönlichkeiten der ehemaligen Neuwirth wandten. Die Faszinationskraft Neu- Schüler*innen bedingt. Das bezieht sich vor wirths konnte so eine Dynamik entfalten, wel- allem auf den Gestus der abwägenden Dis- che in einer bestimmten Phase der 1980er tanznahme. Denn wenn die positiv prägenden Jahre zu einer sich aus Neuwirths Theoriesemi- Einflüsse Neuwirths in der Darstellung von naren herausbildenden Gruppe führte, welche allen sieben Interviewten auf ähnliche Qualitä- für Außenstehende zuweilen als esoterisch- ten des Lehrers zurückgeführt werden – etwa sektenhaft wahrgenommen wurde. Diese Wir- seine analytische Geistesschärfe, assoziative kung hatte wohl nicht zuletzt auch mit einer Originalität und antiautoritäre Art –, so unter- nach außen gerichteten Abgrenzung zu tun, scheiden sich die kritischen Auseinanderset- welche mit der Übernahme von Neuwirths zungen mit Neuwirth doch recht stark. Am

210 | ZGMTH 17/1 (2020) REZENSION: WERNER GRÜNZWEIG, WIE ENTSTEHT DABEI MUSIK? besten lässt sich das an den Darstellungen ÜBERTRAGBARKEIT Mundrys und Kyburz’ ablesen, beide Angehö- rige des oben erwähnten inneren ›Gösta- Kyburz’ Kritik berührt gleichwohl einen neural- Zirkels‹ in Neuwirths früher HdK-Zeit. gischen Punkt, der für eine musiktheoretische Mundrys bereits oben skizzierte teils kriti- Rezeptionsperspektive, die nach der Relevanz sche Beurteilung ist nicht nur sehr differenziert und potenziellen Übertragbarkeit von Neu- gehalten, sie basiert auch auf der explizit wirths Hochschulwirken fragt, von entschei- selbstreflektierten Beschreibung einer allmähli- dender Bedeutung ist. Er betrifft gleichermaßen chen Entzauberung von Neuwirths Faszinati- das Selbstverständnis wie die Außenwahrneh- onskraft auf sie. Die Kritik Hanspeter Kyburz’ mung Neuwirths im Spannungsverhältnis zwi- hingegen fällt deutlich prinzipieller aus. So schen künstlerisch-assoziativ-generativem und schildert dieser zwar einerseits einen ähnlichen wissenschaftlich-universalistisch-exaktem Den- Relativierungsprozess, wenn er vor allem das ken. Isabel Mundry fasst das sehr schön zu- zeitgleich begonnene Studium bei Carl Dahl- sammen, wenn sie Neuwirth als jemanden haus an der Technischen Universität dafür ver- beschreibt, antwortlich macht, dass viele spekulative The- der auf sehr eigenwillige Weise die Dinge so sen Neuwirths, die zunächst »unglaublich in Beziehung zueinander setzt, daß sie für interessant wirkten, […] sich später als leer ihn sinnhaft werden und aus dieser Perspek- erwiesen« (94 f.), gleichzeitig unterstellt er tive auch für andere interessant sind. Das Neuwirth aber auch eine gezielte Verunkla- sind Bereiche gewesen, die je einen institu- rungsstrategie: »Er [Neuwirth] hat Dinge auch tionell eigenen Ort hatten, aber selten zu- sammenkamen. Gösta ist im Grund inter- bewußt spekulativ dargestellt. Und diese pro- oder transdisziplinär in sich selbst […], er hat duktive Verwirrung bekam irgendwann etwas sich erlaubt, den Umgang mit Musikwissen- Habituelles, Stilisiertes, auch Selbststilisiertes schaft und Theorie nicht als institutionelle […].« (82) Eine solche sich am Ideal objektiver Vorgabe zu betrachten […], sondern als eine Darstellungsweise und überzeitlicher Geltung Möglichkeit, die man selbst bespielt. (133) orientierende Problematisierung ist ohne Frage Wesentliche Kernaspekte der Lehrergestalt legitim und – setzt man einen wissenschaftli- Neuwirth scheinen hier noch einmal zusam- chen Maßstab an Neuwirths Thesen an – auch mengefasst auf: der persönliche Zugriff und geboten (ein gutes Exemplifikationsobjekt dafür Enthusiasmus für die Sache, die Lizenz zum stellt z. B. Neuwirths Artikel über gematrisches selbstbestimmten Denken, die Modernität Denken bei Josquin des Prez dar)2, gleichzeitig grenzüberschreitender Zusammenhangsbildun- verfehlt sie aber auch das Moment situativ- gen, die Faszinationskraft, welche nicht nur auf suggestiver Inspiration, welches laut Kyburz so Wissen, sondern auch auf Suggestion und charakteristisch für Neuwirths Unterrichtsweise konstruktiver Spekulation beruht. Einige dieser war und – so ist den anderen Gesprächen zu Merkmale sind nun ohne Frage Qualitäten, die entnehmen – auf die Mehrzahl der Studieren- auch für die heutige musiktheoretische Praxis den auch vollkommen authentisch gewirkt in Forschung wie Lehre Maßstäbe abgeben hat.3 könnten. Wenn z. B. Enno Poppe eindrücklich beschreibt, dass es Neuwirth selbst bei der Korrektur simpler Kontrapunktaufgaben stets

darum ging, dass »auch in den einfachsten 2 Vgl. Neuwirth 1982. Dingen immer Ideen verborgen sind« (175), 3 Kyburz’ unausgewogene Kritik ist vielleicht aus dann drückt sich darin ein von künstlerisch- seiner intensiven Involvierung in die Einfluss- kompositorischer Praxis durchdrungener An- sphäre Neuwirths zu erklären. So wurde er – satz aus, der für einen inspirierten musiktheore- wie sich aus den Gesprächen mit Bernhard tischen Unterricht als nach wie vor vorbildhaft Lang und Orm Finnendahl ergibt – unter allen gelten kann. Andere Aspekte hingegen erschei- Mitgliedern des ›Gösta-Zirkels‹ aus der Außen- perspektive als Neuwirths glühendster Anhän- nen problematischer. So sollte sich die gegen- ger angesehen – eine Rolle, die er in seinem wärtige Musiktheorie, gerade weil sie immer eigenen Interview bezeichnenderweise gänz- noch zwischen künstlerischer Scylla und wis- lich ausklammert. senschaftlicher Charybdis manövriert, vielleicht

ZGMTH 17/1 (2020) | 211 TOM ROJO POLLER weniger mithilfe eines vagen, assoziativ- ausschließlicher Hauptfachunterricht ohne spekulativen Richtungssinns als vielmehr an- Frage ganz eigene Anforderungen stellt; ande- hand eines klaren Methodenkompasses orien- rerseits erfolgen die in den einzelnen Gesprä- tieren. Folglich gälte es, wissenschaftliche und chen enthaltenen Diskussionen kompositions- künstlerische (inklusive spekulativer) Ansätze technischer Fragestellungen formatbedingt und Paradigmen in ihrem Methodenrepertoire ohne Anschauungsmaterialien wie Partituren zunächst einmal klar auseinanderzuhalten und oder ähnliches und sind deswegen schlicht zu – wenn gewünscht – explizit gekennzeichnet abstrakt gehalten, als dass genauere methodi- miteinander in Beziehung zu setzen. Georg sche oder systematische Schlüsse aus ihnen Friedrich Haas’ mit offensichtlichem Bedauern gezogen werden könnten. Der im Titel des geäußerte Bemerkung, dass es in der heutigen Bandes dem Gespräch mit Enno Poppe ent- Hochschullandschaft keinen Platz mehr für nommenen Frage, wie im und durch den Kom- eine Lehrergestalt wie Gösta Neuwirth gäbe positionsunterricht Musik entstehe, kann der (vgl. 23), wäre in dieser Hinsicht daher auch zu Band daher nur andeutungsweise beikommen. relativieren. Denn die Besetzung einer Profes- Die versprochene Einsicht ins Innenleben des sur für die Geschichte der Musiktheorie (diese Kompositionsstudiums aus den persönlichen, hatte Neuwirth in Berlin inne) mit jemandem, größtenteils informativen, teils auch anekdoti- der fast ausschließlich systematisch und speku- schen Erinnerungen der interviewten Kompo- lativ argumentiert, wäre in Zeiten historisch nist*innen ist gleichwohl höchst lesenswert und informierter Musiktheorie mit gutem Recht teilweise auch recht unterhaltsam. Der Haupt- undenkbar. verdienst des Bandes liegt aber ohne Frage in Abgesehen von den oben skizzierten allge- der multiperspektivisch-historiographischen Re- meinen berufsethischen und persönlichkeitsbe- konstruktion einer fiktiven ›Klasse Neuwirth‹. zogenen Qualitäten erscheint eine Übertragung Mit dieser vielstimmig aufgefächerten Hom- von Neuwirths Unterrichtspraxis auf heutige mage an eine beeindruckende Lehrergestalt Verhältnisse also schwierig, nicht zuletzt auch, gelingt Grünzweig eine Fortschreibung seines weil sich die hochschulpolitischen Rahmenbe- bereits 1997 zum 60. Geburtstag Neuwirths dingungen so grundlegend geändert haben, publizierten Sammelbandes zu dessen Schaf- dass die Lizenzen der Unterrichtsgestaltung, fen. Anders als dort kommt Neuwirth selbst die sich Neuwirth gestattete, im heutigen allerdings nicht zu Wort, vielmehr ist er allein durchorganisierten Bachelor- und Mastersystem durch eingestreute Manuskriptseiten einzelner vollkommen unmöglich erscheinen. Gleiches Kompositionen vertreten. Diese editorische gilt – auch wenn hier die Freiheiten im künstle- Geste passt sich stimmig in das ungewöhnliche rischen Hauptfachunterricht immer noch grö- Format des Bandes ein und trägt dazu bei, dass ßer sein mögen – auf dem Feld der Kompositi- eine von Isabel Mundry beiläufig geäußerte, onslehre. Dass der Band hier eher allgemeine aber vollkommen zutreffende Forderung einge- als methodisch konkrete Anregungen liefern löst wird, nämlich dass eine angemessene Re- kann, liegt einerseits daran, dass Neuwirth in zeption des Wirkens von Gösta Neuwirth »ge- seiner Rolle als ›alternativer‹ Kompositionsleh- nauso eigenwillige Formen entwickeln muß, rer seine Wirkungskraft oftmals gerade durch wie sein Schaffen eigenwillig ist« (135). die Komplementarität zum regulären Komposi- tionsunterricht entfalten konnte, während ein Tom Rojo Poller

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Literatur

Grünzweig, Werner (Hg.) (1997), Gösta Neu- Schlothfeldt, Matthias (2015), Komponieren im wirth. Verzeichnis der musikalischen Schrif- Unterricht, 2. Auflage, Hildesheim: Olms. ten und Editionen, Inventar der Musikalien Schlothfeldt, Matthias / Philipp Vandré (Hg.) im Gösta-Neuwirth-Archiv, Hofheim: Wolke. (2018), Weikersheimer Gespräche zur Kom- Neuwirth, Gösta (1982), »Erzählung von Zah- positionspädagogik, Regensburg: ConBrio. len«, in: Josquin des Prés (= Musik-Konzepte, Wieneke, Julia (Hg.) (2016), Zeitgenössische Bd. 26/27), hg. von Heinz-Klaus Metzger Musik vermitteln in Kompositionsprojekten und Rainer Riehn, München: edition text + an Schulen, Hildesheim: Olms. kritik, 4–38.

Poller, Tom Rojo (2020): Werner Grünzweig, Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit, Neumünster: von Bockel 2019. ZGMTH 17/1, 207–213. https://doi.org/10.31751/1038 © 2020 Tom Rojo Poller ([email protected]) Universität der Künste Berlin [Berlin University of the Arts] Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License. eingereicht / submitted: 15/01/2020 angenommen / accepted: 15/01/2020 veröffentlicht / first published: 15/06/2020 zuletzt geändert / last updated: 15/06/2020

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