<<

Plenarprotokoll 15/91

Deutscher

Stenografischer Bericht

91. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Inhalt:

Gratulation zum 60. Geburtstag des Abgeord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 8024 B neten ...... 8007 A Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 8025 D Benennung der Abgeordneten Antje CDU/CSU ...... 8028 D Hermenau als ordentliches Mitglied und der Abgeordneten als stellver- Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 8028 D tretendes Mitglied in den Verwaltungsrat bei () SPD ...... der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- 8029 B aufsicht ...... 8007 B fraktionslos ...... 8030 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Klaus Brandner SPD ...... 8031 D nung ...... 8007 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 10 b . . 8008 A Tagesordnungspunkt 4: Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 8008 A Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. , Dr. , weiteren Abge- Tagesordnungspunkt 3: ordneten und der Fraktion der FDP a) Unterrichtung durch die Bundesregie- eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung: Jahreswirtschaftsbericht 2004 zes zur Einführung einer neuen Ein- der Bundesregierung: Leistung, In- kommensteuer und zur Abschaffung novation, Wachstum der Gewerbesteuer (Drucksache 15/2405) ...... 8008 B (Drucksache 15/2349) ...... 8034 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Dr. Hermann Otto Solms FDP ...... 8034 B rung: Jahresgutachten 2003/2004 des , Bundesminister BMF ...... 8037 A Sachverständigenrates zur Begut- achtung der gesamtwirtschaftlichen Dr. Hermann Otto Solms FDP ...... 8039 C Entwicklung Dr. CDU/CSU ...... 8041 D (Drucksache 15/2000) ...... 8008 C Christine Scheel BÜNDNIS 90/ , Bundesminister BMWA 8008 C DIE GRÜNEN ...... 8044 D CDU/CSU ...... 8011 D CDU/CSU ...... 8046 C () BÜNDNIS 90/ Dr. Andreas Pinkwart FDP ...... 8048 D DIE GRÜNEN ...... 8015 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/ Rainer Brüderle FDP ...... 8017 D DIE GRÜNEN ...... 8049 C SPD ...... 8020 D Joachim Poß SPD ...... 8050 B Jürgen Reinholz, Minister (Thüringen) . . . . . 8022 D Dr. FDP ...... 8051 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bartholomäus Kalb CDU/CSU...... 8052 D Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Hermann Otto Solms FDP ...... 8053 D a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Hans-Michael Goldmann, Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 8055 A Jürgen Türk, weiteren Abgeordneten Kerstin Andreae BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der FDP eingebrach- DIE GRÜNEN ...... 8055 D ten Entwurfs eines Gesetzes zur end- gültigen Regelung über Altschulden Peter Rzepka CDU/CSU ...... 8056 C landwirtschaftlicher Unternehmen Ina Lenke FDP ...... 8058 D (LandwirtschaftsEnd-Altschulden- gesetz – LwEndAltschG) (Drucksache 15/2468) ...... 8059 D Tagesordnungspunkt 28: b) Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer a) Erste Beratung des von den Abgeord- Stinner, , weiterer Abge- neten Dirk Manzewski, Joachim ordneter und der Fraktion der FDP: Stünker, weiteren Abgeordneten und Genfer Abkommen als Ausdruck der Fraktion der SPD, den Abgeordne- zivilgesellschaftlicher Friedensinitia- ten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), tive unterstützen Dr. Norbert Röttgen, weiteren Abge- (Drucksache 15/2195) ...... 8059 D ordneten und der Fraktion der CDU/ CSU, den Abgeordneten , (Köln), weite- Tagesordnungspunkt 29: ren Abgeordneten und der Fraktion a) Zweite und dritte Beratung des von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Bundesregierung eingebrachten Ent- NEN sowie den Abgeordneten Jörg wurfs eines Gesetzes zur Änderung van Essen, , weiteren des Fleischhygienegesetzes, des Ge- Abgeordneten und der Fraktion der flügelfleischhygienegesetzes und des FDP eingebrachten Entwurfs eines Lebensmittel- und Bedarfsgegen- … Strafrechtsänderungsgesetzes – ständegesetzes und sonstiger Vor- § 201 a StGB ( … StrÄndG) schriften (Drucksache 15/2466) ...... 8059 B (Drucksachen 15/2293, 15/2480) . . . . 8060 A b) Erste Beratung des von der Bundesre- b) Zweite Beratung und Schlussabstim- gierung eingebrachten Entwurfs eines mung des von der Bundesregierung Gesetzes zu dem Protokoll betref- eingebrachten Entwurfs eines Geset- fend die Verringerung von Versaue- zes zu dem Seeverkehrsabkommen rung, Eutrophierung und boden- vom 10. Dezember 2002 zwischen nahem Ozon (Multikomponenten- der Europäischen Gemeinschaft und Protokoll) vom 30. November 1999 ihren Mitgliedstaaten einerseits und im Rahmen des Übereinkommens der Regierung der Volksrepublik von 1979 über weiträumige grenz- China andererseits überschreitende Luftverunreinigung (Drucksachen 15/2284, 15/2444) . . . . 8060 B (Drucksache 15/2410) ...... 8059 C c) Zweite und dritte Beratung des von der c) Antrag der Abgeordneten Günter Bundesregierung eingebrachten Ent- Nooke, Dirk Fischer (), wei- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag terer Abgeordneter und der Fraktion vom 17. Juli 2003 zwischen der Bun- der CDU/CSU: Planung und städte- desrepublik Deutschland und der bauliche Zielvorstellungen des Bun- Republik Polen über die Ergänzung des für den Bereich beiderseits der des Europäischen Übereinkommens Spree zwischen Marschall- und Wei- vom 20. April 1959 über die Rechts- dendammer Brücke vorlegen hilfe in Strafsachen und die Erleich- (Drucksache 15/2157) ...... 8059 C terung seiner Anwendung d) Unterrichtung durch den Bundesrech- (Drucksachen 15/2254, 15/2445) . . . . 8060 C nungshof: Bemerkungen des Bundes- rechnungshofes 2003 zur Haus- d) Zweite Beratung und Schlussabstim- halts- und Wirtschaftsführung mung des von der Bundesregierung (einschließlich der Feststellungen eingebrachten Entwurfs eines Geset- zur Jahresrechnung des Bundes zes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2002) 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Po- (Drucksache 15/2020) ...... 8059 D len über die Ergänzung des Euro- in Verbindung mit päischen Auslieferungsübereinkom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 III

mens vom 13. Dezember 1957 und Kristina Köhler (Wiesbaden) CDU/CSU . . . 8074 C die Erleichterung seiner Anwen- dung Erika Simm SPD ...... 8075 C (Drucksachen 15/2255, 15/2446) . . . . 8060 D CDU/CSU ...... 8076 C e) Beratung der Dritten Beschlussemp- Joachim Stünker SPD ...... 8077 B fehlung des Wahlprüfungsausschusses zu 20 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag einge- Tagesordnungspunkt 5: gangenen Wahleinsprüchen (Drucksache 15/ 2400) ...... 8061 A a) Antrag der Abgeordneten Dr. Erika Ober, Karin Kortmann, weiterer Abge- f) – j) ordneter und der Fraktion der SPD so- Beschlussempfehlungen des Petitions- wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, ausschusses: Sammelübersichten 90, Hans-Christian Ströbele, weiterer Ab- 91, 92, 93 und 94 zu Petitionen geordneter und der Fraktion des (Drucksachen 15/2449, 15/2450, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 15/2451, 15/2452, 15/2453) ...... 8061 C Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivieren (Drucksache 15/2408) ...... 8078 B Tagesordnungspunkt 27: b) Antrag der Abgeordneten Karin – Zweite und dritte Beratung des von der Kortmann, , weiterer Ab- Bundesregierung eingebrachten Ent- geordneter und der Fraktion der SPD wurfs eines Gesetzes zu dem Über- sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, einkommen vom 28. Mai 1999 zur Hans-Christian Ströbele, weiterer Ab- Vereinheitlichung bestimmter Vor- geordneter und der Fraktion des schriften über die Beförderung im BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: internationalen Luftverkehr (Mon- Das Center for International Coope- trealer Übereinkommen) ration (CIC) stärken und weiter aus- (Drucksachen 15/2285, 15/2486) . . . . 8061 D bauen (Drucksache 15/2396) ...... 8078 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- c) Antrag der Abgeordneten Dagmar wurfs eines Gesetzes zur Harmoni- Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, sierung des Haftungsrechts im Luft- weiterer Abgeordneter und der Frak- verkehr tion der SPD sowie der Abgeordneten (Drucksachen 15/2359, 15/2486) . . . . 8062 B Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Zusatztagesordnungspunkt 2: NEN: Wüstenbildung wirksam be- kämpfen – Armut überwinden, Aktuelle Stunde auf Verlangen der Ernährung sichern, Konflikte ver- Fraktion der CDU/CSU: Welche Kon- hindern sequenz zieht die Bundesregierung (Drucksache 15/2395) ...... 8078 C aus dem Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts zur nachträglichen Si- d) Antrag der Abgeordneten Dr. Christian cherungsverwahrung ...... 8062 B Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 8062 C CDU/CSU: Umdenken in der Kon- , Bundesministerin BMJ . . . . 8063 D gopolitik (Drucksache 15/2335) ...... 8078 D Jörg van Essen FDP ...... 8066 A in Verbindung mit Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 8067 A Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 8068 A Zusatztagesordnungspunkt 3: SPD ...... 8068 D Antrag der Abgeordneten Conny CDU/CSU ...... 8069 C Mayer (Baiersbronn), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 8070 C Fraktion der CDU/CSU: Entwick- lungspolitik muss Bekämpfung von Dorothee Mantel CDU/CSU ...... 8070 C HIV/Aids verstärken Hans-Peter Kemper SPD ...... 8073 C (Drucksache 15/2465) ...... 8078 D IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 in Verbindung mit (Augsburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 8096 C Markus Löning FDP ...... 8097 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Holger Haibach CDU/CSU ...... 8098 A Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Markus Löning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Tagesordnungspunkt 8: FDP: Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Ent- Beschlussempfehlung und Bericht des wicklungspolitik machen Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (Drucksache 15/2469) ...... 8079 A zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Karl-Josef in Verbindung mit Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für eine neue Beteiligungskultur – Eigenka- Zusatztagesordnungspunkt 5: pitalsituation von jungen Technolo- Antrag der Abgeordneten Hans gieunternehmen durch Mobilisie- Büttner (), Brigitte Wimmer rung von Beteiligungskapital und (Karlsruhe), weiterer Abgeordneter Mitarbeiterbeteiligungen verbessern und der Fraktion der SPD sowie der (Drucksachen 15/815, 15/2367) . . . . . 8099 A Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Dr. SPD ...... 8099 B Roth (Augsburg), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion des BÜNDNIS- Dr. Heinz Riesenhuber CDU/CSU ...... 8100 D SES 90/DIE GRÜNEN: Den Stabili- Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . sierungsprozess in der Demo- 8103 A kratischen Republik Kongo nach- Gudrun Kopp FDP ...... 8104 B haltig unterstützen (Drucksache 15/2479) ...... 8079 A , Parl. Staatssekretär BMBF ...... 8105 D Dr. Erika Ober SPD ...... 8079 B Dr. Heinz Riesenhuber CDU/CSU . . . . . 8106 A Rudolf Kraus CDU/CSU ...... 8081 A CDU/CSU ...... 8107 C Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 8082 C Karin Roth (Esslingen) SPD ...... 8109 A Ulrich Heinrich FDP ...... 8083 D Brigitte Wimmer (Karlsruhe) SPD . . . . . 8084 C Tagesordnungspunkt 7: Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD ...... 8085 C a) Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich FDP ...... 8086 A (Spandau), Jörg Tauss, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- Hans Büttner (Ingolstadt) SPD ...... 8086 B wie der Abgeordneten Peter Hettlich, Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU . . . 8087 D Volker Beck (Köln), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion des BÜND- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ NISSES 90/DIE GRÜNEN: Deutsche DIE GRÜNEN ...... 8089 D und europäische Raumfahrtpolitik Conny Mayer (Baiersbronn) CDU/CSU . . . 8090 B zukunftsorientiert gestalten (Drucksache 15/2394) ...... 8110 B (Meschede) SPD ...... 8091 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Georg Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . . 8092 D Nüßlein, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Stärkung der wissen- Zusatztagesordnungspunkt 6: schaftlichen Zukunfts- und wirt- Antrag der Fraktionen der SPD, der schaftlichen Wettbewerbsfähigkeit CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ des Raumfahrtstandorts Deutsch- DIE GRÜNEN und der FDP: Zulas- land in Europa sung aller Kandidaten und Kandi- (Drucksache 15/2334) ...... 8110 C datinnen zu den Wahlen im Iran c) Bericht des Ausschusses für Bildung, (Drucksache 15/2481) ...... 8093 D Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- SPD ...... 8094 A nung: Technikfolgenabschätzung – CDU/CSU ...... 8095 B Militärische Nutzung des Weltraums Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 V

und Möglichkeiten der Rüstungs- Antrag der Abgeordneten Gitta kontrolle im Weltraum – Sach- Connemann, Peter H. Carstensen standsbericht (Nordstrand), weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/1371) ...... 8110 D und der Fraktion der CDU/CSU: Wirksamere Tierseuchenbekämp- Swen Schulz (Spandau) SPD ...... 8110 D fung ermöglichen Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU ...... 8112 B (Drucksachen 15/1210, 15/2233) . . . . 8132 B Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- DIE GRÜNEN ...... 8114 D gebrachten Entwurfs eines … Geset- zes zur Änderung des Arzneimittel- FDP ...... 8116 C gesetzes , Bundesministerin BMBF 8117 C (Drucksache 15/1494) ...... 8132 C Ruprecht Polenz CDU/CSU ...... 8119 A d) Antrag der Abgeordneten Hans- Michael Goldmann, Dr. Christel Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 8120 B Happach-Kasan, weiterer Abgeordne- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär ter und der Fraktion der FDP: Praxis- BMWA ...... 8121 A gerechte Novelle des Tierarzneimit- telgesetzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz Tagesordnungspunkt 6: (Drucksache 15/1596) ...... 8132 C Beratung der Großen Anfrage der Ab- Dr. Wilhelm Priesmeier SPD ...... 8132 D geordneten Günter Nooke, (Bremen), weiterer Abge- CDU/CSU ...... 8134 B ordneter und der Fraktion der CDU/ Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ CSU sowie der Abgeordneten Hans- DIE GRÜNEN ...... 8135 C Joachim Otto (), (Münster), weiterer Abgeordneter und Hans-Michael Goldmann FDP ...... 8136 B der Fraktion der FDP: Wirtschaftliche und soziale Entwicklung der künst- Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 8137 D lerischen Berufe und des Kunstbe- CDU/CSU ...... 8139 A triebs in Deutschland (Drucksachen 15/1402, 15/2275 (neu)) 8122 A Dr. Wilhelm Priesmeier SPD ...... 8140 C Gitta Connemann CDU/CSU ...... 8122 A Gitta Connemann CDU/CSU ...... 8141 A Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 8123 B , Parl. Staatssekretär Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 8123 D BMVEL ...... 8141 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 8125 B Julia Klöckner CDU/CSU ...... 8142 D Dr. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 8126 B Tagesordnungspunkt 10: CDU/CSU ...... 8127 C a) – Zweite und dritte Beratung des von Angelika Krüger-Leißner SPD ...... 8129 B den Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . . 8131 A GRÜNEN und der FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kosten- Tagesordnungspunkt 9: rechts (Kostenrechtsmodernisie- a) Beschlussempfehlung und Bericht des rungsgesetz – KostRMoG) Ausschusses für Verbraucherschutz, (Drucksachen 15/1971, 15/2487, Ernährung und Landwirtschaft zu der 15/2488) ...... 8144 C Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Tierschutzbericht 2003 – Be- – Zweite und dritte Beratung des von richt über den Stand der Entwick- der Bundesregierung eingebrachten lung des Tierschutzes Entwurfs eines Gesetzes zur Mo- dernisierung des Kostenrechts (Drucksachen 15/723, 15/2231) . . . . . 8132 B (Kostenrechtsmodernisierungs- b) Beschlussempfehlung und Bericht des gesetz – KostRMoG) Ausschusses für Verbraucherschutz, (Drucksache 15/2403, 15/2487, Ernährung und Landwirtschaft zu dem 15/2488) ...... 8144 C VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Tagesordnungspunkt 11: Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bundesregierung eingebrachten Ent- Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung Abgeordneter und der Fraktion der der Richtlinie 2002/47/EG vom CDU/CSU: Konsequenzen aus Dres- 6. Juni 2002 über Finanzsicherhei- dener Bombenfund ziehen ten und zur Änderung des Hypothe- (Drucksache 15/1238) ...... 8147 B kenbankgesetzes und anderer Ge- setze (Drucksachen 15/1853, 15/2485) . . . . 8145 A Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Jürgen Türk, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- Tagesordnungspunkt 12: ter und der Fraktion der FDP: Zweite und dritte Beratung des von der Deutsch-Polnische Wirtschaftsför- Bundesregierung eingebrachten Ent- derungsgesellschaft AG erhalten wurfs eines Gesetzes zur Änderung (Drucksache 15/817) ...... 8147 C der Vorschriften über die Anfech- tung der Vaterschaft und das Um- gangsrecht von Bezugspersonen des Tagesordnungspunkt 17: Kindes Antrag der Abgeordneten Jürgen (Drucksachen 15/2253, 15/....) ...... 8145 C Klimke, Klaus Brähmig, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Den Fahrradtourismus in Tagesordnungspunkt 13: Deutschland umfassend fördern Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 15/2155) ...... 8147 D Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 18: geordneter und der Fraktion der FDP: Antrag der Abgeordneten Klaus- Mögliche Interessenüberschneidun- Jürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, gen bei der Vergabe öffentlicher weiterer Abgeordneter und der Frak- Mittel über die Bundesanstalt für tion der CDU/CSU: Demokratie und Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig Rechtsstaatlichkeit in Venezuela un- vermeiden terstützen – Freiheit der Medien (Drucksachen 15/771, 15/2483) . . . . . 8145 D und wirtschaftliche Prosperität wie- Dirk Niebel FDP ...... 8146 A derherstellen (Drucksache 15/2389) ...... 8148 A Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 8148 B Tagesordnungspunkt 14: Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Verena DIE GRÜNEN ...... 8149 C Butalikakis, Annette Widmann-Mauz, Markus Löning FDP ...... 8150 D weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Früherkennung, Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 8151 C Behandlung und Pflege bei Demenz verbessern Nächste Sitzung ...... 8152 D (Drucksache 15/2336) ...... 8147 A

b) Antrag der Abgeordneten Hilde Anlage 1 Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 8153 A der SPD sowie der Abgeordneten Petra Selg, Irmingard Schewe-Gerigk, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Anlage 2 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Demenz früh erkennen und behan- Großen Anfrage: Wirtschaftliche und sozia- deln – für eine Vernetzung von le Entwicklung der künstlerischen Berufe Strukturen, die Intensivierung von und des Kunstbetriebs in Deutschland (Ta- Forschung und Unterstützung von gesordnungspunkt 6) Projekten (Drucksache 15/2372) ...... 8147 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 8153 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 VII

Anlage 3 der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebe- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung nen nachhaltig vermeiden (Tagesordnungs- der Entwürfe eines Gesetzes zur Moderni- punkt 13) sierung des Kostenrechts (KostRMoG) (Ta- gesordnungspunkt 10) Hans-Werner Bertl SPD ...... 8168 C Christoph Strässer SPD ...... 8154 A Dr. Hermann Kues CDU/CSU ...... 8169 B Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU . . . . 8155 B Markus Kurth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 8171 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 8172 C DIE GRÜNEN ...... 8156 B Rainer Funke FDP ...... 8157 C Anlage 7 Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 8158 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Früherkennung, Behandlung und Anlage 4 Pflege bei Demenz verbessern Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Demenz früh erkennen und behan- des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung deln – für eine Vernetzung von der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 Strukturen, die Intensivierung von über Finanzsicherheiten und zur Ände- Forschung und Unterstützung von rung des Hypothekenbankgesetzes und an- Projekten derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 11) (Tagesordnungspunkt 14 a und b) (Hildesheim) SPD . . . 8159 A Verena Butalikakis CDU/CSU ...... 8173 D CDU/CSU ...... 8159 C SPD ...... 8175 C CDU/CSU ...... 8160 C Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 8177 C Jerzy Montag BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 8161 B Detlef Parr FDP ...... 8178 D Rainer Funke FDP ...... 8161 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Anlage 8 BMJ ...... 8162 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Konsequenzen aus Dresde- ner Bombenfund ziehen (Tagesordnungs- Anlage 5 punkt 15) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Frank Hofmann (Volkach) SPD ...... 8179 D des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Günter Baumann CDU/CSU ...... Frank8180 B Vaterschaft und das Umgangsrecht von Be- BÜNDNIS 90/ zugspersonen des Kindes (Tagesordnungs- DIE GRÜNEN ...... punkt 12) 8181 C Dr. FDP ...... 8182 A SPD ...... 8163 D Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär CDU/CSU ...... 8164 C BMI ...... 8182 C Michaela Noll CDU/CSU ...... 8165 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Anlage 9 DIE GRÜNEN ...... 8166 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung FDP ...... 8167 A des Antrags: Deutsch-Polnische Wirt- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär schaftsförderungsgesellschaft AG erhalten BMJ ...... 8167 D (Tagesordnungspunkt 16) Jürgen Türk FDP ...... 8183 A Christian Müller (Zittau) SPD ...... 8183 D Anlage 6 Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 8184 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ Mögliche Interessenüberschneidungen bei DIE GRÜNEN ...... 8185 B VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär Klaus Brähmig CDU/CSU ...... 8190 B BMWA ...... 8185 D BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 8191 A Anlage 10 FDP ...... 8191 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Den Fahrradtourismus in Anlage 11 Deutschland umfassend fördern (Tagesord- nungspunkt 17) Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Demokratie und Rechtsstaatlich- Jürgen Klimke CDU/CSU ...... 8186 C keit in Venezuela unterstützen – Freiheit der Medien und wirtschaftliche Prosperität Annette Faße SPD ...... 8188 A wiederherstellen (Tagesordnungspunkt 18) Heidi Wright SPD ...... 8189 A Lothar Mark SPD ...... 8192 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8007

(A) (C) Redetext

91. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Sitzung ist eröffnet. ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Der Kollege Ortwin Runde feiert heute seinen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses Sicherungsverwahrung? herzlich und wünsche alles Gute. ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny Mayer (Bai- ersbronn), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, wei- (Beifall) terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entwick- lungspolitik muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat mitge- – Drucksache 15/2465 – teilt, dass die Kollegin Christine Scheel als ordentliches Überweisungsvorschlag: Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als Nach- Entwicklung (f) (B) folgerin wird die Kollegin Antje Hermenau, die bisher Auswärtiger Ausschuss (D) stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Kerstin Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Andreae werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Antje ZP 4Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Hermenau als ordentliches und die Kollegin Kerstin Markus Löning, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeordne- Andreae als stellvertretendes Mitglied für den Verwal- ter und der Fraktion der FDP: Bekämpfung von HIV/Aids zu tungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen sicht vorgeschlagen. – Drucksache 15/2469 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss führten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Ergänzung zu TOP 28) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner (Ingol- Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weite- stadt), Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Detlef Dzembritzki, wei- ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Alt- ordneten Marianne Tritz, Claudia Roth (Augsburg), Volker schulden landwirtschaftlicher Unternehmen (Landwirt- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des schaftsEnd-Altschuldengesetz – LwEndAltschG) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Stabilisierungspro- – Drucksache 15/2468 – zess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) – Drucksache 15/2479 – Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Auswärtiger Ausschuss (f) Landwirtschaft Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Zulas- und der Fraktion der FDP: Genfer Abkommen als Ausdruck sung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen im Iran – Drucksache 15/2195 – – Drucksache 15/2481 – 8008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Ausschuss für Bildung, Forschung und (C) erforderlich, abgewichen werden. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Sodann sollen die Tagesordnungspunkte 6 und 8 ge- Haushaltsausschuss tauscht sowie der Tagesordnungspunkt 10 b – Handels- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- registergebühren-Neuordnungsgesetz – abgesetzt wer- gierung den. Jahresgutachten 2003/2004 des Sachverständi- Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun- genrates zur Begutachtung der gesamtwirt- gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: schaftlichen Entwicklung Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages – Drucksache 15/2000 – überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Überweisungsvorschlag: lich dem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) werden. Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Gesetzentwurf über den Handel mit Berechtigun- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gen zur Emission von Treibhausgasen (Treib- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hausgas-Emissionshandelsgesetz – TEHG) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 15/2328 – Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss überwiesen: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Innenausschuss die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Rechtsausschuss keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft minister Wolfgang Clement das Wort. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages und Arbeit: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Herren! Die wichtigste Botschaft des Jahreswirtschafts- Mitberatung überwiesen werden. berichts klingt zwar sehr einfach, ist aber sehr wichtig: (B) Das vor uns liegende Jahr wird besser als das hinter uns (D) Antrag der Abgeordneten , liegende. Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU: Den Weg zur Einheit und Demokratisie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- rung in Moldau unterstützen chen bei der CDU/CSU) – Drucksache 15/1987 – Der Horizont reißt auf. Ich vermute, in wenigen Mona- ten werden wir und auch Sie, meine Damen und Herren überwiesen: Auswärtiger Ausschuss (f) von der Opposition, anders über unser Land diskutieren Innenausschuss als in den vergangenen Monaten und Jahren. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe DIE GRÜNEN) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Vielleicht werden wir in einigen Monaten sogar mit et- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union was mehr Selbstbewusstsein als heute feststellen, dass Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – wir in Deutschland die Kraft zum Turnaround gefunden Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. haben. Das ist außerordentlich wichtig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: DIE GRÜNEN) a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Ich sage Ihnen: Dann wird die Zeit des Mitmachens regierung kommen und die Miesmacher werden gehen. Das ist die Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Bundes- Phase, auf die wir uns freuen. regierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Leistung, Innovation, Wachstum DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der – Drucksache 15/2405 – CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Dem möchte ich gleich zu Anfang etwas hinzufügen, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) was mich freut und was vermutlich – jedenfalls hoffe ich Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das – viele freut: In der letzten Nacht bzw. heute Morgen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ist eine Einigung in der baden-württembergischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8009

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Metallindustrie zustande gekommen. Ich freue mich ser als gesetzliche Regelungen, im tariflichen Bereich (C) über diese Einigung von Herzen. erst recht! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Ich betrachte dies als eine Bestätigung des Weges, den Ich möchte Ihnen auch sagen, warum mich das so freut: der Bundeskanzler eingeschlagen hat und den wir mit Durch die überraschend rasche Einigung dürfte die ihm eingeschlagen haben. Für mich ist das ein glänzen- Streikgefahr gebannt sein. Das ist für unser Land in der der Einstieg der Tarifvertragsparteien der Metallindus- gegenwärtigen Phase wichtig. Es wurde eine Einigung trie – glänzend und insbesondere überraschend. Es ist über einen Tarifabschluss erzielt, der 26 Monate gelten ein glänzender Einstieg in dieses Jahr, das ein Jahr der wird und – wenn man genau nachrechnet – Lohnerhö- wirtschaftlichen Erholung werden soll und werden muss, hungen von gut 2 Prozent vorsieht. Das heißt: Diese Ta- ein Jahr des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für rifeinigung gibt allen Beteiligten Planbarkeit und Kalku- Deutschland. Das können wir schaffen. Dazu bietet die- lierbarkeit. ser Tarifvertrag eine weitere Voraussetzung. Es ist ein Abschluss, der Flexibilität ermöglicht in Meine Damen und Herren, der Aufschwung, den wir Form einer betrieblichen Option, nämlich durch eine für dieses Jahr erwarten, kommt zunächst einmal im Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und Be- Schlepptau der Weltkonjunktur, die vor allem von den triebsrat. In Zukunft ist es für sechs Monate möglich, USA und von China getragen wird. Der Welthandel wird dass nicht mehr nur 18 Prozent der Belegschaft, sondern in diesem Jahr um 7 bis 8 Prozent wachsen, damit dop- 50 Prozent der Belegschaft auf die 40-Stunden-Woche pelt so stark wie im letzten Jahr. Davon wird auch die gehen, wenn – es ist etwas komplizierter formuliert – die deutsche Wirtschaft profitieren; sie ist stark bei Ausrüs- Auftragslage in dem jeweiligen Unternehmen das erfor- tungs- und bei Investitionsgütern, die am Beginn eines dert. Aufschwungs immer besonders gefragt sind. Zugleich ist eine zweite Form einer tarifvertraglichen Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist – ent- Option eröffnet, nämlich über den Beschäftigungssiche- gegen dem, was vielfach verbreitet wird, auch von Tei- rungstarifvertrag der Metallindustrie entsprechende Re- len dieses Hauses, aber nicht nur, sondern auch weit da- gelungen treffen zu können. rüber hinaus – so gut wie seit langem nicht mehr. Die Meine Damen und Herren, ich betrachte diese Eini- Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind, gene- gung als einen echten Fortschritt der Metalltarifparteien. rell gesprochen, wieder gut gefüllt. Sie ist eine Innovation der tariflichen Politik; ich be- (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?) (D) grüße sie deshalb ganz besonders. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe zieht wieder DIE GRÜNEN) an. Das Geschäftsklima bessert sich schon seit Monaten: Ungeachtet des hohen Eurokurses liegt der Ifo-Ge- Diese Einigung ist auch ein hervorragender Beweis, schäftsklimaindex auf dem höchsten Stand der vergan- dass die Konsensfähigkeit in unserem Land doch noch genen drei Jahre. vorhanden ist, und ein Beweis für die Bereitschaft der IG Metall und der Arbeitnehmer, auf die berechtigten Auch im Ausland setzen wieder mehr Investoren auf Erwartungen der Wirtschaft zu mehr Flexibilität einzu- unser Land: In den ersten drei Quartalen 2003 flossen gehen. In diesem Fall war es die Bereitschaft der Arbeit- 24,3 Milliarden Euro mehr Direktinvestitionen nach nehmer und der IG Metall in Baden-Württemberg; aber Deutschland herein als aus Deutschland herausgingen. ich gehe davon aus, dass diese Einigung, wie die Im gesamten Jahr 2002 betrug dieser Saldo nur IG Metall es nennt, Pilotfunktion für die Abschlüsse in 6,9 Milliarden Euro. 2001 war er sogar negativ. Dagegen der gesamten Bundesrepublik hat. Ich denke und hoffe, sind wir jetzt deutlich im Plus. All das zeigt: Die Inves- dass diese Tarifvereinbarung ein Vorbild für die anderen toren im Ausland – wie vermutlich und hoffentlich auch Tarifbezirke der Metall- und Elektroindustrie sein wird. die Menschen im Inland – fassen wieder Vertrauen in Damit wäre die Streikgefahr in der Metallindustrie dann den Standort Deutschland. endgültig gebannt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Einigung ist ebenso eine Bestätigung für das DIE GRÜNEN) Vertrauen, das wir in die Tarifvertragsparteien gesetzt haben und setzen. Die strukturellen Reformen der Bundesregierung haben die Voraussetzungen verbessert, dass der in Gang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gekommene Aufschwung eine gute Basis hat. Vor die- DIE GRÜNEN) sem Hintergrund ist es mir unbegreiflich, meine Damen und Herren – ich sage das ganz offen –, wie jemand Sie können sich verständigen. Es bestätigt sich, was wir heute davon reden kann, die Wirtschaftspolitik der Bun- immer wieder gesagt haben und was auf diesem Feld, desregierung sei gescheitert. aber auch auf anderen Feldern gilt – ich sage das zu Ihnen, Herr Kollege Merz, aber auch zu anderen bei (Widerspruch bei der CDU/CSU und bei der Ihnen –: Einigungen aus freien Stücken sind immer bes- FDP) 8010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Sie wird vielmehr bestätigt, von den in- und ausländi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) schen Experten genauso wie von den Fakten, die wir in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- Deutschland und darüber hinaus feststellen können. chen bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – ziehen Sie nur einmal einen Vergleich mit den USA! –, DIE GRÜNEN) sondern durch eine verantwortungsvolle Nutzung der Spielräume, die konjunkturell gegeben sind, und durch Wir haben es Ihnen schon oft genug gesagt – es mag die gleichzeitig eingeleiteten Strukturreformen auf Ihnen nicht passen –: Die Zeiten ändern sich: Der An- dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen, die ver- stieg kommt langsam, aber er kommt. Daran werden Sie tretbar waren und sind. sich gewöhnen müssen. Alles in allem erwarten wir ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von real 1,5 bis Ich füge hinzu: Dieses Potenzial dürfen wir nicht ver- 2 Prozent, spitz gerechnet von 1,7 Prozent. spielen. Wir haben den Weg der Strukturreformen einge- schlagen und müssen ihn jetzt konsequent weitergehen, (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Aber nicht zum so wie es im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist. Besseren!) Die Reformen im Rahmen der sind nicht beendet. Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, Das ist dann deutlich mehr als in den drei Jahren zuvor und zwar europafähig, demokratiefest und sicher hin- und mehr als das Durchschnittswachstum der 90er-Jahre, sichtlich der Globalisierung, ist noch in vollem Gange. trotz des Booms durch die Einheit zu Beginn und des vermeintlichen Technologiebooms am Ende des vergan- Dabei gilt es, die wirtschaftlichen Risiken im Auge zu behalten, die ein hohes Maß an Verantwortung und Be- genen Jahrzehnts. Die rote Wachstumslaterne, die wir in sonnenheit erfordern. Europa getragen haben, sind wir los, und das trotz diver- ser Sonderlasten, die wir in Deutschland durch den Auf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was heißt das bau Ost und durch die relativ hohen Realzinsen in der für die Ausbildungsplatzabgabe?) Europäischen Währungsunion zu tragen haben. Zum einen muss der Wechselkurs, also das Verhältnis Meine Damen und Herren, ich will nicht verschwei- des Dollar zum Euro, in einem vernünftigen und für die gen, dass es, wie bei jeder Projektion, natürlich auch bei Gesamtwirtschaft verträglichen Korridor gehalten wer- dieser Risiken gibt. Insgesamt stimmen aber eigentlich den. Es geht nicht an, dass die die Lasten der alle Fachleute mit uns überein, dass im Vergleich zum notwendigen und überfälligen Anpassung des Dollar Vorjahr die Chancen deutlich größer sind als die Risiken. weltweit alleine trägt, Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich in diesem Jahr ver- (Beifall bei der SPD) (B) bessern, der wirkliche Durchbruch steht allerdings erst (D) 2005 bevor. Zumindest wird der seit langem anhaltende während zum Beispiel die japanische Notenbank den Beschäftigungsabbau allmählich zum Stillstand kom- Druck auf den Yen zumindest teilweise kompensiert. Ich men. In der zweiten Jahreshälfte wird die Zahl der Er- begrüße deshalb die Erklärungen der G-7-Finanzminis- werbstätigen wieder zunehmen, wenngleich sie im Jah- ter von Boca Raton, die die Verantwortung auch des resdurchschnitt annähernd auf dem Vorjahresniveau fernöstlichen Wirtschaftsraumes hervorheben. Wichtig verharren dürfte. ist natürlich, dass zu gegebener Zeit den Worten auch Taten folgen. Die Arbeitslosenzahl wird weiter sinken. Das ist ein Ergebnis unserer Arbeitsmarktreformen. 250 000 Men- Zweitens. Die Lohnstückkosten müssen auch weiter- schen haben sich in Deutschland im vergangenen Jahr hin moderat bleiben. Die Tarifpolitik muss die im Zuge aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig gemacht, der Erweiterung der Europäischen Union immer schärfer insgesamt waren es 500 000 Menschen. Aufgrund dieser werdende Kostensituation am Standort Deutschland und anderer Reformen wird die Arbeitslosenzahl weiter durch erhöhte und zusätzliche Flexibilität ausgleichen. sinken. Ab Sommer wird sie sich aber auch im Zuge der Dazu gibt es keine Alternative. Aus diesem Grund ist es konjunkturellen Belebung verringern. Wir rechnen im umso wichtiger, dass es bei den Tarifverhandlungen in Jahresdurchschnitt 2004 mit einem Absinken der Arbeits- der Metallbranche zu einer Einigung kommt. losenzahl im Jahresdurchschnitt um 100 000. Meine Drittens. Wenn man über Risiken spricht, dann muss Hoffnung ist, dass wir im Spätsommer endlich die 4-Mil- denjenigen, die in der Wirtschaft und in der Politik Ver- lionen-Marke berühren und sie vielleicht sogar unter- antwortung tragen, klar sein, dass auch sie ihren Beitrag schreiten können. leisten müssen, damit sich der beginnende Aufschwung Bahn brechen kann. Ja, es geht auch darum, psycholo- Die Entwicklung, die wir absehen können, lässt kei- gisch die Weichen für einen lang anhaltenden Auf- nen Zweifel: Der von uns eingeschlagene Kurs stimmt. schwung zu stellen, durch den ab 2004/2005 auch die Das Potenzial für Wachstum und Wohlstand ist vorhan- festgefressene Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt wird. Es den. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist al- geht in Deutschland um berechtigte Zuversicht statt um len Herausforderungen zum Trotz hoch. Anders als in banges Zuwarten, Nörgeln und Nölen. Wir müssen end- den USA, die ich um ihre Wachstumsraten gelegentlich lich die Kraft zum Aufschwung finden. beneide, führen wir den Turnaround nicht durch exorbi- tante Überschuldung mit hohen langfristigen Risiken (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ herbei DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8011

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Wir haben schon einiges erreicht. Insbesondere ist es schaft, Begeisterung und die Lust, Neues auszuprobieren (C) gelungen, in der Steuerpolitik ein international wettbe- und zu wagen und dabei auch Verantwortung zu über- werbsfähiges Einkommensteuerrecht zu entwickeln. nehmen. Das kann die Politik nicht allein schaffen. Sie Mit einer volkswirtschaftlichen Steuerquote von jetzt kann das aber anstoßen und voranbringen, indem sie bei- 20,9 Prozent liegen wir international im unteren Bereich. spielsweise den Generationen, die nach uns kommen Noch 1995 waren es 23,1 Prozent. Steuervereinfachun- und die zu den am besten qualifizierten Generationen in gen haben deshalb jetzt Vorrang vor vielleicht wünsch- der Geschichte Deutschlands gehören, mehr materielle baren, aber nicht finanzierbaren weiteren Steuersatzsen- und administrative Freiräume für das Denken, Forschen kungen, deren Gegenfinanzierung in der Luft hinge. Es und Kreieren sowie für das Gründen von Unternehmen geht jetzt um verlässliche Rahmenbedingungen. gibt. Eigenverantwortung und Eigeninitiative sind we- sentliche Antriebskräfte für die wirtschaftliche Dyna- (Beifall bei der SPD) mik, die wir jetzt entfachen müssen und auch können. Offene und flexible Arbeits-, Güter- und Dienstleis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungsmärkte sind genauso wie Klarheit und Verlässlich- DIE GRÜNEN) keit im Hinblick auf die Finanzierung der sozialen Si- cherung zentrale Voraussetzungen für eine höhere Wir wollen und wir müssen Deutschland in einem Beschäftigungsdynamik und für das Einschwenken auf welt- und gesamtwirtschaftlichen Umfeld, das sich im- einen dauerhaft höheren Wachstumspfad. Deswegen mer günstiger darstellt, auf dem Wachstumspfad weiter müssen die Reformen gemäß der Agenda 2010 fortge- nach vorne in die Weltspitze bringen, wohin es auch ge- führt werden. Angesichts der Herausforderungen, mit hört. Das ist neben anderem die wichtigste Vorausset- denen wir es zu tun haben – Abbau der Arbeitslosigkeit, zung dafür, dass wir die viel zu hohe Arbeitslosigkeit Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Er- endlich überwinden können. Das ist der Schlüssel zur weiterung der Europäischen Union, Aufbau Ost in Lösung vieler Probleme in unserem Land. Ich sage – so Deutschland und demographische Entwicklung –, kön- steht es auch im Jahreswirtschaftsbericht –: Wir sind nen und werden wir uns keinen Reformstopp leisten. endlich wieder auf dem Weg voran. Meine Bitte und Ansonsten würden wir kein höheres Potenzialwachstum meine Einladung ist: Gehen Sie mit auf diesem Weg für der deutschen Wirtschaft erreichen, also ein Wachstum die Bundesrepublik Deutschland! ohne inflationäre Verspannungen. Aber dieses Ziel ver- folgen wir. Deshalb muss auch der Prozess der Absen- Ich danke Ihnen sehr. kung der Lohnnebenkosten weitergeführt werden. Wir (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem verfolgen weiterhin das Ziel, die Quote der Sozialversi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) cherungsbeiträge in überschaubarer Zeit auf 40 Prozent (D) des beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelts zu senken. Präsident Wolfgang Thierse: (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Da müssen Sie Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/ aber noch ein bisschen arbeiten!) CSU-Fraktion. Zum höheren Wachstum der Produktivität tragen vor (Beifall bei der CDU/CSU) allem Investitionen in Bildung und Wissenschaft bei. Wir setzen auf das Wissen und die Kompetenz der Men- schen und auf die Innovationskraft der Unternehmen. Friedrich Merz (CDU/CSU): Das sind unsere wichtigsten Ressourcen. Derzeit geben Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Staat und Wirtschaft in Deutschland – die öffentlichen ren! Diese Rede des Bundeswirtschaftsministers war er- Hände und die Wirtschaft tun das gemeinsam – zusam- kennbar in erster Linie nicht an die deutsche Öffentlich- men etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für For- keit, sondern an die eigene Fraktion und Partei gerichtet, schung und Entwicklung aus. Gemeinsam mit den ande- ( [SPD]: Oberlehrer! – Gegenruf ren Ländern der Europäischen Union wollen wir diese des Abg. [CDU/CSU]: Was ha- Quote bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent erhöhen. Das ist ben Sie gegen Lehrer?) eine große Herausforderung und erfordert ein enges Zu- sammenwirken aller verantwortlichen Gruppen in Wirt- die ganz offensichtlich immer größere Schwierigkeiten schaft, Wissenschaft und Politik und aller öffentlichen haben, dem Kurs des Bundeswirtschafts- und -arbeits- Hände. Das ist das Kernstück der Initiative „Partner für ministers zu folgen. Innovationen“, die der Bundeskanzler auf den Weg ge- bracht hat. Herr Clement, wenn Sie in Ihrer Rede von Innovatio- nen sprechen – wer will Ihnen da widersprechen? – und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dies mit dem Appell zu Lust und Leidenschaft verbin- DIE GRÜNEN) den, dann ist das wirklich bemerkenswert; denn auch das richtet sich an Ihre eigene Bundestagsfraktion und bei Mir ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis beson- weitem nicht an die deutsche Wirtschaft. Diese ist weiter ders wichtig: Aus meiner Sicht reden wir bei Innovatio- als große Teile Ihrer Fraktion. Das wissen Sie und das nen nicht allein und nicht einmal in erster Linie über konnte man auch heute Morgen in Ihrem Beitrag sehr neue Produkte und neue Technologien, sondern wir re- deutlich spüren. den über Menschen, Köpfe, Können und Qualifikatio- nen. Deshalb reden wir auch über Motivation, Leiden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 8012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Friedrich Merz (A) Nun ist in der Bundesregierung niemand so sehr zum der Arbeitslosigkeit, die Sie auch angekündigt haben, (C) Optimismus geradezu verurteilt wie der Bundeswirt- will ich gar nicht sprechen; reden wir nur über die schaftsminister. Sie müssen sagen – das gehört zu Ihrer 3,5 Millionen –, weit entfernt. Aufgabe –, dass es gute Perspektiven und Chancen gibt. (Hubertus Heil [SPD]: Das war Kohl! Hören (Zuruf von der SPD: Zahlen lesen!) Sie mal hin!) – Zahlen lesen, das wollen wir gerne tun, Frau Kollegin. – Entschuldigung, es war doch Bestandteil Ihres Regie- Lassen Sie uns doch einfach vergleichen, was der Bun- rungsprogramms, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Sie deswirtschaftsminister im letzten Jahr zu ungefähr dieser waren es doch, die angekündigt haben, mit den Hartz- Zeit von diesem Pult aus über die Entwicklung des Gesetzen könne die Arbeitslosigkeit in Deutschland in Jahres 2003 erklärt hat. Ich habe heute Morgen übrigens absehbarer Zeit halbiert werden. Davon will ich aber gar einige Versatzstücke wiedergefunden; das ist ja an sich nicht sprechen. Reden wir darüber, was der Bundeskanz- nicht zu kritisieren. ler immer wieder gesagt hat. Wie war die Situation im letzten Jahr, als Sie zum ers- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten Mal den Jahreswirtschaftsbericht – richtigerweise Er selbst wolle sich nicht erst bei der Wahl, sondern je- unterfiel er wieder Ihrer Zuständigkeit – vertreten haben, derzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit in und wie ist das Jahr 2003 zu Ende gegangen? Sie haben Deutschland auf unter 3,5 Millionen absinkt. Wir sind in ziemlich genau zu dieser Zeit im letzten Jahr vorausge- der gesamten Regierungszeit von Rot-Grün von diesem sagt: Das Tal der Tränen ist durchschritten. Es wird im Ziel weiter denn je entfernt. Das ist die traurige Wahrheit Jahr 2003 wieder ein stabiles wirtschaftliches Wachs- am heutigen Tag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser tum geben. Die Bundesregierung erwartet 1 Prozent. Ich Bundesregierung. persönlich – so haben Sie es dem Sinne nach gesagt – könnte mir sogar vorstellen, dass es ein bisschen mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- als 1 Prozent Wachstum geben wird. – Am Ende des neten der FDP) Jahres 2003 lag das Wachstum bei minus 0,1 Prozent. Das ist die Bilanz des Jahres 2003; ich habe Ihnen die Nun sind Sie in der Tat veranlasst – das will ich zuge- Zahlen vorgetragen, Frau Kollegin. stehen –, bei der Arbeitslosenstatistik einige Korrekturen vorzunehmen, sodass sie international vergleichbar wird. Sie sind in der Einschätzung der Lage zu optimistisch Das will ich nicht kritisieren. Das ist so in Ordnung. Das gewesen. Das war ein Stück Täuschung und auch ein müssen Sie tun, damit die Arbeitslosenstatistik mit den Stück Selbsttäuschung über die Bedingungen für einen Arbeitslosenstatistiken anderer Länder, die der Internati- (B) möglichen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutsch- onalen Arbeitsorganisation angehören, vergleichbar (D) land. Leider haben Sie auch heute Morgen wieder diesen wird. Das ist richtig. Zweckoptimismus vertreten. Nun lassen Sie uns einen Blick auf die Beschäftig- Ich will Ihnen etwas zur Lage auf dem Arbeitsmarkt tenzahlen werfen. Die Beschäftigtenzahlen sind nach sagen. Nicht nur die Wachstumslücke zu anderen Län- meiner Überzeugung ohnehin aussagekräftiger bezüg- dern in der Europäischen Union wird größer. Deutsch- lich der Frage, ob eine Industrienation oder eine Volks- land fällt weiter zurück. Es ist wahr: Wir werden im wirtschaft in der Lage ist, zusätzliche Beschäftigung zu Jahr 2004 wahrscheinlich die rote Laterne abgeben. generieren oder nicht. Wir haben es, seitdem Sie in der Aber wir sind weit davon entfernt, auch nur den Durch- Regierungsverantwortung sind, mit einer kontinuierli- schnitt der Wachstumsraten der übrigen Mitgliedstaaten chen Abnahme der Beschäftigtenzahlen in Deutschland der Europäischen Union zu erreichen. Dies schlägt sich zu tun. Wir haben gegenwärtig gerade noch 27 Millionen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland nieder. Sie, meine sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutsch- Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, haben land. Das ist für ein Volk von 82 Millionen Einwohnern in der Arbeitsmarktpolitik im Grunde genommen nur die zu wenig. Sie werden auch die sozialen Sicherungssys- Statistik bereinigt. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit im teme mit dieser abnehmenden Zahl der sozialversiche- Jahr 2003 – saisonbereinigt ohnehin, aber in fast jedem rungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nicht auf- Monat auch ohne die Saisonbereinigung – ständig weiter rechterhalten können. Da liegt die eigentliche Ursache gestiegen. auch für die Krise unserer sozialen Sicherungssysteme. Hier auf der Regierungsbank sitzt ein Bundeskanzler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – erkennbar angeschlagen –, der irgendwann einmal er- klärt hat, er wolle sich jederzeit daran messen lassen, Darüber haben Sie, Herr Clement, heute Morgen leider dass die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen absinkt. kaum ein Wort verloren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben darauf hingewiesen, es gebe eine sehr er- mutigende Zahl von Unternehmensgründungen. Es ist Dann machen wir das heute einmal. Die Arbeitslosigkeit wahr: Es gibt Unternehmensgründungen. Aber die Bun- in Deutschland liegt bei 4,6 Millionen. Über den Jahres- desagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarkt- wechsel haben wir es auch saisonbereinigt mit einer und Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit Steigerung der Arbeitslosigkeit zu tun. Die strukturelle angeschlossen ist, hat vor einigen Tagen eine höchst auf- Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Sie sind von dem Ziel, schlussreiche Statistik über die Unternehmensgründun- das Sie sich selbst gesetzt haben – von der Halbierung gen in Deutschland veröffentlicht. Wir hatten in den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8013

Friedrich Merz (A) 90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 über lange zen, in Kürze eine Ausbildungsplatzabgabe in Deutsch- (C) Jahre kontinuierlich über 500 000 Unternehmensgrün- land gesetzlich vorzuschreiben? Was geht in Ihren dungen pro Jahr. Das war auch in der zweiten Hälfte der Köpfen eigentlich vor? 90er-Jahre der Fall. Auch im Jahr des Regierungswech- sels, 1998, lag die Zahl der Unternehmensgründungen in Haben Sie die Realität völlig aus den Augen verlo- Deutschland deutlich über 500 000. ren? Sehen Sie nicht, was in den Betrieben los ist Im Jahre 2003 – das ist das Jahr, in dem Sie Ihre In- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie wissen nicht, was strumente erstmalig eingesetzt haben, insbesondere die in den Köpfen der jungen Leute los ist!) so genannte Ich-AG – ist die Zahl der Unternehmens- und welche Anstrengungen seitens der Betriebe unter- gründungen auf 450 000 zurückgegangen. Mehr als die nommen werden, zum Teil auch über den Bedarf hinaus Hälfte dieser 450 000 Unternehmensgründungen sind auszubilden und qualifizierte Bewerber für offene Aus- staatlich gefördert gewesen. Früher lag der Anteil der bildungsstellen zu finden? Glaubt irgendjemand von Ih- geförderten Unternehmen bei etwa 100 000 bei einer nen im Ernst, dieses Problem mit einer Ausbildungs- Gesamtzahl von 500 000. Mittlerweile ist mehr als die platzabgabe lösen zu können? Hälfte der Unternehmensgründungen staatlich gefördert. Von 452 000 Unternehmensgründungen im Jahre 2003 Sie verschärfen vielmehr das Problem auf den Ausbil- sind fast 250 000 staatlich gefördert gewesen. dungsmärkten und verstaatlichen auf diesem Wege schrittweise die berufliche Bildung in Deutschland. Mit Herr Clement, an diesem Beispiel sehen Sie: Entwe- dem, was Sie vorhaben, machen Sie die Ausbildungs- der gibt es bei den so genannten Ich-AGs und allen märkte kaputt. Instrumenten, die Sie geschaffen haben, gehörige Mit- nahmeeffekte, die in der Gesamtbilanz der Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mensgründungen zu keiner Besserung geführt haben, Wenn sich der Bundeskanzler schon nicht selber äu- oder aber, was noch schlimmer wäre, der Markt der Un- ßert, dann hätte ich zumindest von Ihnen, Herr Clement, ternehmensgründungen bricht weiter zusammen und erwartet, dass Sie in Ihrer Rede zum Jahreswirtschafts- mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmens- bericht 2004 auch im Angesicht der eigenen Bundestags- gründungen von staatlicher Unterstützung abhängig. Das fraktion noch einmal so deutlich und klar darauf hinwei- ist eine dramatische Entwicklung. sen, wie Sie es schon an anderer Stelle getan haben, dass Gleichzeitig haben Sie auch wegen der Wirt- Sie Ihr persönliches Schicksal damit verbinden, dass schaftspolitik der Bundesregierung – ich will nicht sa- keine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird. gen: nur – zu verantworten, dass wir im Jahr 2003 über (Widerspruch bei der SPD – Beifall bei der (B) 40 000 Insolvenzen in Deutschland gehabt haben. Da- CDU/CSU und der FDP) (D) mit wird die dramatische Lage der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mit einem Schlag sichtbar. Denn Sie sind zu Recht gegen diese Abgabe. Dabei kön- Da nützt es überhaupt nichts, dass Sie sich hierhin stel- nen Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen. len und über Innovation, Lust und Leidenschaft reden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und alle diejenigen, die kritische Anmerkungen machen, in die Ecke der Mäkler und der Meckerer stellen. Wir ha- Herr Bundeskanzler, Sie sehen so fröhlich aus. Wel- ben es unverändert mit einer strukturellen Krise der che Meinung vertreten Sie zu diesem Thema? Bei wem deutschen Volkswirtschaft zu tun. Diese strukturelle liegt eigentlich die Richtlinienkompetenz für die Politik Krise der deutschen Volkswirtschaft hat unverändert et- in Deutschland? Ist sie jetzt von der Regierungsbank zur was mit der Regierungspolitik von Rot und Grün zu tun. SPD-Bundestagsfraktion übergegangen? Das ist die Wahrheit, der Sie nicht ausweichen können. Wenn Sie dieses Thema auf die Tagesordnung setzen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dann unterstützen wir den Bundeskanzler und den Bun- deswirtschaftsminister dabei, die Einführung dieses In- Nun beklagt sich nicht nur jeder von uns – zu Recht –, struments in Deutschland zu verhindern. Sie können sich dass die Arbeitslosigkeit steigt, die Beschäftigung sinkt bei dieser Politik fest auf uns verlassen, Herr Clement. und die Unternehmensinsolvenzen ein bedrohliches Maß erreicht haben; wir alle sind auch über die Lage auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausbildungsmärkten zutiefst besorgt. Es ist in der Tat in Ich schließe mich in diesem Zusammenhang – jeden- Deutschland Jahr für Jahr schwierig für junge Men- falls im Grundsatz – ausdrücklich Ihren Äußerungen aus schen, Ausbildungsplätze zu finden. Natürlich hat die der vergangenen Nacht zum Thema Tarifabschluss in Zahl der Ausbildungsplätze etwas damit zu tun, wie groß der Metallindustrie an. Es ist in der Tat zu begrüßen, die Zahl der Unternehmen in Deutschland ist. Wenn die dass es gelungen ist, einen Streik in der Metallindustrie Zahl der Insolvenzen steigt, dann nimmt naturgemäß abzuwenden und dass ein kleiner Schritt in die richtige auch die Zahl der Ausbildungsplätze ab. Glauben Sie Richtung erfolgt ist, auch Tarifverträge für die Möglich- denn im Ernst, meine Damen und Herren von der sozial- keit zu öffnen, auf betrieblicher Ebene längere Arbeits- demokratischen Partei – ich frage auch die grünen Kolle- zeiten zu vereinbaren. gen; Herr Kuhn, Sie werden gleich reden, vielleicht kön- nen Sie dazu etwas sagen –, dass Sie die Lage bei den Ich unterstütze diesen Weg und die Tarifvertragspar- Ausbildungsstellen in dieser Republik um ein Jota ver- teien haben gezeigt, dass sie ihn wenigstens mit kleinen bessern, wenn Sie Ihren Plan in die Wirklichkeit umset- Schritten beschreiten können. Ich fürchte aber, dass nach 8014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Friedrich Merz (A) den in dem Tarifvertrag getroffenen Vereinbarungen län- Es gibt zwar nach wie vor jemanden, der sich Beauftrag- (C) gere Arbeitszeiten für die unteren und mittleren Lohn- ter des Bundeskanzlers für den Aufbau Ost nennt. gruppen in den Betrieben ohne zusätzlichen Lohnaus- gleich nicht möglich sind und dass die schleichende (Zurufe von der CDU/CSU: Wer ist das?) Aushöhlung bei den Arbeitsplätzen der mittleren und un- Aber dieser hat es noch nicht einmal nötig, an der heuti- teren Einkommensgruppen weiter voranschreitet. Denn gen Debatte teilzunehmen. das eigentliche Problem sind nicht die gut qualifizierten Beschäftigten und deren Arbeitszeiten. Sie arbeiten oh- (Ludwig Stiegler [SPD]: Da drüben sitzt er! nehin längst stillschweigend und zum Teil auch durch Augen auf, Sir! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie die Gewerkschaften geduldet weit über die normale Ar- sind doch mit Blindheit geschlagen! Mit Igno- beitszeit hinaus. ranz und Blindheit! Unglaublich, diese Über- heblichkeit!) Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit von – Wo ist er? Ich sehe ihn noch immer nicht. Wenn er da Arbeitsplätzen in Deutschland ist vielmehr, dass auch sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung. und gerade einfache Arbeitnehmer die Chance bekom- men, für den gleichen Lohn mehr zu arbeiten und da- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Erst gucken, dann durch ihre Arbeitsplätze vor der zunehmenden Konkur- reden!) renz aus Osteuropa zu retten. Wir sind uns aber darüber einig, dass in einer Debatte Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Nettoeinkom- über die wirtschaftliche Lage Deutschlands mehr als nur men der Arbeitnehmer in Deutschland sind in den ver- das gesagt werden muss, dass das ein Problem sei. gangenen Jahren nicht gewachsen; sie sind eher zu nied- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind das rig als zu hoch. Problem!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wo liegen die Chancen für den Aufbau Ost und insbe- Aber die Bruttoarbeitskosten sind gerade in der Metall- sondere im Zuge der Osterweiterung vom 1. Mai 2004 industrie für die Betriebe zu hoch. Deswegen muss es an? Zu diesem Zeitpunkt wird die Europäische Union eine Möglichkeit geben, die Wettbewerbsfähigkeit von zehn neue Mitgliedstaaten bekommen. Herr Bundeswirt- Arbeitsplätzen insbesondere – aber nicht nur – gegen- schaftsminister, Sie haben kaum ein Wort darüber verlo- über der osteuropäischen Konkurrenz zu stärken. Das ist ren. Wo liegen die Chancen und die Herausforderungen? nicht durch Lohndrückerei zu schaffen – das wird nie- Das Lohngefälle zwischen Ost und West wird wahr- mand von uns befürworten –, aber es ist durch längere scheinlich zunehmen. So wird das Lohngefälle zwischen (B) Arbeitszeiten und eine höhere Produktivität möglich. Brandenburg und Breslau möglicherweise 7 : 1 betragen. (D) Deswegen bleibt der Tarifabschluss an dieser Stelle lei- Welche Antwort gibt die Wirtschaftspolitik auf diese He- der hinter dem zurück, was insbesondere für die mittle- rausforderung? – Bedauerlicherweise haben Sie darüber ren und unteren Einkommensgruppen in den Belegschaf- kein Wort verloren. ten hätte erwartet werden können. (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [SPD]: Von Ihnen auch nicht! Was haben Sie neten der FDP) denn jetzt zum Thema Aufbau Ost gesagt?) – Ich habe gesagt, dass Sie auch über die Chancen etwa Auffällig an der Rede des Bundeswirtschaftsministers im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäi- ist vor allem, worüber er nicht spricht. Lassen Sie mich schen Union sprechen müssen. Dann können wir auch zwei Themen ansprechen, die der zuständige Minister in über Standortbedingungen diskutieren. einer so wichtigen Rede in einer so wichtigen Debatte praktisch mit keinem Wort berücksichtigt hat. Sie haben (Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie einmal mit das Thema Aufbau Ost einzig und allein in dem Kon- einem Miesmacher über Chancen!) text erwähnt, Herr Clement, dass durch den Aufbau Ost zusätzliche Probleme im Zusammenhang mit dem Ver- Man kann doch wohl erwarten, dass der Bundeswirt- brauch des Bruttosozialprodukts bestehen und dass wir schaftsminister dazu mehr als nur das sagt, das sei ein trotz der Probleme beim Aufbau Ost die rote Laterne ab- Problem. Ich glaube, das erwarten wir alle zu Recht von geben. ihm. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Niemand von uns will bestreiten – der Wirtschaftsmi- nister des Freistaates Thüringen wird noch zu diesem Ein weiteres großes Thema, das die deutsche Wirt- Thema sprechen –, dass ein anhaltender Transferbedarf schaft beschäftigt wie kaum ein anderes, ist die Energie- in den neuen Bundesländern besteht. Aber ist das ernst- politik. Herr Bundeswirtschaftsminister, warum haben haft alles, was Ihnen zum Thema Aufbau Ost einfällt, Sie in Ihrer Rede heute Morgen kein Wort darüber ge- nämlich der Hinweis, dass Deutschland trotz seiner Pro- sagt, dass es ein zunehmendes Problem ist, dass die deut- bleme die rote Laterne beim Wachstum abgibt? Wir hät- sche Wirtschaft mit Energiekosten belastet ist, die konti- ten von Ihnen erwartet, dass Sie dazu etwas mehr sagen. nuierlich steigen, und dass der deutschen Wirtschaft alle Die Wachstumsschere zwischen Ost und West öffnet Wettbewerbsvorteile, die durch die Liberalisierung der sich wieder. Die Wachstumsraten in den neuen Bundes- Energiemärkte in der Europäischen Union hätten entste- ländern sind geringer als die in den alten Bundesländern. hen können, durch höhere administrative Preise sowie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8015

Friedrich Merz (A) durch Steuern und Abgaben, die auf den Faktor Energie sind 40 000 Einwendungen erhoben worden. Damit (C) erhoben werden, genommen werden? Warum haben Sie diese 40 000 Einwendungen erörtert werden können, ebenfalls kein Wort zu dem gesagt, was Ihr Kollege im musste für 2,5 Millionen Euro eine neue Halle auf dem Kabinett, der Bundesumweltminister, gegenwärtig im Gelände der Flughafengesellschaft gebaut werden – nur Bereich des Emissionshandels in Deutschland macht? für eine einzige Erörterung, die da stattfindet! In dieser riesigen Halle mit über 1 000 Plätzen sitzen jetzt 30 An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wälte, die sich gegen die Flughafengesellschaft, gegen Die Probleme, die hier auf die deutsche Wirtschaft die Errichtung dieser neuen Wartungshalle für den A380 zukommen, dürfen wir nicht unterschätzen; denn das, wenden. 2,5 Millionen Euro nur für eine Erörterung, was jetzt geplant ist, geht weit über das hinaus, was die meine Damen und Herren! Es wird Zeit, dass wir uns Europäische Union von der Bundesrepublik Deutschland einmal über das Thema Verbandsklage und über die Ex- verlangt. Der Emissionshandel ist beschlossen. Ich weiß zesse, die hier stattfinden, unterhalten. zwar, dass Sie anders als Ihr Kollege im Kabinett über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Tatsache denken, dass nur eine solch geringe Zahl von Zertifikaten ausgegeben werden soll, dass sämtliche Der Bundeswirtschaftsminister müsste dies zum Ge- Vorleistungen, die die deutsche Wirtschaft in den letzten genstand seiner Entbürokratisierungsoffensive machen Jahren bei der Energieeinsparung erbracht hat, praktisch und ein Jahr, nachdem sie gestartet worden ist, wenigs- nicht anerkannt werden, und dass in Zukunft zusätzliche tens eine Zwischenbilanz vortragen. Herr Clement, wir Belastungen auf die deutschen Unternehmen durch den sprechen Ihnen den guten Willen nicht ab, wir bestreiten Emissionshandel und insbesondere durch die Zertifikate auch nicht, dass Sie manches auf den Weg gebracht ha- zukommen. Aber es wäre gut gewesen, wenn Sie heute ben, was richtig gewesen ist, was überfällig und notwen- Morgen wenigstens einen Satz dazu gesagt und darauf dig gewesen ist, hingewiesen hätten, dass hier nicht das Kind mit dem (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr gütig!) Bade ausgeschüttet werden darf. aber Sie werden genauso wie der Bundeskanzler selbst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in den nächsten Wochen und Monaten erleben, dass Sie mit Ihrer Politik an dieser Bundestagsfraktion zuneh- Abschließend möchte ich noch Folgendes sagen: Herr mend scheitern, dass Sie dort zunehmend auf Grund lau- Clement, Sie haben ziemlich genau vor einem Jahr, Ende fen, dass Sie dort zunehmend auf Widerstände von de- Februar 2003, eine große Initiative zur Entbürokrati- nen stoßen, die nicht mehr bereit sind, den Weg von sierung auf den Weg gebracht, die auch unsere Zustim- Reformen, Innovation, Lust und Leidenschaft, wie Sie es mung gefunden hat. Sie haben diese Initiative – bei der hier gesagt haben, fortzusetzen. Deswegen wäre es gut, (D) (B) Wortwahl ist die Regierung nie ohne Fantasie gewesen – wenn nicht nur der Kanzler vom Vorsitz der SPD zu- „Masterplan Entbürokratisierung“ genannt. Was ist ei- rückträte. gentlich aus dem Masterplan Entbürokratisierung ge- worden? Warum haben Sie das, was Sie mit so großem (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Pomp angekündigt haben, heute Morgen nicht noch ein- NIS 90/DIE GRÜNEN) mal vertreten und eine Zwischenbilanz vorgelegt? Ich Für das Land und für Wachstum und Beschäftigung wäre sage Ihnen, was ich vermute, warum Sie das nicht getan es das Allerbeste, wenn die Bundesregierung so schnell haben: Sie können gar keine Zwischenbilanz über die im wie möglich gehen würde, meine Damen und Herren. letzten Jahr angekündigte Initiative zur Entbürokratisie- rung vorlegen. Ich möchte Ihnen – ich habe mir das von (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und einigen Kollegen auch der SPD, die dabei waren, berich- der FDP) ten lassen – ein Beispiel nennen. Gestern hat es im Ver- kehrsausschuss des Bundestages eine Anhörung zur Ver- Präsident Wolfgang Thierse: kehrsinfrastruktur gegeben. Unter anderem hat der Ich erteile Kollegen Werner Schulz, Fraktion Bünd- Vorstandsvorsitzende der Flughafen Frankfurt AG dort nis 90/Die Grünen, das Wort. berichtet, wie die Wirklichkeit der Bürokratie in Deutschland aussieht. ( [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Griesgram Ost!) (Hubertus Heil [SPD]: Sagen Sie mal was zur Handwerksordnung!) Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Airbus Industrie will ein neues, großes europäisches – es NEN): ist sehr erfolgreich – Flugzeug bauen, den A380. Dieses Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Flugzeug ist nun früher fertig als die dafür vorgesehene Merz, die politische Substanz Ihrer Rede passt auf jeden Wartungshalle auf dem Frankfurter Flughafen. Gegen Bierdeckel. diese Wartungshalle, eine schlichte Wartungshalle (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ – meine Damen und Herren, ich will Ihnen einfach ein- DIE GRÜNEN und bei der SPD) mal die Lebenswirklichkeit in Bezug auf Bürokratie in Deutschland schildern –, Ich hatte zunächst noch die zarte Hoffnung, dass der Optimismus, der im Jahreswirtschaftsbericht der Bun- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Reden desregierung zum Ausdruck kommt, den alle For- Sie doch mal mit Herrn Koch darüber!) schungsinstitute und viele Branchen teilen, der auch im 8016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Werner Schulz (Berlin) (A) Ifo-Geschäftsklima-Index, im Konjunkturbarometer Versuch von Friedrich Merz, endlich die Widersprüche (C) vom „Handelsblatt“, in den wichtigsten Indikatoren zum in Einklang zu bringen. Ausdruck kommt, von Ihnen mitgetragen wird. Aber (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- was wir von Ihnen zu hören bekamen, war dieses sauer- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ländische Mantra der Miesepeterei und nichts anders. Ich bin sehr gespannt, wie Sie all die Ungereimtheiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und – Stufenmodell oder linear-progressiver Tarif; Mehr- bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU) wertsteuererhöhung, ja oder nein; Subventionsabbau Ich kann das nur unter „MMM“ abbuchen. Die drei oder, wie von Bayern gefordert, Erhaltung der Entfer- Buchstaben standen früher für – manche, zum Beispiel nungspauschale, die Stichworte „Kreditfinanzierung“ , werden sich erinnern – „Messe der und „Kopfpauschale“ – zusammenbringen. Meister von morgen“. Heute steht es für die „Merz- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Da braucht man einen Merkel-Methode“, dieses Mitmachen, um mies zu ma- großen Bierdeckel!) chen. Ich hoffe nur, dass Sie bei der radikalen Steuerver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Friedrich einfachung, die Sie planen, auch den Willen zeigen, Merz [CDU/CSU]: Herr Schulz!) diese Initiative durch den Bundesrat zu bringen; denn Es gab doch nicht eine Entscheidung im vergangenen das wird entscheidend sein. Hoffentlich wärmen Sie hier Jahr, nicht einen Reformprozess, an dem die Union nicht nicht nur ein Wahlkampfthema auf, obwohl Sie an der beteiligt gewesen wäre. Ich will von den Bremsspuren Lösung der Probleme überhaupt nicht interessiert sind. gar nicht reden, die Sie dabei hinterlassen haben, bei- Wir sind bereit, die Steuervereinfachung mit Ihnen ge- spielsweise bei der Steuersenkung, beim Subventions- meinsam vorzunehmen, und zwar so, wie wir die Steuer- abbau. reform im letzten Jahr beschlossen haben. Machen Sie sich also keine Sorge um das Reformtempo! Wir haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angefangen, den Reformstau aufzulösen, und wir lassen und bei der SPD) da nicht locker. Wo ist eigentlich geblieben, der Trotz meiner Kritik an manchen Details und trotz der zweite Gründungsvater oder Geburtshelfer der Gesund- Kritik, die geübt worden ist: Diese Reformen sind eine heitsreform? Er ist genau in dem Moment abgetaucht, Chance für unser Land. Die Gewerkschaften haben in als die „Bild“-Zeitung ihre Attacken gegen die von ihm der vergangenen Nacht einen großen Beitrag dazu ge- mit eingeführte Praxisgebühr begonnen hat. leistet, die Beschäftigung in Deutschland zu sichern bzw. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den betrieblichen Bündnissen für Arbeit ein ganzes (D) und bei der SPD) Stück näher zu kommen. Jetzt sind auch die Unterneh- men gefordert. Wenn man sich anschaut, was die Bun- Von dem Moment an war plötzlich nichts mehr von ihm desregierung geleistet hat – Einschnitte im Sozialsystem; zu hören, von dem mutigen Kämpfer für die Bürgerver- Lockerung des Kündigungsschutzes; Steuersenkungen –, sicherung. Er sollte sich nicht verdünnen. dann erkennt man: Das alles entspricht Forderungen aus (Michael Glos [CDU/CSU]: „Verdünnisieren“ dem Arbeitgeberlager. heißt das!) Jetzt müssen die Arbeitgeber ihrem Namen aber auch Nehmen wir nur einmal die Zauberformel: Flexibili- gerecht werden und Arbeit geben, also Leute einstellen. sierung beim Kündigungsschutz. Das haben Sie einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bracht und das rechnen Sie sich zu Recht an. Wenn ich und bei der SPD) das aber zu der hohen Arbeitslosigkeit ins Verhältnis setze, die Sie zu Recht beklagt haben, dann muss ich sa- Das wird die Menschen in unserem Land motivieren und gen: Auch hier ist die schnelle Lösung nicht in Sicht. Ich es wird deutlich machen, dass sich diese Reformen loh- halte es für gefährlich, wenn von Ihnen diese Instant- nen, weil klar wird, wofür sie durchgeführt werden. Die Mentalität genährt wird: Wenn man etwas einrührt, be- Motivation in der Bevölkerung wird steigen und man kommt man sofort die Lösung. Dann erwecken Sie auch wird diese Einschnitte ertragen können, weil man sieht: noch den Eindruck, dass Sie eine viel, viel bessere All- Unterm Strich bringt das etwas Positives. Unions-Lösung zu bieten hätten. Die eingeleiteten Maßnahmen können natürlich nur Im Grunde genommen gibt es momentan in keinem der Anfang sein. Das Jahr der Innovationen ist ange- einzigen politischen Sachbereich eine Übereinstimmung sprochen worden. Wir verstehen unter Innovationen zwischen CDU und CSU. Unter diesen Umständen for- nicht nur den technischen Fortschritt oder technische dern Sie Neuwahlen oder den Rücktritt des Bundeskanz- Neuerungen, Produkt- oder Verfahrensinnovationen. Es lers. Was Sie da tun, ist abenteuerlich, kühn und unver- geht eben auch um soziale, um kulturelle, um geistige antwortlich gegenüber unserem Land. und um gesellschaftliche Veränderungen; denn die Glo- balisierung, die demographische Entwicklung zwingen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns, das Verhältnis von individueller Selbstverantwor- und bei der SPD) tung und organisierter Solidarität neu zu bestimmen. Die Die christlich-demokratische Konsensoffenbarung soziale Gerechtigkeit selbst ist eine Innovationsaufgabe, verweist jetzt auf den 7. März. Das klingt wie der siebte in der Umverteilung, Chancengleichheit, Generationen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8017

Werner Schulz (Berlin) (A) gerechtigkeit und Gender Mainstreaming zusammen- also eine Ressourcen schonende Entwicklung auf den (C) kommen. Weg zu bringen, ist eine nachhaltige Aufgabe und bietet beste Chancen für unsere Volkswirtschaft, Wettbewerbs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vorteile zu erringen. Die Ökosteuer hat gezeigt, wie viel Das Motto unserer Reformen heißt „Fordern und För- uns das nützt, was man auf diese Weise bewirken kann. dern“. Dieses Prinzip muss aber für alle gelten, nicht nur Allen Unkenrufen und Horrorszenarien, die bezüglich für einen Teil oder für eine Gruppe in der Gesellschaft. der Situation an den Tankstellen an die Wand gemalt Die soziale Ausgewogenheit ist die Voraussetzung, um worden sind, zum Trotz ist die deutsche Automobilin- eine breite Akzeptanz dieser Reformen zu erreichen. Das dustrie Spitze. Die Hightech-Autos mit niedrigem Sprit- heißt beispielsweise, dass man solche heißen Eisen wie verbrauch sind ein Renner. Damit hat sich VW den chi- Vermögensteuer, Erbschaftsteuer oder Ausbildungsplatz- nesischen Absatzmarkt erschlossen. umlage anfassen muss. Viel wichtiger, als nur festzustel- Nehmen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz: Das len, was in den Betrieben vor sich geht, ist, herauszube- hat im Grunde genommen viele neue Arbeitsplätze ge- kommen, was in den Köpfen der jungen Leute, die keine schaffen und gibt uns bei der enormen Aufgabe, die in Ausbildung bekommen, vor sich geht. Wir müssen dieses den nächsten 20 bis 30 Jahren ansteht, nämlich bei der Er- Problem vernünftig lösen. Diese Lösung sieht keine Ab- neuerung oder Ersetzung der Hälfte unserer Kraftwerks- gabe, sondern eine Umlage vor, durch die diejenigen Be- anlagen, die Möglichkeit, zu einem anderen Energiemix triebe belohnt werden, die ausbilden. Diejenigen Be- mit verstärkter Nutzung von regenerativer Energie, zu ra- triebe, die sich der verantwortlichen Aufgabe der tionellerer Energieanwendung und zu Energieeinsparung Ausbildung verweigern, sollen diese Umlage finanzieren. zu kommen. Damit können wir der modernste Energie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN standort der Welt werden, der dann seine Technik und sowie bei Abgeordneten der SPD) sein Know-how verkaufen kann. Wir sollten uns doch nicht von Arnold Schwarzenegger schlagen lassen, der Das ist der Sinn der Ausbildungsplatzumlage. das Ziel ausgegeben hat, dass in Kalifornien ein Drittel Ich sage ganz klar: Das Paradefeld der Innovation ist der Energie durch Solarstrom erzeugt werden soll. Wir eine verbesserte Bildung in der Breite und in der Spitze. sind doch selbst auf dem besten Weg. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Vermittlungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder ein Strukturproblem; vielmehr zeigen sich die Defi- sowie bei Abgeordneten der SPD) zite, über die wir seit der Veröffentlichung der PISA-Stu- die diskutieren, auch auf dem Arbeitsmarkt: Ein Drittel Noch liegen wir vor den USA. Diese Position, die wir der Arbeitslosen ist schlecht qualifiziert, hat keine Qua- durch unser 100 000-Dächer-Programm und vieles an- (B) lifikation oder ist nicht mehr zeitgemäß qualifiziert. Dort dere mehr erreicht haben, sollten wir nicht gefährden. (D) heißt „lebenslanges Lernen“ nicht nur persönliche Be- Nachdem hier der Emissionshandel angesprochen reitschaft und nicht nur, dass der Staat Angebote zur Ver- worden ist, möchte ich hierzu abschließend sagen: Mit fügung stellt, sondern auch, dass die Unternehmer ge- dem Emissionshandel haben wir der Wirtschaft ein fordert sind, für die betriebliche Weiterbildung, für marktwirtschaftliches Instrument in die Hände gegeben, Qualifikation zu sorgen. Die zweite Chance, von der wir damit sie selbst entscheiden kann, wie sie das selbst ge- immer wieder reden, muss auch eine zweite Möglichkeit steckte Ziel der CO2-Reduzierung erreichen will. Wer zur Berufsausbildung enthalten. Das muss nicht nur in hier von Öko-Stalinismus redet, Kollege Glos, der weiß unseren Köpfen, sondern auch in der Wirtschaft ankom- weder, was Ökologie ist, noch, was Stalinismus war. men. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will auf die wichtigste Herausforderung des und bei der SPD) 21. Jahrhunderts eingehen: den ökologischen Aufbruch, das ökologische Umdenken, das Erneuern unserer Pro- duktions- und Lebensweise, das Leitbild einer ökolo- Präsident Wolfgang Thierse: gisch-sozialen Marktwirtschaft. Wir wissen doch alle, Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDP- dass die ökologischen und sozialen Folgekosten unserer Fraktion. Wirtschaftsweise die Wohlfahrtsgewinne längst überstei- (Hubertus Heil [SPD]: Das Niveau sinkt, ge- gen. Wenn man den Klimawechsel und seine Vorboten, nau wie das Rednerpult!) die ab und zu ins Bewusstsein dringen, betrachtet, dann weiß man, was hier auf uns zukommt. Rainer Brüderle (FDP): Angesichts der sinkenden Wachstumsraten stellt sich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- immer stärker die Frage, ob das Bruttoinlandsprodukt lege Weltökonom Schulz, wenn die Rede von Herrn überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Ermittlung des Merz auf einen Bierdeckel passte, dann passt Ihre auf Wohlstandes sein kann. Oder lässt sich die Binnennach- eine Briefmarke. frage in einer schrumpfenden und älter werdenden Be- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eckart völkerung wirklich kontinuierlich erhöhen? Das sind von Klaeden [CDU/CSU]) doch Fragen, die wir in der Zukunft beantworten müs- sen. Wir müssen doch den Konsum viel stärker von der Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hatte quantitativen zur qualitativen Seite, also zu mehr Wert- heute eigentlich eine Regierungserklärung des Bundes- haltigkeit, umsteuern. Die ökologische Modernisierung, kanzlers erwartet. Der „Spiegel“ titelt: „Der halbierte 8018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Rainer Brüderle (A) Kanzler“. Das Sagen in der Partei und in der Fraktion Ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept vermag ich (C) haben jetzt andere. Wir wollen Klarheit über den Regie- beim besten Willen nicht zu erkennen. Nicht einmal rungskurs. Die Menschen im Land haben ein Recht da- Spurenelemente notwendiger Reformen sind in der Re- rauf, zu erfahren, wie es in Deutschland weitergeht. gierungspolitik erkennbar. Im Gegenteil, der Bundes- kanzler – Entschuldigung, der Parteivorsitzende – in spe, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Franz Müntefering, verkündet eine Reformpause nach der CDU/CSU) dem Motto: keine Hektik. Den Stabilitätspakt hat Hans Offenbar heißt das SPD-Programm jetzt: Ausbildungs- Eichel längst auf dem Altar seiner Haushaltslöcher geop- platzabgabe statt Bürokratieabbau, Erbschaftsteuererhö- fert. hung statt Steuersenkung, Bürgerversicherung statt Ei- (Franz Müntefering [SPD]: Herr Schwätzerle!) genverantwortung. Offensichtlich ist die Regierung Schröder/Clement jetzt Erfüllungsgehilfe sozialdemo- Die Rentner werden am 1. April mit realen Kürzungen kratischer Rückwärtsrollen. gefoppt. Die Reform der Pflegeversicherung wird ge- (Hubertus Heil [SPD]: Büttenrede! Tata, tata, stoppt. Die Gesundheitsreform ist gefloppt. Gefoppt, ge- tata!) stoppt, gefloppt – das ist das grüne-rote Chaos der So- zialpolitik. – Sie sollten die Sache lieber viel ernster nehmen. Das „Tata“ bringen Ihnen, Herr Heil, mit Ihrem tollen welt- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ökonomischen Werdegang noch viele bei. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜND- Die Lohnnebenkosten verbleiben bei über 42 Prozent NIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen kann man und verhindern, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Nach doch nichts ernst nehmen, Herr Brüderle! Sie dem Sachverständigengutachten liegt das Wachstums- sind der spaßpolitische Sprecher der FDP!) potenzial, also die mittelfristigen Wachstumsmöglich- keiten, nur noch bei etwa 1,5 Prozent. Die Bundesbank Zu alledem will der Bundeskanzler vor dem Parla- spricht von 1 Prozent. Ich zitiere den Sachverständigen- ment nichts erklären; zu alledem haben Sie, Herr rat: Clement, nichts gesagt; zu alledem steht auch nichts im Jahreswirtschaftsbericht. Sie reden lautstark von Moder- Konjunkturelle Belebungstendenzen bleiben in ei- nisierungskurs, doch Sie kämpfen im luftleeren Raum. nem solchen Umfeld … abhängig vom Ausmaß der Erholung in anderen Wirtschaftsräumen und sind (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: insofern labil. Ihre Zeit ist vorüber!) (B) Das heißt im Klartext: Das Miniwachstum, das wir er- (D) Die „FAZ“ schreibt: „Minister ohne Zukunft“. Die warten können, wird von der Weltkonjunktur geliehen, Flucht der Vernünftigen aus der SPD-Spitze geht weiter. Grün-Rot gibt sich mit den Brosamen der Weltwirtschaft (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zufrieden, weil sie selbst nichts Richtiges mehr geba- 3 Prozent haben Sie noch in Hamburg!) cken bekommen. Ihre Rückzugsüberlegungen sind offensichtlicher Beleg (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dafür, dass Sie nicht mehr daran glauben, dass Sie die der CDU/CSU) Wende mit Ihren Veränderungen hinbekommen. Den Die Probleme der deutschen Volkswirtschaft sind Kurs bestimmen jetzt wieder die Betonköpfe. weitgehend hausgemacht. Wir können am Beispiel Ja- (Beifall bei der FDP) pans studieren, was die Folgen sind, wenn man Struktur- probleme nicht löst: jahrelang praktisch kein nennens- In der Theorie des Jahreswirtschaftsberichts heißt es: wertes Wachstum; zehn Jahre der Stagnation und Der Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäfti- Deflation liegen hinter Japan. gung liegt daher in strukturellen Reformen und Das entscheidende Signal müsste darin liegen, dass gesamtwirtschaftlichen Bedingungen, die starke der Staat sich zurückzieht. Wir haben eine Staatsquote Anreize und Impulse für Innovationen und Investi- von fast 50 Prozent, exakt 48,6 Prozent. Deshalb wird tionen geben, ohne die Preisstabilität zu gefährden. Hermann Otto Solms nachher für die FDP-Fraktion mit So weit, so nett. Sie formulieren auch hehre Ziele: einem ausformulierten Gesetzesantrag konkret darle- Staatsquote unter 40 Prozent, Sozialversicherungsbei- gen, wie wir die Steuerreform in Deutschland umsetzen träge ebenfalls unter 40 Prozent, Vollbeschäftigung bis können, wie wir vorankommen können, wie wir endlich 2010. Bei 6 bis 7 Millionen echten Arbeitlosen im Land die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum schaf- ist es schon eine sehr mutige, vollmundige Ankündi- fen können. Das ist der richtige Weg, um voranzukom- gung, bis 2010 Vollbeschäftigung erreichen zu wollen. men. Aber das Erstaunlichste ist: Umsetzungsvorschläge (Beifall bei der FDP) finden sich im Jahreswirtschaftsbericht so gut wie keine. Ich kann Herrn Kollegen Merz eigentlich nur sagen: Wie Sie das umsetzen wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Stimmen Sie mit uns! Ihre Kopie hat in den eigenen Rei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hen offensichtlich keine Chance. Sie haben heute die der CDU/CSU) Gelegenheit, dem Original zuzustimmen. So könnte aus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8019

Rainer Brüderle (A) Friedrich Merz vielleicht doch noch Friedrich der Große (Widerspruch der Abg. (C) werden. [SPD]) (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Heute wird noch immer ein Drittel des Stroms aus Kern- Dr. Uwe Küster [SPD]: Das war aber eine sehr energie gewonnen. Sie wollen diesen Strom durch müde Einschätzung!) Strom aus erneuerbaren Energien ersetzen, indem Sie die Kernenergie verbieten und Windräder subventionieren. Der Jahreswirtschaftsbericht atmet interventionisti- Doch für jede Kilowattstunde Windstrom muss eine Ki- schen Geist. Aber in einer Marktwirtschaft soll der Staat lowattstunde Atomstrom oder Kohlestrom vorgehalten nicht lenken, sondern ordnen, den Rahmen setzen. Der werden. Wenn wir sie selbst nicht vorhalten, tun es an- Staat hätte noch genug damit zu tun, einen vernünftigen dere in Frankreich oder in Osteuropa. Aber auf jeden Rahmen zu setzen. Doch Sie wollen den Staat als Planer, Fall gefährden wir die Versorgungssicherheit in Lenker und Angreifer. Bei Ihnen sollen staatlich be- Deutschland. stellte Innovationsräte Zukunftsfelder festlegen. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Sie haben ja tolle Leute berufen, die gerade im Zusam- menhang mit der LKW-Maut belegt haben, wie fähig sie Das wissen auch Herr Clement und der Kanzler. Der sind. Kanzler schickt deshalb seinen Lieblingsgewerkschafter, Herrn Schmoldt, vor, der anfängt, Atomstrom in Doch der Wettbewerb bleibt das entscheidende Entde- Deutschland wieder hoffähig zu machen. ckungsverfahren. Bei Ihnen sollen dem Kartellamt durch Megafusionen und Ministererlaubnisse die Zähne gezo- Nach dem Motto „daheim aussteigen, auswärts ein- gen werden; aber Wettbewerb ist das beste Instrument steigen“ will der Bundeskanzler die Hanauer Brennele- der Entmachtung. Wettbewerb sorgt für Dynamik und mentefabrik nach China exportieren. Die Bundesregie- Veränderung. rung teilte uns auf Anfrage mit, die Anlage sei sicher. Von den Grünen hört man dazu kein Wort. Ihnen genügt Besonders fatal ist Ihr interventionistischer Ansatz es offenbar, wenn die Anlage grün angestrichen wird. beim Pressefusionsrecht. Das ist Frau Sagers Beitrag zur Innovationsdebatte. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dort wollen Sie Strukturkrisenkartelle, egal welcher der CDU/CSU) Größe, erlauben. Sie wollen quasi in der Presseland- Seien wir doch ehrlich: Ohne Kernenergie kippt der (B) schaft einen GWB-freien Raum schaffen. Meinungsfrei- (D) deutsche Energiemix und wir werden extrem importab- heit und -vielfalt sind offenbar für Sie nicht wichtig. hängig. Das nutzt unserem Wirtschaftsstandort sicher- Eine weitere Pressekonzentration kann Freiheiten und lich nicht. Sie betreiben eine lupenreine grüne und rote Demokratie auch gefährden. Klientelpolitik: Windkraft und Steinkohle werden mit (Beifall bei der FDP) Milliardensubventionen in Deutschland hochgepäppelt. Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, Herr Heil, wenn Doch für freiheitliche Ansätze ist bei Grün-Rot kein der Kanzler seinem früheren Wirtschaftsminister Müller, Platz. Anstatt mit einer maßvollen und vernünftigen der bei der Ruhrkohle AG, einer Tochter von Eon und Politik zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Ihr Ruhrgas – nach deren Fusion haben diese einen Markt- Begriff von Freiheit so aus: hinter jeder Putzfrau am anteil von 85 Prozent –, Vorstandsvorsitzender geworden liebsten ein Polizeibeamter und Herr Eichel als der neue ist, 16 Milliarden Euro Subventionen nach Gutsherrenart Blockwart der Nation, als haushaltspolitischer Spanner. zusagt. Wir reden alle über Subventionsabbau, aber (Beifall bei der FDP) hier werden 16 Milliarden Euro zusätzliche Subventio- nen genehmigt. Das ist rote Kumpelwirtschaft übelster Im Jahreswirtschaftsbericht wird über die so genannte Art. nachhaltige Energiepolitik fabuliert. Eine Energiepoli- tik muss, wenn sie erfolgreich sein will, technologieof- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fen sein. Aber auch hier wollen Sie planen und lenken. der CDU/CSU) Man sieht es am aktuellen Streit zwischen Herrn Ich zitiere aus den Reihen der Grünen: Clement und Herrn Trittin in Sachen Emissionshandel. Der Emissionshandel nach der Art von Trittin wird kein Angesichts der fehlenden Mittel in den Bereichen Nullsummenspiel für die deutsche Wirtschaft werden. Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik ist Im letzten Jahr hatten wir 20 Prozent höhere Strom- es nicht zu rechtfertigen, einen dauerhaften Stein- kosten in Deutschland. Den Kurs der Verteuerung der kohlesockel zu finanzieren. Energie setzen Sie fort; denn mit der so genannten Ener- giewende werden die Weichen für höhere Energiekos- Das haben einige Ihrer grünen Kollegen formuliert. Aber tenbelastungen in Deutschland gestellt, was zulasten der nichts geschieht. Sie kleben wie Pattex an Ihren Stühlen. Arbeitsplätze geht. Rückgrat und Ordnungspolitik waren noch nie grüne Stärken. Sie stehen für Unordnungspolitik. Der Atomausstieg ist für mich ein dunkles Kapitel energiepolitischer Planwirtschaft. (Beifall bei der FDP) 8020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Rainer Brüderle (A) Wir wollen einmal über den Arbeitsmarkt reden. Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht beschreiben, wer- (C) Wir sind immer froh, wenn es keinen Streik gibt. den Sie es mit Sicherheit nicht schaffen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) FDP – 3 Prozent in Hamburg!) Nur zu sagen: „Wir wollen in sechs Jahren Vollbeschäfti- Aber die Chance, Herr Kuhn, wirklich etwas für mehr gung haben“, ohne zu fragen, welcher Weg dafür einge- Beschäftigung zu tun, hat das Tarifkartell versäumt. schlagen werden muss, damit kommen wir nicht weiter. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht der Ideen- losigkeit und der Kraftlosigkeit. Wir brauchen aber Ver- Sie haben zwar eine Einigung mit kleinen Öffnungsklau- änderungsbereitschaft; statt festgefahrener Kartelle brau- seln gefunden, aber sie hatten nicht die Kraft, die Grund- chen wir die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. voraussetzungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit ohne Genehmigung des Tarifkartells zu schaffen. Des- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: halb muss es der Gesetzgeber tun. Neue Wege mit Brüderle? Ich lach mich schief!) Wir fordern erneut: Wenn sich 75 Prozent der Mitar- beiter in freier und geheimer Entscheidung für eigene – Herr Kuhn, Sie als grünes Alibi zementieren alles. Ich Regelungen aussprechen – es sind nämlich ihr Job und freue mich schon auf Ihre weltpolitischen Ausführun- ihre Lebensperspektiven –, dann müssen sie das Recht gen. haben, ohne Genehmigung der Kartellbrüder diese Ent- scheidung treffen zu können. Das ist die richtige Wei- Präsident Wolfgang Thierse: chenstellung. Kollege Brüderle, Sie müssen bitte zum Ende kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men. der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Ich darf dezent darauf hinweisen, dass man in Hol- Herr Präsident, ich bin bei meinen letzten Sätzen. – land die Kraft gehabt hat, für zwei Jahre Nullrunden zu Herr Kuhn möchte ja gerne Außenminister werden. Des- vereinbaren. Wir müssen über Arbeitszeiten sprechen, halb flüchtet er in die Weltökonomie. um die Voraussetzung zu schaffen, den 6 Millionen Ar- beitslosen, die draußen stehen, den Einstieg in den Ar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beitsmarkt zu ermöglichen. Dazu hat das Tarifkartell der CDU/CSU) nicht die Kraft gehabt. Das zeigt mir, dass man die Zei- (B) chen der Zeit offensichtlich immer noch nicht erkannt Präsident Wolfgang Thierse: (D) hat. Kollege Brüderle, Sie haben in Ihrer Rede die Formu- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) lierung „Blockwart der Nation“ verwandt. Ich möchte Sie ermahnen und daran erinnern, dass wir bestimmte Als Dank für die Gewerkschaften und als Valium für Assoziationen an die schlimmste Zeit der deutschen Ge- die Regierungsparteien gibt es jetzt die Ausbildungs- schichte in Bezug auf Personen dieses Hauses vermeiden platzabgabe. Die Ausbildungsplatzabgabe ist die Pra- wollten. xisgebühr für den deutschen Mittelstand: Sie ist teuer, bürokratisch und bringt nichts. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Ludwig Im Jahreswirtschaftsbericht wird eine Kampagne für Stiegler, SPD-Fraktion. Ausbildungsplätze beschrieben, aber, Herr Clement, ich lese keine Zeile über eine Ausbildungsplatzabgabe. Sie (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wo bleibt sprachen noch vor kurzem von der Gefahr, dass über die Münte?) Ausbildungsplatzabgabe eine Verstaatlichung der Be- rufsausbildung herbeigeführt wird. Aber dazu schweigen Ludwig Stiegler (SPD): Sie in diesem Bericht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss zunächst dem Kollegen Schulz widersprechen. Er hat die (Ludwig Stiegler [SPD]: Weil er weiß, dass Sauerländer im Allgemeinen mit einem negativen Touch nichts verstaatlicht wird!) verbunden. Ich sage Ihnen: Wenn ein Sauerländer sauer- Offensichtlich ist dieses Lieblingsprojekt des neuen töpfisch ist, sind nicht alle Sauerländer es. Unser Sauer- Parteivorsitzenden als Beruhigungspille für die Partei länder ist in Ordnung. notwendig. Am Dienstag wollten Sie zumindest als Par- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei teivize die Flinte ins Korn werfen. Offensichtlich haben Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Sie Zweifel am Reformwillen und an der Reformfähig- GRÜNEN – Dr. [FDP]: keit Ihrer Partei. Sie sagen immer wieder wie der Bun- Hier hat jeder seinen eigenen!) deskanzler: Erst das Land und dann die Partei! – Sie werden in der nächsten Zeit viel Gelegenheit haben, zu Dass dieser andere Sauerländer sauer ist und sich jetzt beweisen, dass Ihnen das Land wichtiger ist als die Par- aufgrund der Doppelspitze sogar Sorgen über die Hand- tei, nämlich durch mutige Veränderungen. Mit dem, was lungsfähigkeit des Bundeskanzlers macht, ist in seiner Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8021

Ludwig Stiegler (A) eigenen Biografie begründet. Er war in einer Doppel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (C) spitze und ist nach kurzer Zeit im Handtäschchen von GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU) Frau Merkel verschwunden. Dass er nichts von Doppel- spitzen hält, ist völlig klar. Aber unser Sauerländer ist in Am allerdreistesten wird es, wenn ein Unionspolitiker Ordnung. es wagt, über den Arbeitsmarkt zu reden. Sie haben 5 Millionen Arbeitslose prophezeit, Sie falsche Prophe- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem ten. Schauen Sie sich die wahre Entwicklung an und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vergleichen Sie sie mit der Geschichte: Die höchste Arbeitslosigkeit in den Monaten Januar und Februar Herr Merz hat versucht, das alte Rezept anzuwenden. gab es unter der Regierung von CDU/CSU und FDP. Da- Wenn Sie seine Reden von vor einem Jahr nachlesen, bei mischte Herr Brüderle schon mit. Sie hatten die dann geht es Ihnen wie mit dem Lungenhaschee: Habe höchste Arbeitslosigkeit, die wir immer unterboten ha- ich es schon gegessen oder soll ich es noch essen? ben, (Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist die alte Methode: nur anklagen und Rezepte an- DIE GRÜNEN) mahnen, aber selber keine vorschlagen. ohne dass wir Wahlkampf-ABM eingesetzt hätten, wie Jetzt versuchen Sie noch, uns zu spalten, uns unserem Sie es damals getan haben. Von Ihnen kann man in Sa- Wirtschaftsminister zu entfremden. Meine Güte, da müs- chen Arbeitsmarkt weiß Gott nichts lernen. sen Sie schon früher aufstehen, um damit Erfolg zu ha- ben! Wir sind stolz, dass Wolfgang Clement der deut- Von Ihnen kann man auch im Hinblick auf Beschäf- schen Wirtschaft wieder Mut zum Aufschwung gegeben tigtenzahlen wenig lernen. Sie haben einfach Behaup- hat, während Sie Trübsal geblasen haben. Das ist der tungen über die Zahl der Beschäftigten aufgestellt. Unterschied zwischen Ihnen und uns. Besser wäre es, wenn Sie die Güte hätten, die Gesamt- zahl der Erwerbstätigen in Deutschland während Ihrer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regierungszeit mit der in unserer Zeit zu vergleichen. DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dann sähen Sie, dass es in Ihrer Zeit zumeist 37 Millio- Was ist mit der Arbeitsplatzabgabe?) nen und weniger waren, zu unserer Zeit jedoch immer mehr als 38 Millionen. Jetzt ist zwar eine Ergänzung – Lieber Kollege Ernst Hinsken, dass eure Fraktion ge- durch die Selbstständigen zu verzeichnen. Aber Sie for- wohnt ist, zu sagen: „Du bist der dern doch selbst immer die Kultur der Selbstständigkeit. Größte, Schönste und Beste“, und ihr euch nie mit euren Daher sollten Sie Herrn Clement danken, dass wir Men- Ministern angelegt habt oder anlegt, ist euer Problem. (B) schen zur Selbstständigkeit ermutigt haben, und dies (D) Dass sich eine selbstbewusste Fraktion auch einmal an nicht als Mitnahmeeffekt denunzieren. Wir müssen alles einem so starken Minister reibt, ist klar. Aber Reibung tun, damit diese Menschen, die sich selbstständig ma- ist eine alternative Energiequelle. Da entsteht nämlich chen, also für sich und andere einen Arbeitsplatz schaf- Wärme. fen, unterstützt, beraten und gefördert werden, damit sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Selbstständige Erfolg haben. Das ist unser Auftrag. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Niebel [FDP]: Das ist ja eine Büttenrede!) DIE GRÜNEN) Lassen Sie also diesen Versuch der Spaltung! Wir Meine Damen und Herren, Sie haben die Insolvenzen werden mit Wolfgang Clement rau und herzlich zusam- angesprochen. Die Analyse von Creditreform zeigt, dass menarbeiten. Entscheidend ist, dass er das Symbol für 75 Prozent der Insolvenzen hausgemacht sind, also ein den Aufschwung in Deutschland geworden ist, während Problem der jeweiligen Unternehmer sind. Schönwetter- Sie das Symbol der Miesmacher, Unker und Klager sind. kapitäne können bei boomender Konjunktur erfolgreich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein. Wir haben aber ein erhebliches Qualitätsproblem. DIE GRÜNEN) Daran müssen wir arbeiten; es muss qualifiziert werden. Hinzu kommt, dass in Ihrer Regierungszeit alle Steuer- Kommen wir noch einmal auf den Herrn Merz zu berater die Unternehmen dazu verführt haben, ihre Ei- sprechen. Er hat letztes Jahr den Untergang beschworen. genkapitalquote durch Entnahmen und Schütt-aus-hol- Wolfgang Clement hat gesagt: Im Jahresverlauf wird es zurück-Verfahren so gering wie möglich werden zu las- einen Aufschwung geben. Wer hat denn nun Recht be- sen. Heute haben sie Angst vor den Ratings. Die Unter- halten? Wolfgang Clement hat damals auf die Entwick- nehmen müssen wieder lernen, aus eigener Kraft, aber lung im Irak hingewiesen und deutlich gemacht, dass es auch mithilfe von Partnern Eigenkapital aufzunehmen, langsamer gehen wird, dass wir aber im Laufe des Jahres damit sie selbstständig bleiben. Das wäre hilfreich, wenn wieder dynamische Kräfte haben werden. man Insolvenzen verhindern will, nicht aber eine allge- Ich verstehe ja, dass es Sie zur Verzweiflung bringt, meine Anklage von Rot-Grün. dass der Ifo-Geschäftsklimaindex neun Monate hinter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einander nach oben zeigt. Sie möchten, dass er in die DIE GRÜNEN) Hölle zeigt, damit Sie mit Ihren Untergangsgesängen Gehör finden. Aber Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit, Ihre Ausreden, was die Ausbildungsplatzsituation meine Damen und Herren. angeht, haben wir lange genug gehört. Zehn Jahre hieß 8022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Ludwig Stiegler (A) es, die Wirtschaft werde es schon schaffen. Aber sie hat dann hätten Sie Dankfeste und große Kundgebungen (C) es trotz aller Bemühungen, die wir anerkennen und för- veranstaltet. Wir haben Preisstabilität wie nie zuvor. Die dern und deren Fortgang wir wünschen, nicht geschafft. Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor und bieten gute In- Im Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber den Men- vestitionsbedingungen. Die Banken haben sich aus ihrer schen sagen wir: Kein junger Mensch darf die Schule Krise herausgearbeitet. Viele große Unternehmen haben ohne Ausbildung verlassen. Wir dürfen nicht verlorene ihre Bilanzprobleme bereinigt und können wieder aktiv Jahrgänge und Menschen in Warteschleifen zulassen. werden. Mit den neuen Kreditprogrammen der KfW- Mittelstandsbank können wir dem Mittelstand helfen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Rahmenbedingungen sind so gut wie lange nicht DIE GRÜNEN) mehr. Deshalb kommt es darauf an, jetzt nicht in Miese- In Zukunft werden wir wieder einen Facharbeitermangel petrigkeit zu verharren, sondern nach vorn zu schauen. beklagen. Deshalb werden wir eine verträgliche Rege- Wir warnen übrigens auch und gerade die CSU davor, lung finden, die dafür sorgt, dass die Menschen Ausbil- den Aufschwung zu fordern, aber in Bayern durch die dung bekommen. Die Wirtschaft ist und bleibt in der Haushaltspolitik ein halbes Prozent Wachstum zu ver- Verantwortung. Sie ist ihr nicht gerecht geworden; da- nichten. Das ist Ihre Situation. Manchmal könnte man rum werden wir ein Stück weit nachhelfen. Niemand meinen, Sie wollten diesen Aufschwung nicht, weil dann wird glücklicher sein als wir, wenn es die Umlage nicht Ihre Klagegrundlage wegfiele. braucht. Meine Damen und Herren, es ist beklagt worden, dass (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Pleite gegange- der Aufbau Ost nicht angesprochen worden sei. Herr nen Betriebe können nicht mehr ausbilden!) Merz verfährt nach dem Grundsatz: Kinder, recherchiert Meine Damen und Herren, Ihre Angriffe auf das nicht so viel; es hetzt sich dann so schlecht. – Schauen Tarifvertragsrecht – das gilt auch für Herrn Brüderle – Sie sich einmal den Jahreswirtschaftsbericht an! Dann zeigen, dass Sie in Wahrheit eine andere Gesellschaft sehen Sie, dass und Wolfgang Clement wollen. Wir wollen eine solidarische Leistungsgesell- dem Aufbau Ost die notwendige Aufmerksamkeit schen- schaft. Sie hingegen wollen eine kalte liberale Marktge- ken. Wir werden dafür sorgen, dass die Investitionen in sellschaft durchsetzen, die die Arbeitnehmer um ihren den neuen Ländern vorankommen. Wir werden auch da- Schutz bringt. Da werden wir Ihnen nicht folgen. Wir für sorgen, dass die Infrastruktur weiter ausgebaut wird. werden den Menschen erklären, dass die Gesellschaft, Herr Brüderle, es ist wirklich ungehörig, dem armen die Sie wollen, keine warme, sondern eine kalte Gesell- Stolpe die Maut-Probleme in die Schuhe zu schieben, schaft ist, die wir alle miteinander vermeiden müssen. wenn zwei Topunternehmen, die an Sie spenden, so (B) Die Tarifpartner haben bewiesen, dass sie Interessen grässlich versagt haben. (D) austarieren können, während Sie die Arbeitnehmerseite entwaffnen und zum Objekt des Handelns machen wol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len. Wir sind für gleiche Augenhöhe und für Koopera- DIE GRÜNEN) tion. Dabei wird es auch bleiben. Halten Sie sich bitte schön an Daimler-Chrysler und an Es wird noch schlimmer: Die CSU und Teile von die Telekom, statt hier einen Unschuldigen anzuklagen! CDU und FDP sind auf dem Programm von Professor Meine Damen und Herren, es ist unverkennbar: Am Sinn gelandet und wollen die Stundenlöhne in Deutsch- Anfang dieses Jahres zeigt die Stimmung nach oben. Sie land um 30 Prozent senken. Meine Damen und Herren, müssen den Keller und Ihre Tieflage verlassen. Bewegen wir haben mit den Hartz-Gesetzen dafür gesorgt, dass Sie sich mit nach oben! Dann wird auch dieses Land vo- auch die unteren Einkommensgruppen besetzt werden, rankommen. Wenn Sie nicht mitgehen, dann lassen wir indem eine Kombination von Staats- und Markteinkom- Sie halt im Sumpf zurück. men angeboten wird. Aber eine generelle Stunden- lohnsenkung um 30 Prozent, die Professor Sinn, Ihr Vielen Dank. Hauptratgeber und -einflüsterer fordert, kann nicht unser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ziel sein. DIE GRÜNEN) Wir stellen dagegen: Wir wollen Hochlohnland blei- ben. Wie der Betriebsratsvorsitzende von Porsche gesagt Präsident Wolfgang Thierse: hat: Es kann nicht sein, dass die Manager nach amerika- Ich erteile das Wort dem Thüringer Minister für Wirt- nischen Maßstäben und die Arbeitnehmer nach chinesi- schaft, Arbeit und Infrastruktur, Jürgen Reinholz. schen Maßstäben bezahlt werden. Das passt nicht zu- sammen. Deshalb kämpfen wir für eine solidarische (Beifall bei der CDU/CSU) Leistungsgesellschaft, die mit Augenmaß an die Pro- bleme herangeht. Jürgen Reinholz, Minister (Thüringen): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen DIE GRÜNEN) und Herren! Wer meint, dass mit dem vor Weihnachten letzten Jahres verabschiedeten Reformpaket das Erfor- Meine Damen und Herren, die Daten dieses Jahres derliche getan sei, der irrt. Schlimmer noch: Er wird den sind gut. Wenn Sie in Ihrer Regierungszeit die Preisstei- Erfordernissen, denen sich unser Land zu stellen hat, gerungsraten gehabt hätten, die wir vorlegen können, nicht gerecht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8023

Jürgen Reinholz, Minister (Thüringen) (A) (Klaus Brandner [SPD]: Wer hat denn das be- lung der ostdeutschen Wirtschaft“ spricht, halte ich das (C) hauptet? Das ist ja etwas ganz Neues, was Sie angesichts der rückläufigen Beschäftigungszahlen für uns jetzt erzählen wollen! Auf welchem Mond nicht besonders angemessen. Das spricht eher für fort- sind Sie denn?) schreitenden Realitätsverlust. Nach den nicht enden wollenden Diskussionen ist allen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- falls der Einstieg in die dringend notwendigen Struktur- neten der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Das reformen gelungen. Denn mit der Einigung im Vermitt- trifft doch gar nicht mehr zu! Das wissen Sie lungsausschuss war nur ein erster Schritt getan, nicht doch!) weniger, aber leider auch nicht mehr. Die politischen Schwerpunkte, die zur weiteren Un- Jetzt kommt es darauf an, den eingeschlagenen Re- terstützung des Aufbaus Ost gesetzt werden müssen, formweg konsequent weiterzugehen, nicht hektisch, sind uns allen klar. Wir müssen den Ausbau der Infra- aber ganz sicher schnell, konsequent, ohne Rücksicht auf struktur, insbesondere der Verkehrsverbindungen, mit diffuse Befindlichkeiten und Stimmungen und keines- hoher Intensität fortsetzen, gewerbliche Investitionen, falls mit der schon in der Vergangenheit gescheiterten vor allem in überregional ausgerichteten Unternehmen, Politik der ruhigen Hand. Gerade aus Sicht der neuen weiter wirksam fördern, in Bildung, Forschung und Länder ist es zwingend erforderlich, dass der Reform- Technologie investieren und die Wettbewerbsfähigkeit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen durch prozess fortgesetzt wird. passgenaue Förderangebote stärken. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Dabei geht es nicht darum, neue Wunderwaffen zu er- passt aber nicht, was Sie da jetzt sagen!) finden. Auch geht es nicht um die Frage, ob der Aufbau Nur wenn wir die Standortbedingungen in ganz Deutsch- Ost „Chefsache“ ist. Diese Verbalakrobatik allein hat bis land verbessern, werden wir im internationalen Wettbe- heute niemandem geholfen. Beim Aufbau Ost geht es werb bestehen können. um Wahrhaftigkeit, Vertrauensschutz und um Taten statt Worte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Klaus Brandner [SPD]: Blühende Meine Damen und Herren, jedermann muss klar sein: Landschaften!) Ohne einen erfolgreichen Aufbau Ost gibt es in unse- rem Land keinen Aufschwung. Daher halte ich Äußerun- Alle Räder, an denen wir drehen müssen, sind längst er- gen, nach denen die wesentliche Reformarbeit erst ein- funden. Die entsprechenden Themen stehen seit Jahr und mal getan sei, für äußerst fatal. Es ist doch offenkundig, Tag auf der Agenda. Hier geht es zum Beispiel um den dass bei der Umsetzung der grundlegenden Reformen, weiteren Ausbau der Infrastruktur. (B) (D) durch die sowohl die Rentenversicherung als auch die (Klaus Brandner [SPD]: Ja, mehr ABM!) Kranken- und Pflegeversicherung auf eine dauerhaft fi- nanzierbare Grundlage gestellt werden müssen, keine An der Realisierung der im Bundesverkehrswegeplan als Zeit zu verlieren ist. Das sind wir allein schon den Le- vordringlich eingestuften Vorhaben darf nicht herumge- bensperspektiven künftiger Generationen schuldig. Glei- deutelt und sie darf nicht immer wieder verschoben wer- ches gilt für die Neugestaltung der Einkommensbesteue- den. Das gilt insbesondere für die noch nicht abgeschlos- rung, die mehr Transparenz und eine Vereinfachung des senen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Steuerrechts mit sich bringen muss. (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist ja wohl ein Diese Themen müssen wir jetzt anpacken, wenn wir Witz!) in Deutschland aus eigener Kraft endlich wieder höhere Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass die Wachstumsraten und mehr Beschäftigung erreichen wol- Durchführung eines für die Anbindung des mitteldeut- len. Voraussetzung dafür ist, dass der wirtschaftliche schen Wirtschaftsraums so wichtigen Projekts wie der Aufholprozess in den neuen Ländern endlich wieder an ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig je nach Kas- Fahrt gewinnt. Nichts liegt mir ferner, als die Erfolge senlage mal zugesagt und mal zur Disposition gestellt beim wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder kleinzu- wird. reden. In der Tat sind die Fortschritte beim Ausbau der Infrastruktur nicht zu übersehen. Auch die Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im verarbeitenden Gewerbe bleibt erfreulich. Im vergan- Das muss unbedingt aufhören. Auch erinnere ich daran, genen Jahr ist die Bruttowertschöpfung dieses Wirt- dass das Baurecht auf wesentlichen Teilen der Strecke schaftszweiges in den ostdeutschen Flächenländern trotz im Jahr 2005 erlischt. Entscheidend ist auch, dass in den schlechter Konjunktur um real 5,7 Prozent gestiegen. In neuen Ländern eine schnelle Planung von Infrastruktur- Thüringen betrug der Zuwachs sogar 8 Prozent. vorhaben möglich bleibt. Ich appelliere deshalb an Sie, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und meine Damen und Herren, die vom Bundesrat im der FDP) Frühjahr vergangenen Jahres beschlossenen Gesetzes- initiativen zur Verlängerung des Verkehrswegeplanungs- Durch die dynamische Industrieentwicklung stehen beschleunigungsgesetzes und zur entsprechenden Ände- Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Länderver- rung des Bundesnaturschutzgesetzes als unumgänglich gleich auch beim Wachstum des Bruttoinlandsproduktes zu begreifen und endlich auch zu verabschieden. an der Spitze. Wenn aber die Bundesregierung im Jah- resbericht zum Stand der deutschen Einheit von einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – ich zitiere – „insgesamt zufrieden stellenden Entwick- neten der FDP) 8024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Jürgen Reinholz, Minister (Thüringen) (A) Wir brauchen auch Planungssicherheit für die Inves- ten sind interessiert daran, dass in der Wirtschaft wieder (C) toren. Ich begrüße es daher sehr, dass Bund und Länder mehr investiert wird. Deswegen haben sie einen ver- sich auf die Fortführung des wichtigen Instrumentes der nünftigen Tarifabschluss vereinbart. Investitionszulage verständigt haben. Auch das muss Herr Merz, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, sage schnell verbindlich werden, ehe die Unternehmen ihre ich an die Union gerichtet: Jetzt spätestens ist die Stunde Investitionen wieder abblasen oder gar auf die lange gekommen, in der Union und FDP aufhören müssen, zu Bank schieben. versuchen, den Standort Deutschland schlechtzureden, Wirklich katastrophal für die neuen Länder wäre aber, wie sie es in ihren Jammerarien der letzten Jahre getan wenn bei der Fortführung der EU-Strukturpolitik eine haben. Angesichts der positiven Stimmung derzeit haben europäische Relativitätstheorie zugrunde gelegt würde. Sie eine Verantwortung, aus der Sie nicht mehr heraus- Der wirtschaftliche Entwicklungsstand der neuen Länder kommen. ändert sich nun wirklich nicht in der Nacht zum 1. Mai. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie brauchen wirksame Fördermöglichkeiten auch für die Jahre nach 2006. Sie müssen Ziel-1-Gebiet bleiben. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich will Ihnen an verschiedenen Beispielen aufzeigen, was Sie mit Ihren Reden in Bezug auf das Investitions- Ebenso muss bei der Gestaltung der Rahmenbedin- geschehen anrichten. Was Sie, Herr Merz, zur Energie- gungen unverrückbares Ziel sein, die Wettbewerbsfähig- politik und insbesondere zu den Emissionszertifikaten keit der ostdeutschen Wirtschaft zu stärken und sie nicht gesagt haben, war nicht gerade von Sachkenntnis ge- durch falsche Weichenstellungen zu beeinträchtigen. trübt. Wir wollen, dass die Wirtschaft mit den Emis- Aktuell muss daher zum Beispiel bei der Novellierung sionszertifikaten ihrer Selbstverpflichtung nach dem des Erneuerbare-Energien-Gesetzes eine Lösung gefun- marktwirtschaftlich besten Weg nachkommt. Da gibt es den werden, bei der sich die entstehenden zusätzlichen ein Problem, das ich Ihnen einmal schildern will – Sie Kosten auf alle – ich betone: alle – Stromverbraucher können das heute auch im „Tagesspiegel“ nachlesen –: verteilen. Die Netznutzungsentgelte liegen in Ost- Die Wirtschaft hat von 2000 bis 2002 15 Millionen Ton- deutschland schon heute um bis zu 50 Prozent höher als nen CO2 zusätzlich emittiert, obwohl sie Selbstverpflich- im Bundesdurchschnitt. Wie soll eine weitere einseitige tung eingegangen ist, für den Zeitraum von 2000 bis Belastung der Strompreise in den neuen Bundesländern 2005 20 Millionen Tonnen weniger auszustoßen. Genau verkraftet werden? darin besteht das Problem: Das Geschrei, dass der BDI jetzt veranstaltet, kommt ausschließlich daher, dass die Bei den Grundlagen für den Handel mit Emissions- (B) Wirtschaft ihrer Selbstverpflichtung bisher nicht einmal (D) rechten müssen die in Ostdeutschland seit der Wieder- im Ansatz nachgekommen ist. Es ist aber doch legitim, vereinigung erreichten CO -Reduzierungen berück- 2 von demjenigen, der eine Selbstverpflichtung eingeht, zu sichtigt werden. Wir haben die Emissionen in den 90er- verlangen, dass diese auch erfüllt wird. Nicht mehr und Jahren bereits um 98 Prozent reduziert. Das kann doch nicht weniger tun wir. heute nicht Schnee von gestern sein! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Aufbau Ost bleibt eine Aufgabe, bei der alle staatlichen Ebenen an einem Strang ziehen müssen, vor Herr Merz, wir von den Grünen sind der Überzeu- allen Dingen in eine Richtung. Der gesamtstaatliche Re- gung, dass die Reformen der Agenda und somit die Mo- formprozess und der Aufbau Ost haben nämlich eines dernisierung Deutschlands weitergeführt werden müs- gemeinsam: Wir sind noch keineswegs am Ziel. Wir sen. Ein Revisionismus in Bezug auf die Agenda hat müssen den begonnenen Weg entschlossen fortsetzen keinen Sinn. Wir müssen Deutschland modernisieren. und dürfen weder aus Halbherzigkeit pausieren noch vor Für uns ist aber auch das Thema soziale Gerechtigkeit heiligen Kühen stehen bleiben oder plötzlich Angst vor elementarer Bestandteil bei der Modernisierung. Hier der eigenen Courage zeigen. gibt es deutliche Unterschiede zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Herzlichen Dank. Das Thema Praxisgebühr wäre heute nicht auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tisch, wenn Sie bereit gewesen wären – das richtet sich an die Adresse der Union –, mehr Wettbewerb im Ge- Präsident Wolfgang Thierse: sundheitswesen zuzulassen. Hier liegen die Effizienz- Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn von der Fraktion reserven. Dadurch, dass sie nicht genutzt werden, wer- Bündnis 90/Die Grünen das Wort. den die Kosten nach oben getrieben. Sie von der CDU/ CSU und von der FDP waren nicht zu mehr bereit, weil Sie die Lobbys des Gesundheitssystems vertreten. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Kollegen! Wenn man die Botschaft des heute Nacht sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich erzielten Tarifabschlusses im Südwesten richtig deutet, Merz [CDU/CSU]: Wer hat das denn erfun- dann heißt sie doch: Die Wirtschaft will, die Gewerk- den? Das ist ja irre! – Weitere Zurufe von der schaften wollen, alle am Wirtschaftsgeschehen Beteilig- CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8025

Fritz Kuhn (A) Wenn wir diese Aufgabe angegangen hätten, dann wäre seriös. Sie schüren Erwartungen, die Sie nicht erfüllen (C) die Praxisgebühr nicht notwendig gewesen. Deswegen können. Es geschieht Ihnen ganz recht, dass Sie in der sage ich: Bei der Modernisierung in Deutschland muss Union nun einen solchen Streit haben, weil Sie nicht auch das Themenfeld soziale Gerechtigkeit einbezogen richtig gerechnet haben. werden. Ich bin für Wettbewerb im Gesundheitssystem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und für eine Bürgerversicherung. sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Merkel, die von Ihnen vorgeschlagene Kopf- Frau Merkel, was ist eigentlich aus den Ankündigun- prämie, sei sie mehrwertsteuerfinanziert, wie Herr Merz gen in Ihrer Mutrede im Oktober des letzten Jahres ge- rät, sei sie kreditfinanziert, wie Sie raten, stellt keine so- worden? Das sollten Sie sich einmal fragen. Sie haben ziale Modernisierung dar, sondern sozialen Kahlschlag. damals heftig auf den Putz gehauen und wollten die Das Ergebnis wäre, dass die kleinen Leute auch noch große Reformerin und Modernisiererin in Deutschland den Sozialausgleich finanzieren sollen, den das komi- sein. Inzwischen zaudern und schweigen Sie, ducken sche Merz-Modell vorsieht. So haben wir nicht gewettet! sich, sehen weg und wollen verschieben. Sie sagen im- Das, was Sie machen, ist keine Modernisierung, sondern mer, die Regierung sei es gewesen. Nein, Sie sind unfä- eine Reise in die Vergangenheit! hig, ein Reformkonzept für dieses Land vorzulegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen begnügen Sie sich mit billiger Kritik an der sowie bei Abgeordneten der SPD) Regierung. Die Stimmung in diesem Hause macht aber deutlich, dass Sie damit nicht durchkommen werden. Da Sie die Stimmung bei den kleinen Leuten anfa- Wir werden die Wählerinnen und Wähler überzeugen, chen, möchte ich etwas dazu sagen. Was müssen sich die dass Sie nur Pseudoalternativen auf den Tisch legen und Menschen, die zusätzliche Belastungen zu tragen haben, damit nichts für die Wirtschaft und für die Bekämpfung zum Beispiel wenn sie zum Arzt gehen, nur denken, der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland wenn sie in den Medien Berichte über Vorgänge in der tun. Wirtschaft sehen! Es wird gezeigt, wie zum Beispiel ein Herr Ackermann und andere in einem Prozess trium- Ich danke Ihnen. phieren, obwohl sie mehr als Hundert Millionen Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leichtfertig dafür ausgegeben haben, dass Konzerne ka- und bei der SPD) puttgemacht werden, und nicht dafür, dass die Wirtschaft aufgebaut wird. Präsident Wolfgang Thierse: Wenn die Menschen mit ansehen müssen, wie zum Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Frak- (B) Beispiel Daimler-Chrysler und die Telekom bei Toll tion, das Wort. (D) Collect auf der ganzen Linie versagt haben, dann müs- sen sie sich wirklich komisch vorkommen. Auch darüber Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): muss im Deutschen Bundestag gesprochen werden. Herr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Verkehrsminister, ich sage Ihnen klipp und klar: Das An- Lieber Herr Kuhn, ich glaube, auch durch Schreien wer- gebot von Toll Collect, das jetzt auf dem Tisch liegt, den Ihre Worte in diesem Haus nicht wahr. halte ich persönlich für sittenwidrig. Es weist das Muster auf: Wir sind es nicht gewesen, die Risiken sollen poli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tisch abgesichert werden. Ich bin der Meinung, dass wir Der „Tagesspiegel“ hat vor einigen Tagen formuliert: schnell und konsequent aus diesem Vertrag heraus müs- Die ungefähr richtige Politik, handwerklich miserabel sen. Es liegt ein klares Versagen eines Teils der Wirt- gemacht und dazu noch schlecht erzählt. – Wenn ich ehr- schaft vor. Wir müssen Ross und Reiter nennen, wenn lich bin, muss ich sagen, dass ich das noch als eine nette etwas schief geht. Untertreibung empfinde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erzählen können Sie, Herr Minister, hier gut. Das wissen wir aufgrund vieler Erfahrungen. Wenn man sich An die CDU möchte ich klar appellieren: Herr Merz den Jahreswirtschaftsbericht des letzten Jahres und das, und Frau Merkel, ziehen Sie Ihre Mogelpackungen zu- was Sie in ihm alles haben verlauten lassen, ansieht rück, die Sie andauernd präsentieren. Herr Merz, Sie ha- – Wachstumsdynamik beschleunigen, Arbeitsmarkt- ben sich für Ihren Vorschlag einer Steuerreform feiern strukturen flexibler gestalten, soziale Sicherungssysteme lassen, bei deren Umsetzung 10 Milliarden Euro fehlen zukunftsfest machen, Konsolidierung der Haushalte vor- würden. Sie haben keinen vernünftigen Vorschlag unter- antreiben –, breitet, wie Sie diese Summe finanzieren wollen. Frau Merkel unterstützt das so genannte Kopfprämienmodell, (Ludwig Stiegler [SPD]: Alles geschehen!) bei dessen Umsetzung 20 Milliarden Euro fehlen wür- dann fragt man sich, was aus diesen ganzen Verspre- den. Ihnen fällt nichts besseres ein, als dies über Mehr- chungen geworden ist. wertsteuererhöhung und über Schulden zu finanzieren. Ihr Vorgehen kann man wie folgt vergleichen: Sie halten Was ist mit der Wachstumsdynamik? 2001 betrug den Leuten eine Wurst hin, müssen sie aber wieder zu- das Wirtschaftswachstum schwache 0,8 Prozent. Im rückziehen, weil Sie sie nicht bezahlen können. Dann Jahre 2002 waren es noch schwächere 0,2 Prozent. behaupten Sie aber, die Bundesregierung sei schuld, dass Rechnet man die statistischen Arbeitstageeffekte heraus, es keine Wurst gebe. Die Politik, die Sie machen, ist un- dann werden wir in diesem Jahr an der Null-Komma- 8026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dagmar Wöhrl (A) Grenze ankommen. Sie müssen auch sehen: Die ersten Wir alle wissen doch eines: Wir befinden uns in sehr (C) Wirtschaftsinstitute revidieren ihre Prognosen inzwi- schwierigen Wirtschaftszeiten. Deshalb brauchen wir ei- schen nach unten. nen starken Wirtschaftsminister, der sich gegen Bremser, Blockierer und Bedenkenträger durchsetzen kann. Nehmen wir den flexiblen Arbeitsmarkt: Es hat sich weder beim Betriebsverfassungsgesetz noch beim Tarif- (Beifall des Abg. Dr. Rainer Wend [SPD] – vertragsgesetz etwas getan. Gemäß der Statistik haben Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ wir immer noch 4,3 Millionen Arbeitslose. DIE GRÜNEN]: Haben wir doch! – Ludwig Stiegler [SPD]: Da müssen Sie einmal genau (Dirk Niebel [FDP]: 4,6! – Ludwig Stiegler [SPD]: hinschauen! Sie brauchen eine stärkere Brille!) 5 Millionen habt ihr vorausgesagt!) Wir brauchen einen Minister, der hier nicht nur unange- Wenn es Ihre Änderungen in der Statistik nicht gegeben nehme Wahrheiten sagt – das tun Sie ja –, sondern der hätte, dann sähen die Schreckensmeldungen bei weitem auch eine konsistente Politik gestaltet und den seine Par- noch schlimmer aus als jetzt. tei auch eine konsistente Politik gestalten lässt. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist doch glatt ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schwindelt! Das macht 0,1 Prozent aus!) Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall. Viel wichtiger ist, dass wir uns die Beschäftigtenzahl (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Bei „lässt“ anschauen. Diese weist eine sinkende Tendenz auf. Al- liegt der Hase im Pfeffer! – Ludwig Stiegler lein im letzten Jahr verringerte sich die Beschäftigten- [SPD]: Sie müssen bei der Wahrheit bleiben! zahl um 400 000. Auch laut Ihrem Jahreswirtschaftsbe- Sie haben einen Knick in der Optik und Wahr- richt wird sie in diesem Jahr noch niedriger ausfallen. nehmungsstörungen! – Fritz Kuhn [BÜND- Was haben Sie noch versprochen? Ich nenne die zu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Man sollte bei der kunftsfesten sozialen Sicherungssysteme. Was liegt Wahrheit bleiben!) vor? Da ist zunächst das Defizit in der Pflegeversiche- Deswegen ist der heute vorgelegte Jahreswirtschaftsbe- rung. Allein hier belief sich der Minusbetrag im letzten richt eine Farce. Er ist ein Ritual ohne jegliche Substanz. Jahr auf 700 Millionen Euro. Daneben gab es bei der Wir waren so froh, dass die Grundsatzabteilung endlich Rente kurzfristig Nullrunden und an die Bundesagentur wieder ins Wirtschaftsministerium zurückverlagert für Arbeit wurde ein Milliardenzuschuss geleistet, der wurde; Sie bestimmen die Wirtschaftspolitik aber nicht nicht eingeplant war. Im Gesundheitswesen sehen wir mehr. (B) ein Umsetzungschaos, und versprochene Beitragssen- (D) kungen werden nicht durchgeführt. Bei den Sozialkassen Das beste Beispiel für Ihr parteiinternes Scheitern ist gibt es ein einziges Desaster. die Ausbildungsplatzabgabe. Sie stehen für Freiwillig- keit; das wissen wir doch. Aber Sie können sich auch Herr Kuhn, ich komme zur Praxisgebühr. Sie schei- hier nicht durchsetzen. Die Realität in der Regierung nen bei der Regierungserklärung Ihres Kanzlers nicht sieht leider ganz anders aus. Dass Herr Müntefering als genau zugehört zu haben. Er hat in seiner Regierungser- Parteivorsitzender in spe quasi Ihr Vorgesetzter ist, muss klärung am 14. März 2003 als Erster von der Praxisge- Sie wirklich tief getroffen haben. Der Gesetzentwurf für bühr gesprochen. die Ausbildungsplatzabgabe kommt. Mit der Freiwillig- keit ist jetzt Schluss. Stattdessen kommt nun wieder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Staatszwang pur. Das einzig Positive daran ist, dass Sie derspruch bei der SPD und dem BÜND- auf dem Sonderparteitag damit Stimmung machen kön- NIS 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler nen. [SPD]: Und Sie von 10 Prozent Selbstbeteili- gung!) Es stellt sich die Frage: Welche ist denn in diesem Spiel Ihre Rolle, Herr Minister? Welchen Part spielen Dann sprechen Sie auch noch von Haushaltskonsoli- Sie hier überhaupt? Nehmen wir doch als Beispiel den dierung. Es ist eine Farce und Unverschämtheit, 90 Mil- Emissionshandel; er ist heute schon öfter angesprochen liarden Euro an neuen Schulden als Haushaltskonsolidie- worden. Dieses Gesetz hat immens weit reichende Fol- rung zu bezeichnen. Die Verletzung des Stabilitätspaktes gen für unsere Wirtschaft. Es ist bezeichnend, dass Ihnen ist bei Ihnen inzwischen doch zur Routine geworden. dieses Thema im Wirtschaftsausschuss bis jetzt kein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wort wert gewesen ist. Ich habe zu diesem wichtigen wirtschaftspolitischen Thema um eine Stellungnahme Herr Minister, Sie können mir wirklich glauben: Ob- gebeten: Die Auswirkungen des Emissionshandels auf wohl ich Oppositionspolitikerin bin, macht es mir keine die Wirtschaftspolitik. Freude, dies alles aufzuzählen. Wir auf der rechten Seite (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das hat doch Ihr Ob- des Hauses sind nämlich nicht nur Oppositionspolitiker, mann so entschieden, Frau Wöhrl!) sondern auch Bürger dieses Landes. Wir haben Kinder, Freunde und Bekannte, die ebenfalls von Ihrer Misswirt- – Lassen Sie mich ausreden, Herr Wend. – Die Stellung- schaft betroffen sind. Daher freut es mich wenig, dass nahme ist gekommen. Sie bestand aus einer mageren Sie von der aktuellen Entwicklung in Ihrer Partei weiter dreiviertel Seite. Auch hier, Herr Minister Clement, kön- geschwächt worden sind. nen Sie sich gegen Herrn Trittin nicht durchsetzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8027

Dagmar Wöhrl (A) Herr Trittin missbraucht den Emissionshandel, um ei- um 15 Prozent geschrumpft. Wir wissen, dass die ökono- (C) nen strukturpolitischen Steuermechanismus auf den Weg mische Katastrophe noch schlimmer gewesen wäre, zu bringen. wenn uns nicht die Exportwirtschaft davor bewahrt hätte. Unser Außenhandel zeigt uns, wie anfällig und (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ wie abhängig wir inzwischen von der Weltwirtschaft ge- DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Fritz Kuhn worden sind. Dies beweist, dass die Spaltung zwischen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen binnen- und außenwirtschaftlichen Kräften immer grö- bei der Wahrheit bleiben!) ßer wird. Das ist eine fatale Entwicklung unserer Wirt- Ihm ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer schaftspolitik. Unternehmen vollkommen egal. Er versucht, seine grüne Ideologiepolitik in die Industrie hineinzutragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das Thema Osterweiterung war Ihnen nur eine kurze Erwähnung wert. Wir wissen, dass sie nicht nur Auch hier, Herr Minister Clement, haben Sie die rote Risiken, sondern auch Chancen birgt. Wir versuchen, auf Karte bekommen. Daher dürfen Sie nicht auf das Spiel- diese Chancen immer wieder hinzuweisen. Aber es muss feld. vor allen Dingen auch den kleineren Firmen möglich Herr Kuhn, was Sie gerade im Zusammenhang mit sein, die Potenziale zu nutzen. Das heißt, sie müssen gut der Selbstverpflichtung der Wirtschaft gesagt haben, vorbereitet sein und faire Wettbewerbsbedingungen vor- muss Ihnen doch wehtun. Dabei hat man gemerkt, dass finden. Sie aber haben bei der GA-Förderung eine bei- Sie mit diesem Thema nicht vertraut sind. spiellose Salamitaktik an den Tag gelegt; einmal hin, einmal her. Man weiß überhaupt nicht mehr, wie es in (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE Ihrer Wirtschaftspolitik zukünftig mit der regionalen GRÜNEN) Förderpolitik bestellt sein wird. All das zeigt, dass es in Die Verpflichtung lautet, den Ausstoß der Emissionen diesem Zusammenhang an allen Ecken und Enden ha- bis 2012 um 21 Prozent zu senken. Bis heute hat es die pert. Wirtschaft aufgrund einer Selbstverpflichtung – ich sage Nehmen wir die Steuerbelastung. Ab Mai werden das noch einmal: Selbstverpflichtung – geschafft, den Länder der EU beitreten, deren Steuerlast bei weitem ge- Ausstoß der Emissionen um 19 Prozent zu senken. ringer ist als unsere: Litauen und Zypern 15 Prozent, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lettland 19 Prozent. Andere Länder planen Senkungen Das haben wir unseren Freunden im Osten zu der Steuerlast: Polen von 27 Prozent auf 19 Prozent, die (B) (D) verdanken!) Slowakei von 25 Prozent auf 19 Prozent, die Tschechi- sche Republik von 31 Prozent auf 24 Prozent ab dem Wir würden das Ziel im internationalen Vergleich auch Jahr 2006. ohne den Emissionshandel erreichen; da können Sie si- cher sein. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Dann kann man in Zypern ins Krankenhaus gehen!) Der Vorstandschef von Vattenfall hat zu Recht seine Sorge geäußert, dass durch die grün-rote Regulierungs- In diesem Hause muss man doch handeln. Man kann wut besonders in Ostdeutschland Tausende von Arbeits- sich doch nicht zurücklehnen und sagen: Jetzt warten wir plätzen in der Braunkohleindustrie vernichtet werden. erst einmal ab, was überhaupt auf uns zukommt. Das ist nicht Aufbau Ost; was hier betrieben wird, ist Im abgelaufenen Jahr sind die Gewinne der deutschen vielmehr Abbau Ost. Gesellschaften mit 40 Prozent belastet worden. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. der zweithöchste Wert. Nur marginal höher ist die Belas- Rainer Brüderle [FDP]) tung in Japan mit 40,9 Prozent. Kein Land in Europa greift stärker auf die Unternehmensgewinne zu als Wie wollen Sie denn diese wichtigen und notwendi- Deutschland. gen Reformen in Gang bringen, wenn Ihr zukünftiger Parteichef erklärt: „Mehr für den Staat, weniger für den Schauen Sie sich die zukünftigen Weichenstellungen Konsum“? Ein anderes Beispiel: Der Bürger soll dem an. Müntefering will mehr für den Staat. Wir wollen Staat das geben, was der Staat braucht. – So kann man mehr Freiheit. Müntefering sagt: Bloß keine Hektik bei ein Land nicht nach vorne bringen. Sie wissen genau, den Reformen. Wir sagen: 2004 darf kein verlorenes dass in der Wirtschaft gilt: Stillstand bedeutet Rück- Jahr für Deutschland werden. Da zeigt sich, wo wir in schritt. Bei Ihnen jedoch heißt es momentan: „Vorwärts, Zukunft ansetzen müssen. Genossen, es geht wieder zurück“ – nichts anderes. Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, muss zukünf- Wir müssen die Wachstumskräfte stärken; das wis- tig eine Schlüsselrolle zukommen. Wer soll denn Ihre sen auch Sie. Der Mittelstand ist für die Wirtschaftspoli- Fraktion überhaupt auf notwendige Änderungen einstel- tik wichtig; auch das wissen Sie. Sie kennen auch die len, wenn nicht Sie? Schröder kann es nicht. Herr Analyse der Bundesbank vom letzten Oktober. Darin Müntefering will es nicht. Wir sehen genau, dass er eine wird festgestellt, dass sich der gesamte Mittelstand in Vorliebe für Zwangsabgaben hat. Tarifverträge sind für Deutschland in einer Abwärtsbewegung befindet. Allein ihn sakrosankt. So können wir erahnen, wo es in den die Bruttojahresergebnisse sind in den letzten drei Jahren nächsten Jahren unter Ihrer Regierung langgehen wird. 8028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dagmar Wöhrl (A) Wir brauchen mehr private Initiative. Wir müssen den muss. Wir kennen Ihre Forderungen nicht. Fordern (C) den Menschen mehr zutrauen, anstatt mehr staatlichen Sie mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung der ein- Dirigismus zu entwickeln. Public-Private-Partnership zelnen Hochschulen? Auch in dieser Frage herrscht wie- wird ein ganz wichtiges Thema in der Zukunft werden. der das berühmte Schweigen im Walde. Wir brauchen endlich gesunde Staatsfinanzen. Darum (Ludwig Stiegler [SPD]: Wo bleibt der müssen wir uns bemühen und wir dürfen nicht immer Beifall?) wieder in neue Schulden flüchten. Wir müssen endlich für neue Arbeitsplätze sorgen, anstatt die Erwerbslosen Ich möchte Sie zum Schluss noch auf zwei Schlag- aus der Statistik zu streichen. worte hinweisen, Herr Clement. Sie haben den Jahres- wirtschaftsbericht 2003 unter das Motto „Allianz der Er- Was passiert jetzt? Die Neiddiskussion ist neu aufge- neuerung“ gestellt. In diesem Jahr heißt die Devise blüht. Sie ist aberwitzig. Der linke Flügel der SPD freut „Partner für Innovation“. sich jetzt schon auf die Erbschaftsteuererhöhung, die eingebracht werden soll, obwohl jeder Ökonom sagt, (Ludwig Stiegler [SPD]: Warum seid ihr so dass allein ein Drittel der Erbschaftsteuer für Verwal- still? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Hat sie irgend- tungsausgaben verwendet werden muss. Sie wissen ge- etwas Schlimmes gemacht? Das macht mich nau, dass durch eine Erbschaftsteuererhöhung Kapital neugierig! Was hat sie getan?) aus dem Land getrieben wird. Ich frage mich schon: Ist Wenn Sie es auch zukünftig nicht schaffen, sich es in der momentanen Situation sinnvoll, Betriebsüber- durchzusetzen, und von Ihrem Parteichef ausgebremst gaben durch höhere Erbschaftsteuern noch mehr zu er- werden, kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Seien Sie schweren? Viel wichtiger wäre es, die Erben, die sich be- ein Partner für Innovation, wie Sie es im Jahreswirt- reit erklären, unternehmerisch tätig zu sein, zu entlasten, schaftsbericht formuliert haben! Räumen Sie gemeinsam ihnen die Erbschaftsteuer zu stunden und nach zehn Jah- mit dem Kanzler Ihren Platz und machen Sie damit Platz ren zu erlassen. Dann haben sie viel mehr für die Volks- für eine Allianz der Erneuerung. wirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze getan, als wenn sie einmalig Erbschaftsteuer zahlen, die vom auf- Vielen Dank. geblähten Staat wahrscheinlich nur verfrühstückt wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Präsident Wolfgang Thierse: Lieber Herr Clement, ich weiß, dass Sie uns auch in Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen dieser Sache zustimmen. Aber Sie werden sich auch hier Kauder das Wort. bei Ihren eigenen Leuten nicht durchsetzen können. (B) (D) Ich habe sehr bedauert, dass außer dem Schlagwort Volker Kauder (CDU/CSU): „Innovation“, das in Ihrem Bericht vorkommt, keine Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen konkreten Aussagen zu Bildung gekommen sind. Genau und Kollegen! Herr Kollege Kuhn hat in seiner Rede darin liegen doch die Grundlagen für die Aufwärtsent- versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Praxisge- wicklung unseres Staates. Die „“ hat bühr eine Erfindung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion diese Woche getitelt: „Das Land der Dichter, Denker und gewesen sei. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Erfinder hat abgewirtschaftet. Weil unser Bildungssys- Präsidenten aus der Rede des Bundeskanzlers vom tem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Res- 14. März 2003: source: die Klugheit unserer Kinder.“ Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden (Wolfgang Clement, Bundesminister: Das muss, sollten wir – ich komme jetzt zu den Instru- müssen Sie in Bayern vortragen, gnädige menten – Instrumente wie differenzierte Praxisge- Frau!) bühren und Selbstbehalte nutzen. Recht hat sie. 10 Prozent eines Jahrgangs verlassen in- Der Begriff „Praxisgebühr“ stammt also von Herrn zwischen die Schulen ohne jeglichen Abschluss. Inzwi- Bundeskanzler. Davon sollten Sie nicht ablenken, Herr schen haben wir 4 Millionen Mitbürger, die nicht lesen Kuhn, wenn wir fair miteinander umgehen wollen. und nicht schreiben können. Das kann man sich über- (Beifall bei der CDU/CSU) haupt nicht vorstellen.

(Dr. Rainer Wend [SPD]: 200 davon sitzen im Präsident Wolfgang Thierse: Parlament, hat man den Eindruck!) Kollege Kuhn, wollen Sie darauf reagieren? Es gibt viele Kindergärten, in denen 90 Prozent der Kin- der kein Wort Deutsch sprechen. Wie soll denn da die In- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tegration stattfinden? Es ist zu wenig, nur das Jahr der Vielen Dank, dass Sie kurz auf das Thema eingegan- Innovation auszurufen, wenn unsere Schüler nur Platz gen sind, Herr Kauder. Aus dem in dem Zitat erwähnten 21 von 32 Plätzen im internationalen Bildungsranking Begriff „differenzierte Praxisgebühr“ ergibt sich un- belegen. schwer, dass es in diesem Zusammenhang um ein diffe- renziertes Modell, aber keineswegs um eine Praxisge- Ich habe bei Ihnen auch jeglichen konstruktiven Bei- bühr beim Hausarzt ging. trag zum Thema Eliteuniversitäten vermisst. Das ist ein sehr wichtiges Wirtschaftsthema, das angegangen wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8029

Fritz Kuhn (A) Ich wollte Sie aber – das war der Sinn meiner Äuße- erstellt werden. Danach gab es damals in wesentlichen (C) rungen – an etwas anderes erinnern. In den konkreten politischen Bereichen „einen positiven Trend. Die Gesprächen, als die Gesundheitsreform in vielen Näch- Gemeinden verzeichneten hohe Überschüsse. Die Ar- ten diskutiert und vereinbart wurde, war durchaus klar, beitslosigkeit ging drastisch zurück. Die Energiepreise dass entsprechende Maßnahmen zugunsten eines stärke- entwickelten sich positiv. Die gesamtstaatliche Verschul- ren Wettbewerbs im Gesundheitssystem zu einer Kos- dung lag bei etwa einem Drittel.“ Der CDU-Kollege, der tensenkung führen würden, sodass eine Praxisgebühr diese Analyse erstellt hat, hat sich anschließend gewun- nicht notwendig wäre. dert, warum er kein zukunftsfähiges Modell zustande ge- Für die Zukunft ist völlig klar, Herr Kauder: Bei der bracht hat. nächsten Reform im Gesundheitswesen – ob Kopfprä- Jetzt, einige Jahre später, gibt es zwei ernst zu neh- mie oder Bürgerversicherung – kommen wir um einen mende Alternativen. Der erste Ansatz zur Lösung unse- effektiven Wettbewerb in unserem Gesundheitswesen rer Probleme stammt von der Bierdeckelfraktion. Natür- nicht herum. Ich verstehe nicht, dass diejenigen, die sich lich kann man sich vorstellen, dass man zukünftig seine immer wieder für einen liberalen Wettbewerb ausspre- Steuererklärung auf einem Blatt Papier abgibt, das so chen, die Hauptblockierer sind, wenn es um den echten viel Platz bietet wie ein Bierdeckel. Aber das ist nur Wettbewerb verschiedener Leistungsanbieter geht. möglich, wenn man entsprechend viele Bierdeckel Das ist der Sinn meiner Ausführungen. Ich finde es nimmt. Wer dieser Fraktion angehört, wird niemals eine großartig, wie die FDP und die Union in diesem Hause seriöse Steuerpolitik machen können. Jeder, der sich das immer wieder die Lobbys des alten Gesundheitssystems Merz-Modell genauer anschaut, wird sofort feststellen, verteidigen, gerade so, als seien sie von ihnen abhängig dass das in volkswirtschaftlicher Hinsicht zu kurz ge- und hätten den Kopf nicht frei für einen echten Wettbe- sprungen ist; denn dieses Modell ist erstens mit Belas- werb. tungen – je nachdem, wie man rechnet – in Höhe von 30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro verbunden, die ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schickterweise über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und bei der SPD) finanziert werden sollen. Zweitens werden die Auswir- kungen auf den Wirtschaftskreislauf nicht zu Ende ge- Präsident Wolfgang Thierse: dacht. Wie kann man gleichzeitig die Mehrwertsteuer Ich erteile dem Kollegen Lothar Binding, SPD-Frak- erhöhen und davon sprechen, dass man die Binnennach- tion, das Wort. frage ankurbeln wolle? Dieser Widerspruch wird von (Dieter Grasedieck [SPD]: Lothar, erkläre das Merz nicht aufgelöst, ganz abgesehen davon, dass in sei- nem Modell die Integration der Unternehmensteuern (B) dem Brüderle nachher privat!) (D) völlig ungeklärt bleibt. Das birgt natürlich große Gefah- ren. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Das kann ich ja nachher einmal probieren. – Sehr ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Clement hat vorhin festgestellt, dass das Um dies sozialpolitisch zu bewerten, sollte man sich vor uns liegende Jahr besser werde als das vergangene vorstellen – hier möchte ich auf das eingehen, was mein Jahr. Ich glaube, wo der Minister Recht hat, hat er Recht. Kollege Bernd Scheelen gesagt hat –, was es bedeutet, wenn eine Krankenschwester die Steuern des Chefarztes (Beifall bei der SPD) zu zahlen hat. Es ist klar, dass dies kein Modell für die Dieser Satz gilt meines Erachtens in einem viel tiefe- Zukunft ist. Alle Fachleute haben sich an den Kopf ge- ren Sinne, als er sich durch ein Jahresgutachten ergeben fasst, als sie dieses Modell näher untersucht haben. kann. Denn er beruht auf Strukturkomponenten, die bei nur kurzfristiger Betrachtung einzelner Parameter nicht Vorhin wurde im Zusammenhang mit Steuern auch erkennbar sind. von Insolvenzen gesprochen. Vielleicht sollte man hier ebenfalls in die Geschichte zurückgehen. Ein Betrieb, Die Lasten für die Zukunft bestimmen sich aus der 1995 beispielsweise von einem Dachdeckermeister verschiedenen Parametern, zum Beispiel aus den Staats- gegründet wurde mit der Aussicht, dass die Entwicklung schulden, aber auch aus den künftigen Leistungsansprü- des Baugewerbes sehr positiv verlaufen wird, zählte da- chen. Daraus ergibt sich sozusagen eine Tragfähigkeits- mals als Betriebsgründung. Jetzt hat aber jeder gemerkt, lücke, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. Man dass in den 90er-Jahren die Mittel, die nach den Förder- muss sich den historischen Verlauf genauer anschauen, gebietsgesetzen gewährt wurden, und die Subventionen um zu erkennen, wo wir heute stehen. im Baugewerbe zum Fenster hinausgeworfen wurden Wir alle wissen, dass das durchschnittliche Wachs- und dass das Baugewerbe seit 1995 im Niedergang be- tum in den 70er-Jahren bei 2,8 Prozent, in den 80er-Jah- griffen ist. Was macht nun dieser Handwerker, der sich ren bei 2,3 Prozent und in den 90er-Jahren bei 1,6 Pro- über viele Jahre von Kleinauftrag zu Kleinauftrag geret- zent lag. Vor dem Hintergrund des Niedergangs der tet hat? Er geht jetzt natürlich in Konkurs. Wer hat Wachstumsraten möchte ich die Analyse eines CDU- Schuld daran? Angeblich nicht die langfristig fehl ange- Kollegen, die die Situation von 1998 beschreibt, als Bei- legte Politik der 90er-Jahre, sondern die aktuelle Steuer- spiel nehmen – ich möchte die Vergangenheit nicht allzu politik der jetzigen Bundesregierung, die die Steuern zu- lange bemühen –, um deutlich zu machen, wie Analysen gunsten des Handwerks gesenkt hat. 8030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Wir werden den Referenzwert des EU-Stabilitäts- und Steuermodelle, die jetzt vorgetragen werden, wirken, (C) Wachstumspaktes sicherlich noch einmal überschreiten. wird sehr wohl erkennen, dass wir dafür eintreten, dass Das ist nur eine kurzfristige Entwicklung. Aber es gibt die breiten Schultern mehr tragen müssen als die schwa- zwei historisch bedeutsame, von Eichel, Clement und chen. Schröder angelegte Strukturveränderungen, die langfris- (Beifall bei der SPD) tig zu einem Umbau unserer Volkswirtschaft führen wer- den, nämlich zu einem Übergang von einer reinen ange- Jeder wird auch merken, dass das Modell von Herrn bots- oder nachfrageorientierten Politik zu einem Brüderle „Zurück ins Private“ nicht funktioniert. Ich Kombimodell einer gesamtwirtschaftlich orientierten will an einem Beispiel deutlich machen, was ich damit Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist eine Integra- meine. Wenn sich der Staat zurückzieht und etwas den tion des SPD- und des CDU/CSU-Modells. Darüber hi- Privaten überlässt, dann könnte es wie folgt aussehen: naus gibt es eine sehr viel weiter gehende Überwindung Man gibt Toll Collect einen Auftrag. Die Firma ver- von zwei Grundmodellen, die uns in der Vergangenheit spricht eine Technologie, kann sie aber nicht liefern. Sie große Probleme bereitet haben, nämlich des Keynesia- vereinbart Zeitpläne, kann sie aber nicht einhalten. Die nismus und des Monetarismus. Ich glaube, dass wir Projektplanung ist absolut dilettantisch. – So gut hätte – möglicherweise nicht in ein, zwei Jahren, wohl aber in das auch der Staat gekonnt. größeren Zeiträumen – erkennen werden, welche tief lie- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne gende Erkenntnis wir der aktuellen Politik zu verdanken Kastner) haben, die Hans Eichel mit dem Einsatz der automati- schen Stabilisatoren beschreibt. Das stellt unsere Sozial- Von daher ist Ihre Lösung keine Lösung. Das wäre systeme, unser Wirtschaftssystem und unsere Steuerpoli- eine Fehlentwicklung hin ins Private und hin zum Egois- tik für die Zukunft auf eine gute Basis, sodass wir mus des Einzelnen, den wir hinlänglich kennen. Deshalb einzelnen Fehlentwicklungen in der weltweiten Finanz- braucht eine vernünftige Sozialpolitik andere Parameter und Wirtschaftspolitik sehr gut die Stirn bieten können. als die, die Sie vorgeschlagen haben. Dennoch wagt Herr Merz zu fragen: Wo ist eigentlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein Modell? Ich erkenne in diesem Bericht überhaupt DIE GRÜNEN) kein Modell für die Zukunft. – Ich kann das kurz zu- sammenfassen: Herr Merz, lesen Sie nur einmal die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Seite 10 des Jahreswirtschaftsberichts 2004! Dort steht Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau. eine ganze Liste konkreter Maßnahmen. (Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) Petra Pau (fraktionslos): (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Ja, Lesen ist nicht jedermanns Stärke, insbesondere wenn es gilt, mehr zu lesen, als auf einen Bierdeckel Der Jahreswirtschaftsbericht … unterstreicht, dass passt. die bisher umgesetzten Reformmaßnahmen der Agenda 2010 … gute Grundlage und Triebfeder für Inhalte des Reformprozesses der Agenda 2010 sind den nachhaltigen Aufschwung sind. unter anderem die Senkung von Steuern und die Siche- rung der Sozialsysteme. Das ist ein Weg, den wir schwe- So weit das Selbstlob, das die SPD-Fraktion auf ihre ren Herzens gehen. Ihre Bedeutung, auch für die Leute, Website gesetzt hat. die wenig Einkommen haben, wird mit Sicherheit noch Ein Blick ins Leben zeigt allerdings etwas ganz ande- erkannt werden. Man wird erkennen, dass sie ein System res, allemal aus Sicht der inzwischen vielen Agenda- der sozialen Sicherung, angelegt auf Jahrzehnte, be- Geschädigten im Land. schreibt. Es geht um den Umbau der Arbeitsverwaltung und die Sanierung der Altersvorsorge – hier fließen Er- Ich war in den letzten Tagen im Saarland und in kenntnisse ein, die man durchaus auch schon vor 20 Jah- Rheinland-Pfalz unterwegs. Dort wurde ich immer wie- ren hätte gewinnen können –: Die Riester-Rente ist der der aufgefordert: Sagen Sie im Bundestag, was wir von Schritt 1; die nachgelagerte Besteuerung ist der Schritt 2 den so genannten Reformen halten, nämlich nichts! – Ich und die noch zu planende Reform bei der Pflege ist der wurde von Arbeitslosen, von Jungen, von Alten und von Schritt 3. Bürgermeistern darum gebeten; die Leute wissen, wovon sie sprechen, und haben für die Personalwechsel im Hieran kann man, denke ich, erkennen, wie zukunfts- SPD-Vorstand nur ein müdes Lächeln übrig. fähig das Modell der jetzigen Regierung eigentlich ist. Da braucht man noch nicht einmal etwas schönzureden. Deshalb wiederhole ich: Solange Rot-Grün den Kurs Jeder erkennt, dass dies keine Politik ist, die auf einen nicht ändert, so lange bleibt Ihre Agenda 2010 ein La- Wahltag bezogen ist. Wir muten den Leuten ja nicht denhüter. ohne Grund schweren Herzens etwas zu, was wir ihnen (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- eigentlich gar nicht zumuten wollen, aber die Spätfolgen tionslos]) einer Politik, die 20 Jahre versäumt hat, bestimmte Strukturen anzugreifen, müssen wir heute angehen. Das Hauptproblem, auch für die Sozialsysteme, ist Langfristig wird auch der so genannte kleine Mann er- die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie hat in- kennen, dass wir das zu seinem Schutz machen. Wer ein- zwischen fast das Endzeitniveau der CDU/CSU-Ära mal genauer darauf schaut, wie die konkurrierenden 1997/1998 erreicht. Ich betone das, damit die Opposition Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8031

Petra Pau (A) zur Rechten heute Vormittag nicht allzu vergesslich da- Bundestag fordert seit langem eine bessere Finanzaus- (C) herredet. stattung der Kommunen, gerade zur Schaffung von Ar- beitsplätzen, Investitions- und Förderprogramme für (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- kleine und mittlere Unternehmen und ein öffentliches In- tionslos]) vestitionsprogramm speziell für die neuen Länder. Das Der Kardinalfehler von Rot-Grün ist aber: Sie wieder- wollen Sie nicht und das können Sie umso weniger um- holen die Fehler von CDU/CSU und FDP auf höherer setzen, wenn Sie sich mit der CDU/CSU einen fatalen Stufe; Sie entlasten die Vermögenden weiter und belas- Wettlauf um noch niedrigere Steuern liefern. ten die Schwachen. Dann behaupten Sie noch, das sei al- Zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich habe in den les gerecht und alternativlos. Genau das ist es aber nicht. letzten Tagen viel Post bekommen; oftmals beschweren Deshalb hat die PDS Ihrer Agenda 2010 eine „Agenda sich Bürger aus den alten Bundesländern, dass die „PDS sozial“ entgegengesetzt. im Bundestag“ so viel über die neuen Bundesländer re- Der Minister hat heute für 2004 ein Wirtschafts- det. Ihnen stehe in den alten Ländern schließlich auch wachstum von bis zu 2 Prozent prophezeit. Sie hoffen das Wasser bis zum Halse. – Das wissen wir wohl. Aller- auf die Weltkonjunktur und darauf, dass Ihre Steuer- dings muss es wenigstens noch eine Partei geben, die reform Impulse setzt. All das wird aber an der Arbeits- sich besonders der Belange des Ostens annimmt, insbe- losigkeit und an der Finanzschwäche der Städte und sondere nachdem ich im Jahreswirtschaftsbericht 2004 Kommunen nichts ändern. Selbst der neue Chef der diesbezüglich fast keine Lösungen gefunden habe und Bundesagentur für Arbeit musste in diesen Tagen einge- auch die Stimmen der Kolleginnen und Kollegen aus stehen, dass der Umbau der Agentur an der Arbeitslosig- dem Osten hier heute vermissen musste. Leider hat auch keit ganz wenig ändern wird. Ich meine, zumindest das Werner Schulz nur die Agenda 2010 schöngeredet, an- spricht für Herrn Weise; denn auch aus diesem Hause statt sich zum Beispiel der besonderen Belange der ost- hörten wir schon Wundertöne über den angeblichen deutschen Länder anzunehmen. Segen der Agenda 2010. Für die Bundesagentur nach Danke schön. Gerster gilt aber dasselbe wie für die SPD nach Schröder: Ein neuer Chef kann ganz schnell alt ausse- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- hen, wenn er am falschen Konzept festhält. tionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus (B) Ich habe in der vergangenen Woche unter anderem Brandner, SPD-Fraktion. (D) die Jobbörse in Pirmasens besucht. Nach allem, was mir berichtet wurde, arbeitet sie mit Erfolg. Es gibt eine gute Vermittlungsquote, es gibt gute Kontakte zur ein- Klaus Brandner (SPD): heimischen Wirtschaft und vor allem gibt es gute Mit- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- arbeiter sowohl im Sozialamt als auch in der Bundes- ginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zum Jahres- agentur und in der Jobbörse selbst. Zwei Tage später lese wirtschaftsbericht 2004 zeigt, unter welch starkem Rea- ich, die Jobbörse sei in Gefahr, weil die Bundesagentur litätsverlust die Opposition leidet. für Arbeit sie nicht mehr wie bisher unterstütze, nicht mehr unterstützen dürfe. Das sind nämlich die Auswir- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und kungen Ihrer Reformen. der FDP) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Im letzten Jahr hat sie eine Schlusslichtdebatte geführt. tionslos]) Herr Hinsken hatte seinen Auftritt mit der schönen La- terne. Heute geht es um die zusätzlichen Arbeitstage. Im Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern Sie Kern geht es darum, dass Sie die Vertrauenskrise auf- bekämpfen die Arbeitslosen. Das können Sie gegenüber rechterhalten, immer nur herumnörgeln, mäkeln und al- keinem, der von der Agenda betroffen ist, schönreden. les kleinreden wollen. Das ist Wirklichkeitsverweige- rung. Das schadet unserem Land. Die Bundesrepublik hat auch 2003 einen erheblichen Exportüberschuss erwirtschaftet. Das Hauptdilemma (Beifall bei der SPD) – das wissen Sie alle – besteht auf dem Binnenmarkt. Das bestätigt übrigens auch das DIW in seinem aktuellen Unsere liebe Kollegin Wöhrl hat dazu eben einen Gutachten. Gerade auf dem Binnenmarkt wirkt aber Ihre deutlichen Beitrag geleistet. Sie sagte, es mache ihr Agenda 2010 negativ. Das zusätzliche Geld, das Sie mit keine Freude, immer herumnörgeln zu müssen. Ganz der Steuerreform versprachen, ziehen Sie den Menschen glaubwürdig war das nicht. Sie könnten sich diese durch höhere Gebühren aus der Tasche, und zwar viel Freude ganz schnell verschaffen, wenn Sie einfach zur schneller als es hineinkommt. Kenntnis nehmen würden, welche Verbesserungen es in diesem Land gegeben hat und weiterhin geben wird. Die Kommunen, die investieren sollten, können es Vielleicht würde es dazu beitragen, dass Sie freudiger in nicht, weil sie pleite sind. Ganze Regionen werden ein- die Zukunft schauen, wenn Sie Ihre Haltung, die Wirk- fach ihrem Schicksal überlassen, als wären sie für Rot- lichkeit nicht wahrzunehmen, aufgeben und nüchtern an- Grün weiße Flecken auf der Landkarte. Die PDS im erkennen, was sich durch den Reformprozess getan hat. 8032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Klaus Brandner (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des werden kann. Insofern ist er ein gutes Signal für unser (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Land. Wöhrl [CDU/CSU]: Das wird ganz spannend!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun möchte ich ein Stichwort aufgreifen, das Herr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kauder hier noch einmal angesprochen hat, nämlich die Praxisgebühr. Er hat völlig richtig aus der Rede des Gut ist auch, dass durch eine Laufzeit von 26 Mona- Kanzlers vom 14. März zitiert, in der der Kanzler von ei- ten Planungssicherheit erreicht worden ist. Insgesamt ner differenzierten Praxisgebühr gesprochen hat. gesehen wird auch dieses Tarifergebnis, das in freien Verhandlungen erzielt worden ist, mit dazu beitragen, (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) dass es in Deutschland aufwärts geht und der Wachs- tumskurs gestärkt wird. Somit ist es nicht richtig, diesen Das Modell der Sozialdemokraten und der Grünen sah Abschluss nur als einen kleinen Schritt darzustellen, wie vor, dem Hausarzt eine Lotsenfunktion zukommen zu es Herr Merz getan hat, und den einzigen Erfolg darin zu lassen und für Besuche bei ihm keine Praxisgebühr zu sehen, dass dauerhaft Arbeit ohne Bezahlung möglich erheben. wird. Alles, was in diese Richtung geht, halten wir für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen Irrweg; den werden wir Sozialdemokraten nicht DIE GRÜNEN) unterstützen. Sie aber haben im Gesetzgebungsverfahren dafür ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sorgt, dass auch dort die Praxisgebühr gezahlt werden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) muss. Machen Sie sich jetzt keinen schlanken Fuß. Ste- hen Sie zu Ihrer Verantwortung. Der Tarifabschluss ist ein Beispiel dafür, dass die Konjunkturaussichten besser werden. Die Wachstums- (Ludwig Stiegler [SPD]: Feigling!) aussichten für dieses Jahr sind schon positiv: laut Jah- reswirtschaftsbericht 1,5 bis 2 Prozent Wachstum. Ich Alles andere trägt dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit denke, dies ist realistisch, da man sich mit dieser Grö- der Politik in unserer Gesellschaft leidet. ßenordnung eher am unteren Ende bewegen dürfte. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben wir alle ja auch heute wieder erfahren; denn das DIE GRÜNEN) wachsende Vertrauen seitens der Wirtschaft schlägt sich in Umfragen und Erhebungen nieder. So ist der Ifo-Ge- Zur Erfolgsstory dieses Landes hat auch die funktio- schäftsklimaindex neunmal hintereinander gestiegen. nierende Tarifautonomie beigetragen, die die Opposi- Aber auch die harten Indikatoren wie die Auftragsein- (B) tion geschlossen zerstören will. Eine eindeutige Bestäti- gänge und die Industrieproduktion, die für uns wichtig (D) gung dafür, dass die Tarifautonomie funktioniert, ist der sind, zeigen nach oben; so sind die Ausrüstungsinvesti- jetzt gerade in Baden-Württemberg zustande gekom- tionen in den letzten Monaten um mehr als 4 Prozent ge- mene Tarifabschluss. Indirekt wird damit auch die Posi- stiegen. Zudem konnte zum Ende des Jahres ein Rekord- tion, die wir im Vermittlungsausschuss eingenommen wert beim Export in die Euro-Länder erzielt werden, haben, unterstützt. Ich finde, es ist wichtig, dass wir hier obwohl aufgrund des Wechselkursverhältnisses ein klarstellen: Die Tarifvertragsparteien selbst lösen die Rückgang des Exports in die USA zu verzeichnen ist. Probleme und stellen sich selbst den Fragen und Heraus- Das zeigt, dass die deutsche Exportwirtschaft, die ein forderungen. Der erreichte Abschluss ist wirtschaftspoli- starkes Standbein unserer Konjunktur darstellt, absolut tisch vernünftig. Er verbindet Flexibilität und Sicherheit: wettbewerbsfähig ist. Flexibilität für die Unternehmen, indem sie die Arbeits- zeit in größerem Umfang flexibler bestimmen können, (Beifall bei der SPD) und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer in diesem Lande, da sie sich auf die Tarifver- Der Arbeitsmarkt, meine sehr verehrten Damen und träge verlassen können. Das ist eine wichtige Botschaft, Herren, ist schon früher in Bewegung geraten. Wir alle meine sehr verehrten Damen und Herren. wissen, dass es im letzten Jahr kein Wachstum gab. Trotzdem werden im Jahresdurchschnitt 100 000 Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beitslose weniger zu verzeichnen sein. Die Jugend- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) arbeitslosigkeit liegt sogar um 7 Prozent unter dem Vor- jahreswert. In den neuen Ländern ist der Vorjahresstand Verunsicherung schafft kein Vertrauen, drückt die sogar insgesamt unterschritten worden. Das hätte der Stimmung und sorgt damit dafür, dass kein konjunktur- sehr geehrte Herr Minister aus Thüringen wissen müs- politisches Aufbruchssignal entsteht. Mit dem Tarif- sen. vertrag wird die Binnennachfrage gestärkt werden. Ge- nau solch ein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal Daran zeigt sich, dass auch mit harten Fakten belegt brauchen wir. Das unterstützt unseren Wachstums- und werden kann, dass wir durch unsere Politik nach vorne Konsolidierungsprozess. Insofern sind wir froh, dass im kommen. Kohl hatte den neuen Ländern blühende Land- Zuge dieses Tarifvertrages auf der einen Seite der private schaften versprochen. Er hat sie getäuscht, wie wir heute Verbrauch wieder zunehmen wird, auf der anderen Seite wissen. Er hat die Menschen mit ABM getäuscht und er die Unternehmen aber nicht überfordert werden. In der hat die Sozialkassen geplündert. Damit hat er das Ver- Tat ist der Tarifabschluss so maßvoll, dass er durch Pro- trauen in die Politik zerstört und so auch die Grundlagen duktivitäts- und Preissteigerungen allemal finanziert für die Wachstumsschwäche in den vergangenen Jahren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8033

Klaus Brandner (A) geschaffen. Das muss an dieser Stelle noch einmal ganz keine inhaltliche Verbesserung. Wir wollen mehr Eigen- (C) deutlich gesagt werden. verantwortung, wir wollen eine Modernisierung des So- zialstaates und nicht einen Abbau des Sozialstaates. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mit unserem Reformprozess, der Agenda 2010, ha- ben wir kurzfristig Impulse für die Konjunkturerholung Es gab schon Zwischenrufe, in denen unterstellt gesetzt. Darüber hinaus müssen eine mittelfristige Kon- wurde, die durch uns vorgenommenen Veränderungen solidierung der Staatsfinanzen und langfristige Struktur- hätten zum Beispiel für den Arbeitsmarkt rein statisti- reformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen. sche Bedeutung. Wir senken mit unseren Arbeitsmarktreformen die Be- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Es ist schäftigungsschwelle, zum Beispiel dadurch, dass durch auch so!) Ich-AGs, Personal-Service-Agenturen, aber auch durch Minijobs bessere Anreize zur Arbeitsaufnahme organi- Die Empörung von Herrn Laumann bezüglich der An- siert werden. Auch eine effizientere Arbeitsvermittlung passung der Arbeitsmarktstatistik an internationale und die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Standards ist groß. „Ein Laumann ersten Ranges“ titelt Sozialhilfe werden einen Beitrag zur Bekämpfung der die „Berliner Zeitung“ am 6. Februar 2004. Sie zitiert Arbeitslosigkeit leisten. ihn mit gewichtigen Aussprüchen wie „Manipulation“ und „Skandal ersten Ranges“. In der Tat wollen wir die Effizientere Märkte sind natürlich auch durch die No- Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards anpas- velle zur Handwerksordnung zu erreichen. Ich habe sen; denn wir sind es leid, dass Deutschland durch die mich heute wieder sehr gewundert, als Herr Brüderle ein Opposition im internationalen Bereich schlechtgeredet Plädoyer für den Wettbewerb abgegeben hat: wird. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP) Ausgerechnet der Brüderle!) Wir wollen uns international messen lassen. Wir sind im Der Wettbewerb sorge für Dynamik, er sei ein wichtiges internationalen Vergleich eben nicht schlecht, sondern Element. Wo aber saßen die Bremser? Die FDP und die gut und wir werden noch besser werden. CDU/CSU haben den Prozess der Novellierung der Handwerksordnung massivst behindert. Unserem nach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haltigen Wirken ist es zu verdanken, dass es eine ver- Lassen Sie mich klar sagen: Wenn Herr Fuchtel for- nünftige Handwerksordnungsnovelle gibt, die für dert, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe (B) Wachstumsimpulse in diesem Land sorgen wird. und Sozialhilfe auf 2006 verschoben werden soll, dann (D) zeigt er auch damit wieder deutlich, dass er in der Tat (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht will, dass eine wichtige Reform durchgeführt wird, DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: die zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation beiträgt, Wir haben sie noch einigermaßen vernünftig die dazu beiträgt, dass es Fallmanager, eine systemati- gestaltet, Herr Brandner!) sche Arbeitsvermittlung, Jobcenter und Hilfen aus einer Auch der Anstieg der Lohnnebenkosten ist im Rah- Hand geben wird, sondern dass dies alles den Arbeitslo- men der Sozialreformen ein wichtiges Thema. Dabei set- sen in diesem Land verweigert wird, dass man hin- zen wir auf mehr Wettbewerb, nicht in erster Linie auf nimmt, dass die Arbeitslosigkeit länger verwaltet wird. Leistungskürzung. Das müssen die Menschen in diesem Das ist mit den Sozialdemokraten und den Grünen nicht Lande wissen. Es sollen nicht einfach Leistungen he- zu machen. rausgeschnitten oder gekürzt werden, sondern der Wett- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bewerb muss für günstigere Angebote, für qualitativ bes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sere Angebote genutzt werden. Auch dabei haben wir leider erleben müssen: Die Opposition sitzt im Bremser- Es ist völlig klar, dass die ersten positiven Ergebnisse häuschen. Sie hält Sonntagsreden für mehr Wettbewerb, vorliegen. Fördern und fordern zahlt sich aus: Es gibt aber wenn es dann ernst wird, schützt sie Apotheker, beispielsweise 250 000 mehr Existenzgründer. Die Wie- Ärzte und die Pharmaindustrie und ist nicht bereit, einen dereingliederung, bessere Hilfen und individuelle Be- fairen Wettbewerb zuzulassen. treuung durch Fallmanager stehen im Vordergrund. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Für uns steht fest, meine Damen und Herren: Die Re- formen müssen weitergehen. Sie werden in unverminder- Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass wir zu unse- ter Geschwindigkeit weitergehen, aber sozial ausgewogen rem Wort stehen, die Kommunen auch tatsächlich um unter dem Gesichtspunkt, Innovation und Gerechtigkeit in 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Wir wissen, dass die ein entsprechendes Verhältnis zu bringen. Kommunen in unserem Land wichtige Investitionsleis- tungen übernehmen. Deshalb werden wir im Ergebnis (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch sicherstellen, dass die tatsächliche Entlastung bei den Kommunen ankommt. Darauf können die Kommu- Unsere Leitlinie lautet: fördern und fordern. Das nen vertrauen. Fördern steht bei uns ganz obenan, es steht dem Fordern zuvor. Ihre politische Leitlinie lautet leider: fordern und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr Druck. Damit entsteht keine Modernisierung, DIE GRÜNEN) 8034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Klaus Brandner (A) „Leistung, Innovation, Wachstum“ ist die Losung Kant. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, an ihn zu (C) des Jahreswirtschaftsberichts 2004. Deutschland ist auf erinnern. einem guten Weg. Blockieren Sie diesen Weg nicht! Ich möchte ihn zitieren. Er hat in seiner „Metaphysik Räumen Sie die Steine aus dem Weg! Sorgen Sie mit da- der Sitten“ gesagt: für, dass das Land nicht weiter schlechtgeredet wird! Wir sollten vielmehr gemeinsam die Konjunktur ankurbeln. Nur solche Prinzipien, die diesem wechselseitigen, Sie haben allen Grund, dabei Ihren Beitrag zu leisten. gesetzlich geschützten Respekt der Freien nicht ge- Dann wird es auch gelingen, die Arbeitslosigkeit deut- fährden, dürfen allgemeine Gültigkeit beanspru- lich zurückzuführen. chen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was will er damit sagen? Er will damit sagen, dass wir DIE GRÜNEN) vor den Freiheitsrechten der Bürger Respekt haben müssen und nur solche Regeln aufstellen dürfen, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: diese Freiheitsrechte und die eigenverantwortlichen Ich schließe die Aussprache. Handlungsmöglichkeiten respektieren. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) den Drucksachen 15/2405 und 15/2000 an die in der Ta- Haben wir das mit unserer Gesetzgebung getan? Ich gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. glaube, wir haben die Bürger eher entmündigt, sie zu Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Untertanen von Staat und Bürokratie gemacht und sie in sind die Überweisungen so beschlossen. ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: (Beifall bei der FDP) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jedenfalls gilt das für das Steuerrecht. Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Wer sich das deutsche Steuerrecht, den deutschen Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und Steuerdschungel, anschaut, der glaubt, wir seien verrückt der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- geworden. Es ist ein absurdes System, das keiner mehr nes Gesetzes zur Einführung einer neuen Ein- versteht und an dem selbst die Experten verzweifeln. Die kommensteuer und zur Abschaffung der Ge- Steuerberater wissen nicht mehr, wie sie ihre Mandanten werbesteuer beraten sollen; die Verwaltung weiß nicht, wie sie das – Drucksache 15/2349 – Steuerrecht anwenden soll. Das Chaos ist allgemein. Der Bürger entzieht sich diesem System. Steuerhinterzie- (B) Überweisungsvorschlag: (D) Finanzausschuss (f) hung und Steuerverkürzung werden in Deutschland als Auswärtiger Ausschuss Kavaliersdelikte angesehen. Innenausschuss Sportausschuss (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der kate- Rechtsausschuss gorische Imperativ gilt aber auch für die Wahr- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit heit!) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Natürlich gilt er für die Wahrheit. Über die Wahrheit Verteidigungsausschuss rede ich doch jetzt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und der CDU/CSU) Technikfolgenabschätzung Der Bürger entzieht sich durch Schwarzarbeit, durch Ka- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung pitalflucht, durch Investitionen im Ausland und durch Ausschuss für Tourismus komplizierte Arrangements, mit denen man Steuern ver- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union meiden kann. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Dieses Steuerrecht ist nicht reformierbar. Es muss ab- geschafft werden. Wir müssen ein völlig neues, einfa- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ches und bürgerfreundliches Steuerrecht dagegenstel- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei len. Das ist unsere Aufgabe. die FDP zwölf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion. Es muss endlich Schluss sein mit der Ankündigung von Steuersenkungen, die in Wirklichkeit immer zu (Beifall bei der FDP) Steuererhöhungen geführt haben. Es muss endlich Schluss sein mit der angeblichen Steuervereinfachung, Dr. Hermann Otto Solms (FDP): die zu immer mehr Verkomplizierungen geführt hat. Es Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- muss Schluss sein mit den laufenden Forderungen nach legen! Wir begehen heute den 200. Todestag des großen neuen Steuererhöhungen und nach Einführung neuer Freiheits- und Aufklärungsphilosophen Immanuel Steuerarten. Gerade in den letzten Wochen konnten wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8035

Dr. Hermann Otto Solms (A) von Forderungen nach der Anhebung der Mehrwert- Gesundheitspolitiker veranlasst – für die Eingriffe im (C) steuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und Hinblick auf die Betriebsrenten und die Direktversiche- der Anhebung der Erbschaftsteuer lesen; alles Forderun- rungen. gen, wie sie gerade von den Grünen erhoben worden sind. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau das (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gleiche!) NEN]: Nicht die Mehrwertsteuer! Irgendwie bringen Sie etwas durcheinander, Herr Hier ist in lang bestehende Altersversorgungsplanungen Dr. Solms!) der Bürger eingegriffen worden. Darauf konnten sie sich nicht vorbereiten und damit konnten sie nicht rechnen. Was sagt denn der Bürger dazu? Der Bürger sagt: Ich Das ist ein enteignungsgleicher Tatbestand und evident glaube denen sowieso nicht. Ich weiß, dass die mir nur verfassungswidrig. Diese Regelung wird keinen Bestand in die Tasche greifen wollen. haben. Dies geht so nicht mehr. Dagegen können Sie nur ein einfaches, für jedermann verständliches Steuerrecht stel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten len. Das schlagen wir Ihnen heute vor. Um es Ihnen mit der CDU/CSU) Ihrer Kritik nicht zu einfach zu machen, sage ich Ihnen: Wir haben uns strikt an die Grundprinzipien unseres Für uns heißt das auch, dass die Verwaltung in Zu- Grundgesetzes, unserer Verfassung, gehalten und ver- kunft keine Nichtanwendungserlasse mehr herausgeben sucht, diese in dem Einkommensteuerentwurf, den wir darf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung muss Ihnen vorgelegt haben, zu verwirklichen. Rechtskraft haben. Nur der Gesetzgeber ist befugt, dies zu ändern. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so Meine Damen und Herren, der Gleichheitsgrundsatz wäre, dass man die Verfassung einhält!) in Art. 3 Grundgesetz besagt ganz eindeutig, dass glei- che Sachverhalte gleich behandelt werden müssen. Das Fangen wir mit dem Demokratieprinzip gemäß führt doch zwingend dazu, dass die unterschiedliche Be- Art. 20 Grundgesetz an. Es ist doch selbstverständlich, steuerung nach unterschiedlichen Einkunftsarten auf- dass der Bürger ein Gesetz, welches er befolgen soll, zu- gegeben werden muss. Wer den Gleichheitsgrundsatz nächst einmal verstehen können muss. ernst nimmt, muss sämtliche Lenkungsnormen und Aus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nahmen im Steuerrecht beseitigen. Nur dann bekommen der CDU/CSU) Sie ein einfacheres und gerechtes Steuerrecht zustande. (B) Deswegen brauchen wir ein Steuergesetz, das auf einen (D) Das ergibt sich doch eindeutig aus dem Demokratieprin- einheitlichen Einkommensbegriff abstellt und in dem die zip. Einkünfte nur nach der Höhe unterschiedlich belastet Deswegen schlagen wir einen transparenten Stufen- und alle anderen Dinge außen vor gelassen werden. Es tarif vor. Es wird immer gefragt: Warum ein Stufentarif? geht nicht, dass sich die Politik über das Steuerrecht in Technisch ist es egal, ob Sie einen linear-progressiven die privaten oder wirtschaftlichen Entscheidungen der Tarif oder einen Stufentarif haben. Aber es geht um die Bürger einmischt. Das muss endlich beendet werden. Verständlichkeit. Der Bürger soll seine Steuerbelastung mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen können. Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kann er bei einem Stufentarif, nicht aber bei einem For- Deswegen gehen wir in unserem Entwurf strikt von meltarif. der Neutralität des Steuerrechtes aus. Die Besteuerung Das Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung – das muss unabhängig davon erfolgen, aus welcher Quelle ist ebenfalls in Art. 20 Grundgesetz verankert – fordert das Einkommen stammt, für welche Zwecke es verwen- Vertrauensschutz. Herr Bundesminister Eichel, wie ha- det wird oder in welcher Rechtsform es erwirtschaftet ben Sie es mit dem Vertrauensschutz gehalten? Der Bun- wird. desfinanzhof hat ja gerade die Verlängerung der Speku- lationsfrist bei Immobilienverkäufen als eine nicht Es gibt andere Vorschläge wie den des Sachverständi- verfassungsgemäße Rückwirkung bezeichnet. genrates: eine duale Besteuerung, die zu einer Begüns- tigung der Kapitaleinkünfte führt. Das ist zwar ein inte- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist lau- ressanter Vorschlag; aber er wird dem Prinzip der fend so!) Gleichheit der Besteuerung und dem Neutralitätsprinzip Die Präsidentin des Bundesfinanzhofes hat ausdrücklich nicht gerecht. Deswegen haben wir ihn verworfen. gesagt, der Gesetzgeber hätte erkennen können, dass wir Die Steuererklärung muss einfach sein und ohne gro- es mit dem Verfassungsverbot der Rückwirkung ernst ßen Zeit- und Kostenaufwand erstellt werden können. meinen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deswegen mündet unser Steuerkonzept in ein einsei- der CDU/CSU) tiges, einfaches Steuererklärungsformular, das selbstver- ständlich auch elektronisch an das Finanzamt geliefert Das gilt natürlich genauso – Herr Bundesfinanzminis- werden kann. Eine Seite, so einfach ist es. Wir haben es ter, dafür sind nicht Sie zuständig; das haben die vielfach ausprobieren lassen. Innerhalb einer halben 8036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Hermann Otto Solms (A) Stunde hat es jeder bewältigt, dem ich das Formular vor- Der normale Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem (C) gelegt habe. Durchschnittseinkommen bleibt also von einer Einkom- mensbesteuerung völlig frei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Ist schon Realität! – Herr Bundesminister Eichel, ich zeige es Ihnen auch. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sagen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Er bekommt Sie, wie es heute ist, damit man den Vergleich eine Kopie!) hat! Sonst ist es eine Nullnummer!) Selbstverständlich müssen Sie Ihre Daten vorher gesam- – Heute ist die Besteuerung sehr viel höher. melt haben. Im Übrigen ist die blau-gelbe Färbung rein Meine Damen und Herren, nun sage ich noch etwas zufällig. zur Finanzierung. Uns ist vielfach vorgeworfen worden, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wie er- unsere Vorschläge seien unsolide und in Anbetracht der rechnet sich der Eintrag in der 17. Zeile? Das Haushaltslage nicht finanzierbar. Genau das Gegenteil habe ich jetzt nicht verstanden!) ist der Fall: Eine solche Steuerreform muss mit einer Steuerentlastung verbunden sein, weil sonst die Bürger, Art. 14, der Eigentumsartikel, schreibt zwingend vor, die bisherige Vorteile verlieren, die Zeche bezahlen dass Sie keine übermäßige Besteuerung durchführen müssten. Aus einer solchen Steuerreform sollen aber alle dürfen. Dabei darf man nicht nur auf die direkten Steu- einen Vorteil haben. Darüber hinaus sind nur durch eine ern achten. Uns wird vorgeworfen, ein Steuersatz von Entlastung Wachstumsimpulse auszulösen, die wir brau- 35 Prozent sei zu niedrig; die Bezieher höherer Einkom- chen, um unsere Wirtschaft zu dynamisieren und Ar- men würden zu niedrig besteuert. Sie müssen natürlich beitslose in Arbeit und Brot zu bringen. sehen, dass wir neben den direkten Steuern auch noch indirekte Steuern haben. Diese sowie vielfältige Sozial- (Beifall bei der FDP) abgaben führen dazu, dass wir in Deutschland die bei Dadurch machen wir aus Sozialhilfe- und Arbeitslosen- weitem höchste Abgabenquote aller Industriestaaten ha- geldempfängern wieder Steuer- und Beitragszahler. Nur ben. wenn Sie das erreichen, wird es Ihnen auch gelingen, (Hans Eichel, Bundesminister: Falsch!) Herr Bundesfinanzminister, die Haushalte zu sanieren. Ohne eine Dynamik der Wirtschaft und ohne einen Be- Deswegen muss sie bei den leistungsdämpfenden direk- schäftigungseffekt wird Ihnen dies nicht gelingen und ten Steuern korrigiert werden. ohne Steuersenkung erreichen Sie diesen Effekt nicht. (B) Deswegen ist eine solche Nettoentlastung zwingend ge- (D) (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) boten. Aus Art. 14 ergibt sich auch, dass Sie keine Doppel- Im Übrigen – das sage ich nur nebenbei – haben Be- besteuerung zulassen dürfen. Dies bedeutet, dass eine rechnungen ergeben, dass in den gut fünf Jahren der rot- Vermögensteuer auf keinen Fall wieder eingeführt wer- grünen Regierung Belastungswirkungen und Entlas- den darf, weil das Vermögen, das Sparkapital der Bürger, tungswirkungen saldiert zu einer Mehrbelastung der längst schon mehrfach besteuert worden ist. Steuerbürger bzw. der Steuersubjekte insgesamt in Höhe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von 8 bis 10 Milliarden Euro geführt haben. Dies der CDU/CSU) schließt die dritte Stufe der Steuerreform von Rot-Grün bereits ein. Wenn wir nach unserem Vorschlag zu einer Das gilt auch für eine potenzielle Erhöhung der Erb- Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro kommen, dann schaftsteuer. neutralisieren wir zunächst einmal den Zugriff der rot- grünen Regierung auf die Steuersäckel der Bürger. Da- Schließlich führt uns der Schutz von Ehe und Familie rüber hinaus bleibt nur eine Nettoentlastung von 6 bis dazu, dass wir in unserem Stufentarif das Ehegatten- 8 Milliarden Euro übrig. Wenn dies nicht zu verantwor- splitting durch Verdoppelung der Einkommensgrenzen ten sein sollte, dann möchte ich wissen, was Sie sich bei den Stufen beibehalten und auch den Kindern einen noch leisten wollen. Freibetrag in der Höhe des Grundfreibetrags jedes Er- wachsenen gewähren. Meine Damen und Herren, dies ist ein Angebot an alle Parteien, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen wir!) Erst dadurch kommen wir zu einer adäquaten Berück- sichtigung der Kinder im Steuerrecht. Im Ergebnis Wir können dies nicht alleine durchsetzen. Die rot-grüne werden Ehepaare mit zwei Kindern erst ab einem Jahres- Bundestagsmehrheit kann ihre Reform nicht alleine einkommen von 37 000 Euro überhaupt Einkommen- durchsetzen, weil es im Bundesrat eine andere Mehrheit steuer zu zahlen haben. Deswegen kann von sozialer gibt. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich fordere Sie Schieflage überhaupt keine Rede sein. auf, sich an einem solchen konstruktiven Reformprozess zu beteiligen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch bei unserem Gesetz auch Natürlich kann man immer über Einzelheiten reden. so! Was ist denn los?) Das muss so sein. Aber das Grundkonzept einer Ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8037

Dr. Hermann Otto Solms (A) kommensteuer, die sich strikt an den Prinzipien unserer nur von dem, was rechtens ist, und nicht von dem, was (C) Verfassung orientiert, kann auf keinen Fall aufgegeben nicht rechtens ist. Ich kritisiere das gar nicht; die Kritik werden. hat sich an den Gesetzgeber zu richten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was das bedeutet, haben wir beim Thema Sonntags-, der CDU/CSU) Feiertags- und Nachtzuschläge gesehen. Plötzlich – es hat Jahrzehnte gedauert; das hat mich wirklich gewun- Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminis- dert – kam ein Fußballverein auf die Idee, dass man auch ter, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss mit die Millionengehälter von Fußballern darunter subsu- Immanuel Kant: Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen mieren könnte. Ich nehme dieses Beispiel, weil es für Verstandes zu bedienen! uns Sozialdemokraten ein sensibles ist; wir wollen nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – da haben Sie Recht – diejenigen den Abbau von Ver- der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Mit günstigungen bezahlen lassen, die kleine Einkommen Kant wird es auch nicht besser! So eine dünne haben und davon betroffen sind. Deswegen ist eine Suppe, die Sie angerührt haben!) Reihe von flankierenden Maßnahmen zu treffen. So- lange die Tarifvertragsparteien, deren Sache es wäre, das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in Tarifverträgen zu regeln, dazu nicht bereit sind, wer- den wir den Krankenschwestern die Vergünstigung nicht Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans wegnehmen, wenn damit verbunden wäre, dass sie mehr Eichel. Steuern zahlen müssten. Das kann nicht sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der SPD) Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Hans, Damit sind wir zum ersten Mal an dem Punkt, dass wir jetzt die Kritik der reinen Vernunft!) über die soziale Frage der Verteilungswirkung unserer Steuergesetzgebung reden müssen. Aber zunächst ein- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: mal ist Ihr Konzept grundsätzlich richtig. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ein Hinweis an Herrn Merz: Es ist relativ einfach, ein Herren! Natürlich haben wir den Mut, uns unseres eige- neues Einkommensteuerrecht zu schaffen. Herr Solms, nen Verstandes zu bedienen – auch über Ihren liberalen Sie wissen so gut wie ich: Das neue Recht ist zunächst Verstand hinweg, Herr Solms. Darauf will ich gleich das alte ohne die Vergünstigungen; dann ist der Tarif- kommen. Zuallererst begrüße ich aber die unpolemische verlauf zu wählen. Das Schöne ist: Wer ein ganz neues Art, mit der Sie Ihr Konzept hier vorgetragen haben. (B) Einkommensteuergesetz schreibt, muss nicht explizit sa- (D) Verehrter Herr Merz, man kann einen Gesetzentwurf gen, welche Vergünstigungen er abschafft. Das einzige, vorlegen. Sogar die FDP, eine kleine Fraktion in diesem was Sie explizit erwähnen, ist der Wegfall der Vergünsti- Hause, kann das. Sie stellt nur einen einzigen Finanzmi- gungen für Arbeitnehmer. nister in Deutschland, nämlich Herrn Professor Paqué in (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Sachsen-Anhalt. Umso mehr müsste es doch der Union, dieser großen Partei, möglich sein, einen Gesetzentwurf Aber ich unterstelle einmal, dass Sie – über diesen Punkt vorzulegen. muss ja geredet werden – auch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für Betriebe meinen. Wie wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie denn Bewirtungskosten bzw. Spesen behandeln? Wie DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wollen Sie denn bei Betriebsjubiläen verfahren? Wie FDP – Lachen bei der CDU/CSU – Zurufe von wollen Sie denn mit Dienstwagen umgehen? Weil ich der CDU/CSU: Ja, und Ihnen erst!) weiß, wie Sie sich bei entsprechenden Vorschlägen mei- – Unser Gesetz steht längst im Gesetzblatt, Herr Merz. – nerseits verhalten haben, frage ich Sie: Was wollen Sie Parteifreunde von Ihnen leiten so leistungsfähige Fi- wirklich? Sagen Sie den verschiedenen Lobbygruppen nanzministerien wie die von Bayern und Baden- – hier liegt ja die Ursache der Zerstörung des Steuer- Württemberg. Haben Sie den Mut, auch einen Gesetz- rechts –, dass Sie all die bisherigen Regelungen nicht entwurf auf den Tisch zu legen! Dann kommen wir wie- mehr wollen? der ein kleines Stückchen weiter. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Solms, nun wollen wir gucken, was in Ihrem DIE GRÜNEN) Konzept steht und was nicht darin steht. Ich will mit den Oder sagen Sie nur den Arbeitnehmern, die Sie sowieso aus meiner Sicht diskussionswürdigen Punkten anfangen nicht wählen, dass Sie ihnen ihre Vergünstigungen weg- und im zweiten Teil die kritikwürdigen Dinge anspre- nehmen? Das zu sagen gehört zur Redlichkeit dieser De- chen. batte. Diskussionwürdig ist in der Tat der Abbau von Steu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ervergünstigungen. Er freut jeden Finanzminister. Jede des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vergünstigung, jede Ausnahme von der allgemeinen Be- steuerung animiert unsere 70 000 Steuerberater in Meine Damen und Herren, wir wollen und müssen Deutschland und auch die Bürger dazu, sie sich zunutze eine solche Debatte sehr redlich führen. Trotz aller zu machen, um die Steuerlast zu senken. Ich rede jetzt Schwierigkeiten, die bestehen, sage ich Ihnen: Die 8038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) Abschaffung von Steuervergünstigungen wird jeden Landwirtschaft nicht nur keine einzige Steuervergünsti- (C) Finanzminister freuen. Denn alle Finanzminister – ganz gung beseitigt werde, egal welcher Coleur –, die den Versuch unternommen (Zurufe von der SPD: Aha! – Hört! Hört!) haben, solche Ausnahmetatbestände zu reduzieren, ha- ben sich – ich weiß, wovon ich rede – auf vielfältige sondern dass auch keine einzige Finanzhilfe einge- Weise blutige Nasen geholt. schränkt werde; ansonsten sei die Veranstaltung zu Ende. Das ist noch im Dezember letzten Jahres passiert. Deswegen, sehr verehrter Herr Merz, liegt es nun an Daher muss ich mich schon fragen, wie glaubwürdig Ihnen, einen entsprechenden Versuch zu starten und ei- Ihre Ankündigungen, das Steuersystem radikal zu ver- nen Entwurf vorzulegen. Ich habe das schon dreimal ge- einfachen und die Steuersubventionen abzubauen, sind. macht bzw. war daran beteiligt. Der erste Versuch war Das kann ja wohl nicht sein. das Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999. Das konnten wir noch durchsetzen. Damit haben wir – gegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den wütenden Protest der rechten Seite dieses Hauses – DIE GRÜNEN) 70 Steuerausnahmetatbestände entweder ganz beseitigt oder eingeschränkt. Das dritte Mal haben wir diesen Versuch mit dem Haushalt 2004 unternommen. Das Ergebnis kennen wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus dem Vermittlungsausschuss. Ich will ausdrücklich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anerkennen, dass wir einen Schritt vorangekommen sind. Aber ebenso ausdrücklich sage ich: Das abstrakte Dieses Gesetz konnten wir nur verabschieden, weil wir Konzept von Herrn Merz lag ja schon vor und war auf im Bundesrat noch eine Mehrheit hatten. Meine Stimme dem Bundesparteitag der CDU unter großem Beifall be- als hessischer Ministerpräsident, der, was Sie kritisiert schlossen worden. Aber Ihr Verhalten im Vermittlungs- haben, die Wahl schon verloren hatte, war damals mit ausschuss hatte damit nichts zu tun. Sonst hätten wir ei- ausschlaggebend. nen großen Schritt weiter sein können. (Joachim Poß [SPD]: Ja!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damals gab es bei jeder einzelnen Vergünstigung, die DIE GRÜNEN) wir gestrichen oder eingeschränkt haben, wütenden Pro- Das gilt auch für die FDP. test. Meine Damen und Herren, damals habe ich gesagt: (Joachim Poß [SPD]: So ist es! Steuer- Im Vermittlungsverfahren wird entschieden, wie gut die erhöhungsgesetz!) Plattform ist, die wir zimmern, damit wir bei der Verein- (B) Der zweite Versuch war das Gesetz zum Abbau von fachung des Steuerrechts vorankommen. In dieser Frage (D) Steuervergünstigungen, das uns wahlpolitisch sehr ge- sind Sie viel hasenfüßiger gewesen als wir. Denn das, schadet hat. Darin stand beispielsweise auch – das regis- was ich vorgeschlagen habe, ist nur zu einem Teil ver- triere ich im FDP-Konzept positiv und hoffe, Sie bleiben wirklicht worden. Hier könnten wir schon einen großen dabei –, wie wir mit den Ausnahmen bei der Mehrwert- Schritt weiter sein. Wenn ich dann noch ein Jahr weiter steuer umgehen. Wir wollten mit dem Abbau von Ver- zurückdenke, und zwar an das Gesetz zum Abbau von günstigungen bei der Mehrwertsteuer endlich Ernst Steuervergünstigungen, könnten wir auch schon ein gro- machen. Auf europäischer Ebene wehre ich mich ent- ßes Stück weiter sein. schieden dagegen – in diesem Punkt auch gegen unsere Positiv – ich sage das ausdrücklich – ist der Schritt französischen Freunde und zunächst einmal nur gemein- bei der Besteuerung von Alterseinkünften. Ich will sam mit meinem dänischen Kollegen –, dass wir die dazu auch ein Wort sagen, weil wir gegenwärtig eine Art Mehrwertsteuer genauso zerstören, wie wir es mit der von Kampagne in diesem Lande erleben. Diesmal hat Einkommensteuer durch zig Ausnahmetatbestände getan der „Spiegel“ angefangen, dann erst kam die „Bild“-Zei- haben, die durch Lobbys durchgesetzt werden konnten tung hinterher; es ist ja manchmal sehr unterschiedlich. und Mehrheiten gefunden haben. Dagegen wehre ich Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es dagegen präzise auf mich ganz entschieden. den Punkt gebracht. Bei den Betriebsrenten ändert sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuerlich überhaupt nichts. Das Einzige, was insgesamt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei den Renten passiert – was in Ihrem Konzept auch steht; wozu das Verfassungsgericht uns verpflichtet Wir sollten uns mit Blick auf die Zukunft einig sein, hat –, ist, dass wir ganz vorsichtig, nach und nach, auf dass keiner von uns versucht, neue Steuervergünstigun- der einen Seite die Renten in dieselbe Besteuerung he- gen einzuführen. Wenn wir – was ja nicht verkehrt sein reinführen, die für jeden Arbeitnehmer gilt. Das wird im muss – an der einen oder anderen Stelle auch einmal eine Jahre 2040 vollendet sein; heute sind die Freibeträge für Subvention gewähren, dann sollte sie auf der Ausgaben- die Rente aus gutem Grund mehr als doppelt so hoch wie seite nur noch eine Finanzhilfe darstellen, die direkt bei jedem normalen Arbeitnehmer. Auf der anderen nachgewiesen werden muss, sodass ich jährlich überprü- Seite stellen wir – wesentlich schneller, nämlich bis fen kann, ob sie etwas bringt oder ob sie gestrichen wer- 2025 – die Vorsorgeaufwendungen der Arbeitnehmer den sollte. Aber, sehr verehrter Herr Merz, dann kann es von der Steuer frei. nicht sein, dass Ihre Seite – in dieser Frage war es übri- gens insbesondere der bayerische Ministerpräsident – im Daraus wird uns ein Einnahmeausfall erwachsen – bis Vermittlungsausschuss erklärt, dass im Bereich der 2025; erst danach wird er langsam zurückgehen –, der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8039

Bundesminister Hans Eichel (A) mir noch ziemliche Sorgen macht; ich komme darauf Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (C) gleich zurück. Das Alterseinkünftegesetz ist also ein Ge- Herr Bundesminister, wegen der Kürze der Redezeit setz zur Verminderung der Steuerlast in diesem Lande. konnte ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Wären Sie Die öffentliche Debatte nimmt hingegen geradezu psy- bitte bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Abgel- chopathische Züge an. tungsteuer nach unserem System für die Masse der Ar- beitnehmer nicht zu einer ungerechten Besteuerung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führt? Wir schlagen ja vor, 25 Prozent auf Zinseinkünfte DIE GRÜNEN) – Elke Wülfing [CDU/CSU]: zu erheben. Nach unserem Tarif erreicht der allein ste- Wenn die Bürger mehr Steuern zahlen müssen, hende Arbeitnehmer einen Durchschnittssatz von regt sie das schon auf!) 25 Prozent erst ab einem Jahreseinkommen von etwa Wir werden uns fragen müssen – das geht übrigens an 70 000 Euro. Das ist mehr, als die Arbeitnehmer in der alle, ganz egal wer regiert –, ob in einem solchen Klima Regel verdienen. massiv veröffentlichter Meinung die notwendigen Ver- änderungsprozesse noch zu vollenden sind. Denn wir Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: müssen die Staatsfinanzen, die sozialen Sicherungssys- Herr Solms, das finde ich spannend. Halten wir ein- teme sanieren. Das geht überhaupt nicht anders. Das mal fest: Auf der einen Seite bezahlen diejenigen, die geht auch nicht – auch darauf komme ich gleich noch zu- dem Spitzensteuersatz von 35 Prozent unterliegen, an rück –, ohne dass ich jemandem etwas wegnehme. Ich der Stelle weniger. Auf der anderen Seite müssen dieje- kann kein 86-Milliarden-Euro-Loch von vergangenem nigen, die einem niedrigeren Steuersatz als den 25 Pro- Jahr und kein 70-Milliarden-Euro-Loch in diesem Jahr zent unterliegen und keine Veranlagungsoption machen, schließen, ohne dass ich irgendwem etwas wegnehme. mehr auf ihre Zinserträge zahlen. Das ist der Sachver- Wenn das nicht klar ist und wenn dann solche Kam- halt. Das heißt doch aber nichts anderes, als dass Sie an pagnen entfacht werden, muss man sich in der Tat fra- dieser Stelle im Widerspruch zu Ihrem eigenen Grund- gen, ob wir die Kraft haben, das alles durchzustehen, ob satz stehen, nämlich dass alle Einkommen gleich zu be- dieses Land reformfähig ist. Das ist eine Frage nicht nur steuern sind. Eben das tun Sie nicht. Auf mehr wollte ich an die Politik, sondern auch an sehr viele andere. jetzt gar nicht hinweisen. (Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Wenn das demnächst nicht mehr mög- DIE GRÜNEN) lich ist, dann haben wir das Herrn Müntefering Aber, verehrter Herr Kollege Solms, jetzt komme ich zu verdanken!) zu der Verteilungswirkung. Das ist schon ein Problem. (B) Das zur positiven Seite. Da haben wir zurzeit offenbar Damit Sie das Ziel erreichen können, dass alle entlastet (D) auch keinen Streit; ich würde es auch begrüßen, wenn werden, müssten Sie akzeptieren – Sie haben hier einge- das so bliebe. räumt, dass Sie das tun –, dass ein großes Loch auf der Einnahmeseite entsteht. Damit komme ich zu den kritikwürdigen Elementen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ein kleines!) Zunächst einmal, verehrter Herr Solms: Das mit dem Grundgesetz klingt gut. Auf der Basis stehen wir alle. Es – 20 Milliarden Euro ist 1 Prozent vom Bruttoin- lässt allerdings ein paar Interpretationen zu und ist bei landsprodukt. Ich finde, das ist in der Tat ein sehr gro- Ihnen selbst nicht widerspruchsfrei. Wenn Sie behaup- ßes Loch. Das würde übrigens dazu führen, dass wir ten, dass alle Erträge, gleich welcher Herkunft, gleich das 3-Prozent-Kriterium weiterhin nicht erfüllen könn- besteuert werden müssen, dann dürfen Sie eine Abgel- ten. Das kann angesichts unserer Verpflichtungen auf tungsteuer auf Zinserträge in Ihr System nicht ein- europäischer Ebene so nun wirklich nicht gehen. bauen. Das wäre ein Widerspruch zu Ihrem eigenen Ar- Sehr verehrter Herr Solms, wie würde eigentlich die gument. Dieser Widerspruch in Ihrer eigenen Verteilungswirkung aussehen? Die Wirkung wäre, dass Argumentation lässt dann die Diskussion um die Dual- bei den unteren Einkommen eine Steuererhöhung statt- Income-Tax zu. finden würde. Ich habe Beispiele ausrechnen lassen. (Widerspruch bei der FDP) Nehmen wir zum Beispiel einen allein stehenden Arbeit- nehmer mit einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro, – Natürlich. Deswegen sage ich: Es geht nicht an, wenn der zum Arbeitsort eine Entfernung von 20 Kilometern Herr Solms sagt, alle Einkünfte, egal woher, seien bei zurücklegen muss. Für ihn fällt die Entfernungspau- der Einkommensteuer gleich zu behandeln, und er selbst schale nun weg, sodass er 44 Euro mehr bezahlen muss. tut es nicht. Auf mehr habe ich nicht hingewiesen. Sie sagen, das sei nicht viel. Richtig. Aber die Entlas- tung eines Ledigen mit einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro beträgt dagegen 5 700 Euro bzw. 17 Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zent. Die Entlastung steigt bei den höheren Einkommen Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des prozentual an und verharrt ab einem bestimmten Betrag. Kollegen Solms? Noch ein Wort am Rande zum Wegfall der Entfer- nungspauschale. Man sollte noch einmal darüber nach- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: denken, ob ein Wegfall nicht ein verfassungsrechtliches Gern. Risiko birgt. Ich sehe es eher wie die CSU. Ich glaube, 8040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) dass das verfassungsrechtlich nicht geht. Man kann die Ab nächstem Jahr gelten die 42 Prozent erst ab etwas (C) Entfernungspauschale der Höhe nach einschränken – das über 52 000 Euro. So viel zur Verteilungswirkung. haben wir vorgeschlagen –, kann sie aber wahrscheinlich nicht ganz streichen. Das sei nun aber dahingestellt. Ich komme nun auf Ihren Stufentarif zu sprechen. Ich spreche, so wie Herr Faltlhauser, von einem Stufen- Zu der Verteilungswirkung haben wir also eine ganz gag. Jedermann kann das heute auf seinem Laptop oder unterschiedliche politische Position. Nach Ihren Vorstel- seinem PC ausrechnen. Das lernen heute schon die Kin- lungen gilt: Je höher das Einkommen, desto höher ist der in der Grundschule. nicht nur die tatsächliche Entlastung – das ergibt sich aus (Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz einer progressiven Einkommensteuer –, sondern desto [CDU/CSU]: Nur das Finanzministerium höher ist auch die prozentuale Entlastung. Eine solche nicht!) Steuerpolitik möchte ich nicht machen. Eher würde ich es umgekehrt machen, sehr geehrter Herr Solms. Herr Solms, auch Sie wissen doch, dass es um einen rein optischen Trick geht. Keiner kann die höheren Belastun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, die mit dem Stufentarif, im Gegensatz zum linear- DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: progressiven Tarif, in bestimmten Bereichen verbunden Sie müssen auch einmal über den Tellerrand sind, schnell beziffern. Gleichzeitig können die öffentli- hinausschauen!) chen Haushalte die Einnahmeausfälle, die sich alleine Sie sprechen dauernd von einem Eingangssteuersatz aus dem Stufentarif ergeben, nicht verkraften. Für ein von 15 Prozent. Diesen haben wir im Gesetz vorgese- solches Modell werden Sie keinen Finanzminister und hen; er gilt ab dem nächsten Jahr. keine Freunde in Ihren eigenen Reihen finden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie hätten gerne einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Ich komme zur Finanzierung. Sie können nichts ande- Wir sehen ab nächstem Jahr einen Spitzensteuersatz von res – das machen Sie, damit Ihr Konzept ein bisschen at- 42 Prozent vor. Mit anderen Worten: Bei einem Aufbau traktiver wird; das verstehe ich –, als den Menschen eines Steuertarifs nach Ihren Vorstellungen würde im Er- Steuersenkungen zu versprechen. Das, was Sie mit Ihrer gebnis bei den unteren Einkommen auf längere Frist Verteilungswirkung bewirken, können Sie nur dadurch keine Entlastung erfolgen. Im Gegenteil: Durch den Ab- abfedern, dass Sie einen riesigen Einnahmeausfall hin- bau aller Vergünstigungen würde es eher zu einer Belas- nehmen. Das geht angesichts der gegenwärtigen Situa- tung führen. Aber je höher das Einkommen wäre, desto tion nicht. Die Steuerquote in Deutschland ist die nied- rigste der Mitgliedsländer der Europäischen Union und (B) höher wäre die Entlastung. Sehr verehrter Herr Solms, (D) ein solcher Tarif ist nicht nach unserer Vorstellung. sogar der Beitrittsländer. Zurzeit sind der slowakische Ministerpräsident und der slowakische Finanzminister (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hier im Lande. Angesichts dessen wurde in den Nach- DIE GRÜNEN – Christine Scheel [BÜND- richten diskutiert, wie dort das Steuersystem aussieht. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ungerecht!) Wir haben ein anderes System. Darüber will ich nicht Sie haben hier im Hause auch schon ganz anders ar- reden. Die Slowakei ist das einzige Land, dessen Steuer- gumentiert. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Absen- quote minimal unter unserer liegt. Die Flatrate liegt dort kung des Spitzensteuersatzes auch dann noch Priorität bei 19 Prozent. Während wir eine Steuerquote von hat, wenn er 42 Prozent beträgt; sie ergibt sich auch 20,5 Prozent haben, hat sie 19,2 Prozent. Das muss man nicht aus einem internationalen Vergleich. sich einmal vor Augen führen: In allen anderen Ländern nebenan, zum Beispiel in Tschechien, liegt sie darüber. Ich frage Sie allen Ernstes: Sind Sie wirklich der Mei- Das gilt auch für die kombinierte Steuer- und Abgaben- nung, dass schon Einkommen ab 40 000 Euro – das ist der quote. Jahresverdienst eines gut verdienenden Facharbeiters – mit dem Spitzensteuersatz besteuert werden sollen? Oder Ich halte also fest: Die niedrigste Steuerquote in der sollten wir nicht eher, wenn wir Geld hätten, an eine Ver- Europäischen Union hat Deutschland. Mit anderen Wor- schiebung denken und den Spitzensteuersatz lieber etwas ten: Auch beim internationalen Vergleich stellt man fest, höher ansetzen und ihn dafür wesentlich später beginnen dass weitere Ausfälle bei den Steuereinnahmen zurzeit lassen? Eine solche Steuergesetzgebung wäre viel leis- nicht unser Thema sein können. Wer das Thema ernst- tungsfördernder als die, die Sie vorsehen. Bei dieser wird haft angehen will, der muss weiterschauen und die nämlich schon dem Facharbeiter bescheinigt, er sei mit Steuer- und Abgabenquote betrachten. Herr Solms, seinem letzten Euro bereits in der Spitzengruppe. Alle Ihre Aussage, nach der wir mit dieser ganz oben liegen, Personen mit höheren Gehältern zahlen, bis hin zu Herrn war übrigens falsch. Im europäischen Vergleich liegen Esser, das Gleiche. Herr Solms, das halte ich nicht für ge- wir hier sogar unterhalb der Mitte. Belgien, Dänemark, recht, um das in aller Klarheit zu sagen. Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Schweden und Tschechien haben beispiels- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weise eine höhere Steuer- und Abgabenquote als wir. DIE GRÜNEN) Hieran liegt es also auch nicht. Bei unserem Modell gilt der Spitzensteuersatz nicht Man muss über die Lösung der Probleme in der schon bei 40 000 Euro, sondern erst wesentlich später. Struktur nachdenken. Ich warne aber davor, zu schnell Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8041

Bundesminister Hans Eichel (A) von der Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssys- Was haben wir in diesem Jahr zu tun? Unsere Steuer- (C) teme, also dieser Art der Senkung der Lohnnebenkosten reform liegt in Gesetzesform vor. Die nächste Stufe zu reden, weil wir dadurch zu schnell über die notwendi- kommt. Sie hätte schon zum 1. Januar dieses Jahres gen Reformmaßnahmen in den Systemen hinweggehen kommen können, wenn Sie sowohl bei der Steuersen- würden. Ich glaube aber, es ist völlig unvermeidlich, kung als auch beim Subventionsabbau ein bisschen mu- dass sich auch diese Frage stellen wird. tiger gewesen wären. Reden wir über unsere europäischen Verpflichtungen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Wir haben uns im Stabilitäts- und Wachstumspakt ver- Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) pflichtet Die Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes steht (Zuruf von der CDU/CSU: Ihn einzuhalten!) auf der Steueragenda für dieses Jahr. Ich hoffe, dies wird durch uns gemeinsam geschehen. – sehr richtig –, zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Das ist noch nicht einmal die aktuelle Frage. Auch die Kapitalertragsbesteuerung und die europäi- Das heißt, bis wir das erreicht haben, müssen wir jedes sche Zinsrichtlinie sind Themen dieses Jahres. Gemein- Jahr 0,5 Prozent des strukturellen Defizits zurückfahren. sam mit den Ländern haben wir darüber hinaus Gott sei Das sind 10 Milliarden Euro für den Gesamtstaat. Be- Dank mit dem Abbau von Vorschriften begonnen. denken Sie, dass das bis weit über das Jahr 2007 hinaus- Auch das Außensteuerrecht ist ein zentrales Thema. geht! Hinzu kommen dann noch die Kosten für die Er- Es ist zwar nicht sehr publikumswirksam, in diesem Jahr weiterung der Europäischen Union. Ich bin übrigens für aber sehr wichtig. die Unterstützung dankbar, die ich in dieser Frage für die Position der Bundesregierung gestern im Europaaus- Schließlich nenne ich die Vereinfachung der Steuer- schuss erhalten habe. erklärung sowohl für die Arbeitnehmer als auch für alle anderen. Somit könnten wir das durch Ihre Steuerreform ent- stehende Einnahmeloch – 20 Milliarden Euro pro Jahr – An diesen Dingen ist zu arbeiten. Da werden wir auch in den nächsten Jahren finanziell überhaupt nicht ver- vorankommen. Das wird sich zeigen. kraften. Dies wäre auch mit keiner europäischen Ver- Sehr verehrter Herr Solms, ich bedanke mich für eine pflichtung vereinbar. unpolemische und sachliche Debatte. Ich würde mich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- freuen, wenn wir bei der Vereinfachung vorankommen SES 90/DIE GRÜNEN) würden. Aber bitte, wir haben unsere Kriterien genannt: keine weiteren Einnahmeausfälle und die Beachtung der (B) Damit komme ich zur Frage, wo die Prioritäten der sozialen Gerechtigkeit. Dann müssen wir aber auch den (D) Finanzpolitik liegen. Diese liegen nicht bei der Steuer- Mut haben, den Menschen deutlich zu machen, was das quote, sondern sie liegen bei der Steuerstruktur. Wir wol- heißt. Es geht nicht an, die Regierung immer vorangehen len Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung vorlegen. zu lassen, sie dann jedes Mal zu verleumden und am Diese müssen und werden umfangreicher sein als Ihre. Ende zu sagen: Wir wollen alles einfacher gestalten. Wir müssen nicht nur den Weg zu einem ausgeglichenen Auch Sie müssen den Mut aufbringen, Ross und Reiter Haushalt, sondern auch zu einem Überschusshaushalt zu nennen. gehen, damit der Haushalt auch über den Konjunkturzy- klus ausgeglichen ist. Das würden wir mit Ihren Vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlägen lange nicht erreichen. Wir müssen auch Geld DIE GRÜNEN) für das haben, was wir in Europa die Qualität des Bud- Das erwarte ich insbesondere von Herrn Merz. Auf einer gets und in Deutschland die Zukunftsaufgaben nennen. solchen Basis lässt sich eine vernünftige Diskussion füh- In der Tat müssen die Ausgaben für Bildung, Forschung, ren. Entwicklung, Kinderbetreuung und Innovation gestei- gert werden. Auch darauf kommt es an. Auch das ist eine Ich bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie mir so Aufgabe der Finanzpolitik. Ohne das werden wir die Zu- lang und geduldig zugehört haben. kunft nicht gewinnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Dann gehen Sie mal in die Steinkohle Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hinein!) Das Wort hat der Kollege Michael Meister, CDU/ CSU-Fraktion. Deswegen sagen wir Ja zu einer Debatte, die zu einem vereinfachten Steuerrecht führt, und Nein zu einer De- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) batte, die zu weiteren Einnahmeausfällen und sozialen Ungerechtigkeiten führt. Das sage ich für die Regie- Dr. Michael Meister (CDU/CSU): rungskoalition ganz ausdrücklich. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herren! Es ist erfreulich: Niemand in der Debatte be- streitet, dass das deutsche Steuerrecht dringend verein- Das wäre nämlich das Ergebnis Ihres Konzeptes. Verein- facht werden muss. Dieses Ziel wird glücklicherweise fachung ist ein wichtiges Element. von niemandem mehr in diesem Hause infrage gestellt. 8042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Michael Meister (A) Bürger und Unternehmen beklagen zu Recht die zahlrei- Sie haben allein im letzten Jahr sieben Steuergesetze (C) chen Ausnahmeregelungen und die hohen Steuersätze vorgelegt, die wir im Deutschen Bundestag beraten ha- im deutschen Steuerrecht sowie die Hektik und den Ak- ben. Aber Ihre Leitlinie bei der Steuergesetzgebung war tionismus, den wir in der Steuergesetzgebung gegenwär- leider nicht Vereinfachung, sondern das Stopfen von tig verspüren. Es werden Eingriffe in bereits bestehende Haushaltslöchern. Darauf haben Sie bisher Ihre Steuer- Lebenssachverhalte vorgenommen, so genannte Rück- politik ausgerichtet. wirkungen. Lieber Herr Bundesfinanzminister Eichel, die von mir beschriebenen Probleme haben massive ne- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist das! Reine gative ökonomische Auswirkungen auf unser Land. Abzocke!) Dies müssen wir in der Debatte zur Kenntnis nehmen. Jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Steuervergünstigungsabbaugesetz, das für die Menschen neten der FDP) in Deutschland eine Mehrbelastung in Höhe von 17 Mil- liarden Euro bedeutet hätte. Der entscheidende Unter- Nicht nur die Bürger verstehen nicht mehr, wie unser schied ist: Wir wollen – darin sind wir uns in der Opposi- Steuerrecht aufgebaut ist, auch die Finanzverwaltungen tion einig –, dass das Steuermehraufkommen durch die haben ein riesiges Problem, die Steuergesetze anzuwen- Verbreiterung der Bemessungsgrundlage den Menschen den. Nehmen wir einmal das Thema Zinsen bzw. Kapi- über eine Tarifentlastung zurückgegeben wird. Ihre Poli- talertragsbesteuerung. Dort besteht dringender Hand- tik jedoch ist es, die Bemessungsgrundlage zu erweitern, lungsbedarf, den auch das Verfassungsgericht anmahnt. damit Steuern zu erhöhen, den Tarif aber nicht zu senken. Nehmen wir das Thema Spekulationsgewinne. Auch Die Opposition will eine Steuerstrukturreform mit einer dort wird deutlich, dass nicht nach Recht und Gesetz be- breiten Bemessungsgrundlage und niedrigen Tarifen. Sie steuert wird und daher Handlungsbedarf gegeben ist. Die hingegen reden ständig darüber, die Bemessungsgrund- Finanzverwaltung ist nicht in der Lage, die heutige Ge- setzgebung umzusetzen. Ich will einen dritten Bereich lage zu erweitern und den Tarif nicht abzusenken. Das ansprechen. Ich glaube, auch die Gerichtsbarkeit leidet aber gehört für uns zusammen. unter dem, was heute in Gesetzen steht. So nimmt die (Beifall bei der CDU/CSU) Anzahl der Klagen gegen Steuergesetze permanent zu, und zwar sowohl in der deutschen Gerichtsbarkeit als Sie haben das Haushaltsbegleitgesetz 2004 ange- auch auf europäischer Ebene. sprochen. Auch dort – das muss ich Ihnen sagen – haben Sie diesen Grundsatz nicht eingehalten. Sie haben wie- Wenn wir darin übereinstimmen, dass das deutsche der geplant, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss, dann und haben dies den Menschen als Steuerentlastung ver- muss eine grundlegende Steuerstrukturreform vorge- kauft. Sie haben angekündigt, in Deutschland würden (B) (D) legt werden. Darüber sind wir uns einig, daher würde ich Steuern gesenkt, aber ab dem 1. Januar 2005 werden die mich sehr freuen, wenn die Bundesregierung – hier in Auswirkungen Ihrer Gesetze zu massiven Steuermehrbe- Person des Bundesfinanzministers – einen Gesetzent- lastungen führen. Wir müssen, wenn wir um Vertrauen wurf zur tatsächlichen Vereinfachung, besseren Transpa- werben, endlich aufhören, auf die Pakete, die wir schi- renz und Vertrauensbildung im deutschen Steuerrecht cken, die falschen Etiketten zu kleben. vorlegen würde. Willensbekundungen reichen hier nicht, Herr Bundesfinanzminister. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Alterseinkünfte! Zwangsbesteuerung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen ehrlich sein. Das, was wir ankündigen, müs- In dieser Diskussion steht für uns – damit komme ich sen wir auch tun. Wir dürfen nicht das Gegenteil von zum Punkt Finanzierung – nicht das Thema Entlastung im Vordergrund, sondern für uns sind Transparenz, Ein- dem einpacken, was auf der Liste steht. fachheit und Vertrauensbildung in der Steuergesetzge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bung maßgebend. Es ist vollkommen richtig – darin Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimme ich Ihnen zu –: Diese müssen wir in eine ver- NEN]: Verkehrte Welt!) nünftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und So- zialgesetzgebung einbetten, weil wir nur mit einer ent- Ich glaube, wir waren im Jahr 1997 in der Steuerde- sprechenden Finanzpolitik zu dem notwendigen Schub batte in Deutschland, was die Vereinfachung und Trans- in der Wirtschaft beitragen und unsere Ziele vernünftig parenz betrifft, bedeutend weiter, als wir es heute sind. umsetzen können. Lieber Herr Bundesfinanzminister, Wir hatten nämlich hier im Deutschen Bundestag bereits wenn Sie den Handlungsbedarf für eine Strukturreform die so genannten Petersberger Steuervorschläge be- erkennen, dann frage ich: Warum handeln Sie nicht? Wo schlossen. Es gab einen Beschluss des Deutschen Bun- bleibt der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung zur destages zur Steuervereinfachung mit einer breiten Be- Vereinfachung des deutschen Steuerrechts? messungsgrundlage, wenigen Ausnahmen und niedrigen Steuersätzen. Warum ist er nicht Realität in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geworden, sondern ein Beschluss des Bundestages ge- neten der FDP) blieben? – Weil Sie von der SPD mit Ihrem Vorsitzenden Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie damals im Bundesrat aus machttakti- in den vergangenen Jahren an dieser Stelle relativ viel schen Gründen Aktivismus entwickelt haben. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Schröder war (Walter Schöler [SPD]: Das ist Geschwätz!) auch dabei!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8043

Dr. Michael Meister (A) ein einfaches, transparentes Steuersystem in Deutsch- pflichtig, wenn man die Freibeträge und den Grundfrei- (C) land blockiert haben. Das ist die Ursache, warum wir da- betrag vom Einkommen abzieht. Die Steuerlast beträgt mals nicht weitergekommen sind. dann 840 Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wo kom- men denn die 8 Prozent her?) Wenn man die Entwicklung der letzten Jahre an- schaut, dann muss man feststellen, dass Ihr Bundeskanz- – Ich habe eben 12 Prozent ausgerechnet, Herr Binding. ler im vergangenen Jahr angekündigt hat, er wolle im Sie sind Mathematiker, Sie können das schnell nachvoll- Bereich der von mir vorhin angesprochenen Kapitaler- ziehen. Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. tragsbesteuerung eine Steueramnestie einführen und er Das ist eine riesige Leistung, auch in der Familien- wolle eine Neuregelung über die Abgeltungsteuer bei politik. Unser Ansatz des Ehegattensplittings, die den Kapitaleinkünften. Was haben Sie gemacht? – Sie Grundfreibeträge und der Stufentarif sind ein riesiges haben Vorschläge zur Steueramnestie vorgelegt. Die ha- Plus für Familien in Deutschland. Sie reden darüber, wir ben wir im Dezember beschlossen. Sie haben bis heute wollen es tun. Wir machen Steuerpolitik für Familien in aber keine Regelung zur Kapitalertragsbesteuerung vor- diesem Land. gelegt. Warum haben Sie keine Regelung vorgelegt? – Weil die Fraktion der SPD sie blockiert. Diese Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) will nicht, dass Kapital günstiger als Arbeit besteuert Nun behaupten Sie, wir hätten ein Problem mit den wird. Deshalb sind Sie nicht handlungsfähig. Sie sind Ausnahmetatbeständen, die wir beseitigen wollen. gelähmt. Sie haben nicht die Rückendeckung Ihrer eige- nen Fraktion und Koalition. Deshalb bleibt es bei An- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kündigungen und es kommt nicht zu tatsächlichen Ver- NEN]: Haben Sie auch!) einfachungen des Steuerrechts und der Lösung der Wir diskutieren über die Pendlerpauschale. Die haben Probleme. Sie schon angesprochen. Wir wollen die Ausnahmetat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bestände lückenlos streichen, weil wir sonst das Ziel Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eines einfachen Steuerrechts in Deutschland nicht errei- NEN]: Sie kennen Ihren eigenen Vorschlag chen werden. Wir sind aber auch der Meinung, dass man nicht!) Aufwendungen anerkennen muss. Deshalb sollten Sie einmal einen Blick in unser Konzept werfen. Dort ist ein – Liebe Frau Scheel, die Vorschläge zur Kapitalertrags- Arbeitnehmerpauschalbetrag von 1 000 Euro vorgese- besteuerung erwarten wir mit großer Spannung. Wir hen, der diese Aufwendungen pauschaliert erfasst und (B) warten auch vor dem Hintergrund der Amnestie darauf, anzuerkennen versucht. Wir können darüber diskutieren, (D) was Sie zur Erbschaftsteuer sagen. Frau Simonis hat ob die Höhe richtig gewählt ist, aber die Anerkennung heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesagt, die Erb- der Aufwendungen ist der richtige Ansatz. schaftsteuer müsse dringend erhöht werden. (Zuruf von der SPD: Einfach, aber nicht (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Exakt!) gerecht!) Wir sind auch gespannt, was Sie zur Vermögensteuer sa- Wenn wir tatsächlich die Basis eines völlig reformier- gen. Sie glauben doch nicht, dass jemand von der Am- ten Einkommensteuerrechts mit niedrigen Steuersätzen nestie Gebrauch machen wird, wenn Sie die Erhöhung und einer breiten Bemessungsgrundlage geschaffen ha- der Erbschaftsteuer, die Wiederbelebung der Vermögen- ben – um diese Frage geht es schließlich –, dann können steuer und eine offene Kapitalertragsteuer in den Raum wir darauf aufbauend eine vernünftige Gemeinde- stellen. finanzreform angehen. Das, was Sie in den vergangenen fünf Jahren in der (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Wann kommt die Steuerpolitik geleistet haben, ist ein Rückschritt. Sie sind denn?) weit hinter die Petersberger Beschlüsse von 1997 zu- rückgefallen. Deshalb sind wir von der Union der Mei- – Das müssen Sie beantworten, Herr Spiller. Sie sind nung, dass wir uns in der Steuerpolitik wieder in die doch mit der Gemeindefinanzreform gescheitert. Es war richtige Richtung bewegen müssen. Dies bedeutet ein- doch Ihre Vorlage, deren Umsetzung Sie nicht zustande heitliche Grundfreibeträge für alle Menschen in gebracht haben. Nicht die Opposition, sondern Sie sind Deutschland, gleich welchen Alters. Ein Freibetrag von in der Verantwortung. 8 000 Euro soll auch für Kinder gelten. Wir sind der (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß Meinung, dass, wenn wir zu dem Stufentarif von [SPD]: Unglaublich!) Friedrich Merz übergehen, jeder auf seinem Bierdeckel seine Steuerlast ausrechnen kann. Wir sind der Meinung, dass wir den Umdenkungspro- zess, der am 19. Dezember eingesetzt hat, nutzen müs- Gehen Sie einmal von einer vierköpfigen Familie aus, sen, um die Kommunen in Deutschland an einem Pro- die aus den Eltern und zwei Kindern besteht und die ein zess der Verstetigung ihrer Einnahmen zu beteiligen, Jahreseinkommen in Höhe von 40 000 Euro hat, wobei indem wir ein Drei-Säulen-Modell schaffen und eine se- nur ein Erwerbstätiger in der Familie ist. Dann können riöse Beteiligung der Kommunen an der Einkommen-, Sie relativ leicht mit dem Stufentarif die Steuerlast be- Körperschaft- und Umsatzsteuer und damit an der wirt- rechnen. 8 Prozent auf 7 000 Euro sind dann steuer- schaftlichen Entwicklung in unserem Land ermöglichen. 8044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Michael Meister (A) Dies wollen wir gemeinsam mit den Kommunen errei- lung herangeht, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. (C) chen. Die FDP befürwortet ein Modell, das die Wahl zwischen Handelsbilanz und internationalen Rechnungsstandards Wenn wir hier nicht nur Sonntagsreden halten wollen, zulässt. Ich glaube, bei der Gewinnermittlungsmethode Herr Poß, dann müssen wir endlich dem Rückschritt in ist auch zu berücksichtigen, was diese Standards bedeu- der Steuerpolitik, den Sie in den vergangenen fünf Jah- ten. Sie verfolgen nämlich unterschiedliche Ziele, und ren bewirkt haben, ein Ende bereiten. zwar zum einen eine Zahlungsbemessungsfunktion und (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei zum anderen eine Informationsfunktion. Ob wir klug be- der SPD) raten sind, eine optionale Regelung als steuerrechtliche Basis zu schaffen, steht für mich infrage. Ich verweise in Wir brauchen an dieser Stelle einen Politikwechsel. diesem Zusammenhang auf das Gutachten von Herrn (Joachim Poß [SPD]: Den werden Sie noch Professor Herzig, in dem er deutlich gemacht hat, dass kriegen!) die Anwendung von IAS, das heißt von internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen, in Bezug auf das Steuer- Das Steuerrecht darf nicht mehr der Fiskalpolitik unter- recht durchaus verfassungsrechtliche Implikationen auf- liegen; es muss vielmehr dem Prinzip „niedriger, einfa- weisen kann. Insofern ist es fraglich, ob wir mit einer cher und gerechter“ folgen. solchen Regelung gut beraten sind. Das Einkommensteuerrecht muss zudem – darin bin (Beifall bei der CDU/CSU) ich mit Herrn Solms einig – komplett neu verfasst wer- den. Ein Herumdoktern an dem bestehenden Recht wird Ich möchte abschließend festhalten, dass trotz der be- uns nicht weiterhelfen. Notwendig ist der Entwurf eines stehenden Untiefen, über die wir sicherlich im parlamen- neuen Einkommensteuerrechts. tarischen Verfahren im Finanzausschuss diskutieren kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen, der Grundsatz, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und gleichzeitig die Steuersätze zu senken, Meine Damen und Herren, Sie können davon ausge- richtig ist. Wir setzen uns gemeinsam mit der FDP für hen, dass sich die Union mit einer eigenen parlamentari- diesen Grundsatz ein. Ich halte es für dringend notwen- schen Initiative an dieser Debatte beteiligen wird. dig, dass der riesige Apparat, den Sie mit dem Finanzmi- nisterium und seinen mehreren tausend Mitarbeitern zur (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verfügung haben, lieber Herr Spiller, in diesem Zusam- NEN]: Prosatext!) menhang Vorleistungen bringt. Wir sagen Ihnen zu, Herr Solms, diesen Diskussionspro- (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie ver- (B) zess konstruktiv zu begleiten. Wir sind bereit, mit Ihnen (D) in den Gremien über ein einfacheres, gerechteres und wechseln Parlament und Regierung!) transparenteres Steuerrecht zu diskutieren. Darauf warten wir. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir kommen in Kürze – am 1. Mai – in eine Situa- Ich will allerdings auf einige Untiefen hinweisen. Ich tion, in der wir einer riesigen Konkurrenz ausgesetzt sein glaube, es ist richtig, dass Sie in § 1 Ihres Gesetzent- werden. Ich frage mich, ob Ihnen dann nicht das Lächeln wurfs und damit an vorderster Stelle das Prinzip der relativ schnell vergehen wird, wenn plötzlich die Steuer- Leistungsfähigkeit verankert haben. Es bedarf aller- basis auf legale Weise erodiert, und ob es reicht, wenn dings einer Erklärung, warum ein angestellter und ein der Herr Bundeskanzler von unpatriotischem Verhalten selbstständig tätiger Handwerker unterschiedlich behan- spricht, oder ob wir nicht unsere Verantwortung als Ge- delt werden sollen. Der eine kann seine Aufwendungen setzgeber wahrnehmen sollten. Ich bin der Meinung, wir in vollem Umfang absetzen; der andere kann dies nicht. sollten nicht nur Sonntagsreden halten, sondern unsere Wenn wir uns zu dem Prinzip der Leistungsfähigkeit be- Verantwortung wahrnehmen. kennen – Sie bekennen sich in Ihrem Gesetzentwurf dazu und auch wir sind dafür –, dann sollten wir dieses Vielen Dank. Prinzip auch konsequent umsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Sie haben das Thema Kapitalerträge und Dual Income Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Tax angesprochen. Ich glaube, wenn wir ehrlich sind, Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel, muss auch an dieser Stelle das Prinzip der Leistungsfä- Bündnis 90/Die Grünen. higkeit eingehalten werden. (Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch nicht ehr- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich! Sie haben doch vorhin glatt gelogen!) Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Danach sind alle Markteinkommen steuerlich gleich zu Dr. Meister, wenn man das Wort „Wahrheit“ so oft in behandeln. Was die Realisierung dieses Prinzips angeht, den Mund nimmt, wie Sie das gerade getan haben, dann besteht, glaube ich, noch Diskussionsbedarf. kann ich nur bitten: Bleiben Sie auch bei der Wahrheit! Ein weiterer Punkt ist die Gewinnermittlung bei Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ternehmen. In der Frage, wie man an die Gewinnermitt- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8045

Christine Scheel (A) Zwischen dem, was Sie im Hinblick auf den Subven- Interessant ist auch, dass in den Bundesländern, in de- (C) tionsabbau gesagt haben, und dem, was Sie im Dezem- nen die FDP mitregiert – ich denke an Rheinland-Pfalz, ber letzten Jahres im Vermittlungsverfahren getan haben, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt –, die Subven- liegen jedenfalls Welten. Jedes Mal, wenn es konkret ge- tionen permanent angehoben worden sind. Ausgerechnet worden ist, hat die Union nicht Subventionsabbau betrie- Herr Brüderle, der Obersubventionsabbauer, war derje- ben, sondern begründet, warum einzelne Subventionen nige, der in Rheinland-Pfalz dafür gesorgt hat, dass die beibehalten werden müssten. Das ist die Wahrheit. Förderung des Weinbaus an Steillagen von 1 500 DM auf 5 000 DM angehoben worden ist. Jedes Mal, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es konkret wird, wollen Sie Subventionen eher anheben und bei der SPD) als abbauen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, dem Sie sich stellen müssen. Sie haben gesagt, dass wir das, was wir ankündigten, auch umsetzen müssten. In diesem Zusammenhang kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich nur darauf hinweisen, dass Sie im letzten Jahr eben- und bei der SPD) falls angekündigt haben, das Steuerrecht zu vereinfachen Sie verstricken sich permanent in Widersprüche. Das und Subventionen abzubauen. Wenn man Subventionen werden wir auch aufdecken, Herr Dr. Solms. abbaut, dann führt das zumindest teilweise auch zu Ver- einfachungen im Steuerrecht. Aber genau das haben Sie (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Was ist mit im Vermittlungsverfahren nicht mitgetragen, weil Sie der Steinkohle?) wussten, dass Sie noch Spielraum für Ihren eigenen Ge- – Wer hat denn die Verträge abgeschlossen? Das war setzentwurf benötigen werden. Es ging Ihnen also nicht doch Ihre Regierung, nicht wir. Wer hat denn damals die um das Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie um Stahlindustrie gefördert? Sie waren doch 29 Jahre an der wirkliche Vereinfachungen, sondern nur um parteipoliti- Regierung beteiligt. Sie haben doch alle Verträge abge- sches Kalkül. Das ist der andere Teil der Wahrheit. schlossen und Subventionen auf breiter Basis aufgebaut, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die wir jetzt mühsam versuchen abzubauen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Dr. Solms, wenn Sie den 200. Todestag von Im- manuel Kant ansprechen und hier die Freiheit beschwö- Wir leiden heute darunter, dass Sie jahrelang dafür ge- ren – das tun Sie immer sehr gerne; die Begriffe „Wett- sorgt haben, dass alles nach oben geswitcht ist. Dass es bewerb“ und „Freiheit“ haben Sie bislang in jeder Rede um die Staatsfinanzen heute so schlecht bestellt ist, ist leider auch Ihr Verdienst. (B) verwendet, die ich kenne –, dann frage ich Sie, wie sich (D) die FDP verhält, wenn es konkret wird. Was geschieht Zu Ihrem Gesetzentwurf: Ich möchte gerne wissen, denn, wenn Vorschläge auf den Tisch kommen? Was ha- wie Sie sich vorstellen, wie wir die zu erwartenden Steu- ben Sie gemacht, als wir den Apotheken den Internet- erausfälle, die in der Endstufe 15 Milliarden bis 20 Mil- handel ermöglichen wollten? Was ist los gewesen, als liarden Euro ausmachen werden, gegenfinanzieren sol- wir die Handwerksordnung ändern wollten? Wie ist es len. Sie wissen ganz genau, dass die Steuerausfälle in denn um Ihre Liberalität bestellt, wenn es um eine Öff- der Übergangsphase noch wesentlich höher sein würden. nung im Bereich der Rechtsberatung geht, die bislang Auf der einen Seite fordern Sie hier immer mehr Geld den Anwälten vorbehalten ist? – Jedes Mal, wenn es für Bildung, mehr Geld für Forschung und die Einhal- konkret wird, betreiben Sie Klientelpolitik. tung der Maastricht-Kriterien und auf der anderen Seite (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen Sie Steuerausfälle produzieren. Das hat mit dem, und bei der SPD) was Sie ansonsten fordern, überhaupt nichts mehr zu tun. Sie suggerieren den Leuten nur: Vereinfachung. Es fällt Ich finde es gut – das sage ich ganz offen –, dass Sie aber doch kein Manna vom Himmel! Woher soll es kom- einen Steuergesetzentwurf vorgelegt haben. Wir werden men? Sie müssen doch Finanzierungswege aufzeigen! uns mit Ihrem Gesetzentwurf im weiteren parlamentari- „Maastricht“ ist für Sie anscheinend ein Fremdwort. Sie schen Verfahren auseinander setzen und sehen, welche stellen sich nicht dem, was notwendig ist. Sie entziehen Fragen noch offen sind und wo gemeinsame Möglich- sich völlig der Notwendigkeit der Gegenfinanzierung keiten liegen. Mich überrascht aber, dass Sie ein neues und glauben, dass die Leute darauf hereinfallen. Die Modell verfechten, das – davon haben Sie immer ge- Leute sind doch nicht blöd. Sie wissen doch ganz genau, sprochen – zu einem radikalen Subventionsabbau führen dass es nichts mehr zu verschenken und zu verteilen soll, obwohl Sie im letzten Jahr Anträge auf Erhalt der gibt, sondern dass wir versuchen müssen, eine vernünf- Eigenheimzulage und auf Anhebung der Subventionen tige Wirtschafts- und Finanzpolitik hinzubekommen. für Schifffahrtsbetriebe eingebracht haben. Das passt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirklich nicht zusammen, Herr Dr. Solms. Sie sollten sowie bei Abgeordneten der SPD) einmal darüber nachdenken, ob Sie nicht ein beträchtli- ches Glaubwürdigkeitsproblem haben. Ich glaube, Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und die dass Sie eines haben. Ausfälle, die den Kommunen entstehen – den Kommu- nen fehlen ja dann Einnahmen in Höhe von rund 20 Mil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liarden Euro –, über einen höheren Umsatzsteueranteil der sowie bei Abgeordneten der SPD) Kommunen und über eine Beteiligung der Kommunen am 8046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Christine Scheel (A) Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer steuerung im weitesten Sinne; der Minister hat es ange- (C) kompensieren. Damit schneiden Sie nur ein Stück aus sprochen. dem gesamten Steuerkuchen heraus und verteilen das Uns geht es darum, dass wir die Wirtschaft am Ende woandershin, sagen aber nicht, wie die Länder und der stärken. Wir wollen den Leuten nicht nur mit einer schö- Bund mit dem Einnahmeausfall in Höhe von 20 Milliar- nen Überschrift suggerieren, dass jetzt irgendwie etwas den Euro klarkommen sollen. ganz Tolles kommt, und am Ende ist der Schaden groß (Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Dr. Hermann und das Geflenne geht los. Das wollen wir nicht, sondern Otto Solms [FDP]: 15!) wir wollen eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpo- litik machen. Sie schichten einfach nur um. Das ist, finde ich, nicht in Ordnung. Das kann man so nicht machen, Herr (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das hätten Sie Dr. Solms. schon Jahre machen können! – Zuruf von der FDP: Wer regiert hier eigentlich?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir beteiligen uns an Vereinfachungsvorschlägen! Wir und bei der SPD) sind für Vereinfachung immer offen. Das können wir Herr Merz von der CDU ist da wenigstens ehrlich. Er auch gern gemeinsam machen, aber nicht so, wie Sie das sagt: Wenn uns irgendwo etwas fehlt, dann machen wir jetzt vorschlagen, nicht in dieser Form. eine Mehrwertsteuererhöhung. Danke schön. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Kündigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie die Mehrwertsteuererhöhung jetzt an? Ist und bei der SPD) das in der Koalition abgesprochen?) Sie ist auch bei Ihnen irgendwo im Hinterkopf. Alle Mo- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: delle, die vorgelegt worden sind, ob es nun Ihr Modell ist Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ oder ob es das Modell von Professor Kirchhof ist, bei CSU-Fraktion. dem in der Übergangsphase auch hohe Steuerausfälle (Beifall bei der CDU/CSU) entstehen, oder ob es der Prosatext von der Union ist – etwas anderes gibt es bislang ja nicht –, haben ein Pro- blem. Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorle- Hans Michelbach (CDU/CSU): gen, weil sie sich niemals auf einen Text einigen kann. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Es darf keinen Zweifel daran geben, dass eine (B) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Einstimmiger Steuerstrukturreform mit Vereinfachungen in Deutsch- (D) Parteitagsbeschluss!) land dringend notwendig ist, damit das Steuerrecht ein- facher und gerechter wird, damit Leistung wieder mehr Der Punkt ist: Die CDU/CSU kann keinen Gesetzent- belohnt wird, damit wieder mehr Investitionen möglich wurf vorlegen, nicht deshalb, weil es nicht möglich werden, damit unsere Betriebe wieder wettbewerbsfähi- wäre, sondern deshalb, weil sie sich nicht einigen kann. ger werden und damit letztlich unsere gesamte Volks- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirtschaft wieder zu ihrer alten Stärke zurückfindet. Es lohnt sich, für die Erfüllung dieser Aufgaben intensiv und bei der SPD) und konstruktiv zu arbeiten. Man muss fragen: Was ist denn nun mit der Finanzie- Für mich ist es aber Drückebergerei, wenn sich ein rung? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie in einer Zeit, Finanzminister einem Reformbedarf geradezu verwei- in der es – wir haben heute Morgen darüber debattiert – gert – wir haben es erlebt –, indem er selbst keinen Ge- mit der Wirtschaft mal wieder ein Stück aufwärts geht, setzentwurf vorlegt. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ordentlich!) NEN]: Das ist doch Geschichtsklitterung, was in der wir sagen können „Klasse, das Pflänzlein wächst; Sie da machen!) wir müssen es betreuen, damit es weiter wächst, was ja Herr Eichel, warum moderieren Sie nur? im Interesse aller Beteiligten richtig ist“, (Horst Schild [SPD]: Tragen Sie doch einmal (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Mit der Ausbil- das CSU-Modell vor!) dungsplatzabgabe beispielsweise!) Sie fabulieren über diskussionswürdige und kritikwür- Vorschläge machen, bei denen Sie Steuererhöhungen im dige Elemente. Ein Bundesfinanzminister hat doch – da- Hinterkopf haben. Das ist schädlich für die Konjunktur. rum geht es – einen Wählerauftrag; deswegen müsste er Das haben Sie uns immer vorgeworfen. Jetzt machen Sie in dieser Frage handeln. solche Vorschläge selbst. Das ist unsolide und für die Herr Eichel hat mit der Steuerquote argumentiert. Zukunft, wirtschaftspolitisch gesehen, nicht gut. Deswe- Daraus ersehen wir doch, dass es Handlungsbedarf gibt: gen werden wir uns mit Ihren Vorschlägen, Herr Dr. Solms, sehr genau auseinander setzen. Ich bin einmal (Joachim Poß [SPD]: Das müssen gerade Sie gespannt, wie Sie die Fragen beantworten werden, wenn sagen nach Ihrem Verhalten im Vermittlungs- es konkret wird. Da geht es auch um Unternehmensbe- ausschuss! Das ist unglaublich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8047

Hans Michelbach (A) Ein gerechtes und einfaches Steuersystem muss eine Herr Clement kündigt stärkere Förderungen des Wirt- (C) breite Bemessungsgrundlage haben, damit keine Sonder- schaftsstandortes an. Gleichzeitig will Herr Eichel eine tatbestände entstehen. Zu sagen: „Wir haben eine nied- – leistungshemmende – Substanzbesteuerung in das rige Steuerquote; Schluss, aus, Ende!“, das ist doch völ- Steuerrecht einfügen, zum Beispiel durch die Revitali- lig falsch und widersprüchlich. sierung der Gewerbesteuer. Gott sei Dank haben wir das verhindert. Das wäre nämlich ein Kahlschlag für den Das Steuerrecht umfasst mittlerweile mehr als Wirtschaftsstandort. 100 originäre Steuergesetze. Daneben gibt es eine nicht bezifferbare Anzahl von Gesetzen, die neben ihrem au- (Beifall bei der CDU/CSU) ßersteuerlichen Inhalt steuerliche Vorschriften enthalten. Ich erinnere auch an das – dieser im Vermittlungsver- Hinzu kommen 96 000 Verwaltungsvorschriften und al- fahren erzielte Kompromiss ist eigentlich eine Zumu- lein 5 000 BMF-Schreiben zur näheren Auslegung die- tung –, was mit der Gesellschafterfremdfinanzierung ser Gesetze. passiert ist: Zinsen sind als Kosten der Betriebe nicht (Horst Schild [SPD]: Das machen Sie jetzt auf mehr abzugsfähig. Das kostet Arbeitsplätze. Ihre Steuer- einem Bierdeckel!) politik, meine Damen und Herren, ist in sich wider- sprüchlich; das kann in der Zukunft nicht mehr so blei- Das Einkommensteuergesetz umfasst gegenwärtig nicht ben, weil wir alle die Zeche dafür bezahlen. weniger als 182 Paragraphen. Es gibt immer wieder neue (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rekorde: Das Altersvermögensgesetz, Stichwort Riester- Dr. Hermann Otto Solms [FDP]) Rente, hat einen Zuwachs von 21 Paragraphen im Ein- kommensteuerrecht mit sich gebracht. Daran sieht man: Ehe Herr Eichel jetzt sofort wieder auf die Vertei- In dieser Form kann es nicht weitergehen; es muss zu ei- lungswirkungen abhebt, muss man deutlich machen, ner konstruktiven, neuen Steuerstrukturreform kommen, dass eine radikale Steuerreform natürlich letzten Endes und zwar möglichst schnell, weil unsere Betriebe und un- eine Nettoentlastung für alle Bürgerinnen und Bürger sere Arbeitsplätze – letzten Endes wir alle – aufgrund von mit sich bringen muss. Wer sofort wieder eine Neidkam- Wachstumseinbrüchen, aufgrund einer geringeren volks- pagne bezüglich der Lage von Arbeitnehmern und Ar- wirtschaftlichen Dynamik und wegen der fehlenden Re- beitgebern anfängt, wird das deutsche Steuerrecht nie formfähigkeit Schaden erleiden. entrümpeln können. Er wird nämlich immer auf der je- weils falschen Seite stehen. Der Grundsatz muss viel- Der Kollege Merz von der CDU, Herr Professor mehr lauten: Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft. Hier- Faltlhauser von der CSU und Professor Kirchhof haben für brauchen wir eine Nettoentlastung für alle, die gut vergleichbare Steuerkonzepte vorgelegt. Mittler- (B) einfach nur über eine Steuerstrukturreform erreicht wer- (D) weile hat auch die FDP einen entsprechenden Gesetzent- den kann. Immer wieder Neid in der Gesellschaft schü- wurf eingebracht. Nur die Bundesregierung, die in dieser ren ist der völlig falsche Weg. Angelegenheit eigentlich federführend sein sollte, hat nichts vorgelegt. Dazu kann man nur sagen: Standortver- (Beifall bei der CDU/CSU) besserung – Fehlanzeige! Das macht die Reform- Es braucht einen entschlossenen Reformkurs. Die Re- unfähigkeit von Rot-Grün deutlich. Nach den bisheri- formunfähigkeit ist der Dieb unserer Zukunft. Wer nur gen Reden von Herrn Eichel gilt anscheinend wieder das auf einen Aufschwung von außen wartet, kommt unver- alte Motto: Umverteilen, bremsen und blockieren. Darin sehens ins Abseits, insbesondere dann, wenn sich auf- hat man sich in der Vergangenheit geübt. grund der EU-Osterweiterung der Wettbewerb in unse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rem Land verschärfen wird. neten der FDP) Es ist natürlich ein Unding, wenn der Staat heute von der Summe aller Bruttoeinkommen, die in Deutschland Wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist, kann verdient werden, bereits mehr als die Hälfte, nämlich ge- man natürlich keine Reformfähigkeit beweisen. Reform- nau 57 Prozent, für seine Zwecke absorbiert. Ich hebe unfähigkeit ist genau das, was unser Land nicht braucht. hierbei natürlich auf die Gesamtbelastung ab; es ist nicht Nirgendwo wird der Reformwirrwarr der Koalition nur die Steuerquote zu betrachten. In Bezug auf die sichtbarer als in der Steuerpolitik. Ich möchte einmal ei- Gesamtbelastung liegen wir auf dem letzten Platz in nige Beispiele aufzeigen. der Europäischen Union. Der Bundeskanzler verspricht großspurig mehr Inno- (Hans Eichel, Bundesminister: Unsinn! – vationen, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn du noch Gleichzeitig will Herr Müntefering aber eine Ausbil- einmal rufst, kriegst du eine Rüge!) dungsabgabe, eine Erbschaftsteuererhöhung und die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Das ist die Wahrheit. Darin liegt letzten Endes auch ein Grund, warum nicht mehr Arbeitsplätze entstehen. (Joachim Poß [SPD]: Wo steht das? Sie haben sicherlich die Quelle!) Lassen Sie mich auf die Steuerreformkonzepte von CDU/CSU und FDP eingehen. Man könnte jetzt ein ech- Das passt nicht zusammen. Das ist Wachstums- und In- tes Benchmarking bezüglich der Effekte auf Wachstum novationsvernichtung. Herr Poß, vielleicht kommt Ihnen und Beschäftigung machen. Ein Wettbewerb um die bes- ein solcher Linksruck entgegen. sere Reform des Steuerrechtes ist ein Hoffnungsträger 8048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hans Michelbach (A) für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zwischen träge – in regelmäßigen Abständen der Preisentwick- (C) CDU und CSU wird es im März zu einer Einigung kom- lung angepasst werden. Wir haben das Problem, dass es men. Dann wird ein klares Konzept vorgelegt werden, Freibeträge gibt, die 20 Jahre oder länger nicht mehr an- gepasst wurden. Das ist Betrug am Steuerzahler. (Joachim Poß [SPD]: Welches Konzept denn? – Jörg-Otto Spiller [SPD]: Geheimkonzept!) (Joachim Poß [SPD]: Welche Betrüger das viele Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der waren das denn?) FDP aufweist. Wir werden dann sehen, was die Bundes- Bei den Freibeträgen, die vor 20 Jahren entstanden sind, regierung und die Koalitionsfraktionen dazu sagen wer- muss berücksichtigt werden, dass sich im Laufe der Zeit den. einiges verändert hat. Allein das ist ein Argument für Die zielführenden Gemeinsamkeiten lauten: radikale eine neue Steuerreform. Vereinfachung und Senkung der Steuersätze, völlige Auch bei den Einkunftsarten haben wir eine Ge- Neufassung des Einkommensteuergesetzes, grundsätzli- meinsamkeit. Eine Abkehr von der steuerlichen Tren- che Orientierung am Prinzip der Besteuerung nach der nung in sieben Einkunftsarten ist zu begrüßen. Denn die Leistungsfähigkeit, lückenlose Erfassung und Besteue- Unterscheidung zwischen Einkünften aus Gewerbe- rung des Markteinkommens und Erhaltung des Netto- betrieb, Land- und Forstwirtschaft und freiberuflicher prinzips, Berücksichtigung des Familienstandes, rechts- Tätigkeit ist nur historisch bedingt und führt zu einer un- formneutrale Unternehmensbesteuerung, einheitliche nötigen Verkomplizierung. Hier liegt ein echter Verein- Besteuerung der Kapitaleinkünfte fachungsgewinn. (Beifall des Abg. Lothar Binding Ebenso haben wir Gemeinsamkeiten bei der Verlust- [Heidelberg] [SPD]) rechnung, den steuerfreien Einnahmen, den Veräuße- und – was auch wichtig ist – Abschaffung der Gewerbe- rungsgewinnen, der Besteuerung von Vorsorgeaufwen- steuer. Das sind eindeutige Gemeinsamkeiten, die auf- dungen und den Kapitaleinkünften. Es ist notwendig, zeigen, von welcher Seite verlässliche Reformen für die dass wir den Kommunen durch den Wegfall der Gewer- Steuerpolitik in Deutschland kommen: CDU/CSU und besteuer und eine Beteiligung an der Körperschaft-, Ein- FDP. Das muss hier deutlich gesagt werden, meine Da- kommen- und Umsatzsteuer eine neue Chance eröffnen. men und Herren. Auch bei der Erbschaftsteuer müssen wir einen Weg fin- den. Die Erbschaftsteuer gehört mit in ein zielführendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Reformpaket, weil wir unsere Betriebe erhalten müssen; neten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Das glau- wir dürfen sie nicht immer mehr besteuern und dadurch ben Sie doch selbst nicht!) (B) vernichten. (D) Natürlich gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen: So ist ein Kompromiss zwischen Verfechtern des Darum geht es, meine Damen und Herren. Dagegen Stufentarifs und Verfechtern des linear-progressiven ist alles, was vom Bundesfinanzminister hier gesagt Tarifs nötig. Dass das BMF Schwierigkeiten mit dem wurde, nur ein alter Ladenhüter, den unsere Bürger nicht linear-progressiven Tarif hat, wird schon an dessen Inter- mehr sehen wollen. Sie können es einfach nicht; deshalb netseite deutlich. Hier steht kein funktionierendes Re- geben Sie den Wählerauftrag zurück! Deutschland chenmodul zur Verfügung, mit dem die Leute ausrech- braucht eine neue Steuerpolitik, damit es aufwärts geht. nen könnten, was ihnen letztendlich abgenommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vor diesem Hintergrund bietet sich der Stufentarif an, der wesentlich einfacher und leichter zu kommunizieren ist. Die CDU/CSU wird in dieser Frage auch Kompro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: missfähigkeit zeigen. Die Steuerschuld ist dann zwar auf Der Kollege Pinkwart hat sich bei der Rede der Kolle- einem Bierdeckel auszurechnen, aber für die Steuer- gin Scheel zu einer Kurzintervention gemeldet. Ich habe erklärung wird schon eine Seite nötig sein; das hat der das übersehen. Herr Kollege Pinkwart, ich gebe Ihnen Kollege Solms ja hier auch dargestellt. jetzt das Wort. Mir ist es noch wichtig darzustellen, dass neben der Tariffrage auch die Frage der so genannten kalten Pro- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): gression in der Diskussion eine Rolle spielen muss. Wir Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Scheel, es ist müssen auch über einen „Tarif auf Rädern“ zur Bekämp- eigentlich sehr bedauerlich, dass Sie sich als Vorsitzende fung der so genannten kalten Progression diskutieren. des Finanzausschusses vergleichsweise unsachlich Durch eine regelmäßige Anpassung der Einkommens- – wenn ich das als Mitglied des Finanzausschusses so grenzen müssen wir letzten Endes der allgemeinen Preis- sagen darf – zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geäu- entwicklung Rechnung tragen. ßert haben. Sie haben meine Fraktion in drei Punkten sehr massiv angesprochen und dazu möchte ich hier Das gilt auch für das Existenzminimum. Der persönli- Stellung nehmen. che Grundfreibetrag von circa 8 000 Euro ist insbeson- dere vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorga- Erstens haben Sie von der Blockade von Steuerre- ben richtig und notwendig. Zum Ausgleich der so formen gesprochen. Ich möchte Sie noch einmal aus- genannten kalten Progression sollte aber auch der drücklich darauf hinweisen, dass Sie es mit Ihren von Grundfreibetrag – ebenso wie alle anderen Freibe- Rot-Grün geführten Landesregierungen waren, die unter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8049

Dr. Andreas Pinkwart (A) Federführung von Herrn Lafontaine 1997 eine der Warum tun Sie nicht das, was Sie hier von anderen ein- (C) grundlegenden Steuerreformen verhindert haben, fordern? (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Joachim Poß [SPD]: Er hat eine vorbereitete NEN]: Das war vor sechs Jahren!) Rede als Kurzintervention!) die schon jetzt einen Tarif von 15 bis 39 Prozent ge- Frau Scheel, Sie haben drittens die Klientelpolitik bracht hätte. Dafür tragen Sie Mitverantwortung. angesprochen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Sie haben eine Zeile ausgelassen!) Sie haben das Land Rheinland-Pfalz angesprochen. Das Land Rheinland-Pfalz war es, das die Steuerreform, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Sie mit eingebracht haben, dank der FDP im Bundes- Herr Kollege, Sie haben nur drei Minuten Redezeit. rat möglich gemacht hat, was zeigt, dass gerade die FDP jedem vernünftigen Versuch, in Sachen Steuervereinfa- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): chung, Steuerklarheit und niedrigere Steuern in Deutsch- Das ist meine letzte Bemerkung. – Sie haben in die- land weiterzukommen, den Weg ebnet, egal von welcher sem Zusammenhang das Land Rheinland-Pfalz genannt. Fraktion, von welcher Partei Vorschläge kommen. Wich- Ich bitte Sie herzlich, doch einmal mit Ihrer Kollegin aus tig ist, dass das Ziel stimmt. Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, zu sprechen. Dort Die FDP hat – das möchte ich hier ausdrücklich beto- könnte man viele Klientelprogramme der Grünen kür- nen – auch im Vermittlungsverfahren im Dezember letz- zen. Stattdessen wird dort eine weitere Steuer, die Was- ten Jahres dazu beigetragen, sersteuer, eingeführt, um Klientelprogramme am Lau- fen zu halten. (Joachim Poß [SPD]: Hätten Sie doch eine (Beifall bei der FDP) Rede gehalten! Warum hat der Solms Ihnen keine Redezeit gegeben?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass es zu vernünftigen Ergebnissen gekommen ist. Frau Kollegin Scheel, bitte. Auch das hätte von Ihnen hier angesprochen werden müssen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Übrigen haben Sie deutlich gemacht, dass wir in Herr Professor Pinkwart, die Blockade, von der ich Anbetracht der konjunkturellen Rahmenbedingungen gesprochen habe, hat sich auf ganz konkrete Sachver- (B) keine Steuererhöhungen brauchen, vor allen Dingen im halte hinsichtlich des Vermittlungsverfahrens im Dezem- (D) Unternehmenssektor nicht. Deswegen war es so wichtig, ber bezogen. Der Gesetzentwurf von Rot-Grün, den wir dass es im Vermittlungsverfahren gelungen ist, die von im Deutschen Bundestag verabschiedet hatten, fand im Ihnen, Frau Scheel, maßgeblich mitzuverantwortende Bundesrat keine Zustimmung. Deshalb haben wir im Erhöhung der Gewerbesteuer für die mittelständische Vermittlungsverfahren mühsam versucht, die Subven- Wirtschaft abzulehnen. tionen, die wir vorher teilweise zu 100 Prozent streichen wollten, wenigstens um 50 Prozent zu streichen. Aber Sie haben in einem zweiten Punkt über die Steinkoh- auch das war Ihnen schon zu viel. Genau das ist das Pro- lesubventionen gesprochen. Es ist tatsächlich richtig: blem gewesen. Dank des Handelns der FDP zu ihrer Regierungszeit ist Sie sprechen immer die Petersberger Beschlüsse an. es möglich geworden, dass die Steinkohlesubventionen Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Beschlüsse ei- jetzt einen degressiven Verlauf nehmen. nen Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einen Spit- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zensteuersatz von 39 Prozent vorsahen. Unser Gesetz NEN]: Wer hat sie aufgebaut?) sieht einen Steuertarif – er tritt nächstes Jahr in Kraft; wenn es nach uns gegangen wäre, dann gäbe es diesen Das ist, wie gesagt, erst durch uns möglich geworden. Tarif schon dieses Jahr, aber das haben Sie nicht mitge- tragen – mit einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent (Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜND- und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich sehr witzig!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sieben Jahre verloren!) Es war Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender , der mit Herrn Lafontaine die Demonstrationen Ich frage Sie: Ist es wirklich so tragisch, einen Spitzen- in angeführt hat und gegen einen Abbau der Stein- steuersatz von 42 Prozent ab einem Einkommen von kohlesubventionen zu Felde gezogen ist. rund 52 000 Euro zu haben? Wäre es für die Wirtschaft wirklich besser, wenn der Spitzensteuersatz in der von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihnen vorgeschlagenen Höhe schon ab einem Einkom- men von 40 000 Euro greifen würde? Ich glaube, das, Frau Scheel, jetzt hat Ihre Fraktion die einmalige his- was wir vorgeschlagen haben, ist im Hinblick auf die torische Chance, dazu beizutragen, dass die Steinkohle- Leistungsfähigkeit auf alle Fälle der bessere Weg. subventionen nicht noch weiter verlängert werden. Das könnten Sie im Deutschen Bundestag und ebenfalls in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nordrhein-Westfalen, wo Sie mitregieren, durchsetzen. und bei der SPD) 8050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Christine Scheel (A) Zweiter Punkt. Wenn das, was Sie da machen, so gut ten haben. Wir haben in der Opposition Druck gemacht, (C) ist – Sie haben Ihre Regierungsbeteiligungen, auch die in dass das steuerfreie Existenzminimum angehoben wird. Rheinland-Pfalz, angesprochen –, dann muss ich fragen: Warum reicht das Land Rheinland-Pfalz den Gesetzent- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Blockiert ha- wurf der FDP eigentlich nicht im Bundesrat ein? Wa- ben Sie den Petersberg-Entwurf!) rum reicht Baden-Württemberg den Gesetzentwurf der – Hören Sie zu! Sie können nicht durch Schreien die FDP nicht im Bundesrat ein? Sie tun es nicht, weil diese Fakten übertünchen. – Zu Ihrer Regierungszeit hatten Länder wissen, dass die Finanzierung nicht steht, und wir einen Grundfreibetrag unter 13 000 DM. Wir haben weil sie wissen, welche finanziellen Probleme auf sie zu- jetzt einen Grundfreibetrag von 7 664 Euro. Das ist die kommen. Was Sie hier über die Zustimmung zu Ihrem Wirklichkeit; das ist die Wahrheit. Gesetz sagen, ist Prosa. Schauen Sie zu, dass Ihre Lan- desregierungen im Bundesrat eine Mehrheit für Ihren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gesetzentwurf bekommen! Ich kenne allerdings kein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einziges Bundesland, das den Gesetzentwurf der FDP Sie haben ebenso wie die FDP getäuscht. Das hat die unterstützt. FDP, haben dieser famose Herr Solms und diejenigen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die jetzt das große Wort führen – Herr Pinkwart war zu sowie bei Abgeordneten der SPD) dieser Zeit noch nicht im Bundestag –, genauso mit zu vertreten. Dritter Punkt. Ich möchte kurz noch etwas zur Stein- Sie wollen jetzt folgende Arbeitsteilung: Sie zeigen kohle sagen. Es ist schon toll, Herr Professor Pinkwart: der Bevölkerung die schönen neuen Steuertarife und die Erst schrauben Sie die Subventionen auf ein hohes Ni- politische Schwerstarbeit der Finanzierung soll die veau und dann sind Sie auf einen Vertrag stolz, mit dem Koalition machen. Auf diese Arbeitsteilung lassen wir sie ein bisschen abgebaut werden. uns nun wahrlich nicht ein; das haben wir nicht nötig. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten damals gekürzt!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wer die Subventionen hochgeschraubt hat – ich habe Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Oberunfug schon gesagt: Sie haben 29 Jahre mitregiert –, war die ist das! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wenn Sie FDP. Ich muss sagen, dass es nicht besonders mutig ist, Ihre Arbeit wenigstens machen würden, dann eine Subvention, die man hochgeschraubt hat, ein Stück wäre es nicht so schlimm!) zurückzufahren. Wir haben eine Erfolgsstory vorzuweisen. Wir entlas- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten die Bürgerinnen und Bürger um 60 Milliarden Euro. und bei der SPD) Das steuerfreie Existenzminimum habe ich ja schon erwähnt. Zudem haben wir im nächsten Jahr einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Zu Ihrer Verant- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wortungszeit betrug er 25,9 Prozent. Sie haben die Bür- Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD- gerinnen und Bürger leistungsfeindlich hoch besteuert. Fraktion. Wir haben das Umgekehrte gemacht. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Petersberg!) Joachim Poß (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Bei uns lohnt sich Leistung wieder. Das ist die Wahrheit sollten jetzt von der Propaganda wieder in die Wirklich- und nichts anderes. keit dieses Landes eintauchen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das muss gerade des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans der Poß sagen!) Michelbach [CDU/CSU]: Durch Blockade ha- ben Sie das gemacht! Blockade von Peters- und sollten nicht versuchen, die Bürgerinnen und Bürger berg!) systematisch zu täuschen, wie das in den Beiträgen der Opposition geschehen ist. – Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Sie machen Propaganda. Wenn ich manchmal sehe, wie Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Westerwelle im Fernsehen über die Steuerpolitik redet, DIE GRÜNEN) dann kommt es mir vor, als spräche ein Blinder über Herr Michelbach, wenn Sie von Betrügereien am Farbe. Es ist erschreckend, auf welchem Niveau sich die Steuerbürger sprechen, dann müssen Sie auch erwähnen, politische Auseinandersetzung abspielt. dass zu Ihrer Regierungszeit das Verfassungsgericht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mehrfach geurteilt hat, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben Wir haben zudem den Spitzensteuersatz von 53 auf Petersberg blockiert!) 42 Prozent heruntergebracht. dass Sie den Steuerbürgern, den Erwachsenen und den Es gab in diesem Zusammenhang im letzten Dezem- Kindern, das steuerfreie Existenzminimum vorenthal- ber ein Vermittlungsverfahren. Einige von Ihnen hier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8051

Joachim Poß (A) waren Zeugen, zum Beispiel Herr Michelbach und Herr tung“ alle Parteien aufgefordert hat, sich dem Entwurf (C) Meister, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein kann. eines Gesetzes für ein vereinfachtes Steuerrecht der Wer hat beim Abbau von Steuersubventionen ge- Freien Demokraten anzuschließen? bremst? Die CDU und die CSU noch schlimmer. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Michelbach, ich verstehe gar nicht, dass Sie jetzt DIE GRÜNEN: Oh!) dem Herrn Stoiber so in den Rücken fallen, indem Sie das FDP-Konzept bzw. die CDU-Vorstellungen loben. – Es ist übrigens spannend, dass Sie nach der Agenda- Herr Stoiber und Herr Faltlhauser haben deutlich ge- 2010-Diskussion schon bei dem Wort „Deutscher Indus- macht, was sie davon halten. Herr Faltlhauser hat schrift- trie- und Handelskammertag“ so reagieren. Sehr bemer- lich gefordert: Weg mit dem Stufentarif! Er hat einen le- kenswert! senswerten Artikel darüber verfasst. Herr Faltlhauser hat (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) gesagt, dass diese Vorstellungen nicht mit einem sozia- len Rechtsstaat vereinbar seien und dass die Besteuerung Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der nach der wirtschaftlichen Leistungskraft ausgehöhlt Präsident einer der am höchsten angesehenen Institutio- werde. Warum sagen Sie das nicht im Namen der CSU nen, die wir in Deutschland in der Wirtschaftspolitik ha- im Deutschen Bundestag? Das wäre doch erwähnens- ben, erklärt hat, endlich einmal lege eine Partei einen wert gewesen. Entwurf vor, der ein einfaches und verständliches Steu- errecht wolle? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Joachim Poß (SPD): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Westerwelle, sind Sie denn bereit, dem Publikum hier zu sagen, dass dieser Präsident FDP-Mit- Herr Kollege Poß, ich will Ihnen einmal die Gelegen- glied ist, und halten Sie angesichts dieses Umstandes heit geben, Luft zu holen. Der Herr Kollege Westerwelle diese Aussage für verwunderlich? möchte eine Zwischenfrage stellen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Joachim Poß (SPD): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber gerne. Das war typisch für Sie, was die Ernsthaftigkeit Ihrer Beiträge hier in diesem Parlament angeht. Mehr braucht Dr. Guido Westerwelle (FDP): man dazu nicht zu sagen. Herr Kollege, zunächst einmal meinen kollegialen (B) (D) Respekt dafür, dass Sie fünf Minuten sprechen können, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ohne einmal einzuatmen. Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- frage des Kollegen Westerwelle? Joachim Poß (SPD): Langes Training. Joachim Poß (SPD): Ja, natürlich. Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das sollte über die Parteigrenzen hinweg hohe Aner- kennung genießen. Dr. Guido Westerwelle (FDP): Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der viele vernünftige Leute in Deutschland FDP-Mitglied FDP und der CDU/CSU) sind? Da Sie augenscheinlich, wie Sie in Ihrer Rede zum (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) Ausdruck bringen, meine Fernsehauftritte genauestens verfolgen – Joachim Poß (SPD): Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Westerwelle, das ist eine Überzeugung, Gelegentlich. die Sie Gott sei Dank mit nicht so vielen Menschen in dieser Republik teilen. Dr. Guido Westerwelle (FDP): (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der – das unterstütze ich – SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Wir (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der haben so viele Mitglieder, wie ihr letztes Jahr FDP und der CDU/CSU) verloren habt!) und da Sie, wie Sie es gerade getan haben, das Niveau – Wir wissen ja auch um unsere Schwierigkeiten und unserer steuerpolitischen Beiträge bestreiten, möchte ich wollen nichts schönreden, Herr Kollege Solms. Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass immerhin der Präsi- dent des Deutschen Industrie- und Handelskammer- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das gibt die Sache tages am heutigen Tage in der „Neuen Osnabrücker Zei- auch nicht her, dass man da schönredet!) 8052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Joachim Poß (A) Aber wir wollen doch einmal zu den Fakten kommen. Modell oder dem CSU-Modell übrig geblieben sein (C) Wenn der Kollege Meister sagt, wir hätten verhindert, wird. Wir sind gespannt, ja, richtig närrisch auf diesen dass die Kommunen weiter entlastet werden, dann war 7. März. Vor allem interessiert uns, wie aussagefähig die dies eine glatte Lüge. Alle, die im Vermittlungsaus- CDU/CSU an diesem Tage sein wird. schuss dabei waren, wissen, dass Sie unseren Gewerbe- steuerentwurf unterminiert haben. Wäre es nach uns ge- Ich sage es schon an dieser Stelle ganz deutlich und gangen, wäre die Gewerbesteuer weiter gefestigt ganz ruhig: Für eine unsoziale Steuerumverteilung sind worden. Die Kollegin Scheel hat Ihnen zu Recht vorge- Sozialdemokraten nicht zu haben. Dies ändert sich auch worfen, dass Sie überhaupt keine Antwort für die Kom- nicht. munen haben. Sie machen kommunalfeindliche Politik, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP. DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Das ist ja immer die gleiche Neidkam- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ pagne!) CSU]: Das ist doch Unsinn!) Wer nach einem einfachen und durchschaubaren Ein- – Das ist die Wahrheit. kommensteuerrecht ruft, dem werden wir immer wieder zwei Fragen vorhalten: Wer soll das bezahlen? Wie se- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wer hat denn die hen die Umverteilungswirkungen aus? Zu diesen Fragen Kommunen belastet? Wer war das denn? besteht auch Grund und Anlass. Wenn sich die Vertreter Quatsch!) dieser Besteuerungsmodelle dann auch einmal zu der Fi- Jetzt habe ich einige Klarstellungen vorgenommen, nanzierung äußern, dann erst wird deutlich, wie sie sich was hier Realität und was Propaganda ist. Ich hoffe, dass ihr Gesamtkonzept wirklich vorstellen: Finanzierung dies auch einmal beachtet wird. Allerdings muss man Ih- über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer – Herr Merz ist nen zugestehen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger in den letzten Tagen diesbezüglich erfrischend offen ge- mit beträchtlichem Geschick hinter die Fichte führen. wesen – oder über eine höhere Staatsverschuldung. Das ist die Konsequenz, die aber den Steuerbürgerinnen und Nun komme ich zum Gesetzentwurf der FDP. Dazu -bürgern auch gesagt werden muss. sagte der bayerische Ministerpräsident am 2. Februar wörtlich: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Er) besteht nur aus Grundsätzen, damit kann die Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage Steuerverwaltung nicht arbeiten. des Kollegen Kalb? (B) Herr Michelbach, warum haben Sie hier nicht vorgetra- (D) gen, was er zu dieser Gesetzesvorlage gesagt hat? Herr Joachim Poß (SPD): Stoiber hat Recht; denn eine radikale Steuervereinfa- Ja, gerne. chung ist viel komplizierter, als viele Steuervereinfa- chungsfanatiker uns glauben machen wollen. Sie haben Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): einen interessanten Paragraphen in Ihrem Entwurf. Ich Herr Kollege Dr. Poß – – zitiere einmal § 4:

Anrufungsauskunft Joachim Poß (SPD): Das zuständige Finanzamt … hat auf Anfrage eines Ich bin kein Doktor, aber es schmeichelt mir, dass Sie Steuerbürgers darüber Auskunft zu geben, wie in mich so ansprechen. seinem Fall die Vorschriften dieses Gesetzes anzu- wenden sind. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): So viel zur Klarheit Ihres Gesetzentwurfes und zur Qua- Herr Kollege Poß, würden Sie mir bestätigen, dass lität Ihrer Arbeit. meine Erinnerung nicht trügt, dass Sie nach der Vorstel- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem lung des CSU-Konzeptes sinngemäß gesagt haben, die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ses Konzept sei zumindest eine vernünftige Gesprächs- grundlage? Den Maßstab, den Herr Stoiber an das FDP-Konzept gelegt hat, sollte man nicht nur an diesen Entwurf – hier gebe ich Herrn Westerwelle Recht –, sondern auch an Joachim Poß (SPD): andere Reformkonzepte legen, die unter der Überschrift Ich habe dazu gesagt, dass von den vorhandenen Kon- „Einfaches und überschaubares Steuersystem“ derzeit zepten das CSU-Konzept sicherlich dasjenige sei, auf diskutiert werden. Das Steuerrecht zu vereinfachen ist dessen Grundlage man noch am ehesten miteinander re- das angebliche Ziel aller Entwürfe, die unter dieser den könnte. Daran habe ich keine Abstriche zu machen; Überschrift kreisen. Das wirkliche, verschleierte Ziel all dies habe ich vorhin auch so ähnlich zum Ausdruck ge- dieser Konzepte ist jedoch eine Umverteilung der Steu- bracht. Ich habe nur festgestellt, dass Herr Michelbach erlast von oben nach unten. Dazu hat Herr Eichel Ihnen die CSU-Vorstellungen hier in seiner Rede verschwiegen eben ein Beispiel geliefert. Mit gewissen Abstrichen gilt (Zuruf von der SPD: Verschleiert!) dies selbst für das bekannte CSU-Modell. Aber wir wer- den einmal sehen, was nach dem 7. März von dem CDU- oder verschleiert hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8053

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ volkswirtschaftliche Steuerquote – der Herr Minister hat (C) DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/ gesagt: 20,7 oder 20,9 Prozent – ist nicht unser Problem. CSU]: Würden Sie bestätigen, dass der Kol- Wir haben andere Schwächen. lege Michelbach nicht Sprecher der bayeri- schen Staatskanzlei ist?) (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Genügend! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: – Auch dies kann ich Ihnen bestätigen. Aber gerade bei Das Schlimmste an dieser Bundesregierung ist einer so straff geführten Kaderpartei wie der CSU erwar- ihre Schwäche!) tet man doch eine Sprachregelung, die dazu führt, dass sich Herr Michelbach dem anschließt, was Herr Stoiber Darauf sollten wir uns konzentrieren. Die Steuerfrage ist sagt. angesichts der historisch niedrigen Steuerquote in Deutschland überhaupt nicht relevant, wenn es um mehr (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Wachstum und Beschäftigung geht. Herr Michelbach, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Elke Wülfing zusätzliche Steuerentlastungen würden bedeuten, dass [CDU/CSU]: Das muss die SPD gerade sa- wichtige öffentliche Mittel für mehr Innovation und gen!) Wachstum fehlen würden. Die Grundfragen sind also: Wer soll das bezahlen? (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird auch durch Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Solange die Wiederholung nicht richtiger!) Sie diese Fragen nicht beantworten, täuschen Sie die Bürgerinnen und Bürger. Wir machen diese Täuschung – Das muss sich einmal setzen. nicht mit, meine Damen und Herren. (Zuruf von der CDU/CSU: Setzen! Sechs!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ihr macht nicht Auch die Zahlen müssen sich setzen. Das FDP- nur nicht mit, ihr macht überhaupt nichts!) Konzept kommt im ersten Jahr auf Steuerminder- Die Einkommensteuer ist das Instrument, mit dem einnahmen von 20,3 Milliarden Euro, im Jahr der vol- wirtschaftliche Leistungsfähigkeit am besten erfasst len Wirksamkeit sogar auf fast 30 Milliarden Euro. Al- werden kann. Nach diesem Prinzip der Leistungsfähig- lein diese Zahlen verdeutlichen: Hier sind Fantasten am keit muss auch Umverteilung erfolgen. Mit den von uns Werk, die den Bürgern eine Welt vorgaukeln wollen, die bislang beschlossenen Steuersenkungen ist der Spiel- mit der finanzpolitischen Wirklichkeit nichts zu tun hat. raum des finanziell Machbaren ausgeschöpft. Was wir an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ finanziellem Spielraum noch haben, müssen wir einset- DIE GRÜNEN – Dr. Hermann Otto Solms zen, um die wirklichen Schwächen des Standortes zu be- [FDP]: Wer hat denn das gerechnet?) (B) kämpfen. Wir haben Innovationsschwächen; um sie zu (D) beseitigen, brauchen Bund und Länder Geld. Dafür müs- Frau Merkel hat den CDU-Parteitag mit dem hochge- sen wir das Geld ausgeben. Das ist die Alternative, die jubelten Drei- oder Vierstufentarif getäuscht. Das sind wir deutlich machen wollen. Tarife ohne Substanz. Tarife aufs Papier zu malen fällt uns allen nicht schwer. Das verlangt keine große Kreati- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vität. Aber das gegenzufinanzieren ist in der Tat die DIE GRÜNEN) Schwierigkeit. Zur Gerechtigkeitsfrage. Natürlich schmerzen die SPD die Umfragezahlen und die Debatte, die wir aushal- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten müssen. Das ist doch gar keine Frage. Aber, Herr Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage Michelbach, wir haben durchgesetzt, dass Einkom- des Kollegen Solms? mensmillionäre wieder Einkommensteuer zahlen. In der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung in den 90er-Jahren – da haben wir einschlägige Zahlen – war das kaum noch Joachim Poß (SPD): der Fall. Sie hatten solche Gestaltungsmodelle, dass sie Ja, natürlich. sich der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leis- tungsfähigkeit entziehen konnten. Wir haben in den letz- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): ten Jahren wesentlich mehr Steuergerechtigkeit durchge- Herr Kollege Poß, mich würde interessieren, wie Sie setzt. Das gilt für die Grünen und für die SPD. Darauf auf solche Zahlen kommen. Es gibt bis jetzt keine sind wir stolz. abschließenden Berechnungen. Der Herr Bundesfinanz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ minister hat mir gerade selber gesagt, dass das Bundes- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ finanzministerium in Zusammenarbeit mit den Landesfi- CSU]: Alle geflüchtet!) nanzministerien dabei ist, die verschiedenen Vorschläge zu berechnen. Steuerliche Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der Finanzierbarkeit von Konzepten sind zwingende (Hans Eichel, Bundesminister: 20 Milliarden Leitlinien jeder Steuerreform. Daran muss sich jedes Euro!) Modell messen lassen. – Er hat „20 Milliarden Euro“ gesagt; Sie redeten eben Es ist zudem irrational, im Zentrum der wirtschafts- von 30 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Unter- politischen Diskussion eine Steuerdebatte zu führen. Die schied. 8054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Joachim Poß (SPD): Alle so genannten Einfachsteuermodelle, auch das (C) Ja, im Jahr der vollen Wirksamkeit. der FDP, sind sozial ungerecht. Ihr eindeutiges Ziel ist die Senkung der Steuerlast von Spitzenverdienern. Der Spitzensteuersatz würde dann auch für Normalverdiener Dr. Hermann Otto Solms (FDP): mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro gelten, so- Ich habe die Information, dass das bayerische Finanz- wohl für Arbeitnehmer als auch für Manager. Dazu sagt ministerium bei dem FDP-Entwurf auf 14,5 Milliarden die CSU: Wir wollen den Trend brechen, dass schon Euro gekommen sei. Auch das kann ich nicht bestätigen. Bürger, die nur etwas mehr als der Durchschnitt verdie- Wir haben selbst gesagt: Die Entlastung wird etwa zwi- nen, mit dem höchsten Steuersatz belastet werden; denn schen 15 und 20 Milliarden Euro liegen. Es gibt über- das ist leistungsfeindlich. In diesem Punkt hat die CSU haupt keinen Grund dafür, dass Sie jetzt die Beträge in Recht. Aber setzen Sie Ihre Vorstellungen bitte auch um! die Höhe treiben. Wir machen eine solche leistungsfeindliche Gesetzge- bung hier im Deutschen Bundestag nicht mit. Das wer- Joachim Poß (SPD): den wir den Bürgerinnen und Bürgern auch noch nach- Die Berechnungen des Finanzministeriums, die mir haltiger, als es bisher geschehen ist, verdeutlichen. Was bekannt sind, gehen bei Ihrem Konzept – ich wiederhole Sie wollen, ist eine Umverteilung von oben nach unten; das – im ersten Jahr von Steuermindereinnahmen von wir wollen das nicht. 20,3 Milliarden Euro aus, im Jahr der vollen Wirksam- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit von fast 30 Milliarden Euro. Das sind die Zahlen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die mir bekannt sind. Ich bin davon ausgegangen, dass das – bei allen Schwierigkeiten, die wir kennen, ganz ge- Sagen Sie den Leuten doch, dass Sie die Übungslei- naue Beträge zu ermitteln – eine seriöse Schätzung ist. terpauschale, die Steuerfreiheit von Feiertags-, Nacht- und Schichtzuschlägen, den Sparerfreibetrag und vieles (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) mehr, was insbesondere Arbeitnehmer betrifft, streichen Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der viel verschlei- wollen. Gerade vonseiten der FDP bzw. von Herrn ert. Sie haben bewusst die ausdrückliche Nennung all Westerwelle wird immer so getan, als habe die Wettbe- der Steuerausnahmetatbestände, die Sie streichen wol- werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft etwas mit der len, ausgespart, weil Sie den Zorn der Wählerinnen und Beibehaltung der Entfernungspauschale zu tun. Das ist Wähler fürchteten. Wählertäuschung oder aber Sie wissen es nicht besser, weil Ihre ökonomischen Kenntnisse nicht ausreichen, Das gilt auch für die CDU. Dort einen Bierdeckel Herr Westerwelle. (B) hoch zu halten, der für die Steuererklärung genügen soll, (D) (Zuruf von der SPD: Alles zusammen!) und so zu tun, als hätten Sie den Stein der Steuerweisen entdeckt, hat mir Seriosität nichts zu tun. Das war ein Man muss es deutlich sagen: Diese Subventionen, die politischer Rohrkrepierer. wir abgebaut haben und weiter abbauen wollen, haben mit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es ging um nichts zu tun. die Steuerschuld, nicht um die Steuererklä- rung!) Auch bei der Vereinfachung des Steuerverfahrens- rechts sind wir ein gutes Stück weitergekommen. Lesen Obwohl die CDU nur Leitsätze vorlegt, kann man ge- Sie einmal im Steueränderungsgesetz nach, was hier mit nauere Zahlen berechnen. Die Schätzer sagen, dass das Mehrheit beschlossen wurde! Das müssen die Länder Merz-Modell im ersten Jahr zu Ausfällen von 31,5 Mil- – und zwar alle Länder, auch die CDU-geführten – jetzt liarden Euro führen würde. Dazu kommen noch die umsetzen. Wir können Millionen von Arbeitnehmern 18 Milliarden Euro für die Kinderkomponente, die auf schon in diesem und im nächsten Jahr mit einer verein- dem Parteitag beschlossen wurde, und die ungeklärte fachten Steuererklärung helfen. Hier sind Ihre Taten ge- Frage, wie die von der Herzog-Kommission vorgeschla- fordert. Aber Sie sollten den Leuten keine Versprechen gene Kopfpauschale mit Steuermitteln überhaupt erst machen und populistische Bierdeckelfantasien entwi- sozial erträglich ausgestaltet werden soll. Das hat die ckeln. CSU, namentlich der Kollege Glos, der an dieser De- batte nicht teilnimmt, als nicht finanzierbar und nicht so- Meine Damen und Herren, die SPD steht für die Be- zial gerecht bezeichnet, was Sie, Herr Michelbach, nicht steuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorgetragen haben. Das CDU-Konzept geht nur auf, und nicht für eine Umverteilung der Steuerlast von oben wenn Sie die Mehrwertsteuer um vier oder fünf Punkte nach unten unter dem Deckmantel der Steuervereinfa- erhöhen. Seien Sie doch so ehrlich und sagen Sie den chung. Das ist auch gerecht. Die SPD steht für die Fi- Bürgerinnen und Bürgern das! Das ist die Konsequenz nanzierungsfähigkeit des Staates und nicht für Steuerge- Ihrer Vorstellungen. schenke, die die öffentlichen Kassen noch leerer machen, als sie es ohnehin schon sind, und eine künftige (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Belastung unserer Kinder bedeuten. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hans- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie können nur Steuern erhöhen! Das ist das Einzige, was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie können!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8055

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: beitnehmer am gesamten Steueraufkommen; er liegt (C) Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort. jetzt bei fast 40 Prozent. – Diese Entwicklung würde nach dem Modell der FDP weitergehen. Das heißt also: Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Die kleinen Leute sollen noch mehr belastet werden und noch mehr zahlen. – Die FDP hat vorgeschlagen, den Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- entsprechenden Beitrag der Körperschaften um 8 Pro- ren! Die FDP will sich wieder einmal als Steuersen- zent zu senken und den Beitrag der Personengesellschaf- kungspartei profilieren. ten um 10 Prozent. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Gut! Das haben Sie richtig erkannt!) Ich finde, diese wenigen Zahlen sind klare Belege da- für, dass es der FDP eben nicht um eine solide Finanzba- Ihr Pech ist, dass Sie sich zwar mit allen etablierten Par- sis für die Kommunen geht, sondern um den massiven teien in einen Wettbewerb um neue Steuersenkungskon- Rückzug vor allem der Kapitalgesellschaften aus der Fi- zepte begeben haben, dass Sie im Augenblick aber kaum nanzierung der öffentlichen Infrastruktur. Ich finde, das wahrgenommen werden. ist nicht hinzunehmen. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Aber nicht (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) mit Ihnen!) Völlig unrealistisch ist der Vorschlag der FDP, den – Nicht mit uns, das ist richtig. Sie greifen meinem Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer auf einen nächsten Satz schon vor; denn wir als PDS nehmen an Schlag von 2,2 Prozent auf beinahe 12 Prozent zu erhö- diesem ruinösen Wettbewerb nicht teil. hen. Das hätte massive Steuerausfälle für Bund und Län- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) der zur Folge. Was würde geschehen? – Die Länder wür- den nichts anderes tun, als massive Kürzungen an die Manchmal hat man ja den Eindruck, man müsse erst Kommunen durchzureichen. Der kommunale Finanzaus- einmal erklären, warum Steuern überhaupt erhoben wer- gleich würde weiter geschwächt. Das wäre ein Schlag den. Wir brauchen Steuereinnahmen zum Beispiel, um ins Gesicht der Kommunen insbesondere in Ostdeutsch- Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder und Straßen zu land, wo rund 70 Prozent der kommunalen Einnahmen erhalten und zu bauen und um Lehrer, Wissenschaftler aus dem Finanzausgleich kommen. Mir soll mal jemand und Polizisten zu bezahlen. Wer die Steuern aber unent- erklären, wie die Kommunen nach diesem Modell der wegt senken will, der muss den Menschen auch sagen, FDP weiterhin Schulen und Kitas erhalten sollen. worauf sie im öffentlichen Leben verzichten sollen. Wir als PDS sind für ein sehr einfaches, aber sehr ge- (B) Das FDP-Steuermodell hätte massive Steuerausfälle rechtes und solidarisches Steuersystem. Davon ist die (D) für Bund, Länder und Gemeinden in insgesamt zweistel- FDP mit ihrem Gesetzentwurf leider weit entfernt. liger Milliardenhöhe zur Folge; das ist hier schon ange- sprochen worden. Die FDP will einen Stufensatztarif (Zuruf von der FDP: Nö!) einführen. Was bedeutet das? Das bedeutet eine massive Zwar haben Sie mit Ihrem Antrag Rot-Grün heute die Steuerentlastung für die Bezieher hoher Einkommen. Gelegenheit geboten, sich als Verteidiger der sozialen Der FDP geht es also um eine gravierende Senkung des Gerechtigkeit und der sozialen Balance darzustellen. Ich Spitzensteuersatzes. Das ist reine Klientelpolitik. denke aber, die überzeugendste Darstellung von sozialer (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Gerechtigkeit wäre, wenn Sie von Rot-Grün die Agenda 2010 korrigieren würden. Ein Kollege von der CDU hat davon gesprochen, hier werde eine Neiddebatte geführt. Dazu kann ich aber nur Vielen Dank. sagen: Wenn man sich gegen diese Klientelpolitik zur Wehr setzt, wird eine Gerechtigkeitsdebatte geführt. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ein Kernstück Ihres Gesetzentwurfs ist die Abschaf- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fung der Gewerbesteuer. Das ist aus unserer Sicht wirk- lich verantwortungslos. Die Kommunen befinden sich Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, unter Rot-Grün in der schwersten Finanzkrise ihrer Ge- Bündnis 90/Die Grünen. schichte: Das Defizit der Kommunen beträgt 10 Milliar- den Euro. Wie soll das nach Meinung der FDP kompen- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): siert werden? – Die FDP will einen örtlichen Zuschlag Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und auf die Lohn- und Einkommensteuer bzw. auf die Kör- Herren! Was will die FDP? – Ein einfaches Einkommen- perschaftsteuer einführen und zugleich den Anteil der steuersystem mit breiter Bemessungsgrundlage und Kommunen an der Umsatzsteuer von jetzt 2,2 Prozent niedrigen Steuersätzen – das klingt gut –, auf fast 12 Prozent erhöhen. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Ist gut!) Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, dass in den letzten 20 Jahren der Anteil der Unternehmens- und Ver- ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf Einkommen- und mögensteuer am gesamten Steueraufkommen drama- Körperschaftsteuer und die Erhöhung des Umsatzsteuer- tisch verringert wurde: von 28 Prozent auf 16 Prozent. anteils der Kommunen auf fast 12 Prozent; das klingt Gleichzeitig aber stieg der Anteil der Lohnsteuer der Ar- nicht so gut. 8056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Kerstin Andreae (A) Was aber bedeuten die Vorschläge konkret? Alle Die Kommunen erhalten keine echte Alternative. Sie (C) Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Bezieher sehr ho- schlagen keine Kompensation für massive Steuerausfälle her Einkommen möglichst umfassend zu entlasten, mit vor. einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Das bedeutet eine deutliche soziale Schieflage, nichts anderes. Wir brauchen – darin gebe ich Ihnen Recht – eine konsequente Steuervereinfachung. Wir sind bereit, über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alle sinnvollen Vorschläge zu diskutieren. Die finanziel- sowie bei Abgeordneten der SPD) len Spielräume durch den Abbau von Steuervergünsti- Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag soll für niedrige gungen sollten vor allem genutzt werden, um den Einkommen nur noch 200 Euro betragen, aber mit Grundfreibetrag anzuheben und einfache und umfas- zunehmendem Einkommen auf 5 000 Euro ansteigen. sende Pauschalen für alle Steuerbürger zu schaffen. Das Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollen voll steu- wäre ein wirklich durchgreifender Beitrag zur Vereinfa- erpflichtig werden, Sozialleistungen mindern den chung, von dem alle Bürger etwas hätten. Zudem würde Grundfreibetrag. Vorgesehen ist ein hoher Kinderfreibe- die Finanzverwaltung deutlich entlastet. Es ist aber auch trag – wiederum interessant für Bezieher höherer Ein- klar: Diese Vereinfachung kostet etwas. Für eine weitere kommen –, Kindergeld dagegen wird Nebensache. Dafür Nettoentlastung ist zurzeit kein Spielraum vorhanden. sollen hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse Eine weitere massive Senkung des Spitzensteuersatzes bis 12 000 Euro abziehbar werden. Für Alleinerziehende ist wirklich nicht vordringlich. ist keinerlei Entlastung vorgesehen, aber das Ehegatten- Vielen Dank. splitting ist heilig. Kurzum: Die Gewinner des FDP-Konzepts wären (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einkommensmillionäre, die Verlierer wären Familien und bei der SPD) und Menschen mit kleinem Einkommen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das stimmt nicht! Das Wort hat nun der Kollege Peter Rzepka, CDU/ Voll daneben!) CSU-Fraktion. Verlierer wären auch die zukünftigen Generationen; denn zusätzliche Steuerentlastungen heute im Umfang (Beifall bei der CDU/CSU) von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro bedeuteten hö- here Steuern von morgen. Eines, meine sehr verehrten Peter Rzepka (CDU/CSU): Damen und Herren von der FDP, verraten Sie uns jedoch Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht, nämlich wie Sie ihr Konzept finanzieren wollen. Herren! Nur ein einfaches Steuerrecht ist auch ein ge- (B) Wie soll die Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle rechtes Steuerrecht. Bürger, Unternehmer, Wissenschaft- (D) in Milliardenhöhe aussehen? Sie wollen den Gemeinden ler, Steuerberater, Finanzbeamte und Finanzrichter kla- beinahe 12 Prozent von der Umsatzsteuer zukommen gen über die zunehmende Chaotisierung des deutschen lassen, Gelder – Frau Scheel hat es gesagt –, die vom Steuerrechts, dessen Auswirkungen auf die Steuerbelas- Bund und von den Ländern abgingen. Zusätzlich kostete tung auch von Experten nicht mehr zuverlässig beurteilt der Wegfall der Gewerbesteuer rund 20 Milliarden Euro. werden können. Das ist unseriös. Es ist nicht gegenfinanziert. Sie stellen damit Versprechungen von massiven Steuerentlastungen Ein Steuerrecht aber, das Grund und Höhe der Belas- in den Raum, ohne die Gegenfinanzierung wirklich zu tung nur unzureichend erkennen lässt, ist verfassungs- thematisieren. rechtlich problematisch, weil dem Eingriff des Fiskus die hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt und gegen Nun zum Thema Gewerbesteuer. Ich werfe Ihnen den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähig- vor, dass Sie hier wiederholt keine echte Alternative an- keit verstoßen wird. Ein solches Steuerrecht ist unge- bieten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Kom- recht und unsozial, weil es denjenigen mehr nutzt, die munen Ihren Vorschlag hierzu nicht umgesetzt haben sich teure Steuerberatung leisten können. wollen. Sie wollen auch nicht gegen ihren Willen bei der Umsatzsteuer an dem Tropf von Bund und Ländern hän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen. Sie sehen sich weiterhin in die Abhängigkeit von erhöhten Zuweisungen getrieben. Zudem haben die Er- Es ist wachstumsfeindlich und wettbewerbsverzerrend, gebnisse der Kommission zur Reform der Gemeindefi- weil viele Ausnahmetatbestände die Marktpreise be- nanzen deutlich gezeigt, worauf das von Ihnen geför- einflussen und Investitionen in unproduktive Ver- derte Modell mit Hebesatz auf Einkommensteuer und wendungen lenken. Es ist schließlich Anlass zu Körperschaftsteuer hinausläuft: auf eine Belastung der Ausweichreaktionen und Rechtsverweigerung durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf eine Ent- Standortverlagerung und Kapitalflucht, durch Steuerhin- lastung Ihrer Klientel. terziehung und Abtauchen in die Schattenwirtschaft. Mit Ihrem heutigen Vorschlag präsentieren Sie sich (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist leider überdeutlich als Partei der Besserverdienenden. Bezie- Realität! So ist es!) her hoher Einkommen werden entlastet, die Kleinverdie- Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge- ner verlieren. samtwirtschaftlichen Entwicklung kommt im Jahresgut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN achten 2003/2004 zu folgendem Befund – meine Damen und bei der SPD) und Herren von der SPD-Fraktion, wenn Sie uns nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8057

Peter Rzepka (A) glauben wollen, dann sollten Sie wenigstens auf die 24 Prozent der SPD die besseren Steuer- und Finanzkon- (C) Sachverständigen hören –: zepte zu. Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Recht haben sie! – erhebliche Defizite. Das deutsche Einkommen- Dr. Uwe Küster [SPD]: Bierdeckelpartei!) steuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrge- Wir lassen uns in unserer Steuerpolitik von der Er- nommen. Steuerpolitische Einzelmaßnahmen fügen kenntnis leiten, dass die Steuerlast gesenkt und das Ein- sich nicht in eine erkennbare Systematik ein: kommensteuerrecht einer Runderneuerung unterzogen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) werden muss, bei der die steuerliche Bemessungsgrund- lage durch den weit gehenden Abbau von Sondertatbe- Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leit- ständen verbreitert wird und die Steuersätze deutlich ge- bild, an dem sich die Haushalte und Investoren in senkt werden. Die FDP-Fraktion beschreibt in ihrem ihrer Einkommensdisposition langfristig ausrichten vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung ei- könnten. ner neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gewerbesteuer das Problem der deutschen Einkom- mensbesteuerung ähnlich und legt ähnliche Lösungsvor- Demnach ist die Steuerpolitik dieser Bundesregierung schläge vor. und der sie tragenden rot-grünen Koalition eine der Ur- sachen für die anhaltende Wachstums- und Beschäfti- (Beifall des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU]) gungskrise. Auch die FDP sieht die Streichung bzw. Rückführung zahlreicher Sondertatbestände, einen neuen Einkom- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) mensteuertarif mit niedrigeren Steuersätzen, hohe Noch im Jahr 2000 hatte diese Bundesregierung die För- Grundfreibeträge pro Person – einschließlich der Kin- derung von Wachstum und Beschäftigung durch ein der –, die Beibehaltung des Ehegattensplittings, die tragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte, die un- als eine ihrer beiden finanzpolitischen Leitplanken be- beschränkte Verlustverrechnung und die Verminderung zeichnet. „Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit der Einkommensarten vor. entfernt von diesen Zielen“, lautet die ernüchternde Er- Es war schon Thema der Diskussion, dass die Erset- kenntnis des Sachverständigenrates. Statt sich den selbst zung der Gewerbesteuer durch eine verlässliche Steuer- gesteckten Zielen zu nähern, entfernt sich diese Bundes- quelle, die den Städten und Gemeinden in Deutschland regierung immer weiter davon. die Erfüllung ihrer Aufgaben auf Dauer sichert, eben- (B) Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens vom falls ein gemeinsames Ziel ist. (D) Dezember 2003 sind umfangreiche Gesetzesänderungen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) bezüglich der Körperschaftsteuer, Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Erbschaft- Die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen Form, die zu- steuer, Biersteuer, Mineralölsteuer und Stromsteuer mit nehmend zu einer Großbetriebssteuer mit allen daraus zum Teil erheblichen Komplizierungen vorgenommen folgenden Aufkommensschwankungen degeneriert ist, worden. hat keine Zukunft mehr. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Keiner blickt (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!) durch! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Alles von Daran werden auch diejenigen, die, wie Herr Poß, daran Frau Scheel!) arbeiten, diesen Fremdkörper in unserem Steuersystem Ich will in diesem Zusammenhang nur auf die Neurege- zu revitalisieren, nichts ändern können. lungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung und zur Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schränkung der Verlustverrechnung hinweisen. Bei der Umstellung der Gemeindefinanzierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch eine Beteiligung an den Gemeinschaftssteuern mit Die Union hat im Vermittlungsverfahren viele Män- eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen müs- gel der ursprünglichen Gesetzentwürfe der Regierungs- sen natürlich die Stadtumlandproblematik, das Verhält- koalition korrigieren können, musste aber im Kompro- nis zwischen aufkommensschwachen und -starken Ge- miss und um die Erwartung der Menschen hinsichtlich meinden und die Administrierbarkeit hinreichend des Vorziehens der Steuerreform nicht zu enttäuschen, berücksichtigt werden. Frau Kollegin Andreae, nichts- weitere Fehlentwicklungen hinnehmen. Angesichts der destotrotz nimmt die Zustimmung zu dieser Form der Sprunghaftigkeit und des Verlusts der Glaubwürdigkeit Ersetzung der Gewerbesteuer auch bei den Kommunen bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung richten sich zu. die Hoffnungen der Deutschen auf die Opposition. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das will ich sehen!) Nach Vorlage der Leitsätze für eine radikale Vereinfa- chung und eine grundlegende Reform des deutschen Dass Zinsen auf Steuernachzahlungen nach Ihrem Einkommensteuersystems durch unseren stellvertreten- Konzept wieder abziehbar sein sollen, findet meine Zu- den Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz trauen stimmung. Es ist nicht zu verstehen, dass der Fiskus 50 Prozent der Deutschen der Union, aber nur Nachzahlungszinsen in Höhe von 6 Prozent aus dem 8058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Peter Rzepka (A) steuerlichen Netto verlangt, andererseits aber die an den darüber im Unklaren lassen, was Kapitalerträge im Ein- (C) Steuerpflichtigen gezahlten Zinsen auf Steuererstattun- zelnen sind, handelt es sich um eine Ausnahme von der gen in vollem Umfang besteuert. grundsätzlich angestrebten Gleichbehandlung aller Ein- künfte und damit um einen Systembruch. Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf in einigen Punkten noch nicht ausgereift. Für Arbeitnehmer sehen Sie eine Ihr Entwurf enthält damit Elemente einer so genann- Abgeltungspauschale für berufsbedingte Kosten in ten dualen Einkommensteuer, die Kapitaleinkommen Höhe von 2 Prozent der steuerpflichtigen Einnahmen niedriger besteuert als Arbeitseinkommen. Dieser syste- – höchstens 5 000 Euro – vor. Zum einen vermag ich matische Schönheitsfehler hat aber erhebliche praktische nicht einzusehen, dass mit steigenden Einnahmen auto- Auswirkungen, da er die Fremdkapitalfinanzierung von matisch auch die Werbungskosten steigen sollen, zum Kapitalgesellschaften gegenüber der Eigenkapitalfinan- anderen stellen Sie nicht nur auf die Einnahmen aus der zierung begünstigt, – Betätigung als Arbeitnehmer ab, sondern auf sämtliche steuerpflichtigen Einnahmen, sodass diese steuerlich ab- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setzbare Pauschale auch dann ansteigt, wenn der Arbeit- nehmer Einnahmen aus anderen Einkommensquellen er- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der zielt. Eine solche pauschale Begünstigung von Kollegin Lenke? Großverdienern mit Einnahmen bis zu 250 000 Euro fin- det nicht unsere Zustimmung und dürfte einer verfas- Peter Rzepka (CDU/CSU): sungsgerichtlichen Prüfung kaum standhalten. – ich möchte in meinen Ausführungen erst einmal fortfahren –, Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und Per- Bei beschränkter Steuerpflicht soll generell der sonenunternehmen benachteiligt. Ihr Konzept wider- Spitzensteuersatz von 35 Prozent gelten. Eine solche Be- spricht damit den Zielsetzungen einer finanzierungs- und steuerung von in Deutschland tätigen Arbeitnehmern, rechtsformneutralen Besteuerung. die in anderen EU-Staaten ansässig sind, dürfte meines Erachtens mit dem EU-Recht kaum vereinbar sein. (Joachim Poß [SPD]: Da bleibt ja von dem Konzept nichts übrig!) Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgese- hene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung Jetzt möchte ich gerne die Zwischenfrage zulassen. von Wirtschaftsgütern eingehen, die einer wirtschaftli- chen Betätigung gedient haben. Ich glaube, Ihr Entwurf Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: berücksichtigt nicht ausreichend die Gefahr einer Bitte schön. Scheingewinnbesteuerung, die mit inflationären Preis- (B) entwicklungen verbunden ist, und dürfte deshalb in die- (D) sem Punkte Anlass zu Veränderungen geben. Ina Lenke (FDP): Herr Kollege, Sie haben gerade auf die Uhr geschaut In Ihrem Steuerkonzept lassen Sie sich von dem und wahrscheinlich festgestellt, dass sich Ihre Redezeit Grundsatz einer einheitlichen Besteuerung der dem Ende zuneigt. unterschiedlichen Einkünfte leiten und sehen deshalb nur noch eine Einkunftsart vor. Die Körperschaftsteuer Unser Konzept beinhaltet einen starken familien- und wird in diesem Konzept dadurch in die Einkommen- frauenpolitischen Teil. Ich möchte Sie bitten, mir die steuer integriert, dass der Spitzensatz der Einkommen- Frage zu beantworten, ob es auch das Ziel der CDU/ steuer dem Körperschaftsteuersatz mit 35 Prozent ent- CSU ist, die Steuerklasse V abzuschaffen. In unserem spricht. Konsequent stellen Sie Ausschüttungen Steuerkonzept haben wir andere Steuerklassen vorgese- inländischer Kapitalgesellschaften, die nach Ihrem Kon- hen. Wir wollen das Gender-Prinzip in unserem neuen zept auf der Ebene der Kapitalgesellschaft mit 35 Pro- Steuerkonzept durchsetzen. Sie haben von ähnlichen zent vorbelastet wurden, beim Anteilseigner steuerfrei bzw. gleichen Zielen gesprochen und darauf verwiesen, mit der Möglichkeit, im Wege einer Antragsveranlagung worin sich Ihr Konzept von dem der anderen unterschei- den Körperschaftsteuersatz durch den persönlichen Ein- det. Meine Frage ist: Werden auch Sie von der CDU/ kommensteuersatz des Anteilseigners zu ersetzen. Dage- CSU sich dafür einsetzen, dass die Steuerklasse V abge- gen sollen Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaf- schafft wird? ten, die im Ausland bereits mit Körperschaftsteuer vorbelastet sind, zusätzlich der Einkommensteuer des in- Peter Rzepka (CDU/CSU): ländischen Anteilseigners unterworfen werden. Dies Frau Kollegin, ich habe in meinem Beitrag bereits dürfte zumindest mit dem EU-Recht unvereinbar sein. darauf hingewiesen, dass wir von ähnlich hohen Grund- Eine solche Zusatzbelastung ergibt sich übrigens auch freibeträgen ausgehen, und zwar für alle Familienmit- nach dem Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs bei mehrstufi- glieder, also einschließlich der Kinder. Wir sind uns auch gen Inlandskonzernen, was Sie nicht ernsthaft beabsich- in der Fortführung des Ehegattensplittings einig. Inso- tigt haben können. fern wird sowohl in Ihrem als auch in unserem Entwurf die familienpolitische Komponente berücksichtigt. Kapitalerträge, die nicht Ausschüttungen von Kapital- gesellschaften sind, sollen nach Ihrem Modell mit einer Lassen Sie mich fortfahren – meine Redezeit geht zu Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. Abge- Ende –: Nach alledem weist der FDP-Entwurf im Grund- sehen davon, dass Sie den Leser Ihres Gesetzentwurfs satz in die richtige Richtung. Die CDU/CSU-Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8059

Peter Rzepka (A) tagsfraktion wird sich konstruktiv in die Beratung ein- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) bringen, um den Entwurf zu verbessern und bestehende gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- Mängel zu beheben. In der vorliegenden Fassung jeden- tokoll betreffend die Verringerung von Ver- falls ist er noch nicht beschlussreif. sauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon (Multikomponenten-Protokoll) vom Während sich die Regierungsfraktionen an der Erhö- 30. November 1999 im Rahmen des Überein- hung der Erbschaftsteuer, der Wiedereinführung der Ver- kommens von 1979 über weiträumige grenz- mögensteuer und der Einführung einer Ausbildungs- überschreitende Luftverunreinigung platzabgabe mit all ihren negativen Arbeitsmarkt- und Ausbildungsplatzeffekten abarbeiten, leisten die Opposi- – Drucksache 15/2410 – tionsfraktionen einen Beitrag zu einem radikalen Neuan- Überweisungsvorschlag: fang im Steuerrecht, mit dem den Anforderungen an die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) steuerliche Gerechtigkeit entsprochen wird, die Leis- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft tungsbereitschaft gefördert wird und Deutschland im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze wieder bestehen kann. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer (Hamburg), , Wir fordern die Regierungskoalition auf, klar zu sa- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der gen, ob sie bereit ist, einen solchen radikalen Neuanfang CDU/CSU im Steuerrecht mitzutragen und beratungsfähige Gesetz- entwürfe vorzulegen. Die Unionsfraktion ist bereit, ein Planung und städtebauliche Zielvorstellungen solches Steuerrecht noch in diesem Jahr zu beraten und des Bundes für den Bereich beiderseits der zu verabschieden. Spree zwischen Marschall- und Weidendam- mer Brücke vorlegen Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. – Drucksache 15/2157 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für Kultur und Medien Ich schließe die Aussprache. d) Beratung der Unterrichtung durch den Bundes- rechnungshof (B) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- (D) fes auf Drucksache 15/2349 an die in der Tagesordnung Bemerkungen des Bundesrechnungshofes aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- 2003 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die (einschließlich der Feststellungen zur Jahres- Überweisung so beschlossen. rechnung des Bundes 2002) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d sowie – Drucksache 15/2020 – die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf: Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) 28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Innenausschuss Manzewski, Joachim Stünker, Hermann Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tion der SPD, den Abgeordneten Siegfried Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans- und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordne- Michael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel ten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Irmingard Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN setzes zur endgültigen Regelung über Altschulden sowie den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer landwirtschaftlicher Unternehmen (Landwirt- Funke, Sibylle Laurischk, Dr. Wolfgang Gerhardt schaftsEnd-Altschuldengesetz – LwEndAltschG) und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes – – Drucksache 15/2468 – § 201 a StGB (… StrÄndG) Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) – Drucksache 15/2466 – Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Überweisungsvorschlag: Landwirtschaft Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Kultur und Medien Dr. Rainer Stinner, Dirk Niebel, Daniel Bahr 8060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) (Münster), weiterer Abgeordneter und der Frak- staaten einerseits und der Regierung der (C) tion der FDP Volksrepublik China andererseits Genfer Abkommen als Ausdruck zivilgesell- – Drucksache 15/2284 schaftlicher Friedensinitiative unterstützen (Erste Beratung 86. Sitzung) – Drucksache 15/2195 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Überweisungsvorschlag: ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (14. Ausschuss) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 15/2444 – ten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of- sen empfiehlt auf Drucksache 15/2444, diesen Gesetz- fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- beschlossen. setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie Stimmt jemand dagegen? – Möchte sich jemand der 27 auf. Hier handelt es sich um Beschlussfassungen zu Stimme enthalten? – Das ist nicht der Fall. Auch dieser Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 a: Tagesordnungspunkt 29 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen Geflügelfleischhygienegesetzes und des Le- der Bundesrepublik Deutschland und der Re- bensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes publik Polen über die Ergänzung des Europäi- und sonstiger Vorschriften schen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die – Drucksache 15/2293 – Erleichterung seiner Anwendung (Erste Beratung 86. Sitzung) – Drucksache 15/2254 – (B) (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Erste Beratung 86. Sitzung) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft (10. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 15/2480 – – Drucksache 15/2445 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Berichterstattung: Ursula Heinen Abgeordnete Joachim Stünker Ulrike Höfken Dr. Jürgen Gehb Hans-Michael Goldmann Jerzy Montag Jörg van Essen Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2480, den Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/ Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. 2445, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejeni- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. entwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Möchte jemand gegen den Gesetzentwurf stimmen? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch die- entwurf ist einstimmig angenommen. ser Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: Tagesordnungspunkt 29 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Seeverkehrsabkommen eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli vom 10. Dezember 2002 zwischen der Euro- 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- päischen Gemeinschaft und ihren Mitglied- land und der Republik Polen über die Ergän- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8061

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) zung des Europäischen Auslieferungsüberein- schusses zu weiteren Wahleinsprüchen? – Wer stimmt (C) kommens vom 13. Dezember 1957 und die dagegen? – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlun- Erleichterung seiner Anwendung gen sind einstimmig angenommen. – Drucksache 15/2255 – Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. (Erste Beratung 86. Sitzung) Tagesordnungspunkt 29 f: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/2446 – Sammelübersicht 90 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker – Drucksache 15/2449 – Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Jerzy Montag Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Jörg van Essen hält sich? – Diese Sammelübersicht ist angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- Tagesordnungspunkt 29 g: sache 15/2446, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- ausschusses (2. Ausschuss) len, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemand der Stimme enthalten? – Das ist nicht der Sammelübersicht 91 zu Petitionen Fall. Der Gesetzentwurf ist angenommen. – Drucksache 15/2450 – Tagesordnungspunkt 29 e: Wer stimmt dafür? – Wer möchte dagegen stim- Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des men? – Wer enthält sich? – Auch diese Sammelübersicht Wahlprüfungsausschusses ist einstimmig angenommen. zu 20 gegen die Gültigkeit der Wahl zum Tagesordnungspunkt 29 h: 15. Deutschen Bundestag eingegangenen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wahleinsprüchen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/2400 – Sammelübersicht 92 zu Petitionen (B) Berichterstattung: – Drucksache 15/2451 – (D) Abgeordnete Erika Simm Hermann Bachmaier Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Hans-Joachim Hacker Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenom- Petra-Evelyne Merkel men. Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Tagesordnungspunkt 29 i: Manfred Grund (Heilbronn) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Jerzy Montag ausschusses (2. Ausschuss) Jürgen Koppelin Sammelübersicht 93 zu Petitionen Der Wahlprüfungsausschuss empfiehlt, die aus den – Drucksache 15/2452 – Anlagen 1 bis 16 ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu diesen Wahleinsprüchen anzunehmen. Hierzu ist ge- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- trennte Abstimmung verlangt. hält sich? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange- Ich rufe zunächst die in den Anlagen 1 bis 10 aufge- nommen. führten Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen auf. Wer stimmt diesen Anlagen mit den darin aufge- Tagesordnungspunkt 29 j: führten Beschlussempfehlungen zu? – Gegenprobe! – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungen zu den ausschusses (2. Ausschuss) Wahleinsprüchen in den Anlagen 1 bis 10 sind damit einstimmig angenommen. Sammelübersicht 94 zu Petitionen Wer stimmt für die aus der Anlage 11 ersichtliche Be- – Drucksache 15/2453 – schlussempfehlung zu dem diesbezüglichen Wahlein- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- spruch? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht gegen die schlussempfehlung zu dem Wahleinspruch in der An- Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. lage 11 ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ange- nommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Wer stimmt für die aus den Anlagen 12 bis 16 ersicht- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- lichen Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsaus- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 8062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) zu dem Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur richts zur nachträglichen Sicherungsverwah- (C) Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften rung? über die Beförderung im internationalen Luft- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als verkehr (Montrealer Übereinkommen) Erstem dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSU- – Drucksache 15/2285 – Fraktion. (Erste Beratung 88. Sitzung) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- – Drucksache 15/2486 – ren! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Berichterstattung: vom vergangenen Dienstag, über die wir heute im Bun- Abgeordnete Dirk Manzewski destag debattieren, ist eine Niederlage für die Bundesre- gierung. Jerzy Montag (Widerspruch bei der SPD) Rainer Funke Entscheidend ist, dass es nicht nur eine juristische, son- Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- dern auch eine politisch-moralische Niederlage ist, die ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, die- daraus erwachsen ist, dass Sie sich vor der Verantwor- sen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die tung gedrückt haben. Das ist nun auch durch das Bun- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- desverfassungsgericht festgestellt worden. chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist in zweiter Beratung angenommen. Sie haben sich vor der Beantwortung einer Frage ge- drückt – das ist nicht irgendeine Frage –, bei der es um Dritte Beratung den Schutz der Bevölkerung, der Bürger, von Männern, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Frauen und Kindern, vor gefährlichen Gewaltverbre- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – chern geht. Hier waren Sie aufgefordert, zu entscheiden. Wer stimmt gegen diesen Gesetzentwurf? – Wer möchte (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sich der Stimme enthalten? – Dieser Gesetzentwurf ist GRÜNEN]: Das haben wir auch!) einstimmig angenommen. Aber Sie haben sich nicht entschieden. Vielmehr haben Wir bleiben bei Tagesordnungspunkt 27: Sie sich hinter einer fadenscheinigen Alibiausrede ver- (B) (D) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- steckt. Sie haben behauptet, dass Sie gar nicht entschei- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes den dürften; denn dies zu regeln sei nicht Sache des zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Bundes, sondern der Länder. Das ist nun eindeutig klar- Luftverkehr gestellt worden: Mit 8 : 0 Stimmen hat das Bundesver- fassungsgericht entschieden, dass das natürlich Bundes- – Drucksache 15/2359 – sache ist. Es war auch abwegig, zu behaupten, dass dies (Erste Beratung 88. Sitzung) Ländersache sei. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie das ge- nau gewusst haben; denn so schlecht können die Juristen Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei- im Bundesjustizministerium gar nicht sein. Im Gegen- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, den teil: Sie sind gut. Deshalb haben Sie gewusst, dass es Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. sich hier um eine Reaktion des Staates auf Straftäter han- Wer dieser Beschlussempfehlung und damit dem Ge- delt, dass es also um das Strafrecht und damit um Bun- setzentwurf in dieser Fassung zustimmen will, den bitte desrecht geht. Sie im Bundestag waren gefordert, zu ent- ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltun- scheiden. Aber Sie haben sich versteckt und nicht gen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung gehandelt. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dritte Beratung Der Grund, warum Sie sich versteckt haben, ist, dass und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Sie sich in der Koalition – das ist ein Musterbeispiel für Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – die Handlungsunfähigkeit rot-grüner Rechtspolitik – Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist nicht einig sind. Viele von Ihnen teilen die Meinung von der Gesetzentwurf angenommen. Herrn Stünker, dem rechtspolitischen Sprecher der SPD- Ich bedanke mich für die große Disziplin bei dem Ab- Fraktion. Er hat vor sechs und noch einmal vor drei Mo- arbeiten dieser Tagesordnungspunkte. naten im Bundestag zur Sicherungsverwahrung ausge- führt – mir liegen die entsprechenden Stenografischen Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Berichte vor –: Sie ist verfassungswidrig. In der Sache Aktuelle Stunde wollen wir sie nicht. – Das ist Ihre Position, Herr auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Stünker. Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE rung aus dem Urteil des Bundesverfassungsge- GRÜNEN]: Das ist auch meine!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8063

Dr. Norbert Röttgen (A) Andere in der Koalition teilen diese Meinung nicht. Der diese Ungeheuerlichkeit des geltenden Bundesrechts (C) Bundesinnenminister zum Beispiel sagt: Wir wollen sie können Sie keinem Bürger verständlich machen. haben. – Sie waren also nicht handlungsfähig, weil Sie nicht einig waren. Sie hatten weder den Mut, zu sagen, (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian die Gesellschaft solle das Risiko eingehen, noch den Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1998 Mut, zu entscheiden, dass die Gesellschaft vor solchen haben Sie das selber so entschieden!) Verbrechern geschützt werden muss. Deshalb haben Sie Sie können keinem Bürger verständlich machen, dass sich versteckt, und das, obwohl es um den Schutz der der Staat geradezu zusieht, wie Verbrechen begangen Bevölkerung vor gefährlichen Gewaltverbrechern geht, werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Wiederholungstäter sein werden. Sie haben sich versteckt und nicht gehan- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE delt, obwohl eine Mehrheit in diesem Hause – wir haben GRÜNEN]: So ein Pharisäer!) einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht – han- und erst dann in der Lage ist, zu entscheiden. deln wollte. Das, was die politisch-moralische Nieder- lage ausmacht, ist diese Verantwortungsverweigerung. Diese Entscheidung hat Konsequenzen. Wir sind be- Das ist ein Tiefpunkt in der politischen Kultur unseres reit, diese Konsequenzen zu ziehen. Wir hatten Gesetz- Landes. In dieser Frage haben Sie abgewogen und entwürfe eingebracht. Sie haben sie abgelehnt. Wir wer- schließlich entschieden, das Koalitionswohl vor das Ge- den sie erneut in den Bundestag einbringen. Wir sind meinwohl, das Parteiwohl vor das Bürgerwohl zu stel- bereit, zu handeln. len. Ihnen war also das Wohl der Koalition näher als das der Bürger. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege! (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwegig!) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Niemand, auch wir nicht, hat aber Grund, sich über Eine letzte Bemerkung, eine letzte Warnung an Sie, die Niederlage, die Sie erlitten haben, zu freuen. Auch das Fehlen politischer Kultur und die Folgen Ihrer Ent- (Zurufe von der SPD: Oh!) scheidung bieten keinen Anlass zur Freude; denn das weil ich wieder feststelle, dass Ihre Handlungsunfähig- wird man in Zukunft nicht einfach korrigieren können, keit und Ihre Uneinigkeit geblieben sind. auch wenn das Bundesverfassungsgericht bis an seine Grenzen gegangen ist. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Oh, lieber Dr. Röttgen!) (D) Es ist nicht einfach korrigierbar. Stellen Sie sich ein- mal vor, die beiden Inhaftierten, die geklagt haben, hät- Ich warne Sie davor, erneut einer bundeseinheitlichen ten nicht in Bayern oder Sachsen-Anhalt gelebt, sondern Regelung auszuweichen und eine Länderregelung zu in Nordrhein-Westfalen oder in einem der elf Länder, die versuchen, nur weil Sie das im Bund nicht hinbekom- solche im Notstand, sozusagen, erlassenen Landesrege- men. Sie sind nun durch das Bundesverfassungsgericht lungen nicht getroffen haben! Sie wären schlicht und er- aufgefordert, endlich Ihre Pflicht zu tun. greifend freigelassen worden! Sie wären auf die Gesell- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schaft losgelassen worden! – Wer weiß, in wie vielen GRÜNEN]: Zu entscheiden, aber ohne Festle- Fällen so etwas stattgefunden hat? Wer weiß es? Es sind gung des Wie!) immerhin Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht mit Mehrheit entschieden hat: Die Betroffenen sind so Werden Sie Ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen gefährlich, dass sie selbst auf verfassungswidriger und Bürger gerecht und schaffen Sie eine bundeseinheit- Grundlage weiter inhaftiert bleiben müssen, weil wegen liche Regelung! der konkreten Gefahr für die Bürger ihre Entlassung (Beifall bei der CDU/CSU) nicht zu verantworten ist. In anderen Ländern findet das aber statt. Da gilt die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: von Ihnen befürwortete und zu verantwortende Rechts- Bevor ich der Bundesministerin Brigitte Zypries das lage. Der Staat entlässt solche Straftäter sehenden Au- Wort erteile, weise ich noch einmal auf etwas hin, was ges. Er weiß um die Gefährlichkeit der Straftäter, die ja nicht so gänzlich neu ist, nämlich dass die Redezeit in schon Verbrechen begangen haben. Er sagt aber: Wir Aktuellen Stunden jeweils genau fünf Minuten beträgt. können keine Sicherungsverwahrung anordnen. Die Grundlage ist verweigert worden. – Er wartet also da- (Zuruf von der SPD: Er hat sieben Minuten ge- rauf, dass ein weiteres Verbrechen begangen wird. Im habt! – Gegenruf des Abg. Dr. Norbert nächsten Urteil kann dann nach der jetzigen Rechtslage Röttgen [CDU/CSU]: Die stoppen schon!) die Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Frau Ministerin, bitte. Meine Damen und Herren, diese Absurdität, Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Ungeheu- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und erlich!) Herren! Lieber Herr Röttgen, diese Entscheidung des 8064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Bundesverfassungsgerichts ist keine Niederlage für (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) diese Bundesregierung, NEN]: Er hat geklittert!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das ist der Punkt; darum geht es jetzt. DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]: Doch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ sondern sie ist eine Niederlage für den Gesetzgeber der CSU]: Wir haben doch Alternativen vorge- 13. Legislaturperiode. legt! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer wollte denn die Lücke schließen, Sie oder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele GRÜNEN]: Ihre Lücken! – Dr. Norbert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], zur CDU/ Röttgen [CDU/CSU]: Da ist diese Lücke und CSU gewandt: Sie hatten die Mehrheit!) Sie weigern sich, sie zu schließen!) Der Gesetzgeber der 13. Legislaturperiode Sie haben damals im Ausschuss auch den Antrag der (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was ist mit SPD abgelehnt, eine vorbehaltene Sicherungsverwah- dem heutigen Gesetzgeber?) rung einzuführen. wurde mehrheitlich von Ihrer Partei zusammen mit der FDP gebildet. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hauptsächlich hat die Bundesministerin der Justiz das (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ein Wort. starkes Stück!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Das Bundesverfassungsgericht schreibt auf Seite 69 Stünker [SPD]: Das ist auch gut so!) des Umdrucks – da geht es um die Frage der Kompeten- zen; ich darf zitieren –: Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Die Länder sind zu ergänzenden Regelungen nicht Nachdem wir uns darüber verständigt haben, dass der befugt, denn das Recht der Sicherungsverwahrung Anteil, den Ihre Partei an dieser Entscheidung trägt, ist im Strafgesetzbuch umfassend und abschließend doch ein ganz überwiegender ist, sollten wir jetzt ge- geregelt. meinsam nach vorn gucken und feststellen, was auf- grund dieser Entscheidung nun zu tun ist. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Dies folgt zunächst aus einer Analyse der letzten DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ großen Reform dieses Rechtsgebiets vor der Verab- CSU]: Sie gucken schon fünf Jahre nach schiedung des Bayerischen Straftäterunterbrin- vorn!) gungsgesetzes und des Sachsen-Anhaltischen Un- terbringungsgesetzes. Das Gesetz zur Bekämpfung Tatsache ist nämlich – Karlsruhe hat so entschieden –, von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straf- dass der Bund eine Gesetzgebungskompetenz hat. Es ist taten vom 26. Januar 1998 nur eine theoretische Möglichkeit, diese Gesetzgebungs- kompetenz nicht wahrzunehmen. Das werden wir nicht (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE tun. GRÜNEN]: Da waren Sie dran!) Die andere Variante, Länderöffnungsklauseln aufzu- sollte dem gesamten damals geäußerten Reformbe- nehmen – auch sie wird durch diese Entscheidung nahe darf Rechnung tragen und verzichtete bewusst gelegt –, halte ich auch nicht für einen guten Weg. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz GRÜNEN]: Das ist ausdrücklich abgelehnt!) [SPD]) auf einen weiter gehenden Ausbau der Maßregel Man hat gesehen, dass es – auch weil man schnell han- der Sicherungsverwahrung. deln muss – in der Tat sinnvoller ist, eine einheitliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regelung zu finden. Eine Länderöffnungsklausel mit DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ entsprechenden Ländergesetzen lässt sich vom Ablauf CSU]: Darum wollten wir das doch ergänzen!) her bis zum 30. September überhaupt nicht verwirkli- chen. Das zeigt, weshalb die Länder keine Gesetzgebungs- kompetenz haben. Es wurde schon 1998 abgelehnt. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das will ja auch keiner!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Gedächtnisausfall! So früh kann es beginnen, Herr Röttgen! – Zuruf – Ich sage nur, welche Handlungsmöglichkeiten es nach von der CDU/CSU: Was haben Sie denn die der Entscheidung – ich habe sie gelesen; ich weiß nicht, letzten Jahre gemacht?) ob Sie sie gelesen haben – gibt. Ich mache jetzt nur einen historischen Abriss, damit (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ich habe wir hier nicht immer so geschichtslos darüber reden; sie sehr gut gelesen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8065

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Wir sehen uns in der Pflicht, jetzt zu handeln, um ge- Wir müssen die Entscheidung – das werden wir im (C) nau das zu tun, was notwendig ist: die Bevölkerung vor Gesetz so vorsehen –, ob eine nachträgliche Unterbrin- schweren Straftaten schützen. Wir werden deshalb in gung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen ist, an den nächsten Tagen einen Gesetzentwurf vorlegen, der eine umfassende Gesamtwürdigung der Täterpersönlich- eine nachträgliche Sicherungsverwahrung vorsieht. keit, seiner Taten und seines Verhaltens im Vollzug knüpfen. Karlsruhe hat ganz eindeutig erkennen lassen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass beispielsweise allein eine Therapieverweigerung als Dieser Gesetzentwurf wird den Vorgaben des Bundes- Begründung für die Verhängung der Sicherungsverwah- verfassungsgerichts in dieser Entscheidung und in der rung nicht ausreicht. Wesentlich ist vielmehr – das Entscheidung von letzter Woche Rechnung tragen. Die wurde in den Entscheidungen mehrfach betont – das Zeit drängt; Gesamtbild, das sich aus der Anlasstat und dem Verhal- ten im Vollzug ergibt. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Allerdings!) Wir werden zu diskutieren haben, ob wir nicht in die Regelung auch diejenigen einbeziehen müssen, die sich deshalb bin ich froh, dass ich Ihnen bereits heute skizzie- nicht in einer Strafhaft, sondern im Vollzug einer Maßre- ren darf, verehrter Herr Abgeordneter, was wir uns vor- gel nach § 63 StGB befinden, wenn sich nämlich heraus- stellen. stellt, dass die psychische Störung nicht mehr besteht und sie damit aus der Psychiatrie zu entlassen wären, (Zuruf von der CDU/CSU: Auf einmal!) gleichwohl aber ihre Gefährlichkeit festgestellt wird. Sie werden sehen: Wir haben schon Überlegungen ange- Dazu ist bisher noch von niemandem ein Vorschlag vor- stellt. Ich sagte bereits, dass das Gesetz in wenigen Ta- getragen worden. Diese Überlegung ist neu. Wir müssen gen fertig sein wird. Da sich das Hohe Haus mit den De- uns gemeinsam darüber verständigen, wie wir diesen tails befassen muss, sage ich schon jetzt, was wir uns Fall regeln wollen. ungefähr vorstellen, damit wir dann alle gemeinsam Zudem müssen wir eine Übergangsregelung – das schnell in die Sacharbeit einsteigen können. werden wir auch tun – für diejenigen schaffen, die jetzt (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Auf einmal aufgrund dieser für verfassungswidrig erklärten Gesetze geht es schnell!) einsitzen und die erst einmal überprüft werden müssen, ehe eine neue Sicherungsverwahrung gegebenenfalls Was wollen wir machen? Das bestehende System der verhängt werden kann. Das heißt, wir müssen uns ge- Sicherungsverwahrung und der vorbehaltenen Siche- meinsam überlegen, wie wir es schaffen, dass diejeni- (B) rungsverwahrung werden wir um eine weitere Vorschrift gen, die aufgrund der Landesgesetze jetzt noch einsitzen, (D) ergänzen, die dem Umgang mit den wenigen Tätern, um so lange in Gewahrsam bleiben, bis sie erneut begutach- die es hier geht, Rechnung trägt. Das sind nämlich die tet worden sind und ein Gericht darüber entschieden hat, Täter, für die – wie in Sachsen-Anhalt – aus rechtlichen ob die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung Gründen oder aus tatsächlichen Gründen bislang nicht vorliegen oder nicht. Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte, weil sich erst im Vollzug herausgestellt hat, dass von ihnen Um diese Punkte geht es aufgrund dieser Entschei- eine erhebliche Gefährdung ausgeht. dung hier. Sie sind überschaubar. Dadurch, dass diese Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode schon Eine Regelung, die sich in dieses System einpasst, das Instrument der vorbehaltenen Sicherungsverwah- muss im Großen und Ganzen dasselbe Verfahren wie bei rung eingeführt hat, auf das wir in der Systematik zu- der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung beinhalten. rückgreifen können, bin ich auch sehr zuversichtlich, Das heißt, es gelten die Überprüfungsfristen wie bei der dass wir erstens sehr schnell einen Gesetzentwurf wer- Unterbringung nach § 66 StGB oder nach § 66 a StGB. den vorlegen können und ihn zweitens auch sehr schnell Das sichert zum einen die Rechte der Betroffenen und beraten können. ihre Chance darauf, entlassen zu werden, wenn eine Per- son als nicht mehr gefährlich gilt. Auf der anderen Seite Ich hätte die herzliche Bitte, dass die anfänglichen ermöglicht es aber auch, einen Betroffenen gegebenen- Quisquilien darüber, wer denn nun mehr Schuld als der falls, also wenn es erforderlich ist, unbefristet in Siche- andere habe, zurückgestellt werden, damit wir gemein- rungsverwahrung zu behalten. sam auf alle Fälle wenigstens sicherstellen – Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich fest- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist gestellt, dass es hierbei um das überragende Schutzinte- schon wichtig in der Politik!) resse der Bürger im Hinblick auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung geht. – ich habe ja gesagt, was ich davon halte; ich glaube Wir unterhalten uns deshalb – so meine wenigstens ich – nicht, dass Sie dabei besser abschneiden –, den von nicht über kleine Diebe oder kleine Betrüger und deren Karlsruhe nachträgliche Sicherungsverwahrung. Eine solche Aus- dehnung wäre mit den Vorgaben, die das Gericht ge- (Zuruf des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ macht hat, wohl kaum zu vereinbaren. CSU] – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Schuld ist die eigene Unionsregierung! (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Das muss man immer wieder betonen!) 8066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) – es redet überwiegend immer noch die Bundesjustizmi- vorgeworfen, wir befänden uns im strafrechtlichen Mit- (C) nisterin, Herr Röttgen – gesetzten Termin zu erreichen. telalter. Eines ist doch klar: Es liegt im Interesse dieses Hauses und auch im Interesse der Bundesländer, dass die Men- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) schen, um die es hier geht, nicht freigelassen werden. Er hat ebenso klar wie damals der Vertreter des Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und justizministeriums gesagt, dass es bei dieser Frage um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gefahrenabwehr gehe. Deshalb habe das Ganze im Bun- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ja desrecht nichts zu suchen. All diesen Auffassungen und auch nicht strittig, Frau Ministerin!) auch Ihnen persönlich, Herr Kollege Stünker, ist vom Bundesverfassungsgericht eine schallende Ohrfeige ver- Daran kann doch auch aller politischer Dissens nichts passt worden. ändern. Deswegen bitte ich sehr darum, dass das Gesetz mit der gebotenen Eile, aber gleichzeitig mit der notwen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) digen Gründlichkeit hier im Hause beraten wird. Ich erkenne ja an, dass Sie irgendwann Ihre Meinung Vielen Dank. geändert haben und plötzlich auch für eine bundesrecht- liche Regelung der Sicherungsverwahrung waren. Diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben wir dann ja auch im Jahre 2002, übrigens mit den DIE GRÜNEN) Stimmen der FDP, (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen, verabschiedet. Die Lösung, die wir damals gefunden ha- FDP-Fraktion. ben, haben wir nach sorgfältiger Prüfung beschlossen. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Ich persönlich wäre bereit gewesen, weiter zu gehen, aber die Argu- Jörg van Essen (FDP): mente der Verfassungsrechtler, dass das der Rahmen sei, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich in dem wir uns bewegen könnten, haben mich ganz au- denke, dass es hier nicht, wie es die Bundesjustizminis- ßerordentlich überzeugt. Ich habe jetzt von der Bundes- terin gerade gesagt hat, um Quisquilien geht, sondern justizministerin keine neuen Argumente gehört, die uns Fragen zur Entscheidung anstehen, die ganz außeror- gegen die damaligen Auffassungen der Verfassungs- dentlich wichtig sind und auch sorgfältig geprüft und de- rechtler die Freiheit geben, das Ganze so zu regeln, wie battiert werden müssen. es jetzt gerade hier skizziert worden ist. Ich will deshalb (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig! Das hat sie ge- ankündigen, dass wir sehr sorgfältig und sehr genau als (D) rade gesagt! Also reden Sie es nicht klein!) eine dem Rechtsstaat und der Verfassung verpflichtete Partei prüfen werden, ob der Weg, der vom Bundesjus- – Hören Sie doch überhaupt erst einmal zu, bevor Sie tizministerium vorgeschlagen wird, gangbar ist. sich aufregen. Sie müssen ja offensichtlich sehr nervös sein. Ich habe auch großes Verständnis dafür, dass Sie so Eines will ich aber auch deutlich machen – damit nervös sind. Ich werde darauf nämlich noch eingehen. komme ich auf den Beginn meiner Rede zurück –: Wir haben es hier mit hochgefährlichen Tätern zu tun. Nach Auf der einen Seite haben wir das Verfassungsrecht meiner Kenntnis sind im Augenblick fünf Personen in zu beachten, und zwar streng. Der Rechtsausschuss des dieser besonderen Form der Verwahrung. Deshalb wer- Deutschen Bundestages hat dazu Anhörungen durchge- den wir natürlich erneut und sorgfältig in die Prüfung führt, die uns klare Aussagen gebracht haben, übrigens eintreten müssen, wie wir hier zu einer Lösung kommen auch von Sachverständigen, die von der CDU/CSU be- können. nannt worden sind. Aber eines ist für die Liberalen ganz klar: Es muss Auf der anderen Seite haben wir hochgefährliche Tä- eine verfassungsfeste Lösung sein. Denn es hilft uns ter. Das hat offensichtlich das Bundesverfassungsgericht nichts, wenn wir hier irgendetwas beschließen, was hin- dazu veranlasst, eine Übergangsregelung vorzusehen, in terher einer Prüfung durch das Bundesverfassungsge- der der Gesetzgeber die Chance hat nachzubessern. Man richt nicht standhält. hat wohl eine Gefahr darin gesehen, wenn diese Perso- nen unmittelbar in die Freiheit entlassen würden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Richtig!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ungeprüft!) Ich muss sagen: So klar das Urteil gewesen ist, es hat Das ist ungewöhnlich. Hieraus ergibt sich damit auch mir nicht gefallen, dass diese Täter auch noch vom eine Verpflichtung für uns. höchsten deutschen Gericht Recht bekommen haben. Trotzdem muss ich hier den Sachverhalt ansprechen, Das hätten wir vermeiden können. Deshalb müssen wir dass ich bei kaum einer Frage während der Zeit, in der die einzelnen Fragen bei den anstehenden Diskussionen ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, so viele sehr sorgfältig prüfen. Das wird die Linie sein, mit der rechtliche Volten vonseiten der Koalitionsfraktionen wie die FDP in diese Beratungen geht. bei dieser erlebt habe. Als die CDU/CSU, übrigens wie Vielen Dank. auch die FDP, die Auffassung vertrat, dass hier der Bun- desgesetzgeber gefragt ist, hat der Kollege Stünker uns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8067

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir wissen – auch das Bundesverfassungsgericht hat das (C) Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele, ausdrücklich festgestellt – dass die Sicherungsverwah- Bündnis 90/Die Grünen. rung und die nachträgliche Sicherungsverwahrung Rege- lungen sind, die die Nazis im November 1933 ins Straf- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Gucken gesetzbuch eingeführt haben. Das sollte für uns alle ein wir mal, ob die Bedenken verflogen sind!) Grund sein, ganz genau hinzuschauen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Jeder Gefangene – auch Sie haben ja hin und wieder GRÜNEN): mit ihnen zu tun – empfindet die Sicherungsverwahrung Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! natürlich als Strafe ohne Schuld, die er zu erleiden hat, Dieses Urteil bietet nun wahrlich keinen Grund, von ei- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ner Ohrfeige zu sprechen, die die Bundesregierung oder keine Strafe!) die Parlamentsmehrheit von Rot-Grün bekommen hät- ten. Das Gericht hat sich große Mühe gegeben und in denn die strafrechtliche Schuld hat er ja bereits verbüßt. erster Linie eine Zuständigkeitsfrage entschieden, Wenn die Gerichte in Bayern und in Sachsen-Anhalt die indem es festgestellt hat, dass – dafür spricht tatsächlich Gefährlichkeit der beiden Männer, die jetzt weiterhin in vieles – nicht die Länder zuständig sind, sondern der Sicherungsverwahrung sitzen, damit begründet haben, Bundesgesetzgeber. dass sie sich keiner Therapie unterziehen wollten, Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht gesagt, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das stimmt dass wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung brau- nicht! Das ist sachlich falsch!) chen; es hat nicht einmal gesagt, dass diese mit Sicher- heit zulässig ist. Die Mehrheit der Richter des Bundes- dann bestätigt das meine Bedenken. Gutachter dürfen verfassungsgerichts hat ausdrücklich betont, dass eine nicht zu dem Ergebnis der Gefährlichkeit kommen, weil solche Regelung nicht von vornherein das Verdikt der das Fehlen einer Therapie nicht ausreicht. Selbst dem Verfassungswidrigkeit trägt. Das heißt, selbst dieses Ge- Bundesverfassungsgericht war offensichtlich sehr un- richt kommt zu dem Schluss, dass ganz genau überlegt wohl, denn es hat gesagt, die Instanzgerichte seien auf- werden muss, ob nicht beispielsweise das Rückwir- gefordert, die Entscheidung zu überprüfen und festzu- kungsverbot und andere verfassungsrechtlich sehr wich- stellen, ob die Gesamtwürdigung der Täter und der Taten tige Grundsätze gegen eine solche Regelung sprechen, eine längere Unterbringung in der Sicherungsverwah- wie sie beispielsweise Bayern und Sachsen-Anhalt ge- rung überhaupt rechtfertigt. schaffen haben. (B) Wenn ich all das berücksichtige, dann kann ich nur zu (D) Das heißt, hier ist ein ganz wichtiger Abwägungspro- dem Ergebnis kommen: Wir haben nicht nur die Auf- zess vorzunehmen. Das haben wir vor. Eine Entschei- gabe, eine Entscheidung zu fällen, sondern auch, noch- dung ist zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht sagt mals sehr gründlich abzuwägen. Insbesondere müssen nicht mehr, als dass der Bundesgesetzgeber entscheiden wir das beachten, was uns die drei Richter des Bundes- soll, ob er selbst für eine Regelung sorgt, verfassungsgerichts in ihrem Dissenting Vote mit auf (Zuruf von der [CDU/CSU]: Das ist das, was den Weg gegeben haben, nämlich dass es nach dem wir gefordert haben!) Rückwirkungsverbot, das aus guten Gründen Verfas- sungsrang hat, eine äußerst problematische Angelegen- ob er überhaupt ein zusätzliches Eingreifen für erforder- heit ist – es ist fraglich, ob, in welchem Maße und mit lich hält oder ob der Bund den Ländern die Kompetenz welchen Einschränkungen so etwas passieren kann –, dafür überträgt. Es wäre durchaus denkbar, dass über- wenn der Gesetzgeber eine Regelung erlässt, die für haupt nichts geschieht, weil – so haben es die drei Rich- Menschen, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, bedeu- ter des Bundesverfassungsgerichts, die die Minderheits- tet, dass sie weiterhin jahrelang, möglicherweise ein meinung vertreten haben, formuliert – die Maßnahmen, ganzes Leben lang, in der Haft bleiben müssen. die schon heute möglich sind, ausreichen, zum Beispiel Führungsaufsicht, Weisungen, Unterbringung in einer (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: psychiatrischen Anstalt und Ähnliches, um vor gefährli- Was ist Ihre Alternative?) chen Tätern die Sicherheit zu wahren und die Bevölke- rung vor ihnen zu schützen. Diese Entscheidung werden wir uns nicht leicht ma- chen. Bei dieser Entscheidung sind alle Möglichkeiten (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das müs- offen. Ich kann nur sagen: So wie es die beiden Länder sen wir entscheiden!) Sachsen-Anhalt und Bayern geregelt haben, so kann eine Das sind alles wichtige Fragen, die wir prüfen müs- Regelung jedenfalls nicht aussehen und so darf sie nicht sen. Wir können nicht einfach ohne Prüfung wie Bayern aussehen, weil sie mit den Vorgaben, die das Bundesver- und Sachsen-Anhalt vorgehen, wie Sie es vorschlagen. fassungsgericht in das Urteil geschrieben hat, inhaltlich nicht zu vereinbaren ist. Meine Bedenken gegen die nachträgliche Sicherungs- verwahrung – das sage ich Ihnen ganz deutlich – sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungs- und bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Was gericht mit zu entscheiden hatte, eher bestätigt worden. halten Sie von dem Gesetzentwurf?) 8068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sehr wohl gelöst werden. Die Sicherungsverwahrung, (C) Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, die damals nach altem Recht nicht möglich war, wäre CDU/CSU-Fraktion. jetzt nach § 66 Abs. 3 StGB möglich. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wir dürfen uns nicht hinter diesen Fällen verste- cken. Es geht hier nämlich nicht allein um die Regelung von zwei Altfällen. Es geht schlicht und ergreifend um Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): die Problematik, dass sich manchmal erst im Strafvoll- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situa- zug Persönlichkeitszüge eines Täters zeigen, die nach tion ist viel zu ernst, um unlautere Argumente zuzulas- der Prognose des erkennenden Gerichts noch nicht fest- sen, wie sie beispielsweise der Kollege Ströbele verbrei- stellbar waren. Was liegt näher, als die Entwicklung des tet; denn er weiß ganz genau, dass eine Maßregel der Straftäters in der Strafhaft bei der Prognoseentscheidung Besserung und Sicherung keine Strafe ist und dass das über seine Gefährlichkeit mit einzubeziehen? Also Verbot der Doppelbestrafung ihr nicht entgegensteht. schreit doch genau das, was der Gesetzgeber früher schon wollte, nämlich eine sichere Prognoseentschei- (Beifall bei der CDU/CSU – Erika Simm dung treffen zu können, nach der nachträglichen Siche- [SPD]: Er hat gesagt, es wird so empfunden! – rungsverwahrung. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat von der Empfindung gesprochen!) Ich räume natürlich ein: Dies ist kein einfach zu lö- sendes Problem, Es brennt lichterloh. Was mich am meisten ärgert, ist nicht, dass die Bundesjustizministerin versucht, den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schwarzen Peter im Kreis herumzutragen. Was mich GRÜNEN]: Warum haben Sie sie damals nicht auch ärgert, ist der Umstand, dass wir unnötig sehr viel eingeführt?) Zeit verloren haben. weil sich hier die Sicherheit der Allgemeinheit und die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte eines Straftä- ters und Verurteilten gegenüberstehen. Dass die landesrechtlichen Regelungen verfassungs- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rechtlich bedenklich sind, wissen wir nicht erst seit der Wie wahr!) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Fe- bruar 2004. Man braucht nur bei Kinzig in der NJW Das ist ein Konflikt, den der Gesetzgeber zu lösen hat. 2001 auf Seite 1455 nachzulesen. Dort sind genau die Nur, da hat das Justizministerium schändlich versagt, (B) verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie sich aus der Zeit wurde verschenkt, die man jetzt aufholen muss. (D) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben, Denn haben wir dies bis zum 30. September dieses Jah- aufgeführt. res nicht geschafft, erhält die Bundesjustizministerin die rote Karte und die zwei Straftäter – einen Fall habe ich Wir müssen auch über konkrete Fälle sprechen. Der Ihnen geschildert; dieser Straftäter hat eine Frau umge- Fall aus Sachsen-Anhalt betraf einen damals 17-Jähri- bracht und versucht, eine zu töten – sind dann auf freiem gen, der die Schwägerin seiner Freundin mit einem Fuß. Das werden wir nicht wollen. Hammer erschlagen hat, weil sie ihm nicht willfährig war. Die Tat wurde zwei Tage später entdeckt. Der 2-jäh- (Beifall bei der CDU/CSU) rige Sohn des Tatopfers saß blutverschmiert, verstört Unsere Unterstützung haben Sie. Wir helfen mit, zu und völlig unterkühlt neben seiner Mutter. Der Täter be- einer sachlichen Lösung zu kommen. Aber wir lassen kam damals in der alten DDR eine Jugendstrafe von uns nicht gefallen, dass Sie uns Dinge vorwerfen, die 15 Jahren. Die Hälfte davon musste er absitzen. Zwei rechtlich nicht haltbar und politisch nicht vertretbar sind. Monate nach der Haftentlassung hat er versucht, eine 20-jährige Frau, die ihm ebenfalls nicht willfährig war, Vielen Dank. zu erstechen. Diese Frau leidet noch heute an Nervenstö- (Beifall bei der CDU/CSU) rungen und an einer Gehbehinderung. Ich sage das nur, damit jeder weiß, wovon wir sprechen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Justizministerin, es ist vielleicht geboten, nicht Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Uwe mit Häme auf eine zurückliegende Legislaturperiode zu Benneter, SPD-Fraktion. verweisen, sondern das Gesetz aus dem Jahre 1998, mit (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: dem in § 66 Abs. 3 StGB eine neue Vorschrift eingeführt Mon Général!) wurde, zu analysieren. Denn die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat, sind so genannte Altfälle, weil die Taten vor dem Jahr 1998 Klaus Uwe Benneter (SPD): liegen. Wären sie heute geschehen, könnten sie nach Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die- dem jetzt bestehenden § 66 Abs. 3 StGB – das ist eine sem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss eines Leistung nicht Ihrer, sondern unserer damaligen Regie- klar sein: Wir haben die gemeinsame Verantwortung, rung – schnell dafür zu sorgen, dass die Täter, um die es hier geht, nicht zum 1. Oktober dieses Jahres freigelassen (Erika Simm [SPD]: Wir haben zugestimmt!) werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8069

Klaus Uwe Benneter (A) (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Nehmen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Sie unsere Entwürfe!) Ich erteile der Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU- Fraktion, das Wort. Deshalb macht es keinen Sinn, Herr Kollege Kauder, sich wechselseitig vorzuhalten, dass man die größere Verantwortung wahrnehmen würde. Für uns gibt es in Michaela Noll (CDU/CSU): dieser Frage kein Verstecken. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Tage, da macht das Zeitunglesen Spaß. Es gab gute Gründe, dieses Problem zum Bereich der Einer war gestern, denn jetzt herrscht Klarheit. Sie kön- präventiven Gefahrenabwehr zu zählen und es deshalb nen es drehen und wenden, wie Sie wollen, Frau Minis- landesgesetzlich zu regeln. Das Bundesverfassungsge- terin: Sie sind jetzt an der Regierung. richt hat dies jetzt anders gesehen und hat uns andere (Brigitte Zypries, Bundesministerin: Das ist Gründe vorgegeben. Anhand dieser Gründe werden wir wahr! – Joachim Stünker [SPD]: Richtig! – nun rasch, präzise, umfassend und vor allen Dingen Lachen bei der SPD) rechtzeitig ein entsprechendes Gesetz vorzulegen haben. Eines jedenfalls ist uns klar: Diese Täter dürfen nicht in So sieht es auch die Öffentlichkeit. Freiheit kommen. Die Gesellschaft muss die Sicherheit haben, dass solche Täter in staatlichem Gewahrsam blei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben. In den Zeitungen hieß es: „Eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung“ – „Die Welt“, „Danke, ihr Richter“ – (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: „Bild“-Zeitung, „Nun muss der Bund sich rühren“ – „Berli- Späte Erkenntnis!) ner Zeitung“. Die CDU/CSU hat dies 1998 – darauf ist wiederholt Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsge- hingewiesen worden – selbst so gesehen. Deshalb macht richts können die Menschen in Deutschland aufatmen – es wenig Sinn, dem Kollegen Ströbele vorzuhalten, er und ich auch. nehme hier eine unkorrekte Abwägung vor. (Lachen bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Endlich haben wir Rückendeckung für eine Rechtspoli- tik bekommen, die Opferschutz höher als Täterschutz Ich halte es wirklich für eine Frechheit, wenn Sie mei- gewichtet. nen, Sie müssten uns davor warnen, diese Verfassungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (B) gerichtsentscheidung nicht korrekt zu deuten. Wir deuten Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) sie so, wie sie uns vorgegeben worden ist. In wenigen Ta- GRÜNEN]: Wo steht das in dem Urteil?) gen wird uns die Bundesjustizministerin – das hat sie schon angekündigt – einen entsprechenden Gesetzentwurf Im letzten Jahr haben wir hier an dieser Stelle immer vorlegen, einen Gesetzentwurf, in dem das Verfahren ge- wieder eine Debatte über den Umgang mit gefährlichen, nau so ausgestaltet sein wird, wie wir es bereits für die nicht therapierbaren Gewalt- und Sexualtätern geführt. vorbeugende Sicherungsverwahrung vorgesehen haben. „Wegschließen, und zwar für immer“ forderte Kanzler Schröder vor einiger Zeit, als in kurzen Abständen Wir jedenfalls lassen keine Zweifel daran zu, dass gleich mehrere Sexualmorde an Kindern verübt worden schwerstkriminelle Mörder und Sexualstraftäter nicht in waren. Das Thema wurde besetzt und es wurde auf Ver- Freiheit kommen dürfen. Herr Kauder, Sie haben die gessen gesetzt. Scheußlichkeiten eines Falles dargestellt. Sie können si- cher sein, dass keiner der hier Anwesenden dies anders Ich frage mich daher immer wieder, warum SPD und sieht. Deshalb besteht die gemeinsame Verantwortung, Grüne das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht das, was das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, ernst nehmen. Bei den Grünen fällt mir die Antwort in der Abwägung zwischen einerseits der Menschen- leicht: Geht es Ihnen, Herr Ströbele, vielleicht nur da- würde, die sicher auch für Straftäter gilt, und anderer- rum, Ihr politisch relevantes Klientel zu bedienen? seits der Sicherung der Allgemeinheit umzusetzen. Da- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für sind wir bzw. ist der Staat zuständig. Wir haben diese NEN]: Oh, oh, Frau Kollegin, denken Sie doch Abwägungen vorzunehmen, wobei es einerseits um mal nach, was Sie da sagen! – Dirk hochgefährliche Täter und andererseits um eine verfas- Manzewski [SPD]: Unerhört!) sungsgerechte Lösung geht. – Sie müssen sich gar nicht so aufregen. – Generelles Dies werden wir – darauf können Sie sich verlassen – Misstrauen und Widerwillen gegen Polizei, Staatsan- leisten. Wir in dieser Koalition werden dies bei allen waltschaft und geschlossenen Vollzug sind die Hand- Schattierungen, unterschiedlichen Ansätzen und bei al- schrift grüner Rechts- und Innenpolitik. Wie oft haben len Diskussionen, die darüber in der Vergangenheit statt- wir dies in der Vergangenheit bereits erlebt! Sprechen gefunden haben, umsetzen und keinerlei Zweifel daran wir einmal Graffiti an, aufkommen lassen, dass solche Täter auch für uns auf Dauer hinter Schloss und Riegel gehören. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen wir die auch in Sicherungs- (Beifall bei der SPD) verwahrung bringen?) 8070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Michaela Noll (A) sprechen wir die Verschärfung des sexuellen Miss- verfassungsgericht seiner Verantwortung bewusst. An- (C) brauchs an. Warum fiel es Ihnen damals so schwer, die derenfalls würden sich die hier viel zitierten „tickenden Grundtatbestände nach § 176 Abs. 1 und Abs. 2 StGB Zeitbomben“ wieder unter das Volk mischen. bei Kindern als Verbrechen einzustufen? Deshalb for- Ich werde nicht lockerlassen, bis wir in Deutschland dere ich Sie jetzt auf: Schluss mit falscher Toleranz; ein Gesetz haben, mit dem besonders gefährliche Straf- denn Toleranz hat dort ein Ende, wo Gefährdung der öf- täter weggesperrt werden können, und zwar notfalls für fentlichen Sicherheit anfängt. immer. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie, Herr Ströbele, haben wieder nur für die Täter ge- Mit diesem Urteil wird die Bundesregierung gezwun- sprochen und nicht für die Opfer. Gebetsmühlenartig gen umzudenken. Räumen Sie endlich dem Opferschutz wiederhole ich deshalb meine alte Forderung: Opfer- Vorrang vor dem Täterschutz ein. Meine Damen und schutz vor Täterschutz! Herren von der Regierungsbank, lassen Sie den vielen Worten, die bereits gefallen sind, jetzt Taten folgen. Es (Erika Simm [SPD]: Die haben Sie erfunden?) gilt, schnellstmöglich ein Bundesgesetz zu erlassen. Nun sind Sie am Zug. Nach Ihrem Vortrag, Frau Minis- Deshalb sage ich an dieser Stelle: besser spät als nie. Bis terin, habe ich die Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. heute hat die Bundesregierung alle Vorschläge – es wa- Es ist höchste Zeit. ren viele – hartnäckig mit der Begründung blockiert, die Länder seien zuständig. Weit gefehlt! Diese Begründung Vielen Dank. wurde mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Beifall bei der CDU/CSU) widerlegt. So haben auch Sie, sehr geehrter Herr Kollege Stünker, eine kleine Nachhilfestunde bekommen. Müs- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sen wir von der Opposition denn der Bundesregierung Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/ immer wieder ihre Verantwortung für den Schutz der Die Grünen. Allgemeinheit ins Bewusstsein rufen? Anscheinend ja.

Die Opfer mahnen uns zu handeln. Die Schicksale er- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mordeter Kinder wie Kim, Natalie, Tom und Sonja wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- den uns begleiten. legin Noll, vor fünf Minuten hat Ihr Kollege Kauder die (Joachim Stünker [SPD]: Was hat das denn Hand zu einer sachlichen Diskussion ausgestreckt. Nach hiermit zu tun? – Hans-Christian Ströbele Ihrer Rede ist alles schon wieder vorbei. Bei solcher bo- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nennt denlosen Phraseologie, solchem Populismus und solchen (B) (D) man Populismus in der schlimmsten Form! – Angriffen gegen den Kollegen Ströbele persönlich Joachim Stünker [SPD]: Das ist unglaublicher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unfug! Keiner dieser Fälle hat hiermit etwas und bei der SPD) zu tun! Perfide ist das, unterste Kiste!) werden wir es offensichtlich nicht schaffen, mit Ihnen Erwarten Sie bitte kein Verständnis von betroffenen El- sachlich über diese ganz schwierige Frage zu reden. tern, wenn Sie in dieser Frage immer wieder verzögern oder blockieren. Die Sicherungsverwahrung trifft keine Natürlich hat das Bundesverfassungsgericht uns eine Unschuldslämmer. Darum geht es. In Sicherungsver- enge Frist gesetzt, zu handeln. Wir werden auch handeln, wahrung kommen nur schwere Straftäter. wie es der Kollege Ströbele beschrieben hat. Zurzeit sitzen 300 schwere Sexualverbrecher und Ge- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: walttäter in Sicherungsverwahrung, davon allein ein Um Gottes willen!) Drittel bei mir in Nordrhein-Westfalen. Ich hatte vor kur- Wir werden uns ganz genau überlegen, was zu tun ist, zem selbst Gelegenheit, einen Sicherungsverwahrungs- und werden in der gebotenen Frist und Eile das Richtige trakt in meinem Wahlkreis in Langenfeld zu besuchen. tun. (Erika Simm [SPD]: Das erste Mal in Ihrem (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was ist Leben wahrscheinlich!) denn das Richtige?) Die dort einsitzenden Rückfalltäter werden hoffentlich Das Bundesverfassungsgericht hat aber eine noch ei- keinem Unschuldigen mehr etwas tun. ligere Entscheidung angemahnt. Es hat die Gerichte, die Die Frist läuft. Sie haben bis zum 30. September Zeit. nach Landesrecht die nachträgliche Sicherungsverwah- So lange müssen die in den unterschiedlichen Bundes- rung gegen die noch fünf Betroffenen angeordnet haben, ländern inhaftierten Sexualstraftäter in Haft bleiben. Ich aufgefordert, unverzüglich ihre Entscheidungen zu über- sage Ihnen: Das ist gut so. prüfen, und zwar nicht anhand der materiell verfassungs- widrigen Kriterien der Landesgesetze, sondern nach der (Beifall bei der CDU/CSU) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Aber es ist ein Armutszeugnis für die Regierung, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das Bundesverfassungsgericht trotz Verfassungswidrig- keit der Landesgesetze darauf bestehen muss, dass die Es ist durchaus möglich, dass diese Menschen von den Straftäter in Haft bleiben. Damit war sich das Bundes- Gerichten freigelassen werden, wenn die verfassungsge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8071

Jerzy Montag (A) mäßen Kriterien des Verfassungsgerichtsurteils auf diese als ergänzendes Argument, wie das Verfassungsgericht (C) Fälle angewendet werden. schreibt, herangezogen werden kann. Deswegen bin ich persönlich im Übrigen auch gegen eine Öffnungsklausel. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Weil Sie Denn ich will nicht, dass die Bayerische Staatsregierung das Gesetz verweigern! – Dr. Norbert Röttgen ihr verfassungswidriges Gesetz noch einmal aus der Ta- [CDU/CSU]: Wer hat denn die Länder genö- sche ziehen und mittels einer Öffnungsklausel als Lan- tigt, so zu handeln?) desgesetz einführen kann. Warten wir ab, wie diese Entscheidungen aussehen wer- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die wollen den. das nicht! Keine Sorge!) Meine Damen und Herren, wir Grüne und auch die Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte, Kollegen der SPD hatten schwere verfassungsrechtliche ist: Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass eine nach- Bedenken gegen die nachträgliche Anordnung der Si- trägliche Sicherungsverwahrung die umfassende Würdi- cherungsverwahrung. Ich persönlich kann sagen: Wir gung der Täterpersönlichkeit voraussetzt. Das bedeutet, haben sie weiterhin. Das Bundesverfassungsgericht hat dass eine umfassende Begutachtung notwendig ist. Es nun gesagt, eine nachträgliche Anordnung einer präven- wäre sogar besser – hier übernehme ich gern eine Idee tiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter sei „bei aus dem bayerischen Landesgesetz –, wenn dabei zwei entsprechend enger Fassung nicht von vornherein“ ver- Sachverständige eingesetzt würden und wenn sie externe fassungswidrig. Einen engeren Korridor kann ich mir Sachverständige und nicht solche, die aus dem Vollzug kaum vorstellen. kommen, wären. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Natürlich (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, alles ist er eng!) CDU/CSU-Entwürfe!) Deswegen gilt es, diesen engen Korridor, innerhalb des- Auch sagt das Bundesverfassungsgericht, dass sehr hohe sen eine verfassungsmäßige Regelung überhaupt nur Maßstäbe an die Qualität dieser Gutachten anzulegen möglich ist, jetzt schnell auszuloten. sind, weil in den Gutachten immer Unschärfen in der (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: So ist es! Prognosebildung vorhanden sind. Wir müssen diesen Spielraum nutzen!) (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das wis- Dazu will ich an dieser Stelle in der gebotenen Kürze sen wir doch alles! Das tun wir doch seit Jah- drei Gedanken vortragen. ren!) Erstens. Das Gericht hat gesagt, dass die Bindung der Ich bin dafür, dass wir uns tatsächlich Gedanken darüber (B) (D) Sicherungsentscheidung an die Straftat weiterhin das machen, wie wir die hohe Qualität gerade dieser Aus- entscheidende Element ist. nahmeentscheidungen verfassungsfest im Gesetz veran- kern. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Eben!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Das bedeutet, dass die Bindung an das Bundesrecht nicht alles unsere Auffassung!) nur formal – über das Strafrecht –, sondern auch verfah- rensmäßig und materiell ist: Auch die nachträgliche An- Mein dritter Punkt. Ein rechtsstaatliches Verfahren ordnung der Sicherungsverwahrung ist in erster Linie an muss der Tatsache Rechnung tragen, dass auch die nach- die Straftat zu binden, die begangen worden ist. trägliche Sicherungsverwahrung keine isolierte Straf- vollstreckungsentscheidung, sondern eine echte Ergän- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: zung des Sachurteils im Erkenntnisverfahren ist. Haben wir immer gesagt!) – Jetzt sagen Sie es hier: Ja, so ist es. – Aber in den Geset- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zen, die für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist ge- Herr Kollege! nau dies nicht beachtet worden. Das Bundesverfassungs- gericht hat in mehr als deutlicher Art und Weise gesagt, Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass das bayerische Gesetz nicht nur formal – wegen Un- – Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. zuständigkeit –, sondern auch inhaltlich verfassungswid- rig ist, weil es im Wesentlichen auf das Nachtatverhal- ten, insbesondere auf das Verhalten in der Strafhaft und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: eine angeblich verweigerte Teilnahme an einer Resozia- Wie schön. lisierungsmaßnahme, abzielt. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Das werden wir nicht tun; denn das wäre tatsächlich alles richtig, Herr Präsident!) verfassungswidrig. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass wir uns und bei der SPD) Gedanken darüber machen müssen, dass es sich um eine Auch bei einer nachträglichen Anordnung bleibt es da- öffentliche Verhandlung handeln wird, dass eine umfas- bei, dass die Straftat der Ausgangspunkt der Überlegun- sende Beweisaufnahme durchgeführt wird, dass eine gen sein muss und dass das Verhalten danach lediglich volle Verteidigungsmöglichkeit gegeben wird und dass 8072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Jerzy Montag (A) die Rechtsmittel auch in diesem Verfahren aufrechterhal- sungsgerichts ist für die Bundesregierung daher eine (C) ten werden. klare Niederlage. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ich stimme Ih- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nen vollkommen zu! Das ist unser Entwurf!) GRÜNEN]: Für welche? – Gegenruf des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir haben Das sind meiner Meinung nach die drei Punkte, – doch nur eine!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Diese hat es bislang abgelehnt, bundesweit eine einheit- liche Regelung zu schaffen. Sie hatten aber Ihre letzte Bemerkung angekündigt. (Zuruf der Abg. Erika Simm [SPD]) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Liebe Frau Kollegin, wenn einem die Sorgen und Pro- – die in die Debatte eingebracht werden müssen. bleme der Bevölkerung am Herzen liegen, dann, so Dann werden wir schnell ein gutes und verfassungsge- glaube ich, ist es nicht nur Juristen gestattet, über dieses mäßes Gesetz zustande bringen. Thema zu sprechen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine meiner Kolleginnen, die dort hinten Platz genom- und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: men hat, sagt immer, dass auch wir, die wir nicht Juris- Hoffentlich!) ten sind, gesunden Menschenverstand haben. Ich möchte noch einmal auf die Rückfallstatistik ein- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gehen. Denn die Erklärung, die das Bundesjustizministe- Herr Kollege Röttgen, auch wenn ein Redner nach rium zur Rückfallstatistik vorgelegt hat, stimmt mich Auffassung der Opposition etwas Richtiges sagt, wird weniger positiv. Die Verfasser der Studie kommen zu deswegen nicht seine Redezeit verlängert. Das gilt im dem Ergebnis, dass die Rückfallquote bei Strafen mit Übrigen auch bei umgekehrter Rollenverteilung. Freiheitsentzug höher ist als bei zur Bewährung ausge- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das wäre setzten Strafen. aber eigentlich gerecht!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann nehmen wir die alle in Siche- Nun hat die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/CSU- rungsverwahrung! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Fraktion, das Wort. (B) DIE GRÜNEN]: Die Rückfälle auch noch in die Si- (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) cherungsverwahrung, oder was?) – Auf Sie beide komme ich später noch zu sprechen. – Das Dorothee Mantel (CDU/CSU): Bundesjustizministerium interpretiert dies so, dass leich- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die tere Strafen zu weniger Rückfällen führen. Tatsächlich Sicherungsverwahrung wird nicht nur in Deutschland dis- aber werden Bewährungsstrafen eher bei schon positiven kutiert. Am vergangenen Wochenende gab es in der Sozialprognosen ausgesetzt. Man sollte also sehr vor- Schweiz eine Volksabstimmung zu diesem Thema. sichtig sein, wenn man hier mit Ursache und Wirkung 56 Prozent der Bevölkerung stimmten für die Möglichkeit argumentiert. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass im einer Anordnung der Sicherungsverwahrung und 24 der Einzelfall eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe sinn- 26 Kantone sprachen sich mehrheitlich dafür aus. Auch in voller wäre. Deutschland besteht dringender Handlungsbedarf. Das Die Sicherungsverwahrung ist eine notwendige und Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag die- sinnvolle Regelung, denn nicht immer können mögliche ser Woche hat eines gezeigt: Die Bundesregierung hat Gefahren, die von Tätern ausgehen, schon im Zuge einer jahrelang falsche Tatsachen über die Zuständigkeit ver- Verurteilung erkannt werden. Wer dem nicht zustimmen breitet. Jetzt hat die Bundesregierung die Quittung für kann, sollte sich fragen, ob er nicht an einem falschen ihre Untätigkeit bekommen. Menschenbild festhält. Leider gibt es in Ihren Reihen (Beifall bei der CDU/CSU) noch immer viele Anhänger der Theorie, dass ein Mensch immer Opfer der gesellschaftlichen Umstände Vergangene Woche hat die Bundesjustizministerin sei, demnach auch ein Sexualstraftäter Opfer der gesell- eine Rückfallstatistik vorgelegt. Diese Untersuchung schaftlichen Umstände sei. Das ist doch eine verkehrte sollte eine Grundlage für künftige Vorhaben im Justizbe- Welt, meine Damen und Herren, vor allem, wenn die reich schaffen. Ich hoffe sehr, dass sich die Bundesregie- wirklichen Opfer den Eindruck haben müssen, dass sich rung auch bei der Sicherungsverwahrung zum Handeln die Politik mehr um die Täter sorgt als um sie. aufgefordert sieht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Das ist unglaublich!) Ich will die Dinge ganz offen beim Namen nennen: Denn die Union hat schon oft genug darauf hingewie- Ihre falsche Täter-Opfer-Einstellung führt in vielen Be- sen, dass der Bund in diesem Bereich ein Gesetz auf reichen des Strafrechts und der Innenpolitik zu großen den Weg bringen muss. Das Urteil des Bundesverfas- Problemen. Immer steht der falsch verstandene Schutz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8073

Dorothee Mantel (A) Einzelner im Vordergrund, aber nicht der Schutz der Be- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) völkerung, der Schutz der Menschen in unserem Land. Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sperrt sie doch alle weg!) Hans-Peter Kemper (SPD): Wenn ich mit jungen Müttern diskutiere, wie soll ich ih- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen das erklären? Es geht nämlich um die richtige Ba- Wenn ich die verzweifelten Bemühungen insbesondere lance zwischen Schutz und Freiheit. Doch leider ist die der CDU-Damen sehe, dieses Gerichtsurteil in eine Nie- Linke in einem falschen Menschenbild verhaftet. derlage für die Regierung umzudeuten, habe ich erhebli- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei che Zweifel, ob es zu der Gemeinsamkeit, die Herr der SPD) Kauder in Aussicht gestellt hat, kommen kann und kom- men wird. Anders kann ich auch mir selbst die Aussagen einiger Kollegen nicht erklären. Herr Montag, Sie machen im- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Daran mer ganz erhebliche verfassungsrechtliche Vorbehalte zweifeln Sie doch nicht wirklich! – Kurt J. gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung geltend. Rossmanith [CDU/CSU]: Es ist halt, wie es ist!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Verfassungsgericht macht Ich glaube, auf die Reden, die Sie hier gehalten haben, das!) muss man nicht näher eingehen. Ich will mich auch nicht darauf einlassen, wer nun wem eine schallende Ohrfeige Da stimmt doch etwas nicht! Der Schutz der Bevölke- verpasst hat; ich glaube, das wird der Sache nicht ge- rung kann und darf doch nicht weniger hoch wiegen als recht. die Sorge um die Täter! (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hat et- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE was mit Verantwortung zu tun!) GRÜNEN]: Lesen Sie einmal das Grundge- setz, Frau Kollegin!) Ich werde mich an dem rechtspolitischen Exkurs nicht beteiligen, sondern will einige Gedanken als In- Die ersten Reaktionen der Bundesregierung machen nenpolitiker beitragen. Nachdem ich in meinem ersten nicht den Eindruck, als wolle man aus dieser Niederlage Leben mehr als 30 Jahre mit der Verbrechensbekämp- lernen. Bundesinnenminister Schily hat das Urteil zwar fung in der Praxis zu tun hatte, nämlich als Polizeibeam- begrüßt. Es bleibt aber zu hoffen, dass er nicht schon ein (B) ter täglich mit ihr konfrontiert war, widme ich mich (D) Unheil ahnt, nämlich dass bis September nichts passie- nämlich seit nunmehr über zehn Jahren politisch der in- ren wird. Mit der Aussage, er begrüße, dass Frau Zypries neren Sicherheit. die ersten Schritte schon eingeleitet habe, macht er hof- fentlich nicht klar, dass er die Verantwortung dem Justiz- Wir haben bei der inneren Sicherheit zwei Grundsäu- ministerium alleine überlässt. len zu beachten. Da ist zum einen die Repression: Wir müssen begangene Straftaten aufklären, den Täter ermit- Ich möchte daher die Bundesregierung auffordern, teln und der Bestrafung zuführen, und zwar nicht allein, mitzuhelfen, dass bis September dieses Jahres eine ge- um dem Strafanspruch des Staates gerecht zu werden. setzliche Regelung geschaffen wird. Die Zeit drängt: Bis Nein, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch dem zum 30. September muss der Bund eine Regelung schaf- Opfer und den Angehörigen der Opfer ein wichtiges An- fen. Einfach wird das nicht. Frau Zypries, ich setze liegen ist, dass Straftaten aufgeklärt und die Täter be- meine Hoffnungen auch auf Sie! Doch selbst wenn Sie straft werden. Hier brauchen wir von Ihnen keinen es wollten – mit einem Ströbele an dem einen Bein und Nachhilfeunterricht; das machen wir seit Jahren, da gibt einem Montag an dem anderen Bein, da kann man kei- es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten. nen Schritt nach vorne machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre ja noch (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Jerzy Montag schöner!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber „an der Seite“ schon! Wir sind an der Seite der Minis- Die zweite Grundfeste ist die Prävention. Bei der Prä- terin!) vention geht es in erster Linie darum, Straftaten zu ver- Die Verhinderer werden weiterhin im Stillen ihr Werk hindern. Dazu gehört, dass Straftäter, die in hohem Maße betreiben. Jeder in der Koalition, der sich nicht dagegen gefährlich sind, in Sicherungsverwahrung kommen kön- wehrt, handelt verantwortungslos! Stellen Sie sich jetzt nen. Die Strafen reichen oftmals nämlich nicht aus. Eine Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren von der lebenslange Freiheitsstrafe dauert bei uns kein Leben Koalition! Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, lang; das ist allen bekannt. Es gibt ein Leben nach dem dass Sie nicht mehr länger untätig bleiben dürfen. Die Lebenslänglich. Es muss uns nun darum gehen, die we- Bevölkerung hat ein Recht darauf, vor Gefahren ge- nigen Lücken, die bestehen, zu schließen. schützt zu werden. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil die Frage Herzlichen Dank. geklärt, wer zuständig ist. Jetzt geht es darum, dass wir das Richtige tun. Wir werden das angehen. Ob Sie, Herr (Beifall bei der CDU/CSU) Kauder, mitmachen oder nicht, bleibt Ihnen überlassen. 8074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hans-Peter Kemper (A) Ich finde aber, es wäre gut, wenn wir in dieser wichtigen gleich mit! Machen Sie auch beim Opfer- (C) Frage gemeinsam etwas auf den Weg bringen würden. schutz im Jugendstrafverfahren mit!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Es steht grundsätzlich völlig außer Frage: Jeder Straf- Darauf kann Kollege Kemper nicht mehr eingehen, da täter hat eine Chance auf Rehabilitation, eine zweite seine Redezeit abgelaufen ist. Das muss im Ausschuss Chance verdient. Ob er diese Chance aber bekommt, nachgeholt werden. muss bei erkennbaren Risiken ganz besonders geprüft Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler, CDU/ werden. Es kann nicht angehen, dass Menschen auf CSU-Fraktion. freien Fuß kommen, die erkennbar eine Gefahr für potenzielle Opfer darstellen. Das wollen wir nicht. Des- (Beifall bei der CDU/CSU) wegen werden wir handeln. Es gibt – das wissen wir alle – keinen Rundumschutz Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): und keine hundertprozentige Sicherheit, bei Ersttätern Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sowieso nicht. Über das mögliche Verhalten von Erst- ren! Das Bundesverfassungsgericht bestätigt mit seinem tätern gibt es keine Erkenntnisse, es hilft also auch keine Urteil die Rechtsauffassung von CDU und CSU. Wir ha- Sicherungsverwahrung. Wir können bestenfalls die all- ben schon mehrfach auf die gefährliche Gesetzeslücke gemeine Prävention, die Primärprävention stärken, was hingewiesen und uns wiederholt dafür eingesetzt, dass wir im Übrigen auch tun werden. Wir müssen aber alles die nachträgliche Sicherungsverwahrung bundesgesetz- tun, um gefährliche Triebtäter mit extrem ungünstiger lich geregelt wird. Prognose, die Wiederholungstäter sind, nicht wieder in Die Hoffnung der Bundesregierung, die Zuständigkeit die Freiheit entlassen zu müssen. Diese Täter sind in der in dieser für sie heiklen Frage auf die Länder abzuwäl- Regel Karrieretäter, ihre Tötungs- und Sexualdelikte wa- zen und damit ihre koalitionsinterne Uneinigkeit zu ver- ren nicht ihre erste Straftat. Sie haben eine kriminelle bergen, wurde durch das Urteil des Bundesverfassungs- Karriere hinter sich. gerichtes zunichte gemacht. Das Meinungsspektrum von Rot-Grün zum Umgang mit gefährlichen Gewaltverbre- Darauf müssen wir reagieren. Die Menschen erwarten chern weist nämlich ein beachtliches Ausmaß auf. Dies von uns, dass sie in Sicherheit leben und ein Leben ohne wurde auch heute wieder deutlich. Da haben wir zum Angst führen können. Sie haben einen Anspruch darauf, einen die öffentlichkeitswirksam in der „Bild“-Zeitung vor gefährlichen Tätern geschützt zu werden. Hierzu vorgebrachte Forderung des zürnenden Kanzlers, werden wir alle legalen Mittel ausschöpfen, die wir ha- Sexualverbrecher gehörten für immer weggesperrt. Zum (B) ben. Dabei spanne ich den Bogen von der Ausschöpfung (D) anderen haben wir den Kommentar des grünen Abgeord- der Möglichkeiten bei der DNA-Analyse bis zur Siche- neten Christian Ströbele, die nachträgliche Sicherungs- rungsverwahrung. verwahrung sei Freiheitsentzug für Unschuldige. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aha! Das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ist sehr interessant!) GRÜNEN]: Richtig! So ist es! – Zuruf von der Das kann auch bedeuten, dass Straftäter nach Verbüßung CDU/CSU: Hört! Hört!) ihrer Taten noch lange Zeit in Sicherungsverwahrung Dies ist im „Neuen Deutschland“ vom 5. Februar 2004 bleiben müssen. Dabei spielt natürlich auch ihre Ent- nachzulesen. Herr Ströbele hat gerade „richtig“ dazu ge- wicklung in der Haftanstalt eine Rolle. Wir werden auf sagt. Bundesebene also kurzfristig das jetzt entstandene Va- kuum schließen. Das werden wir entschlossen tun. (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, bei dem so! Die Schuld ist beendet, da abgesessen!) wir keinen Nachhilfebedarf haben. Es kann gelegentlich Keine der beiden Positionen wird dem Problem, um Zielkonflikte bei der Beurteilung von Täter und Opfer das es heute geht, auch nur im Entferntesten gerecht. geben. Jeder von uns neigt dazu, zunächst einmal die Karriere eines Täters zu beleuchten. Dabei kommt man (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vielleicht zu dem Schluss, dass derjenige eine schwere GRÜNEN]: Aha!) Kindheit und es in seinem Leben nicht leicht gehabt hat und dass man ihm helfen müsse. Das sollten wir auch Ein pauschales Wegsperren für immer kommt nicht in- tun. Aber wo es einen Zielkonflikt zwischen der Beurtei- frage, weil dem das Grundrecht auf Freiheit entgegen- lung der Vergangenheit des Täters und der Beurteilung steht. der Zukunft der potenziellen Opfer gibt, entscheiden wir (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE in der Koalition uns ganz eindeutig zugunsten der Zu- GRÜNEN]: Das habe ich aus Ihren Reihen kunft der potenziellen Opfer. Ich fordere Sie auf: Ma- vorhin aber anders gehört!) chen Sie mit! Wir haben keinen Nachholbedarf an Ihren Ratschlägen. Die Abwägung der kollidierenden Prinzipien – Grund- recht auf Freiheit einerseits und Schutz der Bevölkerung (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ andererseits – kann nämlich niemals pauschal, sondern CSU]: Machen Sie beim Täter-Opfer-Aus- immer nur im Einzelfall erfolgen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8075

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Punkt mit der Fraktion der CDU/CSU zusammenzu- (C) GRÜNEN]: So ist es! – Jerzy Montag arbeiten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU) Nicht jeder Straftäter wandert automatisch in die Siche- rungsverwahrung, sondern nur diejenigen, bei denen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Umstände und Motive der Tat sowie die individuelle Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Simm, SPD- Entwicklung während der Haft einen solchen Schritt als Fraktion. Ultima Ratio notwendig machen. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Herr Ströbele glaubt nun andererseits aber, es sei seine Pflicht, „unschuldige“ entlassene Schwerverbre- Erika Simm (SPD): cher vor Freiheitsentzug zu schützen. Ihm muss ebenso Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! entschieden widersprochen werden. Frau Mantel, ich bin nicht der Meinung, dass zu diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Thema nur Juristen oder Juristinnen sprechen sollten. Wer die Sicherungsverwahrung als letztes Mittel aus- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Sie haben es schließt, riskiert wissentlich neue Opfer. Zur Erinnerung: so hineingerufen!) Wir sprechen hier über Sexual- und Gewaltverbrecher, – Nein, das habe ich nicht gesagt. Da haben Sie etwas die sich in der Haft jeder Therapie und jedem Versuch ei- missverstanden. – Ich erwarte aber schon, dass sich Poli- ner Resozialisierung gegenüber resistent gezeigt haben. tikerinnen und Politiker – ich verallgemeinere und be- Darunter sind Mörder und Vergewaltiger, die bereits im ziehe das nicht nur auf Sie – der verfassungsrechtlichen Gefängnis ankündigen, wie sie ihr nächstes Opfer zu Implikationen der hier zu treffenden Entscheidungen ei- quälen gedenken und welche Richter und Vollzugsbeam- nigermaßen bewusst sind, sich dieser also vergewissern, ten auf ihrer Todesliste stehen. Wer hier von Freiheits- und dass sie nicht leichtfertig darüber hinwegreden. entzug für Unschuldige spricht, der macht Täter zu Op- fern und blendet den Schutzanspruch der Bevölkerung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ völlig aus. DIE GRÜNEN) Ich hatte den Eindruck, dass einige Kollegen der (Beifall bei der CDU/CSU) Union – nicht alle – so tun, als könne man dieses Gesetz Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil mal schnell nebenbei erarbeiten, als habe dieses Thema über die nachträgliche Sicherungsverwahrung dem Um- bestenfalls den Stellenwert der Herabsetzung der inner- (B) gang mit Gewaltverbrechern enge verfahrensrechtliche städtischen Geschwindigkeit von 50 auf 40 Stundenkilo- (D) Grenzen gesetzt. Danach ist ein leichtfertiger Umgang meter, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass dann die mit der Sicherungsverwahrung ausgeschlossen. Auch Aufregung größer wäre. Einige Redner sind sich in ihren verurteilte Gewaltverbrecher in Sicherungsverwahrung Beiträgen offenbar der Tatsache, dass wir uns hier in ei- müssen die reelle Chance haben, durch eine persönliche nem schwierigen verfassungsrechtlichen Abwägungs- Veränderung wieder in Freiheit zu gelangen. Dass es prozess zwischen Freiheitsrechten, verfassungsrechtli- eine kleine Gruppe gibt, die sich in Freiheit vermutlich chen Garantien für das Strafverfahren und das Strafrecht sofort wieder neue Opfer suchen wird, ist eine bittere Er- sowie dem berechtigten Anspruch der Bevölkerung, vor kenntnis. Daraus Konsequenzen zu ziehen und vernünf- äußerst gefährlichen Straftätern geschützt zu werden, be- tig zwischen dem Schutzanspruch der Bevölkerung und finden, den wir leisten müssen und dem wir gerecht wer- den Freiheitsrechten der Täter abzuwägen ist sehr viel den müssen, nicht hinreichend bewusst bzw. haben sich schwieriger, als es die Äußerungen von Gerhard um der plakativen Wirkung willen leichtfertig darüber Schröder und Christian Ströbele vermuten lassen. hinweggesetzt. ( [Recklinghausen] [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Auch die aus Ihren eigenen Reihen!) DIE GRÜNEN) In Anbetracht dieser stark divergierenden Rechts- Ich bin darüber etwas unglücklich, weil wir in der verständnisse der Koalitionsfraktionen, die uns heute Vergangenheit – ich habe alte Diskussionen mit vollzo- wieder deutlich gemacht wurden, habe ich erhebliche gen, da ich die ganze Zeit Mitglied des Rechtsausschus- Zweifel, dass es die Regierung schafft, dem Auftrag des ses war – im Rechtsausschuss in den Anhörungen über Bundesverfassungsgerichtes nachzukommen und bis weite Strecken sehr viel seriöser, gewissenhafter und zum 30. September 2004 eine bundesgesetzliche Rege- verantwortungsvoller darüber diskutiert haben, ob es lung auf den Weg zu bringen. Möglichkeiten gibt, die Sicherungsverwahrung auszu- dehnen und den Schutz vor besonders gefährlichen Ge- Rot-Grün hat den berechtigten Schutzanspruch der waltverbrechern zu verbessern. Bevölkerung lange genug ignoriert. Heute haben Frau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ministerin Zypries und Herr Benneter angekündigt, ein DIE GRÜNEN – Marco Wanderwitz [CDU/ entsprechendes Gesetz vorzulegen. Das ist zwar eine CSU]: Aber nichts gemacht!) späte, aber auch eine gute Einsicht. Mit Ihrem grünen Koalitionspartner werden Sie hier aber nicht weit kom- Ich bin auch nicht der Meinung, dass diese Diskussio- men. Deswegen wäre die SPD gut beraten, in diesem nen ohne Ergebnis geblieben sind. Ich darf Sie daran 8076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Erika Simm (A) erinnern: Wir haben beiläufig eine Bestandsaufnahme Diese Garantie in unserer Verfassung ist ebenfalls zu be- (C) gemacht und festgestellt, dass es im Vollzug einen ekla- achten. tanten Mangel an Therapieangeboten und besonders an qualifizierten Therapieangeboten gibt. Wir haben mit- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: einander darüber diskutiert, wie schwierig es ist, auf die- Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit. sem Gebiet richtige Prognosen zu stellen. Wir haben da- rüber gesprochen – das hat auch Konsequenzen Erika Simm (SPD): gehabt –, dass die Ausbildungsmöglichkeiten und -ange- bote im Bereich der universitären Ausbildung und der Ich bin fertig, Herr Präsident. Forensik unzureichend sind. Wir haben über die Frage Ich meine, dass wir gut daran tun, ernsthaft und seriös der Qualifikation von Gutachtern geredet. Da ist einiges über dieses Thema zu diskutieren und uns gemeinsam verändert und viel an Problembewusstsein erzeugt wor- um angemessene Regelungen zu bemühen, die gegebe- den. Ich bin deswegen unglücklich darüber, dass wir nenfalls vor einer neuen Entscheidung des Bundesver- durch die Art und Weise, wie diese Diskussion hier ge- fassungsgerichts Bestand haben. führt wird, das, was wir auf diesem Felde an Arbeit ge- leistet haben, ein Stück weit selber entwerten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich appelliere an uns alle, dass wir uns nicht gegensei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tig den ernsthaften Willen absprechen, den Schutz vor Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Geis, gefährlichen Straftätern zu verbessern. Dieser ernsthafte CDU/CSU-Fraktion. Wille verbindet uns. Daran sollten wir festhalten und ge- meinsam nach Lösungen suchen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das Finden von Lösungen ist nicht so einfach, wie Herren! Frau Simm, wir haben 1997/98 neben der manchmal in den Reden der Eindruck erweckt wird. Ge- Verschärfung des Sexualstrafrechts auch die Frage bera- rade das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat bei ten, inwieweit es möglich und verfassungskonform sein mir eine Menge Fragen aufgeworfen. kann, die Sicherungsverwahrung zu erleichtern und eine (B) (Joachim Stünker [SPD]: Sehr richtig!) Entscheidung darüber zu treffen, ob gegen den Täter, der (D) gefährlich ist und von dem man, durch Prognosegutach- Ich frage mich, wie wir dem gerecht werden sollen. ten bestätigt, weiß, dass er nach Verbüßung seiner Tat weiterhin für die Menschheit gefährlich sein wird, unter (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das bestimmten Voraussetzungen eine Sicherungsverwah- fragen wir uns auch!) rung verhängt werden kann. Ich darf daran erinnern: In dem Urteil steht, dass die Wir waren uns damals einig, dass dies möglich sein Entscheidung darüber, ob es sich um einen entsprechend soll. All diese Fragen, die jetzt wieder diskutiert werden, gefährlichen Straftäter handelt, von dem weitere Taten haben wir damals mit großer Sorgfalt – da pflichte ich zu erwarten sind, auf ein sorgfältig substanziiertes Prog- Ihnen bei – diskutiert und wir haben uns wirklich ernst- nosegutachten gestützt werden muss. Es gibt den Hin- haft Gedanken darüber gemacht und machen müssen, ob weis, dass die Verweigerung der Therapie kein Anknüp- es möglich ist, einen Täter, Herr Ströbele, der seine fungspunkt sein darf; das ist schon erwähnt worden. Es Strafe verbüßt hat und eigentlich ein freier Mann ist, wird postuliert, dass das Gericht, das letztlich darüber zu dennoch im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung entscheiden hat, mit hinreichender Gewissheit zu dem festzuhalten. Das war ein wichtiges Thema, Frau Minis- Ergebnis kommen muss, dass von dem Betroffenen wei- terin. tere, entsprechend schwerwiegende Taten zu erwarten sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechts- Wir haben uns auch die Frage gestellt, ob das für die ausschuss, wie fassen wir eine Prognoseentscheidung, nachträgliche Sicherungsverwahrung Geltung haben geknüpft an hinreichende Gewissheit, in ein Gesetz? Ich kann. Das war ein Thema innerhalb der Anhörung, wo- halte das schon für die Quadratur des Kreises; das ist et- bei die Fragen von beiden Seiten, von Frau Däubler- was, was sich begrifflich ausschließt. Gmelin und mir, gestellt wurden. Die Sachverständigen haben uns damals geantwortet, dass der Strafrichter die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Entscheidung darüber, ob gegen jemanden die Siche- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rungsverwahrung verhängt wird, treffen muss, der über die Strafe selbst zu entscheiden hatte. Sie haben damals Ich darf darauf hinweisen: Ich habe das Minderhei- durch die Bank abgelehnt, die nachträgliche Sicherungs- tenvotum gelesen. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies verwahrung schon 1998 mit zu regeln. alle getan haben. Die Verfasser des Minderheitenvotums weisen darauf hin, dass die Mehrheit des Senates keinen Aber der Gedanke, dass hier eine Sicherheitslücke Anlass hatte, nach Maßstab des Art. 104 Grundgesetz zu entstanden ist, hat uns nie verlassen. Wir haben überlegt prüfen, nämlich des Rückwirkungsverbots im Strafrecht. und es gab entsprechende Überlegungen im Bundesrat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8077

Norbert Geis (A) Die Bayerische Staatsregierung hat einen Gesetzentwurf mentierung der Anordnung einer nachträglichen Siche- (C) im Bundesrat eingebracht, dort aber keine Mehrheit ge- rungsverwahrung im materiellen Strafrecht bedarf einer funden. Dann kam der berühmte Ausspruch des Kanz- großen rechtspolitischen, verfassungsrechtlichen und lers, der heute schon zweimal zitiert worden ist. Der Ap- rechtsstaatlichen Sensibilität. Dies wird beim Studium pell ist bei Ihnen leider verhallt. Wir haben diesen der zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Appell aufgenommen und im Oktober 2001 einen Ge- aus dem Monat Februar deutlich, die sich mit dieser setzentwurf für die nachträgliche Sicherungsverwahrung Frage grundsätzlich auseinander gesetzt haben. Ich vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf wurde von Ihnen – das meine, das wird insbesondere in dem Minderheitenvo- muss man allerdings sagen –, auch mit den entsprechen- tum der drei Verfassungsrichter Groß, Osterloh und den Anmerkungen von Ihnen, Herr Stünker, abgelehnt. Gerhard zu der Frage der befristeten Fortgeltung der ent- sprechenden Ländergesetze deutlich. Frau Simm hat be- (Jörg van Essen [FDP]: „Länderzuständigkeit“ reits darauf hingewiesen. hat er gesagt!) Ich habe selten ein Minderheitenvotum von Richtern Wir sind an dieser Mehrheit gescheitert. Damals war das eines obersten deutschen Gerichts, nämlich des Bundes- schon auf dem Tisch. Dann wurde in dieser Legislatur- verfassungsgerichts, gelesen, in dem die Kolleginnen periode der ungefähr gleiche Gesetzentwurf noch einmal und Kollegen in einem Senat mit einer derartigen verba- von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegt und Sie haben ihn len Radikalität argumentativ umgegangen sind. Daraus wiederum abgelehnt. wird deutlich, welche grundsätzlichen rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Fragen sich hinter dem Gute Argumente aber setzen sich durch, auch wenn Thema verbergen und gelöst werden müssen. das nur mithilfe des Bundesverfassungsgerichts ge- schieht. Aber das ist ja schon etwas. Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Röttgen, es tut mir Leid: Diesen An- dass Sie jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen werden, der sprüchen sind Sie in dieser Aktuellen Stunde ebenso wie verfassungskonform sein wird, wobei nicht nur der As- die Redebeiträge der anderen Mitglieder Ihrer Fraktion pekt der Prävention eine Rolle spielen darf – das hat uns nicht gerecht geworden. das Verfassungsgericht ganz ausdrücklich gesagt –, son- dern an die Anlasstat angeknüpft werden muss, nämlich (Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: an die Straftat, derentwegen der Täter im Gefängnis Herr Kollege Stünker, nach dem, was Sie bis- sitzt. Es muss die Möglichkeit bestehen, für den Täter, her dargestellt haben, sollten Sie sich nicht der seine Strafe abbüßt und bei dem sich im Strafvollzug zum Richter aufspielen!) herausstellt, dass er ein gefährlicher Täter ist, was der – Auf Sie komme ich gleich zu sprechen, Herr van entscheidende Richter noch nicht wissen konnte – sonst Essen. – Ich danke dem Kollegen Geis für den wirklich (B) hätte er die Sicherungsverwahrung ausgesprochen –, sachlichen Beitrag, den er eben zu diesem Thema geleis- (D) nachträglich die Sicherungsverwahrung anzuordnen, tet hat. wenn er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich- keit erneut gefährliche Straftaten begehen wird, sobald (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE er die Strafvollzugsanstalt verlässt. Das ist, glaube ich, GRÜNEN]: Das war überraschend, Herr Kol- uns allen klar gemacht worden. Manche haben es früher lege Geis!) gemerkt, andere etwas später. Jetzt aber kommt es darauf Nun zu Ihnen, Herr van Essen: Sie haben vorhin die an, dass wir schnell beraten und eine gute Entscheidung Meinung geäußert, das Bundesverfassungsgericht habe fällen. mir mit seiner Entscheidung eine schallende Ohrfeige Sie, Frau Ministerin, haben dem Bundesrat angebo- versetzt. Herr Kollege van Essen, ich hätte Ihnen eigent- ten, im Benehmen mit ihm eine schnelle Lösung zu fin- lich mehr Redlichkeit und Niveau zugetraut. den. Ich meine, es wäre auch gut, wenn Sie die CDU/ (Widerspruch bei der FDP) CSU in die Beratungen mit einbeziehen würden. Denn bis zum 30. September ist es nicht allzu lange hin und Ich habe in der von Ihnen gemeinten Diskussion gegen bis dahin muss die Entscheidung gefällt worden sein. bestimmte Gesetze mit bestimmten Inhalten argumen- Ich danke Ihnen. tiert. Ich glaube, dass ich bei den Inhalten, um die es ging – die Beschlussverfahren vor der Strafvollstre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ckungskammer und Ähnliches –, richtig gelegen habe. neten der SPD) Das wird auch aus den Entscheidungen des Bundesver- fassungsgerichts deutlich, wenn man sie zu Ende liest. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Denn das beschleunigte Schnellverfahren wird nicht möglich sein. Das habe ich gemeint. Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde erteile ich dem Kollegen Joachim Stünker, SPD-Fraktion, das Wort. Wichtig ist, dass mit der abschließenden Entschei- dung des Bundesverfassungsgerichts als höchstem deut- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt eine schen Gerichts – der Kollege Geis hat darauf hingewie- Entschuldigung!) sen – ein jahrelanger Streit der Fachjuristen aus der Praxis und der Wissenschaft zu diesem Thema beendet Joachim Stünker (SPD): worden ist, indem klargestellt worden ist, dass das abso- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lute Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 Grundge- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Imple- setz auf die Sicherungsverwahrung nicht anwendbar ist. 8078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Joachim Stünker (A) Ich hätte mir noch gewünscht, dass in dem Urteil auch Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (C) zu Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Stellung genommen wird. Das ist aber nicht der Fall. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Vielleicht erfolgt auch zu dieser Frage irgendwann eine Klarstellung. Ich gehöre zu denen, die in dieser Frage b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin eine andere Meinung vertreten haben. Auch das muss Kortmann, Ulrich Kelber, Detlef Dzembritzki, man ertragen können; das ist durchaus in Ordnung. Aber weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD als eine schallende Ohrfeige empfinde ich das nicht. sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans- Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer Ich möchte noch auf eines hinweisen – das wird Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- sicherlich in den Beratungen, die wir zu führen haben, SES 90/DIE GRÜNEN sehr deutlich werden –: Das Bundesverfassungsgericht hat dafür, wie eine nachträgliche Sicherungsverwahrung Das Center for International Cooperation im Detail erfolgen soll, sehr hohe Hürden aufgestellt. Ich (CIC) stärken und weiter ausbauen glaube, ich bin der Einzige in diesem Hohen Hause, der beruflich – als Vorsitzender einer Schwurgerichtskam- – Drucksache 15/2396 – mer über mehrere Jahre hinweg – damit befasst war, Überweisungsvorschlag: über Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Die Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Schwierigkeiten, eine sichere Prognose zu treffen, die im Entwicklung Ergebnis im Extremfall bedeutet, dass der Mensch auf c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar der Anklagebank, der auch seine verfassungsrechtlich Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, Detlef verbrieften Grundrechte hat, möglicherweise sein Leben Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der lang nicht mehr aus der Sicherungsverwahrung heraus- Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo kommen wird, sind in der Praxis sehr groß. Das haben Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck uns auch alle Sachverständigenanhörungen im Rechts- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion ausschuss gezeigt. Daher meine ich, dass wir eine große des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verantwortung haben, den Streit der Vergangenheit zu begraben und jetzt ein Gesetz zu erarbeiten, das den ho- Wüstenbildung wirksam bekämpfen – Armut hen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts ge- überwinden, Ernährung sichern, Konflikte nügt, und zwar zum einen um des Rechtsstaats willen verhindern und zum anderen im Interesse der Gerichte in Deutsch- – Drucksache 15/2395 – land – vom Bayerischen Wald bis nach Flensburg –, die mit diesem Gesetz in der Praxis arbeiten müssen. Ange- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (B) sichts dessen ist sorgfältige Arbeit dringend notwendig. Entwicklung (f) (D) Herr Kollege Röttgen, wir reichen Ihnen nach wie vor Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Hand zu einer gemeinsamen vernünftigen Arbeit. Aber die heutigen Reden – entschuldigen Sie, dass ich d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sie direkt anspreche – waren teilweise unsäglich und ta- Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, ten weh. Hartwig Fischer (Göttingen), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Danke schön. Umdenken in der Kongopolitik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/2335 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Auswärtiger Ausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie Verteidigungsausschuss die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mayer (Baiersbronn), Dr. Christian Ruck, Dr. Erika Ober, Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo und der Fraktion der CDU/CSU Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion HIV/Aids verstärken des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 15/2465 – Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivie- Überweisungsvorschlag: ren Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) – Drucksache 15/2408 – Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8079

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Gruppen, egal welcher Hautfarbe, zeigen sich die Fol- (C) Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido gen. Die Lebenserwartung sinkt deutlich. In vielen Re- Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der gionen sinkt sie bei der Geburt zum Beispiel auf bis zu Fraktion der FDP 20 Jahre. In manchen Ländern liegt die Lebenserwartung heute bei 40 Jahren. Familienstrukturen zerfallen, da die Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Haupt- Bevölkerung im produktiven Alter vorrangig betroffen anliegen in der Entwicklungspolitik machen ist. Daraus erwächst eine erschreckende Zunahme von – Drucksache 15/2469 – Aidswaisen. Die Wirtschaftsleistung sinkt. Es kommt zu Überweisungsvorschlag: innenpolitischen Instabilitäten, sicherheitspolitischen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Problemen und einer zunehmenden Abhängigkeit von Entwicklung (f) Hilfe von außen. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Besonders Kinder sind durch die hohe Infektionsrate Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei Frauen im reproduktiven Alter betroffen. 95 Prozent Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der Aidswaisen weltweit, rund 11 Millionen Kinder, le- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ben in Afrika. In Uganda hat es früh und mit großem ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Einsatz Bemühungen gegen die Ausbreitung der Infek- Büttner (Ingolstadt), Brigitte Wimmer (Karls- tion gegeben. Trotzdem gibt es mittlerweile allein in ruhe), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter Uganda 2 Millionen Aidswaisen. Diese Kinder haben ei- und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- nen oder beide Elternteile durch Aids verloren. Sie wer- ten Marianne Tritz, Claudia Roth (Augsburg), den in Uganda teilweise in Schulen über Nacht beher- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und bergt. Während in den Häusern ihrer Familien fremde der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Menschen wohnen, schlafen sie in kommunalen Gebäu- NEN den. Dort finden sie ein wenig Schutz. Dies ist besonders in den Gegenden wichtig, in denen viele Kinder als Kin- Den Stabilisierungsprozess in der Demokrati- dersoldaten verschleppt werden, zum Beispiel im Nor- schen Republik Kongo nachhaltig unterstüt- den Ugandas. zen Aidswaisen haben schlechte Aussichten auf Schulbil- – Drucksache 15/2479 – dung. Viele sind auf sich allein gestellt oder müssen be- Überweisungsvorschlag: reits in jungen Jahren auf ihre jüngeren Geschwister Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Acht geben und ihnen die Eltern ersetzen. Große Teile der Elterngeneration fallen als Bezugspersonen, Erzieher (B) Entwicklung (D) und Ernährer aus. Die folgende Generation ist durch den Da an dieser Beratung offenkundig nicht alle Kolle- Ausfall an Bildung und durch die fehlende menschliche ginnen und Kollegen teilnehmen können oder wollen, Zuwendung geschwächt. Dies ist meines Erachtens ein die gerade die Aktuelle Stunde bestritten haben, wäre es denkbar schlechter Ausgangspunkt für eine friedliche schön, wenn wir zu einem zügigen Austausch der jewei- Entwicklung und macht auch auf anderen Gebieten Er- ligen Debattenbesetzungen kommen könnten, damit die folge der Entwicklungszusammenarbeit zunichte. jetzt beginnende Diskussion in einer angemessenen Form stattfinden kann. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Ich möchte an dieser Stelle besonders auf die Situa- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. tion von Frauen und Mädchen hinweisen; denn zum ei- nen sind Frauen und Mädchen aus physiologischen und Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der sozialen Gründen stärker gefährdet und zum anderen ste- Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Fraktion. hen sie im Zentrum von Entwicklungsprozessen. Sie zie- hen die Kinder groß, pflegen Kranke und Alte und leis- Dr. Erika Ober (SPD): ten einen Großteil der Erwerbs- und Hausarbeit. Gerade Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und die persönlichen Rechte von Mädchen sind weniger Kollegen! Weltweit haben sich seit dem Ausbruch von stark ausgeprägt und ihre gesellschaftliche und wirt- HIV/Aids 65 Millionen Menschen infiziert. Circa schaftliche Stellung ist schwächer als die von Jungen 23 Millionen Menschen sind bereits verstorben. Für und Männern. Ende 2002 wird die Zahl der infizierten Menschen welt- Die Schlechterstellung von Mädchen und Frauen weit auf 42 Millionen geschätzt, davon über 3 Millionen führt konkret auch zu einem Mangel an sexueller und re- Kinder unter 15 Jahren. 95 Prozent aller Menschen mit produktiver Selbstbestimmung. Auch haben Frauen aus HIV/Aids leben in Entwicklungsländern. Mittlerweile ist physiologischen Gründen eine vielfach höhere Infek- die Hälfte der Betroffenen weiblich. Das hat weit rei- tionswahrscheinlichkeit als Männer. Südlich der Sahara chende gesellschaftliche Folgen. sind mittlerweile 58 Prozent aller Infizierten weiblich. Die Folgen von Aids sind erschreckend. Insbesondere Botswana hat die Aidsepidemie zur nationalen Krise er- in Afrika sieht man, mit welcher fürchterlichen Macht klärt. Dort wurde festgestellt, dass in ländlichen Gebie- die Pandemie in die Gesellschaften eingreift. Über ten in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auf einen Staatsgrenzen hinweg und in allen gesellschaftlichen infizierten Mann fünf neu infizierte Frauen kommen. 8080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Erika Ober (A) Medikamente zur Behandlung von HIV-Infektionen kulose und Malaria liegt bei 300 Millionen Euro bis zum (C) stehen zur Verfügung und werden in den Industrielän- Jahr 2007. Ich möchte auch den Einsatz der Bundesre- dern auch umfangreich eingesetzt. Sie sind aber in den gierung für die Bereitstellung preisgünstiger bzw. kos- Entwicklungsländern, vor allem unter Bedingungen ei- tenloser Medikamente erwähnen. Deutschland stellt ner fehlenden oder zumindest unzureichenden basisme- jährlich circa 300 Millionen Euro für die Bekämpfung dizinischen Versorgung, de facto oft nicht verfügbar und von HIV/Aids bereit. zu teuer. Dabei hat sich zum Beispiel erwiesen, dass bei perinatalem Einsatz von Medikamenten die Übertragung Die Bekämpfung von HIV/Aids – sie wurde als prio- des Virus von der Mutter auf das Kind mit großem Er- ritäres Handlungsfeld der Entwicklungszusammenarbeit folg vermieden werden kann. Laut Weltgesundheitsorga- definiert – hat bei der Bundesregierung einen hohen nisation haben trotz der spürbaren Kostensenkungen nur Stellenwert. Der Bundeskanzler hat das Interesse am 1 Prozent der Bevölkerung, die die lebensverlängernde afrikanischen Kontinent kürzlich mit seinem Besuch in antiretrovirale Therapie benötigen, Zugang zu einer Äthiopien, Kenia, Ghana und Südafrika unterstrichen. Er Behandlung. Nach dem Ausbruch von Aids liegt die Le- hat deutlich gemacht, dass wir Afrika nicht vergessen benserwartung unter solchen Umständen und ohne Zu- dürfen. gang zu medikamentöser Behandlung bei durchschnitt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich circa sieben Monaten. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]) Im Vorfeld der WTO-Konferenz in Cancun gab es ei- nen kleinen Erfolg. Das TRIPS-Abkommen erlaubt den Dieser Antrag soll dem hohen Stellenwert gerecht wer- Entwicklungsländern neuerdings, nicht nur selbst Aids- den. medikamente herzustellen, sondern auch Generika zu importieren, wenn sie keine eigenen Produktionsstellen Weil diese Bemühungen und die betroffenen Men- haben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass dies nicht ausrei- schen in den Entwicklungsländern und überall auf der chen wird, um eine flächendeckende therapeutische Ver- Welt unterstützt werden müssen, fordern wir in unserem sorgung zu erreichen. Es ist in diesem Zusammenhang Antrag dazu auf, dass sich Deutschland verstärkt auf in- darauf hinzuweisen, dass es dringend notwendig ist, die ternationaler Ebene – in den Vereinten Nationen, bei der Suche nach einem Impfstoff zu intensivieren. Weltbank und in der EU – für die Umsetzung der Mil- lenniumsziele einsetzt. Die Entwicklung der Pandemie in Afrika ist erschre- ckend. Aids verändert ganze Gesellschaften – trotz eini- Deutschland soll sich in den internationalen Gremien ger erfreulicher Beispiele mit regional stagnierenden und bei internationalen Diskussionen noch intensiver da- (B) oder sogar sinkenden Infektionsraten. Hinschauen ist für einsetzen, von Nichtregierungsorganisationen, von (D) hier nur der erste Schritt. Es genügt nicht, das Problem privaten Spendern und von der Privatwirtschaft zusätzli- nur zur Kenntnis zu nehmen. Aids spielt eine entschei- che Beiträge für den Globalen Fonds zur Bekämpfung dende Rolle für die friedliche Entwicklung der Welt und von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria einzuwerben. ist damit auch sicherheitspolitisch relevant. Wir müssen Daneben soll die HIV/Aids-Bekämpfung als multisekto- diesem Anspruch – es handelt sich um eine Querschnitts- raler Ansatz in die nationalen Armutsbekämpfungsstra- aufgabe – angesichts unserer eigenen menschlichen, tegien der Entwicklungsländer integriert werden. wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Erwartungen Aids ist zu einer der größten Bedrohungen unserer und Ziele noch stärker gerecht werden. Zeit für eine friedliche Entwicklung geworden. In der HIV/Aids ist kein afrikanisches Problem allein. Auch Bekämpfung von Aids sehe ich einen Schlüssel für nach- in anderen Teilen der Welt steigen die Infektionszahlen. haltige Entwicklung. Prävention und Behandlung sind In Osteuropa und Russland sind die Steigerungen drama- zwei zentrale Ansätze. Sie sind mit den Aufgaben, tisch. Wir haben hierbei auch an die Probleme zu den- Frauen und Mädchen zu stärken, sich gegen Stigmatisie- ken, welche durch die Resistenzentwicklung auf uns in rung und Diskriminierung einzusetzen und weiter für Europa zukommen. Virusresistenzen entwickeln sich un- den vermehrten Einsatz von und für den besseren Zu- ter inkonsistenter Einnahme von Aidsmedikamenten gang zu Medikamenten zu ringen, verzahnt. schneller als bei allen anderen bekannten Therapien, Es liegen nun drei Anträge aus den verschiedenen zum Beispiel bei Antibiotikatherapien. Die regelmäßige Fraktionen vor, die alle vergleichbare Forderungen be- Einnahme von Aidsmedikamenten ist aber in vielen Tei- inhalten. In diesen Anträgen sind deutlich mehr Gemein- len der Welt nicht zu gewährleisten. Kofi Annan be- samkeiten zu erkennen, als es in der öffentlichen Diskus- zeichnet Aids als eine Krise, die „eine Gefahr für die ge- sion bisher der Fall zu sein schien. Deshalb wäre es doch samte Zivilisation“ darstellt. sicher möglich, sich im Ausschuss auf eine gemeinsame Bis 2010 erwartet man, dass weltweit zu den bisher Beschlussempfehlung zu einigen. Lassen Sie uns dies circa 42 Millionen infizierten Menschen 45 Millionen gemeinsam angehen, im Sinne der Betroffenen und die- Neuinfizierte hinzukommen. Der Höhepunkt der Pande- sem Thema angemessen! mie wird für das Jahr 2050 erwartet. Die Bundesregie- Vielen Dank. rung macht sich mit ihrem Engagement für UNAIDS ge- gen die Ausbreitung von Aids stark. Unser Beitrag zum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuber- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8081

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die vorliegenden Anträge geben die Möglichkeit, auf (C) Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Kraus, CDU/ die wohl größte Katastrophe, die wir derzeit erleben, in CSU-Fraktion. der Öffentlichkeit hinzuweisen. In Wahrheit wird dieses Thema nämlich viel zu wenig beachtet. Man überlege Rudolf Kraus (CDU/CSU): sich einmal, dass Aids in wenigen Jahren so viele Opfer Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gefordert haben wird wie die Weltkriege des letzten Herren! Von meiner Vorrednerin wurde bereits darauf Jahrhunderts. Der Vergleich mit der Pest ist bezogen auf hingewiesen, dass die vorliegenden Anträge vieles ge- das südliche Afrika ja keineswegs abwegig. Pest und meinsam haben. Das ist überhaupt ein gewisses Kenn- Aids unterscheiden sich vielleicht dadurch, dass die Pest zeichen der Arbeit unseres Ausschusses: des Mittelalters die Schwächeren hinweggerafft hat, während Aids vor allem die Aktiven in einer Gesell- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schaft ergreift und es bei Aids vielleicht ein bisschen GRÜNEN]: Das stimmt!) länger als bei der Pest dauert, bis die Leute wegsterben. 9 000 Tote pro Tag ist eine erschreckende Zahl. Man Wir verfolgen bei relativ vielen Punkten gleich gerich- wundert sich, dass diese Zahl und die ihr zugrunde lie- tete Ziele. genden Verhältnisse in der Öffentlichkeit, in den Medien (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nicht stärker erwähnt werden. GRÜNEN]: Anders als in anderen Ausschüs- sen!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich heute vor allem einem Thema im Bereich Aids zu- Häufig muss man sich über den Weg streiten, insbeson- wenden. Ich hatte ein Gespräch mit Vertretern der Orga- dere über die Intensität, mit der die Regierung diese nisation Sant’Egidio; dieses Gespräch hat mich sehr be- Ziele verfolgt, und über die finanziellen Möglichkeiten. eindruckt, weil sie geradezu ein Musterbeispiel für eine NGO darstellt. Wir sollten bei der Gelegenheit den Wir wissen heute, dass Entwicklungspolitik ein In- NGOs wirklich einmal herzlich dafür danken, dass sie es strument zur Bewahrung von Stabilität, zur langfristigen schaffen, mit einem Budget auszukommen, das sich zu Krisenprävention, zur Eindämmung von Extremismus, 90 und mehr Prozent aus Spenden und Beiträgen speist, Kriminalität, Terrorismus und Umweltzerstörung sein dass so gut wie keine Gehälter bezahlt werden, kaum kann. Sie trägt dazu bei, die richtigen Rahmenbedingun- Verwaltungskosten anfallen und die Hilfe zu 100 Prozent gen für eine gesunde politische und wirtschaftliche Ent- dorthin kommt, wo sie hingehört. Es ist beeindruckend, wicklung zu schaffen sowie tragfähige, demokratische, mit welch großem Engagement sie ihre Arbeit machen. rechtsstaatliche und effiziente Strukturen in den Ent- wicklungsländern aufzubauen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD sowie bei (D) Es gab in den letzten Jahren auch große Erfolge. Zwi- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schen 1990 und 2000 soll der Anteil der Weltbevölke- GRÜNEN und der FDP) rung, der in extremer Armut lebt, immerhin von 29 Pro- Es war für mich ganz besonders beeindruckend, mit wel- zent auf 23 Prozent gesunken sein. Angeblich ist es auch cher Freude die Leute erzählt haben, was sie empfin- so, dass erstmals seit vielen Jahren die Zahl derjenigen, den – es ist fast wie ein Wunder –, wenn Menschen, die die mit weniger als 1 Dollar am Tag auskommen müs- schwerst krank sind, bei regelmäßiger Einnahme von sen, gesunken ist. Medikamenten nach einigen Wochen körperlich und Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der schlechten geistig wieder aufblühen und wieder in die Lage versetzt Nachrichten nicht abreißt. Ich nenne beispielhaft die er- werden, selber zu laufen und zu arbeiten und sich um hebliche Zahl von Kriegen und Konflikten, die welt- ihre Familien zu kümmern. weit geführt werden, und die wachsende Ungleichheit Das kostet natürlich eine ganze Menge Geld. Wenn sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen den auch die Kosten für die Medikamente dramatisch zu- Staaten; und dies, obwohl die Armut abnimmt. Hierhin rückgegangen sind, was gut ist, bleiben doch viele gehört auch, dass nach Berechnungen der Weltbank die Kosten übrig, insbesondere für die sinnvolle Betreuung, weltweiten Wachstumsraten nicht ausreichen, um das Diagnosemöglichkeiten und dergleichen. Wir müssen in Millenniumsziel der Armutshalbierung bis zum diesem Bereich einfach mehr tun. Ich denke, dass es Jahre 2015 zu erreichen. richtig ist, dabei die Netzwerke und Organisationsstruk- Betroffen von all diesen Dingen ist vor allem Afrika. turen von solchen Einrichtungen, wie ich sie erwähnt Hier spielt insbesondere das Problem Aids eine Rolle. habe, auch wirklich zu nutzen. Meine Vorrednerin hat die Zahlen ja schon genannt; ich Aids ist also etwas, was sicher unsere Aufmerksam- kann mir das also ersparen. Die Lebenserwartung ist, keit erfordert. Auch wenn wir in vielen Punkten überein- wie sie sagte, um drei Jahre bis zu zehn Jahren rückläu- stimmen, hat mir eines in dem Antrag weniger gefallen: fig. Es gibt Berichte aus Ländern wie beispielsweise Das ist die Forderung bzw. der Appell an die US-Regie- Botswana, wo die Lebenserwartung sogar um 20 Jahre rung, ihre Versprechungen einzuhalten. Es wäre gut, zurückgegangen sein soll. Dieser Wegfall der Brücke wenn auch wir unsere eigenen Versprechungen einhalten zwischen den Generationen stellt in der Tat eine mensch- würden. Dann könnten wir das umso glaubwürdiger for- liche Katastrophe dar; hierdurch werden die Erfolge der dern. Entwicklungspolitik auf dramatische Weise infrage ge- stellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 8082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Rudolf Kraus (A) Es ist sowieso unser Problem, dass von dieser Regie- fen, die sie von uns bekommen – mit Ausnahme der Not- (C) rung vieles versprochen wurde, was die Finanzen anbe- hilfe –, daran gemessen werden, wie gut oder schlecht langt, aber nicht eingehalten wurde. diese Regierungen sind. Das ist zwar nicht schön für die betroffenen Menschen, aber es gibt wohl keine andere (Widerspruch bei der SPD) Möglichkeit für uns, einen Beitrag zu leisten und für die- – Sie wissen, dass ich Recht habe. ses Thema wieder mehr Akzeptanz zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Man kann nicht oft genug daran erinnern; vielleicht hilft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie es etwas. Ich glaube es zwar nicht, aber die Hoffnung bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE darf man auch in dieser Frage nicht aufgeben. GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich etwas sagen, was mir schon seit geraumer Zeit am Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herzen liegt, und zwar zur Akzeptanz der Entwick- Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin lungshilfe in Deutschland. Ich glaube, dass wir die ge- Uschi Eid. meinsame Aufgabe haben, etwas zu tun. Ich stelle im- mer wieder fest, dass sich Einzelpersonen und kleine Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- Gruppen – jeder von uns hat im Wahlkreis solche Grup- ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- pen – in ganz rührender Weise um einzelne Länder, ein- wicklung: zelne Gruppen und auch Einzelpersonen in der Dritten Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Welt kümmern, dass die Entwicklungshilfe aber gleich- Gestatten Sie, dass ich mich bei der Fülle der Themen zeitig – wie ich in Versammlungen, die ich halte, fest- auf das Thema Aids beschränke. In diesem Zusammen- stellen kann –, auch vor dem Hintergrund der wirtschaft- hang möchte ich einige Dinge, die mein Vorredner eben lichen Entwicklung in Deutschland, nicht mehr eingefordert hat, zum Teil richtig stellen, aber auch klar besonders gut akzeptiert wird, und zwar von einer gro- machen, dass wir die Dinge bereits umsetzen. ßen Anzahl von Menschen. Auf der einen Seite ist die deutsche Bevölkerung ganz ungewöhnlich hilfsbereit Es ist gut, dass sich vor einigen Jahren – leider viel zu und spendenfreudig, wenn es um aktuelle Notfälle und spät; da sind wir uns alle einig – die Erkenntnis durchge- Katastrophen geht. Auf der anderen Seite gibt es setzt hat, dass Aids neben der Tatsache, dass die Erkran- schreckliche Bemerkungen, wenn es um die langfristige kung ein furchtbares persönliches Schicksal ist, auch ein staatliche Entwicklungszusammenarbeit geht; das geht Entwicklungsproblem darstellt, das alle Lebensberei- (B) von ausgesprochener Skepsis bis zur brutalen Abwen- che berührt und in vielen Ländern in eine tiefe Entwick- (D) dung. lungskrise zu münden droht. Es war allerhöchste Zeit, dass im Jahr 2000 das Thema HIV/Aids bei der UNO Es gibt viele Gründe dafür: Gründe im eigenen Land, ganz oben auf die internationale Tagesordnung gesetzt so etwa die wirtschaftliche Entwicklung, und sicher wurde und sich die Staaten – die Bundesrepublik mit der ebenso Gründe in den betroffenen Ländern, die teilweise Unterschrift von Bundeskanzler Schröder – in der Mil- von korrupten und kriminellen Regierungen und Ober- lenniumserklärung verpflichtet haben, alles zu tun, um schichten beherrscht werden, von denen so viel Geld auf der Ausbreitung dieser Krankheit bis 2015 Einhalt zu ge- die Seite geräumt wird – was in der Öffentlichkeit immer bieten. wieder publiziert wird –, dass sie selber eigentlich die größten Geber sein könnten. Wir müssen uns einmal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überlegen, wie man an das Geld von solchen Leuten he- und bei der SPD) rankommt; das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. In der Folge wurde als neues Finanzierungsinstru- Die Unrechtmäßigkeit, wenn ein Präsident innerhalb we- ment der globale Gesundheitsfonds eingerichtet, der niger Jahre ein Vermögen in der Größenordnung des 2002 seine Arbeit aufgenommen hat und in den die Bun- Millionenfachen von dem, was ein Normalbürger dieses desrepublik bis zum Jahr 2007 300 Millionen Euro ein- Landes verdient, ansammelt, liegt eigentlich auf der zahlen wird. Die begonnene Arbeit des Fonds lässt hof- Hand. Aber das ist ein anderes Thema; vielleicht sollten fen, dass wir in einer großen, gemeinsamen wir es an anderer Stelle einmal aufgreifen. Kraftanstrengung den todbringenden Trend der HIV-In- Ich denke jedenfalls, dass es unsere gemeinsame Auf- fektion noch umkehren. gabe sein muss, das Thema Entwicklungshilfe in der Be- Welches aber sind – diese Frage ist wichtig – die Vor- völkerung wieder populärer zu machen. aussetzungen? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Erstens. Die nationalen Regierungen in den betroffe- neten der FDP) nen Ländern müssen eine sachgerechte, wirksame und Das ist schwierig. Aber weil der Normalbürger hilfsbe- offensive Aidspolitik betreiben. reit ist, wenn der menschliche Aspekt einer solchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hilfe und die Erfolge, die damit erreicht werden, ent- und bei der SPD) sprechend herausgestellt werden, können wir für die Ak- zeptanz sicher etwas tun. Gleichzeitig dürfen wir es den Aufklärungsarbeit – und damit Prävention durch Sexual- Regierungen dieser Länder nicht ersparen, dass die Hil- bildung und Verhaltensänderungen – ist das A und O, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8083

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) um die weitere Ausbreitung einzudämmen. Kampf ge- tengünstigeren Medikamenten. Genau hierfür hat sich (C) gen Hexenglauben, Aufbrechen sexueller Tabus und da- die Bundesregierung im Rahmen der WTO erfolgreich mit das Brechen der Macht der Männer über den weibli- eingesetzt, auch wenn die im TRIPS-Abkommen gefun- chen Körper müssen ganz oben stehen. dene Regelung in Bezug auf grenzüberschreitende Zwangslizenzen für manche nicht ganz zufriedenstellend (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ist. Trotzdem muss man sagen: Es ist bereits ein Erfolg DIE GRÜNEN und der SPD – Rudolf Kraus zu verzeichnen. [CDU/CSU]: Oh!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ja, Herr Vorsitzender. und bei der SPD) In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass sich vor Ich freue mich sehr, dass wir gerade bei der Behand- zehn Tagen die „Koalition von Frauen gegen Aids“ ge- lung von HIV-infizierten Menschen zum Beispiel mit gründet hat. Auslöser dafür war die Erkenntnis, dass die der christlichen Laienorganisation Sant’Egidio sehr gut bisherigen Bemühungen um Prävention viel zu wenig und erfolgreich zusammenarbeiten und das Projekt in Frauen und Mädchen erreichen und nur unzulänglich die Mosambik die Anerkennung der AWZ-Delegation ge- Situation der Frauen in der Familie und ihr Unterord- funden hat, die dieses Projekt im letzten Jahr besucht nungsverhältnis zum Mann berücksichtigen. hat. (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Sehr richtig!) Eine Studie in Sambia hat zutage gefördert, dass nur Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Diese fünf 11 Prozent der interviewten Frauen meinen, das Recht Aspekte, die ich skizziert habe, sind Säulen unserer Aids- zu haben, ihren Mann um die Benutzung eines Kondoms politik. Allein im Jahr 2003 hat das BMZ insgesamt zu bitten. 11 Prozent! Diese Zahl fordert ebenso zum 339 Millionen Euro zur Aidsbekämpfung in den Ent- Handeln auf wie die anderen Zahlen, die Frau Ober ge- wicklungsländern eingesetzt. Damit der Mythos ein nannt hat. Ende hat, sage ich: Dieses Geld ist ganz gezielt für die Zweitens. Das Gesundheitswesen in den betroffenen Aidsbekämpfung eingesetzt worden. Wir hoffen, dass Ländern muss ausgebaut werden. Denn gute ländliche damit den Kranken Linderung verschafft und dass diese und städtische Gesundheitszentren und Erste-Hilfe-Statio- tödliche Krankheit eingedämmt wird. nen sind für Prävention ebenso wie für die Versorgung Herzlichen Dank. der Erkrankten unabdingbar. An dieser Stelle ist unsere Entwicklungskooperation ganz stark. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (D) und bei der SPD) Drittens. Der politische Dialog mit unseren Partnerlän- dern und mit internationalen Organisationen ist wichtig für die Verständigung auf Prioritäten, auf koordiniertes Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Handeln und auf gemeinsame Bekämpfungsstrategien. Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich, Aus diesem Grund und um uns mit anderen Gebern bes- FDP-Fraktion. ser zu vernetzen, um die internationale Diskussion mit- zugestalten, aber auch um mit unseren Partnern in der Ulrich Heinrich (FDP): Aidsbekämpfung kritische Fragen zu erörtern – das ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht immer einfach; ich habe vorhin die Themen ge- In der Tat besteht in der Analyse und vor allen Dingen nannt –, habe ich im vergangenen September in New auch in der Beurteilung der Dramatik, wie die Krankheit York an der Aidssondersitzung der VN-Generalver- Aids zur Geißel der Menschheit geworden ist, eine sammlung teilgenommen, auf die im CDU/CSU-Antrag große Übereinstimmung. Wir sind deshalb dazu aufgeru- Bezug genommen wird. fen, unsere entwicklungspolitischen Anstrengungen da- ran auszurichten. Viertens. Es müssen neue Kooperationen mit starken Partnern in der Forschung, in den Heilberufen, in den Me- Ob unsere Entwicklungspolitik erfolgreich ist, wird dien, in bürgergesellschaftlichen Organisationen und in der ganz wesentlich daran zu messen sein, ob wir mit der Wirtschaft eingegangen werden. Wir haben große Schritte Krankheit Aids fertig werden, ob wir bei der Bekämp- in diese Richtung gemacht. Beispielhaft möchte ich hier fung Erfolge zu vermelden haben. Denn ganze Genera- nennen: unsere Unterstützung der Nelson-Mandela-Stif- tionen bzw. ganze Bereiche der aktiven Bevölkerung fal- tung, die in Südafrika Meinungsführer einer aktiven HIV- len aus. So sterben zum Beispiel jährlich 17 Prozent der Politik ist, die Kooperation mit deutschen Firmen, um Lehrer eines Staates weg. Eine Regierung kann jedoch Aidsaufklärungs- und Verhaltensänderungsprogramme in gar nicht so schnell wieder eine ausreichende Zahl aus- den Betrieben zu verankern und zu verbreiten sowie gebildete Lehrer für die Schulen zur Verfügung stellen. – das ist das dritte Beispiel – unsere Unterstützung der Dann ist höchste Alarmstufe. Man muss auch über die Herstellung von Antiretroviralia für die Armen in der 13 Millionen Aidswaisen sprechen, die es hier gibt. Hier Demokratischen Republik Kongo, worüber heute in der geht es an die Substanz eines ganzen Kontinents. „FAZ“ berichtet wird. Der Erhaltung dieser Substanz haben wir uns mit un- Fünftens. Die Behandlungsmöglichkeiten müssen serer Entwicklungspolitik verschrieben. Herr Kraus hat verbessert werden, insbesondere durch Zugang zu kos- einen etwas weiteren Bogen gezogen. Die wirtschaftliche 8084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Ulrich Heinrich (A) Bedeutung dieser Entwicklung wird teilweise weit Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (SPD): (C) unterschätzt, aber auch die Tatsache, dass die demokrati- Herr Kollege, würden Sie mir zugestehen, dass die schen Strukturen dieser Länder kaputtgehen, wenn sol- Bekämpfung von Aids nicht nur den Global Fund im che Entwicklungen nicht gestoppt werden können und Blick hat, sondern dass die Bundesregierung über diesen wir nicht erfolgreich sind. Das liegt, glaube ich, auf der Fund hinaus sehr viel mehr Mittel zur Bekämpfung von Hand. Aids einsetzt? Wir müssen endlich einen Masterplan bzw. eine klar ausformulierte Strategie entwickeln, indem wir Bedin- Ulrich Heinrich (FDP): gungen formulieren, um den Kampf gegen Aids erfolg- Ich gestehe Ihnen das gern zu; das ist gar keine Frage. reich führen zu können. Aber auch dann, wenn wir die Summe insgesamt neh- men, stellen wir fest, dass Deutschland keinen seiner (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Bei- Da gibt es viele gute Ansätze. An vorderster Stelle ist die trag leistet. Nicht weniger und nicht mehr fordere ich Gründung des Global Aids Fund durch die G 8 zu nen- hier ein. Jeder, der noch ein bisschen mit Zahlen umge- nen. Dies möchte ich überhaupt nicht kleinreden. Aber hen kann und sich nicht nur in ein verwirrendes, in lan- ich möchte klar und deutlich herausstellen, dass es nicht gen Fristen gedachtes Zahlenspiel einlässt, sondern die reicht, einmal eine Entscheidung zu treffen und auf Fakten, die tatsächlichen Zahlen aus dem vorletzten und lange Sicht hin eine gewisse Summe Geld zur Verfügung letzten Jahr sowie aus diesem Jahr klar und deutlich zu stellen. sieht, wird mir zustimmen müssen.

Der Vergleich der Summen, die die Bundesrepublik Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutschland und Frankreich dem Global Aids Fund zur Verfügung gestellt haben, spricht eine eigene Spra- Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie noch eine Zwi- che. schenfrage der Kollegin Wimmer?

(Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) Ulrich Heinrich (FDP): Von Frankreich wurden 2002 und 2003 je 50 Millionen Bitte. Wenn Sie in Ihrer Frage einen neuen Inhalt Euro zur Verfügung gestellt. Die Bundesrepublik hat 2002 brächten, wäre ich sehr dankbar. 12 Millionen Euro und 2003 32 Millionen Euro gezahlt. 2004 stehen für den Global Aids Fund 38 Millionen Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (SPD): Euro zur Verfügung; Frankreich hat 150 Millionen Euro (B) Vielen Dank, Herr Kollege. (D) zur Verfügung gestellt. Ist Ihnen bekannt, welche Mittel Frankreich für bila- (Markus Löning [FDP]: Skandal!) terale Bemühungen aufbringt? Wenn ja, dann hätten wir Wir können hier über viele Hilfsmöglichkeiten reden. eine Vergleichsmöglichkeit zwischen dem, was die Bun- Aber was nützt das, wenn Sie den Inhalten und Analy- desrepublik, und dem, was Frankreich macht. Wenn Sie sen, die Sie richtigerweise vorgetragen haben, nicht auch fair sind, müssen Sie sagen, dass die Bundesrepublik konsequenterweise das Aufstocken der finanziellen Mit- Deutschland bei aller Notwendigkeit zum Sparen enorm tel gegenüberstellen? viel Geld einsetzt und mit an der Spitze aller vergleich- baren Länder steht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] Ulrich Heinrich (FDP): [SPD]: Das war eine andere Sache, Herr Kol- lege!) Liebe Frau Kollegin, das führt uns nicht weiter. – Hier haben wir definitiv einen Dissens. (Zurufe von der SPD: Doch!) Ich freue mich, dass die Frau Staatssekretärin Eid so – Sie wollen doch eine Antwort –. Wir haben es hier mit offen war. Als wir bei der Nelson-Mandela-Stiftung wa- einer Krankheit zu tun, bei der Prophylaxe nicht mehr ren, haben Sie offen und klar gesagt, dass Sie froh sind, ausreicht. Heute müssen wir einen massiven zusätzli- dass das deutsche Parlament die Regierung immer wie- chen finanziellen Aufwand treiben, um zu verhindern, der treibt, die entsprechenden finanziellen Ressourcen dass, wie es von Herrn Kraus und mir, aber zum Teil zur Verfügung zu stellen. Da haben Sie sehr wahr und auch von Ihrer Seite gesagt wurde, Strukturen zusam- sehr offen gesprochen. Ich möchte dies heute fortsetzen. menbrechen. Hier ist Behandlung statt Prophylaxe von- nöten. Sie müssen massiv Geld in die Hand nehmen, da- mit entsprechende Versorgungszentren aufgebaut Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden können, damit eine Schulung derjenigen vorge- Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie trotzdem eine nommen werden kann, die die Medikamente verteilen, Zwischenfrage der Kollegin Wimmer? und damit die hohen Investitionen im Bereich der Labor- technik getätigt werden können. Ulrich Heinrich (FDP): (Zuruf von der SPD: Das ist keine Antwort auf Ja, bitte. die Frage!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8085

Ulrich Heinrich (A) Insbesondere die Diagnostik bedingt einen sehr hohen lich überhaupt nicht leisten kann, das Schulgeld von (C) Investitionsbedarf; er macht etwa dieselbe Summe aus, Staatsseite zu übernehmen, helfen können. die für Medikamente aufgewandt werden muss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Liebe Frau Kollegin, Sie laufen jetzt weg; es tut mir Gleichzeitig ist es notwendig und wichtig – auch da- Leid. Ich fahre daher in meiner Rede fort. rauf legen wir besonderen Wert –, die Forschung im Impfstoffbereich voranzutreiben. Vor allen Dingen Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen muss die besondere Situation in Afrika berücksichtigt natürlich auch darauf achten, dass es bei dem erfolgrei- werden, wo man andere Virenstämme als in Europa chen Kampf gegen Aids die richtigen Infrastrukturen kennt. Hier sind begleitende Forschungen nötig. Auch ist gibt. Hier ist bereits Sant’ Egidio angeführt worden. Wir noch so gut wie gar nicht erforscht, wie sich eine Kom- haben uns dies vor Ort selbst angesehen. Von solchen bination von Malaria oder Tuberkulose mit Aids aus- NGOs kann man eigentlich nur lernen. Hier zeigt sich wirkt. Hier ist ein breites Feld noch nicht bearbeitet. Ich wieder, dass sich unsere Entwicklungszusammenarbeit möchte die Bundesregierung nachdrücklich aufrufen, im Wesentlichen darauf konzentrieren muss, die Infra- sich hier stärker zu engagieren. strukturen herzustellen und zu helfen, die großen Inves- titionen mit zu finanzieren. Die Arbeit vor Ort, die den Ich bleibe dabei: Wenn wir bei der Bekämpfung von Einsatz von viel Humankapital erfordert, können wir HIV/Aids nicht erfolgreich sind, wird unsere gesamte von hier aus nicht leisten; sie wird von den NGOs geleis- Entwicklungszusammenarbeit sehr stark infrage gestellt tet. und – so weit möchte ich gehen – fast nutzlos. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Herzlichen Dank. GRÜNEN]: Wir unterstützen sie!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aber sie sind bisher allein gelassen worden. Es hat sehr lange gedauert, bis unsere Aufmerksamkeit auf diese Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ganz besonderen Engagements gelenkt worden ist. Ich Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kol- unterstreiche nochmals, dass wir hier denjenigen helfen legin Heidemarie Wieczorek-Zeul. müssen, die heute schon vor Ort eine großartige Arbeit leisten. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde wichtig, (B) der CDU/CSU) dass in dieser Debatte deutlich wird, dass uns allen die- (D) ses Thema auf der Seele lastet und dass wir alle Kräfte Hinzu kommt, dass wir im Zentrum unserer Aufgaben mobilisieren, um dazu beizutragen, dass Menschenleben das Thema der HIV-Übertragung von der Mutter auf das gerettet werden. Kind sehen sollten. Es ist ganz sicher richtig, dass schon während der Schwangerschaft, aber auch bei der Geburt Die Zahl der Waisen im südlichen Afrika ist so groß und in der Stillzeit Verhaltensänderungen vorgenommen wie die Zahl der Kinder in Deutschland. Das macht die werden müssen. Hierfür sind Information und Aufklä- Dramatik deutlich. Deshalb sollten wir keinen Streit um rung, aber auch eine entsprechende Infrastruktur erfor- die Frage führen, ob zu wenig getan werde. Ich bin derlich. Es reicht nicht aus, den Menschen zu sagen, sie selbstverständlich für jede Unterstützung dankbar. Da- sollten ihre Kinder nicht stillen, sondern man muss auch mit niemand Missverständnissen unterliegt: Wir leisten dafür sorgen, dass sauberes Wasser zur Verfügung steht, einen Riesenbeitrag, der übrigens, seit wir die Regierung um den Kindern aufbereitete Nahrung geben zu können. übernommen haben, dramatisch gesteigert worden ist. Diese Infrastruktur aber können die NGOs vor Ort nicht Wir haben damals 19 Millionen im Haushalt vorgefun- aufbauen. Hier müssen wir für eine verbesserte Infra- den; wir sind heute, wenn man alles zusammennimmt, struktur arbeiten. bei 339 Millionen Euro, die wir bilateral und multilateral zur Verfügung stellen. Gestern kam eine Tickermeldung, wonach Swasiland künftig für das Schulgeld von 60 000 Aidswaisen auf- Herr Heinrich, die Zahlen, die Sie nennen, hängen da- kommt, die sonst einfach nicht mehr zur Schule gehen mit zusammen, dass manche Länder nur in den Globalen könnten, weil sie es nicht zahlen könnten. Wenn Aids- Aidsfonds einzahlen. Er ist aber viel später eingerichtet waisen nicht zur Schule gehen, haben Rebellen, die Kin- worden. Wir haben 1998 angefangen, gegen Aids zu der zu Soldaten machen wollen, ganz besonders leichtes powern. Ich bin froh, dass wir das getan haben. Deshalb Spiel, weil sie in der Regel Nahrungsmittel und ein klei- stecken wir viel, rund 100 Millionen Euro, in die bilate- nes bisschen Fürsorge gewähren. Dieser Kreislauf muss rale Entwicklungszusammenarbeit. Rechnen Sie es ein- unterbrochen werden. fach zusammen! Darum wollen wir uns dafür einsetzen, dass sich die Ich weiß noch, wie die Notenbankgouverneure bei der Bundesrepublik Deutschland bei der Versorgung der Weltbank mich angeguckt haben, als ich erklärte, wir Aidswaisen stärker engagiert. Wir halten es für notwen- müssten Programme gegen Aids auflegen. Heute geben dig, zu überprüfen, ob wir zum Beispiel Swasiland, das wir zum Beispiel 77 Millionen Euro nur für die Zu- wirklich eines der ärmsten Länder ist und es sich eigent- schussprogramme über die Weltbank. 8086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Es gibt einfach Bereiche, in denen es keinen Zweck Kollege Heinrich, ich unterstütze das, was Sie zum (C) hat, Regierung und Opposition gegeneinander zu stellen. Thema Aufklärung gesagt haben. Wenn wir aber all Lassen Sie uns vielmehr gemeinsam kämpfen! Lassen diese Forderungen stellen, sollten wir nicht vergessen, Sie solche Rechnereien, die belegen sollen, dass wir wie lange wir selbst in unserem hoch entwickelten und schlechter seien, beiseite! Das stimmt nicht. Wir sind in strukturierten Land mit guter Ausbildung gebraucht ha- diesem Bereich wirklich gut. Aber wir können und müs- ben, bis wir die Gleichberechtigung und Emanzipation sen noch besser werden. der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland zustande gebracht haben. Jetzt zu meinen, dass dies in den afrika- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nischen Gesellschaften innerhalb von zwei oder drei Jah- DIE GRÜNEN) ren umzusetzen ist, halte ich für Hybris, für Überheb- lichkeit. So kann man mit anderen Kulturen nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ernsthaft umgehen. Herr Kollege Heinrich, bitte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ulrich Heinrich (FDP): Wichtiger wäre es, endlich ernsthaft auf gleicher Au- Ich bedanke mich für Ihre Kurzintervention. Ich sehe, genhöhe miteinander zu reden. Das will ich anhand eines dass ich einen Punkt angesprochen habe, der uns beide Beispiels tun; denn wir reden hier ja nicht nur über Aids. berührt. Sie fühlen sich missverstanden. Wir sind uns einig, dass wir über dieses Thema aufklären müssen. Kollege Helias und ich waren zusammen in Ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Ich achte die Afrika. Bei jedem Gespräch mit den dortigen Staatsprä- Leistung der Bundesregierung. Sie ist überhaupt nicht sidenten und auf allen Ebenen haben wir es immer wie- gering. Sie liegt in der Aufklärung und Prävention und der angeschnitten. Aber wir haben auch wahrgenommen, ist in einer Zeit erbracht worden, bevor der Global Aids dass die dortigen Kulturen einige Zeit benötigen, um et- Fund zur Bekämpfung von Aids eingerichtet worden ist. was umzusetzen. Es wird nicht erwartet, dass wir sagen, Das ist gar keine Frage. Hier sind wir uns völlig einig. wie die Dinge laufen. Das heißt, wir müssen auch etwas Aber mir geht es darum, dass wir den Global Aids Fund Geduld haben. jetzt stärker fördern sollten, um bei der Behandlung er- folgreich zu sein. Das ist der Punkt, den ich meine. Heute haben wir unter anderem über den Kongo zu debattieren. Hierbei spielt die Frage, wie man Entwick- Außerdem, Frau Wieczorek-Zeul, sage ich Ihnen in lungspolitik akzeptabler macht, eine Rolle. In diesem diesem Zusammenhang eines: Ich war sehr enttäuscht Punkt kann ich Ihnen, Kollege Kraus, ein bisschen hel- von der Tatsache, dass der Bundeskanzler, als er vor der fen. Der Kongo ist ja das Herz Afrikas. Man muss sich (B) Afrikanischen Union eine große Rede gehalten hat, kei- erinnern: Er ist so groß wie ganz Westeuropa. Man muss (D) nen einzigen Satz zum Thema Aids gesagt hat. Die Füh- sich ein Gebiet vorstellen, dessen Hauptstadt Lissabon rer aller afrikanischen Staaten waren anwesend. Das ist. Dann gibt es zwei andere Städte, Warschau und Ko- wäre eine Möglichkeit gewesen, die entsprechenden Po- penhagen. Dazwischen fließt ein Fluss, sonst nichts. sitionen und die Wichtigkeit des Themas darzustellen und die Regierungschefs aufzufordern, ihre Falschmel- Es handelt sich um ein Gebiet praktisch ohne Infra- dungen und ihren Hexenglauben, den Frau Eid zu Recht struktur, das aber über sehr viele wertvolle Rohstoffe erwähnt hat, endlich zu unterlassen. Leider Gottes müs- verfügt. Das war auch der Grund, warum König Leopold sen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass der Kanzler hier von Belgien dort vor knapp hundert Jahren ein privates eine große Chance verpasst hat. Kolonialregime aufgebaut hat, das nicht friedlich war und durch das viele Afrikaner umgekommen sind. Da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mals gab es allerdings noch kein Fernsehen und auch keine anderen Medien, die jeden Tag darüber berichtet Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: haben. Dann wurde die belgische Kolonialverfassung Das Wort hat der Kollege Hans Büttner, SPD-Frak- entwickelt. 1960 wurde der Kongo unabhängig. Zu die- tion. ser Zeit war Patrice Lumumba Präsident, der heutzutage übrigens von der dortigen Jugend – ob in Ruanda oder wo auch immer – als Held wahrgenommen wird, wäh- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): rend er bei uns schon längst vergessen ist. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich muss mich schon ein bisschen über (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die Verve bzw. die Art wundern, mit der wir hier über die GRÜNEN]: Nein!) Entwicklung in den afrikanischen Ländern debattieren. – Dann sage ich: weitgehend vergessen. Wir Alt-68er Einerseits wird gesagt, dass wir auf gleicher Augenhöhe kennen ihn noch, sonst aber niemand mehr. mit ihnen sprechen wollen. Andererseits aber tun wir – und wenn wir ehrlich sind, stellen wir das fest – genau Dieses Land ist auch nach seiner Unabhängigkeit das Gleiche, was wir schon hundert Jahre lang getan ha- vom Westen und vom Osten als Rohstoffquelle weiter- ben: den armen schwarzen Männern und Frauen in hin ausgebeutet worden. Wir haben dort beispielsweise Afrika zu sagen, was sie zu tun haben, anstatt sie auf ih- eine deutsche Firma getroffen, die mit der alten Regie- rem Weg in Richtung Selbstbestimmung und Selbstver- rung in Kinshasa einen Vertrag über den Abbau von antwortung, den sie seit 1990 vehement gegangen sind, Polychlorerzen abgeschlossen hat zu den Bedingungen: zu unterstützen und sie dafür zu loben. 15 Jahre steuer- und abgabenfrei, einmalig 97 Dollar Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8087

Hans Büttner (Ingolstadt) (A) Lizenzgebühr. Diese Polychlorerze enthalten zu über empfangen haben. Ich glaube, der Mann ist es wert, dass (C) 40 Prozent Tantal, was beispielsweise für die Elektronik wir ihn unterstützen, auch in seinem Dialog mit seiner in unseren Handys gebraucht wird. Tantal wiederum Gesellschaft. Auch wir sollten lieber miteinander reden wird auf dem Weltmarkt zu Pfundpreisen zwischen als gegeneinander zu schweigen. Unser lieber Kollege 50 und 400 Dollar gehandelt. Davon bleibt dem Land Helias hat das Prinzip aufgestellt: Lieber mit dem Teufel bei diesem Vertrag überhaupt nichts. reden, wenn es dem Frieden dient, als das nicht tun. Das sollten wir auch tun, denn es spielt in Afrika, es spielt im Die Mineure von uns und anderswo lassen diese Erze Kongo eine noch größere Rolle als vielleicht bei uns. von Ich-AGs, von Farmern abbauen, ohne entsprechende Claims zu haben und ohne nennenswert dafür zu bezah- Vieles läuft dort noch nicht so rational wie bei uns, len. Das bringt Geld – für den Bauern, der sie abbaut, auch in der Politik nicht. Die Politik im Kongo baut zum vielleicht 5 Dollar. Vielleicht baut er illegal auf dem Beispiel noch auf einer Vielzahl familiärer und persönli- Grundstück vom Nachbarn ab, weil er keinen abgesteck- cher Strukturen auf. Mein Appell an Sie lautet daher: ten Claim hat. Der wiederum wehrt sich dagegen. So Nehmen Sie den Antrag zum Thema Kongo zum Anlass, helfen wir letztlich mit, dass Rebellengruppen entstehen, im Rahmen der Afrikapolitik gemeinsam dafür zu sor- dass Kampf entsteht. Das organisieren wir mit. Und gen, dass die Initiativen, die die afrikanischen Staaten dann beschweren wir uns darüber, dass dieser Staat selbst ergreifen, um in ihren Ländern stabile Strukturen – dessen staatliche Strukturen 30 Jahre lang zerschlagen zu schaffen, Erfolg zeigen. Diese sind Voraussetzung für worden sind – selber noch nicht in der Lage ist, von die Bekämpfung von Armut und Aids. Dabei können heute auf morgen alle Rebellen zu entwaffnen, auch NGOs – das sage ich mit aller Vorsicht – durchaus Hilfe- nicht mithilfe der MONUC, die sehr Gutes dort tut, die stellung geben. Aber es muss auch die Frage erlaubt dort tut, was sie kann. Aber sie braucht Zeit dafür. Da sein, ob es für diese Staaten, die kaum über eine staatli- beschweren wir uns, dass sie nicht schnell genug Struk- che Bürokratie verfügen, gut ist, wenn sie zum Beispiel turen aufbaut. Ich meine, diese Hybris sollten wir ein für die Mitarbeiter von 4 000 NGOs und mehr, die in ih- bisschen zurücknehmen. rem Land gleichzeitig tätig sind, Arbeitserlaubnisse aus- stellen und verlängern müssen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir den Prozess der Be- friedung des Kongos durch die afrikanischen Staaten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ernst nehmen würden, so wie es die Bundesregierung GRÜNEN]: 12 000!) seit 1998 getan hat. Die Initiativen von Pretoria, Lusaka Diese Papiere verlangen wir von Ausländern, die bei uns und anderswo waren die Auslöser dafür, dass das Land arbeiten, auch. Also haben auch diese Staaten das Recht überhaupt eine Chance hat, in eine friedliche Zukunft dazu. gehen zu können. Diese friedliche Zukunft unterstützen (B) (D) wir mit allem Nachdruck. Wir müssen dabei helfen, vor Wir müssen überlegen, wie wir den Staaten dabei hel- allem auch bei der Bekämpfung von Aids. fen können, ihre Strukturen selber aufzubauen, damit sie die Aufgaben, die sie lösen müssen, auch lösen können. Dieses Land und viele andere Länder brauchen vor al- Lassen Sie uns dabei zusammenarbeiten. Ich glaube, da- lem staatliche Strukturen, die es ermöglichen, politi- durch würden wir mehr zur Bekämpfung von Aids und sche Entscheidungen auch umzusetzen. Was nützt es, von Armut, zur Entwicklung der Länder und zur Koope- wenn es keine Verwaltung gibt? Was nützt es, wenn es ration zwischen unseren beiden Kontinenten beitragen keine Polizei gibt, die auch bezahlt werden kann, weil es als durch wohlfeile Appelle. keine Strukturen dafür gibt? Wir müssen endlich erken- nen, dass der erste Punkt ist, mitzuhelfen, die staatlichen Vielen Dank. Strukturen aufzubauen, die es ermöglichen, zum Bei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spiel Gesundheitsprogramme umzusetzen. Es wurde mit DIE GRÜNEN) Recht darauf hingewiesen: Man braucht eben ein Netz- werk. Nur Medikamente oder irgendwo eine Gesund- heitsstation reichen nicht. Man muss auch dafür sorgen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass sie regelmäßig beliefert wird, dass sie angefahren Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer, CDU/ werden kann auf Straßen oder Wegen, die in Ordnung CSU-Fraktion. sind, usw. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Wir haben zwei Anträge vorliegen, die bezüglich ih- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- rer Zielsetzung im Grunde genommen nicht sehr weit gen! Wie ist die Ausgangslage zehn Jahre nach dem Ge- auseinander liegen; ich bin mir sicher, wir können uns in nozid in Ruanda und nach fünf Jahren Bürgerkrieg im den Beratungen auf einen gemeinsamen Weg einigen. Bereich der Großen Seen, der 3,5 Millionen Tote vor al- Aber wir sollten uns bei dieser Diskussion – das ist an- lem in der Demokratischen Republik Kongo gefordert lässlich dieser Rede meine Bitte – vielleicht dazu durch- hat? Wir haben darüber im Mai eine intensive Debatte ringen, den Wert, den der Dialog miteinander hat – mit geführt, haben Anträge beraten und Forderungen an die den afrikanischen Staaten und den neuen afrikanischen Bundesregierung gestellt. Auf diese Weise haben wir in Führern; so viele sind es ja noch nicht –, höher zu schät- diesem Parlament mit dafür gesorgt, dass über die zen, als wir es im Moment noch tun. Medien die Situation der Menschen in der Demokrati- Es ist gut, dass der Bundeskanzler und die Ministerin schen Republik Kongo in das Bewusstsein der Öffent- für Entwicklungszusammenarbeit Präsident Kabila hier lichkeit gerückt worden ist. Wir erleben, dass sich die 8088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Übergangsregierung bemüht, die Situation in der DR sundheit weiter verstärkt werden. Parallel dazu müssen (C) Kongo zu stabilisieren. Aber der Frieden, der dort der- Projekte gestützt und ausgebaut werden – wie zum Bei- zeit herrscht, ist außerordentlich zerbrechlich. spiel die Projekte der Welthungerhilfe –, durch die Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird. In den nächsten Wochen Noch vor etwa einem Jahr hatte die MONUC nur und Monaten benötigt die Demokratische Republik einen reinen Beobachterauftrag. Noch im Frühjahr wa- Kongo eine besondere Unterstützung bei der Vorberei- ren Tausende von Toten zu beklagen. „MONUC steht tung der demokratischen Wahlen. Insbesondere gilt es, heute auf den Schultern von ARTEMIS“, so hat William auch die Nichtregierungsorganisationen bei dieser Vor- Lacy Swing, der Sonderbeauftragte der UNO, gesagt. bereitung zu unterstützen. Die MONUC hat ein anderes, ein stabileres Mandat er- halten und kann nun zum Frieden in der Region beitra- Eine der zentralen Forderungen der Union ist aller- gen. MONUC hat aber noch immer nicht genügend Per- dings auch, dass die DR Kongo wieder zum Partnerland sonal, um den Ostkongo insgesamt zu befrieden. Wir der deutschen Entwicklungsarbeit wird. Dies ist auch haben vor 14 Tagen erleben müssen, dass im Bereich des mit Blick auf die Konferenz der Staaten in der Region Albertsees über 100 Familien auseinander gerissen wur- der Großen Seen wichtig. Die Verhandlungen dort die- den; 100 Männer wurden ermordet, die Frauen und die nen der Stabilisierung Zentralafrikas, wodurch auch die Kinder haben das Martyrium einer Entführung erlebt Demokratische Republik Kongo auf gleicher Augenhöhe und sind seitdem verschwunden. Wir haben aber auch mit anderen Partner- und Schwerpunktländern verhan- erlebt, dass MONUC sofort flexibel reagiert hat und deln können muss. zwei neue Garnisonen in Arhu und Mahagi aufgestellt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat. Man agiert und reagiert also. neten der FDP) Im Ostkongo gibt es über 47 Brigaden von fünf ver- Insbesondere zwischen der EU, Deutschland und den an- schiedenen Milizen mit circa 180 000 Kämpfern, die es deren Geberländern brauchen wir dringend die Koordi- zu befrieden gilt. Damit ist MONUC derzeit noch über- nierung der bilateralen und multilateralen Zusammenar- fordert. Wir können aber feststellen, dass es zum Bei- beit bei staatlichen und nicht staatlichen Aktivitäten. spiel eine Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und Sicherheit und Stabilität liegen auch im deutschen Inte- der Regierung gibt. Vor zwei Tagen wurde mithilfe des resse. Bischofs dafür gesorgt, dass man in Bukavu den Gou- verneur abgesetzt hat, nachdem 10 Tonnen Waffen auf Es stellt sich auch die Frage, wie wir mit den Flücht- dem Grundstück des Gouverneurs gefunden und dann lingslagern dort umgehen. Bilden wir dort einen Boden- entsorgt werden konnten. satz, durch den Fundamentalisten in dieser Region eine Chance für Terrorismus und Islamismus gegeben wird? (B) (D) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aus einem Krieg resultieren Ströme von Flüchtlingen, Sehr gut!) auch Wirtschaftsflüchtlingen. Diese schädigen die ge- Welches sind die notwendigen Schritte? – Der erste samte Entwicklung in Zentralafrika und später eventuell notwendige Schritt ist die Demobilisierung der Soldaten, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Prävention ist insbesondere der Kindersoldaten. Eine Stabilisierung des auf Dauer günstiger als Reparatur. Ostkongo werden wir aber nur durch die Festigung von (Beifall bei der CDU/CSU) rechtsstaatlichen Grundsätzen erreichen, wozu der Auf- bau und die Ausbildung der Polizei und der Justiz unter- Herr Kollege Büttner, ich wende mich nun an Sie. Sie stützt werden muss; der Kollege Büttner hat das kurz an- haben die Aussage unseres Kollegen Kraus aufgegriffen, gesprochen. Der zweite notwendige Schritt ist der nach der es in unserem Ausschuss sehr harmonisch zu- Ausbau der Infrastruktur. Schließlich ist das Gebiet so geht. Das ist gut so; denn es liegt im gemeinsamen Inte- groß wie Europa und hat eine Grenze zwischen den ver- resse. Wir müssen aber aufpassen, dass die gemeinsame feindeten Staaten von knapp 10 000 Kilometern, die es Zielsetzung des Parlaments – entsprechende Forderun- zu sichern gilt, ohne dass es ausreichend Straßen gibt. gen werden durch Parlamentsbeschlüsse aufgestellt – Berücksichtigung findet. Ich gehe gerne noch einmal auf Wir müssen die Regierung der DR Kongo unterstüt- die strittigen Anträge ein. Im Mai des vergangenen Jah- zen, dass die illegale Ausbeutung der Bodenschätze auch res lagen zwei Anträge vor, über die wir uns leider nicht durch ein transparentes Konzessionsvergabeverfahren einigen konnten. Ich gehe jetzt nur auf den Antrag ein, unterbunden wird. Vielen ist gar nicht bewusst, dass die den Sie damals gestellt haben. DR Kongo die grüne Lunge Afrikas ist, die ähnlich wie das Amazonasgebiet in Brasilien mit zum Weltklima In Ihrem Antrag von damals stand, die Arbeit der beiträgt. MONUC müsse finanziell und politisch – auch durch die Entsendung von Führungskräften in den Stabsstellen – Dies alles veranlasst uns natürlich, die Zusammenar- unterstützt werden. Diese Forderung an die Bundesre- beit zu verstärken. Es existiert bereits ein Investitions- gierung kam auch von Ihrer Seite. In diesem Bereich hat schutzabkommen. Wir brauchen dieses Investitions- sich nichts getan. schutzabkommen, damit wir gemeinsam handeln und (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So verhandeln können und damit die wirtschaftliche Zu- ist es!) sammenarbeit verstärkt wird. Die wichtige Arbeit der NGOs und der Kirchen muss insbesondere im Bereich Es gibt einen zweiten Bereich. In unserem Antrag for- der Grundbildung, der beruflichen Bildung und der Ge- derten wir, die Luftüberwachung zu verstärken. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8089

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) wissen, dass 80 Prozent der Waffentransporte – derzeit worden. Die staatlichen Strukturen sind fast völlig zer- (C) noch weitestgehend aus Uganda – auf dem Luftweg er- stört und die Lebensgrundlagen für große Teile der Be- folgen. Wir haben die Bundesregierung damals dazu auf- völkerung vernichtet worden. Die Menschen in diesem gefordert, eine Luftüberwachung mit aufzubauen. Das Land haben von dem Reichtum dieses Landes so gut wie Ganze ist fast ein Jahr her. Wie uns Herr Swing aus- nichts abbekommen. drücklich noch einmal bestätigt hat, ist in dieser Frage nichts passiert. Welches sind dafür die Gründe? Die Gründe waren wahrscheinlich auch – so zynisch das klingt – der Reich- Wir haben auch gefordert, dass die Programme ge- tum dieses Landes, weil die ökonomischen Interessen mäß Ihrem Antrag, der durch das Parlament verabschie- vieler anderer Länder aus Europa, aber auch aus Afrika det wurde, in Bezug auf die Kindersoldaten erweitert an die Entwicklung dieses Landes geknüpft waren. Die werden. Ich bin dort gewesen. Ich habe mich über die Si- ehemaligen Kolonialherren wie auch andere europäische tuation in Bunia informiert und mir ein Lager mit Länder haben in der Folgezeit die Ausbeutung dieses 100 Kindersoldaten angesehen. Bezüglich der Situation Landes fortgesetzt und zu Kriegen mit Millionen von vor Ort wurde uns gesagt: Wenn wir sie dazu aufrufen, Toten beigetragen. aus dem Wald zu kommen und sich entwaffnen zu las- sen, um wieder resozialisiert zu werden, dann stehen Nun dürfen wir aber nicht – darin unterscheidet sich plötzlich 2 000 junge Leute bei uns in der Stadt. Die Pro- Ihr Antrag von dem Antrag der Koalition – vergessen, gramme greifen nicht, weil wir erst in dem Augenblick dass auch Kongolesen an dem Entstehen der heutigen Si- handeln dürfen, wenn die Menschen da sind. Dann sind tuation im Kongo beteiligt gewesen sind. Schließlich ist wir jedoch nicht darauf vorbereitet, weil die Mittel erst Lumumba im Kongo ermordet worden. Schließlich ist später zur Verfügung gestellt werden. Mobutu als Diktator in der Demokratischen Republik Kongo zu einem ganz wesentlichen Anteil an der Unter- Das ist eine unbefriedigende Situation. Deshalb er- drückung der Bevölkerung und der Ausbeutung des Lan- warte ich, dass die Bundesregierung das, auf was wir uns des durch auswärtige Staaten beteiligt gewesen. Wir dür- im Ausschuss verständigt haben und was hier im Parla- fen auch nicht vergessen, dass Laurent Kabila, also der ment verabschiedet worden ist – das ist jetzt fast ein Jahr Vater des jetzigen Präsidenten Joseph Kabila, der zu- her –, auch umsetzt, damit es eben nicht nur Gegenstand nächst zu großen Hoffnungen Anlass gegeben hatte, ein einer Debatte bleibt, sondern auch ein Handeln zur Folge Regime errichtet hat, das bekämpft werden musste. Wir hat. wissen auch, dass im Kongo Konflikte der Region der (Beifall bei der CDU/CSU) Großen Seen durch die Nachbarstaaten mit ausgetragen werden. So stationierten beispielsweise Ruanda, Uganda, Burundi, Simbabwe und Angola im Kongo Sol- (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) daten, die dort mit Waffengewalt nicht nur eigene Inte- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Christian ressen, sondern ebenso die der jeweiligen Staaten wie Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. auch die einzelner Gruppen im Kongo durchzusetzen versuchten. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben jetzt die Chance – darüber ist gesprochen Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- worden –, eine friedliche Entwicklung im Interesse der gen! Wir sind uns alle einig: Die Demokratische Repu- Bevölkerung zu erreichen, bei der der Reichtum des blik Kongo gehört nicht nur zu den größten Ländern Af- Kongos den Menschen dieses Landes zugute kommen rikas, sondern auch zu den Ländern, die nach der Kolo- könnte. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Ich nialzeit zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben ha- sehe den wesentlichen Unterschied zwischen den Anträ- ben. Die Demokratische Republik Kongo hätte ein gen der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition zunächst Land sein können, das nach der Kolonialzeit keiner Ent- darin, dass wir einiges aufgelistet haben, was in den letz- wicklungszusammenarbeit oder jedenfalls keiner Ent- ten Jahren positiv geleistet wurde, und zwar nicht nur wicklungshilfe mehr bedurft hätte, weil es ungeheuer von der Bundesregierung, sondern auch von den Abge- viele eigene Ressourcen in Form von Bodenschätzen wie ordneten dieses Parlaments. Diamanten, Kupfer, Coltan und Gold besitzt, die ausge- Erinnern wir uns doch daran – es ist richtig, dass das beutet wurden und viele Menschen – aber zuletzt die in dem Antrag steht –, dass die Aktion ARTEMIS dazu Kongolesen selbst – haben reich werden lassen. beigetragen hat, das Völkermorden in diesem Lande zu Die Demokratische Republik Kongo ist bis heute lei- beenden, und dass diese Aktion vom deutschen Parla- der nicht das Land geworden, das es hätte werden kön- ment mitgetragen worden ist. Erinnern wir uns an die nen, nämlich ein Land mit unabhängiger Entwicklung vielen Reisen, die von Abgeordneten dieses Parlaments und Fortschritt für den Wohlstand der Menschen, ein unternommen worden sind – auch in die Nachbarländer friedliches Land. Die Republik Kongo ist zu einem der des Kongo –, bei denen wir alle darauf gedrungen haben, schlimmsten Orte des von Krieg, Vertreibung und Zer- dass etwa Ruanda, Uganda oder Burundi ihre Soldaten störung geprägten Kontinents geworden. Ein solches aus dem Kongo abziehen und damit helfen, eine friedli- Land wird man in Afrika an anderer Stelle kaum finden. che Lösung zu erreichen. Nicht nur die Minister waren Die Situation in den letzten Jahrzehnten in der Demokra- dort, sondern auch Abgeordnete haben ihren Teil dazu tischen Republik Kongo ist zu Recht mit der Situation in beigetragen. Stellen wir unser Licht nicht unter den Europa während des Dreißigjährigen Krieges verglichen Scheffel. Die Gespräche, die wir heute noch führen, die 8090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hans-Christian Ströbele (A) Gespräche, die wir letzte Woche mit Herrn Kabila und Wo war die im Kabinett zuständige Ministerin? (C) seiner Crew geführt haben, und die Gespräche, die wir (Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin: Ich war im April auf unserer nächsten Reise in den Kongo und da!) nach Ruanda führen werden, können zu einer vernünfti- gen, friedlichen und im Interesse der Bevölkerung lie- – Frau Eid, Sie waren da, ich weiß. Aber ich habe aufge- genden Entwicklung im Kongo beitragen. zählt, welche hochrangigen Regierungsmitglieder der anderen Länder anwesend waren. Wo war die Spitze der Lassen Sie mich zuletzt auf einen wesentlichen Punkt Bundesregierung – lassen Sie es mich so sagen –, als es hinweisen, darum ging, der Welt die dramatische Situation vor Au- gen zu führen und konkrete Pläne zur Bekämpfung von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: HIV/Aids zu diskutieren? Herr Kollege Ströbele, Ihre Redezeit ist überschritten. Das Thema HIV/Aids braucht in Deutschland wieder einen höheren Stellenwert. Ich meine das nicht nur, aber Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE auch politisch. Kollege Kraus hat es ebenso wie Kolle- GRÜNEN): gen von beiden Seiten angesprochen. Diesem Thema der mir als Grünem, dem Kollegen Ruck und den muss in Deutschland wieder ein höherer politischer Stel- Kollegen von der SPD besonders am Herzen liegt. Der lenwert eingeräumt werden, und zwar nicht in der zwei- Kongo ist auch ein Land, in dem die Natur, die Fauna ten Reihe, sondern auf höchster politischer Ebene. und die Flora, eine zentrale Rolle spielen können und sollen. Lassen Sie uns dazu beitragen, dass das große (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und wichtige Projekt der GTZ in Kahuzi-Biega erfolg- Wir müssen gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten, reich fortgeführt wird. Wir haben es in all den Jahren des dass HIV/Aids wieder und noch stärker als bisher als ge- Krieges erhalten können. Wir wollen, dass dieses Projekt sellschaftliches Problem anerkannt und angegangen ausgeweitet wird und der Reichtum der Region und dem wird. Die Krankheit – auch darauf wurde bereits hinge- Land zugute kommt. wiesen – hat in einigen Ländern südlich der Sahara die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit der vergange- und bei der SPD) nen Jahre, ja teilweise sogar Jahrzehnte, zunichte ge- macht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: HIV/Aids hat gerade in Entwicklungsländern gravie- Das Wort hat die Kollegin Conny Mayer, CDU/CSU- rende Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheit, auf das Sozial- und Bildungssystem wie auch auf die Sicher- (B) Fraktion. (D) heits- und Außenpolitik. Hinzu kommt – das erkennen Conny Mayer (Baiersbronn) (CDU/CSU): wir alle, es ist aber meines Wissens noch nicht so deut- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- lich formuliert worden; deswegen will ich an dieser gen! Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café am Stelle darauf hinweisen –, dass die Seuche das Erreichen Potsdamer Platz, am Brandenburger Tor oder irgendwo der Millenniumsziele, die wir uns gemeinsam gesetzt ha- in Ihrem Wahlkreis, und stellen Sie sich vor, jede fünfte ben, bedroht. Ich halte es deshalb für richtig, dass wir bei Frau und jeder fünfte Mann trägt die Aidsschleife. Ich unseren Partnerländern ein angemessenes Engagement war am 1. Dezember des vergangenen Jahres, am Welt- im Kampf gegen die Krankheit einfordern und das auch aidstag, in Kapstadt, Südafrika. Etwa jeder Fünfte in zur Voraussetzung für die bilaterale Zusammenarbeit dem Café und etwa jeder Fünfte, der an mir vorbeiging, machen. trug dieses Zeichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Derzeit sind nach Schätzungen von UNAIDS in Süd- Lassen Sie mich noch einmal auf die Zahlen zu spre- afrika über 20 Prozent aller Menschen im erwerbsfähi- chen kommen. Ich habe mich vorhin nicht in die Debatte gen Alter, also jeder Fünfte, mit dem tödlichen Virus in- eingemischt, da ich jetzt die Gelegenheit habe, dazu fiziert. Das ist Realität in Südafrika. Stellung zu nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher 40 Millionen Euro in den Globalen Fonds Laut aktuellem „Aids Epidemic Update“, der auf dem eingezahlt. Für dieses Jahr sind 38 Millionen Euro vor- New Yorker Gipfel – darüber wurde heute schon gespro- gesehen. Im Vergleich dazu hat Italien – das Beispiel chen – im vergangenen September vorgestellt wurde, Frankreich wurde bereits erwähnt – bisher 172 Millio- liegt die Zahl der infizierten Menschen bei rund nen Euro eingezahlt und wird in den kommenden beiden 40 Millionen weltweit. Jahren noch 200 Millionen Euro in den Fonds einzahlen. Kofi Annan hat in New York deutlich gemacht, dass (Widerspruch bei der SPD) der Kampf gegen HIV/Aids mit dem bisherigen Engage- ment nicht gewonnen werden kann. Frankreichs Staats- – Hören Sie erst zu, dann können wir darüber diskutie- präsident Chirac, der russische Staatspräsident Putin, der ren! amerikanische Außenminister Colin Powell, der nieder- Sie weisen zwar zu Recht darauf hin, dass wir uns ländische Premierminister – alle haben in New York ge- auch auf bilateraler Ebene stark engagieren. Entschei- redet. Wo war Bundeskanzler Schröder? dend ist aber beides: die Einzahlungen in den Globalen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fonds und die bilaterale Hilfe. Wir bleiben hinter dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8091

Conny Mayer (Baiersbronn) (A) zurück, was unserer Größe und wirtschaftlichen Bedeu- Hitze ihre karge Lebensform finden: Steinwüsten, Sand- (C) tung entspricht. wüsten, irgendwo in fernen Regionen. Angesichts des- sen ist es kein Wunder, dass die Problematik der zuneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) menden Wüstenbildung, der Landverödung und der In der Diskussion um HIV/Aids ist eines wichtig: Bei Bodenerosion nicht im Mittelpunkt des öffentlichen In- der Aidskonferenz der Vereinten Nationen im Juni 2001 teresses steht. Wer weiß denn schon um das dramatische war immer wieder von zusätzlichen 7 Milliarden bis Anwachsen verödender Landstriche weltweit, einer Flä- 10 Milliarden US-Dollar die Rede, die notwendig sind, che, die dreieinhalbmal so groß ist wie Europa? Die um den Kampf gegen HIV/Aids zu gewinnen und die Existenzgrundlage von mehr als 1 Milliarde Menschen Millenniumsziele zu erreichen. in 110 Ländern ist bedroht. Derzeit sind in 70 Prozent al- ler Trockengebiete Auswirkungen von Wüstenbildungen Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Antrag festzustellen. Dies entspricht einer Fläche von 36 Millio- der Koalition machen. Wir sind uns in der Analyse in nen Quadratkilometern. Sollte dieser Prozess in den vielen Punkten einig. Ich wundere mich aber, dass im kommenden zwei Jahrzehnten mit der gleichen Dynamik Koalitionsantrag festgestellt wird, dass die Bundesregie- weiter voranschreiten, ist gerade in den Ländern des Sü- rung jährlich 300 Millionen Euro für die Bekämpfung dens mit einem erheblichen Rückgang der landwirt- von HIV/Aids ausgibt. Diese Zahl ist falsch, wir haben schaftlichen Nutzfläche zu rechnen. darüber schon einmal in der Fragestunde gestritten. Ich will auch begründen, warum ich die Zahl für falsch Die Folgen für die betroffene Bevölkerung in den halte. Ländern des Südens sind gravierend: Hunger, Migration, der Zusammenbruch sozialer Strukturen und politische Erstens. Der Globale Fonds gibt in seinem Jahresbe- Destabilisierung. Etliche Millionen Menschen, so viele, richt an, dass 60 Prozent der Mittel in HIV/Aids-Pro- wie in Deutschland und Frankreich leben, stehen vor der jekte fließen. Die restlichen 40 Prozent der Mittel Gefahr, durch Landverödung zu Flüchtlingen zu werden. werden zur Finanzierung von Tuberkulose- und Malaria- Langzeitstudien in Westafrika belegen einen konstanten projekten verwendet. Diese Projekte sind wichtig – ich Migrationsfluss von der Sahelzone zu den Küstenregio- will sie nicht geringschätzen –, aber warum werden die nen. Dort wird die Bevölkerung in einem Zeitraum von gesamten Mittel aus dem Globalen Fonds in die Ausga- 20 Jahren auf das Dreieinhalbfache ansteigen. ben für die HIV/Aids-Bekämpfung mit eingerechnet? Zweitens. Warum rechnen Sie alle Mittel, die irgend- In Megastädten und in anderen immer dichter besiedel- etwas mit Gesundheit zu tun haben, mit 25 Prozent bei ten Regionen hat die Umwelt keine Chance und werden den HIV/Aids-Ausgaben ein? Warum berücksichtigen Ressourcen unwiederbringlich verbraucht. Obwohl wir (B) Sie nicht nur die Mittel, die den 25 Kategorien der „key das alles wissen, ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit (D) interventions“ von UNAIDS entsprechen? Warum der Bekämpfung der Wüstenbildung noch viel zu gering. – wenn Sie denn so vorgehen – belegen Sie das nicht Ursache hierfür sind zwei verbreitete Fehleinschätzungen: wenigstens entsprechend? Die „community“ der mit Erstens. Wüstenbildung wird vielfach lediglich auf die HIV/Aids-Beschäftigten fordert die Bundesregierung Ausbreitung bereits bestehender Wüsten bezogen. Zwei- immer wieder dazu auf. tens. Damit wird das Phänomen vor allem als Problem der Länder des Südens wahrgenommen. In Wirklichkeit han- Zum Ende meiner Rede komme ich noch einmal auf delt es sich bei der Wüstenbildung aber schon lange um das Café in Kapstadt zurück. Ich wünsche mir, dass ich ein globales Umwelt- und Entwicklungsproblem. In irgendwann in Südafrika im Café sitzen kann und nie- erster Linie geht es bei der Wüstenbildung gerade nicht manden oder nur sehr wenige Menschen sehe, die die um die Ausbreitung vorhandener Wüsten, sondern vor Aidsschleife tragen, weil die Zahl der HIV-Infizierten allem um von Menschen verursachte Landverödung und und Aidskranken drastisch zurückgegangen ist. Bodenerosion durch die Übernutzung von Böden und Wäldern. Ich appelliere an die Bundesregierung und an uns alle über die Fraktionsgrenzen hinweg: Lassen Sie uns den „Betonwüste“, den Begriff kennen wir alle. Aber wer Kampf gegen HIV/Aids angehen, und zwar noch enga- bringt die Versiegelung von Flächen in Zusammenhang gierter als bisher! mit dem globalen Klimawandel? Wer sieht in benachtei- Ich danke Ihnen. ligenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Ur- sachen für den Raubbau an Boden- und anderen Natur- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schätzen? Übrigens, betroffen sind nicht nur die Länder in den Trockenzonen der Erde. In zunehmendem Maße Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: greifen Landverödung und Bodenerosion auch in Nord- Das Wort hat die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD- amerika und Europa um sich. Fraktion. Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Desertifikation steht uns seit 1996 ein Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): völkerrechtlich verbindliches Instrument zur Be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kämpfung der Wüstenbildung zur Verfügung. Die Kon- Was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff „Wüste“ hö- vention hat neben dem Schutz der Böden in Trockenge- ren? – Wüste, das ist doch – weit entfernt – eine archai- bieten ausdrücklich auch die Bekämpfung der Armut sche Landschaft, in der wenige Lebewesen in gleißender zum Ziel. Armut ist sowohl Ursache als auch Folge von 8092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dagmar Schmidt (Meschede) (A) Landverödung und Bodenerosion. In einem nicht enden zess einbringen müssen, wie in Havanna in der Frage der (C) wollenden Teufelskreis zwingt Existenznot viele Men- Wüstenbildung, nur mit Nachdruck unterstützen. schen, die natürlichen Ressourcen ihrer Länder um jeden (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Preis auszubeuten – leider oft zu einem Dumpingpreis. Abg. Markus Löning [FDP]) Die damit einhergehende Landverödung schafft Armut und beschleunigt so den Prozess der Zerstörung der na- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf an dieser türlichen Lebensgrundlagen. Stelle auch Professor Dr. Uwe Holtz für die gute Vorarbeit und Moderation in Havanna danken. Dank für die nach le- Mit dem Aktionsplan 2015 der rot-grünen Bundesre- bendiger Diskussion zustande gebrachte Resolution der gierung wollen wir diese Spirale des Verderbens stop- Parlamentarierkonferenz! Damit haben wir eine de- pen. Die Bekämpfung der Wüstenbildung stellt seit lan- mokratisch legitimierte Grundlage zum Kampf gegen gem einen Förderschwerpunkt der Bundesregierung dar. Landverödung und Wüstenbildung gewonnen. Aber vor Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen- allem haben wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier arbeit und Entwicklung fördert derzeit weltweit 250 Vor- uns verpflichtet, in unseren nationalen Parlamenten die haben, davon über die Hälfte in Afrika. Meine Damen Frage der Wüstenbildung zu thematisieren und dadurch und Herren, es gibt eine Chance, Armut durch nachhal- zur Bewusstseinsbildung über die globale Bedeutung des tige Entwicklung zu überwinden. Es gibt ein Wissen um Problems der Landverödung und Bodenerosion beizutra- den Erhalt von Boden- und Wasserressourcen. gen. Dieses Wissen wird gebündelt im Sekretariat der UN- Wir sind dieser Verpflichtung mit der Einbringung Wüstenkonvention in Bonn. Mit der Ansiedlung des Se- des vorliegenden Antrags und der heutigen Debatte ver- kretariats hat Deutschland eine besondere Verantwor- antwortungsvoll nachgekommen. Wir machen damit tung in diesem Aktionsfeld übernommen und gleichzei- deutlich: Armutsbekämpfung, Krisenprävention, ge- tig einen wichtigen Beitrag zum Ausbau des Zentrums rechte Gestaltung der Globalisierung und nachhaltige für internationale Kooperation in Bonn geleistet – eine Entwicklung bedingen sich gegenseitig und können nur Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Land und der Stadt gemeinsam verwirklicht werden. Landverödung, Boden- Bonn. Für uns ist es wichtig, neben den bereits ansässi- erosion und Wüstenbildung sind längst nicht mehr weit gen nationalen und internationalen Organisationen wei- weg. Romantische Verklärung der Wüsten oder gar tere Institutionen, vor allem aus den Bereichen Umwelt Abenteuerlust dürfen den Zusammenhang der Problema- und Entwicklung, anzusiedeln. So wird nationale mit in- tik mit unserer Zukunft nicht vernebeln. Ich wünsche ternationaler Politik besser vernetzt und werden die her- mir daher, dass Sie, meine Damen und Herren von der vorragenden Konferenzmöglichkeiten, die Bonn bereit- Opposition, sich dieser Einsicht und unserem Antrag an- (B) stellt, in Zukunft gesichert. Die Petersberg-Konferenzen schließen. Damit könnten wir auch international ein Zei- (D) zu Afghanistan haben der friedensfördernden Rolle der chen setzen, nämlich dafür, dass in Deutschland bei der Bundesregierung, die eng mit dem Standort Bonn ver- Bekämpfung der Wüstenbildung alle Kräfte an einem knüpft ist, hohe internationale Anerkennung verschafft. Strang ziehen. Meine Damen und Herren, trotz aller Unterstützung hat Schönen Dank. die UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bisher noch nicht den gleichen Stellenwert wie die Kon- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vention von Rio zum Klimaschutz und zur Biodiversität. Deshalb begrüßen wir es außerordentlich, dass die 6. Ver- tragsstaatenkonferenz in Havanna im September 2003 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beschlossen hat, die Globale Umweltfazilität als Finanz- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin mechanismus für die Konvention anzuerkennen. Da- Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion. durch werden bis 2007 internationale Finanzmittel in Höhe von 500 Millionen US-Dollar für Programme ge- Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): gen Entwaldung und Desertifikation zur Verfügung ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die stellt. Wüste. – Der weltweite Schutz der Böden ist ebenso wichtig und verdient genauso viel Aufmerksamkeit, wie Im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz in Havanna sie dem Klimaschutz schon eine geraume Weile zu- im vergangenen September sind mehr als 100 Parlamen- kommt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Verände- tarierinnen und Parlamentarier aus 43 Ländern zusam- rungsgeschwindigkeit der Böden erheblich höher ist als mengekommen. Zwar war die Beteiligung aus Europa die des Klimas. Allerdings ist die emotionale Betroffen- insgesamt unzureichend, aber der Deutsche Bundestag heit weitaus geringer als bei Epidemien oder Hungersnö- war mit einer fünfköpfigen Delegation vertreten. ten. Jetzt ein Lob, das ich wegen der Scheuklappen bei Ih- Durch das Anwachsen der Weltbevölkerung wird der rem Kollegen eigentlich streichen wollte, nun aber trotz- Druck auf die Ressource Boden besonders in den Ent- dem bringe. Ich kann die Bewertung meines Kollegen wicklungsländern immer stärker. Dies führt zu einer zu- Heinrich gestern im Ausschuss, dass wir gerade mit nehmenden Gefährdung der Ernährungsgrundlage und Blick auf die vor uns liegende Konferenz „Erneuerbare lässt großräumige Bevölkerungswanderungen erwarten. Energien“ unser Gewicht als Parlamentarierinnen und Auch hier ist Afrika besonders betroffen. Letztlich be- Parlamentarier in den jeweiligen Meinungsbildungspro- rührt eine Destabilisierung in den betroffenen Regionen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8093

Christa Reichard (Dresden) (A) auch die Interessen der Industrieländer, also auch die Auffassung sind Umwelt und Entwicklung zwei Seiten (C) Deutschlands. einer Medaille; sie gehören zusammen. Die sicherheitspolitische Relevanz von Wüstenbil- Die Vorlage dieses Berichts zum Ende der Legislatur- dung und Bodendegradierung in Entwicklungsländern periode hat sich auf die Befassung im Bundestag un- ist offensichtlich; deshalb fordern wir auch von der deut- günstig ausgewirkt. Der Bericht liegt nun ohne Parla- schen Außenpolitik eine verstärkte Beachtung der si- mentsbefassung in der Schublade. Eine Bitte an die cherheitspolitischen Aspekte der internationalen Um- Bundesregierung: Legen Sie den nächsten Bericht recht- weltzerstörung. zeitig und vor allem umfassend vor, damit er auch im Parlament genügend Aufmerksamkeit finden kann! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) In Ihrem Antrag erwecken Sie den Eindruck, als be- Eine weitere Frage: Welche neuen Erkenntnisse gibt gännen wir im Bundestag gerade erst, uns mit diesem es inzwischen zu den Wechselbeziehungen zwischen Thema zu befassen. Dem ist nicht so. Der Wissenschaft- Desertifikation und Bodendegradation, Trinkwasser- liche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltverän- schutz, Klimaveränderung, Tropenwaldvernichtung, Ar- derungen hat uns bereits 1994 einen umfassenden Be- tenvielfalt, Bevölkerungswachstum und weiteren Fakto- richt über den weltweiten Zustand der Böden vorgelegt ren? Ist die Struktur der deutschen Forschung zum und den dringenden Handlungsbedarf deutlich gemacht. globalen Wandel interdisziplinär geworden? Ist die inter- Der Deutsche Bundestag hat sich 1999 und 2000 mit die- nationale Verflechtung und damit die Problemlösungskom- sem Thema lange und intensiv befasst und mit großer petenz – wie vom Wissenschaftlichen Beirat gefordert – Mehrheit einen Antrag zum grenzüberschreitenden Bo- seit 1994 gewachsen? denschutz verabschiedet. Ich schlage vor, dass wir uns vor der Beratung des Dabei kam dem Kampf gegen die Wüstenbildung und Antrags in den Ausschüssen erst einmal die noch offe- der Unterstützung der Wüstenkonvention selbstverständ- nen Fragen zum Thema von der Bundesregierung beant- lich eine besondere und herausragende Bedeutung zu. worten lassen. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Ich Meine Vorrednerin hat bereits an die Vertragsstaatenkon- kann mir bei der Berücksichtigung einiger Anregungen ferenz 2003 erinnert. Dem Bonner UN-Sekretariat der von unserer Seite eine breite Unterstützung durch das Wüstenkonvention möchte ich im Namen meiner Frak- Parlament vorstellen. tion für seine hervorragende Arbeit, die auch im vorlie- genden Antrag deutlich wird, ausdrücklich Dank sagen. Ich danke Ihnen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Der vorliegende Antrag lässt bei mir trotzdem noch einige Fragen offen, die ich hier ansprechen möchte. Es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beginnt mit der Überschrift: Dort vermisse ich den Be- Ich schließe die Aussprache. zug zur Bodendegradation in den Entwicklungsländern Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf insgesamt, der uns vor vier Jahren besonders wichtig er- den Drucksachen 15/2408, 15/2396, 15/2395, 15/2335, schien. Frau Schmidt, Sie haben dies in Ihrer Rede be- 15/2465, 15/2469 und 15/2479 an die in der Tagesord- sonders betont. Warum nehmen wir eine Beschränkung nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die vor? Selbst die Wüstenkonvention wurde in den Anhän- Vorlage auf Drucksache 15/2408 – Tagesordnungs- gen für andere Bodenschäden geöffnet. punkt 5 a – soll zusätzlich an den Ausschuss für Wirt- (Dagmar Schmidt [Meschede] [SPD]: schaft und Arbeit, den Ausschuss für Familie, Senioren, Text lesen!) Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Men- schenrechte und Humanitäre Hilfe überwiesen werden. – Ich habe die Überschrift angesprochen. Sie soll deut- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann lich machen, was im Antrag steht. sind die Überweisungen so beschlossen. Mich interessiert, was die Bundesregierung konkret Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: getan hat, seit die Aufträge des Parlaments von 2000 auf dem Tisch liegen. Die Ausführungen im Bodenschutzbe- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, richt der Bundesregierung von 2002 zu den Aktivitäten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE in den Entwicklungs- und Schwellenländern sind mehr GRÜNEN und der FDP als dürftig und beziehen sich primär auf die Aufzählung Zulassung aller Kandidaten und Kandidatin- der verschiedenen internationalen Konventionen. Das nen zu den Wahlen im Iran reicht nicht aus! – Drucksache 15/2481 – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Die gute Arbeit der deutschen Entwicklungszusam- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. menarbeit im Bereich der Desertifikation wird in diesem Bericht nicht einmal erwähnt. Liegt das an Abstim- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege mungsproblemen in der Bundesregierung? Nach meiner Rudolf Bindig, SPD-Fraktion. 8094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Rudolf Bindig (SPD): Bei der Auseinandersetzung zwischen Reformern und (C) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Konservativen geht es mittlerweile um einen Kampf gen! Mit großer Sorge blicken wir in diesen Tagen in zwischen unvereinbaren politischen Systemen. Dies Richtung Iran. 25 Jahre, nachdem Ajatollah Khomeini wird deutlich, wenn ein Abgeordneter aus dem Refor- einen Gottesstaat im Iran ausgerufen hat, spitzt sich der merlager sagt: Die Konservativen im Wächterrat wollen Konflikt zwischen reformorientierten und klerikal-kon- den hässlichen Körper der Diktatur mit dem schönen Ge- servativen Kräften zu. wand der Demokratie bedecken. Umgekehrt behaupten konservative Geistliche, dass die demokratischen Insti- Aktueller Auslöser ist die Aufstellung der Kandidaten tutionen des Parlaments bereits wieder von Feinden der für die Parlamentswahlen am 20. Februar. Alle Kandida- islamischen Revolution beherrscht würden; dies müsse tinnen und Kandidaten müssen sich einer Überprüfung beendet werden. durch den klerikal-konservativen Wächterrat unterzie- hen, der nach islamischen Gesichtspunkten darüber ent- Der konservative Klerus sieht die Feinde der Revolu- scheidet, ob sie als Abgeordnete geeignet sind. Durch tion aber nicht nur im Parlament. Auch an den Universi- seine Entscheidung, von den insgesamt 8 200 Bewerbern täten, in Verlagen und Zeitungsredaktionen, in Anwalts- über 2 000 abzulehnen, versucht der Wächterrat, die Re- kanzleien und zahlreichen zivilgesellschaftlichen formkräfte zu schwächen und zugleich den Reformpro- Organisationen werden Befürworter der Reformpolitik zess zu stoppen, den der vom Volk gewählte Präsident verfolgt. Ihr einziges Vergehen ist oft, dass sie ihr Recht Chatami und die reformorientierte Mehrheit im Parla- auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen. ment eingeleitet haben. Viele von ihnen wurden verhaftet und wegen Gefähr- dung der Sicherheit zu langjährigen Haftstrafen verur- Die klerikal-konservativen Kräfte stützen ihre Macht- teilt. Für alle, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber position hauptsächlich auf den von ihnen dominierten den radikal-islamischen Kräften innerhalb des Regie- Wächterrat und das Justizsystem. Die Mitglieder des rungssystems in ständiger Bedrohung leben, ist die Ver- Wächterrates sind nicht vom Volk gewählt, sondern auf leihung des Friedensnobelpreises an die Menschen- Lebenszeit ernannt. Bereits bei den vorangegangenen rechtsverteidigerin Schirin Ebadi ein Zeichen der Parlamentswahlen 1996 und 2001 hatte der Wächterrat Anerkennung für ihren Mut. durch die Ablehnung von Bewerbern versucht, die Re- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE formkräfte zu schwächen. Dennoch konnte das reform- GRÜNEN und der FDP) orientierte Lager seine Position deutlich ausbauen. Auch Präsident Chatami erhielt bei seiner ersten Wahl Tief besorgt verfolgen wir die Entwicklung in den 69 Prozent und bei seiner Wiederwahl 78 Prozent der letzten Tagen. Die Wahlen am 20. Februar sollen durch- (B) Stimmen. Diese Ergebnisse zeigen den starken und ge- geführt werden, obwohl rund 2 000 Kandidaten ihr pas- (D) wachsenen Willen der iranischen Bevölkerung und ins- sives Wahlrecht genommen wurde, darunter auch pro- besondere der Jugend, das erstarrte politische System zu minenten und erfahrenen Abgeordneten. Bei den verändern. Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Revolution hat Präsident Chatami davor gewarnt, die Demokratie unter (Beifall bei der SPD) dem Deckmantel des Islam zu untergraben, und gelobte, Inzwischen haben sich allerdings Enttäuschung und den Reformprozess trotz aller Widerstände voranzutrei- Ernüchterung im Land breit gemacht. Intellektuelle, Stu- ben. Eine Trennung von Religion und Politik lehnte aber denten, Frauen und Jugendliche zweifeln an der Refor- auch er ab. mierbarkeit des Systems durch die Teilnahme am politi- Es bleibt also unklar, ob und wie der Reformprozess schen Prozess und an Wahlen. Der Grund liegt darin, in Iran künftig gestaltet werden kann. Er ist bereits bis- dass das Parlament zwar Reformgesetze beschließen her an den Strukturen und Widersprüchen des Systems kann, jedoch alle Gesetze der Bestätigung durch den weitgehend aufgelaufen. Auch die Parteien des Reform- Wächterrat bedürfen; und dieser hat seine Macht inten- lagers verfolgen unterschiedliche Strategien: Die Par- siv genutzt. Etwa 80 Prozent aller Gesetzesvorschläge teien des Präsidenten und des Parlamentspräsidenten des Parlaments sollen zurückgewiesen worden sein. wollen an den Wahlen trotzdem teilnehmen. Dagegen Kein Wunder, dass dies bei der Bevölkerung und bei den will die vom Präsidentenbruder geführte Islamische Par- Wählern zu Enttäuschung und Ernüchterung geführt hat. tizipationsfront die Wahlen ebenso boykottieren wie die Wie soll man für Wahlen und für politische Inhalte ein- Organisation der Kämpfer für die Revolution. treten, wenn die gewählten Gremien und sogar der ge- wählte Präsident an einem erzkonservativen Klerus Wir deutsche Abgeordnete, die wir in freien Wahlen scheitern, der nicht gewählt ist, aber faktisch unange- gewählt worden sind, sehen die politische Entwicklung fochten seine Macht ausübt? in Iran, die Behinderung der politischen Arbeit der Ab- geordneten sowie die Einschränkung des passiven Wahl- Der Wächterrat hat selbst die Empfehlung des geisti- rechts nach religiösen Kriterien mit tiefer Sorge. Der gen Oberhauptes Chamenei unbeachtet gelassen, bei der Deutsche Bundestag hat sich erst unlängst mit der Ak- Zulassung von Kandidaten davon auszugehen, dass bei tion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ dazu den bisherigen Abgeordneten die politische und islami- verpflichtet, bedrohten Kolleginnen und Kollegen beizu- sche Eignung zu vermuten sei. Trotzdem hat der Wäch- stehen. Dies tun wir auch gerne und überzeugt für die terrat die erneute Kandidatur von mehr als 80 Abgeord- iranischen Parlamentskandidatinnen und -kandidaten. neten nicht zugelassen. Bereits in der Frühphase des Konfliktes haben die Mit- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8095

Rudolf Bindig (A) glieder der Deutsch-Iranischen Parlamentariergruppe zum Geist unserer Verfassung. Entweder es gibt (C) des Bundestages den streikenden Abgeordneten ihre So- freie Wahlen und jeder kann wählen, wen er will, lidarität bekundet und sie in ihrem Anliegen auf freie oder das Ergebnis ist nicht respektabel. Wahlzulassung unterstützt. Nahezu wörtlich dieselbe Auffassung hat Großayatol- (Beifall der Abg. Dagmar Schmidt [Meschede] lah Hossein Ali Montazeri vertreten, immerhin selbst ei- [SPD]) ner der Väter der iranischen Verfassung. In einem Inter- view mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ Wir haben den Wächterrat aufgefordert, das elemen- stellt er darüber hinaus fest: tare demokratische Recht, sich zur Wahl zu stellen, nicht weiter zu behindern. Wir haben dazu aufgerufen, dass Folglich haben wir heute anstelle von freien Wah- Iran seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt, len eine Auswahl, die von einer einzelnen Fraktion denn mehrere internationale Konventionen, die er rati- des Wahlwettbewerbs durchgeführt wurde. Dies al- fiziert hat, garantieren das freie Wahlrecht, das aktive les ist illegal und gegen die Verfassung. wie das passive. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die freie Zulassung aller Bewerber zu den Es ist also keine unzulässige Einmischung in die inneren Wahlen gefordert. Angelegenheiten des Irans, wenn der Deutsche Bundes- tag diese inneriranische Kritik aufgreift und die Vorge- Heute wollen wir nun in einer gemeinsamen Ent- hensweise der iranischen Autoritäten nicht einfach auf schließung aller Fraktionen unsere Auffassung unter- sich beruhen lässt. streichen, dass Iran nur mit einem Parlament, das den positiven Willen der Bevölkerung unverfälscht repräsen- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- tiert, die schwierigen Herausforderungen meistern kann, NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) die vor ihm liegen. Neben dem allgemeinen und glei- Dies gilt insbesondere für die Ablehnung unserer chen aktiven Wahlrecht ist dafür ein volles passives Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament, de- Wahlrecht erforderlich. Wir erwarten von den iranischen nen nicht nur eine erneute Kandidatur verboten wurde, Autoritäten, dass sie die einschränkenden Entscheidun- sondern die darüber hinaus auch noch befürchten müs- gen korrigieren und alle Kandidatinnen und Kandidaten sen, wegen ihrer Rücktrittserklärung kriminalisiert zu zur Wahl zulassen. werden. Sie hätten damit, so heißt es, eine religiöse Dieser Appell kommt einmütig aus dem ganzen Sünde begangen. Aus dem Justizministerium wird dafür Hause. Wir hoffen, dass er Gehör findet. Zumindest soll bereits die Todesstrafe gefordert. er zeigen, dass der Deutsche Bundestag eine klare Posi- Die Verabschiedung unseres gemeinsamen Antrages tion für die Grund- und Menschenrechte im Iran bezieht. (B) ist das Mindeste, was wir für diese Kolleginnen und Kol- (D) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. legen tun können. Ich denke, wir alle erwarten auch von der Bundesregierung, dass sie hier die weitere Entwick- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lung nicht nur mit größter Aufmerksamkeit beobachtet, GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) sondern auch alles in ihren Kräften Stehende tut, um diese Parlamentarier wenigstens vor weiterer politischer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Verfolgung zu schützen. Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Nach diesen Vorkommnissen wird man von Wahlen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist im Iran, die diesen Namen verdienen, erst wieder spre- nicht schwer vorherzusagen, dass die iranischen Autori- chen können, wenn sie unter internationaler Aufsicht täten den Appell des Bundestages verärgert als, wie sie der Vereinten Nationen stattfinden. sagen werden, Einmischung in die inneren Angelegen- Auf was müssen wir uns in der Zukunft einrichten? heiten zurückweisen werden. Vielleicht verweisen sie Mit der Manipulation der Wahlen wird keines der drän- auch noch darauf, dass es völlig verfassungsmäßig ge- genden Probleme des Irans gelöst. Im Gegenteil: Die Lö- wesen sei, dass der Wächterrat von den 8 000 Kandida- sung wird erschwert, weil das demokratische Element in ten für die Parlamentswahl mehr als 2 000 endgültig aus- der iranischen Verfassung weiter geschwächt wird. Die geschlossen hat, darunter auch 82 Mitglieder des notwendige allgemeine Aufbruchstimmung zur Über- derzeitigen Parlaments. windung der tiefen wirtschaftlichen Stagnation und zur Aber die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere Ebadi verweist in einem „Stern“-Interview darauf: der Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen, lässt sich so nicht erzeugen. Im Gegenteil: Die schon heute zu beob- Der Wächterrat wurde ins Leben gerufen, damit er achtende Apathie wird zunehmen. Das ist kein gutes die Wahlen beaufsichtige und politische Einmi- Klima für Investitionen aus dem Ausland, auf die der schung in die Kandidatenauswahl verhindere. An- Iran so dringend angewiesen ist. schließend hat ein konservatives Parlament jenes Gesetz verabschiedet, mit dem der Wächterrat je- Zu befürchten ist, dass die Presse- und Meinungsfrei- den Kandidaten einfach von Wahlen ausschließen heit weiter unter Druck gerät, dass weiter unliebsame kann. Aber dieses Gesetz steht im Widerspruch Zeitungen geschlossen werden, diesmal aber auf lange 8096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Ruprecht Polenz (A) Zeit, weil es keine Regierungsstelle mehr geben wird, ben, dass Fortschritte in den Verhandlungen über das (C) die eine Neueröffnung erlaubt. Der Justizapparat wird Handels- und Kooperationsabkommen wechselseitig nicht mehr durch gewählte Regierungsvertreter gemä- von Fortschritten im politischen und im Menschen- ßigt werden. Für die Menschenrechte im Iran befürchte rechtsdialog abhängig sind. An diesem Grundsatz gilt es ich deshalb erhebliche Verschlechterungen. festzuhalten. Nach den Ereignissen, die uns zur Verab- schiedung des vorliegenden Antrages veranlasst haben, Außenpolitisch wird der Iran weiterhin grundsätzlich an möchte ich hinzufügen: Jetzt erst recht! Stabilität in Afghanistan und im Irak interessiert bleiben und insoweit seine bisherige durchaus konstruktive Rolle (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- nicht verändern. Gleiches dürfte für die Nuklearpolitik gel- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) ten. Schließlich hat der Generalsekretär des Nationalen Si- cherheitsrats, Rowhani, die iranische Zustimmung zum Er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gänzungsprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag selbst Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/ verhandelt. Rowhanis Einfluss dürfte ja nach dem Die Grünen. 20. Februar 2004 eher weiter wachsen. Es könnte sogar sein, dass die so genannten pragmatischen Konservati- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ven vorsichtig auf eine Verbesserung des Verhältnisses NEN): zu den USA hinarbeiten. Das läge auch in unserem Inte- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! resse. Deshalb sollte die Bundesregierung sondieren, ob Heute erheben wir hier gemeinsam – ich betone: ge- und inwieweit sie dabei behilflich sein kann. meinsam – die Stimme, um unsere Solidarität mit den Damit bin ich bei ein paar Schlussfolgerungen für die Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament deutsche Politik. Präsident Chatami hat die bevorstehen- kundzutun, die eine ganz zentrale Forderung haben: freie den Wahlen wiederholt als unfair kritisiert. Die Friedens- und faire Wahlen, die in jeder Demokratie eine Selbst- nobelpreisträgerin Ebadi ist deutlicher geworden und verständlichkeit sein müssen, freie und faire Wahlen, die hat gesagt, dass das kommende Parlament unter diesen die Weltöffentlichkeit und vor allem die überwältigende Umständen keine Legitimation besitzen wird. Das muss Mehrheit der Iraner und Iranerinnen von ihrer Republik auch in der Art und Weise unserer künftigen Kontakte erwarten. seinen Niederschlag finden. Natürlich werden wir auch Der Wächterrat hat mit einer unglaublichen Dreis- in Zukunft mit Abgeordneten des Madschlis sprechen; tigkeit und Unverschämtheit Tausende Bürger – darunter wir tun dies ja auch mit Mitgliedern anderer Parlamente, auch amtierende Parlamentarier – ausgeschlossen. Der die nicht aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen Wächterrat, der sich nie dem Votum der Wähler stellen (B) sind. Aber gleichzeitig müssen wir die Kontakte zu Ver- muss, verkündet, die Wahllisten seien endgültig und die (D) tretern von Gruppen außerhalb des Parlaments intensi- Fristen für Änderungen abgelaufen. Die Vorgehensweise vieren, wenn wir uns ein realistisches und repräsentati- des Wächterrats bedeutet, Wahlen durch Vorsortieren zu ves Bild von der Lage im Iran machen wollen. manipulieren und das passive Wahlrecht komplett au- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ßer Kraft zu setzen. der FDP sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ein Parlament, das auf diese Weise zustande kommt, NEN) wird mit dem Makel der offensichtlichen Manipulation Die Gesprächsthemen werden sich nicht verändern. leben müssen. Das vom Wächterrat auf dem Schachbrett Wir bleiben an guten deutsch-iranischen Beziehungen in- ersonnene Parlament kann nur als dessen Marionette teressiert und wollen sie in wirtschaftlicher und kultureller agieren. Präsident Chatami hat trotz seiner Kritik am Hinsicht weiter ausbauen. Aber wir behalten auch die Verfahren die Durchführung der Wahlen angekündigt. schwierigen Themen auf der Tagesordnung: die Lage der Aber noch ist nicht aller Tage Abend, noch kann man Menschenrechte, das Thema Massenvernichtungswaffen, Fehler korrigieren, weil es um sehr viel geht. Eine Ver- den Nahost-Friedensprozess und die iranische Haltung schiebung des Wahltermins und die Garantie von freien dazu sowie das Thema Terrorismus; es wirft schließlich Wahlen wären die wichtigste Voraussetzung, damit die viele Fragen auf, dass nach einer Meldung in der „Zeit“ Menschen im Iran überhaupt einen Grund haben, wählen diese Woche ein Treffen der Hisbollah, des Islamischen zu gehen. Es ist eine bittere Erfahrung für die meisten Dschihad, der Hamas und des Ansar al-Islam im Iran Iraner, erleben zu müssen, dass der Wächterrat gerade stattfindet. Nein, wir dürfen nicht den Eindruck aufkom- die Abgeordneten ausschließt, die vor vier Jahren mit men lassen, als würden wir über unsere Sicherheitsinte- überwältigenden Ergebnissen ins Parlament gewählt ressen das Reformverlangen vergessen. Denn die Erfah- wurden. rung hat uns gelehrt, dass ohne Demokratie und Die Resignation und die Abwendung der Bevölke- Menschenrechte auch unsere Sicherheitsinteressen nicht rung von ihrem hoffnungsvoll ins Amt geschickten Prä- dauerhaft gewahrt werden können. sidenten und das Desinteresse an den Auseinanderset- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zungen zwischen den Reformern und den totalitären neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Kräften sind nachvollziehbar. Der jungen iranischen Ge- GRÜNEN und der FDP) sellschaft kann man aber nicht vorwerfen, dass sie zu- lässt, dass eine solche Entrechtung stattfindet; denn Nicht zuletzt deshalb hat die Europäische Union auf Chatami hat in mehreren Konfliktfällen nicht auf Rü- ihrem Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 festgeschrie- ckendeckung der Bevölkerung, sondern auf Konsens mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8097

Claudia Roth (Augsburg) (A) konservativen Machtmonopolisten gesetzt. Mit seiner wir als Parlament und Regierung achten – in Anteil- (C) Nachgiebigkeit hat er bisweilen den Machthungrigen nahme im Blick auf die Menschen im Iran und ihr Stre- Appetit auf mehr gemacht. ben nach einer demokratischen Gesellschaft und in Sorge um die Sicherheit und Stabilität im Nahen und Positiv bleibt, dass die Auseinandersetzungen um Re- Mittleren Osten. formen nachhaltige Spuren im politischen und demokra- tischen Bewusstsein der Iraner hinterlassen haben. Der Vielen Dank. Wächterrat kann ein ihm genehmes Parlament installie- ren; aber dieses öffentliche Bewusstsein und diese Sen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sibilität können nicht rückgängig gemacht werden. Er bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) hat es mit einer wachgerüttelten, aufmerksamen Öffent- lichkeit zu tun, die dringende Antworten auf ihre Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bleme erwartet. Er hat es mit einer Zivilgesellschaft zu Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning, tun, die wir kraftvoll unterstützen müssen. FDP-Fraktion. Sicherlich wird unsere heutige Debatte, wie Ruprecht Polenz gesagt hat, in einigen Medien Irans als unzuläs- Markus Löning (FDP): sige Einmischung bewertet und beschimpft. Die Islami- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir sche Republik hat die Regeln des friedlichen Zusam- fordern hier heute alle gemeinsam die Zulassung aller menlebens und die von ihr ratifizierten Konventionen Kandidatinnen und Kandidaten zu den Wahlen im Iran. und Abkommen einzuhalten. Geschieht dies nicht, ist es Ich denke, von hier geht ein wichtiges Signal aus. Es ist unsere Pflicht, es zu fordern und anzusprechen, also uns zum einen ein Signal der Solidarität sowohl mit unseren im Sinne der Umsetzung von Konventionen positiv ein- Kolleginnen und Kollegen als auch mit all denen, die zumischen. kandidieren wollen und jetzt nicht kandidieren können. Es ist zum anderen ein Zeichen der Unterstützung für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kräfte im Iran, die sich für die Demokratisierung ein- bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) setzen, die die Demokratie im Iran wollen, die sie for- Der Iran wähnt sich, wie wir wissen, in der weltwei- dern und fördern. Es ist sicher auch ein Signal an die ten Antiterrorkoalition. Aber den Lippenbekenntnissen Machthaber in Teheran. der iranischen Staatsführung müssen Taten folgen, in- Ich glaube, es ist wichtig, dass wir hier betonen – das dem sie zum Beispiel alles tut, um die Serienmorde in ist schon mehrfach passiert –: Wir sind an einem ernst- den 90er-Jahren und den Mord an der iranisch-kanadi- haften Dialog, an einer ernsthaften Zusammenarbeit mit (B) schen Journalistin Zahra Kazemi aufzuklären, und in- dem Iran interessiert; aber wir sind nicht bereit, hinzu- (D) dem sie eine Gedenktafel für die Mykonos-Opfer in nehmen, dass Menschenrechte verletzt werden, dass Berlin-Wilmersdorf nicht als Beleidigung diffamiert. Frauenrechte mit Füßen getreten werden oder dass die Demokratie im Iran ausgehöhlt wird. Unüberhörbar sind in diesen Tagen die Signale der iranischen Autoritäten, dass sie in Zukunft außen- und Meine Damen und Herren, der Iran bietet ein großes regionalpolitisch den sicheren Kantonisten abgeben wol- Potenzial für einen wichtigen Dialog. Er bietet ein wirt- len. Das können wir aber zum Preis von Unterdrückung schaftliches Potenzial für uns und auch für sich selbst. und Verhinderung der Demokratisierung im Inneren Es kommt darauf an, dass der Iran sich selbst befreit und nicht akzeptieren. Wir werden nach diesem Putsch gegen so seiner eigenen Bevölkerung – darunter 70 Prozent das Parlament – so wird es im Iran bezeichnet – allem junge Leute, die seine Stärke sind, weil sie über einen Anschein nach Gesprächspartner haben, die auch Regie- hohen Bildungsstandard verfügen und eine große Dyna- rungsmacht haben. Aber das Ziel mancher iranischer mik verkörpern – eine Chance bietet. Er ist ein sehr inte- Machthaber, eine Spaltung der internationalen Gemein- ressanter Partner für uns und hat das Potenzial, sich zu schaft, wird nicht erreicht werden. Wir begrüßen jede entwickeln. Vor allem hat der Iran – das ist noch wichti- Entspannung in den iranisch-amerikanischen Beziehun- ger – das Potenzial, eine regionale Ordnungsmacht zu gen und hoffen, dass auch die USA die Möglichkeit er- sein. Er hat das Potenzial, im Nahen Osten, in dem er schon halten und wahrnehmen werden, in direkten Kontakten sehr lange unterschiedliche Rollen gespielt hat – teilweise mit dem Iran die Bedeutung und Universalität der Men- sehr gute Rollen –, eine große Rolle für Frieden und für schenrechte zu betonen. eine stabile Entwicklung zu spielen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dazu gehört – das ist angesprochen worden –, dass er bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) seine Politik gegenüber Israel endlich ändert. Dazu ge- hört, dass er die Unterstützung von Organisationen wie Nicht nur Menschenrechtler haben negative Erfahrun- der Hisbollah endlich aufgibt. gen mit Staaten gemacht, die sich außenpolitisch zwar einbinden lassen, innenpolitisch aber jegliche Demokra- Aber der Iran und wir haben durchaus auch gleich ge- tisierung brutal und schamlos verhindern. Ein erweiterter lagerte Interessen. Im Hinblick auf Stabilität im Irak Sicherheitsbegriff – er ist die Basis unseres EU-Iran-Dia- und in Afghanistan könnte eine Kooperation sicherlich logs – schließt die Hinnahme und Duldung von Men- einiges Gutes bewegen. Es liegt also sowohl im deut- schenrechtsverletzungen sowie die Einschränkung bür- schen als auch im europäischen Interesse, dass sich der gerlicher politischer Freiheitsrechte aus. Darauf werden Iran stabil entwickelt. 8098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Markus Löning (A) Dazu gehört, dass er endlich die Menschenrechte res- andere, die eben nicht über diese sichere Rechtsstellung (C) pektiert, dass er Journalisten nicht mehr verfolgt, um- verfügen, zu schützen, dürfen wir diese Vorkommnisse bringt oder ins Gefängnis sperrt, dass die Meinungen frei im Iran nicht kommentar- und schon gar nicht tatenlos geäußert werden können. Dazu gehört, dass die Frauen- passieren lassen. rechte respektiert werden, dass die Demokratie nicht mehr ausgehöhlt wird und dass endlich alle Kandidaten (Beifall im ganzen Hause) zu dieser Wahl zugelassen werden. Deshalb begrüßen wir, die CDU/CSU, es ausdrücklich, Wir sollten versuchen, den konstruktiven und kriti- dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag des ge- schen Dialog mit dem Iran fortzusetzen, aber auch von samten Hauses vorzulegen. Wir verurteilen die Gescheh- hier aus ein klares Signal senden: Wir sind an dem Dia- nisse im Iran und fordern die zuständigen Gremien auf, log interessiert, werden ihn aber nicht um jeden Preis Wahlen durchzuführen, die demokratischen Anforderun- fortsetzen. Wir werden auf dem Thema Menschenrechte gen genügen und die den Namen Wahl auch tatsächlich und auf dem Thema Demokratie bestehen und sie immer verdienen. wieder ansprechen. (Beifall im ganzen Hause) Vielen Dank. Die Folgen der jetzigen Ereignisse für den gerade aus (Beifall im ganzen Hause) menschenrechtlicher Sicht so wichtigen Reformpro- zess sind kurz- und auch langfristig verheerend. Kurz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fristig zeigen Umfragen bereits jetzt, dass nur noch etwa Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege 20 Prozent aller Wahlberechtigten an den bevorstehen- Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. den Wahlen überhaupt teilnehmen wollen. Insbesondere diejenigen, die die Reformen vorantreiben wollen, wer- den die Wahlen boykottieren. Langfristig werden die re- Holger Haibach (CDU/CSU): formorientierten Kräfte innerhalb der offiziellen irani- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schen Politik – dies geschieht auch jetzt schon – die Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweimal hat anfänglich begeisterte Unterstützung verlieren. Dies sich der Deutsche Bundestag im letzten Jahr mit dem wiederum hat Folgen, die weit über den aktuellen Anlass Schicksal verfolgter und inhaftierter Parlamentarier be- hinaus reichen; Kollege Polenz hat bereits darauf hinge- schäftigt. Im Juni haben wir einstimmig eine Resolution wiesen. zur sofortigen Freilassung der burmesischen Oppositi- onsführerin Aung San Suu Kyi beschlossen. Am Die Wahlen am 20. Februar dieses Jahres werden in (B) 12. Dezember – Herr Kollege Bindig hat darauf hinge- den Augen sowohl der Weltöffentlichkeit als auch der (D) wiesen – haben wir anlässlich der Debatte zum Tag der Iraner diskreditiert. Der Reformprozess im Iran erleidet Menschenrechte ebenfalls einstimmig im Rahmen der einen herben Rückschlag. Der Zorn der Bevölkerung Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ unse- richtet sich nicht nur gegen die Beharrungskräfte, son- rer Sorge über die Situation verfolgter Abgeordneter dern auch gegen diejenigen, die nicht in der Lage zu sein Ausdruck verliehen und dabei in großer Zahl eine Peti- scheinen, die Reformen voranzutreiben. Dadurch verlie- tion zugunsten der in der Türkei inhaftierten Kurdin ren die so genannten Reformer ihre wichtigste Unterstüt- Leyla Zana unterzeichnet. zungsbasis. Schließlich werden die gesellschaftspoliti- schen Gegensätze, die über die eigentliche Frage der Heute haben wir es nicht mit Einzelfällen von Verfol- Wahlen noch weit hinausgehen, weiter verschärft. gung oder Behinderung von Parlamentariern zu tun. Mit dem Ausschluss von über 2 000 Kandidaten – 82 von ih- Aus menschenrechtlicher Sicht, aber auch aus origi- nen bereits Abgeordnete – von den Parlamentswahlen, närem deutschen und europäischen Interesse kann und die jetzt wohl am 20. Februar im Iran stattfinden, werden darf es im Deutschen Bundestag nicht bei Lippenbe- in einem bisher nicht bekannten Maße nicht nur passive kenntnissen und Resolutionen bleiben. Eine weitere Wahlrechte eingeschränkt. Vielmehr wird ein gesamtes Destabilisierung der Nahostregion muss aus menschen- Volk an der Ausübung seiner demokratischen Rechte ge- rechts-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Perspek- hindert. tiven verhindert werden. Hierbei ist die Situation im Iran Sicherlich hat es im Iran bereits im Vorfeld der voran- von wirklich entscheidender Bedeutung. Deshalb gilt es, gegangenen Parlamentswahlen bei der Zulassung von alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um auf Kandidaten zwischen dem Wächterrat, dem Parlament die Durchführung von tatsächlich freien und geheimen und der Regierung von Präsident Chatami immer wieder Wahlen im Iran zu drängen. Auseinandersetzungen gegeben. Neu ist allerdings ihre Deutschland hat dazu auf bi- wie auch auf multilate- Qualität. Der Wächterrat ist ganz offensichtlich nicht be- raler Ebene vielfältige Möglichkeiten. Hier nenne ich reit, die Zulassung aller Kandidaten ernsthaft zu erlau- den schon angesprochenen Menschenrechtsdialog der ben. Die Regierung hat ebenso offensichtlich resigniert. Europäischen Union und die Zusammenarbeit in den Präsident Chatami hat erklärt, die Wahlen zwar durch- Bereichen Polizei und Justiz. führen zu wollen. Er erwartet aber keine freien und fai- ren Wahlen, die demokratischen Standards entsprechen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Wenn wir als in vielerlei Hinsicht privilegierte Abge- Meine Fraktion fordert die Bundesregierung nachdrück- ordnete unserer Verpflichtung gerecht werden wollen, lich auf, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8099

Holger Haibach (A) sich für die Einhaltung der demokratischen Regeln im Von daher ist die Zustandsbeschreibung im Antrag der (C) Iran einzusetzen. Union nicht völlig falsch. Auch für die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ist die Mobilisierung Gestern, am 11. Februar, wurde im Iran der von Beteiligungskapital für junge Technologieunterneh- 25. Jahrestag der Revolution begangen. Das Land sollte men nach wie vor ein wichtiges wirtschaftspolitisches dieses Datum nicht verstreichen lassen, ohne die Chance Ziel. Ich sage das deswegen vorweg, weil wir es so ver- zu nutzen, zur politischen und sozialen Stabilisierung meiden können, kontrovers über Dinge zu reden, die der ganzen Region beizutragen. Wir sollten unsererseits nicht kontrovers sind. hier und heute gemeinsam unserer Verantwortung ge- recht werden, Parlamentarier zu schützen und zur Wir und Sie als Opposition liegen wahrscheinlich Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie im auch nicht weit auseinander, wenn ich sage, dass der Be- Iran und weltweit beizutragen. teiligungskapitalmarkt für junge Technologieunterneh- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. men noch immer in einer schweren Krise steckt. Das ist allerdings keine deutsche Besonderheit, sondern ein glo- (Beifall im ganzen Hause) bales Phänomen in den Industrienationen. Ein großer Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital finan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ziert wurden, ist in Bedrängnis gekommen oder insol- Damit schließe ich die Aussprache. vent geworden. Die Beteiligungskapitalgeber haben nicht selten hohe Schäden zu verkraften und sind manch- Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktio- mal nicht mehr in der Lage, Anschlussfinanzierungen nellen Antrag auf Drucksache 15/2481 mit dem Titel zur Verfügung zu stellen. Deswegen überrascht es nicht, „Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den dass sich die Kapitalgeber bei neuen Engagements sehr Wahlen im Iran“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gibt zurückhalten. es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, ange- Entsprechend rückläufig ist bedauerlicherweise auch nommen worden. die Förderung der öffentlichen Hand, die auf die frühen Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Phasen der Unternehmensentwicklung konzentriert ist und die ein anteiliges Engagement privater Kapitalgeber Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- voraussetzt, was aus den eben genannten Gründen nicht richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit mehr in dem Umfang gegeben ist. (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann, Die Gründe für die Krise des Beteiligungskapital- (B) Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der marktes sind sicherlich vielfältig. Auch nicht tragfähige (D) Fraktion der CDU/CSU Geschäftsmodelle gehören natürlich dazu, aber auch ent- täuschte Erwartungen, der Verfall bei den Unterneh- Für eine neue Beteiligungskultur – Eigenkapi- mensbewertungen, die Krise und die Auflösung des talsituation von jungen Technologieunterneh- Neuen Marktes, die eingetrübte Konjunktur, vor allen men durch Mobilisierung von Beteiligungska- Dingen aber die so genannte konservative Geldpolitik pital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern der Banken, die über Risikominimierung in anderen Be- – Drucksachen 15/815, 15/2367 – reichen verlorene Kredite wieder hereinbekommen wol- len. Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Kopp In der Zustandsbeschreibung liegen wir nicht weit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auseinander. Die Frage ist: Was tun wir in einer solchen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- Situation? Im Antragd der CDU/CSU werden im We- spruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen. sentlichen zwei Dinge angeboten: mehr Geld oder mehr Steueranreize. Wenn man sich das im Einzelnen ansieht, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst gerät man fast – aber natürlich nur fast – in Versuchung, der Abgeordnete Rainer Wend. sich wieder nach Oppositionszeiten zu sehnen. Für eine Opposition ist es nämlich leicht, Forderungen aufzustel- Dr. Rainer Wend (SPD): len, wenn sie für die Finanzierung dieser Forderungen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und keine Verantwortung tragen muss. Die ganze Sache ist, Herren! Die Fraktion der CDU/CSU hat selbstverständ- wie ich finde, allerdings nicht mehr ganz anständig, lich Recht: Die Eigenkapitalsituation von jungen Tech- wenn Sie einer Debatte dem Finanzminister vorwerfen, nologieunternehmen gibt weiterhin Grund zur Sorge. Es er sei nicht mehr in der Lage, den Haushalt auszuglei- finden sich immer weniger Kapitalgeber, die jungen Un- chen, bzw. verletzte Maastricht-Kriterien, in einer ande- ternehmern und Existenzgründern am Standort Deutsch- ren Debatte einige Stunden später aber massive Forde- land helfen. Forscher und Ingenieure wagen den Schritt rungen in Bezug auf den Haushalt stellen, die natürlich in die Selbstständigkeit nicht mehr in dem gewünschten nicht zu erfüllen sind. Umfang, weil ihnen die finanziellen Risiken zu groß ge- Versuchen wir uns also einmal mit dem auseinander worden sind. zu setzen, was die Bundesregierung real getan hat. Ich Nur 40 Prozent der geförderten Unternehmen haben finde, das ist eine ganze Menge. Wir begrüßen sehr, dass nach dem Start eine Anschlussfinanzierung gefunden. die Bundesregierung einen Hightech-Masterplan für 8100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Rainer Wend (A) Innovationen und Zukunftstechnologien im Mittel- tem niedrigen Steuersatz für Business Angels und Steu- (C) stand aufgelegt hat. erfreiheit für Business Angels bei Reinvestitionen. Alle diese Dinge sind für sich genommen plausibel. Nur, (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) wenn Herrn Rauen, der heute Morgen in einem Inter- Ein Schwerpunkt dieser Initiative ist es, zusammen mit view im Fernsehen zur Steuerpolitik befragt wurde, auf dem Europäischen Investitionsfonds einen neuen Dach- die Frage: „Wollen Sie denn wirklich alle Ausnahmetat- fonds für Beteiligungskapital einzurichten. Gemeinsam bestände beseitigen?“ antwortet: „Jawohl, wir wollen mit privaten Kapitalgebern wird man in deutsche Beteili- alle Ausnahmetatbestände beseitigen“, Sie dann aber am gungskapitalfonds für innovative Gründungen und Nachmittag einen Antrag stellen, der ein halbes Dutzend junge, technologieorientierte Unternehmen investieren. neue Steuerausnahmetatbestände vorsieht, dann setzen Das Kapital wird je zur Hälfte vom ERP-Sondervermö- Sie sich in Widerspruch zu Ihrer eigenen Steuerlinie, gen und vom EIF aufgebracht. Es werden über einen meine Damen und Herren. Zeitraum von fünf Jahren von beiden Partnern insgesamt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rund 500 Millionen Euro bereitgestellt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist allerdings schon ein Euphemismus; denn die Die Bundesregierung setzt damit ein Gegengewicht zur Wahrheit ist natürlich, dass Sie keine eigene steuerpoliti- momentan stark rückläufigen Bereitstellung von Beteili- sche Linie haben. gungskapital für diese Unternehmen. Ich glaube, das ist (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) ein wichtiger und richtiger Schritt. Das muss ich zum Abschluss doch noch kurz erwähnen. Technologieförderung wird zudem stärker auf den Sie sagen, Sie hätten in der Union Einigung in der Steu- Bedarf des Mittelstandes ausgerichtet. Dazu wurden erpolitik erzielt. Die Einigung besteht darin, dass Sie Programme zur Förderung von Forschungskooperatio- sich nicht geeinigt haben über den Eingangssteuersatz, nen und Vernetzungen zwischen Unternehmen und For- dass Sie sich nicht geeinigt haben über den Spitzensteu- schungseinrichtungen noch effizienter gestaltet. Das ersatz, dass Sie sich nicht darüber geeinigt haben, ob es Programm INNOWATT wird die bisherige FuE-Projekt- einen progressiven Verlauf oder einen Stufentarif geben förderung ablösen und die FuE-Unterstützung stärker soll, und dass Sie nicht darüber geeinigt haben, welche auf innovative Wachstumsträger konzentrieren. Die In- Ausnahmetatbestände entfallen sollen. Mit anderen Wor- novationsförderung in den neuen Ländern bleibt ein För- ten: Über die Substanz Ihrer Steuerpolitik besteht bei Ih- derschwerpunkt. nen keine Einigung. Ihr Antrag zeigt für mich an einem Wir können aber auch heute schon mit einem weite- kleinen Beispiel deutlich, dass Sie hin- und hergerissen (B) (D) ren Bereich recht zufrieden sein. Experten sind sich da- sind und nicht wissen, wohin Sie in der Steuerpolitik sol- rüber einig, dass wir bereits heute bei Ausgründungen len. an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Die Bundesregierung ist mit ihren Maßnahmen auf ei- Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzen- nem guten Weg, der nicht spektakulär ist, aber seine platz einnehmen. Die aktuellen schwierigen Rahmenbe- Wirkungen zeigen wird. dingungen führen allerdings auch bei Unternehmensaus- gründungen zu einem Rückgang. Die Dynamik wurde Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. aus konjunkturellen Gründen gebremst. Um diese Grün- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungsdynamik wieder steigern zu können, sind eine DIE GRÜNEN) Reihe von Maßnahmen ergriffen worden. Über die För- dermaßnahme EXIST-Seed wurden in den ersten fünf EXIST-Regionen bisher über 100 Gründungsvorhaben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mit mehr als 150 Gründerinnen und Gründern gefördert. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz Mit der BMBF-Pilotmaßnahme „Erleichterung von Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion. Existenzgründungen aus Forschungseinrichtungen“ wur- (Beifall bei der CDU/CSU) den in den Jahren 2001 bis 2003 viele Ausgründungen realisiert und neue Arbeitsplätze geschaffen. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und DIE GRÜNEN) Herren! Liebe Kollegen! Lieber Herr Wend, jetzt wollen wir es hier einmal in aller Friedlichkeit einzeln aufdrö- Sie sehen daran: Die Bundesregierung ist nicht untä- seln. tig. Im sachlichen Bereich, wo etwas getan werden kann, passiert etwas. Natürlich spielt auch die Steuerpolitik (Dr. Rainer Wend [SPD]: So haben wir es ja für die Bereitstellung von Venturecapital eine beträchtli- eingeleitet!) che Rolle. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass wir Erstens bin ich sehr beglückt über das, worüber wir uns schwer damit tun, in diesem Bereich noch weiter ge- uns seit Beginn der Debatte immer einig gewesen sind. hende Lösungen zu finden. Wir waren uns einig über den Vorrang von Ausgründun- Sie fordern viel in Ihrem Antrag: Freibeträge bei gen, welche die einzige Chance für einen wirklich Stock Options, pauschale Versteuerung des Veräuße- schnellen und effizienten Technologietransfer aus den rungsgewinnes bei Stock Options, Freibeträge mit fes- Instituten darstellen. Wir waren uns auch in der Ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8101

Dr. Heinz Riesenhuber (A) schätzung der ziemlich miserablen Situation einig. Die sigen Einbruch, dass er nur durch öffentliche Subventio- (C) Blase am Neuen Markt ist geplatzt. Auch mit sehr viel nen aufzufangen ist? Befinden wir uns in einer Situation, Optimismus betrachtet, muss man sagen, dass sich der in der es überall zu Mitnahmeeffekten kommt? Die Lage Markt bis jetzt nur ganz zart erholt hat. Schließlich wa- ist seltsam. Im eigentlich entscheidenden Bereich, also ren wir uns darin einig, dass der Staat zwar nicht alles bei der Gründung von technischen Innovationsunterneh- richten kann, dass er an einigen Stellen aber durchaus tä- men, wie es die Bildungsministerin bezeichnet hat, tig werden kann und soll. scheint es aber zu dümpeln. Nun hatten wir die gemeinsame Hoffnung, dass wir Wir haben in einer früheren Debatte schon respektvoll hier gemeinsam etwas erreichen können. In der Debatte anerkannt, dass wir den 500-Millionen-ERP/EIF-Fonds von vor etwa acht Monaten haben Sie zu meiner großen sehr gut finden. Das ist eine gute Sache. Überraschung gesagt, Ihr Wunsch sei es, dass wir in die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sem Bereich gemeinsam etwas voranbringen. Wir haben DIE GRÜNEN) es versucht und haben abgewartet. Uns wurde gesagt, wir müssten auf den Antrag warten, den die SPD vorbe- – Ich freue mich immer, wenn ich die Regierung loben reitet. Danach haben Sie uns gesagt, wir müssten leider kann. Selten genug ist es möglich. Deshalb tue ich es den Perspektivantrag, der auf dem Parteitag im Novem- umso beglückter. ber gestellt wird, abwarten. Mit der Stellung des Per- spektivantrages mussten Sie dann wiederum auf die In- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss novationsoffensive warten, die jetzt mit großer Kraft [SPD]: Tun Sie es ruhig häufiger!) rollt. Zu unserer Begeisterung gibt es bereits einen Rat Es war vernünftig von Ihnen, das als Dachfonds aus- und eine Geschäftsstelle. Die zündende Idee fehlt jedoch zugestalten. Auch die Tatsache, dass die Investitionen noch. Vielleicht kommt die aber auch noch. Herr durch die private Seite erfolgen sollen, halte ich für gut. Matschie, die Eliteuniversitäten scheinen es im Moment Schließlich finde ich es auch gut, dass wir bei der Fonds- nicht zu sein. Wie man es auch dreht: Sie veranstalten besteuerung weitergekommen sind. Der Brief des Fi- hier eine großartige Welle. Es wird aber nichts erkenn- nanzministers ist jetzt endlich herausgegangen. In ihm bar, wodurch die Leute zu einer leidenschaftlichen Sicht wird zwischen gewerblichen und vermögensverwalten- in die Zukunft hingerissen würden. Diese Leidenschaft den Arbeiten unterschieden. Das ist gut. ist zurzeit eher gedämpft. Dass wir aber hinsichtlich der Carry-Besteuerung (Jörg Tauss [SPD]: 500 Millionen Euro sind noch nichts geregelt haben – dies ist nur für die Altfälle schon was!) bis November des vergangenen Jahres der Fall –, ist vielleicht etwas weniger befriedigend. Es war schlecht, (B) Wir haben es also nicht gemeinsam hinbekommen. (D) Schauen wir einmal, was Sie auf der linken Seite des dass das Ganze zwei Jahre gedauert hat. In dieser Zeit Hauses mit Ihrer großen Kompetenz und Tüchtigkeit ge- sind eineinhalb Dutzend deutsche Fonds im Ausland und tan haben. Die Entwicklung der Gründerei an sich ist nicht in Deutschland gegründet worden. Wenn man nicht schon eine ziemlich schwierige Angelegenheit. – Frau weiß, wie man besteuert wird, dann kommt man doch Präsidentin, Sie müssen mir einmal ein Knopflochmi- nicht hierher. Hier verschiebt sich eine Kultur und die krofon besorgen. Es ist wirklich ein mühsames Geschäft, Chancen für einen Standort schwinden. – Sie fragen: hier hinter einer Barrikade vor den Kollegen zu stehen Wie soll man das bezahlen? Lieber Herr Kollege, in dem und sich zu verteidigen. Moment, in dem im Ausland ein Unternehmen gegrün- det wird, verzichtet der Finanzminister auf gar nichts, (Beifall bei der CDU/CSU) weil er nichts bekommt. Wenn er in Deutschland die Un- ternehmungsgründung zulässt, dann hat er die Chance, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dass er dieses Unternehmen einmal besteuern kann. Wir halten die Rechte der einzelnen Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) sehr hoch. Sie sind aber wirklich der Einzige, der ein solches Mikrofon braucht. Nach einer alten Legende soll es ein Gespräch zwi- schen Michael Faraday und dem Finanzminister gegeben haben. Der Finanzminister fragt Michael Faraday: Wa- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): rum soll ich Ihre Erfindung bezahlen? Die Antwort von Sie sollten auch den Bedürftigen Unterstützung zu- Michael Faraday: Damit Sie sie besteuern können. – Der kommen lassen. Finanzminister muss endlich verstehen: Wenn er das (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Saatgut wegbesteuert, dann bekommt er keine Kartof- feln. Hier passiert Folgendes: Die Chance, dass sich et- Es gibt den Bereich der Gründerei insgesamt. In die- was Neues schnell entwickeln kann, wird von der Bun- sem müssen wir noch genauer schauen, was passiert. desregierung nicht ergriffen. Ich weiß schon, dass in Friedrich Merz hat heute früh in der Debatte gesagt, dass dieser Sache alle Finanzminister eigen sind; auch bei an- sich die Zahl der Betriebsgründungen vom vorletzten deren Regierungen war das immer schwierig. Aber dass bis zum letzten Jahr, also von 2002 bis 2003, überhaupt wir uns in dieser Situation, in der wir die Not sehen, alle nicht verändert hat; das war wirklich interessant. Die einig sind und die Chance nicht ergreifen, ist ärgerlich. Zahl der öffentlich geförderten Gründungen ist demge- genüber von einem Viertel auf die Hälfte gestiegen. Das Bei den Aktienoptionen sind wir überhaupt nicht muss man erst einmal begreifen. Gibt es einen solch rie- weitergekommen. Dazu fällt mir gar nichts mehr ein. Ich 8102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Heinz Riesenhuber (A) erinnere daran, wie Ihre Staatssekretärin in der vergan- und am Nachmittag Steuersubventionen fordern? Lie- (C) genen Legislaturperiode voller Begeisterung davon ge- ber Herr Wend, eine schlichte Wahrheit ist hier offen- sprochen hat, dass die Aktienoption kommen wird, weil kundig: Es ist viel leichter, alle Steuersubventionen ab- sie notwendig ist. zuschaffen als nur einige. Wenn Sie einige Subventionen abschaffen, wird in der Debatte immer die Frage gestellt: Hinsichtlich der Business Angels finde ich es prima, Warum trifft es ausgerechnet mich? dass Sie auf dem SPD-Parteitag mit List und Tücke in Ihren Perspektivantrag eine Zeile hineingebracht haben (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir gemerkt!) – die meisten haben das wahrscheinlich gar nicht be- merkt –, wonach die Wesentlichkeitsgrenze für Veräuße- Das, was Friedrich Merz hier vorgeschlagen hat und rungsgewinne bei Beteiligungen in Wagniskapitelfonds was wir genauso majestätisch wie Sie auf Ihrem Partei- wieder auf 10 Prozent angehoben werden sollte. Jetzt tag beschlossen haben, ist nichts anderes als die Aus- machen Sie etwas aus diesem Parteitagsbeschluss! Ich sage: Schaffen wir alle Ausnahmen ab! Ich bin gerne be- baue darauf, dass Sie jetzt eine kraftvolle Initiative star- reit, alles zu streichen, was das Steuersystem für neue ten. Unternehmen an Präferenzen enthält. Dann würden sie nämlich niedrig besteuert und wären frei von Bürokratie. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Stellen Sie sich vor: Was aber nicht möglich ist, ist, ein System, das alle mög- Wir machen das mit allen Parteitagsbeschlüs- lichen Präferenzen für irgendwelche alten Techniken wie sen!) Steinkohle oder Containerschiffe enthält, zu subventio- Herr Müntefering als zukünftiger Parteivorsitzender in nieren und neue Techniken davon auszunehmen. neuer Pracht und Herrlichkeit hat schon vor einem Jahr Wir hatten vor 15 Jahren – da hat noch eine andere begeistert über Technik gesprochen. Er soll die Sache Regierung amtiert; ältere Leute erinnern sich – nun richten und mit seinen großartigen Eigenschaften, die wir alle sehr bewundern, entschlossen umsetzen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir erinnern uns! Grausam!) Es ist eines der gängigen Probleme, das etwas be- schlossen, aber nicht umgesetzt wird. Alle gebildeten einen erheblichen Streit. Damals hieß es: Freunde, an- Leute zitieren heute Kant, weil es sich so gehört. Ich dere Länder arbeiten mit Tax Credits für Forschung. Das möchte einen anderen großen deutschen Philosophen, heißt, die Firmen können ihre Forschungsausgaben zu den ich sehr verehre, zitieren. Karl Valentin hat gesagt: mehr als 100 Prozent von der Steuer absetzen. Dies ist Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir eine großartige Geschichte, die auch dem Mittelstand uns leider nicht getraut. – Wir haben hier eine schöne enorm hilft. Damals hat man uns gesagt: Freunde, (B) Fülle von Ankündigungen erlebt. schafft keine Ausnahmetatbestände. Wir werden alle (D) Steuern senken. – Seit 15 Jahren haben wir diese De- Sie fragen: Wer soll all das bezahlen? Glücklicher- batte. 1997 haben Sie unseren Vorschlag abgeschossen. weise haben wir einen Masterplan. Das BMBF, das hier in leiblicher Gestalt des Herrn Matschie unter uns weilt, (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) hat bereits vor einem Jahr einen ersten Entwurf des Masterplans mit dem wunderbaren Titel „Higtech-Mas- Wenn wir alle Subventionen abschaffen und das Merz- terplan für neue Arbeitsplätze durch Gründung und Modell durchsetzen, dann ist das prima. Wir dürfen nicht Wachstumsförderung junger Innovationsunternehmen“ nach wie vor alle möglichen „alten Hüte“ subventionie- vorgelegt. Alles, was gut und teuer ist, ist bereits im Titel ren, sondern wir müssen die Zukunftschancen für junge enthalten. Unternehmen nutzen. Die Idee beinhaltete auch einige softe Geschichten. Ich komme zu meinem letzten Punkt. Jetzt möchte ich einmal wissen, was aus den wirklich harten Geschichten geworden ist. Herr Wend, dieser Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Plan enthielt auch Regelungen zur Besteuerung. Der Aber Sie achten auf die Zeit, ja? große Hammer war, dass die Steuern für junge Innova- tionsunternehmen, also die Körperschaftsteuer und an- dere Unternehmenssteuern, in den ersten acht Jahren Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): nach der Gründung auf null gesetzt werden sollten. Die Ich bin schon beim Schlusswort. Zur Verkürzung der Forderung war, dass die Fonds, die diesen Unternehmen Zeit übernehme ich das prächtige Schlusswort des Kolle- in den ersten beiden Jahren Kapital zur Verfügung stel- gen Brandner. Er hat nämlich am Schluss seiner großar- len, ihre Veräußerungsgewinne aus diesen Beteiligungen tigen Rede, die wir alle bewundert haben, gesagt: Macht nicht versteuern müssen. Die Mitarbeiter dieser Unter- den Weg frei! Schafft die Steine aus dem Weg! – Das hat nehmen sollten Aktienoptionen als Teil ihres Gehaltes er zu uns gesagt. Es fiel ihm nicht mehr ein, dass er sel- nicht versteuern müssen. Das war ein wunderbares und ber regiert. Die Idee, dass er regiert und er die Aufgabe vielfältiges Konzept. Dies ist aber in dem neuen Master- hat, den Laden voranzubringen, ist wirklich ein originel- plan überhaupt nicht vorhanden. ler Einfall, den man gelegentlich ins Körbchen unserer verehrten Koalition setzen sollte, damit sie mit fröhli- Sie haben eine Grundsatzdebatte angefangen, die ich chem Unternehmungsgeist etwas tut und nicht nur redet. gerne aufgreife. Sie haben uns vorgeworfen: Wie könnt ihr am Vormittag den Abbau von Präferenzen verlangen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8103

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: 5 bis 6 Jahre mit einem Volumen von 250 Millionen (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. Er Euro aufgelegt würde. Man könnte mit 10 Millionen bis wird vermutlich Immanuel Kant zitieren. 15 Millionen Euro in diesem Jahr beginnen und viel Po- sitives bewirken. Wir werden seitens meiner Fraktion Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): darauf drängen, dass ein solcher Seed Fonds aufgelegt Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wird. Kollegen! Wenn man einmal, Herr Riesenhuber, nüch- Ich komme jetzt auf die Frage der steuerlichen Rege- tern hinschaut, dann muss man doch feststellen, dass lungen zu sprechen, die noch strittig ist, und zwar systematisch und auch gut überlegt Schritt für Schritt die – wenn ich das richtig sehe – in allen Fraktionen. In die- Bedingungen für die Innovationsfinanzierung verbessert sem Zusammenhang waren Ihre Auslassungen schwach, werden. Es gibt eine breite Innovationsdiskussion, die an Herr Riesenhuber, weil Sie im Kern zum Ausdruck ge- der einen oder anderen Stelle noch konkreter werden bracht haben, dass Sie nicht an das Merz-Konzept glau- muss; das ist logisch. Sie braucht vor allem Ziele und ben. Das ist eine erstaunliche Einstellung. Sie haben ei- eine Richtung, wohin das Innovationsgeschehen gehen nerseits ausgeführt, dass sich im Falle der Umsetzung soll, und es gibt Instrumente der Finanzierung, die syste- des Merz-Konzepts und des Wegfalls aller Subventio- matisch aufgebaut werden. nen Ihre Forderungen erledigen würden, Der Dachfonds ist übrigens nichts, was man mit einer (Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]: Ich habe riesenhuberschen Verbeugung wegwischen kann, son- nicht die Mehrheit! Sie haben die Mehrheit!) dern das ist ein Riesenhammer. aber Sie gehen andererseits offensichtlich davon aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ich hoffe, dass Ihnen Ihr Fraktionsvorstand und Herr und bei der SPD) Merz das nicht übel nehmen –, dass die Merz-Vor- Das ist etwas, was die innovativen Betriebe voranbrin- schläge nur zum Spaß gemacht worden sind und dass so- gen wird, weil jetzt leicht die Möglichkeit besteht, an wieso nichts daraus wird. Mittel zu kommen, und auch private Beteiligungen in Daher sagen Sie dann: Im alten System fordern wir den Fonds eingehen. Das belebt die Szene. Die Regie- Ausnahmen für innovative Betriebe. – Ich will Ihnen er- rung hat das ordentlich gemacht und damit ist jetzt ein läutern, welche Probleme wir in diesem Zusammenhang Einstieg geschaffen. sehen. Es geht nicht an, für die Abschaffung aller Sub- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ventionen und Sondertatbestände einzutreten, aber Aus- und bei der SPD) nahmen für einzelne Bereiche zu fordern. Sie haben be- (B) reits zugegeben, dass das schwierig ist. (D) Dass wir vermögensverwaltende und gewerbliche Fonds gut abgrenzen, hilft. Das war eine Frage, die die Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass definiert Unternehmen immer an uns herangetragen haben. Die ist werden muss, was ein innovativer Betrieb ist. Wenn Sie, jetzt geklärt. Auch bei den Carried Interests sind wir bis wie es die Franzosen versucht haben, eine solche Defini- zum Jahr 2005 in der Übergangsregelung weiter. Ich tion anhand des F-und-E-Anteils vornehmen wollen glaube, dass wir auch über 2005 hinaus eine gute Rege- – beispielsweise ab einem F-und-E-Anteil von 15 Pro- lung finden werden. zent; auf eine solche Idee kann man durchaus kom- men –, dann werden Sie im zweiten oder dritten Jahr Ich finde, dass hinsichtlich der Seed Fonds noch nach dem In-Kraft-Treten eines entsprechenden Geset- mehr getan werden muss. Es geht um die Phase, in der zes mit dem Problem konfrontiert, dass plötzlich sehr ein innovatives Unternehmen den Prototyp eines Pro- viele Firmen einen F-und-E-Anteil bis zu 15 Prozent duktes oder einer Dienstleistung entwickelt. In dieser aufweisen, dass aber keine Firma mehr einen höheren Phase sind die Finanzierungen besonders schlecht, übri- Anteil erreicht. Dann verkehrt sich das Instrument ins gens nicht zuletzt, weil sich unsere Banken, private wie Gegenteil. öffentlich-rechtliche, zu stark aus der Finanzierung zu- rückgezogen haben. Während sie früher in dem einen Das ist der Grund, warum wir sehr zögerlich vorge- oder anderen Fall zu leichtfertig waren, sind sie jetzt hen und gründlich prüfen, welche steuerlichen Gestal- überkritisch geworden. Die Sparkassen nehmen damit tungsmöglichkeiten man an der Stelle versehen sollte. ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag, der in den Sparkas- Das gilt, glaube ich, für die SPD genauso wie für meine sengesetzen formuliert ist, oft nicht richtig wahr. Fraktion. Richtig ist natürlich, dass sich die Unternehmen bis Eines war in Ihrer Rede nicht konsequent, Herr zu der Phase der Entwicklung eines Prototyps schwer Riesenhuber. Es geht nicht an, Regelungen nach dem al- tun. Deswegen ist mir die Formulierung, die ich von der ten Recht anzustreben und gleichzeitig davon auszuge- Bundesregierung gehört habe, nämlich dass man prüfen hen: Wenn neues Recht kommt, fallen alle Subventionen will, wie man einen Seed Fonds auflegen will, zu weg. Es wäre regelrecht albern, entsprechende Regelun- schwach. gen für ein oder zwei Jahre einzuführen, um sie dann wieder aufzugeben. Ich bin mit unserer Fraktion der festen Überzeugung, dass der Bundesfinanzminister – richten Sie ihm das Widersprüchlich waren Ihre Ausführungen auch, als aus! – die Passivität aufgeben muss. Es wäre schon eine Sie das Merz-Konzept in den Zusammenhang mit große Hilfe, wenn beispielsweise ein Seed Fonds für Unternehmensgründungen gebracht haben. Es trifft 8104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Fritz Kuhn (A) durchaus zu, dass die Zahl der staatlich geförderten Un- woher nehmen? Ich möchte daran erinnern, dass wir den (C) ternehmensgründungen zugenommen hat. Das ist eine eben angesprochenen 500-Millionen-Euro-Dachfonds logische Folge des Zusammenbruchs der Börsenkurse fraktionsübergreifend gutgeheißen haben. von Hightechunternehmen. Es war auch vor allem des- (Jörg Tauss [SPD]: Aber wir haben das Geld halb notwendig, weil die Banken stark auf die Bremse gegeben!) getreten haben. Aber wir müssen jetzt auch fragen, wie es mit den pas- Ich will Ihnen aber eine Zahl nennen, die belegt, dass senden Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen, die direkte Unterstützung von Betrieben in der Projekt- insbesondere für junge, innovative und kleine Unterneh- förderung ein sehr wichtiger Schritt ist, den Sie nicht men, am Standort Deutschland aussieht. Ich kann dies- schlechtreden sollten. Eine Studie hat ergeben, dass pro bezüglich nur feststellen, dass die Lage absolut finster 1 Euro Unterstützung in der Projektförderung für For- ist. schung und Entwicklung zusätzliche private Finanzie- rungsmittel für Innovationen in Höhe von je 1,40 Euro Heute Morgen ist zu Recht darauf hingewiesen wor- ausgelöst werden, und zwar – das ist interessant – mit den, dass die Zahl der Firmeninsolvenzen im Jahr 2003 abnehmender Tendenz, je größer der Betrieb ist. Es han- mit über 40 000 ein weiteres Mal sehr hoch war. Wenn delt sich dabei also um eine spezifisch auf kleine und man sich klar macht – das sage ich gerade in Richtung mittlere Betriebe ausgerichtete Wirkungsweise. Deswe- der rot-grünen Koalition –, gen sollte man die Projektförderung nicht schlechtreden, wie Sie es getan haben, Herr Riesenhuber. (Jörg Tauss [SPD]: Sagen Sie das mal in Rich- tung der Banken!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass das statistisch gesehen den Verlust von mindestens und bei der SPD) 80 000 Ausbildungsplätzen bedeutet – das ist gerade vor Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines festhal- dem Hintergrund der derzeitigen Debatte über eine Aus- ten, Herr Riesenhuber. Sie vertreten Ihre Fraktion immer bildungsplatzabgabe wieder kurventechnisch interessant und wortgewaltig. (Jörg Tauss [SPD]: Umlage!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: War das jetzt besonders bedrohlich und bedauerlich –, dann erkennt ein Lob?) man, dass falsche Rahmenbedingungen den Firmen das Das freut uns alle. Aber in Ihrer Rede waren spöttische Leben insgesamt enorm schwer machen. Bemerkungen, die dem Handeln der Regierung nicht ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg recht werden. Sie geht mit Geduld und Genauigkeit vor. Tauss [SPD]: Die Banken wurden schon ange- Denn Schnellschüsse in der Innovationsfinanzierung, die sprochen!) (B) nur kurzfristig wirken oder zu Abgrenzungsproblemen (D) führen, richten viel Unheil an. Stattdessen nimmt die Re- Uns fehlen – das ist völlig klar – vernünftige Rah- gierung Punkt für Punkt Verbesserungen bei der Finan- menbedingungen, damit die Wirtschaft wirtschaften zierung von innovativen Betrieben vor. kann. Das ist gar keine Frage. Es fehlt uns bis heute au- ßerdem die Definition dessen, was in Zukunft noch Auf- Wir richten unsere Politik auf die Kleinbetriebe aus, gabe des Staates und was Aufgabe des privaten Sektors sodass das Geld die richtigen Stellen erreicht und Mit- sein soll. Hier helfen die ständigen Debatten von Rot- nahmeeffekte vonseiten großer Betriebe keine allzu Grün über Steuererhöhungen wirklich nicht weiter. Ich große Rolle spielen. Dieser Weg ist richtig. Wenn Sie ihn erinnere nur an die von Ihnen geführten Debatten über positiv begleiten, dann soll uns das recht sein. Ich hoffe, die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Erhö- dass Sie diese Richtung in Ihrer Arbeit weiter verfolgen hung der Erbschaftsteuer und die Einführung einer Aus- werden. Dann verbeugen wir uns sicherlich auch gele- bildungsplatzabgabe. gentlich einmal vor Ihnen. Aber wenn Sie anfangen, he- rumzuspötteln, nach dem Motto „Die Koalition tut (Jörg Tauss [SPD]: Umlage! – Gegenruf von nichts; sie redet nur“, dann sind Sie schief gewickelt. In der FDP: Das ist doch das Gleiche! Das ist diesem Fall müssen wir wohl noch einmal auspacken, auch nur eine Steuer mehr für die Wirtschaft!) wie es unter der früheren Regierung um die Innovations- – Ich sage bewusst „Abgabe“. förderung bestellt war. Dann wird man sich sicherlich nicht so fröhlich einigen können wie heute. (Jörg Tauss [SPD]: Bewusst falsch! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ob Sie Vielen Dank. umlegen oder auflegen, das ist dasselbe!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich nenne als weiteres negatives Beispiel den Emissions- und bei der SPD) handel, der in der geplanten Ausgestaltung den Wirt- schafts- und insbesondere den Energiestandort Deutsch- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: land erheblich belasten wird. Beim Thema Masterplan Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp. fällt mir der Masterplan für Bürokratieabbau ein. Auch das war ein totaler Flop. Ich denke an den Stillstand in den so genannten Innovationsregionen. Dort ist gar Gudrun Kopp (FDP): nichts geschehen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In der Tat werden dringender als je zuvor Kapitalgeber ge- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rade für junge Technologieunternehmer gesucht. Aber Aber bei der Wahrheit bleiben, Frau Kollegin! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8105

Gudrun Kopp (A) Ball flach halten! Was heißt da Flop? sagen aber, dass die Richtung dieses Antrags der Union (C) 3 Prozent in Hamburg, das ist ein Flop! – Ge- insgesamt stimmt, dass er absolut stimmig ist. genruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Immer (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein liberale Wen- ehrlich bleiben!) de! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Wie stimmen Nicht zu vergessen ist auch das totale Chaos in der Ren- Sie denn? Ich bin ganz aufgeregt!) ten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung. Man kann natürlich nicht sagen: Wir wursteln, wie (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Re- Rot-Grün das derzeit macht. den Sie mal über das Bundesratschaos! Da ha- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ben Sie alle Probleme auf einen Streich!) Was? Wursteln? Woher haben Sie das? Pole- Ich sehe nicht, dass Rot-Grün in der Lage ist, dem Stand- mik!) ort Deutschland Perspektiven zu geben. Die Minirefor- Wir wursteln im Chaos so weiter und kommen dann ziel- men, die am Ende des Jahres 2003 beschlossen worden genau nicht zu dem Punkt, dass Unternehmen in sind und zu deren Zustandekommen das gesamte Haus Deutschland, egal ob junge oder ältere Unternehmen, konstruktiv beigetragen hat, reichen bei weitem nicht egal welcher Größe, überhaupt eine Chance haben, hier aus. Schlimmer noch: Wir meinen, dass die rot-grüne in Zukunft mit den Arbeitsplätzen und den Ausbildungs- Regierung derzeit eigentlich am Ende ist. plätzen zu bestehen. Ich möchte jetzt auf den Antrag der CDU/CSU-Frak- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tion zu sprechen kommen, in dem sehr treffend die au- Das mit dem Wursteln nehmen Sie aber zu- genblickliche desolate Lage beschrieben wird. In der Tat rück!) ist es gerade um die innovativen Unternehmen in unse- Also die klare Ansage: Schwenken Sie ein auf das rem Land sehr schlecht bestellt. wirklich stringente Steuersystem, das die FDP-Fraktion (Dr. Rainer Wend [SPD]: Aber nicht so heute vorgelegt hat! Dann ginge es am Wirtschafts- und schlecht wie um die FDP!) Sozialstandort Deutschland besser und dann kämen wir ein Riesenstück voran. Sie wissen, dass die Eigenkapitalquote durchweg be- sorgniserregend niedrig ist. Je kleiner die Unternehmen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sind, desto niedriger ist die Eigenkapitalquote. Das gilt Das Wursteln nehmen Sie zurück!) insbesondere für Unternehmen mit einem Jahresumsatz Dafür wünsche ich uns allen Mut. von unter 500 000 Euro. (B) Vielen Dank. (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/ der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend [SPD]: CSU – Dr. Rainer Wend [SPD]: Wie stimmt Wieso beklatschen Sie das?) ihr denn jetzt?) Wir brauchen, wie gesagt, passende Rahmenbedin- gungen. Das bedeutet eine Senkung der Staatsquote so- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wie der Steuern und Abgaben. Ich komme jetzt zu einem Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Punkt, den die FDP-Fraktion bei allem Wohlwollen für Christoph Matschie. den CDU/CSU-Antrag kritisch sieht. Wir haben heute Morgen in dieses Parlament unseren Entwurf eines Ge- Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der setzes für ein einfaches und konsequent unbürokrati- Bundesministerin für Bildung und Forschung: sches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen einge- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! bracht. Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der Bei Ihnen von der FDP ist es ja so, dass Sie immer dann sehr stringent sagt, wohin wir steuerlich wollen. von der großen Steuervereinfachung reden, wenn Sie ge- rade nicht regieren. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in (Beifall bei der FDP) denen Sie mehr Möglichkeiten hatten, so etwas durchzu- Wir möchten nämlich ohne Sondertatbestände aus- setzen. Wir haben die Steuervereinfachung damals kommen. Vor diesem Hintergrund tun wir uns wirklich nicht erlebt. schwer damit, jetzt weitere Steuerausnahmetatbestände Im Übrigen haben wir hier eine interessante Ausei- oder Steuervergünstigungen zu fordern, nandersetzung – Herr Riesenhuber und Herr Wend ha- ben das schon angesprochen –, nämlich zwischen den (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das kann ich gut großen Steuervereinfachern und denen, die sagen: Wir verstehen!) wollen aber auch ganz gezielt Vorteile für bestimmte gerade auch was Stock Options oder sonstige steuerliche Unternehmen oder Kapitalbeteiligungen vorhalten. Erleichterungen in dem Bereich betrifft. Den Teil möch- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) ten wir nicht mittragen, Herr Riesenhuber, es war aber schon eine etwas selt- (Jörg Tauss [SPD]: Aha! – Dr. Rainer same Steuerlogik, die Sie hier vorgetragen haben. Das Wend [SPD]: Kann man denn separat ab- war nach dem Motto: Wir wollen zwar alle Subventio- stimmen?) nen abschaffen, aber weil es halt ein paar gibt, schaffen 8106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) wir noch ein paar mehr; dann können wir nachher umso Ich bewundere ja Ihre Leidenschaft für die Steuerver- (C) mehr abschaffen. – Die Logik erschließt sich mir nicht einfachung, nur, Herr Kollege Riesenhuber: Einige Kol- ganz. legen in Ihrer Fraktion haben sich in den letzten Wochen – ich erinnere nur an die heftigen Auseinandersetzungen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubert im Vermittlungsausschuss – mit vielleicht noch größerer Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Leidenschaft dafür eingesetzt, dass eben Ausnahmetat- bestände erhalten bleiben, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hubert Riesenhuber? Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]: Sie müs- (Jörg Tauss [SPD]: Das haben Sie provoziert!) sen alle zugleich abschaffen!) dass es nicht an die Pendlerpauschale geht, dass es nicht Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der an die Eigenheimzulage geht und dass es nicht an die Bundesministerin für Bildung und Forschung: Subventionen in der Landwirtschaft geht. Herr Aber selbstverständlich. Riesenhuber, meine Bitte lautet also: Verwenden Sie we- nigstens einen Teil der Leidenschaft, die Sie hier gezeigt (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt kann er aber haben, darauf, Ihre Kolleginnen und Kollegen davon zu nicht so gut um die Bank laufen!) überzeugen, dass wir beim Subventionsabbau an anderer Stelle ein paar Schritte weiterkommen! Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Gestatten Sie, lieber Kollege Matschie, dass ich die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sem intellektuellem Problem ein wenig abhelfe? In der DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Wend [SPD]: Sache geht es um Folgendes: Wenn wir uns jetzt hier ge- Sehr gut! Eines Ministerpräsidenten würdig!) meinsam verabreden, die Sondertatbestände abzuschaf- Es ist kein Geheimnis – der Bundesverband deutscher fen, und uns für das Merz- oder das FDP-Konzept ent- Kapitalbeteiligungsgesellschaften hat es in seinen letzten scheiden, dann bin ich mit Leidenschaft dabei. Aber ich Veröffentlichungen noch einmal deutlich gemacht –: Der habe Sie mit bescheidender Zurückhaltung darauf hinge- Markt für Venturecapital in Deutschland ist nach wie vor wiesen, in der Krise. Wir können hiermit nicht zufrieden sein. (Dr. Rainer Wend [SPD]: So wie im Bundes- Die Finanzierungssituation für junge Technologieunter- rat!) nehmen ist – das wird von niemandem bestritten – ent- (B) sprechend schwierig. Bevor man jetzt darangeht, die (D) dass wir vor 15 Jahren eine Diskussion hatten, in der es ganze Verantwortung bei der Politik abzuladen und dort darum ging, endlich auch Forschung und neue Technolo- möglicherweise eine Lösung für alles suchen zu wollen gien über das Steuersystem zu fördern. Damals ist gesagt – es wird nicht möglich sein, sie dort zu finden –, muss worden: Das machen wir nicht, weil die große Steuerre- man fragen: Warum ist diese Situation so? Ich will ei- form kommt. nige Gründe nennen, warum die Situation so schwierig ist. Ich sage: In der Hölle ist der Teufel eine positive Fi- gur. Solange wir hier noch eine verquere Situation ha- Nicht nur die Börse, sondern auch der Markt für ben, müssen wir mit diesen Instrumenten leben. Insofern Wagniskapital war in den letzten Jahren, gerade 1999 sollten wir uns gemeinsam aufmachen, die Subventionen und 2000, überhitzt. Wir hatten so enorme Zuwächse abzuschaffen. Dann folge ich auch Herrn Eichel in sei- – Sie erinnern sich vielleicht –, dass sich beispielsweise ner entschlossenen Aussage, er werde dann nicht mit die Investitionen im Frühphasensegment in Deutschland Steuern, sondern mit Finanzbeihilfen arbeiten. Auf die- von 1996 bis 2000 fast verzehnfacht haben. Selbst Län- ser Grundlage werde ich mit Vergnügen sehen, was der der wie Großbritannien, traditionell ein Risikokapital- BMF in seiner umfassenden Weisheit an konkreten Fi- land, haben wir im Zuge dieser enormen Entwicklung nanzbeihilfen als Ersatz für die eigenen Steuervor- abgehängt. Allerdings besteht die Gefahr einer Über- schläge in die Diskussion bringt. reaktion in die andere Richtung; in genau so einer Ent- wicklung befinden wir uns zurzeit. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt die Frage! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber Natürlich spielt auch eine Rolle, dass sich viele Inves- [CDU/CSU]: Ich habe gesagt: Gestatten Sie toren mit ihrem Engagement die Finger verbrannt haben. mir, einem intellektuellem Problem abzuhel- Die Statistik des Europäischen Beteiligungskapital-Ver- fen?) bands besagt, dass es im Jahr 2002 eine negative Rendite von fast 30 Prozent gegeben habe. Auch das wirkt auf Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der diesem Markt selbstverständlich noch heute nach. Dazu Bundesministerin für Bildung und Forschung: kommt der Ausfall der Börse, was Neuemissionen an- Ich habe den fragenden Ton bei Herrn Riesenhuber geht. 1999 und 2000 wurden jeweils über 100 Unterneh- schon herausgehört. Ich weiß auch, warum. men am Neuen Markt untergebracht. Seit weit mehr als einem Jahr hat überhaupt kein Technologieunternehmen (Manfred Grund [CDU/CSU]: Es genügt ein den Gang an die Börse gewagt. Ich bin allerdings froh, Ja!) dass auch auf diesem Gebiet langsam neue Signale er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8107

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) kennbar sind. Ich habe in der „Thüringer Allgemeinen“ schaffen werden können. Wir sollten diese Entwicklung (C) vom vergangenen Dienstag gelesen: gemeinsam unterstützen und nicht kleinreden, denn in dieser Phase ist jetzt Mut gefragt. X-Fab bricht Börsen-Bann Erfurter Chiphersteller wagt nach einem Jahr als ei- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ner der Ersten Gang aufs Parkett (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich finde, es ist ein positives, ein ermutigendes Signal, DIE GRÜNEN) dass wieder Aufbruchzeichen zu sehen sind. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Tauss [SPD]: Aufbruch in Thüringen! – Ge- Dobrindt. genruf des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/ CSU]: Gute Regierung in Thüringen! – Ge- genruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Jetzt noch Alexander Dobrindt (CDU/CSU): ein neuer Ministerpräsident in Thüringen und Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es es geht dort aufwärts!) ist außerordentlich erfreulich, feststellen zu können, dass in dieser Debatte zumindest die aktuelle Problemlage, in – Herr Riesenhuber, man sollte mit solchen Äußerungen der sich viele Unternehmen aufgrund der mangelnden vorsichtig sein. Ich glaube, das hat weniger mit der Re- Finanzierungsmöglichkeiten befinden, von allen Anwe- gierung in Thüringen zu tun als vielmehr damit, dass senden ähnlich gesehen wird. Ich denke, dass man das sich die Situation an den Börsen insgesamt wieder ent- wohl so sagen kann. spannt und dass neue Möglichkeiten entstanden sind. Das Thema des Eigenkapitaldefizits in der deut- Wir haben dort, wo man es tun kann, gehandelt und schen Wirtschaft ist ja nicht wirklich ein neues Thema, gegengesteuert. Der Beteiligungskapitalfonds ist hier ge- das etwa erst nach dem Zusammenbruch des Neuen nannt worden. Ich will in diesem Zusammenhang darauf Marktes oder im Zusammenhang mit dem Rekord an hinweisen, dass der Bundesverband deutscher Kapital- Unternehmensinsolvenzen akut geworden wäre. Im Ver- beteiligungsgesellschaften neue Impulse für den Markt gleich zu anderen Industriestaaten haben unsere Unter- durch den von uns eingerichteten Dachfonds erwartet. nehmen die niedrigste Eigenkapitalquote; und diese Mit den jüngsten finanzpolitischen Entscheidungen sinkt weiter. Dabei ist das Eigenkapitaldefizit nicht in seien für 2004 gute Voraussetzungen geschaffen worden. erster Linie ein Problem der Großunternehmen in Deutschland, Natürlich seien damit – auch das hat er in seiner Presse- mitteilung deutlich gemacht – nicht alle Wünsche erfüllt. (Jörg Tauss [SPD]: Nein, der Banken!) (B) (D) Ich finde, wir sollten die Schritte, die wir gegangen sondern insbesondere eines des breiten Mittelstandes. sind und die die Situation für die Technologieunterneh- Die Finanzreserven sind zurzeit vielfach schon er- men und für Beteiligungen verbessern, hier nicht klein- schöpft. Sie alle kennen aus Ihrem Wahlkreis Beispiele reden, sondern wir sollten sie herausstellen, um Unter- für Firmen, deren Rücklagen aufgrund der schlechten nehmen und Beteiligungskapital zu ermutigen. Konjunktur und der mangelnden Unterstützung durch die Politik der letzten Jahre – auch das muss man um der (Beifall bei der SPD) Wahrheit willen betonen – aufgebraucht sind. Darauf kommt es in dieser schwierigen Situation doch Gerade im Mittelstand ist die Luft raus. Es fehlt das an. nötige Geld, um Investitionen zu tätigen, die Maschinen- Ich glaube, dass über die steuerlichen Rahmenbedin- parks zu erneuern und in Forschung und Weiterentwick- lung zu investieren. Über Wachstum braucht man in die- gungen und über diesen Fonds hinaus natürlich auch im sem Zusammenhang gar nicht mehr reden, Wachstum Bereich der Forschungspolitik einiges in Angriff genom- können viele aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren. men worden ist. Ich will hier nicht sämtliche infrage Wenn man genau hinschaut, dann stellt man im konkre- kommenden Programme aufzählen. Man kann das nach- ten Fall häufig fest, dass in vielen Bereichen schon jetzt lesen. Herr Kuhn, Sie haben sich zu Seed-Finanzierun- das Kapital fehlt, um wenigstens das magere prognosti- gen geäußert. Auch ich meine: Wir müssen noch einmal zierte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent in diesem Jahr darüber nachdenken, welche neuen Instrumente wir ent- mit konkreten Aufträgen zu erreichen. wickeln können. Im Moment gehört es wohl zu den schwierigsten Aufgaben, Seed-Kapital zu finden. Wir Meine Damen und Herren, was ist schlimmer, als müssen uns etwas einfallen lassen, um Unterstützung für wenn ein Unternehmen Marktchancen hat, wenn Unter- diesen sensiblen Bereich zu erhalten. nehmer Ideen haben, wenn Aufträge vorhanden sind, aber das nötige Kapital, um zu handeln, fehlt? Es ist (Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- keine sonderlich ermutigende Vorstellung, wenn Banken NIS 90/DIE GRÜNEN]) den Unternehmen mitteilen, dass es zwar gut sei, wenn sie Aufträge hätten, aber wenn sie diese nicht finanzie- Ich komme zum Schluss. Wir sollten in dieser ganzen ren könnten, dann dürften sie sie eben nicht annehmen. Diskussion nicht vergessen, dass der Wagniskapital- Das ist keine Zukunftsfiktion, das findet tagtäglich in markt sehr zyklisch ist. Ich glaube, dass im Rahmen des Deutschland so statt. sich abzeichnenden wirtschaftlichen Belebungsprozes- ses des sich abzeichnenden Aufschwungs insgesamt bes- (Jörg Tauss [SPD]: Das sind die rot-grünen sere Bedingungen für die Innovationsfinanzierung ge- Banken! – Heiterkeit bei der SPD) 8108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Alexander Dobrindt (A) – Das sind nicht nur die rot-grünen Banken, aber Ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Politik hat mit Sicherheit maßgeblich damit zu tun. Das neten der FDP) kann man, wie ich glaube, schon so feststellen. Das kann man nicht unter dem Thema Sparerfreibetrag Die Banken entziehen sich immer mehr dem Thema abhandeln; damit würde man dem sicher nicht gerecht Mittelstandsfinanzierung. Kreditlinien wurden in den werden. Das Gleiche gilt im Wesentlichen für Aktienop- vergangenen Jahren großzügig eingeengt. Sie finden tionen, die selbstverständlich ein taugliches Instrument kaum noch einen Mittelständler, der nicht darüber klagt, zur Stärkung des Eigenkapitals von jungen Unternehmen dass die Bedingungen der Kreditvergabe restriktiv ge- sind, die sich hierdurch hohe Kosten durch Gehälter er- handhabt wurden und er dadurch in seinen unternehme- sparen können. rischen Entscheidungen drastisch eingeengt wurde. Aber wir müssen sicherstellen, dass dieses Instru- Es ist richtig – das wurde hier schon gesagt –, dass ment, das eine hohe Anreizfunktion hat, in seiner Wir- vonseiten der KfW und der DtA eine Reihe von Pro- kung erhalten bleibt und nicht durch Ungleichbehand- grammen aufgelegt wurden, die hier eine Lücke füllen lung zum Standortnachteil für deutsche Unternehmen sollen. Aber das gelingt in vielen Fällen nicht. Die Gel- mutiert. Gerade in der New Economy, bei der nach der der aus diesen Programmen werden entweder nicht in Überhitzungsphase nicht nur Träume und Visionen zer- ausreichendem Umfang weitergereicht oder können platzt sind, sondern auch die ohnehin geringe wirtschaft- auch gar nicht weitergereicht werden, weil deren Zutei- liche Substanz der übrig gebliebenen Unternehmen stark lung oft an ähnlich schwierige Hürden geknüpft ist wie beschädigt ist, bei der man von der Euphorie von zwei- zum Beispiel die so genannten banküblichen Besiche- bis dreistelligen Wachstumsraten auf realistische Ent- rungen. All dieses kann eine Nutzung im konkreten Fall wicklungsziele gekommen ist, sind zur Stabilisierung verhindern. Hier muss mehr Bereitschaft insbesondere dringend Mitarbeitermodelle notwendig, die echte An- zu einer größeren Risikoübernahme gezeigt werden, reizfunktionen für die Beschäftigten bieten und gleich- wenn diese Instrumente in vollem Umfang für den Mit- zeitig Wachstumspotenziale für das Unternehmen schaf- telstand nutzbar werden sollen. fen. Die entscheidende Rolle, die der Mittelstand für die (Beifall bei der CDU/CSU) bisherige und zukünftige wirtschaftliche Entwicklung hat, macht es dringend erforderlich, diese Finanzierungs- Meine Damen und Herren, Wirtschaftsminister schiene zu stärken. Dies gilt im Besonderen für so ge- Clement hat heute Vormittag in der Debatte zum Jahres- nannte Start-ups, die auch gerade unter beschäftigungs- wirtschaftsbericht gesagt, man setze auf die Innovatio- politischer Hinsicht von enormer Bedeutung sind. Im nen unserer Unternehmen; von „Lust“ und „Leiden- (B) Jahr 2002 waren, wie Sie wissen, allein 9 Prozent aller schaft“, etwas zu unternehmen, und von mehr (D) Beschäftigten in Unternehmen tätig, die in den Jahren Eigenverantwortung war die Rede. Dazu gehört meines 1998 bis 2002 neu gegründet wurden. Hier steht ein Erachtens auch eine neue Beteiligungskultur. Ich nehme enormes Potenzial von innovativen Technologieunter- Ihre Bemühungen durchaus ernst. Die Schaffung eines nehmen bereit, die in der Lage sind, Wachstum zu erzeu- Dachfonds ist löblich, ebenso Ihr Ziel der Anpassung der gen. Aber diese Unternehmen brauchen das nötige Geld, Wesentlichkeitsgrenze. Allerdings muss man feststellen, die nötige Anschub- und Weiterfinanzierung. dass der Titel für Projektförderung im Bundesministe- rium für Bildung und Forschung gleichzeitig um Ein Teil dieses notwendigen Geldes kann in diesem 8 Prozent gekürzt wird. Immerhin weisen die Dinge in speziellen und in vielen anderen Bereichen von den Mit- die richtige Richtung, aber sie werden bei weitem nicht arbeitern – und zwar nicht ausschließlich von den leiten- ausreichen, um in Deutschland eine Kultur von Business den Mitarbeitern, sondern von allen Beschäftigten – Angels zu etablieren, wie wir das anderenorts bereits kommen. Die Mitarbeiterbeteiligung liegt in Deutsch- kennen. land noch immer im Dornröschenschlaf, weil wir die nö- tigen Rahmenbedingungen dafür nicht vorhalten. Wir Ganz selbstverständlich stellt sich da regelmäßig die müssen uns aus meiner Sicht die Frage stellen, warum Frage nach der steuerlichen Behandlungen von Veräu- sich ein Mitarbeiter, der sich finanziell an seinem Unter- ßerungsgewinnen. Es wäre dringend notwendig, andere nehmen beteiligt, beispielsweise in Form einer stillen Maßstäbe anzuwenden, wenn die Mittel beispielsweise Gesellschaft, steuerlich genauso stellt, wie wenn er das als Risikokapital reinvestiert werden, als wenn sie an- Geld zur Bank bringt. Da gibt es doch einen entschei- dere Verwendungen finden. Gerade diese steuerlichen denden Unterschied. Fragen haben sich in der „Phase der großen Blase“ nicht in dem Umfang gestellt, wie das jetzt der Fall ist, weil Gerade in jungen Unternehmen haben wir eine Betei- die Aussichten auf die außerordentlichen Wachstums- ligungskultur: Mitarbeiter sind bereit, durch eine finan- raten sie zweitrangig erscheinen ließen. Allerdings be- zielle Beteiligung ein Risiko auf sich zu nehmen und da- kommen diese Fragen in der jetzt sicherlich noch länger mit für ihren eigenen Arbeitsplatz und den von anderen anhaltenden Phase der normalen bis unterdurchschnittli- zu sorgen, ohne in einer unternehmerischen Gesamtver- chen Gewinnaussichten naturgemäß wieder eine größere antwortung zu stehen. Diese neue Kultur des Selbstver- Bedeutung. ständnisses der Mitarbeiter in neuen Technologieunter- nehmen muss eine besondere Berücksichtigung Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Der Mit- erfahren, um der Risikobehaftung des Engagements ge- telstand ist finanziell ausgeblutet, die Versorgung mit recht zu werden. Risikokapital mehr als zurückhaltend. Unsere Aufgabe Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8109

Alexander Dobrindt (A) und vor allem die Aufgabe der Bundesregierung ist es Trotzdem sollten Sie ein bisschen Augenmaß zeigen, (C) hier, das Angebot an Kapital zu stärken und die Verbin- wenn es um die Kritik an der Bundesregierung geht. dung zwischen Nachfrage und Angebot zu erleichtern, Jetzt zum Thema Hightech-Masterplan. Ich finde es damit Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland ge- sehr gut, dass die Bundesregierung diesen Plan vorgelegt schaffen werden. hat, Danke schön. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um im internationalen Wettbewerb, was die Forschung neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Sind Sie und Entwicklung angeht, aufzuholen. Der entsprechende für Merz oder Faltlhauser?) Anteil am Bruttosozialprodukt muss erhöht werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion im Bereich der Tech- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nologieförderung, insbesondere für kleine Unternehmen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth. Ich bin sehr froh, dass das Forschungsprogramm An- reize zum Ausbau von Forschungs- und Innovationsstra- Karin Roth (Esslingen) (SPD): tegien schafft. Die entstehenden Netzwerke sind aus Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und meiner Sicht wichtig, um die Forschung und Entwick- Herren! Es ist nicht schlecht, dass wir beim Thema Inno- lung in den kleinen Unternehmen zu unterstützen. Die vationsförderung und finanzielle Unterstützung für Bundesregierung hat die Mittelstandsförderung auf dem junge Unternehmen einer Meinung sind. Genauso wich- Gebiet der Forschung und Entwicklung um 32 Prozent tig ist aber auch die Frage – das ist die andere Seite der gesteigert, was sich schon positiv ausgewirkt hat. Medaille –, wie man Forschung und Entwicklung von Der Bund und auch die Länder unterstützen Unter- staatlicher Seite unterstützen kann. nehmen insbesondere darin, zukunftsorientierte Pro- Ein Blick auf den Mittelstand zeigt, dass es dort eine dukte für den internationalen Markt zu entwickeln. Ich ganze Reihe von Innovationen und neuen Produkten finde es sehr wichtig, dass die Innovationsnetzwerke gibt. 200 000 Unternehmen sind in diesem Bereich ak- ausgebaut werden, dass es Ausgründungen aus den tiv; aber darunter sind nur 35 000 Unternehmen, die kon- Hochschulen gibt und dass vor allen Dingen For- tinuierlich Forschung und Entwicklung betreiben. Man schungsergebnisse schneller in marktfähige Produkte würde also zu kurz springen, wenn man dieses Thema, umgesetzt werden. Wir tun also etwas. Aber ich denke, wie in dem Antrag der CDU/CSU geschehen, nur auf dass es – keine Frage – noch besser werden muss. Das den Bereich der Finanzen reduziert. Man muss daneben steht bei uns ganz oben auf der Tagesordnung. (B) (D) auch die staatliche Förderung im Bereich der Forschung Nach wie vor ist die Mitarbeiterausgründung zu ge- und Entwicklung betrachten. ring entwickelt. Deshalb haben wir eine entsprechende Lieber Kollege Riesenhuber, Sie haben eine fulmi- Förderung vorgesehen. Frau Kopp, es stimmt natürlich nante Rede gehalten. Mit Leidenschaft haben Sie die – das ist unstrittig –, dass in Deutschland die kleinen Un- Bundesregierung aufgefordert, nun endlich etwas zu tun. ternehmen eine viel zu geringe Eigenkapitalquote ha- Darauf möchte ich Ihnen erwidern, dass Sie elf Jahre ben. In anderen Ländern – das ist allerdings kein Trost – lang – ich habe im Handbuch nachgeschaut – For- ist die Situation besser. Wir müssen unsere Hausaufga- schungsminister waren, auch in den Jahren 1991 bis ben auf diesem Gebiet machen. 1993. (Gudrun Kopp [FDP]: Eben!) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das waren Es ist wichtig, dass der Strukturwandel auf den Fi- gute Jahre!) nanzmärkten und im Bankensektor dazu führt, dass das Risikokapital als Chancenkapital erkannt wird. Wir müs- Mich erstaunt daher sehr, dass Sie sich nicht kritisch da- sen an die Banken appellieren, dass sie ihre Verantwor- mit auseinander setzen, dass Sie in dieser Zeit die Aus- tung wahrnehmen und den kleinen und mittleren Unter- gaben für Forschung und Entwicklung reduziert haben. nehmen das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. (Jörg Tauss [SPD]: Er musste! Der Waigel hat (Gudrun Kopp [FDP]: Wir brauchen Rahmen- ihn gewürgt!) bedingungen!) Die Ausgabenkürzungen gingen noch nach Ihrer Zeit als Im Ratingverfahren bleiben diese jungen Unternehmen Minister weiter. oft auf der Strecke, weil es bisher keine geeigneten Rah- Das Problem war, dass bis 1998 die Ausgaben für menbedingungen gab. Forschung und Entwicklung zum Nachteil der kleinen Die Bundesregierung hat, bezogen auf die Förderkon- Unternehmen und des Wirtschaftsstandortes Deutsch- zepte, eine Menge getan. Als Mitglied des Unteraus- land ständig reduziert wurden. schusses ERP-Wirtschaftspläne, in dem wir im Konsens (Beifall bei der SPD) über diese Fragen diskutieren, wissen Sie, dass wir einen leichteren Zugang zu Krediten ermöglichen wollen. Das haben Sie, Herr Riesenhuber, mit zu verantworten. Durch die Gründung der Mittelstandsbank haben wir Ein bisschen mehr Leidenschaft wäre damals gut gewe- eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen. Wir sen. Ihre jetzige Leidenschaft sehe ich Ihnen nach. stellen im Jahre 2004 rund 4 Milliarden Euro für die 8110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Karin Roth (Esslingen) (A) Gewährung langfristiger und zinsgünstiger Kredite an neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (C) kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung. DIE GRÜNEN Darüber hinaus bietet der neue Beteiligungsdach- Deutsche und europäische Raumfahrtpolitik fonds, für den aus dem ERP-Sondervermögen und dem zukunftsorientiert gestalten Europäischen Investitionsfonds ab 1. März 2004 – Drucksache 15/2394 – 500 Millionen Euro bereitgestellt werden, die große Überweisungsvorschlag: Chance, Technologieunternehmen zu fördern und priva- Ausschuss für Bildung, Forschung und tes Kapital mit diesem Fonds zu kombinieren. Dadurch Technikfolgenabschätzung (f) können insgesamt 1,7 Milliarden Euro mobilisiert wer- Auswärtiger Ausschuss den. Wir waren uns im Ausschuss einig darüber, dass Innenausschuss dies eine große Chance ist, Existenzgründungen – auch Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und die aus den Hochschulen heraus – zu fördern. Wir waren Landwirtschaft uns auch einig darin, dass das seitens der Europäischen Verteidigungsausschuss Union eine wichtige Initiative war, die wir unterstützen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Kurzum: Wir müssen alles dafür tun, um Risikobe- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und reitschaft zu unterstützen. Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Kollegin, denken Sie bitte daran, dass Ihre Rede- Dr. Georg Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas zeit abgelaufen ist! Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Karin Roth (Esslingen) (SPD): Stärkung der wissenschaftlichen Zukunfts- Wir müssen all denjenigen die Türen öffnen, die be- und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit reit sind, Innovationen zu wagen und ein Risiko einzuge- des Raumfahrtstandorts Deutschland in Eu- hen. Ich wünsche mir, dass das Engagement der großen ropa Banken auf diesem Gebiet genauso groß ist wie zum Beispiel das der Sparkassen und Volksbanken. Sie sind – Drucksache 15/2334 – immer noch besser als die großen Banken. Ich hoffe und Überweisungsvorschlag: wünsche mir, dass die Banken die Verantwortung wahr- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) (B) nehmen, die sie in diesem Land wahrzunehmen haben, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (D) nämlich dass sie die Menschen bei Existenzgründungen Verteidigungsausschuss und vor allen Dingen kleine und mittlere Unternehmen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit unterstützen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- DIE GRÜNEN) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nung Ich schließe die Aussprache. Technikfolgenabschätzung Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Militärische Nutzung des Weltraums und Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck- Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im Welt- sache 15/2367 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU raum – Sachstandsbericht mit dem Titel „Für eine neue Beteiligungskultur – Ei- – Drucksache 15/1371 – genkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen Überweisungsvorschlag: durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitar- Auswärtiger Ausschuss (f) beiterbeteiligungen verbessern“. Der Ausschuss emp- Verteidigungsausschuss fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/815 abzulehnen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Technikfolgenabschätzung Ausschusses? – Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Enthaltung der FDP angenommen worden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: der Abgeordnete Swen Schulz. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schulz (Spandau), Jörg Tauss, , wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- Swen Schulz (Spandau) (SPD): wie der Abgeordneten Peter Hettlich, Volker Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Raum- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8111

Swen Schulz (Spandau) (A) fahrt ist in Deutschland und in Europa ein erfolgreiches Technologieführerschaft übernimmt und Märkte er- (C) Innovationssystem. Gemeinsam mit vielen Akteuren ist schließt. es uns gelungen, in die absolute Weltspitze vorzudrin- gen. Das hat zum Beispiel die außergewöhnlich erfolg- Das führt zum Thema Wahrung deutscher Interessen reiche europäische Marsmission gezeigt: Mit deutscher gegenüber unseren Partnern. Häufig hatte man ja den Technologie ist etwa zum ersten Mal Wasser auf dem Eindruck, die Deutschen seien die besten Europäer: Sie Mars nachgewiesen worden. zahlen brav und lassen sich ansonsten von anderen über den Tisch ziehen. Wir können heute feststellen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Bundesregierung Schluss damit gemacht hat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Die Amis suchen immer noch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) SPD und Bündnis 90/Grüne legen einen Antrag vor, mit dem wir die erfolgreiche Raumfahrtpolitik der Bun- Bei den Verhandlungen über die Ariane wurde eine desregierung unterstützen und Akzente zu ihrer Fortent- Überstrapazierung des deutschen Budgets verhindert wicklung setzen. Bei aller Faszination, die von der und darüber hinaus der Abbau des Rückflussdefizits er- Raumfahrt ausgeht, besteht doch viel Skepsis. Häufig reicht. Es wird ja gelegentlich über handwerkliche Män- wird – auch hier im Bundestag – gefragt: Welchen Nut- gel in der Politik geklagt. Darum betone ich: Frau Minis- zen ziehen wir eigentlich aus der Raumfahrt? Wir haben terin, das war eine Meisterleistung! so viele Probleme auf der Erde, können wir uns das leis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten? Raumfahrt ist mehr als nur etwa ein Flug zum DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Mond oder zum Mars. Raumfahrt ist Motor des wissen- Meisterinnenleistung!) schaftlichen und technologischen Fortschritts. Darüber hinaus hilft sie, ganz konkret Probleme auf der Erde zu – Meisterinnenleistung, Entschuldigung! lösen. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Darum habt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihr die Meister abgeschafft! – Gegenruf des DIE GRÜNEN) Abg. Jörg Tauss [SPD]: Nicht in sicherheits- Mit satellitengestützter Technologie wird Wetterbeob- relevanten Bereichen!) achtung gemacht, helfen wir bei Katastrophenschutz, Angesichts der zukünftigen Herausforderungen ist Umweltschutz, in der Landwirtschaft, bei Kommunika- trotz aller Sparsamkeit und Konzentration eine Erhö- tion und Navigation. Damit tun sich auch enorme wirt- hung der Aufwendungen aus dem Bundeshaushalt für schaftliche Möglichkeiten auf. (B) die Raumfahrt notwendig. Wir können uns auch nicht (D) An dieser Stelle wird deutlich, dass Europa unbedingt ganz auf die europäische Ebene zurückziehen – nach einen eigenen und unabhängigen Zugang zum Weltraum dem Motto: Wenn sich Europa darum kümmert, müssen benötigt. Wenn wir bei den Trägersystemen vom Good- wir nicht noch in Deutschland extra Geld dafür ausge- will anderer Staaten abhängig wären und zum Beispiel ben. Das wäre eine Milchmädchenrechnung. Denn ers- die USA, Russland oder China sagen könnten, be- tens sind deutsche Initiativen, deutsche Entwicklungen stimmte Satelliten brächten sie uns Europäern nicht in als Motor der europäischen Raumfahrt nötig den Orbit, könnten wir die Versuche, mit Raumfahrt Pro- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr gut!) bleme zu lösen und Geld zu verdienen, gleich einstellen. und zweitens können nur die Staaten von europäischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erfolgen profitieren, die dazu beitragen und die vorne DIE GRÜNEN) mitspielen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Raum- Trotz der Bedeutung der Raumfahrt ist ein sorgsamer fahrt ohne uns stattfindet. Anderenfalls wäre Deutsch- Umgang mit Steuermitteln selbstverständlich notwen- land nur Zahlmeister. dig. Wir müssen gerade angesichts der schwierigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haushaltslage genau überlegen, wie viel Geld wir wofür DIE GRÜNEN sowie des Abg. Kurt J. ausgeben. Natürlich müssen wir Forschung fördern, für Rossmanith [CDU/CSU]) die es kein unmittelbares Verwertungsinteresse gibt; an- derenfalls würden wir eine wichtige Quelle des Fort- Darum ist es notwendig, perspektivisch auch das natio- schritts verschließen. Darüber hinaus wollen wir einen nale Raumfahrtprogramm zu stärken. Schwerpunkt auf anwendungsorientierte Raumfahrtpro- jekte setzen. Für deren Finanzierung sind die Interessen- (Beifall bei der SPD – Kurt J. Rossmanith ten, die Nutzer, ins Boot zu holen. Des Weiteren wollen [CDU/CSU]: Ja, auch finanziell!) wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen und uns auf die Was wir jedoch nicht benötigen, ist ein neues Pro- Projekte konzentrieren, in denen wir wirklich Spitze sind gramm für die bemannte Raumfahrt. Unserer Auffas- oder werden können. Es hat keinen Sinn, mit der Gieß- sung nach stehen Kosten und möglicher Nutzen bemann- kanne über alle Bereiche zu gehen; dann wird aus allem ter Raumfahrt zum Mond oder zum Mars in keinerlei nichts Richtiges. Im Rahmen dieser Konzentration müs- akzeptablem Verhältnis. sen wir darauf achten, dass in Deutschland Unternehmen und Einrichtungen gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Da waren die werden. Wir müssen sicherstellen, dass Deutschland die Sozis schon immer gegen den Fortschritt!) 8112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Swen Schulz (Spandau) (A) Uns geht es nicht um teure und fragwürdige Prestigepro- ist Raumfahrt nicht nur ein forschungs-, sondern auch (C) jekte, sondern um effiziente Forschung, Technologieent- ein wirtschaftspolitisches Thema. Dass voraussichtlich wicklung und -anwendung. am 26. Februar wieder eine Ariane-Rakete startet, ist ein Grund zur Freude und ein Zeichen dafür, wie wichtig (Jörg Tauss [SPD]: Es sei denn, der Stoiber und aktuell die heutige Debatte ist. fliegt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein Wort zur Internationalen Raumstation ISS: Aus heutiger Sicht war die Verpflichtung, die die Bun- Im Weißbuch der EU wird festgestellt, dass Inves- desregierung eingegangen ist – ich formuliere es titionen in die Raumfahrt einen sieben- bis achtmal so vorsichtig –, nicht der Weisheit letzter Schluss. hohen Nutzen für zivile Zwecke bringen. Die EU-Kom- mission geht schon heute von Wachstumsraten von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 25 Prozent in der Raumfahrt aus. Die Raumfahrt könnte DIE GRÜNEN) zum Schrittmacher der Technologie wie der Ökonomie Aber wir stehen zum Vertrag. Wenn jedoch unsere Part- des 21. Jahrhunderts werden. ner ihren Pflichten nicht nachkommen, müssen und wer- Meine Damen und Herren, bei allen Anwendungs- den wir unser Engagement für die ISS überdenken. möglichkeiten dürfen wir jedoch die Grenzen der Kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) merzialisierbarkeit nicht außer Acht lassen. Raumfahrt ist von der Forschung und Entwicklung bis hin zu vielen Ich spreche als einen weiteren Aspekt noch kurz die Umsetzungen staatlich dominiert. Raumfahrt gehört zu Raumfahrt in der Sicherheits- und Verteidigungs- den wenigen Bereichen, wo wir das akzeptieren, weil politik an. Eine Militarisierung und Bewaffnung des wir wissen, dass Grundlagenforschung nicht in Kosten- Weltraums lehnen wir kategorisch ab. Waffensysteme Nutzen-Kategorien gepresst werden kann. haben im Weltraum nichts zu suchen. Raumfahrt ist ein visionenbasiertes Wissenschafts- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ feld. Deshalb wollen wir von der CDU/CSU im Gegen- DIE GRÜNEN) satz zu dem, was wir gerade von Ihnen, Herr Schulz, ge- Der TAB-Bericht macht sehr deutlich, wie wichtig eine hört haben, an der bemannten Raumfahrt festhalten. klare Positionierung an dieser Stelle ist. Zugleich benöti- (Beifall bei der CDU/CSU) gen wir für eine europäische Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik satellitengestützte Technologie für Aufklä- Wir wissen, dass Frau Bundesministerin Bulmahn hier rung, Navigation, Kommunikation et cetera. Vor allem seit Amtsantritt skeptisch ist. (B) die Soldaten benötigen optimale technische Unterstüt- Roboter können viel, aber eben nicht alles. Von der (D) zung. Wenn wir die Leute ins Ausland – teilweise in ris- bemannten Raumfahrt geht – wir erleben das zurzeit – kante Einsätze – schicken, müssen sie zu ihrer Sicherheit eine Faszination aus, die wir wieder brauchen, der eine optimale Ausrüstung erhalten. Glaube an die technische Zukunft, der Glaube an das (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der „Made in “. Abg. [CDU/CSU] – Kurt J. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rossmanith [CDU/CSU]: Galileo auch für das Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie wollen Militär!) Sie das bezahlen?) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der knap- Ich habe in der letzten Sitzungswoche schon einmal ge- pen Zeit konnte ich nur einige Aspekte streifen. Ich wür- sagt: Mit einem Dosenpfand zum Wegwerfen, mit einer dige ausdrücklich, dass die Opposition differenzierte und Maut, über die Österreich lacht, und mit einem Transra- diskutable Anträge vorgelegt hat. Der Antrag von SPD pid, der nur in China fährt, werden wir den Stolz auf das und Bündnis 90/Die Grünen ist an wichtigen Stellen rea- „Made in Germany“ nicht aufpolieren. listischer und klarer. Ich freue mich aber auf die weitere Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider wahr!) Herzlichen Dank. Wir brauchen eine neue Technologieverliebtheit, Fas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zination, Fortschrittswillen. Nur dann wird es wieder DIE GRÜNEN) junge deutsche Ingenieure und Forscher geben, die ihren Beruf hier im Lande ausüben wollen und nicht ins Aus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: land gehen. Das brächte bei weitem mehr als eine Elite- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein. universität. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Bremsklotz in Sachen Technik sind und bleiben Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): die Grünen. Die Grünen wollen vom Mars nichts mehr Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wissen, seit sie auf den Bildern von Spirit gesehen ha- Herren! Die Forschungsergebnisse der Raumfahrt haben ben, dass es dort keine Kollegen, keine grünen Männ- unstrittig viele Anwendungen im Alltag gefunden. Der chen, wohl aber Wasser gibt. Es ist uns natürlich nicht Kollege Schulz hat einige davon angesprochen. Deshalb entgangen, dass es eine lange Diskussion zwischen SPD Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8113

Dr. Georg Nüßlein (A) und Grünen darüber gegeben hat, wie sie sich zum Es stellt sich die Frage – bei diesem Punkt bin ich (C) Thema ISS positionieren wollen. wirklich gespannt –, ob es zu einer ressortübergreifen- den Raumfahrtpolitik, die wir gemeinsam fordern, kom- (Zuruf von der FDP: Monate! – Zuruf von der men wird. Auch bin ich gespannt, ob wir eine wirkliche CDU/CSU: Jahre!) Strategie entwickeln, wie wir das gemeinsam verlangen. Ich hoffe, dass sie jetzt nicht ihre Technologiefeindlich- (Jörg Tauss [SPD]: Die haben wir doch keit unter dem Deckmantel schöner Worte verborgen ha- schon!) ben – nach dem Motto: Lieber hinter dem Mond leben als auf dem Mond landen. – Herr Tauss, die Realität sieht aber anders aus – ich kenne das Raumfahrtprogramm sehr wohl –: Denn auf (Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz der einen Seite wird von einer Strategie gesprochen, aber [Spandau] [SPD]: Ich war so nett! Jetzt pole- auf der anderen Seite leben wir von der Hand in den misieren Sie!) Mund. Wir essen unsere Saatkartoffeln auf, und zwar Ihre Technologiefeindlichkeit ist eine der Gründe für überall und insbesondere im Bereich der Forschung. den wirtschaftspolitischen Misserfolg dieser Regierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen und einer der Gründe dafür, warum die Wähler Rot-Grün Tauss? am liebsten auf den Mond schießen würden. (Jörg Tauss [SPD]: Auf dem Mond kennen Sie Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): sich gut aus!) Nein, die gestatte ich nicht. Herr Tauss äußert sich lang, oft, ausführlich und laut genug, sodass er – zusätz- Das ist eine schöne Vision. Aber eigentlich heißt Visio- lich zu seinen Zwischenrufen – nicht auch noch eine nen nachzuhängen etwas anderes: Unmögliches möglich Zwischenfrage stellen muss. zu machen. Die Regierung wählt meist den umgekehrten Weg und macht Mögliches unmöglich. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber schade! Sonst hätte ich Sie nach dem Finanzplan gefragt!) (Jörg Tauss [SPD]: Wie viele Milliarden wol- – Das glaube ich. len Sie denn für die Marsmission hergeben?) Meine Damen und Herren, für uns besteht die Strate- – Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte mir ein deutliche- gie darin, res Bekenntnis zur Internationalen Raumstation ISS ge- (B) wünscht. (Jörg Tauss [SPD]: Keine Finanzplanung!) (D) (Jörg Tauss [SPD]: Nachdem die Amis zah- den Technologiebedarf für die nächsten Jahrzehnte früh- len!) zeitig zu ermitteln und unsere zugegebenermaßen knap- pen Finanzmittel – jetzt können wir auch noch darüber Außerdem sollte die Bundesrepublik bei so visionären diskutieren, wer daran schuld ist – auf bestimmte Zu- Programmen wie Aurora, der bemannten europäischen kunftsfelder und Kompetenzen zu konzentrieren. Der Mond- und Marsmission, nicht außen vor bleiben. CDU/CSU ist es wichtig, dass sich kleine und mittlere (Zustimmung des Abg. Kurt J. Rossmanith Unternehmen – von denen war ja heute auch schon [CDU/CSU]) mehrfach die Rede – am Thema Luft- und Raumfahrt be- teiligen können. Das hieße nämlich, dass auch unsere Industrie und For- schung am Schluss außen vor blieben. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das ist richtig!) Herr Schulz, ich will Ihren Vorschlag gerne aufneh- men und keine unnötige Schärfe in die Debatte bringen. – Herr Tauss, ich weiß natürlich, dass man bei Rot- Grün eher in den Kategorien von Großkonzernen und (Jörg Tauss [SPD]: Zu spät! Wir sind schon Gewerkschaftsmitgliedern denkt. beleidigt!) (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Es gibt tolle Unter- – Dann ist es auch nicht schlecht. – Es besteht schon nehmen, zum Beispiel in Niedersachsen und weitgehend Einigkeit, was die Zielsetzungen im Be- Bremen!) reich der Raumfahrt angeht. Für mich wird aber das Aber die deutsche Wirtschaft lebt vom Mittelstand. Für Schicksal Ihres Antrages spannend. Sie haben es immer- diesen Mittelstand brauchen wir verlässlich angelegte hin geschafft, Kanzler und Parteivorsitz zu trennen. Viel- Public Private Partnerships. leicht machen Sie jetzt die Trennung zwischen dem Wil- len der Fraktion auf der einen Seite und dem (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kann ich das noch Regierungshandeln auf der anderen Seite. Wir alle sind einmal hören? – Gegenruf des Abg. Manfred gespannt, was von dem, was Sie in Ihrem Papier schrei- Grund [CDU/CSU]: Wenn Sie es dann verste- ben, letztendlich kommen und umgesetzt wird. hen, Herr Kollege Küster!) (Jörg Tauss [SPD]: Es passt kein Papier da- Hören Sie sich einmal in der Wirtschaft um. Wir müssen zwischen!) die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für 8114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Georg Nüßlein (A) die Zusammenarbeit zwischen Privaten und Staat schaf- (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) (C) fen – auch hier besteht noch Nachholbedarf – und das nationale Programm stärken. National richtig aufgestellt, müssen wir, um wirklich voranzukommen, auch die internationale Zusammenar- (Beifall bei der CDU/CSU) beit anstreben. Dazu gehören internationale Kooperatio- nen, zum Beispiel im Rahmen von Galileo, Kooperatio- Ich bin froh, dass Sie, Herr Schulz, das so deutlich an- nen mit allen Raumfahrtnationen, ganz besonders aber gesprochen haben. Wenn Sie aber von uns, der Opposi- mit den USA. Dazu gehört die Verschmelzung der tion, fordern, diese Vorhaben mit Zahlen zu unterlegen, Raumfahrtpolitik von Europäischer Union und ESA. dann frage ich Sie: Warum haben Sie das nicht getan? Dazu gehört aber auch, dass neben den zivilen Zwecken (Jörg Tauss [SPD]: Wir waren die Ersten, die sicherheits- und verteidigungspolitische Bereiche in die das gemacht haben, Herr Kollege! Bei Ihnen künftige Raumfahrtpolitik einbezogen werden. Ich bin gab es nichts!) dankbar, dass Sie auch das so deutlich angesprochen ha- ben. Auch das wurde heute schon deutlich gesagt: Sie sind an der Regierung und müssen diese Vorhaben beziffern. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber konkret!) Tun Sie es also bitte auch, und zwar in der richtigen Gerade diese sicherheitspolitischen Bereiche darf Richtung und nicht immer in der falschen. man aus meiner Sicht nicht ausklammern. Was ich in (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. diesem Zusammenhang allerdings bemerkenswert finde, Cornelia Pieper [FDP]) sind die oft ideologisch betriebenen rigiden Export- kontrollen in Deutschland. Meine Damen und Herren, Raumfahrt ist ein interna- (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) tionales Thema. Das wiedervereinigte Deutschland al- lein kann in diesem Bereich wenig ausrichten. Trotzdem – Das ist so, fragen Sie die Wirtschaft! müssen wir an erster Stelle unsere nationalen Interes- sen vertreten und durchsetzen. Das heißt: Sicherung der Seit Rot-Grün die Exportbürokratie in der Hand hat, nationalen Zuständigkeiten statt einer ausschließlichen wird der Export von Dual-use-Gütern unangemessen be- Kompetenzübertragung auf die EU – auch in diesem einträchtigt. Das führt dazu, dass viele Hersteller Pro- Punkt gab es im Rahmen des europäischen Konvents be- duktion oder Vertrieb zu unseren EU-Nachbarn verla- stimmte Begehrlichkeiten –, Erhöhung des Anteils der gern wollen. deutschen Mitarbeiter und Entscheider innerhalb der (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider ESA und der Europäischen Union, Erhalt und Ausbau Gottes!) (B) einer Wertschöpfung in Deutschland, die dem deutschen (D) ESA-Beitrag entspricht, Beibehaltung eines geogra- Dabei gilt, wahrscheinlich wie immer, der Grundsatz: phisch ausgewogenen Mittelrückflusses entgegen den Quod licet Jovi, non licet bovi – der Kleine hat das Vorschlägen der EU-Kommission und eine nicht nur ein- Nachsehen, die Fabrik in Hanau dagegen wird expor- malige, sondern dauerhafte und konsequente Verringe- tiert. rung des Rückflussdefizits. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sehen also, meine Damen und Herren: Es kommt auf Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere das Detail an, auf die politische Umsetzung, nicht auf Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. das, was auf dem Papier steht. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: So ist es!) Vielen herzlichen Dank. Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kapazitäten – qualitativ wie quantitativ – entscheiden. neten der FDP) Frankreich investiert rund das Dreifache, Italien etwa das Doppelte des bundesdeutschen Budgets für nationale Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aktivitäten. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hettlich. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der klärt uns wahr!) jetzt über die grünen Marsmenschen auf!) Ursprünglich belief sich das Verhältnis von deutschem ESA-Beitrag zu den Aufwendungen für das nationale Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Programm auf 65 zu 35; jetzt beträgt dieses Verhältnis Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen 80 zu 20. und Kollegen! Herr Nüßlein, von Ihrer Rede hatte ich mir eigentlich ein bisschen mehr erwartet. Ich muss sa- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht zu gen: Über die Anträge kann man sich ja unterhalten, aber fassen!) das war eine wirklich schwache Rede. Ich fand die Pole- mik absolut unnötig und absolut unproduktiv. Auch Sie, Herr Schulz, haben heute die Bedeutung des nationalen Programms angesprochen. Ich hoffe, dass Sie (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Da war mit Ihrem Antrag in dieser Hinsicht etwas bewegen. doch gar keine!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8115

Peter Hettlich (A) Wir können uns gerne inhaltlich über die Dinge unter- Die Raumfahrt ist ein unverzichtbarer Bestandteil un- (C) halten. Aber ich denke, ich belasse es dabei; ich will seres alltäglichen Lebens geworden und die deutsche auch gar nicht inhaltlich auf Ihre Rede eingehen. Raumfahrtindustrie hatte einen großen Anteil an dieser Entwicklung. Mit HEOS 1, bei Junkers in München Ich wollte meine Rede eigentlich mit einer Frage be- 1968 gebaut und gestartet, begann die Ära deutscher Sa- ginnen: Können Sie sich noch an die Mondlandung von tellitentechnologie im Weltall relativ spät. Seitdem hat Apollo 11 am 20. Juli 1969 erinnern? Ich habe es gerade sich Satellitentechnik mit dem Siegel „Made in Ger- einmal nachgeschlagen: Herr Nüßlein lag da gerade seit many“ aber einen ganz hervorragenden Ruf verdient. zwei Monaten in den Windeln; er kann sich also sicher Denken wir zum Beispiel an die Eigenentwicklungen nicht mehr daran erinnern. Aber ich kann es: Ich war da- oder maßgeblichen Mitwirkungen am Nachrichtensatel- mals 9 Jahre alt und kann mich noch sehr gut daran erin- liten Symphonie, an die qualitativ nach wie vor konkur- nern, dass ich zum ersten Mal die ganze Nacht aufblei- renzlosen Wettersatelliten der Typenreihe Meteosat, an ben durfte und fasziniert auf den Bildschirm gestarrt die Forschungssatelliten Helios oder Hipparcos oder an habe, als irgendwann die schemenhaften Gestalten von den Umweltsatelliten Envisat. Armstrong und Aldrin die ersten Gehversuche auf dem Mond machen konnten. Viele internationale Raumfahrtmissionen waren und sind nur unter Beteiligung deutscher Forschungsinstitute Die Begeisterung für die bemannte Raumfahrt war und Unternehmen möglich. Ich erinnere an die legendäre damals noch riesengroß. Die Besiedlung von fernen Pla- Kamera aus der Schmiede des Max-Planck-Institutes für neten oder Reisen zu fernen Welten schienen damals Aeronomie von Professor Neukum, die 1986 beim Vor- greifbar nahe und eigentlich nur noch eine Frage der beiflug der europäischen Sonde Giotto am Halley’schen Zeit. Im Dezember 1972, bei der letzten Mondlandung Kometen dabei war. Heute beeindruckt uns eine Fortent- von Apollo 17, interessierte sich dagegen gar keiner wicklung dieser Kamera auf der europäischen Sonde mehr für das Thema; die Euphorie war verflogen. Die Mars Express mit fantastischen Stereobildern vom Roten Amerikaner hatten festgestellt, dass die Kosten für das Planeten. Oder schauen wir einmal auf die amerikani- Programm nicht mehr zu kontrollieren waren. Die Sow- schen Mars Rover: Diese sind mit den für die Mission jetunion hatte sich bereits lange aus dem Wettrennen sehr wesentlichen deutschen Mössbauer-Massenspektro- zum Mond verabschiedet und konzentrierte sich nur metern der Universität Mainz ausgestattet. Das zeigt noch auf den Bau von Orbitalstationen wie zum Beispiel ganz deutlich den hohen Stellenwert der deutschen Inge- der Saljut. Das Wettrüsten befand sich nicht nur auf der nieurkunst und der deutschen Wissenschaftler. Erde auf einem Höhepunkt: Eine zunehmende Militari- sierung des Weltraums war schon lange vor Ronald (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Reagan traurige Realität. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (D) FDP – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Des- Befragte man die Menschen auf der Straße nach den wegen darf man das nicht runterfahren!) Vorzügen der Raumfahrt, so fiel den meisten als größte Errungenschaft zunächst nur die Teflonpfanne ein. Die – Warten Sie einmal ab. technologischen Fortschritte durch die Raumfahrt wurden und werden auch heute noch etwas überschätzt. Schon früh wurde in Europa erkannt, dass nur eine gemeinsame Raumfahrtpolitik erfolgreich sein kann. An (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Unter- diesem Prozess war und ist Deutschland maßgeblich be- schätzt! Sie haben sich versprochen, Herr Kol- teiligt. So gelang es zunächst mit der Ariane IV, deren lege!) Komponenten unter anderem in Bremen und in Otto- brunn hergestellt wurden, und später mit der Ariane V, Aufgrund der langen Entwicklungsphasen kamen vor al- Europa eine international konkurrenz- und leistungsfä- len Dingen in der bemannten Raumfahrt, selbst heute noch hige Trägerrakete zu geben. im Spaceshuttle, Computertechnologien zum Einsatz, über deren Leistungsfähigkeit heutige PC-User nur mitlei- Um für die Herausforderungen der Zukunft gewapp- dig lächeln können. Innovationen waren hier weniger ge- net zu sein, sind allerdings einige Weichenstellungen fragt als vielmehr Robustheit und Zuverlässigkeit von notwendig geworden. Die Probleme bei Arianespace in- elektronischen Bauteilen unter extremen Bedingungen. folge des misslungenen Starts der Ariane V ECA haben uns deutlich gemacht, dass Verpflichtungen für die euro- Ganz anders hat sich die Situation in der unbemann- päische und nationale Raumfahrt nicht ausschließlich bei ten Raumfahrt dargestellt. Schon bald war es – beinahe den nationalen Regierungen und der EU liegen können. unbemerkt – selbstverständlich geworden, dass Wetter-, Die Rolle der Industrie muss zukünftig einen höheren Telekommunikations- und Fernsehsatelliten einen un- Grad an Mitverantwortung und Selbstverpflichtung auf- verzichtbaren Platz in unserem täglichen Leben einneh- weisen. Die ESA-Ministerkonferenz hat daher schon im men. Länder wie Indien oder China erkannten schon Mai 2003 – das hat Swen Schulz eben auch gesagt – die früh die großen Chancen, mithilfe von Satellitentechno- richtigen Weichen für eine Rettung und Restrukturierung logien Infrastrukturlücken zu schließen. Heute ist zum des Trägerprogramms Ariane gestellt. Beispiel das landesweite Telefonieren in Indien beinahe ausschließlich mit Telekommunikationssatelliten mög- Außerdem ist es unverzichtbar, den Wandel der lich, die im Land selbst entwickelt und gebaut wurden. Raumfahrtpolitik hin zu einer stärkeren Anwenderorien- Nationale und internationale Fernsehprogramme werden tierung zu fördern. Die Projekte Galileo und GMES ste- dort vor allem über Satellitenschüsseln empfangen. hen hier als Beispiele für einen Paradigmenwechsel. 8116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Peter Hettlich (A) Große Potenziale für die Zukunft stecken in einer Er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) weiterung der Kooperation mit Russland, zum Beispiel Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper, über das Programm „Sojus in Kourou“ hinaus, in der FDP-Fraktion. eventuell gemeinsame zukünftige Trägersysteme entwi- ckelt werden könnten. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber auf dem Teppich bleiben!) Es ist wichtig, dass die Kompetenz kleiner und mit- telständischer Unternehmen in der Raumfahrtindustrie Cornelia Pieper (FDP): erhalten bleibt, besonders auch in Deutschland. Deshalb Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie ken- setzen wir uns dafür ein, dass ihre Interessen bei der Ver- nen vielleicht den Song der Gruppe Karat, in dem es gabe von Entwicklungsprogrammen und Aufträgen im heißt: „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben europäischen Rahmen angemessen berücksichtigt wer- dunkle Jahre überstehen.“ Die Brücken, die die FDP- den. Bundestagsfraktion mit ihrem Antrag „Stärkung der eu- ropäischen Raumfahrtpolitik – Gewinn für den Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schafts- und Forschungsstandort Deutschland“ vom und bei der SPD sowie des Abg. Kurt J. Juni 2003 geschlagen hat, tragen offensichtlich, sonst Rossmanith [CDU/CSU]) würden heute nicht Ihre Anträge vorliegen. Wenn auch nicht sieben Jahre, so doch sieben Monate mussten wir Mit der gemeinsamen Initiative für einen starken warten – auch im für die Forschung zuständigen Aus- Luft- und Raumfahrtstandort in Ostdeutschland wollen schuss –, um das Thema überhaupt diskutieren zu kön- wir deutlich machen, dass es ein großes Potenzial für ein nen. drittes Zentrum der Raumfahrtindustrie neben Hamburg/ Bremen und München an den Standorten Berlin-Ad- (Jörg Tauss [SPD]: 16 Jahre mussten wir lershof oder im Raum Dresden gibt. Hier gilt es, eine warten!) übergreifende Zusammenarbeit und eine stärkere Vernet- zung der bestehenden Kompetenzzentren anzuregen und Aber, Herr Tauss, wir wissen es zu schätzen, dass das zu organisieren. Thema jetzt auf der Tagesordnung steht. Vielleicht noch eine Parallele zu dem deutschlandweit Mir persönlich liegt besonders am Herzen, junge erfolgreichen Lied von Karat: Es wurde zweimal erfolg- Menschen für die Raumfahrt und die damit verbundenen reich gecovert, einmal von den Puhdys und dann von ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengänge Peter Maffay. „Erfolgreich gecovert“ ist das richtige Ur- zu interessieren. Ihnen müssen wir mit unserer nationa- teil über die Anträge von SPD und Grünen sowie von (B) len wie europäischen Raumfahrtpolitik echte und ver- der Union, die uns heute vorliegen. SPD und Grüne ha- (D) lässliche Zukunftsperspektiven bieten. All dies nützt ben die Analysefähigkeit der FDP-Opposition genutzt aber wenig, wenn nicht bereits in den Schulen das Inte- resse an Astronomie geweckt und gefördert wird. Noch (Jörg Tauss [SPD]: Oi!) gibt es vor allem in den neuen Bundesländern Astrono- und einen forschungspolitisch betrachtet guten Antrag mie als Pflichtfach. Es wäre höchst bedauerlich, wenn formuliert. Herr Schulz, ich bitte Sie, zuzuhören. Herr sich – wie jetzt in Sachsen – die Bestrebungen durch- Tauss, kommen Sie im Ausschuss bitte nicht auf die setzten, die Unterrichtung dieses wichtigen und interes- Idee, zu sagen, der Antrag der FDP sei in Teilen über- santen Schulfaches dem Rotstift zu opfern. holt. Er ist immer noch weitaus aktueller als Ihrer. (Jörg Tauss [SPD]: Technikfeindlich sind die (Beifall bei der FDP – Hans-Josef Fell Sachsen! – Gegenruf der Abg. Cornelia Pieper [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unser Antrag [FDP]: So würde ich das nicht bezeichnen!) ist besser!) Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte an- Das Jahr der Technik und der Innovation hat gerade sprechen. begonnen. Die Fraktionen von SPD und Grünen haben offensichtlich gerade noch zur rechten Zeit erkannt, dass es an der Zeit ist, die Triebwerke zu zünden, damit diese Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesregierung endlich abhebt und Raumfahrtpolitik Allerhöchstens einen Punkt. aktiv gestaltet. ( [Starnberg] [SPD]: 16 Jahre Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lang sind Sie nicht abgehoben!) Okay. – Ich wollte noch kurz etwas zur ISS sagen. Was nutzt aber die Zündung, wenn es uns nicht gelingt, Wir leisten einen großen Beitrag und wir stehen zu den die Projekte auf die Schiene zu setzen? Verträgen. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Damit ist es auch genug. Wir werden in Zukunft unsere Schwer- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: So ist es! – punkte auf die unbemannte Raumfahrt legen. Dr. Uwe Küster [SPD]: Rakete oder Schie- ne? – Jörg Tauss [SPD]: Falsches Bild!) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Nehmen wir Galileo. An welcher Stelle können wir in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Verhandlungen mit den USA über die Sendefrequen- und bei der SPD) zen des Galileo-Systems die deutsche Position erken- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8117

Cornelia Pieper (A) nen? Ja, wir wollen eine Public Private Partnership bei (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Ich (C) der Umsetzung von Galileo, des weltweit besten und ge- habe noch eine Zwischenfrage zur mittelfristi- nauesten Satellitennavigationssystems. Seine Genauig- gen Finanzplanung und kündige sie schon ein- keit von 1 Meter gründet sich auf der verwendeten Fre- mal an!) quenz. Die Amerikaner wollen unsere Verwendung der Signalstruktur BOC 22, wodurch wir eine Genauigkeit Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung von 1 Meter erreichen, verhindern. Wenn wir uns nicht und Forschung: durchsetzen, wir also eine andere Signalstruktur verwen- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten den, ist unser Wettbewerbsvorteil gegenüber dem ameri- Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kanischen GPS-System verspielt. Heute, mit einem drei- Der Wettlauf zum Mars zwischen Amerika und Europa jährigen Vorlauf, sind wir auf dem Markt interessant. hat die Raumfahrt in den Mittelpunkt des öffentlichen Genau dieser Markt ist jedoch die Bedingung dafür, dass Interesses und der öffentlichen Debatte katapultiert. Ich PPP überhaupt funktionieren kann. finde, das war gut. Nehmen wir den Trägerbereich, also alles, was wir unter Ariane V, dem europäischen Trägersystem für ei- (Beifall bei der SPD) nen freien und unabhängigen Zugang zum Weltraum, Das hat nämlich gezeigt, dass die europäische Raum- verstehen. Völlig zu Recht stellen Sie fest, dass die Rolle sonde Mars Express, die uns die fantastischsten Bilder, der Industrie beim Trägersystem gestärkt worden und die wir jemals sehen konnten, geliefert hat, wirklich ein dass die EADS Hauptauftragnehmer geworden ist. Sie Erfolg ist. kommen an dieser Stelle aber über ein allgemeines Lob der Bundesregierung nicht hinaus. Ich vermisse die Auf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ forderung an die Bundesregierung – dies soll an dieser DIE GRÜNEN) Stelle von unserer Fraktion aus geschehen –, das Ergeb- Durch die Bilder wurde deutlich, dass deutsche Wissen- nis nicht zu verspielen. Ich sehe nämlich die Gefahr, schaft und Ingenieurkunst ein wirklich brilliantes Meis- dass die Führungsrolle der EADS, die 51 Prozent betra- terstück geliefert haben; gen sollte, durch die italienische Position bereits wieder infrage gestellt ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ilse Aigner (Beifall bei der FDP) [CDU/CSU] und der Abg. Cornelia Pieper In Ihrem Antrag erwähnen Sie unseren nationalen [FDP]) Haushalt und somit auch die Ausgaben für Forschung denn die Kamera, die uns diese Bilder geliefert hat, (B) und Entwicklung dieser rot-grünen Bundesregierung mit (D) wurde von einem deutschen Wissenschaftler an einem keinem Wort. deutschen Forschungsinstitut entwickelt. Wichtige In- (René Röspel [SPD]: Die sind gut!) strumente – auch darauf will ich hinweisen –, auch bei der amerikanischen Marsmission, stammen aus Das Signal von Rot-Grün für das Jahr der Technik, weni- Deutschland. Lassen Sie mich hier ganz unbescheiden ger Treibstoff für das nationale Programm auszugeben, sagen, dass beide Marsmissionen, die europäische und was fatale Folgen für den Kompetenzerhalt der deut- die amerikanische, für Deutschland ein voller Erfolg wa- schen Industrie vor allem im mittelständischen Bereich ren. hat, ist arbeitsplatzgefährdend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jörg Tauss [SPD]: Wovon reden Sie jetzt?) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Leis- CDU/CSU und der FDP) tungskraft der deutschen Raumfahrtindustrie ist eine Deutsche Forscher und Forscherinnen gehören in der wesentliche Bedingung für die Vergabe von lukrativen Raumfahrt zur Weltspitze. Das ist eine Bestätigung für Aufträgen aus den europäischen ESA-Programmen. unsere Weltraum- und Raumfahrtpolitik. Das ist auch Deswegen sollten Sie hier die richtige Weichenstellung eine Bestätigung für die Leistungsfähigkeit der deut- vornehmen. Wir freuen uns jedenfalls auf die Diskussion schen Wissenschaft und Forschung. Im Vordergrund im Ausschuss und bedauern, dass es so lange gedauert steht für die Bundesregierung der konkrete Nutzen für hat, bis Sie Ihre Anträge vorgelegt haben. Aber besser den Menschen. Das beinhaltet sowohl den ökonomi- spät als nie! schen als auch den Nutzen an neuen Erkenntnissen und Vielen Dank. Fortschritten in der Wissenschaft. Wir setzen bei der Er- kundung des Weltalls auf modernste Robotik, nicht auf (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Science-Fiction. Das ging ab wie eine Rakete! – Jörg Tauss [SPD]: Frau Kollegin, bei uns geht Geschwin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ digkeit nie vor Qualität!) DIE GRÜNEN) Lieber Kollege Nüßlein, ich freue mich schon darauf, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenn der erste Amerikaner den Mond betritt und ihm ein Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin europäischer Roboter die Tür öffnet. Das zeigt, wer die Edelgard Bulmahn. Nase vorn hat. 8118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ariane V wieder flottzumachen. Wir in Europa wollen (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einen eigenständigen Zugang zum Weltraum erhalten. Es ist eine richtige Politik, dass wir darauf nicht verzichten, Unser Land braucht einen kräftigen Innovations- sondern dass wir die Ariane zukunftsfähig machen wol- schub. Raumfahrt schafft einen solchen Innovations- len. schub. Bereits heute ist die raumfahrtgestützte Infra- struktur die Grundlage für kommerzielle Anwendungen Der ESA-Ministerrat hat im Mai 2003 die Weiterent- auf Hochtechnologiemärkten, die weiter wachsen wer- wicklung der neuen Ariane-V-Version auf den Weg ge- den und in naher Zukunft eine Wertschöpfung von vielen bracht und gleichzeitig – dieses Ziel habe ich seit vier Milliarden Euro erwarten lassen. Navigationssysteme al- Jahren konsequent verfolgt – den europäischen Träger- ler Art für den Personen- und Güterverkehr, Wetter- sektor neu geordnet. Ich teile die Bedenken, die Sie, dienste oder Erdbeobachtungssysteme – das ist hier Frau Pieper, genannt haben, nicht. Wir haben eine klare schon genannt worden – dienen einer effektiveren Mobi- Verantwortlichkeit aufseiten der Industrie lität und einem besseren Verkehrsfluss. Sie dienen auch dazu, neue Rohstoffquellen zu erschließen. Sie dienen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weiterhin dazu, dass wir zum Beispiel frühzeitig über DIE GRÜNEN) Unwetter informieren und damit Menschenleben schüt- und eine eindeutige, verbindliche Festlegung bei den zen können. Diese wenigen Beispiele zeigen deutlich, Preisen erreicht. Wir haben es auch geschafft, dass es welche Rolle Weltraumtechnologie inzwischen in unse- künftig nur noch einen industriellen Hauptauftragneh- rem täglichen Leben spielt. mer für Entwurf, Entwicklung und Fertigung der Ariane- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Raketen geben wird. Das ist das Ziel, das ich seit vier DIE GRÜNEN) Jahren konsequent Schritt für Schritt verfolgt und jetzt erreicht habe. Es ist ein Erfolg, dass wir das endlich ge- Die Bundesregierung setzt ihre Schwerpunkte genau schafft haben. dort, wo wir eine sehr große Hebelwirkung auf Beschäf- tigung und wirtschaftliches Wachstum erwarten kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen. Deshalb spielt für uns das europäische Satellitenna- DIE GRÜNEN) vigationssystem Galileo eine große Rolle. Wir erwarten – das sind die Schätzungen – bis 2008 europaweit über Eine erfolgreiche Raumfahrt erfordert große finan- 100 000 Arbeitsplätze. Das war einer der Gründe, wa- zielle Anstrengungen. Die öffentliche Hand in Deutsch- rum sich die Bundesregierung nachdrücklich für eine land investiert jetzt bereits rund 1 Milliarde Euro in deutsche Führungsrolle eingesetzt hat. Raumfahrttechnologie. Die hohen Investitionen, die wir (B) für den weiteren Erfolg auf diesem Gebiet aufbringen (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ müssen, werden wir nur gemeinschaftlich in Europa auf- DIE GRÜNEN) bringen können. Zwischen der Europäischen Raumfahrt- Mit Erfolg: Wir haben in harten Verhandlungen die Sys- agentur und der EU muss es daher eine enge Zusammen- temführung und den Sitz von Galileo Industries nach arbeit, aber auch eine klare Aufgabenteilung geben. Die Deutschland geholt. EU muss die Raumfahrt für ihre Politik nutzen. Die ESA muss dafür die technologischen Grundlagen schaffen. Galileo ist aber nur ein Projekt. Mit dem Satelliten Ich würde mich sehr freuen, wenn das gesamte Parla- TerraSAR und anderen Vorhaben, die mein Ministerium ment diese Position unterstützen würde, denn das sind fördert, steigen wir in die Kommerzialisierung der Erd- die Aufgaben, die wir jetzt in den Verhandlungen erfül- beobachtung ein. Dabei gehen wir den Weg der Public len müssen. Private Partnership, der hier gefordert worden ist. Die- sen Weg gehen wir sowohl bei Galileo als auch bei dem (Jörg Tauss [SPD]: Nationales Interesse!) Projekt TerraSAR. Die Bundesregierung richtet ihre Raumfahrtförderung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darauf aus, wirtschaftlich und wissenschaftlich interes- DIE GRÜNEN) sante Felder stärker zu besetzen und die deutsche Indus- trie in strategisch wichtigen Bereichen noch besser zu Wir schlagen damit Brücken zwischen öffentlicher und positionieren. Das ist für mich auch eine wichtige privater Finanzierung und setzen so Mittel effektiver und Standortpolitik. Ich bin stolz darauf, dass es mir gelun- besser ein. Gleichzeitig sorgen wir mit Public Private gen ist, in den Verhandlungen durchzusetzen, dass Partnership dafür, dass die Ergebnisse aus Wissenschaft Deutschland jetzt Aufträge in Höhe von rund und Forschung schneller Zugang zu den Märkten finden. 110 Millionen Euro beim Bau der Ariane-Rakete zusätz- Das ist unsere Politik und unsere Strategie. lich erhält. Ich komme zu dem Trägersektor, der hier angespro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen worden ist. Es ist richtig: Wir haben leider erleben DIE GRÜNEN) müssen, dass die Konstruktion der Ariane V einen Feh- ler aufwies. Deshalb mussten wir unsere Anstrengungen Damit haben wir unsere Position in der ESA deutlich darauf konzentrieren, das europäische Trägersystem verbessert. Das heißt in der Konsequenz, dass wir Ar- wieder funktionsfähig und zukunftssicher zu machen. beitsplätze in Deutschland gesichert haben. Diese Ar- Das hat zur Folge, dass wir in den kommenden Jahren beitsplätze wird es auch in Zukunft in Deutschland ge- mehr Mittel in die ESA investieren müssen, um die ben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8119

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Kurz gesagt, meine sehr geehrten Damen und Herren: Das ist das Besorgnis Erregende. Weder die Entwicklung (C) Ich hoffe, dass wir gemeinsam sowohl hier im Parlament dieser Weltraumwaffen noch eine spätere Stationierung als auch in allen Verhandlungen dafür streiten, dass im Weltraum sind bisher durch irgendwelche rüstungs- Deutschland in Zukunft ein wichtiges Land in der Raum- beschränkenden Vereinbarungen untersagt. fahrtforschung und Raumfahrttechnologie bleiben wird. Auch wenn derzeit nur ein kleiner Kreis von Staaten Wenn uns dieser Wunsch eint, dann wird uns das auch technologisch und ökonomisch in der Lage ist, derartige gelingen. Waffensysteme zu entwickeln, droht ohne Vereinbarun- Vielen Dank. gen zur Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle mittel- bis längerfristig ein allgemeines Wettrüsten im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weltraum mit heute nicht vorhersehbaren Auswirkungen DIE GRÜNEN) für die Stabilität des internationalen Staatensystems und die globale Sicherheit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Seitens der USA besteht eine technologische und (Jörg Tauss [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass ökonomische Überlegenheit über praktisch alle anderen Sie sich auch in der Raumfahrt auskennen, Staaten. Amerika strebt nach der von ihm so genannten Kollege Polenz! – Gegenruf des Abg. Kurt J. Space Control, um Bedrohungen auf der Erde und aus Rossmanith [CDU/CSU]: Fast so gut wie der dem Weltraum abzuwehren, auch im Zusammenhang Tauss!) mit den Überlegungen zu einer Raketenabwehr vor dem – Alle Parlamentarier sind Multitalente. Hintergrund von Failed States, ballistischen Raketen, Massenvernichtungswaffen und Terroristen. Ruprecht Polenz (CDU/CSU): (Jörg Tauss [SPD]: Was halten Sie davon?) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin kein Multitalent wie der Kollege Tauss. Ich spreche zu – Ich habe Verständnis für diese Bemühungen, Herr Kol- der Vorlage über die militärische Nutzung des Welt- lege Tauss. Ich bin mir sicher, dass wir uns ähnlich ver- raums und die Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im halten würden, wenn wir die technologischen Möglich- Weltraum, also zu dem Bericht, für den ich Ihren Aus- keiten hätten, um uns zu schützen. Allerdings – jetzt schuss loben und für den ich mich bedanken wollte. Es kommt die Einschränkung – werden diese Anstrengun- war etwas voreilig, Ihr Multitalent, Herr Kollege Tauss, gen längerfristig wenig erfolgreich sein, wenn sie nicht auch anderen zu unterstellen. durch Rüstungskontrollvereinbarungen flankiert werden. (B) Denn andere Länder werden nichts unversucht lassen, (D) (Jörg Tauss [SPD]: Ich bin so fasziniert!) um sich eigene militärische Potenziale im Weltraum auf- zubauen. Das mag zwar länger dauern, es ist ihnen aber Ich bedanke mich für die umfassende Darstellung – das ist der springende Punkt – ohne Rüstungskontroll- über den gegenwärtigen Stand und die weiteren Ent- vereinbarungen nicht zu verwehren. Es liegt also auch wicklungstendenzen und die damit verbundenen erhebli- im Interesse der USA, diese Entwicklung zu verhindern. chen Probleme, nämlich die Gefahr eines ungebremsten Rüstungswettlaufs im Weltraum. Der Bericht kommt Es bleibt unrealistisch, anzunehmen, der Weltraum zu sehr realistischen Einschätzungen der leider nicht werde jemals wieder ohne militärische Bedeutung sein. sehr großen Chancen, die vorhandenen Lücken in den Deshalb sollte die Raketenabwehr zumindest zunächst Rüstungskontrollregimen für den Weltraum zu schließen von Rüstungskontrollüberlegungen ausgenommen wer- und das drohende Wettrüsten zu vermeiden. Er macht ei- den, nicht zuletzt deshalb, weil wir ein eigenes Interesse nige konkrete Vorschläge, wo angesetzt werden könnte, an solchen Raketenabwehrsystemen haben. um wenigstens die Diskussion über eine Begrenzung und Kontrolle der Weltraumrüstung wieder in Gang zu Die bisherigen Rüstungskontroll- oder Abrüstungs- bringen. vereinbarungen kamen – das macht das Problem aus – entweder zwischen gleichstarken Gegnern im Kalten Wir müssen nüchtern – vielleicht: ernüchtert – fest- Krieg oder als Vereinbarungen zwischen Staaten, denen stellen: Ein militarisierter Weltraum ist schon lange eine sich Schwächere angeschlossen haben – wie im Atom- Tatsache. Zwar ist derzeit die Stationierung von Nuk- waffensperrvertrag – zustande. lear- und anderen Massenvernichtungswaffen im Welt- raum verboten – auch die Einrichtung von militärischen Jetzt geht es darum, dass stärkere Staaten – insbeson- Stützpunkten oder die Erprobung von Waffen –, aber es dere die USA, aber auch Russland und China – auf Mög- bleiben große Lücken, die genutzt wurden und werden. lichkeiten zur Entwicklung und Stationierung von Welt- So gibt es Satelliten zur Aufklärung, Navigation und raumwaffen verzichten sollen, über die derzeit nur sie Kommunikation mit der Absicht, die Effizienz militäri- verfügen, die aber auf längere Sicht nicht so exklusiv scher Operationen auf der Erde zu steigern. Zwar befin- bleiben werden. den sich noch keine Waffensysteme im Weltraum, mit Was kann getan werden? Seit der zweiten Hälfte der denen unmittelbar auf andere Ziele im Weltraum oder 90er-Jahre ist die Genfer Abrüstungskonferenz nicht auf der Erde eingewirkt werden könnte, aber an der Ent- zuletzt wegen eines Streites über diese Fragen blockiert. wicklung solcher Weltraumwaffen wird gearbeitet, vor Bis dahin hatte die Konferenz jedes Jahr wenigstens ein allem in den USA, aber auch in Russland und China. Ad-hoc-Komitee zur Verhinderung eines Wettrüstens im 8120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Ruprecht Polenz (A) Weltraum eingerichtet. Seit 1995 wollen viele Staaten In dem Antrag der Koalition steht geschrieben, dass (C) dieses Komitee wieder einrichten, damit wenigstens Sie die Wettbewerbsfähigkeit der Raumfahrtindustrie wieder Gespräche über diese Thematik möglich sind. insbesondere in Ostdeutschland verbessern wollen. Al- Dies zu erreichen ist die dringendste politische Aufgabe. lerdings erklären Sie nicht, wie die Bundesregierung Anschließend könnte man sich der schwierigen Auf- diese Forderung umsetzen soll. Sie sagen auch nichts gabe zuwenden, die bestehenden Definitionsschwierig- – in keiner Rede ist darauf eingegangen worden – zur keiten zu klären, die es bei verschiedenen weltraum- Entwicklung der Raumfahrtforschung in den neuen Län- rechtlichen Begriffe und Sachverhalten noch gibt. Diese dern. Also wieder nur ein Lippenbekenntnis? Wir beob- Klärung ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass achten jedenfalls mit großer Sorge, dass immer mehr man in einem nächsten Schritt präzise Verbotstatbe- Spitzenwissenschaftler aus dem Osten nach Bayern ab- stände angehen kann. geworben werden und dass die Forschungsstandorte im Osten langsam austrocknen. Wir sind mit der absurden Angesichts der aktuellen nuklearen Proliferationsge- Situation konfrontiert, dass über den Solidarpakt zwar fahr, die sich an Staaten wie Pakistan festmacht, und der viel Geld in die neuen Länder fließt, dass aber gleichzei- Diskussion um die Weiterverbreitung von Massenvernich- tig immer mehr kreative Menschen in die alten Länder tungswaffen auf der Erde mag die Diskussion über eine auswandern müssen. Ich kann nur davor warnen, die Kontrolle und Begrenzung der Weltraumrüstung als eher Wissenschaftspolitik dem freien Spiel der Kräfte zu nachrangig erscheinen. Aber das wäre eine gravierende überlassen. Fehleinschätzung. Die Bundesregierung sollte deshalb al- les in ihren Kräften Stehende tun, um die internationale Ar- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) beit zugunsten der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskon- trolle im Weltraum wieder in Gang zu bringen. Dass Bayern in der Raumfahrtforschung und -indus- trie so gut dasteht, ist kein Ergebnis des Wettbewerbs der Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Länder, sondern ein Ergebnis massiver politischer Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kurt flussnahme. J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber die Kräfte (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wir haben der Bundesregierung sind sehr lahm!) uns schon immer um die Raumfahrt geküm- mert!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Im Berliner Institut des Deutschen Zentrums für Luft- Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete und Raumfahrt arbeiten noch 350 Menschen, Tendenz Gesine Lötzsch. fallend, und in Oberpfaffenhofen sind es 1 500, Tendenz (B) steigend. Die Max-Planck-Gesellschaft hatte bis Ende (D) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): 1996 noch eine Außenstelle in Berlin-Adlershof mit Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 35 Mitarbeitern – Adlershof wird ja als Technologiezen- ren! In dem Film „Good bye, Lenin!“ übernimmt der trum immer hochgelobt –, die sich mit kosmischer Plas- Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn die Führung der DDR maphysik beschäftigten. Die Außenstelle sollte ein eige- und bereitet die Menschen behutsam auf die Vereinigung nes Institut werden. Aber daraus wurde nichts. Der beider Länder vor. Das war nicht nur witzig, sondern Osten wird in der Raumfahrtforschung also abgehängt. auch klug. Sigmund Jähn und die Raumfahrt spielten in Ich denke, das ist ein schlechtes Zeichen. der DDR eine besondere Rolle. Abgesehen von dem Medienrummel, den heute nur noch Popstars wie (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Jeanette Biedermann erfahren, waren viele Menschen stolz darauf, dass die DDR es geschafft hatte, auf einem Zum Schluss möchte ich noch darauf eingehen, dass Hochtechnologiefeld wie der Raumfahrt Spitzenleistun- wir, die PDS, natürlich die friedliche Nutzung der gen zu erbringen. Raumfahrt unterstützen. Ich habe mit Wohlgefallen ver- nommen, dass Herr Polenz in seiner Rede deutlich ge- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die macht hat, internationale Abkommen für eine friedliche DDR war hinter dem Mond!) Nutzung des Weltraums seien unbedingt erforderlich. Er Die Multispektralkamera MKF 6, die nur noch Multi- hat zwar dargestellt, dass er ein gewisses Verständnis für spektakelkamera genannt wurde, galt seinerzeit als das die Entwicklung einer Raketenabwehr hat. Dies habe ich beste Weltraumauge. Mehr als 100 Geräte in den Kon- nicht mit so viel Wohlgefallen gehört. Aber die Bundes- trollzentren am Boden sowie Technik für Satelliten und regierung sollte die Forderung nach internationalen Ab- Wetterraketen waren „Made in GDR“. Ich rede darüber kommen für eine friedliche Nutzung des Weltraums auf- so ausführlich greifen und alles für ihre Erfüllung tun. Der Weltraum muss waffenfrei werden. Ich glaube nicht, dass er es ist. (Zurufe von der CDU/CSU) Das ist ein Ziel, für dessen Erreichung wir uns gemein- – ich sehe, dass das seine Wirkung nicht verfehlt –, sam einsetzen sollten. (Günther Nooke [CDU/CSU]: Sie müssen ja Vielen Dank. selber lachen!) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] so- weil es eine Entwicklung von Hochtechnologie auf dem wie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD] Gebiet der Raumfahrt in der DDR gab, die jetzt fast vom und des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ Aussterben bedroht ist. DIE GRÜNEN] Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8121

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wieder klargestellt – das ist völlig unumstritten –: Ohne (C) Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär die begleitende Intervention durch Frau Bulmahn Dr. Ditmar Staffelt. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wer ist das eigentlich?) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Arbeit: wäre die Konsolidierung der Ariane-Programme in Eu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ropa nicht möglich gewesen. Herren! Zuerst ein Wort zu Frau Dr. Lötzsch: Im Gegen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ satz zu dem, was Sie hier vorgetragen haben, bemühen DIE GRÜNEN) wir uns – das gilt auch für die ostdeutschen Bundeslän- der –, die Forschungslandschaft in der Luft- und Raum- Ob man mit der EADS oder mit wem auch immer in die- fahrt in Ostdeutschland, die es übrigens schon vor der sem Bereich redet: Das ist unumstritten. Gründung der DDR gegeben hat, wieder in stärkerem Maße zu vernetzen und einzubinden sowie dort zu för- Lassen Sie mich noch eines sagen. Wir brauchen in dern, wo es möglich ist. der Zukunft – das ist sehr wichtig – diesen Kern an Kompetenzen. Wir müssen sehen, dass unsere Work- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne shares auch in der Zukunft für Deutschland im europäi- Kastner) schen Konzert stehen. Dazu gehören die entsprechenden Realität in Deutschland ist aber derzeit, dass die leis- Unternehmen in und rund um München, in Bremen, in tungsfähigen Zentren im Norden und im Süden der Re- Friedrichshafen und anderswo. Es muss mit Argusaugen publik zu finden sind. immer darüber gewacht werden – dafür müssen wir je- denfalls meines Erachtens Sorge tragen –, dass durch un- Es ist viel Richtiges gesagt worden. Ich habe mich sere Aktivitäten das unterlegt wird, was wir hier am hier eigentlich nur in meiner Rolle als Koordinator der Standort können. Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt zu Worte gemeldet. Ich freue mich darüber, dass es ne- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ben der Kritik großes Einvernehmen darüber gibt, dass BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des die Raumfahrt für Deutschland in technologischer, wirt- Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]) schaftlicher und auch in strategisch-politischer Hinsicht Ich glaube, dass wir auch sehr erfolgreich dabei ge- eine ganz wichtige Rolle einnimmt, die wir allesamt un- wesen sind, Rückflussdefizite zu kompensieren und da- terstützen wollen. mit unsere Industrie weiter zu stärken. Auch das ist ein (B) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Punkt, den hier niemand bestreiten kann; im Gegenteil. (D) GRÜNEN und der CDU/CSU) Ein allerletzter Punkt von meiner Seite. Er betrifft die Wir wollen Abhängigkeiten vermeiden. Wir wollen mittelständische Industrie in diesem Bereich. Wir Wettbewerb in der Welt – das ist von einigen Rednern zu müssen alles daransetzen, dass diese sehr leistungsfähi- Recht angemerkt worden –, auch in Fragen, die die Zu- gen Unternehmen – dazu gehören auch sehr leistungsfä- kunft und damit die Raumfahrt betreffen. hige Mittelständler in Ostdeutschland – als Zulieferer, als Ausrüster in die Gesamtpakete der Beauftragung ein- Wir werden natürlich auch im Wettbewerb mit den gebunden werden. Ich glaube, dass wir gerade mit diesen Vereinigten Staaten von Amerika bestehen müssen. sehr leistungsfähigen mittelständischen Hochtechnolo- Die Zahlen sind wie folgt: In den Vereinigten Staaten gieunternehmen das notwendige Know-how für die sind rund 120 000 Menschen in der Raumfahrt beschäf- Raumfahrtprogramme der ESA liefern können und so tigt und steht ein Budget von 12 Milliarden Euro bereit. letztlich technologischer Motor bleiben. Wir sollten Bei uns in Europa sind es etwa 33 000 Beschäftigte und nicht diejenigen sein, die die großen Teile herstellen und ein Budget von 4,5 Milliarden Euro. Wir werden einen versuchen, darüber ihr Geld zu verdienen. Bei großen Fördermittelwettlauf – das müssen wir sehen – nicht ge- Teilen gibt es oft ruinösen Wettbewerb. Deshalb müssen winnen können. Wir müssen deshalb andere Qualitäten wir uns in besonderer Weise den Sophisticated Pro- in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen unsere Potenziale ducts widmen. Das ist letztlich die Aufgabe der Politik, noch effizienter nutzen. Wir müssen uns konzentrieren. die wir betreiben, die Frau Bulmahn in ihrem Kompe- Wir müssen Schwerpunkte setzen. Wir müssen unsere tenzbereich betreibt und die begleitend die anderen Res- Industrie motivieren, in diesem Bereich noch stärke An- sorts betreiben. Im Gegensatz zu dem, was vorhin ein strengungen zu unternehmen. Redner behauptet hat, gibt es sehr wohl eine gut koordi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nierte und abgestimmte Politik der Bundesregierung für DIE GRÜNEN sowie des Abg. Kurt J. den Bereich Luft- und Raumfahrt. Rossmanith [CDU/CSU]) Schönen Dank. In einer Phase, in der es der Raumfahrt in Europa (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht sehr gut geht, möchte ich an dieser Stelle noch ein- DIE GRÜNEN) mal ganz ausdrücklich die außerordentlich positive und konstruktive Rolle der Ministerin Bulmahn hervorheben. Anders, als in den Anmerkungen der Opposition zum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausdruck kam, wird von der deutschen Industrie immer Ich schließe die Aussprache. 8122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Zweck der Anfrage war, aussagekräftige Daten zur (C) den Drucksachen 15/2394, 15/2334 und 15/1371 an die Kulturstatistik zu erhalten. Antwort der Bundesregie- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- rung: schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Künstlerinnen und Künst- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: ler … hätte … umfassende Ermittlungen und Erhe- bungen erfordert, … Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), – Ja, richtig: „umfassende Ermittlungen und Erhebun- Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der gen“. Was, wenn nicht diese, waren denn Sinn und Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Zweck der ganzen Übung? Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Daniel Bahr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Münster), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP Offensichtlich hat die Bundesregierung nie an eine ernst- hafte Beantwortung der Großen Anfrage gedacht. Große Wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Anstrengungen hierfür hat sie jedenfalls nicht unternom- künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs men. in Deutschland Alle Experten auf dem Gebiet der Kulturstatistik ha- – Drucksachen 15/1402, 15/2275 (neu) – ben im Rahmen eines öffentlichen Hearings im Dezem- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ber erklärt, von der Bundesregierung nicht befragt wor- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich den zu sein. Wer nicht fragt, der erhält keine Antworten höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. und hat dann natürlich auch keine Erkenntnisse. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wer gin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. fragt, bekommt auch keine Antworten!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Sehr richtig, Herr Otto. Wenn die Bundesregierung gefragt hat, dann nimmt Gitta Connemann (CDU/CSU): sie es mit der Wiedergabe der Antworten nicht so genau. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der Gefragt war unter anderem, wie deutschen Künstlern Berg kreißte und gebar eine Maus.“ Dieser Vers von und Galerien der Zugang zum ausländischen Kunst- (B) Horaz drängt sich nach der Lektüre der Antwort der markt erleichtert werde. Die Bundesregierung deutet (D) Bundesregierung auf die Große Anfrage auf. Horaz blumenreich eigene Initiativen an. Das hört sich aber war ein Satiriker. Die Satire ist an ihrem Platz reizvoll; beim Bundesverband Deutscher Kunstverleger vollkom- aber die Politik sollte ihr keine Bühne geben. Nur hat die men anders an: „Derartige Initiativen gibt es bedauerli- Bundesregierung dies in diesem Fall getan. cherweise nicht.“ Ist das die getreue Wiedergabe einer Antwort? Wohl nicht! Ihre Antworten sind durchweg kleine und leider an allzu vielen Stellen auch keine. So war nach dem durch- Im Übrigen kommt die Bundesregierung zu ganz ver- schnittlichen Einkommen angestellter Künstlerinnen und blüffenden Erkenntnissen. Gefragt war nach den Plänen Künstler gefragt. Antwort: „Der Bundesregierung liegen zur Einrichtung von speziellen Berufsberatungspro- hierzu keine Erkenntnisse vor.“ Gefragt war nach der grammen für Künstlerinnen und Künstler. Solche derzeitigen Rentensituation bei selbstständigen Künstle- gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit nicht. Nach rinnen und Künstlern. Antwort: Es „liegen der Bundes- dem Willen der Bundesregierung wird sich das auch regierung keine gesicherten Erkenntnisse vor“. Gefragt künftig nicht ändern, weil sich derartige Programme war nach der Höhe der Einkünfte von Kunstverwertern. „einschränkend auf die berufliche Neuorientierung aus- Antwort: „Der Bundesregierung liegen hierüber keine wirken könnten“. – Alle Achtung! Nach der Erkenntnis Angaben vor.“ Gefragt wurde nach der wirtschaftlichen der Bundesregierung steht also eine Berufsberatung und sozialen Lage von Restauratoren und Restauratorin- durch die BA einer beruflichen Neuorientierung im nen. Antwort: „Besondere Erkenntnisse … hat die Bun- Wege. desregierung nicht.“ Was uns hier von der Regierung geboten wird, kann Nur die Begrenzung der Redezeit hindert mich daran, nicht ernst gemeint sein. Es kann von uns auch auf kei- diese Aufzählung fortzuführen. Es gab eine Serie von nen Fall ernst genommen werden. Fehlanzeigen. Dabei versteht es die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doch als ihre Aufgabe, „die wirtschaftliche und soziale Lage im Kulturbereich zu beobachten, …“. Beobachten Dazu passt auch der wiederholte Hinweis, im Übrigen wollen und sich dann mit der stereotypen Formel „Es lie- erwarte die Bundesregierung mit Interesse die Ergeb- gen keine Erkenntnisse, keine Angaben, keine Informa- nisse der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- tionen vor“ begnügen, das ist Satire. Diese Leerformeln land“. Wir alle wissen, dass der Bericht der Kommis- sind nämlich kein einmaliger Kunstfehler im Programm; sion erst in zwei Jahren vorliegen wird. Unsere Arbeit in sie sind das Programm. Dies bekennt die Bundesregie- der Enquete-Kommission entlässt Sie, verehrte Frau rung ganz offen. Staatsministerin Dr. Weiss, nicht aus Ihrer Verantwor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8123

Gitta Connemann (A) tung. Denn durch die Beantwortung der Großen Anfrage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) sollte ja gerade eine Grundlage für unsere Arbeit in der DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- Kommission geschaffen werden. furt] [FDP]: Eine etwas längliche Frage!) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Ist ja Un- sinn!) Gitta Connemann (CDU/CSU): Wenn die Bundesregierung die Kulturschaffenden Die Frage war interessant für eine Frage. Ich weiß das und ihre Interessen wirklich so ernst nehmen will wie nicht, weil ich den Auftrag bei Einsetzung der Enquete- wir, dann sind wir in der Enquete-Kommission gerne zu Kommission nicht nur anders verstanden habe, sondern einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Ich biete Ih- ihr Programm nen, Frau Staatsministerin, insoweit einen offenen Dia- (Zuruf des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] log an. Wir alle stehen ja in der Pflicht, für eine nachhal- [SPD]) tige Entwicklung von Kunst und Kultur in Deutschland Sorge zu tragen. Darum müssen wir uns gemeinsam und – darf ich jetzt auch ausreden? – nach dem Einsetzungs- ernsthaft bemühen. Die Bundesregierung wird diesem beschluss auch völlig anders verstehen muss. Sie wissen, Anspruch mit ihrer Antwort jedenfalls nicht gerecht. dass wir in der Enquete-Kommission häufig über die Große Anfrage gesprochen haben. Sie wird auch Thema Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Sitzung am 1. März sein, an der die Frau Staats- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ministerin teilnehmen wird. Sie wissen auch, dass die Kollegen Barthel? Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet wurde, um das vorhandene Datenmaterial zu sichten. Dann muss man sich aber auch ernsthaft bemühen, es zu sich- Gitta Connemann (CDU/CSU): ten. Gerade diese ernsthafte Bemühung ist nicht zu er- Nachdem ich die letzten zwei Sätze gesprochen habe kennen. Als schlichte Abgeordnete in diesem Fall finde und mit meiner Rede fertig bin, gerne. Aber dann wäre ich, dass die Bundesregierung meine Rechte, die ich als das ja keine Zwischenfrage mehr. souveräne Abgeordnete habe und in Form einer Großen Anfrage mit der Bitte um Information wahrnehmen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kann, einfach missachtet hat. Das bringe ich hiermit zum Nein, dann ist es keine Zwischenfrage mehr. Lassen Ausdruck. Sie also die Zwischenfrage zu? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich darf dann auch als schlichte Abgeordnete mit fol- (B) Gitta Connemann (CDU/CSU): (D) Ich lasse die Zwischenfrage zu. gender Beurteilung schließen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Nein, Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Sie sind Vorsitzende der Enquete-Kommis- Frau Connemann, ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst sion! Gott bewahre!) ist, dass Sie hier die Dinge ein bisschen durcheinander bringen. Sie erwarten von der Bundesregierung Daten – Ich bin zwar Vorsitzende der Enquete-Kommission, und Informationen. Dabei waren wir uns doch alle einig, aber in diesem Fall auch schlichte Abgeordnete. – Die dass, nachdem die vorhandenen Daten seit 30 Jahren Bundesregierung wird aus meiner Sicht den an sie ge- nicht mehr überprüft oder gar neu erfasst worden waren, stellten Anforderungen nicht gerecht. Die Kritik an die- die Enquete-Kommission unter anderem deswegen ein- sem Opus kann deshalb nicht besser als mit einem Aus- gesetzt wurde, um diese Daten zu erfassen. Jeder weiß, spruch von Marcel Reich-Ranicki auf den Punkt wie schwierig das ist. Als wir uns darüber verständigten, gebracht werden: Vorhang zu, wir sind betroffen und – die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ein- alle Fragen offen! zusetzen Vielen Dank. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wo ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn die Frage?)

– ich frage, ob sie das weiß; das ist die schlichte Frage –, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: war dies als eine der Grundsäulen der Arbeit der En- Das Wort hat die Frau Staatsministerin Dr. Christina quete-Kommission vorgesehen. Ich frage mich nun, Weiss. wozu wir eine Enquete-Kommission benötigt hätten

(Zuruf von der CDU/CSU: Das fragen Sie?) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- – das frage ich Sie –, wenn die Daten, die Sie gerne hät- kanzler: ten, schon existierten. Glauben Sie nicht, dass es viel- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mehr Aufgabe der Enquete-Kommission ist, diese Arbeit Herren! Wenn der Deutsche Bundestag über die Lage zu erbringen? Denn das geht über das hinaus, was die von Künstlerinnen und Künstlern in diesem Lande Bundesregierung bewältigen kann. Somit können Sie debattiert, so hat dies immer noch den Hauch des jetzt nicht von der Bundesregierung etwas erwarten, was Ungewöhnlichen – leider, muss man hinzufügen. Dabei eigentlich die Aufgabe der Enquete-Kommission ist. wären wir gehalten, gerade in diesem Hohen Hause in 8124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) selbstverständlicher Regelmäßigkeit einen Bericht zur sie nur auf eigenen Einschätzungen der Künstlerinnen (C) geistigen Lage der Nation zu erstatten. und Künstler beruht, zeigt diese Zahl doch sehr beein- druckend, dass wir es hier mit einer unterdurchschnittli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Einkommensentwicklung zu tun haben. Zyniker sowie des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] würden wohl von auskömmlicher Armut sprechen. Das [SPD]) kann uns nicht beruhigen, das treibt uns um und das ver- Dabei darf es nicht um Zuständigkeiten gehen. Die Ent- langt nach weiteren Modellen der Hilfe zur Selbsthilfe. wicklung der Kultur in Deutschland muss auch ein An- Glauben Sie mir: Die Stars, die alle kennen und von liegen des Deutschen Bundestages sein. denen wir glauben, wir wüssten, wie hoch ihre Honorare Es war deshalb nur folgerichtig – Eckhardt Barthel sind, sind weitaus rarer, als wir alle vermuten. hat darauf hingewiesen –, dass die Regierungsfraktionen Die Bundesregierung wird zielgenau das ihr Mögli- den Anstoß dafür gegeben haben, endlich eine Enquete- che tun, um Künstlerinnen und Künstler weiter zu ent- Kommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen. lasten. Wir werden ein Zweites Gesetz zur Regelung des Frau Connemann, wir warten natürlich gespannt auf die Urheberrechts in der Informationsgesellschaft in den Ergebnisse dieser Kommission. Sie ist unendlich wichtig Deutschen Bundestag einbringen. Wir denken dabei für die Erstellung eines relevanten Befundes über den auch über die seit langem geforderte Ausstellungsver- Zustand der Kulturlandschaft Deutschlands. Dabei wird gütung und das Künstlergemeinschaftsrecht nach. vor allem über die wirtschaftliche und soziale Lage Wie Sie wissen, setzt sich diese Koalition dafür ein, dass von Künstlerinnen und Künstlern zu berichten sein. für bildende Künstlerinnen und Künstler auch ein Mo- Statistik ist hier nicht in jedem Fall besonders sinn- dell für Ausstellungshonorare entwickelt wird. Gleich- voll. Künstler/Künstlerin ist keine Berufsbezeichnung. wohl wird dabei natürlich zu klären sein, wie das prak- Die Berufe, die sich hinter dieser Bezeichnung verber- tisch aussehen kann, ohne zum Beispiel Museen in gen können, sind so zahlreich wie alle anderen Berufe. Probleme und Nöte zu stürzen. Hier suchen wir das in- Für Kreative gibt es auch keine sozialen Mindeststan- tensive Gespräch mit privaten und öffentlichen Ausstel- dards. Künstlerinnen und Künstler leben und arbeiten lungsmachern. Niemand hat ein Interesse daran, dass naturgemäß nach anderen Prämissen, nach Werten und Ausstellungspläne durch zusätzliche Belastungen zu- Grundsätzen, die sich nicht einfach in ein gewohntes So- nichte gemacht werden. zialraster fügen. Künstlerinnen und Künstler benötigen (Beifall bei der SPD) Freiräume, die ihnen erlauben, kreativ zu arbeiten, die Gesellschaft zu befruchten, Anstöße zu geben. Das ist Aber die künstlerische Leistung ist ein Wert an sich und die, so meine ich, sollte auch durch ein angemessenes (B) der Bundesregierung bewusst. Dies zu erreichen ist auch (D) eine meiner Aufgaben. Honorar belohnt werden. Seit einigen Jahren sind wir dabei, bürokratische Wenn wir das Urheberrecht neu justieren, dann tun Hürden, die die wirtschaftliche und soziale Lage der wir dies auch deshalb, weil wir den Künstlern eine ange- Künstlerinnen und Künstler tangieren, systematisch aus messene Vergütung sichern wollen. Hier hinkt im Übri- dem Weg zu räumen. Zu nennen ist hier sicher an erster gen das geltende Recht den technischen Möglichkeiten Stelle das Projekt der Kulturverträglichkeitsprüfung, hinterher. die auf neue Gesetze angewendet wird und die sich Die jetzige Bundesregierung hat weitere steuerliche bereits in den ersten anderthalb Jahren mehrmals segens- Vergünstigungen für Künstlerinnen und Künstler reich bewährt hat. Außerdem ist es vor vier Jahren durchgesetzt. Ich erinnere an die existenziell wirklich gelungen, die Novelle des Künstlersozialversiche- notwendigen und weitreichenden Verbesserungen bei rungsgesetzes auf den Weg zu bringen. Im Sinne der der Besteuerung ausländischer Künstler. Weiterhin Kreativen ist auch, dass die Besteuerung ausländischer konnte der Übungsleiterfreibetrag ermöglicht und konn- Künstler reformiert werden konnte, ten Erleichterungen bei der Umsatzsteuer verankert wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den. DIE GRÜNEN) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das wollen die abschaffen!) dass das neue Urhebervertragsrecht in Kraft trat und das Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Infor- Für weitere steuerliche Vergünstigungen im künstleri- mationsgesellschaft zustande kam. Mit all diesen wichti- schen Bereich zu kämpfen ist in dieser Zeit – das wissen gen Gesetzeswerken haben Regierung und Parlament er- Sie alle – natürlich besonders schwer. Die Lage der öf- folgreich einen Teil des Reformstaus aufgelöst. Vor fentlichen Haushalte ist angespannt wie nie. Wir können allem aber haben sie die Sorgen und Nöte der Künstle- also nur langsam vorankommen. Mit dem Heraufsetzen rinnen und Künstler ernst genommen. des Grundfreibetrages zu Beginn dieses Jahres ist dies beispielhaft geschehen. Die wirtschaftliche Situation von Künstlerinnen und Künstlern ist nach wie vor alarmierend. Nach Angaben Wenn wir die Rahmenbedingungen des Kunstmarkts der Künstlersozialkasse lag das durchschnittliche Jahres- gestalten, dann muss auch auf internationale Belange einkommen der Freiberufler im vergangenen Jahr – hö- Rücksicht genommen werden. Das gilt in besonderer ren Sie genau zu! – bei 11 144 Euro. Selbst wenn eine Weise für die UNESCO-Konvention über Maßnahmen solche Zahl natürlich Unsicherheiten in sich birgt, weil zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8125

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut. Dieses Ab- Was mir immer wieder auffällt und was mir nicht ge- (C) kommen stammt aus dem Jahre 1970 und muss in fällt, ist die große Diskrepanz zwischen Worten und Ta- Deutschland schleunigst ratifiziert werden. ten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Horst Kubatschka [SPD]: Ach Gott!) DIE GRÜNEN) Sie sagen, Deutschland brauche einen Bewusstseins- Dazu wird ein entsprechendes Ausführungsgesetz nötig wechsel. Meine Güte! In der Vorbemerkung ihrer Ant- sein. Mein Haus verfasst derzeit einen Referentenent- wort auf die Große Anfrage – nur dies steht auf der Ta- wurf, der auch den Interessen und Belangen des Kunst- gesordnung –, teilt uns die Bundesregierung mit, dass marktes gerecht wird. die Lage der Kulturschaffenden von ihr kontinuierlich beobachtet werde. Auf immerhin zehn Fragen weiß die Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich der Bundesregierung aber überhaupt keine Antwort. deutsche Kunstbetrieb keinesfalls in einer desaströsen Lage befindet; es geht ihm aber auch nicht gut. Bund (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: und Länder sind hier gehalten, einen Wahrnehmungs- Peinlich!) sprung zu vollführen. Wir brauchen einen Bewusstseins- Der Satz, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse wechsel, wenn wir es mit Deutschland als Kulturnation vorliegen, ist der mit Abstand am meisten verwendete ernst meinen. Es geht nicht allein um staatliche Förde- Satz in dieser Antwort auf die Große Anfrage. Für die rung, es geht darum, zu erkennen, welchen Wert die Kul- übrigen Antworten, die uns die Bundesregierung gibt, tur in einer Gesellschaft besitzt, welchen Platz sie ein- bedient sie sich im ersten Teil der Künstlersozialkasse nimmt und was sie in dieser Gesellschaft bewegt. und im zweiten Teil der einschlägigen Fachverbände als Informationslieferant. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Besonders gut, liebe Frau Dr. Weiss, gefällt mir Ihre NEN]) Antwort auf die Frage 49. Man muss sie sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Die Fraktionen der CDU/ Darüber müssen wir uns viel stärker verständigen, CSU und der FDP hatten gefragt: nicht nur in Großen Anfragen, sondern jedes Jahr erneut. Ich hoffe, Frau Connemann, dass wir dies ganz beson- Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über ders in der Enquete-Kommission tun werden, die genau den Anteil von Menschen an der Bevölkerung in das zum Ziel hat. Deutschland, die in Kunst investieren? Ich danke Ihnen. Diese Frage ist im Hinblick auf die Finanzierung von (B) Kunst und Kultur in Deutschland nicht ganz unwichtig. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jetzt bitte genau hinhören – Originalton Frau Dr. Weiss –: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Bundesregierung verfügt weder über gesicherte Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP- Erkenntnisse über den Anteil von Menschen, die in Fraktion. Deutschland Finanzmittel in Kunst als Sachgut in der Erwartung eines Gewinns und/oder als Wert- (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Jetzt bzw. Kapitalanlage investieren, noch über den da- geht es aber ran!) durch getätigten Kapitaleinsatz. Nun gut, das ist typisch für die Antwort. Aber jetzt Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): kommt es Frau Präsidentin! Liebe Frau Dr. Weiss, ich habe Ih- (Zuruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) ren Worten – wie immer – mit großem Genuss ge- lauscht. – jetzt hören Sie doch einfach einmal zu; das ist Origi- nalton Frau Dr. Weiss –: (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist gut!) Sofern der Kauf von Kulturgütern als Gebrauchsge- Ich habe mich allerdings gefragt, worüber wir hier ei- genstände zum Zweck der geistigen Erbauung oder gentlich debattieren. Sie haben zehn Minuten gespro- Freizeitgestaltung gemeint sein sollte, wie z. B. Bü- chen. Aber das, worüber Sie gesprochen haben, findet cher, CDs oder Theater- und Kinokarten, wäre ein sich nicht in der Tagesordnung. sehr guter Prozentsatz zu erwarten, da augenschein- (Beifall bei der FDP und der CDU/ lich die überwiegende Mehrheit der deutschen Be- CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Aber Sie ha- völkerung derartige Produkte nachfragt. ben es genossen!) Witzig! Liebe Freunde, wenn das Thema nicht so ernst wäre, würde ich sagen: Veralbern kann ich mich selber. – Ich habe es genossen. Es war eine künstlerische Leis- Das ist nun wirklich ein Nullsummenspiel. tung. Auf dem Spielplan stand das Stück „Camouflage“. Ich muss meinen Respekt dafür aussprechen, wie die Ich will jetzt aber zum Kern des Problems zurückkeh- recht bescheidene Antwort der Bundesregierung in mus- ren. Diesen haben Sie erwähnt, nämlich die Tatsache, tergültiger Weise sozusagen versteckt worden ist. dass das Durchschnittseinkommen der selbstständigen 8126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Kulturschaffenden in Deutschland bei jährlich circa (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wie (C) 11 100 Euro liegt. Wenn ein solcher Künstler dieses wollen Sie denn Gesetze machen, wenn Sie durchschnittliche Einkommen 40 Jahre lang bezieht und nicht wissen, wie die Datensituation ist?) brav in die Künstlersozialkasse einzahlt, dann bekommt er wie viel Rente? – 400 Euro monatlich. Das ist in der In einem kleinen Kreis wie diesem lieben wir alle die Tat ein alarmierender Befund. Künstler; das setze ich jedenfalls voraus. Manchmal aber gibt es auch so etwas wie eine Verklärung des Künstler- Liebe Frau Kollegin, jetzt sage ich Ihnen: In einer sol- daseins. Beim Blick auf die Chancen von Freiheit und chen Situation kann man nicht die Arbeit, die man selber Selbstverwirklichung im künstlerischen Beruf wird aber erledigen müsste, nämlich gesichertes Datenmaterial zu nur zu oft die Lebenswirklichkeit übersehen, die gerade erarbeiten, auf eine Enquete-Kommission verschieben, bei Künstlern oft von materieller Not und auch von pre- wenn gleichzeitig – das muss man wissen – den Mitglie- kären Fragen gesellschaftlicher Anerkennung geprägt dern der Enquete-Kommission ständig Mittel gestrichen ist. werden. Diese sind gar nicht in der Lage, ein so umfang- reiches Datenmaterial zu erarbeiten. Aufgabe der En- In der von der Opposition gestellten Großen Anfrage quete-Kommission kann es nicht sein – jedenfalls nicht zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der in erster Linie –, diese erschreckenden Datenlücken aus- künstlerischen Berufe sind wichtige Probleme aufgegrif- zufüllen. Das muss von demjenigen geleistet werden, der fen worden; das wird hier sicherlich niemand bestreiten. über geeignete Finanzmittel verfügt. Das ist in erster Li- Allerdings kam sie – das ist schon mehrfach gesagt wor- nie die Bundesregierung. den – zu einem ganz ungewöhnlich merkwürdigen Zeit- punkt. Bereits vor der Anfrage der Opposition war doch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) klar, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler ein wesentlicher Grund für die Einsetzung der Was die Enquete-Kommission leisten muss und auch Enquete-Kommission gewesen ist, die wir ja mit großer kann – dafür sind wir alle angetreten –, ist, auf der Basis Kraft durchgesetzt haben. Immerhin gibt es in dieser gesicherten Datenmaterials Handlungsempfehlungen Legislaturperiode überhaupt nur zwei Enquete-Kommis- zu erörtern und diese dann an die Bundesregierung wei- sionen. Dies zeigt den großen Vorrang, den wir dieser terzuleiten. Das wollen wir alle tun. Frage – auch bereits in der Koalitionsvereinbarung – ein- Liebe Frau Dr. Weiss, abschließend dazu: Ich bin jetzt geräumt haben. Deshalb sollte eine Anfrage an die An- seit zehn Jahren im Parlament. Ich habe einige Antwor- frage erlaubt sein: Geht es hier nicht um einen etwas ten auf Große Anfragen gelesen, manche mit Zustim- merkwürdigen Aktivismus, mit dem ein schon fahrender mung, manche mit Kopfschütteln. Ich habe, glaube ich, Zug noch angeschoben werden soll? Wenn ich mir dies (B) in meiner parlamentarischen Laufbahn noch nie eine im Bild vorstelle, dann wäre diese slapstickhafte Szene (D) Antwort auf eine Große Anfrage erlebt, die so wenig Er- gut mit Charlie Chaplin zu besetzen gewesen: Der Zug kenntnisse signalisiert hat wie diese. Ich ziehe aus die- fährt und Sie rollen hinterher, um ihn tüchtig anzuschie- sem Nullbefund der Großen Anfrage die Erkenntnis: Wir ben. müssen – das ist jetzt ein Angebot zur Zusammenarbeit – (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Besser über Parteigrenzen hinweg – und nicht erst dann, wenn spät als gar nicht! – Gegenruf des Abg. Horst die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat – dafür Kubatschka [SPD]: Was? Anschieben?) Sorge tragen, dass wir in Deutschland schnellstens über die erforderlichen Datensätze in Bezug auf diesen enorm Die Regierung hat, wie ich glaube, auf diese Anfrage wichtigen Bereich, in dem es Not und Handlungsbedarf in korrekter Weise, nämlich mit Respekt vor dem Par- gibt, verfügen. Das kann man nicht auf die Enquete- lament, reagiert. Kommission abschieben. Das ist Aufgabe des Parlamen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tes insgesamt und vor allen Dingen auch der Bundesre- gierung. Wir haben es oft kritisiert, dass die Regierung noch eine Kommission eingesetzt und so getan hat, als sei im Par- Vielen Dank. lament gar kein Sachverstand vorhanden. In diesem Fall (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hat die Regierung einmal anerkannt, dass sie zu vielen Fragen die Debatte in der Enquete-Kommission abwar- ten sollte. Wir haben auch gesagt, dass die Arbeit der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Enquete-Kommission sehr konzentriert verlaufen und Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bünd- nach zwei Jahren abgeschlossen sein soll. Respekt vor nis 90/Die Grünen. dem Parlament ist auch so etwas wie demokratische Kul- tur. Dieser Respekt ist dadurch bewiesen worden. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr merk- Lieber Herr Otto, manchmal wundere ich mich über den würdige Form von Respekt vor dem Parla- Freiheitsgehalt in den Gedankengängen von Liberalen. ment, wenn man die Fragen nicht beantwor- Wenn Sie in einem freien Markt und einem freien Aus- tet!) tausch zwischen Künstlern und an Kunst Interessierten jeden Geschäftsgang erfassen wollten, dann hätten wir Es ist schon von vielen gesagt worden – deswegen sicherlich keine freiheitliche Gesellschaft mehr. kann ich an diesem Punkt meine Rede kürzen –, dass das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8127

Dr. Antje Vollmer (A) geringe Einkommen von freischaffenden Künstlerin- können. Es gibt sehr viele Künstler – ich denke etwa an (C) nen und Künstlern besorgniserregend ist, sodass viele die sehr vielen ausgebildeten Orchestermusiker, die nie- von ihnen, bevor sie Künstler sein können, erst einmal mals alle einen bezahlten Vollzeitplatz in einem Orches- Lebenskünstler und Überlebenskünstler sein müssen. ter haben werden –, denen wir zum Beispiel im Rahmen Tatsächlich liegt ein Durchschnittseinkommen von etwa der Ganztagsschule eine Perspektive geben könnten, pä- 11 000 Euro weit unter dem anderer Erwerbstätiger. Von dagogisch tätig zu sein. Wie bei vielen anderen auch sind einer Rente von 400 Euro im Monat – Sie haben das zu- kombinierte Lebensmodelle denkbar, wo man einerseits sammengerechnet, Herr Otto – kann niemand leben; die in einem selbst gewählten Ensemble spielen und ande- Mindestrente in Berlin beträgt 693 Euro. rerseits als Pädagoge in der Schule tätig werden kann. In einem Bereich, der die Schulausbildung am Nachmittag Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? auszeichnen könnte – der Förderung der Kreativität von Ich nenne hier einige Einzelmaßnahmen, die zusammen Jugendlichen –, könnten ganz neue Berufsperspektiven wirken müssen; denn einen Königsweg gibt es bei einer und Berufsbilder entstehen. so komplizierten Lage weder in diesem Fall noch in den vielen anderen Fällen, mit denen sich das Parlament, die Ich glaube, dass wir in dieser Richtung eine ganze Regierung und die Koalitionsfraktionen herumschlagen Menge neu denken müssen, und ich hoffe, dass wir das müssen. da tun, wo es hingehört, nämlich in der Enquete-Kom- mission. Erstens. Mit Blick auf das Rentenproblem ist zu prü- fen, ob die Riester-Rente in besonderer Weise auf den Vielen Dank. Künstlerbereich zugeschnitten werden kann. Auch Mo- delle von Künstlerfonds und Lösungsversuche aus ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren europäischen Ländern können Anregungen bieten. und bei der SPD) Die Enquete-Kommission eruiert einen entsprechenden Maßnahmenkatalog. Es gehört gerade zu unseren Aufga- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben, solche Ideen aus anderen Ländern zu transportieren. Das Wort hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU- Ich wünsche mir allerdings manchmal, dass wir in der Fraktion. Enquete-Kommission nicht so viele Formalitäten be- sprechen, sondern unsere kostbare Zeit sehr viel eher für Renate Blank (CDU/CSU): diese Modelle und Anregungen aus anderen Ländern Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den verwenden. bisherigen Reden ist deutlich geworden, dass die wirt- Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Selbst- schaftliche und soziale Situation der Mehrheit der (B) vermarktungsanteil der Künstler könnte sich für die Künstler in Deutschland wahrlich alarmierend ist. Der (D) Künstlersozialkasse ein Problem ergeben. Dies ist be- Ausdruck „brotlose Kunst“, den man zurzeit in der Be- sorgniserregend. Der Rechnungsprüfungsausschuss des völkerung des Öfteren mit Bezug auf die Bundesregie- Haushaltsausschusses im Bundestag stellt gegenwärtig rung hört, erhält dabei wirklich eine praktische Bedeu- eine Untersuchung zu diesem Thema an. Dazu ist zu sa- tung. gen, dass der Bundeszuschuss zur Künstlersozialkasse (Horst Kubatschka [SPD]: Wollen Sie sagen, inzwischen vom Selbstvermarktungsanteil der Künstler dass die Regierung aus Künstlern besteht?) abgekoppelt wurde. Die Bundesmittel sind also nicht vom Umfang der Selbstvermarktung abhängig, die die – Ich will keinesfalls künstlerische Kreativität mit der Künstlerinnen und Künstler betreiben. Eine Senkung des Arbeit der Bundesregierung vergleichen. Damit würde Bundesanteils darf es nach unserer Meinung hier nicht ich allen Künstlern im Lande Unrecht tun. Denn Kunst geben. Dies sage ich auch im Namen der Bundesregie- und Kultur sind interessant, was man von der Arbeit der rung. Bundesregierung absolut nicht sagen kann. (Beifall bei der SPD) (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/ CSU] – Horst Kubatschka [SPD]: Das ist hohe Drittens. Die Verbesserung der Einkommensmög- Regierungskunst, was die machen! – Hans- lichkeiten ist ein zentraler Baustein in diesem Problem- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Camou- bereich. Im komplizierten Geflecht zwischen Urhebern flage!) und Verwertern wurde von Rot-Grün hier schon man- ches erreicht; die Frau Staatsministerin hat es dargestellt. Eigentlich wären beim Thema „soziale Lage von Im Zusammenhang mit dem anstehenden Zweiten Ge- Künstlern“ SPD und Grüne mit ihrer Kulturstaatsminis- setz zur Regelung des Urheberrechts in der Informati- terin gefordert gewesen, sich der wirtschaftlichen Be- onsgesellschaft prüfen wir, was wir noch zusätzlich tun lange der künstlerischen Berufe anzunehmen. Hier hätte können. Ich denke an die Ausstellungsvergütung – da doch die Staatsministerin mit neuen Ideen punkten kön- haben wir schon vorgearbeitet – und an das Künstlerge- nen. Aber Fehlanzeige! Sie kümmert sich stattdessen lie- meinschaftsrecht. ber um die Präsentation der Sammlungen Flick und Newton und vernachlässigt dabei junge Künstlerinnen Viertens. Gerade in der Enquete-Kommission spielt und Künstler. der Bereich der künstlerischen Bildung und der Zusam- menarbeit von freien Künstlern mit den Schulen eine (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Frau Blank, große Rolle. Ich glaube, dass wir hier sehr innovativ sein das ist aber nicht fair!) 8128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Renate Blank (A) Die Antworten der Bundesregierung auf unsere (Horst Kubatschka [SPD]: Aber Sie waren (C) Große Anfrage sind – das wurde schon gesagt – sehr ent- blind und haben es vergessen!) täuschend. In der Einleitung betont die Bundesregierung zwar, dass sie die Lage der Kulturschaffenden kontinu- – Herr Kollege, wir haben sie nicht vergessen, sondern ierlich beobachtet und durch die Kulturverträglichkeits- wir haben gewartet, ob die Bundesregierung darauf ein- prüfung sicherstellen will, dass sich Gesetzesvorhaben geht. nicht nachteilig auf den Kulturbereich auswirken. Aber (Horst Kubatschka [SPD]: Was Sie nicht fra- das ist auch schon alles. Wenn man das Thema vernach- gen!) lässigt, hat man halt keine Zahlen und Fakten. Außerdem vermisse ich die Bereitschaft, auf unsere Fragen einzu- – Wir haben viel gefragt und keine Antwort bekommen. gehen. Die wirtschaftliche Lage der Schriftsteller, Übersetzer Nur mit der Frage 20 – Bereich Hochschulen – hat und der Autorinnen und Autoren sowie die Entwicklung man sich lange befasst. Obwohl man keine Zuständig- des Buchmarktes wurden von Ihnen leider vollkommen keiten hat, wurde ausführlich geantwortet. Das ist ty- außen vor gelassen. Die Regierung Schröder ist doch mit pisch: keine Bundeszuständigkeit, aber immer den Ver- dem Grundsatz angetreten, der Kultur einen neuen Stel- such unternehmen, den Ländern in die Kulturhoheit lenwert zu geben. hineinzureden. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das haben (Horst Kubatschka [SPD]: Warum haben Sie wir geschafft!) denn danach gefragt? Damit haben Sie doch – Das Gegenteil ist der Fall. hineingeredet!) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Das Ziel der Bundesregierung sollte doch sein, nur dort, wo der Bund die Zuständigkeit besitzt, zeitgemäße Rah- Man könnte es aber auch so formulieren: Deutschland menbedingungen zu schaffen, die es den Kunst- und versteht sich zwar als Kulturnation – wir werben welt- Kultureinrichtungen erlauben, im Sinne der freien künst- weit mit unserer kulturellen Vergangenheit lerischen Gestaltung zu arbeiten. (Horst Kubatschka [SPD]: Und Gegenwart!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und mit den Namen unserer großen Künstler –, aber wir Meine Damen und Herren, es ist schon erstaunlich, achten nicht darauf, dass diejenigen, die in unserem dass die Bundesregierung es entschieden ablehnt, die so- Lande heute künstlerisch tätig sind, auch nur halbwegs (B) ziale Lage der Künstler durch Maßnahmen in der Sozial- ein Auskommen haben. (D) gesetzgebung zu verbessern. Wir haben gehört, dass das (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na! Na!) Jahreseinkommen gerade 11 000 Euro beträgt. Demge- genüber verdienen in der gesetzlichen Rentenversiche- Ihnen genügt offenbar der Bezug auf die große Ge- rung Versicherte rund 29 000 Euro. Viele Künstler haben schichte; denn mit ihr muss man sich ja nicht auseinan- schon während ihrer aktiven Berufszeit zum Leben zu der setzen, weil ihre Anerkennung weltweit gesichert ist. wenig und zum Sterben zu viel. Als Rentner werden sie dann, wie die Bundesregierung bestätigt, auf die soziale Meine Damen und Herren, nachdenklich stimmen al- Grundsicherung angewiesen sein. Zudem wird die Zahl lerdings die boulevard-spektakulären TV-Demoskopien der arbeitlosen Künstler immer größer. des ZDF vom November vergangenen Jahres. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was schla- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Jawohl!) gen Sie vor?) Dabei ging es um die Frage: Wer ist der beste Deutsche? Als geborene Nürnbergerin fiel mir auf, dass Albrecht – Kollege Barthel, darüber sollten wir uns unterhalten. Dürer, der Weltkünstler der Renaissance, bei diesem Das wäre die Antwort auf unsere Anfrage gewesen. Da Kulturevent nur auf Platz 91 der 100 meistgenannten hätten Sie Ideen entwickeln können. Deutschen zu finden war. (Horst Kubatschka [SPD]: Was schlagen Sie (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dafür vor? – Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Ich war Küblböck dabei!) hätte gerne einen Satz dazu gehört, was Sie wollen!) Die Boulevardjury der Deutschen repräsentierte das klägliche Niveau der an der Auswahl beteiligten Fern- Frau Staatsministerin, in unserer Großen Anfrage ha- sehkonsumenten. Denn diese hielten Beate Uhse und ben wir die Sparte Literatur nicht ausdrücklich er- Dieter Bohlen für bedeutsamer und besser als den wähnt. Aber dass Sie Ihr Lieblingsthema Literatur mit Meister der Apokalypse und der Aposteltafeln. Hier keinem Wort erwähnen, stimmt schon bedenklich. Bei wäre die Kulturstaatsministerin dringend gefordert, Ihrer Vorliebe für Literatur müssten Sie doch mit den Kunst und Kultur unter die Leute zu bringen. Denn es ist Sorgen und Nöten dieser Branche vertraut sein. Gerade ihre Aufgabe, der Allgemeinheit Kunst und Kultur näher Frau Dr. Weiss darf auf diesem Auge nicht blind sein. zu bringen. Sie hätte zumindest die bei der Künstlersozialkasse ver- fügbaren Daten wortreich nutzen können. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8129

Renate Blank (A) – Sie lachen zwar, aber ich glaube, hinter Ihrem Lachen Ich will durchaus kritisch mit der Beantwortung der (C) verbirgt sich die ernste Erkenntnis, dass Sie dies in den Großen Anfrage umgehen. letzten Jahren versäumt haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Horst Kubatschka [SPD]: Meckern Sie nicht der FDP – Günter Nooke [CDU/CSU]: Da an Adenauer herum!) können wir klatschen!) Trotz der gleichen Startbedingungen, was die Spielre- – Das bin ich eigentlich immer. – Wie ich festgestellt geln des Kunstmarktes angeht, stehen Künstlerinnen im habe, haben wir über die Einkünfte angestellter Künstle- Unterschied zu ihren Kollegen jedoch sehr schnell rinnen und Künstler keine Kenntnisse. Eine Ausweisung schlechter da. Die Gründe hierfür zu erforschen wäre von befristet oder unbefristet beschäftigten Künstlern auch die Aufgabe der Ministerin, und zwar in Zusam- findet in der Statistik nicht statt. Deshalb wissen wir menarbeit mit der Bundesfrauenministerin. nichts über das Verhältnis von kunstbezogenen zu nicht kunstbezogenen Einkünften am Gesamteinkommen. Kunst braucht aber auch Gunst – die Gunst des Publi- Entsprechend fehlen uns Erkenntnisse über die Auswir- kums und die der Förderer. Das bedeutet nicht, den Staat kung von Veränderungen im Steuerrecht auf Kultur- aus seiner Verantwortung zu entlassen. Aber Kulturför- schaffende. derung ist in erster Linie Aufgabe des Staates. Kultur- politik ist mehr als die direkte Kulturförderung. Kultur- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist politik wird in entscheidendem Maße auch vom eine Menge Holz!) Finanzminister und vom Wirtschafts- und Arbeitsminis- ter geprägt. Denn Kunst und Kultur sind mehr als nur Aufgrund der vorliegenden Daten lässt sich der Anteil weiche Standortfaktoren. Kunst und Kultur sind die Ku- des Kunstmarktes am Bruttosozialprodukt in Deutsch- lissen unseres Lebens land nicht berechnen. Die Einkünfte von Kunstverwer- tern sind nicht bekannt. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das klingt schön!) Ich könnte die Reihe fortsetzen, Nur – jetzt müssen Sie zuhören, Herr Otto –, wenn Sie ganz ehrlich sind, und bestimmen maßgeblich unsere Sozialisation. Des- sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis der Großen halb braucht unsere Gesellschaft den schöpferischen Anfrage, die uns vorliegt. Denn das – wenn auch zu Ihrer Geist der Künstler. Denn Kunst und Kultur sind keine Verwunderung, Herr Otto – wussten wir eigentlich schon Zutat, sondern der Sauerstoff einer Nation. Ihre Förde- vorher. rung sollten wir parteiübergreifend anpacken. (Beifall der SPD) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (D) Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] – So ist es kein Wunder, dass die Antwort auf diese Große Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Der Schluss- Anfrage äußerst unbefriedigend ausfällt. Ebendiese Situ- satz war gut!) ation – daran möchte ich alle Kollegen erinnern – hat uns ja dazu gebracht, eine Enquete-Kommission zu for- dern, die hier Abhilfe schafft. Während wir uns aber mit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aufgabenstellungen, Fragen und Zielvorstellungen der Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Krüger- Kommission beschäftigten, stellten Sie von der Opposi- Leißner, SPD-Fraktion. tion eine Große Anfrage, obwohl von vornherein klar sein musste, dass die Antwort in vielen Teilen dünn aus- Angelika Krüger-Leißner (SPD): fallen würde. Man hat das Gefühl, die Opposition meint, dass sich, wenn man nach einer Sache, von der man Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- weiß, dass sie nicht beantwortet werden kann, nur oft ge- legen! Den bisherigen Redebeiträgen habe ich eines ent- nug fragt, die Antwort von selber einstellt. Anders ist nommen: Wir brauchen die Enquete-Kommission „Kul- mir der Zweck der Anfrage nicht erklärbar. tur in Deutschland“. Gerade im Kulturbereich besteht ganz offensichtlich Nachholbedarf. Sowohl was die Da- Anlässlich des Versuches der Opposition, die Bundes- tenlage auf Bundesebene als auch was vor allem die Er- regierung mit dünnen Ergebnissen vorzuführen, kenntnisse über die Bewertung der Rahmenbedingungen von Kunst und Kultur in Deutschland betrifft. Dies hat (Jörg Tauss [SPD]: Das gelingt ohnehin die Antwort auf die Große Anfrage mehr als deutlich ge- nicht!) macht. möchte ich eines klarstellen: Das wird Ihnen nicht gelin- Wir wissen zu wenig über die soziale und wirtschaft- gen. Denn ich muss Sie daran erinnern – möglicherweise liche Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutsch- hat Ihr Gedächtnis in dieser Frage etwas nachgelassen –, land. Wir wissen zu wenig über die öffentliche und pri- dass es vor allem die Kohl-Regierung war, die eine bes- vate Kulturförderung. Wir wissen zu wenig über die sere statistische Erhebung für den Kunst- und Kultur- wirtschaftliche Situation des Kunstbetriebes. Darüber hi- bereich verhindert hat. naus haben wir, was die finanzielle Ausstattung insbe- (Jörg Tauss [SPD]: Aha!) sondere der Kommunen im Kulturbereich oder auch die Qualität der Entscheidungsstrukturen in diesem Bereich Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Tatsache, betrifft, zu geringe Kenntnisse. dass eine bessere Erhebung von Daten im kulturellen 8130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Angelika Krüger-Leißner (A) Bereich 1994 und 1998 von der damaligen Bundesregie- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was ist (C) rung unter dem Stichwort „Schlanker Staat“ abgelehnt denn nun mit der Kulturverträglichkeit?) wurde. Wir wollen damit verhindern, dass Gesetze verab- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Frau schiedet werden, mit denen die soziale Lage der Künst- Kollegin, diese Regierung ist seit fünf Jahren lerinnen und Künstler verschlechtert würde. Aber – wir am Ruder; da kann man schon einmal etwas merken es heute wieder – die Opposition hat das offen- machen! – Renate Blank [CDU/CSU]: Ihr habt sichtlich bisher noch nicht zur Kenntnis genommen. doch versprochen, etwas zu tun!) Lassen Sie mich noch an die Ausführungen von Antje – Sie müssen zuhören. Sie können sich nämlich nicht da- Vollmer anknüpfen und einige Worte zum Forschungs- ran erinnern. vorhaben „Ermittlung des Selbstvermarktungsanteils in der Künstlersozialversicherung“ sagen. Ich finde es Hinzu kommt die Tatsache, dass eine Erhebung auf ganz wichtig, dass wir uns dazu auch hier äußern. Aus Bundesebene nicht durchgeführt wurde, weil die Kultur- meiner Sicht dürfte dieses Forschungsvorhaben nicht kompetenz nun einmal bei den Ländern liegt. Wir sind mehr nötig sein. Es ist mir überhaupt ein Rätsel, warum daher auf die Unterstützung der Länder angewiesen, der Rechnungsprüfungsausschuss darauf besteht. wenn wir mehr wissen wollen. Ich erinnere an unsere Diskussion in den letzten Wochen. Wir haben uns bei ei- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Richtig!) nem öffentlichen Expertengespräch zur Kulturstatistik Wir haben mit der Novelle 2001 beschlossen, dass wir im Rahmen der Enquete-Kommission darüber unterhal- den Bundeszuschuss auf 20 Prozent festschreiben, um ten, wie wir zukünftig mit Kulturstatistik umgehen wol- Planungssicherheit zu schaffen. Das ist eine verlässliche len, welche Daten wir brauchen und auf welche vorhan- Größe. Wir haben eine Verbindung mit dem Selbstver- denen Ressourcen wir zurückgreifen können. marktungsanteil nicht zwingend festgelegt. Daher wäre auf die Durchführung der Studie aus meiner Sicht ganz Große Anfragen helfen uns kein Stück weiter. Was einfach zu verzichten. wir brauchen, ist eine gemeinsam mit den Ländern und den Verbänden abgestimmte Linie, der wir dann auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ folgen – und das als Ergebnis der Arbeit der Enquete- DIE GRÜNEN) Kommission. In diesem Zusammenhang müssen wir uns die letzten Frau Blank hat es nebenbei erwähnt, aber ich denke, Entwicklungen bei der Künstlersozialversicherung an- es ist eine Bemerkung von mir wert: Ihre Anfrage ist, schauen. Ich glaube, wir müssen uns – gerade auch in (B) finde ich, nicht sehr sorgsam ausgearbeitet. der Enquete-Kommission – große Gedanken um die (D) Zukunft dieser Versicherung machen. Abgrenzungspro- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie ärgern sich bleme bei neuen Berufen, zwischen abhängig Beschäftigten doch nur, dass Sie sie nicht gestellt haben!) und Selbstständigen, gezwungene Unternehmungsgrün- dungen von Künstlern und vor allen Dingen die Ent- – Quatsch! Offensichtlich entstand die Anfrage unter ei- wicklung der Wirtschaft zwingen uns unter Umständen, nem wahnsinnigen Zeitdruck. Ich kann mir jedenfalls die Situation zu überdenken. Wir müssen die Frage klä- nicht erklären, aus welchem Grund Sie den Bereich ren, ob angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung die Wort, der ja zweifellos zu Kunst und Kultur gehört, aus- Künstlersozialversicherung zukunftssicher ist und was gespart haben. Wenn man schon eine Anfrage stellt, die wir gegebenenfalls verbessern müssen. unsere Arbeit weiterbringen soll, dann sollte das wenigs- tens sorgfältig geschehen. Wir wissen außerdem, dass die Rentenversicherung der wunde Punkt der Künstlersozialversicherung ist; da (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erzählt uns Herr Otto nichts Neues. Bei den niedrigen Eines wird in der heutigen Debatte deutlich – ich bin Beiträgen aufgrund niedriger Einkommen sind auch Christina Weiss für Ihre Ausführungen sehr dankbar – : niedrige Renten die Folge. Gerade hier muss die En- Diese Bundesregierung hat den Stellenwert der Kultur quete-Kommission alternative Wege für eine zusätzli- auf Bundesebene in den letzten Jahren deutlich aufge- cher Absicherung aufzeigen. wertet. Zusammenfassend muss die genaue Bestandsauf- (Beifall bei der SPD) nahme der Situation des gesamten Kulturbetriebes in Deutschland das Ziel unserer weiteren Arbeit sein. Die Gerade die Reform der Künstlersozialkasse ist hierfür Anfrage der Opposition ist nichts Weiteres als eine Steil- beispielhaft. Wir haben eine langfristige Absicherung vorlage für die Arbeit der Enquete-Kommission. geschaffen mit Verbesserungen, die dringend erforder- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich waren, besonders für ältere Künstlerinnen und DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Künstler. Das sind wichtige Rahmenbedingungen für Wollen Sie nun Tore schießen oder nicht?) heute Selbstständige in Kunst, Kultur und Publizistik. Wir haben die Kulturverträglichkeitsprüfung einge- Wir müssen Erkenntnisse gewinnen, aus denen wir führt. Jeder Gesetzentwurf wird nun von der Kultur- Handlungsempfehlungen für die Politik auf allen Ebenen staatsministerin daraufhin überprüft, ob er nachteilig für entwickeln; denn wir alle sind daran interessiert, unseren den Kulturbereich sein kann. Künstlerinnen und Künstlern ein gutes und gesichertes Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8131

Angelika Krüger-Leißner (A) Umfeld zu schaffen. Das ist nur zu einem Teil Sozialpo- prüfung gesprochen. Sie mag ja richtig sein. Wir wollen (C) litik; es ist zum Teil auch Wirtschaftspolitik, die wir ge- aber auch wissen, wie erträglich die Kultur, der Kunstbe- meinsam mit den Ländern gestalten müssen. trieb für die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Ute Kumpf [SPD]: Das wollen wir auch wis- Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. sen!)

Angelika Krüger-Leißner (SPD): Das ist auch eine wichtige Frage. Deshalb hätte man für Aufklärung über das sorgen müssen, was die Bundesre- Darf ich noch einen Satz sagen? gierung hier nicht gesagt hat, wobei man gar nicht sagen kann, dass sie überhaupt etwas gesagt hat. – Sie sehen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: meine Krücken fallen schon um. Noch einen Satz. (Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] (Horst Kubatschka [SPD]: Aber einen langen!) hebt die Krücken wieder auf) – Herr Otto ist sehr bemüht, wie wir sehen. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sie merken, dass die Erwartungen an die Enquete- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich Kommission unheimlich groß sind. Sie können aber si- rette Sie!) cher sein, dass unsere Staatsministerin ganz auf unserer Seite ist und uns in dieser Arbeit unterstützen wird. – Herr Otto, Sie wissen, Deutschland geht an Krücken. Deswegen tue ich es auch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es wäre jetzt ungemein wichtig, daraus ein Stück Be- stimmung abzuleiten. Wir haben aber nur eine konkrete Antwort erhalten: Die soziale Situation der Künstlerin- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen und Künstler wird durch das Einkommen bestimmt. Das Wort hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Das ist schlecht genug. CDU/CSU-Fraktion. Nun kann man sagen, dass wir vorher auch nicht über Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Datenmaterial verfügt haben. Ich sage hier ganz deut- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lich: Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wir für diesen Herren! Frau Krüger-Leißner, gerade wir Mitglieder des Bereich einen Staatsminister bzw. eine Staatsministerin (B) Kulturausschusses sollten hier doch nicht Weisheiten, bekommen haben. (D) die schon lange in unserem Volke und auch in anderen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Völkern gewachsen sind, infrage stellen. Eine Volks- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- weisheit sagt: Es gibt keine dummen Fragen, es gibt NEN) höchstens dumme Antworten. – Ich habe gar nichts dagegen, dass Sie klatschen. – Da (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir diese Institution jetzt schon einmal haben, hielte ich Hier wird so getan, als wenn das umgekehrt gesagt wer- es für selbstverständlich, dass man über die Situation der den könnte. Künstlerinnen und Künstler in Deutschland auch etwas erfährt und dass man in einem solchen Hause über das (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entsprechende Informationsmaterial verfügt. NEN]: Aber es gibt Fragen zum falschen Zeit- punkt!) Nun könnte man es einem Staatsminister ja noch zu- gestehen, ein halbes Jahr nachdem das Staatsministe- – Frau Vollmer, ich komme gleich zu Ihnen. rium geschaffen worden ist, zu erklären, er habe keine Sie sagten in dieser Debatte – und ich fand das Informationen. Nach fünf Jahren müsste es der Staatsmi- richtig –, dass die Situation, in der sich Künstlerinnen nisterin aber gelingen, die entsprechenden Informatio- und Künstler befinden, häufig verklärt wird. Gerade nen hier zu präsentieren. wenn sie häufig verklärt wird, wäre es doch richtig, sehr (Beifall bei der CDU/CSU) viel konkretes Datenmaterial über Künstlerinnen und Künstler zu sammeln und über dieses Datenmaterial zu Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregie- verfügen. Ich weiß gar nicht, inwieweit das der Arbeit rung, dass sie so geantwortet hat, wie sie es getan hat. der Enquete-Kommission widersprechen würde. Ich Ich rede in diesem Zusammenhang gar nicht von den glaube vielmehr, dass die Arbeit der Enquete-Kommis- Koalitionsfraktionen, weil es nicht ihre Aufgabe ist, die- sion auf diesem Datenmaterial fußen könnte und dass ses Datenmaterial herbeizuschaffen. man daraus entsprechende Rückschlüsse ableiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) könnte. Frau Connemann, Herr Otto und Frau Blank haben ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprechende Beispiele gebracht. Frau Krüger-Leißner, Sie Nun wird hier von Rot-Grün – das ist ja Ihr Rück- selbst sind darauf eingegangen und haben versucht, das zugsgefecht – immer viel von der Kulturverträglichkeits- im Nachhinein zu kaschieren. 8132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (A) Bezogen auf die Künstlerinnen und Künstler in Berichterstattung: (C) Deutschland sage ich: Ihr Stellenwert für unsere Nation Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier wird nicht richtig erfasst, wenn man über kein entspre- Gitta Connemann chendes Datenmaterial verfügt. Frau Weiss Sie haben ar- Ulrike Höfken gumentiert, es gehe doch um Freiräume. Natürlich geht Hans-Michael Goldmann es um Freiräume. Der Mensch überschreitet ständig c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Grenzen. Ich bin den Künstlerinnen und Künstlern dank- Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des bar, dass sie diese Grenzen ausloten und sie nicht in der Arzneimittelgesetzes Weise überschreiten, wie es andere in der Geschichte der Menschheit getan haben. Das ist etwas Wertvolles. – Drucksache 15/1494 – Wir haben nach der sozialen und wirtschaftlichen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Stellung der Künstlerinnen und Künstler gefragt. Es ist Landwirtschaft (f) wichtig, das zu erfahren. Gerade dann, wenn man Frei- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung räume wahrnehmen muss, ist es wichtig, wie man wirt- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- schaftlich in diesen Freiräumen gestellt ist. Insofern Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, kann ich nur sagen: Es müsste jetzt schnellstens gelingen Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der – dabei kann man sich nicht alleine auf die Enquete- Fraktion der FDP Kommission verlassen –, über dieses Datenmaterial zu verfügen, damit wir alle gemeinsam – ich sage das für Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelge- das ganze Haus – die richtige Politik für die Künstlerin- setzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz nen und Künstler und ihre soziale und wirtschaftliche – Drucksache 15/1596 – Stellung betreiben können. Überweisungsvorschlag: Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat ihre Rede zu Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Protokoll gegeben.1) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich schließe die Aussprache. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (B) Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion. (D) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Die Tierhaltung in Europa und in Deutschland steht auf zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung dem Prüfstand, und zwar nicht erst seit BSE oder ande- ren Krisen in diesem Bereich. Innerhalb einer breiten Tierschutzbericht 2003 Öffentlichkeit wird heute die Haltung von Nutztieren in- Bericht über den Stand der Entwicklung des tensiv diskutiert. Wenn man allein die Mitgliederzahl des Tierschutzes Deutschen Tierschutzbundes von etwa 800 000 und das – Drucksachen 15/723, 15/2231 – Engagement in diesem Bereich sieht und die Diskussio- nen zum Tierschutz verfolgt, dann zeigt sich, welch Berichterstattung: große Relevanz und nachhaltige Auswirkungen diese Abgeordneter Dr. Wilhelm Priesmeier Diskussion auf das politische Handeln hat. Peter Bleser Ulrike Höfken Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Hans-Michael Goldmann Veredelungsproduktion beim Verbraucher und beim ge- meinen Bürger in besonderer Weise latente negative As- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- soziationen hervorruft. Die Verbraucherinnen und Ver- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, braucher verlangen zunehmend, dass die Produktion von Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Lebensmitteln tierischer Herkunft an Tierschutzstandards zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta ausgerichtet wird. Die Forderung an uns Politiker ist in Connemann, Peter H. Carstensen (Nordstrand), diesem Zusammenhang, die entsprechenden Rahmenbe- Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak- dingungen zu setzen, um einen umfassenden Tierschutz tion der CDU/CSU zuverlässig zu gewährleisten. Der Tierschutzbericht der Bundesregierung, über den wir heute sprechen, macht Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermög- deutlich: Die Regierungskoalition kommt den berechtig- lichen ten gesellschaftlichen Anforderungen nach und wird ihrer – Drucksachen 15/1210, 15/2233 – Verpflichtung in diesem Zusammenhang gerecht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 1) Anlage 2 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8133

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Anstatt wie die Opposition immer nur die Umsetzung sellschaftlich akzeptierte Tierproduktion hat in dieser (C) längst überholter Standards zu fordern, haben wir die Gesellschaft langfristig eine Chance und Bestand. Vorreiterrolle übernommen und wesentliche Entwick- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungen initiiert und vorangetrieben. Die Neuordnung der DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Agrarpolitik und nicht zuletzt der zusätzliche Hand- Goldmann [FDP]) lungsspielraum, den wir mit der Umsetzung der Luxem- burger Beschlüsse gewonnen haben, wird von uns beim Die Tierschutzpolitik reicht also weit darüber hinaus, Tierschutz konsequent genutzt werden, und zwar – wie nur rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen. Es ist un- kann es anders sein – zusammen mit den Ländern, um so sere Aufgabe, einen öffentlichen Dialog zu moderieren eine größtmögliche Übereinstimmung zu erzielen. und zu begleiten. Langfristige Perspektiven sind für die Zukunft gerade unserer intensiven Tierhaltung ganz Die Zukunft wird es bringen, dass Prämienzahlun- entscheidend. Diese werden wir von der Regierungskoa- gen an Tierschutzstandards gebunden werden. Das lition gemeinsam mit Landwirten, unabhängigen Wis- macht deutlich, dass hier berechtigte Forderungen der senschaftlern, Tierschutzverbänden und Verbraucher- Gesellschaft zum Zuge kommen; denn diese Prämien- schutzorganisationen entwickeln. Uns sind die breite zahlungen müssen vor der Gesellschaft gerechtfertigt Akzeptanz und ein Höchstmaß an Transparenz sehr werden. Neben ökologischen Nachhaltigkeitsstandards wichtig. ist der Tierschutz selbstverständlich ein besonderer Stan- dard, der einbezogen werden muss. Wir behalten dabei Was weiß der Verbraucher, was weiß die Politik denn aber auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte darüber, wie die Tierproduktion konkret im einzelnen im Auge; denn nur wettbewerbsfähige Betriebe mit ent- Betrieb vonstatten geht? sprechenden Gewinnen im Wirtschaftsjahr sind in der (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Gar nichts!) Lage, unter Umständen die eine oder andere zusätzliche Forderung bei den Tierschutzstandards zu finanzieren. Am Beispiel der Legehennen wird deutlich: Wir haben Betriebe mit Verlustraten von 20 Prozent bei bestimmten (Peter Bleser [CDU/CSU]: Da habt ihr in der Haltungsformen, ohne dass das im Augenblick nennens- letzten Zeit ganze Arbeit geleistet!) werte Konsequenzen hätte. Aus diesem Grunde fordere – Ich glaube nicht, dass wir für bestimmte Wetterer- ich als Tierschutzbeauftragter meiner Fraktion eine Mel- scheinungen im letzten Jahr verantwortlich sind. depflicht für Legehennenbetriebe mit einer Mortalitäts- rate jenseits von 15 Prozent. Bei anderen Haltungsformen (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das weiß man und Masthaltungsformen im Bereich der Putenhaltung nicht!) müsste man Ähnliches überlegen, um einmal die konkre- (B) ten Daten zu bekommen, damit man sich nicht auf das (D) Wenn wir einen guten Draht nach oben hätten, dann hät- verlassen muss, was durch Studien erhoben werden ten wir ihn zu passender Zeit sicher schon genutzt. Das muss, die dann von irgendwelchen Seiten wieder infrage ist aber wohl nicht der Fall. gestellt werden. Es gilt, die zu setzenden Standards im Rahmen von Legehennen sind nicht die einzigen Tiere, die in seri- Globalisierungsprozessen nicht nur auf der europäischen enmäßig hergestellten Systemen gehalten werden. Das Ebene, sondern auch auf der internationalen Ebene in gilt fast für alle Nutztiere. In meinen Augen ist derzeit hohem Maße zu harmonisieren und voranzutreiben, so- den Haltungssystemen und ihrer Entwicklung eine viel dass auch die nicht tarifären Belange im Rahmen der größere Bedeutung zuzumessen, als das bisher der Fall WTO-Verhandlungen, die den Beschlüssen aus 2000 und gewesen ist. Die Diskussion über die Legehennenhal- 2001 der EU-Kommission entsprechen, zum Tragen tungsverordnung und die Schweinehaltungsverordnung kommen. Als Beispiel für das Engagement der Bundes- schafft Rahmenbedingungen. Es ist aber viel wichtiger, regierung erwähne ich die Konferenz der OIE in zwei gerade diesen Bereich wissenschaftlich zu bearbeiten Wochen in . Dort wird es das erste Mal darum gehen, und einen – das mag man so nennen – Tierschutz-TÜV auf internationaler Ebene über Transportbedingungen, zu installieren, der dafür sorgt, dass die in Serie herge- aber auch über andere Bereiche der Tierschutzstandards stellten, neu entwickelten oder eingesetzten Haltungs- zu diskutieren, diese unter Umständen perspektivisch systeme einem einheitlichen Prüfungs- und Zulassungs- festzuschreiben und letztendlich umzusetzen. Wir wol- verfahren unterzogen werden. Ich betone: Sie müssen len gar nicht den Anschein erwecken, als sei in den ver- diesem unterzogen werden. Eine solche obligatorische gangenen Jahren bereits das Optimum erreicht worden. Zulassung und Zertifizierung wäre für uns unter Tier- Die heftigen Auseinandersetzungen über die Legehen- schutzaspekten ein großer Fortschritt. nenhaltungsverordnung und über die Schweinehal- tungsverordnung haben uns gezeigt, dass wir keines- (Beifall bei der SPD) falls am Ende des Weges der Entwicklung des § 13 des Tierschutzgesetzes gibt dazu die Grundlage. Tierschutzes angekommen sind, sondern uns irgendwo Das Bundesministerium hat gehandelt. Bei der KTBL mittendrin befinden. und der FAL sind bereits entsprechende Kommissionen eingesetzt worden, um die Grundlagen zu erarbeiten. Wir werden weiterhin tragfähige Kompromisse mit allen Beteiligten erarbeiten, mit Landwirten, Produzen- Wir sind uns mit dem Präsidenten des Deutschen Tier- ten, Verbraucherschutzorganisationen und Verbrauche- schutzbundes, Wolfgang Apel, einig, dass die Haupt- rinnen und Verbrauchern. Eines muss klar sein: Nur ge- ursache vieler Tierschutzprobleme in unzureichenden 8134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Haltungssystemen liegt und diese unter Berück- einander. Das belegt nicht zuletzt Ihr eigener Tierschutz- (C) sichtigung der entsprechenden wissenschaftlichen For- bericht aus dem Jahr 2003, der aufzeigt, dass die Zahl schungen auch im Rahmen der Prüfungs- und Zulas- der Tierversuche 2002 auf 2 Millionen angestiegen ist. sungsverfahren den Bedürfnissen der Tiere anzupassen Ich erinnere daran, dass es 1997 nur 1,5 Millionen Tier- sind. Da gehen wir mit den Forderungen des Deutschen versuche gab, nachdem diese Zahl über viele Jahre hin- Tierschutzbundes Hand in Hand. weg ständig gesunken ist. Insofern ist eine Steigerung von 31 Prozent zu verzeichnen. Ich glaube, dass gerade die Signale, die in den letzten Wochen und Monaten aus Niedersachsen und Mecklen- Noch viel schlimmer ist, dass die Zahl der Tiertötun- burg-Vorpommern zu vernehmen waren – ein entspre- gen zu Versuchszwecken um 67 Prozent angestiegen ist. chender Antrag liegt vor –, uns in dieser Richtung be- Das ist die leider nicht sehr schöne Wahrheit über die stärken. Mit großer Freude habe ich heute einer Tierschutzpolitik dieser Bundesregierung. Pressemitteilung des Kollegen Bleser entnommen, dass auch er schon auf den fahrenden Zug gesprungen ist und (Beifall bei der CDU/CSU) kräftig mithelfen will, das umzusetzen. Mit der Hennenhaltungsverordnung und den damit (Peter Bleser [CDU/CSU]: Wer ist zuerst ge- verbundenen Kostenerhöhungen hat die Bundesregie- sprungen? – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das rung die Eierproduktion fast aus Deutschland hinausge- ist besser, als sich davor zu schmeißen!) trieben. Der Trend ist ungebrochen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir in der landwirt- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was hat schaftlichen Produktion zu mehr Information und Trans- das mit Tierliebe zu tun?) parenz kommen. Die Bürgerinnen und Bürger in unse- rem Lande wollen informiert werden. Bislang wird die – Sie werden gleich erfahren, was das mit Tierliebe zu Tierhaltung häufig danach beurteilt, wie man selbst tun hat. Wenn Sie sich die Bilder aus Südostasien in Er- Tiere zu Hause hält. Das ist im Regelfall nicht die innerung rufen, die Sie in den vergangenen Tagen im Nutztierperspektive, sondern die Kuscheltierperspektive. Fernsehen gesehen haben, und an die Umstände denken, Insofern sind weitere Informationen dringend notwen- unter denen die Tiere dort dahinvegetieren müssen, dann dig. kommt Ihnen der Ekel hoch. Dass ein entsprechendes Interesse vorhanden ist, hat (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was hat der Erlebnisbauernhof auf der Grünen Woche gezeigt. das mit Deutschland zu tun!) Auch auf dem Schulbauernhof in meinem Wahlkreis Mit der Vertreibung der Eierproduktion aus – dafür sammele ich Spenden – ist erkennbar, mit wel- (B) Deutschland wird der Tierschutz nicht erweitert, sondern (D) cher Begeisterung gerade Kinder alle Informationen auf- verringert. Denn die Eierproduktion erfolgt in anderen nehmen, die ihnen geboten werden. Dadurch werden die Ländern in ähnlichen Stallanlagen wie in Südostasien. Kinder letztendlich zu bewussten Verbraucherinnen und Verbrauchern, die unter Umständen bereit sind, höhere (Beifall bei der CDU/CSU) Preise für höhere Standards zu bezahlen. Deshalb meine ich, dass wir in der Frage des Tierschut- Vielen Dank. zes – insbesondere in landwirtschaftlichen Betrieben – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ohne eine Versachlichung der Diskussion nicht weiter- DIE GRÜNEN) kommen. (Matthias Weisheit [SPD]: Dann fang mal an, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Peter!) Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSU- Fraktion. Es hat mich deshalb gefreut, dass der Deutsche Tier- schutzbund mit Präsident Apel, die Schweisfurth-Stif- (Beifall bei der CDU/CSU) tung, der Bundesverband der Verbraucherzentralen und der BUND eine Initiative unter dem Titel „Allianz für Peter Bleser (CDU/CSU): Tiere in der Landwirtschaft“ gestartet haben. Dass diese Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Organisationen eine wissenschaftliche Bewertung von Deutschen sind tierlieb. Nicht umsonst haben wir in Ausstallungssystemen verlangen, ist eine Ohrfeige für Deutschland eines der strengsten und ältesten Tier- die Bundesregierung, die ihre Entscheidung in dieser schutzgesetze der Welt. Insofern ist es umso verwerfli- Frage eher aus einem ideologischen Blickwinkel getrof- cher, dass diese Bundesregierung und insbesondere die fen und damit auch danebengelegen hat. Grünen die Tierliebe zur Mobilisierung ihrer Wähler- In der „Allianz für Tiere in der Landwirtschaft“ wird schaft missbrauchen. von den sie tragenden Verbänden die Schaffung von (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zwei Behörden – einer Prüfungs- und einer Zulassungs- GRÜNEN]: Was? – Ulrike Höfken [BÜND- behörde – gefordert. Das allerdings lehne ich entschie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind das Volk!) den ab, Gerade in diesem Bereich – das lässt sich leicht bele- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der gen – liegen Anspruch und Wirklichkeit Lichtjahre aus- SPD: Das lehnen wir auch ab!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8135

Peter Bleser (A) und zwar deswegen, weil wir schon 1998 die DLG mit- stellt. Letztlich schaden wirklichkeitsfremde Ideologien. (C) beauftragt haben, bei der Prüfung von Stallanlagen Wissen, Erfahrung und die Bereitschaft, die Bedingun- auch die Tiergerechtheit zu prüfen. Dem Ministerium ist gen des Marktes ins Kalkül einzubeziehen, nutzen allen: zugute zu halten, dass seit September vergangenen Jah- den Menschen und den Tieren. res bei der KTBL und bei der Bundesforschungsanstalt für Tierschutz und Tierhaltung in Celle ein Modellpro- Herzlichen Dank. jekt in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) läuft, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bünd- in dem die Bewertung von 100 Stallanlagen oder Hal- nis 90/Die Grünen. tungssystemen vorgenommen werden soll. Mich wun- dert nur, dass die Bundesregierung die Bewertung nicht abwartet, bevor sie – gerade in der Hennenhaltung – Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): endgültige Entscheidungen trifft. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenigstens in ei- nem Punkt ist die CDU/CSU auf dem richtigen Weg. Ihr Deshalb fordere ich als Tierschutzbeauftragter der fallen Grüne Engel ein! Das finde ich gut. CDU/CSU, das Instrument der Prüfung von neuen, in Serie hergestellten Tierhaltungssystemen für die Weiter- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- entwicklung des Tierschutzes und zur Versachlichung SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der der Diskussion in Deutschland zu nutzen. Ich schlage CDU/CSU) deshalb vor, dass man tiergerechten Haltungssystemen einen Grünen Engel verleiht. Aber damit hat es sich schon. Beim Wort „Tierschutz“ fallen einem momentan ganz andere Dinge ein, nämlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die schon beschriebenen Bilder von der Geflügelpest in Asien. Daran sieht man, wie gut es ist, dass die Bundes- Die Verleihung ist allerdings an acht verschiedene Be- regierung und insbesondere die Bundesministerin Frau dingungen geknüpft. Erstens. Ein solcher Grüner Engel Künast eine entschiedene Position eingenommen haben sollte durch eine Bewertungskommission für Tierhal- und bei den WTO-Verhandlungen darauf gedrungen ha- tungssysteme möglichst auf europäischer Ebene verlie- ben, die Anforderungen an den Tierschutz und an Hy- hen werden. Solange dies auf Europaebene nicht mach- giene in diesem Bereich nicht als nicht tarifäre Handels- bar ist, sollte das Vorhaben im Rahmen der Umsetzung hemmnisse abzutun, und darauf hingewiesen haben, dass (B) von EU-Richtlinien in nationales Recht realisiert wer- es wichtig ist, entsprechende Standards international zu (D) den. Zweitens. Die Bewertungskommission sollte – das verankern. ist wichtig – mit Wissenschaftlern, Ethologen, Tiermedi- zinern sowie Tierhaltern, Ingenieuren und Vertretern von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tierschutzverbänden ausgewogen besetzt sein. Drittens. und bei der SPD) Die vorhandenen Einrichtungen sind zur Durchführung Alle zwei Jahre zieht die Bundesregierung Bilanz. von Prüfungs- und Testverfahren zu nutzen. Viertens. Der Tierschutzbericht 2003 macht deutlich, dass die rot- Für die Landwirtschaft und die Hersteller von Tierhal- grüne Regierung enorme Fortschritte im Bereich des tungssystemen müssen die Prüfungen kostenlos sein; Tierschutzes erzielen konnte. Es ist mit den Stimmen al- denn sonst gehen Standortvorteile verloren. Fünftens. ler Fraktionen im Juli 2002 endlich gelungen, eine Forschung und Weiterentwicklung dürfen nicht behin- Grundgesetzänderung vorzunehmen. Tierschutz ist dert werden. Sechstens. Auch serienmäßig hergestellte seitdem als Staatsziel verankert. Das ist ein Meilenstein Einrichtungen für Haus- und Freizeittiere – diesen Punkt für den Tierschutz. Mit der neuen Legehennenhaltungs- müssen wir ebenfalls den Tierschutzvereinen näher brin- verordnung ist außerdem die tierquälerische Haltung von gen – sollten einer solchen Prüfung unterzogen werden. Legehennen vom 1. Januar 2007 an verboten. Daran än- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dert im Übrigen auch der Bundesratsbeschluss vom No- vember letzten Jahres nichts, der durch maßgebliche Siebtens. Die ökonomischen Aspekte müssen natürlich Lobbyaktivität der Geflügelindustrie zustande kam. hierbei Beachtung finden. Achtens. Die Bewertungser- Tierschutzargumente sind ja schön und gut, aber in die- gebnisse sollten der Politikberatung und der Konsensfin- sem Zusammenhang ziemlich heuchlerisch, wenn man dung in der Gesellschaft dienen. Fazit: Der Grüne Engel bedenkt, dass schon über 30 Millionen Euro zur Förde- könnte für die Verbraucher ein einprägsames Markenzei- rung besserer Tierhaltungssysteme eingestellt waren, chen für das Erkennen tiergerechter Lebensmittelpro- diese Mittel allerdings nicht abgerufen worden sind. Wir duktion sein. haben nichts gegen die Verbesserung von Haltungssyste- men. Aber sie muss auf legale Weise, also im Rahmen Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Die der bestehenden Gesetze geschehen. Die Unterstützung Regierung hat auch in den Fragen des Tierschutzes ihre von Boden- und Freilandhaltung ist also durchaus er- Glaubwürdigkeit verloren. Die Zahl der Tierversuche wünscht. nimmt zu. Der Regierung wird die Bewertung von Nutz- tierhaltungssystemen sogar von den Tierschutzverbän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den vorgeschlagen und damit auch Untätigkeit unter- und bei der SPD) 8136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Ulrike Höfken (A) Deutschland will weiter Vorreiter im Tierschutz sein. diesem Bericht, in denen die Rolle der FDP besonders (C) Dafür steht im Übrigen unsere grüne Fraktion im Euro- gewürdigt wird, paparlament. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was?) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch die SPD-Fraktion!) nämlich dabei, den Tierschutz als Staatsziel im Grundge- setz zu verankern. Es wird jetzt eine neue europäische Transportricht- linie vorgelegt. Das ist positiv. Wir plädieren aber wei- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gitta terhin für eine Begrenzung der Transportzeiten auf ma- Connemann [CDU/CSU]) ximal acht Stunden – es darf da keinen Turnus geben –, Wir waren dabei Motor. Es ist gut, wenn man für die weitere Verbesserungen bei den Transportbedingungen Tiere in bestimmten Bereichen solche Erfolge erzielt. und verschärfte Kontrolle. Wir werden das fortsetzen. Es ist ganz klar: Wir müssen Eine weitere Aufgabe – da gebe ich dem Kollegen noch Verbesserungen der Haltungs- und Transportbedin- Bleser Recht – ist die Minimierung der Zahl der Tierver- gungen erreichen. suche. Sie haben sich sicherlich auch erschrocken, als Sie die Wir haben zum REACH-System, also zur Chemika- Zahlen zu den Tierversuchen gesehen haben, die in den lienrichtlinie, hier entsprechende Anträge formuliert, Kapiteln XIV und XV genannt werden. Man muss da ge- nau hinschauen. Die Statistik ist auch ein bisschen geän- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben entspre- dert worden. Aber im Grunde ist jedes Tier, das in die- chende Anträge formuliert!) sem Bereich eingesetzt wird, schon fast ein Tier zu viel. in denen deutlich wird, dass das deutsche Chemikalien- Wir werden uns sehr schnell darüber einigen können, gesetz zum Vorbild genommen und auch europäisch ver- dass wir Alternativen zu den Tierversuchen entwickeln ankert werden sollte. müssen. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, dass die Nutz- Ich habe mich natürlich auch gefreut, als ich die Aus- tierhaltung in Deutschland noch verbessert wird. führungen zur EU-Agrarreform gelesen habe; denn un- Schweine, Hähnchen, Puten, Pelztiere und Kaninchen sere Kulturlandschaftsprämie ist genau das, was hier sind in der Diskussion. Wer zukünftig auf den Märkten angesprochen wird. bestehen will, muss jetzt in moderne und tiergerechte (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gitta Haltungssysteme investieren. Deswegen appellieren Connemann [CDU/CSU] und des Abg. Peter wir auch an die Länder, sich nicht länger zum Handlan- Bleser [CDU/CSU]) (B) ger industrieller Lobbyisten zu machen, die für ihre im (D) Ausland erzeugten Eier aus Käfighaltung – das steckt Kriterien, die Umweltschutz, Landschaftsschutz und doch hauptsächlich dahinter – Akzeptanz erhalten wol- Tierschutz bringen, sind in Ordnung. len. Wir wollen das machen, was mein geschätzter Partei- Verbraucher und Verbraucherinnen entscheiden. Die freund als Umweltminister in Niedersachsen im Um- Tierschutzverbände sagen gerade in einer neuen Aktion: weltbereich macht. Wir wollen Tierschutzpolitik zum Drei ist Quälerei. – Das bezieht sich auf die neuen Kenn- Nutzen der Menschen und der Tiere betreiben. zeichnungsmöglichkeiten bei der Eierproduktion. Ich wende mich an die Verbraucher und Verbraucherinnen: Wir müssen aber auch vorsichtig sein. Herr Schmidt, Tun Sie das Ihre dazu! Nehmen Sie die Fastenzeit und wir hatten eben schon einen Bereich am Wickel, in dem Ostern zum Anlass, keine Eier aus Käfighaltung, auch die Dinge sehr schnell kippen können. nicht verarbeitet in anderen Produkten, zu kaufen! (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was Danke schön. denn?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das haben die Beispiele aus dem Bereich der Geflügel- und bei der SPD) grippe oder Geflügelpest, die von den Kollegen genannt wurden, gezeigt. Wir alle, glaube ich, sind von den Bil- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dern erschüttert. Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann, (Zuruf von der SPD: Richtig!) FDP-Fraktion. Das gilt zum Beispiel auch für Cross Compliance. Wer in diesen Bereichen zu viel tut, wird eher dazu bei- Hans-Michael Goldmann (FDP): tragen, dass die Dinge nicht gelingen. Wenn man zu Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen hohe staatliche Hürden und zu viele staatliche Hinder- und Kollegen! Alle zwei Jahre – jetzt immerhin zum nisse aufbaut, dann reagiert leider der eine oder andere achten Mal, lieber Matthias Weisheit; das ist also keine in der Weise, dass er sie zu umgehen versucht. Erfindung von Rot-Grün; das gibt es schon länger – be- steht die Notwendigkeit, über einen Tierschutzbericht zu Wir sollten die Dinge miteinander betreiben und ei- diskutieren. Ich freue mich darüber, dass die Rahmenbe- nen anspruchsvollen Tierschutz ausgestalten – das ist dingungen für den Tierschutz verbessert worden sind. überhaupt keine Frage –, aber die Verlagerung von Pro- Natürlich freue ich mich besonders über die Passagen in duktion, die Verlagerung von guter Nahrungsmittelher- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8137

Hans-Michael Goldmann (A) stellung ins Ausland – da sind wir uns wohl auch wieder Das Erlassen von noch so vielen Gesetzen und Verord- (C) einig – kann nicht Ziel unser Politik sein. nungen bringt nichts. Nebenbei gesagt: Das gilt genauso für das Fangen von Fischen. Ich finde, es ist richtig, dass (Beifall bei der FDP) die hervorragende Arbeit der vielen Vereine in diesem Ich will ein paar Bereiche ansprechen, die mir auf- Bereich gestärkt wird. fielen. Wir haben hier auch über das Tierarzneimittelgesetz zu reden. Ich bin froh, dass wir alle heute Morgen wieder Tierschutzvereine leisten – ich finde das prima – einmal an einem Tisch saßen. Wir hätten schon viel wei- hervorragende Arbeit; das wurde auch im Bericht zum ter sein können, lieber Kollege Priesmeier und lieber Ausdruck gebracht. Wir haben vor kurzem ein Gespräch Kollege Ostendorff, wenn wir wirklich Ernst damit ge- mit einer europäischen Tier- und Naturschutzorganisa- macht hätten, den Tierschutzgedanken auch über das tion geführt. Es ist genau der richtige Weg, nicht nur die Tierarzneimittelgesetz und über fachlich gute Tierärzte nationale und die europäische, sondern auch die interna- zum Tragen kommen zu lassen. tionale Ebene zu beschreiten. Frau Künast setzt sich da- für ein, dass in anderen Ländern bestimmte Tierquäle- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten reien beseitigt werden. Dafür sind natürlich auch wir. der CDU/CSU) Unseren gemeinsamen Standpunkt haben wir auch bei Ich schlage weiterhin vor: Lassen Sie uns in dieser den Gesprächen in Cancun gemeinsam zum Ausdruck Frage zusammenarbeiten! Lassen Sie uns eine gute Lö- gebracht. sung für die Landwirte, für die Tiere, für die Lebensmit- Ein anderer Bereich hat mich amüsiert. Herr telwirtschaft, aber auch für die in besonderer Weise in Berninger, vielleicht denken Sie einmal darüber nach, diesem Bereich Tätigen, nämlich die Tierärzte, finden! dass es um Öffentlichkeitsarbeit ging. In diesem Zusam- Gute Tierärzte ärgern sich über schwarze Schafe in ih- menhang wurde zu Recht der Erlebnisbauernhof er- rem Beruf mindestens so sehr wie gute Politiker über wähnt. Sie haben unter www.freiheit-schmeckt-besser.de schwarze Politikerinnen- und Politikerkollegen. eine Kampagne durchgeführt. Ich habe mir die Frage ge- (Beifall bei der FDP – Heiterkeit bei der SPD stellt, ob wir das eigentlich noch dürfen. Ich erinnere da- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- ran, dass wir aufgrund der EU-Werbeverordnung nicht derspruch bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken mehr „Nimm 2“ und „Milch macht müde Männer mun- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine ter“ sagen dürfen. Angesichts dessen bin ich ziemlich si- Beleidigung für die Schafe und für die CDU cher, dass wir auch nicht mehr „Freiheit schmeckt bes- gleichzeitig!) ser“ sagen dürfen; denn die Verbindung zwischen (B) „Freiheit“ und „schmecken“ ist für den Konsumenten (D) nicht ganz einfach herzustellen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Ohm, SPD-Fraktion. Wer die Latte so hoch legt, wie Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, es in diesem Bereich immer wie- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): der tun, der darf nicht selbst darunter durchgehen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Tierversuche hat uns schon in der letzten Tier- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schutzdebatte im September beschäftigt. Wir sprechen der CDU/CSU) heute darüber und es wird uns auch noch in der Zukunft verfolgen. In diesem Punkt steuern Sie haarscharf an der Wirklich- keit vorbei. Die Statistik weist heute wieder mehr Tierversuche als noch 1997 aus – trotz inzwischen entwickelter Er- Lassen Sie mich noch etwas zu den Zirkustieren sa- satzmethoden. Sie, Herr Kollege Bleser von der CDU/ gen; denn sie liegen mir traditionell besonders am Her- CSU-Fraktion, machen die rot-grüne Bundesregierung zen. Ich bin für Zirkuskultur; aber ich bin auch für Le- dafür verantwortlich. In der letzten Debatte haben Sie in benskultur von Zirkustieren. Ich finde es gut, dass eine diesem Zusammenhang Frau Ministerin Künast Schein- neue Leitlinie auf den Weg gebracht worden ist, die heiligkeit vorgeworfen. Orientierungshilfen gibt. Das macht das Angebot kleiner Zirkusse sicherlich schwieriger; aber wir müssen diesen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weg gehen. Besonders gefreut habe ich mich über den Typisch!) Abschnitt „Tiere im Sport/Doping“ im Tierschutzbe- Jetzt wollen wir einmal sehen, Herr Kollege Bleser, richt. Dort wird das besondere Engagement der Deut- wer hier tatsächlich scheinheilig ist. schen Reiterlichen Vereinigung – sie hat den Weg der Selbstkontrolle beschritten – dargestellt. Das hat mir gut (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gefallen. Es muss nämlich nicht immer alles von oben Wie sieht es wirklich aus? Bei der Entwicklung neuer bestimmt werden; vielmehr müssen wir auch diejenigen Medikamente setzt die Pharmaindustrie verstärkt gen- stärken, die den Tierschutz von unten her ausgestalten. manipulierte, so genannte transgene Tiere ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Genetisch verän- der CDU/CSU) dert, nicht genmanipuliert!) 8138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Gabriele Hiller-Ohm (A) Wir kennen den Begriff „Krebsmaus“. Diese Aktivitäten ganz verstärkt Prüfmethoden voranbringen und einset- (C) haben die Zahl der Tierversuche wieder weiter nach zen, die ohne Tierversuche auskommen. Das ist der rich- oben getrieben. Sie, Herr Bleser, wollen der Bundesre- tige Weg. gierung doch wohl nicht allen Ernstes die verstärkte Grundlagenforschung zum Vorwurf machen? Das wäre Die neue Chemikalienverordnung kann auch eine doch geradezu aberwitzig und hätte mit seriöser Politik Chance für die Tiere bieten: weg von den Tierversuchen, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. hin zu Alternativmethoden, und zwar nicht nur auf natio- naler Ebene, sondern europaweit. Wir unterstützen die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen Weg. Ich bin sehr gespannt, wie sich die CDU/CSU DIE GRÜNEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: in dieser Frage verhalten wird. Mitunter habe ich den Lesen Sie einmal die Reden von Ihren Kolle- Verdacht, dass Ihr Engagement für den Tierschutz ge- ginnen und Kollegen aus den 80er-Jahren!) rade an dieser Stelle nur vorgeschoben ist, um die Initia- tive der EU insgesamt zu torpedieren und die chemische Wir dürfen die Forschung in Deutschland nicht behin- Industrie von Kosten für das geplante Chemikalienma- dern, wir müssen aber gleichzeitig tierversuchsfreie Ver- nagement freizuhalten. fahren voranbringen. Die Bundesregierung unterstützt diese Forderung und ist in diesem Bereich aktiv. Ich (Dr. [CDU/CSU]: Das ist freue mich, meine Damen und Herren, dass es zum Bei- eine Unterstellung!) spiel der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tier- schutzbundes gelungen ist, ein tierversuchsfreies Verfah- Vielleicht wollen Sie aber auch nur von fehlender Bereit- ren zur Erkennung erbgutgeschädigter Stoffe in schaft zu mehr Tierschutz in anderen Bereichen ablen- Wasserproben zu entwickeln. Dieses Verfahren kann den ken. Einsatz von 80 000 Fischen im Jahr überflüssig machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist der richtige Weg; den müssen wir weitergehen. Tiere werden ja nicht nur zu Forschungszwecken ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) braucht. Alleine im Jahre 2002 wurden in Deutschland Wenn man den Anstieg der Zahl der Tierversuche be- 50 Millionen Schweine, Rinder und Schafe geschlachtet. klagt, darf man dabei allerdings nicht außer Acht lassen, (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist aber doch dass die Bundesregierung eine neue Meldestatistik für wohl ein Unterschied!) Versuchstiere eingeführt hat. In der Zeit als Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und von der FDP, Hinzu kamen 850 Millionen Kilogramm Geflügel, die an der Regierung waren, sind viele Versuchstiere über- der Nahrungskette zugeführt wurden. Das, meine Damen (B) haupt nicht statistisch erfasst worden; sie sind schlicht- und Herren, ist eine gigantische Zahl. Wir haben (D) weg nicht mitgezählt worden. 2,1 Millionen Tierversuche, (Matthias Weisheit [SPD]: Hört! Hört! – Julia (Peter Bleser [CDU/CSU]: Soll man die aus- Klöckner [CDU/CSU]: Wie heute bei den Ar- dehnen?) beitslosen!) aber weit über 50 Millionen geschlachtete Tiere pro Jahr. Das ist ein weiterer Grund, warum heute höhere, aber Wie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sieht dafür auch genauere Tierversuchszahlen als zu Ihrer Zeit Ihr Engagement im Nutztierbereich aus? Was tun Sie, vorliegen. um die Haltungsbedingungen der Tiere in diesem Be- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt reich zu verbessern? nicht!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Grüner Engel!) Sich jetzt hier hinzustellen und der Bundesregierung Wo zum Beispiel ist Ihr Engagement für die Legehen- vorzuwerfen, dass die Zahl der Versuchstiere steigt, ist nen? Die wollen Sie in Käfige wegsperren, eine drin- scheinheilig, Herr Bleser. gend notwendige Schweinehaltungsverordnung torpe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Bleser dieren Sie. Das ist die traurige Wahrheit; so sieht Ihre [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!) Politik für den Tierschutz aus. Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neue Chemikalienverordnung der EU ist mit dem DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Thema Tierversuche eng verknüpft. Es gibt weit über [FDP]: Jetzt werden Sie langsam persönlich!) 30 000 marktrelevante Altstoffe. Nur ein ganz kleiner Die Hauptursache vieler Tierschutzprobleme liegt in Bruchteil ist überhaupt abschließend bewertet worden; unzureichenden Haltungssystemen. Ich will Ihnen ein- nur zu einem ganz kleinen Bruchteil liegt eine abschlie- mal ein Beispiel nennen, das wir hier überhaupt noch ßend Risikobeurteilung vor. Die EU hat sich deshalb mit nicht diskutiert haben. Jährlich werden in Deutschland der neuen Chemikalienverordnung zum Ziel gesetzt, die- 30 Millionen Kaninchen verspeist. Die meisten dieser sen Missstand zu beseitigen und für mehr Sicherheit in Mastkaninchen fristen ihr Dasein bis zur Schlachtung in Europa zu sorgen. Mehr Sicherheit bedeutet aber auch, viel zu kleinen Drahtkäfigen ohne festen Boden. dass mehr Tests notwendig werden. Mehr Tests ziehen wiederum mehr Tierversuche nach sich. Das sieht auch (Lachen der Abg. Gitta Connemann [CDU/ die EU; sie hat dieses Problem erkannt. Sie will deshalb CSU]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8139

Gabriele Hiller-Ohm (A) – Lachen Sie ruhig darüber, Frau Connemann. – Das Westfalen nicht wie ihre Kollegen in Niedersachsen han- (C) Platzangebot für ein Kaninchen beträgt – vielleicht wis- deln können, denn es fehlen ausreichende Ermächtigun- sen Sie es ja gar nicht – weniger als die Größe eines gen, die bundesweit greifen. Das deutsche Tierseuchen- DIN-A4-Blattes; von artgerechter Haltung keine Spur. recht ist lückenhaft. Deshalb hat unsere Fraktion im Juni Hier müssen und können wir etwas tun. letzten Jahres den vorliegenden Antrag eingebracht. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Mein Kollege Wilhelm Priesmeier hat schon darauf Kollegen Priesmeier? hingewiesen: Wir brauchen dringend einen Tierschutz- TÜV, wir brauchen ein verbindliches Prüf- und Zulas- sungsverfahren für Haltungseinrichtungen für alle land- Gitta Connemann (CDU/CSU): wirtschaftlichen Nutztierarten. Der Grüne Engel, den Sie Nein. hier angeführt haben, wird uns da wenig weiterhelfen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Frau (Peter Bleser [CDU/CSU]: Engel helfen im- Connemann, das hätte ich nie von Ihnen ge- mer!) dacht!) Machen Sie Ernst mit dem Tierschutz und unterstützen Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist im Aus- Sie unser Anliegen! Millionen von Tieren werden es Ih- schuss mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abge- nen danken. lehnt worden, ohne Aussprache, also ohne jede Begrün- dung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wollte Priesmeier doch nur sagen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Was hat dieses Schweigen zu bedeuten? Versetzen wir Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/ uns für die Auslegung doch einmal in die Situation eines CSU-Fraktion. Bürgers, der der Bundesregierung geneigt ist – sofern es ihn denn überhaupt noch gibt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Gitta Connemann (CDU/CSU): Müller [Düsseldorf] [SPD]: Helau!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Dieser darf annehmen, dass zwingende Gründe für die (B) Hiller-Ohm, es war wirklich sehr erbaulich, Ihrer Rede Ablehnung des Antrages vorgelegen haben – seien es (D) zuzuhören, wobei mir allerdings nicht ganz klar war, ob auch falsche Fakten oder fehlerhafte Rechtsannahmen. Sie gegebenenfalls das Rednerpult mit einer Bütt ver- Denn – jetzt hören Sie zu – wechselt haben. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Nein, (Zurufe von der SPD: Oh!) nein, da hören wir nicht mehr zu!) Es war aber auf jeden Fall nicht unspannend. er darf das Vertrauen haben, dass die Abgeordneten von Wenn Sie über Schein und Sein im Bereich des Tier- SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag nicht nur schutzes sprechen, dann denken Sie sicherlich auch an aus einer Blockadehaltung heraus ablehnen, insbeson- eine effektive Tierseuchenbekämpfung, denn das ge- dere in einer Frage, die die Menschen so bewegt wie das hört immer zum Tierschutz dazu. Vor Ort ist das längst Auftreten von Seuchen. bekannt. So gibt es zum Beispiel in meinem Heimatland- Meine Damen und Herren, genau das ist aber in die- kreis, nämlich dem Landkreis Leer, seit kurzem eine sem Fall passiert: Wider besseres Wissen wurde hier blo- Vereinbarung mit den Nachbarkreisen über die Bildung ckiert. eines gemeinsamen Tierseuchenkrisenzentrums. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ne- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: So sind wir gieren Fakten!) Ostfriesen!) Der Beweis liegt vor: ein Referentenentwurf zur Än- Die Begründung für diese Initiative lautet übrigens par- derung des Tierseuchengesetzes, der jetzt aufgetaucht teiübergreifend, Tierseuchenbekämpfung könne nur er- ist. folgreich sein, wenn die Nachbarn in gleicher Weise konsequent vorgehen. Vollkommen richtig: Tierseuchen (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Was? Aufge- machen weder an Kreisgrenzen noch an anderen Gren- taucht?) zen Halt, nicht im Bund, nicht innerhalb Europas und Er ist in den Ministerien der Länder aufgetaucht und auch nicht zwischen den Kontinenten. Das erleben wir setzt unseren Antrag um. Das Bundestierseuchenrecht aktuell in Asien. Dort grassiert die aviäre Influenza in- weist Rechtslücken bei der Bekämpfung hochkontagiö- zwischen in zehn Staaten. ser Tierseuchen auf. Auch im Referentenentwurf wird Der letzte Seuchenzug in Europa liegt noch nicht ein- das festgestellt. Deshalb haben wir im vorliegenden An- mal ein Jahr zurück. Dabei zeigte sich, dass Veterinäre, trag unter anderem eine Ermächtigung gefordert, Humanmediziner und Vollzugsbehörden in Nordrhein- Einschränkungen „für den außerlandwirtschaftlichen 8140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Gitta Connemann (A) Wirtschaftsgüter- und Personenverkehr in Verdachts- insbesondere kann man damit keine Tierseuche bekämp- (C) sperrbezirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebie- fen. ten“ zu ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Man reibt sich die Ohren – so ist auch der Tenor in Wenn Sie wirklich eine wirksamere Tierseuchenbe- dem Referentenentwurf der Bundesregierung. Es fehlten kämpfung wollen, dann können Sie nur eines tun: unse- Ermächtigungen für Reglementierungen für „den außer- ren Antrag unterstützen. landwirtschaftlichen Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Los, in Vieh haltenden Betrieben sowie in Verdachtssperrbe- Wilhelm!) zirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebieten“. Die Übernahme unserer Forderung erfolgte nicht nur inhalt- Damit helfen Sie auch den Tieren. Stimmen Sie zu! lich, sondern auch sprachlich eins zu eins, unisono – Vielen Dank. nicht nur in diesem Fall, sondern durchgängig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Interfraktionell also!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich beglückwünsche die Koalitionsfraktionen zu ihrer Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Einsichtsfähigkeit. Die Einsicht kam spät, aber immer- Matthias Berninger. hin. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Michael mit der Kurzintervention?) Goldmann [FDP]: Ist die Regierung schon zu- – Entschuldigung. Herr Berninger, zuerst gibt es die rückgetreten?) Kurzintervention des Kollegen Priesmeier. Auch in diesem Fall ist die Bundesregierung ihrem (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wieso Motto treu geblieben, das da lautet: erst negieren, dann denn?) blockieren, schließlich kopieren. Bitte schön, Herr Kollege Priesmeier. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias Weisheit [SPD]: Oh! Aber Frau Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Connemann! – Michael Müller [Düsseldorf] Verehrte Kollegin Connemann, ich glaube, Sie sind [SPD]: Helau!) (B) da einigen Missverständnissen aufgesessen. Die Begrün- (D) Aber wenn Sie schon kopieren, dann machen Sie es doch dung, warum Ihr Antrag im Ausschuss berechtigterweise bitte richtig. abgelehnt worden ist, ist Ihnen bereits damals gegeben worden. Es gibt in diesem Zusammenhang gar nichts Leider haben Sie eine wesentliche unserer Forderun- mehr zu diskutieren. Wenn Sie den Entwurf zur Ände- gen nicht aufgenommen, nämlich die Ermächtigung zu rung des Tierseuchengesetzes richtig gelesen hätten, einem „stand still“. dann hätten Sie erkannt, dass dort eine Forderung von Ihnen enthalten ist, die man aber wegen des Grundge- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Überlesen!) setzes nicht so einfach umsetzen kann. Hätten Sie mich Das wäre wirklich wichtig gewesen. Zurzeit müssen vorhin zu Wort kommen lassen, dann hätte ich gefragt, Eingriffe wie ein „stand still“ in den amtlichen Verkün- ob Sie diese Forderung nicht einmal hätten erwähnen dungsblättern bekannt gemacht werden. Das bedeutet ei- können. nen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die Veröf- Alle anderen Punkte sind so umgesetzt, wie Sie es fentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio bei vorgetragen haben. Ich glaube, wir haben ein Optimum uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer an zusätzlicher Sicherheit bei der Tierseuchenbekämp- Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich fung erreicht, wenn dieser Änderungsentwurf verab- zu reagieren. schiedet wird. Ein weiterer Unterschied: Sie wollen in dem Referen- In Bezug auf die Namensänderung muss ich sagen, tenentwurf neun Gesetze und Verordnungen auf Bundes- dass Herr Loeffler für die Tierseuchenbekämpfung ge- ebene ändern, um aus der Bundesforschungsanstalt für nauso wichtig ist wie Herr Professor Koch für die Hu- Viruskrankheiten der Tiere das Friedrich-Loeffler-Ins- manmedizin. Ich glaube, es ist legitim, ein Institut nach titut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, zu jemandem zu benennen, der sich entsprechende Ver- machen. Es ist zwar beruhigend, zu lesen, dass die Bun- dienste erworben hat. Wenn das im Rahmen einer Geset- desregierung in diesem Fall einmal nicht auf kosten- zesänderung geschieht, dann kann man das doch wohl pflichtige Berater zurückgegriffen hat. nur unterstützen und darf es hier nicht lächerlich ma- chen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie pfle- gen auch alle Vorurteile, die Sie haben!) Danke schön. Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der (Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- Koalition: Haben Sie wirklich keine anderen Probleme? gitter] [SPD]: Die Polemik vorhin war völlig Mit diesen Formalismen ist wirklich nichts zu bewegen, fehl am Platz!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8141

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Frau Kollegin Connemann, Sie können antworten. Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber nicht noch einmal im gleichen Stil!) Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Gitta Connemann (CDU/CSU): Landwirtschaft: Sehr verehrter Herr Kollege Priesmeier, Sie haben ge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sagt, im Ausschuss sei über diesen Antrag debattiert Herren! Es geht heute um den Tierschutzbericht und worden. Das ist leider nicht der Fall gewesen. nicht um Spiegelstriche. Lassen Sie mich deswegen zu- nächst einmal ein paar ganz grundsätzliche Bemerkun- (Matthias Weisheit [SPD]: Weil Sie sich nicht gen machen. Die Debatte hat bisher eines sehr deutlich gemeldet haben!) gezeigt: Es gibt in diesem Hause den großen Konsens, im Tierschutzbereich voranzukommen. Es ist aber auch Ich habe das im Ausschussprotokoll nachgelesen. Dieser sehr deutlich geworden, dass dieser Konsens leider an Antrag ist ohne Aussprache – Sie können das im Proto- einer Stelle endet, nämlich immer dann, wenn es um koll gerne nachlesen; ich habe es dabei – mit den Stim- Nutztiere geht. Immer dann, wenn mit der millionenfa- men der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Sie hat- chen Nutzung dieser Tiere ökonomische Interessen ver- ten es nicht nötig, auch nur ein einziges Wort zum bunden sind, wird der Bundesrat, der beispielsweise in Thema Tierseuchen zu sagen. Bezug auf Zirkustiere dankenswerterweise die Initiative (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das hätten Sie ergriffen hat, ganz schnell zum Verhinderungsgremium. doch machen können! Das ist unglaublich!) Dann werden Tierschutzinteressen einem Hürdenlauf unterzogen. Das erleben wir seit Jahren. Daher ist es umso verblüffender, dass Sie unseren An- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es ist nicht trag – also nicht nur diese eine Forderung – unisono richtig, was Sie sagen!) übernehmen. Der Kollege Goldmann freut sich darüber, dass die (Zuruf von der SPD) FDP-Fraktion erreicht hat, den Tierschutz in das Grund- – Beruhigen Sie sich wieder, Herr Kollege. Ich zitiere gesetz aufzunehmen. Man sollte sich auch in einer Tier- bei solchen Gelegenheiten gerne aus dem Alten Testa- schutzdebatte nicht mit fremden Federn schmücken. Im ment: Dass ihr endlich schweigen würdet, das würde Hinblick auf das Gebot des Tierschutzes hat in allen (B) Wahrheit für euch sein. – Das wäre sicherlich einmal Fraktionen Konsens bestanden und es ist deshalb in das (D) ganz angebracht. Grundgesetz aufgenommen worden. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch das (Widerspruch bei der SPD) habe ich nicht gesagt! Sie müssen zuhören! Ich Es gibt eine Menge Überschneidungen des Referen- habe gesagt, dass wir Motor waren!) tenentwurfs, der Ihnen sicherlich vorliegen wird, mit un- Eines ist ganz deutlich geworden: Die Debatte darü- serem Antrag. Ich nenne unter anderem: Unter Spiegel- ber, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, strich zwei – es geht um den außerlandwirtschaftlichen hat in dem Moment an Fahrt gewonnen, in dem die rot- Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr – wird Ziffer 3 grüne Bundesregierung dieses Thema vorangebracht hat. unseres Antrages übernommen. Unter Spiegelstrich drei In den 16 Jahren davor mag es zwar aus den Reihen der – es geht um die Reglementierung der Verbringung und FDP entsprechende Forderungen gegeben haben. Diese Einführung von Tieren und von ihnen stammenden Er- sind allerdings allesamt an der Unionsfraktion geschei- zeugnissen – wird Ziffer 2 unseres Antrages übernom- tert. men. Unter Spiegelstrich vier – dort geht es um die Anordnung vorbeugender Reinigungs- und Desinfek- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tionsmaßnahmen an den Außengrenzen der Bundesrepu- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) blik Deutschland, also an Flug- und Schiffshäfen – wird Hier ist auch das Thema der Tierversuche angespro- Ziffer 5 unseres Antrages übernommen. Die Anordnung chen worden. Man hat ja fast den Eindruck, der Kollege vorbeugender Reinigungs- und Desinfektionsmaßnah- Bleser freue sich über die ansteigende Zahl von Tierver- men bei regelmäßig verkehrenden Fahrzeugen bedeutet suchen. die Übernahme von Ziffer 8 unseres Antrages. Dies setzt sich so fort. Ich könnte Ihnen viele weitere Übereinstim- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das haben Sie mungen nennen. falsch verstanden! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind der einzige Tierschützer weit Von daher bleibe ich dabei: Sie haben unseren Antrag und breit!) übernommen. Das spricht für Sie; Sie besitzen Einsichts- fähigkeit. Es wäre schön, wenn Sie dies auch durch Ihr Denn in jeder seiner Reden glaubt er, die Milchbuben- Abstimmungsverhalten zum Ausdruck bringen würden. rechnung aufmachen zu müssen, dass die Steigerung der Zahl der Tierversuche eine Art Lackmustest und Beweis (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war dafür ist, dass wir uns nicht um das Thema Tierschutz nun völlig daneben!) kümmern. 8142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie haben es uns in hinsichtlich der Vogelgrippe sowie der Probleme, die (C) den 80er-Jahren immer vorgehalten!) wir in Europa hatten, im Ausschuss angekündigt haben, hier tätig zu werden. Das ist falsch. Die Zahl der Tierversuche ist gestiegen, weil es insbesondere im Bereich der Biotechnologie eine (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, angekün- ganze Reihe neuer Forschungsaktivitäten gegeben hat, digt!) die entsprechende Tierversuche nach sich gezogen ha- ben. Die gleiche Fraktion, die uns in diesem Bereich – Wir sind tätig geworden. Am 18. Februar wird die No- Vorwürfe macht, steht, wenn es um die Förderung der velle des Tierseuchengesetzes im Kabinett behandelt Biotechnologie geht, ganz vorne an der Spitze. werden. Bei vielen Punkten herrscht Übereinstimmung der Fachleute aller Länder, dass wir hier vorankommen Ich halte dieses Aufrechnen für nicht sonderlich müssen. In einem Punkt liegen sie völlig falsch. Auch glücklich. Ich glaube vielmehr, dass uns die hohe Anzahl hinsichtlich eines „stand still“, wo es darum geht, mög- von Tierversuchen veranlassen sollte, uns noch stärker lichst schnell dafür zu sorgen, dass keine Tiertransporte um Alternativmethoden zu kümmern. mehr erfolgen, wird die Bundesregierung eine Beschleu- nigung vornehmen. Wenn wir uns in der Sache einig (Hans-Michael Goldmann [FDP]: In Ordnung! sind, sollten wir uns darüber freuen, weil dies ein Instru- Bravo!) ment sein kann, um Tierseuchenprobleme schnell zu ver- Die Bundesregierung wird hier verstärkte Anstrengun- meiden. Das ist unser aller Ziel, denn die beste Seuchen- gen unternehmen. Es gibt sehr viele Alternativen zu bekämpfung ist dann gegeben, wenn es gelingt, eine klassischen Tierversuchen; das wissen auch Sie. Auch Verbreitung entsprechender Erreger durch entschlosse- die Biotechnologie, insbesondere neue Zellkulturen, also nes und konzertiertes Handeln zu verhindern. Wir wer- gentechnisch veränderte Organismen, werden von uns in den mit dem Gesetzentwurf am 18. Februar auch dazu Betracht gezogen, um die Zahl der Tierversuche in den einen wichtigen Beitrag leisten. nächsten Jahren spürbar zu senken. Das müssen wir un- ter anderem wegen der neuen Chemikalienpolitik tun. Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung wird in den nächsten Monaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Bezug auf Mastgeflügel, die Geflügel- und Schweine- und bei der SPD) haltung, den Transport von Tieren, die Pelztierhaltung, die Reform des Bundesjagdgesetzes, die Verbesserung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Lebensbedingungen von Zirkustieren, aber auch in Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Bezug auf das Thema „Mehr Transparenz über Tierhal- Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion. (B) tungsformen“ Initiativen ergreifen, die am Ende die Le- (D) benssituation von Tieren verbessern werden. Julia Klöckner (CDU/CSU): Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zum Tierseu- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- chengeschehen sagen. Ich halte wenig davon, sich über gen! Neben dem Tierschutzbericht und der Tierseuchen- die Bilder anderenorts zu freuen und so zu tun, als könn- bekämpfung stehen heute der Initiativantrag Bayerns aus ten diese Bilder nicht auch uns schnell einholen. Sie alle dem Bundesrat und der Antrag der FDP zum Tierarznei- wissen, dass Europa bei der Maul- und Klauenseuche mittelgesetz auf der Tagesordnung. Es geht um die ähnlich widerwärtige Bilder auf die Bildschirme ge- Nachbesserung des geltenden Arzneimittelgesetzes bracht hat, wie wir es jetzt in Asien erleben. Anders- nicht zuletzt unter Tierschutzaspekten. herum wird ein Schuh daraus: Nicht nur die Vogel- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Schon wieder grippe, sondern auch BSE ist ein globales Tierproblem. nachbessern!) Tierseuchen müssen stärker global angegangen werden. Es freut mich, dass die Kollegen aus den anderen Frak- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie treiben die tionen zustimmen. Hühner in asiatische Käfige!) (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Sie müssen ein elementares Thema bei den WTO-Ver- [FDP]) handlungen werden. Bundesministerin Künast wird ge- rade das in ihrer Rede auf der OIE-Tagung, die sich erst- Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass eine Novelle, mals in aller Deutlichkeit um Tierschutzfragen kümmert, die gerade ein Jahr alt ist, schon wieder nachgebessert nach vorne tragen. werden muss. Im Grunde ist es eher eine „olle Kamelle“ als eine Novelle. Im Ernst: Der Druck aus der Praxis Die Kollegin Connemann, auch wenn sie gerade nicht machte innerhalb kurzer Zeit klar, dass das, was sich in zuhört, der Theorie so wunderbar anhörte, einfach nichts mit der (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Doch, ich Arbeit vor Ort zu tun hat. Wer das heute nicht wahrha- höre zu! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: ben möchte, hat einen wunderbaren Verdrängungsme- Wer könnte Ihnen nicht zuhören?) chanismus. Das Künast-Ministerium ist darin gar nicht schlecht. ist ja ganz glücklich darüber, dass sie vor einiger Zeit ei- nen Antrag gestellt hat, der sich mit der Änderung des (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Tierseuchengesetzes beschäftigt. Sie wissen auch, dass der FDP – Matthias Weisheit [SPD]: Das Ding wir vonseiten der Bundesregierung bereits im Sommer ist im Bundesrat verschlimmbessert worden!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8143

Julia Klöckner (A) – Ja, Matthias, ich erkläre es auch dir noch. fernden Tieren und reinen Gesellschafts- und Sport- (C) tieren. – Das wird auch Ulla Heinen und ihr Pferd Die Ziele, denen wir uns heute noch verpflichtet füh- freuen. len, ein verbesserter Verbraucher- und Tierschutz, sind mit dem geltenden Arzneimittelgesetz nicht zu errei- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Danke!) chen. Im Gegenteil. Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarznei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) mitteln zu gewährleisten, sollte es den Tierärzten nicht Die meisten der hier Anwesenden waren bei unserer länger verboten werden, Arzneien aus fertigen Gebinden Ausschussanhörung, die relativ schnell ziemlich deutlich umzufüllen, fachgerecht neu zu verpacken und dann an zeigte, dass hier nachgebessert werden muss. Vor allen den Tierhalter abzugeben. Dingen müssen die Rechtsunsicherheit, die kaum zumut- Lassen wir die Kirche im Dorf! Schauen wir doch, baren Mehrbelastungen für Tierärzte und -halter und vor was praktikabel ist und dass wir den Tieren und dem allem der mangelnde Tierschutz Änderungen erfahren. Verbraucherschutz gerecht werden! Seien wir nicht heili- (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann ger, als wir sein sollten! Das bringt hier nun wirklich [FDP]) nichts. Die Frage ist hier, warum wir so lange warten, bis es zu Ich möchte unterstreichen: Die Siebentageregelung Nachbesserungen kommt. muss weg. Die Abgabe von Arzneimitteln muss endlich Das zentrale Problem ist die Siebentageregelung. Mal den praktischen Bedürfnissen angepasst werden. Die ehrlich: Welche Krankheit hält sich an eine willkürliche Union und die FDP schlagen vor, drei Behandlungsfor- Vorgabe von sieben Tagen? Es gibt keine Krankheit, die men als alternative Voraussetzungen für die Arzneimit- am siebten Tag aufhört. Aber es lässt sich einfach bis telabgabe zuzulassen. Sie sollen gleichrangig nebenei- sieben zählen. Am achten Tag hat der Tierarzt gegen das nander stehen. Das wäre den Bedürfnissen der Praxis geltende Recht verstoßen. Dies hat nichts mit der Reali- angebracht. tät zu tun. Es ist einfach für die Kontrolleure, aber un- Es geht erstens um die konventionelle Behandlung, praktikabel für die Betroffen und vor allen Dingen sehr zweitens um den Behandlungsplan und drittens – je nach leidvoll für die Tiere. Bedürfnis – um die tierärztliche Bestandsbetreuung. So (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann flexibel auf die verschiedenen Krankheitsgesche- hen reagiert und gleichzeitig schon im Vorfeld die Ge- Um nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, müsste der fahr der Erkrankung des Tierbestandes gemindert wer- Tierarzt jedem kranken Tier einen persönlichen Kran- (B) den. Nichts anderes soll der Tierarzt regeln und nichts (D) kenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behand- anderes will auch der Tierhalter. lungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter die nötige Behandlung durchführen darf. Würde der Tierarzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dann noch vor und nach jedem Stallbesuch durch die des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) Hygieneschleuse geführt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krankheiten zu verschleppen als zu bekämp- Ich glaube, so weit liegen wir gar nicht auseinander. fen, dann wäre das Unterfangen endgültig undurchführ- Man muss aber etwas tun; es reicht nicht, nur zu wollen. bar. Das Ergebnis ist das, was wir alle nicht wollen: eine Ich betone, dass wir alle – ich hoffe, ich darf den Kolle- himmelschreiende Tierquälerei. Angesichts dessen kann gen zur Rechten einschließen – bereit sind, zusammen- man sich auch einen Tierschutzbericht schenken. zuarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Wenn ein Arzneimittelgesetz – ohne Tierquälerei, Wir sind bereit, eine praktische Lösung mit Hand und eben durch unterlassene Behandlung – mehr Verbrau- Fuß zu erarbeiten, vor allem an den Brennpunkten, die cherschutz bringen soll und wenn die Landwirte und die wir schon angesprochen haben. Tierärzte nicht unter polizeilicher Überwachung stehen sollen, dann muss das Gesetz folgendermaßen aussehen: Jetzt wird es spannend. Die Kollegin Connemann hatte einen Antrag gestellt, den man gerne umgesetzt Die Siebentageregelung ist zu streichen. Eine starre hat. Wir Berichterstatter aller Fraktionen haben uns in Frist, von welcher Länge auch immer, kann der Vielfalt der Sommerpause zusammengesetzt und die Punkte auf- der Tiererkrankungen und deren Verläufen überhaupt gelistet, die wir als die nachbesserungswürdigsten anse- nicht gerecht werden. hen. Es bestand interfraktionelle Einigkeit. Jetzt aber spielen politische Eitelkeiten eine Rolle; Frau Künast (Peter Bleser [CDU/CSU]: Praxisfremd!) lässt die Zusammenarbeit verbieten. – Das ist sehr praxisfremd. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Nun dramati- Die fünfstufige Umwidmungskaskade für Lebensmit- sier doch nicht!) tel liefernde Tiere ist durch die auf EU-Ebene gültige dreistufige Kaskaderegelung zu ersetzen. – Wilhelm, du warst doch nach der Diskussion auch nicht ganz entspannt. – Mit Blick auf den Verbraucherschutz empfiehlt sich eine klare Grenzziehung zwischen Lebensmittel lie- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) 8144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Julia Klöckner (A) Das hat uns wirklich um einiges zurückgeworfen. Wir Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf: (C) könnten heute viel weiter sein. a) – Zweite und dritte Beratung des von den Wir sind bereit, zusammenzuarbeiten. Aber dann Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des muss man auch miteinander reden und vor allen Dingen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der bereit sein, etwas zu tun. FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes – Es ist zwar schön, wenn ihr sagen könnt – unser Mitleid KostRMoG) habt ihr –: Mögen würden wir schon wollen, aber dürfen – Drucksache 15/1971 – haben wir uns nicht getraut. (Erste Beratung 76. Sitzung) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Ich biete allen Kollegen und auch Ihnen, Herr Berninger, desregierung eingebrachten Entwurfs eines herzlich an, zusammen das Arzneimittelgesetz so zu Gesetzes zur Modernisierung des Kos- überarbeiten, dass es praktikabel wird und jeder etwas tenrechts (Kostenrechtsmodernisierungsge- davon hat, dass der Tierschutz und der Verbraucher- setz – KostRMoG) schutz gewahrt sind, dass die Tierärzte ihrer Arbeit nach- – Drucksache 15/2403 – gehen können – sie haben studiert und wissen, was sie (Erste Beratung 88. Sitzung) tun –, dass die Tierhalter Spaß an ihrem Beruf haben und dass wir letztlich relativ schnell zu einer Novelle kom- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des men, die diesen Namen verdient. Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Herzlichen Dank. – Drucksache 15/2487 – Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Abgeordnete Joachim Stünker Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das sa- Christoph Strässer gen Sie dann auch dem Bundesrat und den Hans-Christian Ströbele Ländern!) Rainer Funke – Ich kümmere mich um die Länder. bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Ge- (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schäftsordnung (D) Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 15/2488 – Tagesordnungspunkt 9 a. Wir kommen zur Beschluss- Berichterstattung: empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- Abgeordnete Dr. Heinz Köhler nährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/2231 zum Tierschutzbericht 2003, dem Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes. Der Ausschuss emp- fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundes- Die Redner Christoph Strässer, Andreas Schmidt (Mül- regierung auf Drucksache 15/723 eine Entschließung an- heim), Hans-Christian Ströbele, Rainer Funke und die zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ministerin Brigitte Zypries haben ihre Reden zu Pro- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- tokoll gegeben.1) empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen deshalb sofort zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP eingebrachten Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kostenrechtes, Landwirtschaft auf Drucksache 15/2233 zu dem Antrag Drucksache 15/1971. Der Rechtsausschuss empfiehlt der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wirksamere unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Tierseuchenbekämpfung ermöglichen“. Der Ausschuss Drucksache 15/2487, den Gesetzentwurf in der Aus- empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1210 abzuleh- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- der Opposition angenommen. tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkte 9 c und 9 d. Interfraktionell Dritte Beratung wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1494 und 15/1596 an die in der Tagesordnung aufge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? – verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8145

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: (C) ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ausschusses zu dem von der Bundesregierung einge- zur Änderung der Vorschriften über die An- brachten Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kosten- fechtung der Vaterschaft und das Umgangs- rechts. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b recht von Bezugspersonen des Kindes seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2487, – Drucksache 15/2253 – den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/2403 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Erste Beratung 86. Sitzung) lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist die Be- schlussempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- angenommen. schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 15/2492 – Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Berichterstattung: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Abgeordnete Christine Lambrecht gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ute Granold zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur Die Redner Christine Lambrecht, Michaela Noll, Ute Änderung des Hypothekenbankgesetzes und Granold, Irmingard Schewe-Gerigk, Sibylle Laurischk anderer Gesetze und Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) – Drucksache 15/1853 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (Erste Beratung 72. Sitzung) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung der Vorschriften über die Anfechtung der Vater- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des schusses (6. Ausschuss) Kindes, Drucksache 15/2253. Der Rechtsausschuss emp- – Drucksache 15/2485 – fiehlt auf Drucksache 15/2492, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Berichterstattung: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Abgeordnete Klaus Uwe Benneter wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (B) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter (D) Marco Wanderwitz Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP Jerzy Montag gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Rainer Funke Dritte Beratung Die Redner Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Marco Wanderwitz, Leo Dautzenberg, Jerzy Montag, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Rainer Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gege- Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist mit den ben.1) Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Damit kommen wir zur Abstimmung über den von Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie vom 6. Juni 2002 über Finanz- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankge- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit setzes und anderer Gesetze, Drucksache 15/1853. Der (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2485, den Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, wei- Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Mögliche Interessenüberschneidungen bei der chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundes- ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stim- anstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig men des ganzen Hauses angenommen. vermeiden Dritte Beratung – Drucksachen 15/771, 15/2483 – Berichterstattung: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Abgeordneter Dr. Hermann Kues Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stim- Die Redner Hans-Werner Bertl, Dr. Hermann Kues, men des ganzen Hauses angenommen. Markus Kurth und der Parlamentarische Staatssekretär

1) Anlage 4 2) Anlage 5 8146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gerd Andres haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) dass der Umstand, dass jemand ehrenamtlich bei Sozial- (C) Nicht zu Protokoll gegeben hat seine Rede der Kollege versicherungsträgern tätig ist und eine hauptamtliche Dirk Niebel. Deshalb gebe ich ihm jetzt das Wort. Funktion innehat, bei der er die gleichen Interessen ver- tritt, ein Hinderungsgrund ist. Hier nennen wir explizit, (Beifall bei der FDP) als Beispiel für viele andere, auch von der Arbeitgeber- seite, Frau Dr. Ursula Engelen-Kefer, die seit 1978 Dirk Niebel (FDP): – seit über einem Vierteljahrhundert – in führenden Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und haupt- und ehrenamtlichen Funktionen in dieser größten Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ver- deutschen Behörde tätig ist. lässt die SPD den Saal, aber auch die Union und die Grü- nen wollen ja nicht zu dem Thema reden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn Sie das auf eine Person fokussieren, ist das un- Die Skandale der Bundesagentur für Arbeit in den anständig!) letzten Wochen und Monaten haben gezeigt, dass die Auswechslung des Kopfes an der Spitze einer Mammut- Die Dame war schon Vizepräsidentin, ist jetzt ehrenamt- behörde nicht ausreicht, wenn das System das gleiche lich Verwaltungsratsvorsitzende und war noch bis zu bleibt. Ich habe – im Gegensatz zu meiner normalen Beginn des letzten Jahres, Herr Schmidt, Aufsichtsrats- Art – heute einmal ein Redemanuskript mitgebracht, das vorsitzende des BFW des DGB, des Berufsfortbildungs- ich Ihnen zeigen möchte. Das Bild zeigt unter der Über- werks des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des zweit- schrift „Das Kartell der Blockierer“ Frau Dr. Ursula größten Bildungsträgers in Deutschland. Engelen-Kefer. Um nichts anderes als das geht es: Es Das Gleiche kann ich Ihnen auch für die Arbeitgeber- geht hier darum, ob das Kartell der Blockiererinnen und seite aufzeigen. Nehmen Sie das Bildungswerk der Blockierer aufgelöst werden kann, um die Mittel der Bayerischen Wirtschaft und den Hauptgeschäftsführer Beitragszahlerinnen und Beitragszahler effizient zu ver- der Bayerischen Arbeitgeberverbände, der im Verwal- wenden. Dieses Bild ist aus der „Welt“ vom 27. Januar tungsrat der BA ist, ebenso wie ein CSU-Staatssekretär 2004; es trifft, glaube ich, den Kern des Themas. für Arbeitsmarktpolitik in Bayern, der natürlich qua Amt Nach § 16 SGB X sind Interessenverquickungen schon die Aufgabe hat, – Ehrenamtlicher und Hauptamtlicher auseinander zu hal- ten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich (Zuruf von der SPD: Was hat denn der Kollege lasse jetzt auch keine Überschreitungen mehr zu. Gerhardt dazu gesagt?) (B) (D) Auch wir sind der festen Überzeugung, dass man in den Dirk Niebel (FDP): Sozialversicherungssystemen allein den bösen Anschein – ich bin sofort am Ende; ich bin im letzten Satz –, wahren muss. sich um die bayerische Wirtschaft zu kümmern. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine Wir müssen dafür sorgen, dass derartige Verquickun- sehr merkwürdige Formulierung!) gen aufhören. Eine Dame, die – auch wenn Sie dem Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit umfasst fast nicht zustimmen wollen – ohnehin Fan der Frühverren- 54 Milliarden Euro in diesem Jahr. Er enthält einen Ein- tung ist, sollte uns den Gefallen tun, dieses Instrument gliederungstitel von allein über 20 Milliarden Euro; das irgendwann für sich selbst einmal in Anspruch zu neh- ist so viel, wie die gesamte bekommt. Über men, damit wir hier klarmachen können: Die Mittel der die Jahre hinweg hat sich da eine Arbeitslosenindustrie Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden vom etabliert, die es gewohnt ist, dass immer mehr Milliarden Parlament geschützt. in das System gepumpt werden Vielen Dank. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da hat (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – die FDP aber heftig dran mitgewirkt!) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger und dass diese Milliarden dann innerhalb des Systems Quatsch, den Sie da erzählen!) – zwischen Arbeitgeberfunktionären, Gewerkschafts- funktionären und öffentlichen Händen – immer wieder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: verteilt werden, sodass faktisch eine Hand die andere Ich schließe die Aussprache. wäscht und alle schmutzig bleiben. Da muss man dem Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- bösen Schein entgegentreten und zumindest die übels- schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck- ten, öffentlich für jeden nachvollziehbaren Verquickun- sache 15/2483 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit gen beenden. dem Titel „Mögliche Interessenüberschneidungen bei (Beifall bei der FDP) der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig vermeiden“. Der Das wollen wir durch eine Änderung des Sozialge- Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/771 setzbuches sicherstellen. Wir wollen gesetzlich regeln, abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- 1) Anlage 6 schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8147

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ange- Überweisungsvorschlag: (C) nommen. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verena Haushaltsausschuss Butalikakis, Annette Widmann-Mauz, Andreas Die Redner Frank Hofmann (Volkach), Günter Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Baumann, Silke Stokar von Neuforn, Dr. Max Stadler der CDU/CSU und Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Protokoll Früherkennung, Behandlung und Pflege bei gegeben.2) Demenz verbessern Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Drucksache 15/2336 – Drucksache 15/1238 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Innenausschuss so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Ausschuss für Bildung, Forschung und Türk, Rainer Brüderle, , Technikfolgenabschätzung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, Helga Kühn- Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsge- Mengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sellschaft AG erhalten der SPD sowie der Abgeordneten Petra Selg, – Drucksache 15/817 – Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Überweisungsvorschlag: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) NIS 90/DIE GRÜNEN Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Demenz früh erkennen und behandeln – für Haushaltsausschuss eine Vernetzung von Strukturen, die Intensi- vierung von Forschung und Unterstützung Die Redner Christian Müller (Zittau), Klaus von Projekten Hofbauer, Werner Schulz (Berlin), Jürgen Türk und der (B) Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt haben (D) – Drucksache 15/2372 – ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Innenausschuss Drucksache 15/817 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend so beschlossen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Die Redner Hilde Mattheis, Verena Butalikakis, Petra Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Selg und Detlef Parr haben ihre Reden zu Protokoll ge- Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer geben.1) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas- den Drucksachen 15/2336 und 15/2372 an die in der Ta- send fördern gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann – Drucksache 15/2155 – sind die Überweisungen so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung , Hartmut Koschyk, Thomas Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der Fraktion der CDU/CSU Die Redner Annette Faße, Heidi Wright, Jürgen Konsequenzen aus Dresdener Bombenfund Klimke, Klaus Brähmig, Winfried Hermann und Ernst ziehen Burgbacher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4) – Drucksache 15/1238 – 2) Anlage 8 3) Anlage 9 1) Anlage 7 4) Anlage 10 8148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Wieso nicht? (C) Drucksache 15/2155 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung GRÜNEN]: Weil die Frau Staatssekretärin so beschlossen. krank ist!) – Lieber Herr Kollege Ströbele, ich darf hier vorweg sa- Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: gen: Ich habe Frau Müller heute Nachmittag, als sie hier Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus- war, für die nächsten Tage gute Besserung gewünscht Jürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann und ihr auch gesagt, sie solle sich ruhig ein bisschen zu- Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion rückhalten. der CDU/CSU (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Vene- GRÜNEN]: Das tut sie jetzt!) zuela unterstützen – Freiheit der Medien und Der Punkt ist nur: Wenn der Redebeitrag der Bundesre- wirtschaftliche Prosperität wiederherstellen gierung von einem einzigen Mitglied abhängt, dann ist – Drucksache 15/2389 – das schon ein Armutszeugnis. Es muss doch ein paar Überweisungsvorschlag: mehr Leute geben. Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und GRÜNEN]: Das hängt auch mit der Uhrzeit Entwicklung zusammen!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Lieber Herr Kollege Ströbele, ich stelle mir so Ihren Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Der Redner Wortbeitrag zu einem umgekehrten Vorgang vor. der SPD, der Kollege Lothar Mark, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) NEN]: Das würde der Ströbele niemals tun! – Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Klaus- Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion. GRÜNEN]: So unfair wäre ich nie!) Der geschätzte Kollege Mark von der SPD kann – aus (B) Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): welchen Gründen auch immer – nicht hier sein. Dass (D) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sich die Kenntnisbreite der doch altehrwürdigen SPD- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie würde Bundestagsfraktion über Lateinamerika auf ein einziges man einen Mann bezeichnen, der am 4. Februar 1992 ge- Mitglied konzentriert, ist ebenfalls ein bemerkenswerter nau 56 Menschen – nach der offiziellen Statistik – hat Vo rga n g. umbringen lassen? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: GRÜNEN]: Da gibt es leider viele!) Eher alt als ehrwürdig! – Dirk Niebel [FDP]: Das haben wir nicht anders erwartet!) Dieser Mann ist heute der Präsident von Venezuela. Ich will noch etwas sehr Kritisches sagen: Vor kurzem Vor dem Hintergrund eines solchen Vorganges und zu hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine große Solidari- einem Zeitpunkt, zu dem ein Land an der Schwelle zwi- tätskundgebung für Chávez durchgeführt. Es sind zwar schen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und nur zwei Abgeordnete, aber es ist doch bemerkenswert, Diktatur steht, ist es schon bemerkenswert, dass sich für dass sie nicht bereit sind, für ihre antidemokratischen einen Redebeitrag heute Abend zum Beispiel niemand Positionen hier im Deutschen Bundestag einzutreten. von der Bundesregierung verantwortlich fühlt. Auch das sollte man den Bürgern sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Worum geht es eigentlich? Ich kann mich hier nur Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Un- wiederholen: In unserer augenblicklichen Situation ste- glaublich! – Markus Löning [FDP]: Skanda- hen wir an einem Scheideweg. Heute hat die Vorsitzende lös!) einer neu gegründeten Partei des Regierungslagers der Presse mitgeteilt, man sei bewaffnet, man werde die Ich kann nur feststellen – man kann es ja nur so Straße mobilisieren und ein Referendum – Peter Weiß interpretieren –: Die Bundesregierung macht einen Ko- wird sich zu diesem Thema noch äußern – werde auf kei- tau vor einem autoritären Regierungschef. nen Fall stattfinden. Das ist die gegenwärtige Politik in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE diesem Land. GRÜNEN]: Das ist Unsinn! Sie wissen doch, Es gibt darüber hinaus noch ein weiteres Problem. Ve- warum hier keiner ist! nezuela wirkt im Augenblick destabilisierend auf die ge- samte Region. Sie haben vielleicht verfolgt, dass der 1) Anlage 11 Staatspräsident von Kolumbien heute und morgen in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8149

Klaus-Jürgen Hedrich (A) Deutschland ist. Wie sich das gehört, wird er mit allen Chance erhält. Bis heute – so können wir feststellen – (C) Ehren von den Mitgliedern der Bundesregierung behan- befindet sich das Land in Turbulenzen. Wir müssen da- delt und empfangen. für Sorge tragen, dass keine diktatorischen Strukturen marxistischer, bolivarischer und sonstiger spleeniger Art (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da kön- die Oberhand gewinnen. Es geht um die Frage: Hat die nen Sie mal sehen!) Demokratie in Venezuela eine Chance oder nicht? Hier Der Bundeskanzler wird für ihn morgen Mittag ein Ar- sollte der Bundestag Farbe bekennen. beitsessen ausrichten. Auch die Vertreter aller Fraktio- nen, die hier in diesem Deutschen Bundestag vertreten Herzlichen Dank. sind, werden mit Uribe sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein GRÜNEN]: Ja!) Unsinn!) Fakt in der Region ist, dass wir es mit einer Verknüp- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fung von Terrorismus, internationaler Kriminalität und Drogenmafia zu tun haben. Diese wird weitestge- Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele, hend durch die Guerilla-Strukturen in Kolumbien ver- Bündnis 90/Die Grünen. körpert. Das ist schon lange kein lokales Problem mehr. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt kommt Inzwischen ist es auch ein regionales und sogar darüber der Friedensfreund!) hinausgehendes Problem, weil diese Fragen auch uns in Europa unmittelbar berühren. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GRÜNEN]: Davon steht in Ihrem Antrag aber Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nichts!) gen! Ich beeile mich, weil es schon sehr spät ist. Mittlerweile arbeiten fast alle Nachbarn – Ecuador Herr Kollege Hedrich, Sie verlangen von der Bun- mit seiner instabilen Regierung, aber nichtsdestotrotz, desregierung, die böse Regierung in Venezuela, die Sie Peru, das große und wichtige Land Brasilien und Pa- gerade in die Nähe einer Diktatur gestellt haben, nama – bei der Bekämpfung der Guerilla und der Ein- dämmung des Terrorismus in dieser Region aufs Engste (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Zu Recht!) mit der kolumbianischen Regierung zusammen. Das ein- zige Land, das sich dieser Zusammenarbeit entzieht, ist zu bewegen, zu ermahnen, zu etwas zu drängen, ihr et- (B) (D) Venezuela mit seinem Staatschef Chávez. was zu verdeutlichen und was sonst noch alles. Soweit ich gehört habe, war Herr Kollege Hedrich, waren Sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vor ein paar Monaten, nämlich im Oktober vergangenen GRÜNEN]: Sie haben Brasilien vergessen!) Jahres, hier in Berlin zu einer Konferenz des Ibero-Ame- rikanischen Instituts eingeladen. Dort waren sowohl An- – Nein, ich habe gesagt, dass das wichtige Land Brasi- hänger von Herrn Chávez als auch der gesamten Opposi- lien aufs Engste mit Kolumbien zusammenarbeitet. tion in Venezuela vertreten. Sie, Herr Hedrich, haben (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dort Ihre Vorstellungen vorgetragen. Daraufhin ist der GRÜNEN]: Und Lula auch mit Herrn Wortführer nicht der Regierung in Venezuela, sondern Chávez!) der venezolanischen Opposition, Teodoro Petkoff, auf- gestanden und hat unter mächtigem Applaus der gesam- – Brasilien arbeitet bei der Bekämpfung der Guerilla ten Versammlung erklärt, dass die Sichtweise der Situa- aufs Engste mit Kolumbien zusammen. Chávez verwei- tion in Venezuela, wie Sie sie dargestellt haben, eine gert sich dieser Zusammenarbeit und macht sich damit Beleidigung für alle Versammelten und das Volk in Ve- nicht nur am eigenen Lande schuldig. Er macht sich da- nezuela darstellt. mit gleichzeitig auch schuldig, destabilisierend auf die gesamte Region zu wirken und damit die radikalen und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr in- extremistischen Kräfte in der Region zu unterstützen. teressant! Oberlehrer Hedrich! – Dr. Reinhard Dies ist eine inakzeptable Vorgehensweise. Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und (Beifall bei der CDU/CSU) hier tritt er auf wie ein Fürsprecher!) Es wäre angemessen gewesen, wenn die Bundesregie- Sie sollten sich das einmal hinter die Ohren schreiben rung diesem Plenum deutlich gemacht hätte, dass sie in und einen Antrag einbringen, der der Situation in Vene- keiner Weise bereit ist, so etwas zu dulden. zuela gerecht wird. Ich will mit einem durchaus leicht versöhnlichen As- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sagen Sie pekt schließen. Es hat lange genug gedauert, bis die Bun- doch mal, was Sie meinen!) desregierung überhaupt etwas zu der Situation gesagt Ich bestreite nicht, dass die Lage dort problematisch hat. Man kann nur empfehlen, darauf zu achten, die in- und besorgniserregend ist. Ich bestreite auch nicht, dass ternationalen Institutionen, das Carter-Zentrum und die Herr Chávez ein Populist ist, Organisation Amerikanischer Staaten zu unterstützen, damit die Demokratie in Venezuela jetzt eine faire (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!) 8150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Hans-Christian Ströbele (A) der es mit der Pressefreiheit in weiten Bereichen nicht Chávez sitzt wohl deshalb noch im Sattel, weil die (C) so genau nimmt Opposition nicht als bessere Alternative angesehen wird. Sie ist in den Augen vieler noch immer die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und mit Nachhut der alten Kasten, die ihre Unfähigkeit hin- Menschenrechten!) reichend bewiesen haben, das Land sozial ausgegli- und für deutsche Demokraten wahrlich kein Sympathie- chen voranzubringen. träger ist. Das ist völlig richtig. Sie aber argumentieren Immerhin sinkt das Pro-Kopf-Einkommen nicht erst seit einseitig. Sie kritisieren zum Beispiel in Ihrem Antrag, Chávez, sondern schon vorher. dass der Präsident an vielen Sonntagen mehrere Stunden lang im staatlichen Fernsehen redet und wie ein Confé- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: rencier oder ein Star die ganze Sendezeit für seine Zwe- Jetzt ist es dramatisch!) cke missbraucht. Sie erwähnen jedoch nicht, dass es in Wenn Sie keine Alternative aufzeigen können, sollten Venezuela vier private Kanäle und zehn Zeitungen gibt. Sie es mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Von den zehn Zeitungen stehen neun und von den vier halten, der vorgeschlagen hat, dass man die Amtszeit des privaten Kanälen alle aufseiten der Opposition und sind Präsidenten in Venezuela einschränkt und jetzt kein Re- Chávez-kritisch. Deshalb kann von einem Meinungsmo- ferendum macht, sondern der Opposition die Möglich- nopol überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich gibt es keit gibt, einen eigenen Kandidaten aufzubauen und ein dort eine sehr kräftige und lautstarke Opposition. inhaltliches Profil zu entwickeln. Dann hätten sie auch Was ich Ihnen aber am meisten vorwerfe, ist, dass Sie den sehr populären und von ihnen geschätzten Präsiden- sich mit der Opposition überhaupt nicht auseinander set- ten Lula aus Brasilien auf ihrer Seite, von dem sie wis- zen. Chávez konnte seine großen Wahlsiege nur erzielen, sen, – weil die Opposition im ökonomischen und demokrati- schen Sinne völlig versagt hat. Herr Chávez hat nach sei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ner ersten Wahl zunächst einmal eine Verfassung in die- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten. sem Land installiert, die von allen anerkannt und nicht einmal von der Opposition kritisiert wird. Das Referen- dum, das jetzt angestrebt wird, steht zum ersten Mal in Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE dieser Verfassung. Herr Chávez selbst hat es möglich ge- GRÜNEN): macht, dass ein Referendum über die Präsidentschaft – dass er bei Chávez ein- und ausgeht und zwar nicht stattfinden kann. diesen Präsidenten, aber eine Dialoglösung in diesem Lande unterstützt. Ihr Antrag ist überhaupt nicht hilf- Die Opposition in Venezuela hat genauso versagt wie (B) reich. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. (D) die Regierung selber. Deshalb können Sie sich nicht ein- seitig auf die Seite der Opposition stellen, ohne auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dort Kritik anzuwenden. Sie sollten es mit dem ehemali- gen US-Präsidenten Carter halten, der deutlich gesagt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hat, das Referendum und Chávez’ sofortige Machtent- Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning, ziehung sei in der gegenwärtigen Situation wahrschein- FDP-Fraktion. lich das Falsche. Sie dürfen nicht vergessen, wie die Si- tuation nach dem Putsch im April letzten Jahres gewesen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist. Damals hat sich die Opposition ganz deutlich diskre- der CDU/CSU) ditiert. Nachdem sich der Vorsitzende der Arbeitgeber- vereinigung selbst zum Präsidenten ernannt hatte, war Markus Löning (FDP): seine erste Amtshandlung die Auflösung des Parlaments. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns mit Venezuela Die Behauptung, dass Chávez’ selber auf sein Präsi- auseinander setzen. Es ist ein potenziell sehr reiches dentenamt verzichtet habe, war gelogen. Die Massen Land und im Begriff, von seinem Präsidenten ruiniert zu sind damals auf die Straße gegangen und haben die werden. Das muss man ganz klar festhalten. Rückkehr Chávez’ in die Regierung erzwungen. Das heißt, er hat nach wie vor eine sehr breite Unterstützung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – im Land. Nach Umfragen beträgt sie etwa 30 Prozent. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Der Führer der Opposition, der Präsident werden will, GRÜNEN]: Es ist schon ruiniert worden!) hat vielleicht 1 Prozent der Stimmen hinter sich. Das – Herr Ströbele, ich finde, es ist ein dickes Ding, wie Sie muss doch Gründe haben. ihn hier verteidigen. Die Opposition, die vorher an der Regierung war, hat (Zurufe von der FDP: Ja! – Claudia Nolte total versagt, gerade im sozialen Bereich. Sie hat das [CDU/CSU]: Das finde ich auch!) Volk arm gemacht und dazu beigetragen, dass das Ein- kommen der Bevölkerung im Durchschnitt um 1 Prozent Das ist ein Mann, der dabei ist, die Ressourcen seines pro Jahr gefallen ist. Deshalb ist die Lösung, die Sie vor- Landes zu verschleudern. schlagen, genau die falsche. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die sehr angesehene „Neue Zürcher Zeitung“ hat GRÜNEN]: Das haben die früher schon ge- vor anderthalb Monaten dazu geschrieben: macht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8151

Markus Löning (A) Das ist ein Mann, der den Mittelstand in seinem Land hen und deutlich sagen, dass es eine Mehrheit für das (C) zerstört hat. Es gibt keinen Mittelstand mehr in diesem Referendum gibt, das wir dann auch von hier aus unter- Land. Sie verteidigen diesen Mann hier. Sie müssen sich stützen sollten. Wir werden Sie daran erinnern. auch einmal von Schimären verabschieden, wenn die Entwicklung so offensichtlich ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich denke, es geht nicht an, bei jeder Gelegenheit Volksbefragungen zu fordern, aber in diesem Fall die Statt die Armut zu bekämpfen, hat Chávez den Mittel- Meinung zu vertreten, dass das Referendum nicht unbe- stand zerstört. Statt den Ölreichtum Venezuelas einzuset- dingt nötig sei. zen, hat er den Ölreichtum verschwendet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war es denn vorher?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Statt die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, spielt Letzter Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ er Arm gegen Reich aus. Anstatt sein Land vernünftig zu CSU-Fraktion. entwickeln, spielt er die Leute gegeneinander aus. Sie stellen sich hierhin und verteidigen das. Das ist doch keine Art, Herr Ströbele. Ich verstehe das nicht. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gen! Venezuela ist in der Tat – darauf deutet alles hin – Dr. [FDP]: Unglaublich!) ein Land, das politisch und wirtschaftlich am Abgrund Ein Punkt ist die Devisenbewirtschaftung. Das Land steht. Das ist nicht nur eine Frage der Innenpolitik Vene- hat einen großen Bestand an Devisenreserven. zuelas; vielmehr hat das, was dort geschieht, weit rei- chende regionale und internationale Auswirkungen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deswegen kann es kein Verständnis für Ihre abwie- GRÜNEN]: Gehabt!) gelnde Rede geben, Herr Kollege Ströbele. – Nein, es hat einen großen Bestand an Devisenreser- Richtig ist: Chávez wäre nie ins Amt gekommen, ven. – Die Devisen werden nicht für das eingesetzt, was wenn nicht frühere Regierungen und politische Gruppie- das Land braucht. Sie werden nicht eingesetzt, um die rungen in diesem Land versagt hätten, vor allem in der Armut zu bekämpfen. Stattdessen wird das, was an po- sozialen Frage. tenziellem Reichtum da ist, nach außen hin abgeschottet. Venezuela ist das klassische Beispiel für ein Land, das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) (D) viele Ressourcen hat und dessen Volk einen vernünftigen GRÜNEN]: So ist es!) Bildungsgrad hat, das aber nicht davon profitieren kann, Das ist richtig. Aber das Versagen früherer Regierungen weil es von den Weltmärkten abgeschottet wird. Venezu- kann und darf niemals eine Legitimation dafür sein, dass ela ist ein Beispiel für ein Land, das nicht an der Globali- nun ein Regierungschef wie Chávez zusehends antide- sierung teilnimmt und sich dadurch selbst zugrunde rich- mokratisch und autoritär regiert und die Demokratie in tet. Und Sie verteidigen den Mann, der dafür Venezuela – ich sage das so deutlich – abschaffen will. verantwortlich ist und versucht, das Land zu ruinieren. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur gesagt: Ihre Position GRÜNEN]: Nein, aber sie sollen jetzt nicht ist keine Alternative!) wieder in die Regierung hineinkommen!) Lassen Sie mich auf das Referendum zurückkom- Dagegen muss sich unser deutlicher Protest erheben. men, Herr Ströbele. Ich finde sehr interessant, dass Sie, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der bei jeder Gelegenheit Referenden und Volksbefra- gungen propagiert, Natürlich ist ihm die von Ihnen angesprochene oppo- sitionelle Presse ein Dorn im Auge. Deswegen will er (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die Pressefreiheit einschränken. Natürlich ist ihm die GRÜNEN]: Ja!) Opposition ein Dorn im Auge. Deswegen will er die par- jetzt, da ein Referendum stattfinden soll, sagen, das sei lamentarischen Rechte aushebeln. ein falsches Signal und wir brauchten kein Referendum. Als der Kollege Hedrich und ich in der vergangenen Natürlich brauchen wir ein Referendum und wir werden Woche in Venezuela waren, haben uns venezolanische sehen, wie Herr Chávez damit umgeht und ob er akzep- Oppositionsabgeordnete eine Resolution überreicht, in tiert, dass ein Referendum stattfinden soll. der sie die Parlamentarier in Deutschland und in Europa (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dringend um Hilfe bitten, weil Chavéz erreichen will, dass selbstverständliche parlamentarische Rechte, die Es sollte von hier ein Aufschrei der Empörung losgehen, bei uns gelten, vor allem die Minderheitenrechte der wenn er das nicht akzeptiert. Wir werden in den nächsten Opposition, beschnitten werden. So soll die Zusammen- Tagen sehen, ob er es akzeptiert. setzung des obersten Gerichts künftig mit einfacher Wenn er es nicht akzeptiert, Herr Ströbele, dann er- Mehrheit beschlossen werden können. Sie haben uns an- warte ich gerade von Ihnen, den Grünen, dass Sie aufste- gerufen, ihnen zu helfen, dass dieses Attentat auf die 8152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

Peter Weiß (Emmendingen) (A) parlamentarische Demokratie in Venezuela verhindert die Zulassung des Referendums offiziell festgestellt wer- (C) wird. den soll. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Debatte führen. Das Referendum ist in der Verfassung vorgese- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen. Die Opposition hat dafür 3,5 Millionen Unterschrif- So unterschiedliche Auffassungen wir auch vertreten ten gesammelt. Das ist ein ausreichendes Quorum. Der- und so unterschiedlich wir Chávez und seine Politik be- zeit prüft der unabhängige Wahlrat die Unterschriften. werten, so sollten wir uns doch um der Selbstachtung als Wie wird die Regierung Chávez damit umgehen? Die Parlamentarier willen über alle Fraktionen hinweg in von ihren Anhängern inszenierte Begleitmusik lässt einem Punkt einig sein: Wenn uns Abgeordnetenkolle- Schlimmstes befürchten. Öffentlich erklären Mitglieder ginnen und -kollegen um Hilfe bitten, wenn ihre selbst- der Regierung Chávez, dass das Referendum auf keinen verständlichen parlamentarischen Rechte, wie sie jeder Fall zustande kommen dürfe, dass man notfalls von uns im Bundestag hat und wie sie sich jeder für das 2 Millionen der 3,5 Millionen Unterschriften für ungül- Parlament eines demokratischen Landes wünscht, be- tig erklären müsse, dass man sogar mit Gewalt gegen ein schnitten werden sollen, dann sollte ihnen unsere ein- mögliches Referendum vorgehen müsse. Die von der deutige und uneingeschränkte Solidarität gelten. Opposition gestellten Mitglieder des Wahlausschusses werden von der politischen Polizei bespitzelt. Ihre Tele- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- fonate werden abgehört. ruf von der CDU/CSU: Ströbele steht ganz al- lein!) Wenn es nicht zu diesem Referendum kommt, dann verliert die Regierung Chávez, so behaupte ich, den letz- Chávez war in der Tat in politischer Hinsicht eine ten Anschein demokratischer Legitimation und beschrei- Hoffnung für die Armen. Deshalb ist er ins Amt gekom- tet Venezuela den Weg einer autoritären Diktatur. Wir men. Aber Chávez ist längst zu einem Risiko für die Ar- sollten gemeinsam versuchen, das zu verhindern. men in seinem Land geworden. Mittlerweile leben 36 Prozent der Venezolaner unterhalb der Armutsgrenze; sie haben also täglich weniger als 1 US-Dollar zum Le- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben. Insgesamt 81 Prozent der Venezolaner müssen als Herr Kollege Weiß, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. arm oder kritisch arm bezeichnet werden. Auf den Straßen von Caracas und in den Städten und Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Dörfern Venezuelas ist mit Händen zu greifen und zu er- Natürlich, Frau Präsidentin. – Alle Beobachter sagen leben, wie die Zahl der fliegenden Händler in den ver- uns, das Einzige, worauf Chávez reagiere, sei internatio- gangenen Monaten dramatisch zugenommen hat. Das naler Druck. Unsere Verantwortung als Europäer und als (B) heißt, die Schwarzarbeit breitet sich aus, während die le- Deutsche ist, einen solchen Druck aufzubauen, durch (D) gale Beschäftigung im offiziellen Sektor dramatisch den vielleicht Chávez und Venezuela noch kurz vor dem sinkt. Kollege Löning hat bereits erwähnt, dass vor allem Abgrund auf den Weg der Besserung gebracht werden die kleinen und mittleren Unternehmen massiv in ihrer können. Existenz gefährdet sind. Vielen Dank. Politisch ist das Land tief gespalten. Durch alle ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sellschaftlichen Schichten und durch die Familien geht ein immer tieferer Riss zwischen Chávinisten und Gegnern des derzeitigen Präsidenten. Aufgabe eines Prä- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sidenten wäre es, das Volk zusammenzuführen und einen Ich schließe die Aussprache. Konsens zu bilden. Dieser Präsident aber macht das Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Gegenteil: Er spaltet das Land weiter zuungunsten der Drucksache 15/2389 an die in der Tagesordnung aufge- Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist das verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Problem!) so beschlossen. Er heizt den politischen Konflikt zusätzlich an, schafft Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Parallelstrukturen zu den bestehenden Institutionen und ordnung. – ich habe es bereits erwähnt – setzt dazu an, die Rechte Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- des Parlaments auszuhebeln. destages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2004, Eine Lösung des tief greifenden politischen und wirt- 9 Uhr, ein. schaftlichen Konflikts in Venezuela mit seinen negativen Die Sitzung ist geschlossen. Auswirkungen auf die gesamte Region kann das Refe- rendum bringen. Morgen ist eigentlich der Tag, an dem (Schluss: 21.37 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8153

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten ven deutlich, wie die Bundesregierung zur Verbesserung der sozialen Lage von Künstlern und zur Bewältigung der kulturellen Probleme in den Ländern und Kommu- entschuldigt bis nen beitragen kann. Abgeordnete(r) einschließlich Wie die derzeit zur Verfügung stehenden Daten der Künstlersozialkasse belegen, befindet sich ein großer Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 12.02.2004 Teil der in der Bundesrepublik Deutschland freiberuflich Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 12.02.2004 tätigen Künstlerinnen und Künstler, Publizistinnen und Joseph DIE GRÜNEN Publizisten in einer prekären sozialen Situation. Mit ei- nem Durchschnittseinkommen von 11 144 Euro pro Jahr Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 12.02.2004 – Frauen 9 355, Männer 12 503 Euro – liegen sie weit unter dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt der in der Hartnagel, Anke SPD 12.02.2004 gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten. Im Osten sind die Einkommen noch geringer. Im Jahre 2001 be- Hermenau, Antje BÜNDNIS 90/ 12.02.2004 trug das Durchschnittseinkommen der in der KSK Versi- DIE GRÜNEN cherten in den neuen Bundesländern 17 439 DM im Ver- gleich zu 22 164 DM im Bundesdurchschnitt. Das ist Hintze, Peter CDU/CSU 12.02.2004 zum Leben zu wenig. Es ist auch zu wenig, um eine aus- reichende Altersversicherung zu erreichen. So wird die Hoffmann (Chemnitz), SPD 12.02.2004 Mehrzahl der freiberuflichen Künstler im Alter nur eine Jelena sehr geringe Rente erhalten. Viele werden auf die soziale Grundsicherung angewiesen sein. Leibrecht, Harald FDP 12.02.2004 Es ist anzunehmen, dass sich die Situation in den Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 12.02.2004 kommenden Jahren – nicht zuletzt aufgrund der Spar- politik in den Ländern und Kommunen – noch verschär- Otto (Godern), Eberhard FDP 12.02.2004 fen wird. Die Zahl der Freiberufler dürfte sich infolge von Personalabbau im öffentlichen Kulturbereich und * Outsourcing von vormals in Unternehmen der Kultur- (B) Rauber, Helmut CDU/CSU 12.02.2004 (D) wirtschaft angesiedelten Arbeiten eher erhöhen als ver- Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 90/ 12.02.2004 ringern. Es besteht deshalb aus Sicht der Kulturverbände DIE GRÜNEN und unserer Auffassung nach weiterer Reformbedarf zur Verbesserung der Einkommenssituation und sozialen Weisskirchen SPD 12.02.2004 Absicherung freiberuflich tätiger Künstler und Publizis- (Wiesloche), Gert ten.

Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 12.02.2004 Die Bundesjustizministerin allein wird es nicht rich- ten können – so wichtig die von der Bundesregierung in Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 12.02.2004 Aussicht gestellten Veränderungen im Bereich des Urhe- ber- und Leistungsschutzrechtes sind. Hinzukommen müssen weitere Verbesserungen in der Sozialgesetzge- * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union bung. Das Künstlersozialversicherungsgesetz gehört zwei- fellos zu den wichtigsten kultur- und sozialpolitischen Anlage 2 Errungenschaften der Bundesrepublik, die es zu sichern Zu Protokoll gegebene Rede und weiter auszubauen gilt. Bei der Fortentwicklung geht es aus Sicht der PDS vor allem darum, alle Lücken zur Beratung der Großen Anfrage: Wirtschaft- zu schließen, durch die nach wie vor freischaffende liche und soziale Entwicklung der künstleri- Künstlerinnen und Künstler, Publizistinnen und Publi- schen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutsch- zisten aus der Sozialversicherung herausfallen, einen land (Tagesordnungspunkt 6) Versicherungsschutz für Zeiten ohne Einkommen sicher- zustellen, eine Arbeitslosenversicherung einzuführen und eine angemessene Rentenregelung zu erreichen. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Der Deutsche Kulturrat ist enttäuscht über die Antwort der Bundesre- Was die Situation in Ostdeutschland betrifft, so hat gierung zur Großen Anfrage. Die Reaktion des Kultur- die jüngst erschienene Studie der Bundeskulturstiftung rats ist nur zu verständlich – gibt die Antwort doch weder „Labor Ostdeutschland“ ein Schlaglicht auf die spezifi- einen umfassenden Überblick über die wirtschaftliche schen Problemlagen in den östlichen Bundesländern und und soziale Situation der künstlerischen Berufe und des Kommunen, die mit Abwanderung und „Schrumpfung“ Kunstbetriebs in Deutschland, noch werden Perspekti- in Größenordnungen zu tun haben, geworfen, zugleich 8154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) aber auch verdeutlicht, welche Chancen in der Entwick- Natürlich hätte jeder gerne an der einen oder anderen (C) lung der kulturellen Infrastruktur und der Kulturwirt- Stelle noch Veränderungen gesehen – zu seinen Gunsten, schaft liegen – gerade auch in solchen Problemregionen. versteht sich. Wir meinen: Kultur ist eine besondere Stärke des Os- Aber es war und ist gerade unsere Aufgabe, dafür zu tens und eine Zukunftschance für diese Region. Wir set- sorgen, dass das Reformpaket, so wie wir es in langen zen uns deshalb nachdrücklich für den Erhalt der öffent- Verhandlungen mit allen Beteiligten geschnürt haben, lichen Infrastruktur und die Sicherung der so genannten nicht kleingeredet, zerredet oder wieder aufgeschnürt „freien Szene“ in ihrer Vielgestaltigkeit ein und fordern wird. Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, hier auch das Engagement des Bundes zum Erhalt der die wir jetzt beraten, beherzigt genau dies. In der Stel- kulturellen Substanz in Ostdeutschland ein. Die Stär- lungnahme des Bundesrates gab es 50 Änderungswün- kung der Finanzkraft der Kommunen und ein prinzipiel- sche. Allein 42 Punkte betrafen Änderungen des Ge- les Umsteuern in Bezug auf die Wirtschafts- und Be- richtskostengesetzes. Sie bezogen sich zum größten Teil schäftigungspolitik in den neuen Ländern sehen wir als auf die Erhöhung einzelner Gebühren. Die vorgeschlage- Voraussetzung dafür, das kreative Potenzial zu sichern. nen Änderungen hätten ein Volumen von 120 Millionen Euro gehabt. Nun, es ist zwar verständlich, dass die zu erwartenden Anlage 3 Mehrausgaben der Länder durch entsprechende Mehr- Zu Protokoll gegebene Reden einnahmen an Gerichtsgebühren ausgeglichen werden sollen. Auch entsprechende Risikofaktoren bei der zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Rückflussquote sollten nicht zulasten der Länder gehen. Modernisierung des Kostenrechts (KostRMoG) Die Länder stehen ohnehin schon vor einer schwierigen (Tagesordnungspunkt 10) Haushaltslage. Aber wir können es nicht verantworten, dass die Re- Christoph Strässer (SPD): Was lange währt, wird form des Kostenrechts die Länderhaushalte sanieren endlich gut. Zehn Jahre sind vergangen – zehn Jahre, in soll. Da müssten wir alle übereinstimmen. Denn die Ver- denen die Gerichts- und Anwaltsgebühren, die Entschä- lierer wären die Rechtsuchenden. In der Gegenäußerung digungen für Sachverständige, Dolmetscherinnen und der Bundesregierung heißt es daher zu Recht: „Der Zu- Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer, ehren- gang zum Recht ist ein hohes Gut eines jeden Rechts- amtliche Richterinnen und Richter, aber auch Zeuginnen staates und darf nicht über das unabdingbare Notwen- und Zeugen nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung dige hinaus mit Kostenbelastungen erschwert werden.“ Schritt gehalten haben. (B) Genau so ist es. (D) Um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege in Zu- Das Rechtssystem muss für die Rechtsuchenden da kunft weiter sichern zu können, ist die Reform des Kos- sein – nicht umgekehrt: Die Justiz ist keine Unterabtei- ten- und Gebührenrechts daher notwendig. lung der Finanzminister! Daher haben wir darauf zu ach- Eine echte Reform bedeutet aber mehr als eine bloße ten, dass dem moderaten Anstieg der Honorare und Ent- lineare Anhebung von Gebührensätzen. Eine Reform ist schädigungen für Anwälte, Dolmetscher, Übersetzer, eine Neugestaltung, eine Umgestaltung, eine Anpassung Sachverständige, ehrenamtliche Richter und Zeugen an veränderte Rahmenbedingungen und Voraussetzun- auch ein nur moderater Anstieg der Gerichtsgebühren gen. Und genau das ist unsere Gesetzesnovelle. Wir ha- gegenübersteht. Am Ende soll für die Länder eine ben die Chance genutzt, eine Strukturreform auf den „schwarze Null“ stehen, nicht mehr und auch nicht we- Weg zu bringen. Die Novelle des Kostenrechtsmoderni- niger. sierungsgesetzes – die wir heute beschließen werden – Wir haben uns daher im Wesentlichen auf drei Verän- ist modern, weil zeitgemäß. Sie fördert moderne Formen derungen im Vergleich zur ersten Lesung verständigt: der Konfliktlösung. Sie honoriert die außergerichtliche Erledigung von Streitfällen und entlastet – ebenso wie Erstens. Wir haben uns darauf verständigt, die Gebüh- das Justizmodernisierungsgesetz, das ich an dieser Stelle ren des einstweiligen Rechtsschutzes in erstinstanzlichen ausdrücklich erwähnen möchte – die Gerichte. Sie ist ein Zivilverfahren von 1,0 auf 1,5 Gebühren zu erhöhen. Stück weit dienstleistungsorientierter, wettbewerbs- Das macht Sinn, denn der Arbeitsaufwand der Gerichte orientierter, europafester und reagiert gleichzeitig so- ist in diesem Bereich erheblich. Im Übrigen stellt die wohl auf den Kostendruck der Länder als auch der an Anhebung eine Angleichung der verschiedenen gericht- den Rechtsstreitigkeiten beteiligten Personen. lichen Verfahren dar. Insgesamt bedeutet diese Maß- nahme Mehreinnahmen von circa 17 Millionen Euro für Das Reformpaket ist – so denke ich – insgesamt sehr die Länder. Um den Bedenken der Bundesregierung ausgewogen, nicht zuletzt deshalb, weil alle relevanten Rechnung zu tragen, soll ein Ermäßigungstatbestand Gruppen an den Verhandlungen beteiligt waren. Ihnen eingefügt werden. allen sei gedankt für die teilweise überstrapazierte Ge- duld anlässlich der Dauer des Gesetzgebungsverfahrens! Zweitens. Die Wegstreckenentschädigung für Zeu- Es ist erfreulich, dass die Ergebnisse der Reform im gen wird von 0,21 Euro auf 0,25 Euro erhöht. Das ist Großen und Ganzen von allen Beteiligten – sei es der eine Erhöhung von 19 Prozent und, wie ich finde, ausrei- Anwaltschaft, der Richterschaft oder anderen – begrüßt chend, aber auch angemessen. Damit bleibt es bei einer werden. unterschiedlich hohen Entschädigung für Zeugen und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8155

(A) die anderen am Verfahren Beteiligten, die mit 0,30 Euro wälte sind ein wesentlicher Bestandteil der Rechtspflege (C) entschädigt werden. Das neue Leitbild geht ja gerade in unserem demokratischen Rechtsstaat. Da wir bewusst von in der Regel hauptberuflich für die Gerichte tätigen einen Gebührenrahmen für freiberuflich tätige Rechtsan- Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern aus. wältinnen und Rechtsanwälte vorgeben wollen, sind wir Die unterschiedliche Häufigkeit der Heranziehung recht- als Gesetzgeber aber auch in der Pflicht, dem Berufs- fertigt eine sachliche Differenzierung. Im Vergleich zum stand der Rechtsanwälte die Chance auf finanzielle Un- Vorentwurf des Gesetzes bedeutet dies Minderausgaben abhängigkeit für ihre berufliche Tätigkeit einzuräumen. von etwa 6 Millionen Euro. Es ist völlig inakzeptabel, dass die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte seit nunmehr zehn Jahren von der Drittens. Um schließlich die Kosten der Gerichte im wirtschaftlichen Entwicklung vollständig abgekoppelt Mahnverfahren zu decken, sollen die Mindestgebühren sind. Seit zehn Jahren stagnieren die Vergütungsansprü- bei Verfahren über den Antrag auf Erlass eines Mahnbe- che für Anwälte, Sachverständige, Dolmetscher und scheides von jeweils 18 Euro auf 23 Euro und von Übersetzer. In diesen zehn Jahren sind die Lohnkosten, 15 Euro auf 18 Euro in der Arbeitsgerichtsbarkeit ange- Mieten und Sachkosten drastisch gestiegen. In dieser hoben werden. Hier geht man von Mehreinnahmen von zehnjährigen Vergütungsstagnationsphase verzeichnete in etwa 25 Millionen Euro aus. Um derzeit aber weitere die gewerbliche Wirtschaft einen Einkommenszuwachs Mehrbelastungen der Rechtsuchenden zu vermeiden, in Höhe von 26 Prozent. soll diese Änderung erst zum l. Juli 2006 in Kraft treten. Ich finde: Mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf Ich gehe davon aus, dass dem nun vorliegendem Ent- übernehmen wir auch die Verantwortung dafür, dass es wurf der Bundesrat zustimmen wird. Ja, ich gehe sogar sich nicht wiederholt, dass die Rechtsanwältinnen und so weit, zu behaupten, dass er seine Zustimmung geben Rechtsanwälte in Deutschland über einen so langen Zeit- müsste. raum von der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Damit wäre dann eine notwendige Reform auf den Land vollständig ausgeschlossen werden. Nach seriösen Weg gebracht, eine Reform, auf die alle zu Recht gewar- Modellrechnungen wird die Reform der Anwaltsvergü- tet haben. Und wenn auch der eine oder andere Verhand- tung der Anwaltschaft Mehreinnahmen in Höhe von lungspartner für seine Seite gerne noch etwas mehr raus- 14 Prozent erbringen. Diese Steigerung ist vor dem Hin- geholt hätte: Das Gesamtpaket ist ausgewogen. Ich bin tergrund der zehnjährigen Nullrunde mehr als moderat. froh, dass eine Baustelle abgeräumt werden kann und Diese Mehreinnahmen werden nicht in erster Linie das erstellte Gebäude allen nutzt. durch eine lineare Erhöhung der Gebühren, sondern durch eine Strukturreform des Gebührenrechts erreicht. Ich danke nochmals allen Beteiligten, insbesondere Der anwaltliche Einsatz für außergerichtliche Streitbei- (B) auch unserer Justizministerin, für die konstruktive Zu- legungen wird durch das neue Gesetz künftig besser ho- (D) sammenarbeit der letzten Monate, die zu einem sehens- noriert. werten Ergebnis geführt hat. Diese Strukturreform wird dem Rechtsfrieden dienen und die Gerichte entlasten. Dieser Ansatz trägt auch der Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Zur De- Tatsache Rechnung, dass bereits heute die anwaltliche batte und zur Abstimmung in zweiter und dritter Lesung Tätigkeit zu 70 Prozent außerhalb der Gerichtssäle statt- steht heute das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz. Es findet. Der aufgrund des Einigungsvertrages bis heute kommt in diesem Hause nicht sehr häufig vor, dass Ge- gültige Gebührenabschlag Ost in Höhe von 10 Prozent setzentwürfe von allen Fraktionen gemeinsam einge- auf Anwaltsgebühren und Entschädigungssätze in den bracht werden. Dass dies hier der Fall ist, zeigt, dass es neuen Bundesländern wird durch diese Reform ab dem offensichtlich für keinen politischen Standpunkt länger 1. Juni 2004 entfallen. Wir gehen damit einen weiteren hinnehmbar ist, dass sich die Stagnation der Rechtsan- Schritt zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den waltsvergütung auch weiterhin in die Zukunft fortsetzt. alten und neuen Bundesländern und setzen gleichzeitig Dieser Gesetzentwurf ist kein Traumergebnis. Er ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Ja- ein Kompromiss, aber er ist ein wichtiger Schritt in die nuar 2003 um. richtige Richtung, der längst überfällig ist. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, zuzugeben, dass die Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bei diesem strukturellen Änderungen im Vergütungssystem dazu Gesetzgebungsverfahren in enger Abstimmung mit führen werden, dass die Rechtsanwältinnen und Rechts- BRAK und DAV den Konsens mit der Bundesregierung anwälte je nach Tätigkeitsschwerpunkten von der Re- und den Regierungsfraktionen gesucht –, nicht, weil uns form unterschiedlich profitieren werden. Insbesondere kein eigener Gesetzentwurf eingefallen wäre, nein, nur Baurechtler und Familienrechtler werden durch den ein Konsens in diesem Parlament konnte den notwendi- Wegfall der Beweisgebühr negativ betroffen sein, denn gen Druck auf die Bundesregierung erzeugen, um zu in diesen Rechtsgebieten wird bei gerichtlichen Verfah- verhindern, dass es – wie in der letzten Legislaturperio- ren fast immer Beweis erhoben. Diese Einbußen können de – nur bei Versprechungen und Ankündigungen einer jedoch teilweise dadurch kompensiert werden, dass die Gesetzesnovelle bleibt. Vorschrift über Ausgleich und Verrechnung der ver- schiedenen Gebühren im vorgerichtlichen und im ge- Das Plädoyer für die Reform der Rechtsanwaltsvergü- richtlichen Verfahren geändert werden. Zu berücksichti- tung ist kein dumpfer Lobbyismus für die Anwaltschaft gen ist auch, dass künftig bei jedem gerichtlichen in Deutschland. Die Rechtsanwältinnen und Rechtsan- Verfahren, in dem es eine mündliche Verhandlung 8156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) gegeben hat, immer 2,5 Gebühren anfallen werden. Die privat als Rechtsuchende – mit Justiz zu haben. Die (C) Gerichtskosten, die aus verständlichen Gründen für je- Rechtsuchenden, ihre Anwälte, die Rechtsberater, die den Landesjustizminister einen Interessensschwerpunkt Zeugen, die Sachverständigen, die Schöffen und Laien- darstellen, werden ebenfalls nur moderat erhöht. Diese richter, die Justiz. Und sogar die Bundesländer, die auf Zurückhaltung bei der Erhöhung der Gerichtskosten ist die enge Finanzlage vor allem ihrer Haushalte Rücksicht von entscheidender Bedeutung. In einem Rechtsstaat zu nehmen haben. Sie haben darauf bestanden, dass sie darf die Durchsetzung des Rechtes durch ein gericht- nicht drauflegen müssen. Wie trotzdem die Honorare liches Verfahren nicht durch eine zu hohe Kosten- und Entgelte erhöht werden können, das war die große schwelle erschwert oder unmöglich gemacht werden. Aufgabe. Ich begrüße es sehr, dass die Spitzenvertreter der Seit zehn Jahren gab es keine Anpassungen mehr, ob- Standesorganisationen der Anwaltschaft in Deutschland wohl Kosten und Gehälter sich erheblich verändert hat- diesen gemeinsamen Gesetzentwurf als wichtigen ten. Rechtsanwaltskollegen haben mich angesprochen Schritt in die richtige Richtung begrüßt haben. Mit der und erklärt: Wir übernehmen keine Mandate als Pflicht- Unterstützung dieses Gesetzentwurfes sprechen wir uns verteidiger in Strafverfahren mehr. Wir können von den alle, die Standesorganisationen der Anwaltschaft und Gebühren unsere Büros nicht mehr bezahlen. alle Fraktionen dafür aus, dass auch in Zukunft klare ge- setzlich festgelegte Gebührenstrukturen für freiberuflich Wir legen ein Gesetzesgesamtwerk vor, das das Kos- tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gelten sol- ten- und Vergütungsrecht einfacher und transparenter ge- len. Dies ist ein wichtiges Signal an die Europäische staltet, die Gerichte entlastet und die am Verfahren Be- Kommission in Brüssel, insbesondere an den Wettbe- teiligten zeitgemäß vergütet. Bürgerinnen sollen zu werbskommissar Mario Monti. außergerichtlichen, Geld sparenden Streitbeilegungen animiert werden; Rechtsanwälte sollen durch Gebühren- Ich sage dies vor einem aktuellen Hintergrund: Am anreize motiviert werden, dies zu unterstützen. letzten Montag, also vor nur vier Tagen, hat die Europäi- sche Kommission auf Initiative des Herrn Monti einen Nicht zuletzt der bisherige 10-prozentige Ostabschlag Bericht verabschiedet, in dem auch Deutschland aufge- auf die Gebühren und Entschädigungssätze in den neuen fordert wird, die bei uns gesetzlich geregelten Gebühren- Bundesländern wird endlich abgeschafft. Wir leisten da- vorschriften für Freiberufler, insbesondere für Rechtsan- mit einen Beitrag zur Angleichung der Lebensverhält- wälte, abzubauen und ganz abzuschaffen. Ich bin zwar nisse in Ost- und Westdeutschland. überzeugter Europäer, aber diese Position des Wettbe- werbskommissars ist im Hinblick auf die Bedeutung der Die Vergütungen für Rechtsanwälte, Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer werden maßvoll angehoben (B) freien Berufe für unser Land und unsere Wirtschafts- (D) struktur nicht akzeptabel. Die Besonderheit und das in Höhe der Kostensteigerungen seither etwa für Mieten Ethos der freien Berufe gründen in dem vom Staat über- und Gehälter mit jährlich circa 1,4 Prozent. Damit liegen tragenen Aufgaben. etwa Honorare für Rechtsanwälte deutlich hinter dem Einkommenszuwachs in der gewerblichen Wirtschaft Das gesetzlich geregelte Gebührenrecht für die freien von durchschnittlich 2,6 Prozent jährlich im Vergleichs- Berufe, dient nicht – wie es Herr Monti unterstellt – der zeitraum. Gleichzeitig vermeidet der Gesetzentwurf fi- Marktabschottung, sondern der Sicherung geordneter nanzielle Mehrbelastungen der Bundesländer. Verfahren, der Qualitätssicherung und damit den Ver- braucherinteressen. Ein zentrales Element des deutschen Das Gesetz ist das fragile Ergebnis jahrelanger Ver- Rechtssystems ist die Kostenerstattung durch die unter- handlungen von Bund und Ländern und den betroffenen legene Partei und die Prozesskostenhilfe für wirtschaft- Berufsverbänden und Standesorganisationen, ein Kom- lich Schwächere. Bei einer vollständigen Liberalisierung promiss eben. des Gebührenrechts wären diese Grundelemente unseres Viele haben mich in den letzten Monaten gedrängelt: Rechtssystems nicht haltbar. Da die Bundesregierung Bitte keine weitere Verzögerung bei der Verabschiedung. diesen Gesetzentwurf aus Überzeugung mitträgt, gehe Das In-Kraft-Treten zum 1. Juli ist schon viel zu spät. ich davon aus, dass die zuständigen Minister dieser Bun- desregierung Herrn Monti in diesem Punkt klar und Könnt ihr nicht Teile des Gesetzes früher in Kraft set- deutlich widersprechen werden. zen? Sie hatten Recht. Weiteres Hinausschieben war nicht zu verantworten. Deshalb waren Änderungen nicht mehr drin. Sie hätte zu einer erneuten Verzögerung ge- Hans-Chistian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führt. Eine unerträgliche Vorstellung. NEN): Das Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts im Justizbereich war fürwahr eine „schwierige Geburt“. Die vielen Wünsche nach weiteren Verbesserungen Bereits in der letzten Legislaturperiode hatten wir uns müssen jedenfalls im Moment leider zurückstehen, um viel Mühe jahrelang damit gegeben. Wir hatten es fast das vorrangige Ziel der schnellen Verabschiedung nicht verabschiedet, aber dann ging es unter im Dickicht der zu gefährden. Wir haben zahlreiche Briefe mit Ände- Bedenken und Bedenkenträger aus Parteien, Bundeslän- rungsvorstellungen erhalten. Viele sind vernünftig, tat- dern und Interessengruppen. Wir machen einen neuen sächlich wünschenswert oder jedenfalls überlegenswert. Anlauf. Nur einige Beispiele: Der Deutsche Industrie- und Fast alle sind sich einig und können mit dem Ergebnis Handelskammertag möchte zum Beispiel die Vergütung leben. Die vielen Menschen, die beruflich – oder auch der gerichtlichen Sachverständigen noch flexibler nach Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8157

(A) fortschreitenden Marktpreisen gestalten statt durch stati- Vorschläge sollten wir, auch im Lichte erster Praxiser- (C) sche Zuordnung von Sachgebieten zu bestimmten Hono- fahrungen mit der jetzigen Reform, sukzessive aufgrei- rargruppen. fen, wo immer dafür Raum ist. Ein Berliner Rentenberater beklagt gegenüber dem Wir tun das Notwendige für das Funktionieren des Petitionsausschuss ein Sonderopfer seines Berufsstandes Rechtsstaates. Verabschiedet wird jetzt und in Kraft ge- durch einen drohenden Gebührenrückgang um 20 Pro- setzt zum l. Juli 2004. Dann sehen wir weiter: Wie hat zent infolge der Neuregelung. sich was bewährt und was nicht? Ein Berliner Fachanwalt für Sozialrecht weist mich auf ein drohendes „Unrecht“ hin, wenn dort sowie im Rainer Funke (FDP): Das Kostenrechtsmodernisie- verwaltungsrechtlichen Verfahren die Vorverfahrens- auf rungsgesetz kommt spät, aber hoffentlich nicht zu spät. die Gebühr im Klageverfahren angerechnet wird, statt Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die die Gebühren insgesamt anzuheben. letzte strukturelle Veränderung des anwaltlichen Kosten- rechts 1986 und die letzte lineare Anpassung der Gebüh- Ein Hannoveraner Fachbuchautor regt an, die An- ren 1994 erfolgt ist. rechnungsregeln anwaltlicher Verfahrens- und Ge- schäftsgebühren je nach erteiltem Auftrag sowie unter- Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Le- schiedliche Gebührenerhöhungen bei mehreren gislaturperiode angekündigt, dass ein Rechtsanwaltsver- Auftraggebern zu harmonisieren. gütungsgesetz vorgelegt werde und die damalige Justiz- ministerin hatte den Anwälten entsprechende Zusagen Der Notarausschuss im Deutschen Anwaltverein gemacht. Zu diesem Zweck war eine Sachverständigen- wendet sich gegen Fest- und Höchstgebühren und regt kommission eingesetzt worden, um nicht nur eine line- andere Wertbemessungen unter anderem bei der Bear- are Erhöhung der Anwaltsgebühren, sondern auch struk- beitung von Eheverträgen an. turelle Veränderungen vorzusehen. Als in der letzten Die AG Ausländer- und Asylrecht im DAV hält die Legislaturperiode erkennbar wurde, dass die Bundesjus- Streitwertbestimmung im Asylverfahren für unzurei- tizministerin ihre Versprechungen gegenüber der An- chend. waltschaft nicht einhalten wollte, hat die FDP-Fraktion einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundestag einge- Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert bracht, der sich in wesentlichen Zügen auf das Ergebnis Gleichstellung ihrer Mitglieder mit ärztlichen Sachver- der Sachverständigenkommission bezog. Die FDP hatte ständigen bei den Vergütungen und Auslagen für ge- auch in dieser Legislaturperiode angekündigt, diesen richtliche Gutachten. Gesetzentwurf erneut einzubringen, wenn die Bundesre- (B) Eine überörtliche Anwaltssozietät wendet sich gegen gierung erneut das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (D) die geplante Abschaffung der anwaltlichen Beweisge- verzögern würde. Ich danke der Bundesjustizministerin bühr, was sich besonders einkommensmindernd in Arzt- dafür, dass sie im Konsens mit den Verbänden und den haftungs-, Ehescheidungs- und Bauprozessen auswirken Ländern, aber auch im Konsens mit allen Bundestags- werde. fraktionen einen verabschiedungsreifen Entwurf einer Kostenrechtsmodernisierung vorgelegt hat. Ein Kommentator zum Zeugenentschädigungsrecht fordert höhere Reisekosten- und Auslagenerstattung in Kompromisse haben die Eigenschaft, dass man nicht diesem Bereich. mit allem zufrieden sein kann und gegebenenfalls auch Nachbesserungen notwendig sind. Mir ist jedoch be- Der Präsident des Deutschen Anwaltvereins hat da- wusst, dass ein Aufschnüren des Gesamtpaketes auch rauf hingewiesen, dass die „Gebührenordnung als Gan- negative Folgen für positiv erkannte Regelungen mit zes in Frage gestellt werden“ könnte und der erzielte sich bringen könnte. Deswegen hat die FDP-Fraktion „Kompromiß scheitern“ könnte, wollte man jetzt ein- auch in den Vorberatungen dieser Paketlösung zuge- zelne „Übelstände“ noch begradigen. stimmt. Er hat Recht, wir haben in mehreren abschließenden Dabei sind wir davon ausgegangen, dass auch der Runden versucht, das eine oder andere doch noch aufzu- Bundesrat dieser Lösung zustimmen wird. Die Länder greifen und anders zu regeln. Es stellte sich schnell he- sind hinsichtlich der Gerichtskosten um rund 50 Millio- raus: Jede Fraktion hat andere Prioritäten. Die eine will nen günstiger gestellt worden, als von uns ursprünglich für die Asylverfahren Veränderungen, die andere bei der für angemessen und richtig gehalten wurde. Wir waren Beweisgebühr eine Ergänzung usw. Änderungen wären für eine Kompensation der Belastungen durch den höhe- mit Kosten verbunden, die Länder sind misstrauisch, der ren Anfall der Prozesskostenhilfe und der Zeugen- und Kompromiss würde aufgeschnürt, es gäbe vielleicht eine Sachverständigenentschädigung ausgegangen. Jetzt ist neue Anhörung und schon wäre der Terminplan nicht in diesem Paket eine Überkompensation für die Länder mehr zu halten. vorgesehen, der wir unter dem Gesichtspunkt der Kom- Deshalb bleibt nur: Nicht mehr dran rühren, bloß promisslösungen aber, wenn auch schweren Herzens, nicht das Konsenspaket wieder öffnen. zustimmen. Diese kritische Anmerkung machen wir nicht etwa um die Länder zu ärgern, sondern weil in ei- Meine Fraktion ist auch künftig weiter offen für alle nem funktionierenden Rechtsstaat für jeden Bürger der zusätzlichen Verbesserungen, möglichst kostensparende Zugang zu den Gerichten ohne zu hohe Gerichtskosten- und gerechte Ausgestaltung des Kostenrechts. Solche belastung möglich sein muss. 8158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Hinsichtlich der Rechtsanwaltsvergütung begrüßen regelten Gerichtsgebühren werden in das Gerichtskos- (C) wir die strukturellen Veränderungen. Wir wissen, dass tengesetz übernommen. Im Rahmen des Vertretbaren einige Anwälte hiervon auch negativ betroffen sind. Wir wird von Wert- auf Festgebühren umgestellt werden; da- werden dies genau beobachten und, falls dies zu nicht mit entfallen Schwierigkeiten bei der Streitwertbestim- mehr vertretbaren Belastungen führt, Änderungsvor- mung. schläge einbringen. Alles in allem halten wir dieses Kos- tenrechtsmodernisierungsgesetz für gelungen und stim- Das neue Justizvergütungs- und -entschädigungs- men diesem Gesetz zu. gesetz löst das Entschädigungsprinzip bei Sachverstän- digen, Dolmetschern und Übersetzern durch ein neues leistungsgerechtes Vergütungsmodell ab. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Heute ist ein guter Tag für alle, die die nötigen Reformen in un- Das neue Rechtsanwaltsvergütungsrecht sieht insbe- serem Land auch für machbar halten. Gerade einmal drei sondere vor: Es gibt Vereinfachung, weil erstens die Be- Monate nach der ersten Lesung verabschiedet der Bun- weisgebühr bei gleichzeitiger Erhöhung der Verfahrens- destag heute den umfangreichen und sensiblen Gesetz- und der Terminsgebühr wegfällt und wir zweitens die entwurf eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes. Gebühren- und Auslagentatbestände in einem Vergü- tungsverzeichnis zusammenstellen. Wie bei allen großen Reformen liegen auch beim Kostenrechtsmodernisierungsgesetz intensive Diskus- Erstmalig sind wichtige anwaltliche Tätigkeiten wie sionen hinter uns. Ich nenne die Stichworte Rechts- Mediation, Hilfeleistung in Steuersachen und Zeugenbei- anwaltsvergütung und künftige Bemessung der Gerichts- stand erfasst! Wir kommen zu einer leistungsorientierten gebühren. In beiden Fällen haben wir mit den Ländern Ausgestaltung, zum Beispiel für die Anwaltstätigkeiten sowie den verschiedenen Verbänden und Interessengrup- im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, pen intensiv um eine faire Lösung gerungen. des Bußgeldverfahrens und der Pflichtverteidigung. Wir haben die verschiedenen Interessen ausbalanciert Wir fördern die außergerichtliche Erledigung, zum in einem Regierungsentwurf und einem wortgleich von Beispiel durch Umgestaltung der Vergleichsgebühr zu allen Fraktionen des Deutschen Bundestages einge- einer Einigungsgebühr für jede Form der vertraglichen brachten Entwurf. Die hierbei erzielte breite Überein- Streitbeilegung und durch Verbesserung der Vergütung stimmung hat die zügige Beratung erst möglich ge- für außergerichtliche Tätigkeiten. Damit werden die macht. Rechtsanwälte noch mehr motiviert, die Bürgerinnen und Bürger im Bestreben, sich außergerichtlich zu eini- Ich möchte an dieser Stelle allen Berichterstattern für gen, zu unterstützen. Die Förderung des „Schlichten, (B) die gute und wirklich konstruktive Zusammenarbeit statt richten“ wird auch die Gerichte entlasten. (D) ganz herzlich danken. Ich möchte auch meinen Dank an die Vertreter der im Rahmen der Erarbeitung des Gesetz- Wir fördern den Abschluss von Gebührenvereinba- entwurfs angehörten Verbände für die konstruktive Mit- rungen durch Verzicht auf eine gesetzliche Festlegung arbeit wiederholen. Gleiches gilt für die engagierte Mit- von Gebühren für die Beratungstätigkeit ab 1. Juli 2006. arbeit der Landesjustizverwaltungen. Es kommen Gebührenregelungen für den Zeugenbei- Das Ergebnis unserer Mühe und konzentrierten An- stand und die Schaffung einer Terminsgebühr für Ver- strengung kann sich sehen lassen: Wir machen das Kos- handlungen im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs. ten- und Vergütungsrecht einfacher und transparenter, entlasten die Gerichte und vergüten die am Verfahren Die rund zehn Jahre unverändert gebliebenen Vergü- Beteiligten zeitgemäß. tungen für Rechtsanwälte passen wir der seither einge- tretenen wirtschaftlichen Entwicklung an. Dabei sind Mit dem Gesetz werden zum 1. Juli 2004 die Rege- Mehreinnahmen der Rechtsanwälte aufgrund der gestie- lungen für die Gerichtskosten ebenso wie die Vergütung genen Streitwerte bereits berücksichtigt. der Sachverständigen, die Entschädigung für Zeugen und ehrenamtliche Richter grundlegend neu gestaltet. Auch die Erhöhung der Vergütung für Sachverstän- Von der altehrwürdigen Bundesgebührenordnung für dige, Dolmetscher und Übersetzer trägt der wirtschaftli- Rechtsanwälte werden wir Abschied nehmen. Sie wird chen Entwicklung Rechnung. Im Vergleich zum Ein- durch ein neues, modernes Rechtsanwaltsvergütungsge- kommenszuwachs in der gewerblichen Wirtschaft ist setz ersetzt. Der Ostabschlag in Höhe von derzeit dabei der im Entwurf vorgesehene Einkommenszuwachs 10 Prozent auf die Gebühren und Entschädigungssätze eher moderat. in den neuen Bundesländern wird – ebenfalls ab 1. Juli 2004 – der Vergangenheit angehören. Die Justizhaushalte der Länder werden durch die Neuregelungen nicht belastet, stehen doch den Mehraus- Lassen Sie mich noch einmal die Schwerpunkte des gaben für Rechtsanwalts- und Sachverständigenver- Gesetzentwurfs zusammenfassen. Im Bereich der Ge- gütungen deutliche Mehreinnahmen im Gerichtskosten- richtskosten sind dies: Das 1994 für bestimmte Zivilpro- bereich gegenüber. Wir kommen damit einem zessverfahren bei den Gerichtskosten eingeführte Pau- eindringlichen Wunsch der Länder nach, ohne unsere ge- schalgebührensystem wird auf alle Rechtszüge und auf meinsame Verantwortung für einen für die Bürgerinnen die Verfahren aller Zweige der Gerichtsbarkeit ausge- und Bürger bezahlbaren Rechtsschutz aus den Augen zu dehnt. Die bisher zum Teil im Arbeitsgerichtsgesetz ge- verlieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8159

(A) Anlage 4 Die Zusammenarbeit aller Fraktionen mit dem Bun- (C) desjustizministerium und die äußerst sachbezogene De- Zu Protokoll gegebene Reden batte in den Berichterstattergesprächen hat auch dazu ge- zur Beratung des Entwurfes eines Gesetzes zur führt, dass kleine und mittelständische Betriebe nicht Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom benachteiligt werden. Das war ein besonderes Anliegen 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur der Koalition. Anderung des Hypothekenbankgesetzes und Ich möchte mich bei den Verantwortlichen des Justiz- anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 11) ministeriums, bei den Berichterstatterkollegen aller Fraktionen und bei den Sachverständigen bedanken. Die Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Mit der erforderlichen Gespräche haben zu dem Ergebnis ge- Umsetzung der EG-Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni führt, dass dieser für den Finanzplatz Deutschland ganz 2002 und der Verabschiedung des hierfür erforderlichen entscheidende Gesetzentwurf durch das Hohe Haus ein- Gesetzentwurfs wird der Finanzplatz Deutschland ge- stimmig verabschiedet werden kann. stärkt, sodass unser Land im europäischen Markt wettbe- werbsfähig ist und dass die Derivate und Ähnliches auch in Frankfurt handelbar sind und die Banken nicht auf Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Nach intensiven Plätze wie Luxemburg und London ausweichen müssen. Gesprächen – auch mit Sachverständigen – konnten wir uns im federführenden Rechtsausschuss gestern im Der Gesetzentwurf verfolgt im Wesentlichen zwei Kreise der Berichterstatter auf Veränderungen zum ur- Anliegen. Zum einen wird die genannte Richtlinie über sprünglichen Regierungsvorschlag einigen. Der inter- Finanzsicherheiten in das deutsche Recht überführt, zum fraktionelle Änderungsantrag hat die Umsetzung der anderen soll das Hypothekenbankgesetz vor allem in sei- Richtlinie in nicht unwesentlichen Teilen deutlich verän- nen insolvenzrechtlichen Regelungen präzisiert werden. dert. Die Finanzsicherheitenrichtlinie zielt darauf ab, den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Finanz- Meine Fraktion hat von Beginn der Berichterstatter- binnenmarkt zu fördern und zur Stabilität des Finanzsys- gespräche an klargemacht, dass wir nicht bereit sind, die tems in der Gemeinschaft und zur höheren Kostenwirk- berechtigten Einwände des Bundesrates, insbesondere samkeit des Finanzmarktes beizutragen. Damit die die eigentliche Umsetzung der Richtlinie im Bereich Geschäfte gemeinschaftsweit möglichst störungsfrei ab- Finanzsicherheiten betreffend, mit einem Federstrich ab- gewickelt werden können, bestimmt die Richtlinie, Fi- zutun, wie dies die Bundesregierung in ihrer Stellung- nanzsicherheiten von bestimmten Vorschriften des natio- nahme getan hat. Nach und nach wurde die Kritik am Regierungsentwurf lauter: BGA, BDI, CDH, DIHK, (B) nalen Insolvenzrechts auszunehmen, soweit sie die (D) effektive Verwertung einer Sicherheit behindern oder im GDV und die Insolvenzverwalter auf der einen Seite, die Bankenverkehr häufig praktizierte Verfahren, wie etwa die Banken, namentlich der BdB, auf der anderen Seite. Für Verrechnung gegenseitiger Positionen, infrage stellen. Im die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stand von Beginn an Bereich des Insolvenzrechts sieht der Gesetzentwurf außer Frage, dass der Finanzplatz Deutschland durch die deshalb vor, dass die Verwertung von Finanzsicherheiten Umsetzung der Richtlinie keine Nachteile im europäi- nicht durch die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen schen Wettbewerb erleiden darf. Andererseits aber gilt im Eröffnungsverfahren oder durch die Eröffnung des es, den Wirtschaftsplatz Deutschland nicht zu schwä- Insolvenzverfahrens beeinträchtigt werden darf. chen. Weiter werden Erleichterungen bei der Pfandverwer- Das deutsche Insolvenzrecht ist von zwei zentralen tung vorgesehen. So soll etwa der freihändige Verkauf Gedanken getragen, die sich in § l der Insolvenzordnung erleichtert und auch eine Verwertung im Wege der An- wiederfinden. Erstens: „Das Insolvenzverfahren dient eignung zugelassen werden. dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen“. Zweitens. Dies soll insbesondere durch Hierzu noch folgende Feststellung: den Erhalt des Unternehmens geschehen. Entzieht man Finanzsicherheiten im Sinne des Gesetzes sind Bar- nun der Masse frühzeitig weitere Teile, so steht zu be- guthaben, Wertpapiere, Geldmarktinstrumente so- fürchten, dass zukünftig weniger saniert und mehr zer- wie sonstige Schuldscheindarlehen einschließlich legt wird, und dass verstärkt in eine Richtung abfließt. jeglicher damit im Zusammenhang stehender Das führt aber nahezu zwangsläufig zu einer Schlechter- Rechte oder Ansprüche. stellung der ungesicherten Gläubiger, gerade der kleine- ren Gläubiger. Die Auswirkungen auf Arbeitsplätze in Die komplette Formulierung ist im gemeinsamen Än- Handwerk und Mittelstand sind leicht vorstellbar. derungsantrag aller Fraktionen des Deutschen Bundesta- ges vom 11. Februar 2004 festgehalten. Die Änderungen Eine Aussage eines sachverständigen Insolvenzver- des Hypothekenbankgesetzes zielen darauf ab, den inter- walters blieb mir besonders im Gedächtnis: „Man kann nationalen Kapitalmarkt auch weiterhin von der hohen im Falle der Insolvenz keinem Gläubiger etwas geben, Sicherheit und Qualität des deutschen Pfandbriefrechts ohne einem anderen etwas wegzunehmen.“ Einleuch- zu überzeugen. Der Gesetzentwurf sieht hierfür Rege- tend, da die Masse begrenzt ist. Den dahinter stehenden lungen vor, die eine zeitgerechte Bedienung der Pfand- Gedanken halte ich allerdings für entscheidend: Sind wir briefe auch in der Krise der Hypothekenbank gewähr- bereit die Stellung der Banken als Gläubiger im Insol- leisten sollen. venzfall durch die Umsetzung der Richtlinie weiter zu 8160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) stärken, gegebenfalls zulasten der kleinen Gläubiger, man auch sagen, unredlich ist allerdings die Art und (C) zum Beispiel der Lieferanten? Weise, wie sie ihn gefunden hat. Die Antwort der CDU/CSU lautet: Soweit es nötig ist ja – die zwingende Richtlinienumsetzung im Interban- Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Auch wenn die öf- kenverkehr hat derartige Auswirkungen auch nicht. Be- fentliche Debatte zum vorliegenden Gesetzentwurf sich reits heute verfügen Kreditinstitute im Insolvenzfall ob unter dem Stichwort „Bankenprivileg“ vor allem auf die der meist umfangreichen bestellten Sicherheiten als Aus- Änderungen im Insolvenzrecht konzentriert hat, möchte und Absonderungsberechtigte über eine starke Position, ich einiges zu den Änderungen im Bereich des Pfand- und das ist durchaus gewollt. Das gewachsene deutsche briefrechts sagen. Insolvenzrecht hat aber immer vermieden, diese Position Ziel dieser Änderungen war es, die herausragende zu einseitig überzubetonen; daran wollen wir festhalten. Stellung des Finanzplatzes Deutschland im Bereich der Zunächst war es wichtig, den Begriff der Finanzsi- Pfandbriefe gegen die zunehmend erstarkende interna- cherheit klarzustellen. Zur Rechtsklarheit darf gern ein- tionale Konkurrenz zu verteidigen und auszubauen. Die mal ein Satz mehr Gesetzestext sein, hier mit Sicherheit Bedeutung der Pfandbriefe zeigt sich sofort, wenn man an der richtigen Stelle. Der gefundene Konsens des bedenkt, dass vom Gesamtumlauf inländischer Schuld- „Teil-Opt-Out“, des teilweisen Abweichens von der verschreibungen am deutschen Kapitalmarkt rund Richtlinie bei deren Umsetzung, der im Übrigen auch im 40 Prozent auf dieses Kapitalmarktinstrument entfallen. ersten Entwurf des BMJ in ähnlicher Form enthalten Pfandbriefe sind damit sowohl aufgrund der hohen war, ist tragfähig und berücksichtigt die verschiedenen Marktliquidität als auch wegen ihrer hohen Sicherheit Interessen. Die Umsetzung der Maximalforderungen, ein herausragendes Merkmal des deutschen Finanzmark- auf denen leider hier und da bis zuletzt beharrt wurde, tes und bilden gerade für internationale Investoren eine wäre ohne Zweifel volkswirtschaftlich schädlich gewe- hohe Attraktivität. sen. Die ins Feld geführten Behauptungen zur angebli- Um diese Stellung zu verteidigen, war es nötig, die chen Schwächung des Finanzplatzes Deutschland bei rechtlichen Regelungen für Pfandbriefe anzupassen. Im Ausübung des „Opt-Out“ waren wenig überzeugend vor- Mittelpunkt standen die folgenden Fragen: Wer verwal- getragen. Gerade die Tatsache, dass andererseits einige tet die im Hypothekenregister eingetragenen Werte? Wer Mitgliedstaaten sogar über die Richtlinie hinausgehen, trägt die Kosten der Verwaltung der Deckungsmasse? führt das enge Umsetzungsargument ad absurdum. Wie können Deckungswerte und Pfandbriefverbindlich- Ich freue mich, dass die Koalition, insbesondere keiten auf andere, solvente Pfandbriefemittenten über- durch die objektive Befassung des Kollegen Montag, tragen werden? (B) (D) wie man so schön sagt, noch die Kurve gekriegt hat. Die Mit der verpflichtend eingeführten Überdeckung von im Ausschuss getätigten Aussagen hinsichtlich der Bun- 2 Prozent, mit der Installation eines Sachverwalters und desratsstellungnahme, insbesondere der Einlassungen mit den Neuregelungen zur Übertragung von Deckungs- des Freistaates Bayern im Verfahren, weise ich aller- werten und Pfandbriefverbindlichkeiten durch den Sach- dings auf das Schärfste zurück. Wenn man beispiels- verwalter im Insolvenzfall wurden diese Fragen meiner weise die Presseerklärung der Bayerischen Staatsminis- Ansicht nach gut und sachgerecht gelöst. Die zweipro- terin der Justiz Frau Dr. Merk vom 8. Dezember 2003 zentige Überdeckung dient einerseits dem Ausgleich von liest, findet sich eine objektive Darstellung. Nachdem Liquiditätsschwankungen, andererseits werden mit ihr sich die Fraktionen nun in diese Richtung geeinigt ha- die im Insolvenzfall entstehenden Kosten gedeckt. ben, stellt sich mir schon die Frage, weshalb gerade die SPD nun ausdrücklich betont, ich zitiere aus dem Be- Die neu geschaffene Position des Sachverwalters richterstatterbericht – dafür sollten wir wohl noch einen stärkt die Position der Pfandbriefgläubiger im Falle der anderen Terminus finden –: Es sei ein besonderes Anlie- Insolvenz des Emittenten. Da die Pfandbriefmasse nicht gen der Koalition gewesen, die tragende Säule der deut- Teil der Insolvenzmasse ist – was übrigens in der gesetz- schen Wirtschaft, nämlich Handwerk und Mittelstand, lichen Neufassung noch einmal deutlicher hervorge- nicht – wie es die Banken gefordert hätten – in die fal- hoben wird – ist es wichtig, dass sie nicht in die sche Richtung zu leiten. Zuständigkeit des Insolvenzverwalters fällt, da sonst In- teressenkonflikte vorprogrammiert sind. Hier stellt der Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom Sachverwalter eine sehr gute Lösung dar, da er unabhän- 17. Oktober 2003 dazu ausgeführt, ich zitiere: „... die gig für eine schnelle Abwicklung der Deckungsmasse Richtlinie bewirkt die Privilegierung einer bestimmten sorgen kann. Zu diesem Zweck werden dem Sachver- Gruppe von Sicherungsgebern ... Die Begünstigung der ... walter im Insolvenzfall schnellere Möglichkeiten, De- Kreditwirtschaft geht jedoch notwendig zulasten anderer ckungswerte und Pfandbriefverbindlichkeiten auf andere Wirtschaftszweige bzw. Gläubiger – etwa einfachen Spezialinstitute zu übertragen, gegeben. Der Ansatz, Handwerksbetrieben.“ Die Bundesregierung ihrerseits hierzu die Regelungen des Umwandlungsgesetzes zu führt noch in ihrer Gegenäußerung darauf aus, ich übernehmen, sie aber an die Besonderheiten des Anwen- zitiere: „In den Prüfbitten ... moniert der Bundesrat eine dungsbereiches anzupassen, scheint mir hier sehr gut ge- Privilegierung der Kreditwirtschaft... Die Bundesregie- lungen. rung teilt nicht die Einschätzung der Prüfbitte.“ „Heute hü, morgen hott“ könnte man sagen. Am Ende hat die Besonders betont werden sollte, dass es in guter inter- Koalition ja noch den besten Weg gefunden. Das darf fraktioneller Zusammenarbeit gelungen ist, die Regelun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8161

(A) gen, die im ursprünglichen Gesetzentwurf nur für das wie die von ihnen gehaltenen Finanzsicherheiten rei- (C) Hypothekenbankengesetz geplant waren, auch auf das chen. Soweit sich die Ausnahmen von der Insolvenzord- ÖPG und das Schiffsbankgesetz sinngemäß zu übertra- nung auf den Verkehr der Banken und Wertpapierhäuser gen. Damit ist sichergestellt, dass im Insolvenzfall für untereinander beschränken, sind sie in jedem Fall ge- alle Arten von Pfandbriefen dieselben rechtlichen Bedin- rechtfertigt und haben keine unmittelbaren negativen gungen gelten. Eine rechtliche Spaltung des Pfandbrief- Auswirkungen auf die Sicherung von Unternehmen auch marktes konnte so vermieden werden. Dies wird die in- in der Insolvenz und auf Insolvenzverfahren, die berech- ternationale Akzeptanz von Pfandbriefen sicherlich noch tigte Forderungen der mittelständischen Wirtschaft un- weiter steigern. In diesem Zusammenhang gilt es auch, tereinander gerecht schützen sollen. die weitere Entwicklung im Rating der Emittenten öf- fentlicher Pfandbriefe im Auge zu behalten, wenn im Die Richtlinie sieht jedoch in Art. 1 Abs. 2 Buch- Jahre 2005 Anstaltslast und Gewährträgerhaftung entfal- stabe e die Möglichkeit vor, ihren Geltungsbereich auch len. auf natürliche Personen, Einzelkaufleute und Personen- gesellschaften zu erstrecken, sofern sie Vertragsparteien Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung möchte ich von Banken oder Wertpapierhäusern sind. Es war im Ge- abschließend doch noch einmal auf den Kompromiss zu- setzgebungsverfahren sehr umstritten, ob von dieser rückkommen, der fraktionsübergreifend im Bereich der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden sollte. Im Ergeb- Finanzsicherheiten gefunden wurde. Kern des Problems nis haben wir uns dafür entschieden, weil alle finanz- waren die divergierenden Interessen der Banken und der platzstarken Länder der EU dies ebenfalls so machen anderen Unternehmen hinsichtlich der Frage, welche und wir eine Benachteiligung deutscher Finanzinstitute Vermögensbestandteile Gegenstand des Insolvenzver- im internationalen Ranking vermeiden wollten. fahrens sein und welche den Banken zur Sicherung ihrer Aus schlichtem Unverständnis und teilweise aus Forderungen vorbehalten sein sollten. Ich bin der Auf- durchsichtigen politischen Gründen ist diese Entschei- fassung, dass die gefundene Lösung ein zwar tragfähi- dung dazu benutzt worden, der Bundesregierung und ger, aber doch stark theoretisch geprägter Kompromiss den Regierungsfraktionen vorzuwerfen, „die Axt an die ist. Wir sollten uns ausgehend von dieser Regelung nach Wurzeln erfolgreicher Sanierungsverfahren“ zu legen etwas Zeitablauf genau ansehen, wie sie sich einerseits und die gerechte Behandlung aller Gläubiger „dem auf den Finanzplatz Deutschland und andererseits auf Druck der Kreditwirtschaft zu opfern“. Besonders die die Situation der Unternehmen ausgewirkt hat. Völlig er- Bayerische Staatsregierung hat sich hier der Falschdar- gebnisoffen sollten wir dann gegebenenfalls bereit sein, stellung in der Öffentlichkeit schuldig gemacht. Den das Gesetz in die eine oder in die andere Richtung zu – wenn auch diskreten – Druck aus dem Lager der Ban- überarbeiten. (B) ken konnte man tatsächlich spüren; die Koalition hat (D) ihm aber widerstanden. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziel der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra- Gespräche der Berichterstatter mit Sachverständigen tes über Finanzsicherheiten vom 6. Juni 2002 ist die Si- und untereinander haben dazu geführt, dass in § 1 cherung des europäischen Finanzmarkts im weltweiten Abs. 17 Satz 2 und 3 KWG in Bezug auf natürliche Per- Wettbewerb. Dies soll unter anderem erreicht werden sonen, Einzelkaufleute und Personengesellschaften der durch rasche und unbürokratische Verwertungsverfah- Begriff der Finanzsicherheiten so exakt gefasst wurde, ren, um die finanzielle Stabilität der europäischen dass Durchgriffe der Gläubiger auf Warenlager und Ma- Finanzmärkte zu sichern und Dominoeffekte bei Insol- schinenparks in der Insolvenz ausgeschlossen sind. In venzen im Bereich der Interbanken- und Wertpapierhan- § 1 Abs. 17 Satz 4 KWG sind in Bezug auf natürliche delshäuser zu verhindern. Finanzsicherheiten der Fi- Personen, Einzelkaufleute und Personengesellschaften nanzinstitute sollen danach einen Schutz genießen, der Anteile des Sicherungsgebers und Anteile an verbunde- sie international wettbewerbsfähig hält. Im Wesentlichen nen Unternehmen ausdrücklich als nicht zu Finanzsi- – aber genau hier liegt das Problem – berührt dieser cherheiten gehörend ausgeschieden worden. Schließlich Schutz nur den so genannten Interbankenverkehr. Mit wurde eine ebenfalls einengende und klarstellende For- den geschützten Finanzsicherheiten sollen eigentlich nur mulierung in § 130 Abs. Satz 2 InsO aufgenommen. Bargeldbeträge auf Bankkonten, Aktien und ihnen gleich Damit konnten wir erreichen, dass das Gesetz zur zu stellende Wertpapiere umfasst werden. Umsetzung der Finanzrichtlinie der EU nunmehr von al- Bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie stand len Fraktionen dieses Hauses getragen wird. Ich werte und steht im Mittelpunkt der fachöffentlichen Debatte, dies als Zeichen, dass es im vorliegenden Gesetz gelun- dass unter Durchbrechung des Grundsatzes des deut- gen ist, die Interessen aller Wirtschaftsgruppen ange- schen Insolvenzrechts, wonach Gläubiger mit gleichen messen zur Geltung zu bringen. Rechten anteilig gleich zu behandeln sind, Finanzinsti- tute bezüglich von ihnen gehaltener Finanzsicherheiten Rainer Funke (FDP): Was lange währt, wird endlich bevorzugt werden. Die Besserstellung liegt konkret da- gut! Das jetzt gefundene Ergebnis ist gut. Doch es war rin, dass diese Gläubiger ihre Sicherheiten ohne Einfluss ein langer, nach meinem Geschmack zu langer Weg des Insolvenzverwalters und ohne Rücksicht auf andere dorthin. Denn bereits der ursprüngliche Regierungsent- Gläubiger und die Insolvenzmasse verwerten können, wurf hatte die Vorgaben der Finanzsicherheitenrichtlinie um nicht von Insolvenzen ihrer Schuldner tangiert zu in zutreffender Weise umgesetzt. Es waren weniger werden; jedenfalls insoweit nicht tangiert zu werden, substanzielle Einwendungen, sondern vielmehr 8162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Missverständnisse, die in vier Berichterstattergesprächen hervorgerufenen Bedenken durch Klarstellungen ausräu- (C) in mühevoller Kleinarbeit ausgeräumt werden mussten. men, ohne die Richtlinie in ihrer Substanz zu verändern. Dadurch ist es in letzter Minute gelungen, einen gerech- Das, was von interessierter Seite, von Insolvenzver- ten und von allen Parteien getragenen Interessenaus- waltern und Industrie, gegen die Umsetzung der Finanz- gleich zu finden. Dies stärkt den Finanzplatz Deutsch- sicherheitenrichtlinie angeführt wurde, war in ihr, war in land, ohne den Unternehmensstandort Deutschland zu dem überzeugenden Regierungsentwurf, für den ich dem schwächen. In diesem Sinne wird auch die FDP-Bundes- Bundesministerium der Justiz danke, gar nicht angelegt: tagsfraktion dem vorliegenden Gesetz zustimmen. eine Ungleichbehandlung von Gläubigern – anders for- muliert – eine Privilegierung von Banken bei Unterneh- Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass das mensinsolvenzen. Die Kritiker beriefen sich auf den Gesetz nicht nur den europäischen Finanzplatz stärken, Grundsatz der Gleichbehandlung aller Gläubiger. Einen sondern auch das Rating von Pfandbriefen verbessern solchen Grundsatz gibt es nicht. Ihn gab es auch nie. wird. Hinsichtlich der offen gebliebenen insolvenzfesten Ausgestaltung des Anspruchs auf Übertragung des Einen Anspruch auf Gleichbehandlung haben nur die Grundpfandrechts im Falle einer Treuhand werden wir Insolvenzgläubiger. Hiervon zu unterscheiden sind die die Bundesregierung beim Wort nehmen und zu gegebe- Sicherungsgläubiger. Diese haben bereits nach gelten- ner Zeit an ihre Zusage, hier für eine überzeugende Re- dem Insolvenzrecht ein Absonderungsrecht. Einschrän- gelung zu sorgen, erinnern. kungen des Absonderungsrechts ergeben sich nur für Mobiliarsicherungsgläubiger. Hierdurch soll ein Heraus- lösen der Sicherungsgegenstände zur Unzeit verhindert Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der werden, um Sanierungschancen nicht zu gefährden. Die- Bundesministerin der Justiz: Mit dem vorliegenden Ge- ser Gedanke kommt jedoch bei Finanzsicherheiten ge- setzentwurf stärken wir den Finanzplatz Deutschland rade nicht zum Tragen, denn diese sind entweder ver- weiter. Wir setzen zum einen die Richtlinie über Finanz- pfändet oder im Wege der Vollübereignung bestellt. In sicherheiten vom 6. Juni 2002 um und leisten damit ei- der ganzen Diskussion konnte kein Fall glaubhaft ge- nen wichtigen Beitrag zum Finanzbinnenmarkt in der schildert werden, bei dem auch bei Finanzsicherheiten EU. Zum anderen verbessern wir im Hypothekenbank- ein Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters zum Tra- gesetz die Absicherung der Pfandbriefgläubiger bei In- gen gekommen wäre. Die ins Felde geführten Beispiele solvenz der Hypothekenbank. betrafen ganz andere Fälle. Das gilt auch für den Fall des Lassen Sie mich zunächst auf die Richtlinie eingehen. Insolvenzverwalters eines Großhandelsunternehmens für Durch die Finanzsicherheitenrichtlinie soll eine gemein- Anglerbedarf, der seinen dramatischen Auftritt in der schaftsweite Regelung für die Bereitstellung von Wert- (B) ZDF-Sendung „Frontal 21“ am 18. November 2003 papieren und Kontoguthaben als Sicherheit geschaffen (D) hatte und, zwischen Angeln und Ködern stehend, die werden, um dadurch zu einer weiteren Integration und Auffassung vertrat, wäre die Finanzsicherheitenrichtlinie höheren Kostenwirksamkeit des Finanzmarkts beizutra- schon umgesetzt worden, hätte die Bank den Betrieb gen. Dies soll den freien Dienstleistungs- und Kapital- ausgeplündert und die Arbeitsplätze wären nicht mehr zu verkehr im Finanzbinnenmarkt fördern. Dafür ist es er- retten gewesen. forderlich, dass wir die Finanzsicherheiten von solchen Nein, das normale Kreditgeschäft fiel von Anfang an Vorschriften des Insolvenzrechts ausnehmen, die ihrer nicht in den Anwendungsbereich der Finanzsicherhei- effektiven Verwertung im Wege stehen. Diese Sicherhei- tenrichtlinie. ten sollen vielmehr möglichst rasch und unbürokratisch verwertet werden können.Dabei mussten wir sorgfältig Da jedoch viele Stellen – die Bayerische Staatsregie- darauf achten, die bewährte Architektur des Gläubiger- rung eingeschlossen – sich, um im Bild zu bleiben, vom schutzes in unserer Insolvenzordnung zu bewahren. Insolvenzverwalter ködern ließen und ihm an die Angel gingen, war viel Überzeugungsarbeit notwendig, um bei Wir durften und wollten uns die Arbeit an den Umset- der Umsetzung der Finanzsicherheitenrichtlinie Fehler zungsvorschriften nicht leicht machen und haben es auch zu vermeiden, die zu einer entscheidenden Schwächung nicht getan. Dabei war die in einzelnen Punkten durch- des Finanzplatzes Frankfurt geführt und das scheue Reh aus konträre Diskussion stets fair und von dem Wunsch Kapital nach London oder Luxemburg vertrieben hätten. getragen, im Interesse des Finanzplatzes Deutschland eine Regelung zu finden, die den Finanzmärkten genug In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei- Spielraum gibt, um für die Zukunft offen für neue Fi- sen, dass die Umsetzung der Finanzsicherheitenrichtlinie nanzprodukte zu sein. Wir wollen keine Anreize bieten, nicht der geeignete Ort ist, Änderungen im Regelinsol- bestimmte Geschäfte ins Ausland zu verlagern. Anderer- venzverfahren zu erreichen, wie sie die Insolvenzver- seits mussten wir stets im Blick behalten, dass das wohl- walter wünschen. Vorrangige Ziele der Finanzsicherhei- austarierte Gefüge der Insolvenzordnung nicht durch tenrichtlinie sind und bleiben die Stärkung des massive Eingriffe aus dem Gleichgewicht gerät. Lassen Finanzplatzes, die Integration des Finanzmarktes und die Sie mich die Gelegenheit nutzen, meinen Kollegen für Stabilisierung des Finanzsystems. die überaus sachliche Atmosphäre im Ringen um eine ausgewogene Lösung zu danken. Leider drohten diese Ziele bei der weiteren Diskus- sion zumindest kurzfristig aus dem Blick zu geraten. Leider bestanden in der Öffentlichkeit zunächst ge- Umso erfreulicher ist es, dass nunmehr eine Lösung ge- wisse Fehlvorstellungen über den Regelungsgegenstand funden werden konnte, die die durch Missverständnisse der Richtlinie. Deshalb sollte – entgegen mancher anders Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8163

(A) lautender Kommentare in der Presse – Klarheit darüber insbesondere die Folgefragen, wer die Deckungsmasse (C) bestehen, dass es bei der Umsetzung der Richtlinie wirk- im Fall der Insolvenz verwaltet, wer die Kosten der Ver- lich nur um Finanzsicherheiten geht. Wir reden also von waltung bezahlt und wie eine rasche Übertragung der Wertpapieren und Kontoguthaben und nicht auch von Deckungswerte auf eine übernahmebereite Hypotheken- Maschinen oder Forderungen. Wertpapiere und Konto- bank gewährleistet werden kann. Diese Fragen werden guthaben werden nur bei ganz bestimmten Transaktio- durch den Gesetzentwurf beantwortet. So wird nun klar- nen als Sicherheiten eingesetzt, etwa bei Wertpapierdar- gestellt, dass die Deckungsmasse durch einen Sachwal- lehens- oder Wertpapierpensionsgeschäften. Solche ter verwaltet wird, der für die geordnete Befriedigung Transaktionen werden von einem Großteil der Unterneh- der Pfandbriefgläubiger sorgt. Die Kosten der Verwal- men überhaupt nicht getätigt. Befindet sich ein Unter- tung werden durch eine sichernde Überdeckung finan- nehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, so werden ziert. Wertpapiere und Kontoguthaben wohl als Erstes einge- setzt, um neue Liquidität zu schaffen. Ich gehe deshalb Als weitere Änderung ist vorgesehen, die im Hypo- davon aus, dass im Normalfall der Insolvenz der Insol- thekenregister eingetragenen Werte zusammen mit den venzverwalter überhaupt nicht mit Finanzsicherheiten gedeckten Pfandbriefverbindlichkeiten im Wege einer konfrontiert wird. Teilvermögensübertragung, die der Vermögensübertra- gung nach dem Umwandlungsgesetz nachgebildet ist, Die geplante Änderung von § 166 InsO, die eine auf eine andere Hypothekenbank zu übertragen. schnelle und unbürokratische Realisierung der Finanzsi- cherheiten gewährleistet, wird deshalb im Normalfall Eine vergleichbare Interessenlage wie bei den Hypo- der Insolvenzabwicklung wohl keine praktischen Aus- thekenbanken besteht bei den öffentlich-rechtlichen Kre- wirkungen haben. Ein Verwertungsrecht des Insolvenz- ditanstalten, die ebenfalls Pfandbriefe begeben, und bei verwalters ist bereits nach geltendem Recht nur gegeben, den Schiffsbanken. Insofern ist es konsequent, wenn die wenn der Verwalter sich im Besitz des Sicherungsgegen- Änderungen des Hypothekenbankgesetzes auch in das standes befindet. Da in Deutschland jedoch bei Wertpa- ÖPG und das Schiffsbankgesetz übernommen werden. pieren meistens der Weg über eine Verpfändung oder Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den genannten eine Übereignung und Lieferung der Wertpapiere ge- Regelungen zu einer weiteren Verbesserung des Wirt- wählt wird, besteht bereits jetzt regelmäßig kein Verwer- schaftsstandortes Deutschland beitragen können. tungsrecht des Verwalters. Insofern konnten wir auch mit der Mehrzahl der anderen Mitgliedstaaten die Richt- linie gemäß ihrer Grundkonzeption umsetzen und muss- ten nicht von der so genannten Opt out-Lösung Ge- Anlage 5 (B) brauch machen. Opt-out hätte bedeutet, alle nicht dem Zu Protokoll gegebene Reden (D) Finanzsektor zugehörige Unternehmen von der Umset- zung der Richtlinie auszuschließen. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfech- Allerdings haben wir im Gesetzestext alles getan, um tung der Vaterschaft und das Umgangsrecht das normale Kreditgeschäft der Banken gegenüber den von Bezugspersonen des Kindes (Tagesord- übrigen Unternehmen außerhalb des Normbereichs der nungspunkt 12) Umsetzungsvorschriften zu halten. Die Banken als Gläu- biger sollen auch in Zukunft nicht über das durch die Richtlinie zwingend vorgegebene Maß hinaus gegenüber Christine Lambrecht (SPD): In seinem Beschluss anderen Gläubigern bevorzugt werden. Sollten doch vom 9. April 2003 hat das Bundesverfassungsgericht einmal Konstellationen auftreten, in denen das Verwer- folgende Vorschriften teilweise für verfassungswidrig tungsrecht des Verwalters berührt ist, so sind diese erklärt: § 1600 BGB sei insoweit mit Art. 6 Abs. 2 GG maßvollen Einschränkungen des Grundsatzes der Gläu- nicht vereinbar, als dass der leibliche, aber rechtlich bigergleichbehandlung im Interesse des Finanzplatzes nicht anerkannte – also der biologische –, Vater eines Deutschland hinzunehmen. Anderenfalls hätte die Ge- Kindes ausnahmslos von der Anfechtung der Vaterschaft fahr bestanden, dass bestimmte Geschäfte künftig nur ausgeschlossen ist. Das in § 1685 BGB geregelte Um- noch auf ausländischen Finanzplätzen getätigt werden. gangsrecht ist nach der genannten Entscheidung des Damit hätte der deutsche Finanzplatz Schaden genom- Bundesverfassungsgerichts mit Art. 6 Abs. 1 GG inso- men, ohne dass dies potenziellen Insolvenzgläubigern weit unvereinbar, als dass der Kreis der Umgangsberech- zum Vorteil gereicht hätte. tigten den leiblichen aber rechtlich nicht anerkannten Vater eines Kindes auch dann nicht mit einbezieht, wenn Ich komme zum zweiten großen Komplex: Die Ände- zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Bezie- rungen im Hypothekenbankgesetz sollen das Vertrauen hung besteht oder bestanden hat. Das Bundesverfas- in unser bewährtes Pfandbriefsystem weiter festigen. sungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum Die Position der Pfandbriefgläubiger in der Insolvenz 30. April 2004 Abhilfe zu schaffen. der Hypothekenbank wird durch Regelung einiger offe- ner Fragen noch einmal deutlich gestärkt: Bereits jetzt Dieser Aufforderung wird durch den heute vorliegen- gilt, dass die so genannte Deckungsmasse, die der Siche- den Gesetzentwurf Rechnung getragen. Der vor diesem rung der von der Hypothekenbank ausgegebenen Pfand- Hintergrund entstandene Gesetzentwurf, bei dem sowohl briefe dient, im Fall der Insolvenz einer Hypotheken- der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als auch bank nicht in die Insolvenzmasse fällt. Offen sind aber die Rechtssystematik und die Wertentscheidungen des 8164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Kindschaftsrechts, also das Wohl des Kindes, zu beach- wenn zu einer Bezugsperson, die dauerhaft für das Kind (C) ten war, sieht im Kern folgende Änderungen vor: Verantwortung übernommen hat, – das steht hinter der Formulierung „sozial-familiäre Beziehung“, aus einer Änderung des § 1600 BGB. Nach gültiger Rechtslage Verantwortungsbeziehung kein Umgangsrecht erwach- steht das Anfechtungsrecht nur dem Kind, der Mutter sen könnte, nur weil diese Bezugsperson nicht in ir- und dem rechtlichen Vater zu. Der rechtliche Vater eines gendeiner Liste erscheint. Hier ist es sinnvoller der Rea- Kindes ist nach § 1592 BGB der Mann, der zum Zeit- lität ins Auge zu schauen und zu akzeptieren, dass es punkt der Geburt mit der Mutter des Kindes ver- die unterschiedlichsten Familienmodelle gibt. Bei jeder heiratet ist, oder die Vaterschaft anerkannt hat, oder des- einzelnen Umgangsrechtentscheidung muss deshalb ge- sen Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden ist. prüft werden, ob der beantragte Umgang dem Wohl des Durch die Änderung des § 1600 BGB wird nunmehr Kindes dient, das alleine ist entscheidend. auch dem leiblichen Vater die Möglichkeit eingeräumt, Es war auch erforderlich, diese Neuerung im § 1685 die Vaterschaft eines nach dem geltenden Abstam- BGB zu regeln. Der § 1626 BGB ist hier nicht einschlä- mungsrecht legitimierten Mannes anzufechten. Zu Recht gig. Die Vorschrift ordnet selbst keine konkreten Rechts- wird die Stellung von biologischen Vätern gestärkt. Vo- folgen an. Weder ergibt sich daraus ein Recht des Kindes raussetzung für die Anfechtung des leiblichen Vaters ist, auf Umgang noch begründet die Vorschrift ein solches dass zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind Recht für die Eltern bzw. andere Bezugspersonen. Die keine sozial-familiäre Bindung besteht oder bestanden konkreten Umgangsrechte und -pflichten ergeben sich hat. Sofern eine solche Beziehung positiv festgestellt vielmehr aus §§ 1684 ff. wird, ist die Anfechtung durch den leiblichen Vater aus- geschlossen. Die vom Bundesverfassungsgericht neu Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der eingeführte Begriffskategorie „sozial-familiäre Bindung“ Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Genüge wird von dem Gesetzentwurf aufgegriffen. Konkret heißt getan, aber was viel wichtiger ist, die Gesetzeslage wird es da im neuen § 1685 Abs. 2 BGB, dass dann eine so- den Realitäten angepasst, was zu einer wichtigen Be- zial-familiäre Beziehung besteht, wenn der Vater für das rücksichtigung der berechtigten Interessen vieler Men- Kind tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. schen führt. Weitere Voraussetzung für die Anfechtung ist, dass der anfechtende Mann an Eides statt versichert, der Mut- Ute Granold (CDU/CSU): Einmal mehr hat das Bun- ter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt desverfassungsgericht den Gesetzgeber aufgefordert, die zu haben. So soll auf der materiellrechtlichen Ebene eine Rechtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Anfechtung des leiblichen Vaters „ins Blaue hinein“ ver- (B) hindert werden. Dadurch wird neben der Prozesshäufung Heute Nachmittag haben wir uns mit der nachträgli- (D) insbesondere vermieden, dass eine Frage des materiellen chen Sicherungsverwahrung von Schwerstkriminellen Rechts mit der Zulässigkeitsprüfung „vermengt“ wird. befasst. Jetzt geht es um Väter, genauer gesagt darum, Dadurch, dass sich die eidesstattliche Versicherung auf die Rechte biologischer oder leiblicher Väter zu stärken die Tatsache der „Beiwohnung“ erstreckt, wird zugleich bzw. überhaupt zu regeln. verhindert, dass ein samenspendender Dritter als „biolo- Hierzu hat die Bundesregierung einen Gesetzesent- gischer“ Vater sein Anfechtungsrecht erhält. wurf vorgelegt, der – und das ist mittlerweile leider Ein weiterer wichtiger Aspekt des vorliegenden Ge- nichts Außergewöhnliches mehr – nicht nur handwerkli- setzentwurf ist die Änderung des § 1685 BGB. Nach che, sondern auch inhaltliche Mängel aufweist. gültiger Rechtslage sind die umgangsberechtigten Perso- Nach einer umfassenden Stellungnahme des Bundes- nen in § 1685 BGB einzeln aufgelistet. Der Kreis der rates zu diesem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung Umgangsberechtigten bezieht derzeit den leiblichen aber dem Rechtsausschuss eine überarbeitete Fassung zur Be- rechtlich nicht anerkannten Vater eines Kindes auch ratung vorgelegt. Ein Teil der vorgenommenen Korrek- dann nicht mit ein, wenn zwischen ihm und dem Kind turen haben auch unsere Zustimmung gefunden. Aber eine sozial-familiäre Beziehung besteht oder bestanden leider hat die Bundesregierung daneben Kompromiss- hat. vorschläge unterbreitet, die wir nicht mittragen können. Im Umgangsrecht wird nun eine Ausdehnung auf Be- Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zugspersonen des Kindes mit sozial-familiärer Bezie- vom April letzten Jahres ist dem leiblichen Vater das hung vorgesehen, die auch im Hinblick auf die europäi- Recht einzuräumen, die rechtliche Vaterschaft anzufech- sche Rechtsentwicklung geboten ist. Durch diese ten, wenn die rechtlichen Eltern mit dem Kind keine so- Regelung wird es auch nicht zu einem „Umgangstouris- ziale Familie bilden, die es nach Artikel 6 Abs. 1 des mus“ kommen, weil über allem das Wohl des Kindes Grundgesetzes zu schützen gilt. steht und auch stehen muss. Es macht aber keinen Sinn, jetzt wieder eine Aufzählung der Personen vorzuneh- Der Bundesrat hat der Regierung den richtigen Weg men, die vielleicht in der Realität den jeweiligen Fami- dahin aufgezeigt: Der leibliche Vater erklärt an Eides lienmodellen nicht entspricht und damit auch nicht dem statt, der Mutter während der Empfängniszeit beige- Wohl des Kindes genügen kann. Was passiert, wenn die wohnt zu haben. Das Gericht hat dabei im Rahmen der Bezugsperson, die mit dem Kind in einer sozial-familiä- Zulässigkeit der Klage die eidesstattliche Versicherung ren Beziehung gelebt hat, in der Liste nicht genannt ist? zu prüfen, um so auch Anfechtungen ins Blaue hinein zu Es würde dem Wohl des Kindes wohl eher schaden, vermeiden. Ob der Kläger dann tatsächlich auch der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8165

(A) leibliche Vater ist, entscheidet sich durch ein Gutachten chen Belastungen für das Kind verbunden sind. Hinzu (C) bei der Begründetheitsprüfung. kommt, dass in derartigen Verfahren Streitigkeiten unter Verwandten auf dem Umweg über das Umgangsrecht Der Entwurf der Regierung vermischt beides, ist dog- und letztendlich auf dem Rücken des Kindes ausgetra- matisch systemwidrig. Dies hat aber in der Praxis nur gen werden. geringe Bedeutung. Deshalb können wir darüber noch hinwegsehen. Allerdings ist die beabsichtigte Erweite- Aus diesen Gründen sollte der Personenkreis der Um- rung des umgangsberechtigten Personenkreises derart gangsberechtigten – ausgestattet mit einem subjektiven gravierend, dass diese von uns nicht mehr mitgetragen Recht auf Umgang – eng gefasst sein. Auch die interna- werden kann. Die Bundesregierung hat zwar auf Drän- tionale Entwicklung gibt keinen Anlass, den Kreis der gen des Bundesrates auf eine Ausweitung des Umgang- Umgangsberechtigten auszudehnen. Die Vertragsstaaten rechts auf alle Verwandten dritten Grades – § 1685 haben einen Ermessenspielraum, welchen Personen- Abs. 1 BGB – verzichtet, jedoch in § 1685 Abs. 2 BGB kreis sie als solchen mit familiären Bindungen ansehen. den Kreis der umgangsberechtigen Personen auf sämtli- Im Übrigen wird kein subjektives Recht für Personen che Bezugspersonen des Kindes erstreckt, die zu ihm in statuiert, die zu dem Kind familiäre Beziehungen haben. einer sozial-familiären Beziehung stehen. Das geht zu Es wird lediglich geregelt, dass Umgang stattfinden weit und führt quasi zu einem Umgangstourismus. Ent- kann, soweit es dem Kindeswohl dient. Die von uns be- sprechend dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes fürworteten Regelungen entsprechen dem in vollem Um- soll neben den bereits in § 1685 Abs. 2 BGB Benannten fang. lediglich noch dem leiblichen Vater ein solches Um- Mit der von der Regierung jetzt vorgeschlagenen, gangsrecht zustehen. Dem stimmen wir auch ausdrück- sehr umfassenden Gewährung von Umgangsrechten lich zu. Alles, was darüber hinausgeht, ist nicht nur über- wird den Kindern ein Bärendienst erwiesen. Ohnehin flüssig, sondern auch schädlich für das Kind. schon durch die Trennung der Eltern belastet, sollen sie Mit der Kindschaftsrechtsreform 1998 wurde ein mehr denn je verplant und zum Spielball von Interessen wichtiger und richtiger Schritt vollzogen: Die Rechtstel- werden, die nicht immer ihre eigenen sind. Der Gesetz- lung des Kindes wurde deutlich verbessert. Das Kind geber sollte sich in der Regelung dieses doch sehr priva- und mit ihm das Kindeswohl steht fortan im Mittelpunkt. ten Lebensbereiches Zurückhaltung auferlegen. Das Umgangsrecht ist als subjektives Recht des Kindes ausgestaltet. Diesbezügliche Rechte Dritter sind nicht Michaela Noll (CDU/CSU): Der hier zur Diskussion nur eng ausgestaltet, sondern auch nachrangig. stehende Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von So wurde für Großeltern und Geschwister ein Um- Bezugspersonen des Kindes soll der Umsetzung des Be- (B) gangsrecht eingeführt, wenn es dem Wohl des Kindes (D) schlusses des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. April dient. Gleiches gilt für Ehegatten und frühere Ehegatten, 2003 dienen. Wir alle wissen: Scheiden tut weh – zurück Lebenspartner und frühere Lebenspartner eines Eltern- bleiben allein erziehende Mütter, traumatisierte Männer teils, sofern eine häusliche Gemeinschaft mit dem Kind und die Opfer der Scheidungsdramen sind die Kinder. Es bestand und auch für Pflegefamilien. Anderen Personen muss uns allen daher daran gelegen sein, ein befriedi- sollte ein Recht auf Umgang ausdrücklich nicht einge- gendes Ergebnis zu erzielen. Das wird uns aber mit der räumt werden. Diesen Personen, zum Beispiel Tanten, vorliegenden Fassung nicht gelingen. Bei der Vater- Onkeln, Nachbarn, Lehrern, kann allerdings auch schon schaftsanfechtung und dem Umgangsrecht des biologi- heute Umgang über §§ 1666, 1626 III 2 BGB gewährt schen Vaters gibt es in der Tat dringenden Handlungsbe- werden. Diese Begrenzung von Umgangsrechten Dritter darf. Dem stimmen wir zu. hielt man bei der Reform vor sechs Jahren auch mit Blick auf das Kindeswohl für angemessen und gerecht- Die Frage des Anfechtungsrechts und des Umgangs- fertigt. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Dies rechts für den biologischen Vater ist nach dem Urteil des bestätigen im Übrigen nicht nur die Ergebnisse der Be- Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend geregelt. gleitforschung zur Umsetzung des Kindschaftsrechtsre- Dies war jedoch der Gesetzesauftrag aus Karlsruhe. In- formgesetzes, sondern auch Experten, die wir in der soweit sind die Vorgaben nicht eingehalten worden. CDU/CSU-Bundestagsfraktion hierzu im vergangenen Nach dem Gesetzentwurf soll das Umgangsrecht erwei- Jahr angehört haben. tert werden. Doch die Bundesregierung ist in ihrem Ent- wurf deutlich über die vom Bundesverfassungsgericht Bei der Ausweitung des Umgangsrechts in einem entschiedene Fallgruppe der biologischen Väter hinaus- Umfang, wie es jetzt beschlossen werden soll, steht zu gegangen. Dies ist abzulehnen. Meines Erachtens hat das befürchten, dass dem Kind zu wenig Zeit für sich und Persönlichkeitsrecht des Kindes in den Augen der Regie- seine Interessen bleibt. Dieser Gefahr kann auch durch rung nicht die gebotene Rolle gespielt. Wo ist das eigen- das Tatbestandsmerkmal des Kindeswohles nicht hinrei- ständige Besuchsrecht des Kindes? Man weiß, dass fast chend Rechnung getragen werden. Nach den Erkenntnis- alle Menschen, die Besuchsrechtsprozesse anstreben, sen der Praxis ist bereits jetzt die Aufteilung der Zeit mit von unterschiedlichen Motiven geprägt sind. dem Kind zur Gewährung des Umgangsrechts ein schwieriger Balanceakt. Ob und wieweit dem Kindes- Kinder sind keine Gegenstände. Kinder sind Men- wohl dabei Rechnung getragen wird, lässt sich vielfach schen mit eigenen Grundrechten. Das muss in dem Ge- erst mittels aufwendiger Anhörungen vor dem Familien- setz zum Ausdruck kommen. § 1685 BGB verleiht den gericht überprüfen, die ihrerseits nicht selten mit erhebli- dort genannten Personen ein eigenes subjektives Recht. 8166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Ein eigenes Recht des Kindes fehlt aber. Das wollen wir Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) nicht. Wir wollen nicht weitere Besuchsberechtigte, GRÜNEN): Der ausnahmslose Ausschluss des biologi- denn diese haben kein Recht am Kind, sondern das Kind schen Vaters von der Vaterschaftsanfechtung und vom hat ein Recht auf sie. Umgangsrecht ist verfassungswidrig, sofern er eine so- ziale Beziehungen zu seinem Kind aufgebaut und ge- Der Alltag der Kinder ist schon voll gepackt mit Ter- pflegt hat. Das stellte das Bundesverfassungsgericht in minen. Während der Woche sind die Kinder in ihren seinem Urteil vom 9. April 2003 fest. Der vorliegende schulischen Verpflichtungen eingebunden und am Wo- Gesetzentwurf dient der Umsetzung dieses Beschlusses chenende, wenn Zeit für Freizeit bleibt, sollten die Kin- des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsstellung des der dann den Umgangswünschen des weiten Personen- biologischen Vaters. kreises genügen. Wo bleibt da die Zeit für die Interessen der Kinder? Wir stärken damit die rechtliche Position des biologi- schen Vaters, ohne den Schutz für die soziale Familie, in Die Erwachsenen verfügen und ordnen an, aber auf der das Kind aufwächst, aufzugeben. Die Einführung die Bedürfnisse der Sprösslinge achtet niemand. Wenn einer Anfechtungsmöglichkeit für den leiblichen Vater nun gefordert wird, das Umgangsrecht auch für sonstige bedeutet aber auch einen Eingriff in die Persönlichkeits- Bezugspersonen des Kindes auszudehnen, stellt sich sphäre von Mutter und Kind sowie des rechtlichen Va- wirklich die Frage, wessen Bedürfnisse werden da ei- ters. Aus diesem Grunde wurde das Recht auf Vater- gentlich befriedigt. Geht es hier nicht viel mehr um das schaftsanfechtung durch den biologischen Vater mit Anspruchsdenken der Erwachsenen, um ihre eigenen einer Hürde versehen. Vaterschaftsanfechtungen werden Bedürfnisse. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung da- nunmehr dann möglich sein, wenn zwischen dem recht- von, wie häufig die Besuchsregelungen nach den Wün- lichen Vater des Kindes und dem Kind selbst keine so- zial-familiäre Beziehung besteht oder bestanden hat. So- schen der Erwachsenen geregelt sind? Die Bedürfnisse mit wird klargestellt, dass dem biologischen Vater nicht und die Wünsche der Kinder werden oftmals nicht er- vorrangig die Vaterschaft eingeräumt wird, sondern die fragt oder in Betracht gezogen. Es ist auch für mich im- Interessen aller Beteiligten sorgfältig gegeneinander ab- mer wieder erschreckend festzustellen, wie in unserem zuwägen sind. Zudem wurde die Position der Länder bei Land nach diesem Muster verfahren wird. In der Regel der Ausgestaltung der Anfechtungsberechtigung berück- werden die Kinder erst gar nicht aufgefordert, sich zu sichtigt, indem der anfechtende Mann „an Eides statt“ der Besuchsregel zu äußern, die doch für viele sehr radi- versichern muss, dass er der Mutter des Kindes während kal in ihr Leben eingreift. Wo bleiben da die Kinder? der Empfängniszeit beigewohnt hat. Mit dem Bezug der Wenn Sie das Kindeswohl ernst nehmen, dann lassen eidesstattlichen Erklärung zur tatsächlichen Beiwohnung bleibt auch weiterhin ausgeschlossen, dass ein samen- (B) Sie den Kindern das Recht, mitzubestimmen, mit wem (D) spendender Dritter ein Anfechtungsrecht erhält. Durch sie ihre Freizeit verbringen wollen. diese Regelung werden zum einen Anfechtungen aufs Warum können die Erwachsenen nicht mehr Sensibi- Geratewohl vermieden und zum anderen der Rechtsfrie- lität für Kinder entwickeln, anstatt ihnen permanent ihre den mit Blick auf das Kindeswohl erhalten. eigenen Vorstellungen aufzuzwingen. Gleichzeitig beinhaltet die Neuregelung im Falle ei- ner erfolgreichen Anfechtung der Vaterschaft durch den Jeder, dem das Kindeswohl am Herzen liegt, sollte die biologischen Vater die Feststellung seiner leiblichen Va- Langzeitstudie von Judith Wallerstein über Scheidungs- terschaft. Das ist insofern von großer Bedeutung, als folgen lesen. Danach tragen die Kinder die Last, vor al- dass das Kind im Falle einer erfolgreichen Anfechtung lem auch durch ein gerichtlich festgelegtes Besuchs- der Vaterschaft durch den biologischen Vater nicht vater- schema. los dastehen soll. Auch diesem Umstand trägt der vorlie- Wenn das Umgangsrecht in der Form, wie in dem gende Gesetzentwurf durch eine automatische Feststel- vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, erweitert wird, lungswirkung des erfolgreichen Anfechtungsurteils wird es wieder Sache der Gerichte sein, im Rahmen der Rechnung. Kindeswohlprüfung besondere Sorgfalt an den Tag zu Darüber hinaus ist es mit dem vorliegenden Entwurf legen, bei den zu erwartenden Konflikten zwischen leib- gelungen, das Umgangsrecht im Sinne des Kindeswohls lichem Vater, Ehemann, Mutter und Kind und anderen zu erweitern. Künftig sollen weitere, „sonstige“ Bezugs- Bezugspersonen. Man stelle sich nur einmal vor, dass personen des Kindes kraft bestehender sozial-familiärer alle gerade genannten Personen ihr Umgangsrecht ein- Beziehung ein Recht auf Umgang erhalten. Eine solche klagen würden. Auch der vom Bundesverfassungsge- Ausdehnung des Umgangsrechts entspricht zum einen richt etablierte Begriff der sozialfamiliären Beziehung dem Übereinkommen des Europarates über den Umgang erscheint noch ausfüllungsbedürftig und dürfte auch er- mit Kindern, das ein Umgangsrecht für Personen, die heblichen Streitstoff in sich bergen. Und wer wird das nicht Eltern des Kindes sind, allein an die Kindeswohl- zum großen Teil ausbaden? Wieder die Kinder. dienlichkeit und das Bestehen familiärer Bindungen knüpft. Zum anderen berücksichtigt der Entwurf damit Einzelne Punkte des Entwurfes bedürfen daher der auch die veränderten Lebensbedingungen der Familien. Überprüfung; dennoch sollten wir das Vorhaben zügig Der Begriff der sozial-familiären Bindung schafft eine anpacken, aber ohne Schnellschüsse – zum Wohle der klare Regelung, denn er knüpft an die tatsächliche Über- Kinder. nahme von Verantwortung, beruhend auf dem Bestehen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8167

(A) einer häuslichen Gemeinschaft mit dem Kind an. Das lichkeit, in die Stellung des rechtlichen Vaters zu gelan- (C) schließt sowohl den biologischen Vater als auch ehema- gen, wenn der rechtliche Vater nicht die sozial-familiäre lige Lebensgefährten der Mutter und Stiefgeschwister Verantwortung übernimmt, er selbst aber dazu bereit ist. ein, zu denen das Kind eine Bindung aufgebaut hat. Ein Wie dies allerdings im Alltag umgesetzt wird, ist kritisch „Umgangstourismus“, den argwöhnische Stimmen bei zu beleuchten; es ist wesentlich von der Kooperationsbe- einer Erweiterung des Umgangsrechts befürchteten, reitschaft der Eltern zum Wohle des Kindes abhängig wird sich damit für die Kinder nicht ergeben. und daran fehlt es in vielen Fällen, wie ich aus meiner familienrechtlichen Praxis als Anwältin weiß. Wir brauchen ein klares gesellschaftliches Bewusst- sein dafür, dass Kinder keine Objekte sind, über die Er- Die Änderung der Umgangsberechtigung in wachsene beliebig verfügen können. Wir tragen die Ver- § 1685 BGB stellt ebenfalls das Kindeswohl in den Mit- antwortung dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, telpunkt der Entscheidung darüber, wer mit dem Kind die Kindern Rechte zugesteht, die ihre Würde respektiert Umgang pflegen darf. Kriterium ist auch hier die sozial- und Gewalt gegen Kinder verhindert. So ist es selbstver- familiäre Beziehung, die in der Vergangenheit bestanden ständlich, dass wir in unseren zukünftigen Bemühungen, haben oder andauern muss, soll der Umgang dem Kin- gerade im Kindschaftsrecht, den Blickwinkel des Kindes deswohl dienen. Die Bedürfnisse oder Verdienste von deutlich berücksichtigen. Die im Entwurf verankerten Verwandten oder anderen Bezugspersonen sind nicht Rechte auf Umgang mit dem Kind sind ein Schritt in die entscheidend. Die weite Fassung und der Verzicht auf richtige Richtung. Im Sinne des Kindeswohls sollten wir eine enummerative Einschränkung der Umgangsberech- jedoch darüber hinaus diskutieren, inwiefern Verwand- tigten ist aus unserer Sicht richtig, da der Maßstab für ten dritten Grades ein Recht auf Umgang eingeräumt die Umgangsbewilligung immer das Kindeswohl ist, und werden kann. Dies würde dem Sachverhalt Rechnung ein Umgangstourismus daher nicht zu befürchten ist. tragen, dass auch Tanten und Cousins, die eben nicht in Dem Wohl des Kindes beim Aufwachsen in unvollstän- häuslicher Gemeinschaft mit dem Kind gelebt haben, digen oder Patchworkfamilien wird Rechnung getragen. wichtige Bezugspersonen des Kindes sein können und Zentrale Entscheidungsträger hinsichtlich des Umgangs- die sozialen Beziehungen auch nach der Trennung im In- rechts für die Kinder bleiben aber die sorgeberechtigten teresse des Kindes erhalten bleiben könnten. Eltern oder Elternteile, die umgangsbegehrende Ver- wandtschaft oder andere Personen aus dem sozialen Um- feld müssen zur Einräumung des Umgangs durch das Sibylle Laurischk (FDP): Pater semper incertus – Familiengericht die Bedeutung für das Kindeswohl dies gilt heute so nicht mehr, eine eindeutige biologische nachweisen. Zuordnung ist heutzutage zwar möglich, macht die Sa- (B) che aber auch nicht einfacher, wie die vorliegende The- Diese Gesetzesänderung ist nur ein Steinchen bei der (D) matik zeigt. Renovierung des Gebäudes Familienrecht, so findet sich in dem Verfassungsgerichtsurteil ein richtungsweisendes Mit diesem Gesetzentwurf wird die sich ändernde fa- obiter dictum auf ein weiteres Erstarken der Väterrechte, milienrechtliche Realität nachvollzogen, nicht auf Initia- das im Zusammenhang mit den gendiagnostischen Mög- tive der Bundesregierung, wie die Überschrift glauben lichkeiten zu ungeahnten Konfliktsituationen führen machen möchte, sondern auf Initiative des Bundesver- kann, ich erinnere an die Möglichkeiten der so genann- fassungsgerichts, das in seinem Urteil vom 9. April 2003 ten heimlichen Gendiagnostik zur Vaterschaftsfeststel- die Rechte der leiblichen Väter gestärkt hat. Das BVerfG lung, worauf der Gesetzgeber zu reagieren haben wird. wägt das Verhältnis zwischen biologischer Vaterschaft und der gelebten sozial-familiären Bindung ab und Vor dem Hintergrund, dass die demographische Kata- räumt der gelebten sozial-familiären Bindung eine zen- strophe, auf die wir uns zu bewegen, nicht allein von den trale Bedeutung ein. Damit wird auch das Verhältnis von Frauen, die nicht mehr Mutter werden, sondern in noch der Mutter zum biologischen Vater neu geordnet, was si- stärkerem Maße von Männern verursacht wird, die nicht cher in der Praxis beobachtet werden muss, immer vor bereit sind, Vater zu werden und Elternverantwortung zu dem Hintergrund des Kindeswohles. übernehmen, ist die Stärkung der Väter, die zur Verant- wortungsübernahme bereit sind, zu begrüßen, vielleicht Zum einen wird leiblichen Vätern die Möglichkeit er- weist dies einen Weg aus der vaterlosen Gesellschaft öffnet, die Vaterschaft anzufechten und für sich selbst zu zum Wohle unserer Kinder. reklamieren auch gegen den Willen der Mutter, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine so- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der zial-familiäre Bindung besteht oder bestanden hat. Ein Bundesministerin der Justiz: Auch das Familienrecht ist Einbrechen in intakte Familiensituationen ist daher we- einer permanenten Reformdiskussion unterworfen. Der der möglich noch gewollt, mit dem Erfordernis der Wandel der Werte und Lebensentwürfe findet hier ganz Glaubhaftmachung der Vaterschaft in § 1600 Abs. 1 besonders seinen Niederschlag. Nr. 2 BGB neue Fassung, das auch durch die Abgabe ei- ner strafbewehrten eidesstattlichen Versicherung erfüllt Mit dem vorliegenden Gesetz setzen wir ein weiteres ist, ist ein unqualifiziertes Berühmen der Vaterstellung Mal einen Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfas- nicht zu befürchten. Außerdem dient eine Befristung der sungsgerichts um. Nachdem zum 31. Dezember letzten Berechtigung zur Antragstellung auf zwei Jahre der Jahres fristgerecht eine Übergangsregelung zum Sorge- Rechtssicherheit in dieser sensiblen abstammungsrecht- recht für nicht miteinander verheiratete Eltern in Kraft lichen Frage. Der biologische Vater hat jetzt die Mög- getreten ist, geht es jetzt darum, die Rechtsstellung des 8168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) so genannten „biologischen“ Vaters zu verbessern. Als zeichnet sich die Stärkung der Rolle der Bezugspersonen (C) „biologischen“ oder lediglich leiblichen Vater bezeich- ab. Weiteren, bereits jetzt absehbaren Änderungen des nen wir den Mann, der weder aufgrund bestehender Ehe, geltenden Umgangsrechts beugen wir damit vor. kraft eigener Anerkennung noch mittels Vaterschafts- feststellungsklage als rechtlicher Kindesvater legitimiert Die vom Bundesverfassungsgericht neu eingeführte ist. Im Bürgerlichen Gesetzbuch werden diesem ledig- Begriffskategorie „sozial-familiäre Beziehung“ interpre- lich „biologischen“ Vater seit dem Jahre 1900 bis heute tieren wir mit dem Gesetzentwurf als tatsächliche Ver- keine Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind zuer- antwortungsübernahme für das Kind und unterfüttern sie kannt. mit Regelbeispielen für die Rechtspraxis. Sie ist gleich- sam Sinnbild für die eingangs erwähnte Fortentwicklung Bereits die begriffliche Differenzierung zwischen familiärer Strukturen. rechtlichem, nur „biologischem“ sowie – als wäre das nicht schon kompliziert genug – auch „sozialem“ Vater verdeutlicht den Wandel gesellschaftlicher Strukturen. Anlage 6 Die Fülle der Begrifflichkeiten führt uns die Palette fa- milienpolitischer Themen vor Augen, denen wir uns Zu Protokoll gegebene Reden stellen müssen. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Die Stärkung der Rechtsposition des leiblichen Vaters Berichtes: Mögliche Interessenüberschneidun- hat das Bundesverfassungsgericht im April 2003 dem gen bei der Vergabe öffentlicher Mittel über die Gesetzgeber aufgetragen. Das Gericht hat sowohl die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebenen Regelungen zum Umgangsrecht gemäß § 1685 des Bür- nachhaltig vermeiden (Tagesordnungspunkt 13) gerlichen Gesetzbuchs als auch zur Vaterschaftsanfech- tung nach § 1600 BGB insoweit für verfassungswidrig Hans-Werner Bertl (SPD): Irgendwann vor dem erklärt, als der „biologische“ Vater ausnahmslos von bei- 2. April 2003 geschrieben, dann weggelegt und verges- den Rechten ausgeschlossen ist. Diese Ausnahmslosig- sen, am 11. Dezember 2003, 11. Februar 2004 und heute keit verstößt gegen den in Art. 6 GG verankerten Schutz Abend zum dritten Mal der untaugliche Versuch der der Familie und des Elternrechts. Der Gesetzgeber muss FDP, die Mitglieder der Selbstverwaltung der Bundes- bis zum 30. April 2004 Abhilfe schaffen. agentur für Arbeit mit durch nichts bewiesenen Behaup- Der Entwurf der Bundesregierung, über den heute be- tungen zu verdächtigen, zu diskreditieren, sie der Vor- schlossen wird, enthält einen Vorschlag zur Beseitigung teilsnahme zu bezichtigen. Und gleichzeitig werden die dieser Verfassungswidrigkeit. Zusammen mit den Ände- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur ge- (B) rungsvorschlägen des Rechtsausschusses haben wir eine nerell als Verweigerer der notwendigen und von uns be- (D) gute Grundlage, um auch mit den Ländern zu einem schlossenen Reformen beschrieben. Konsens zu kommen. Es ist schon tragisch, mit welch verzweifelter Verbis- Im Einzelnen: Nach der geplanten Gesetzesänderung senheit die FDP und ihr Arbeitsmarktexperte den kann der leibliche Vater eines Kindes die Vaterschaft Reformprozess der wichtigsten Sozial- und Arbeits- eines nach geltendem Abstammungsrecht als Vater legi- marktinstitution „Bundesagentur für Arbeit“ diskredi- timierten Mannes, also des „rechtlichen“ Vaters, unter tiert und skandalisiert. einer Voraussetzung anfechten: Zwischen dem rechtli- Unerträglich ist auch, dass die FDP diesem Parlament chen Vater und dem Kind bestand oder besteht keine Zeit stiehlt und die einhellige Ablehnung aller anderen sozial-familiäre Beziehung. Das Verhältnis zwischen Fraktionen gestern im Ausschuss für Wirtschaft und Ar- den beiden besteht im wahrsten Sinne des Wortes nur auf beit zeigt, dass Sie ganz einsam und allein mit ihrer abs- dem Papier. Das rechtskräftige Anfechtungsurteil stellt trusen Forderung steht. Mal ist es die Auflösung, die Sie die leibliche Vaterschaft des Anfechtenden fest und der fordern, dann soll es die Abberufung eines Mitgliedes leibliche Vater rückt kraft Gesetzes in die rechtliche Va- des Verwaltungsrates sein, dann fabulieren Sie über eine terposition ein. deutsche Arbeitslosenindustrie, die sich wie eine Krake Zudem sollen Personen, insbesondere der leibliche in die Bundesagentur eingenistet haben soll, und dann Vater, zu denen das Kind eine sozial-familiäre Bezie- wieder ist es die Intrige, die von wem und wann auch hung hat oder gehabt hat, ein Recht auf Umgang mit immer gegen wen auch immer ihren Antrag legitimieren dem Kind erhalten, wenn das dem Wohl des Kindes soll. Tragisch ist die pathologische Verbissenheit, die Sie dient. Das Kindeswohl bleibt also weiterhin oberste gegen jedes bessere Wissen zu solchen Anträgen ver- Richtschnur für Entscheidungen des Familiengerichts. fuhrt. Die im Vermittlungsverfahren beschlossenen Er- gebnisse – wie die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit Mit der Ausdehnung des Umgangsrechts auf „Be- zukünftig strukturiert sein soll, wie sie in Zusammenar- zugspersonen“ des Kindes – ohne abschließende Auflis- beit mit den örtlichen Trägern der Sozialhilfe aktiv und tung dieser Personen – tragen wir nicht nur den Bedürf- zielgerichtet Hilfe aus einer Hand geben soll, wie sie den nissen der Kinder Rechnung, sondern berücksichtigen Weg in Ausbildung und Arbeit, in Fortbildung und Qua- auch die europäische Rechtsentwicklung: In der Recht- lifikation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ge- sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen staltet, wie sie das Problem der beruflichen Rehabilita- rechte und in dem zur Zeichnung aufgelegten Europa- tion für die Betroffenen regelt und wie sie als ratsübereinkommen über den Umgang mit Kindern kompetente Partnerin für die Unternehmen arbeitet, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8169

(A) zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und aus ei- Bildungsträger nähmen über den Verwaltungsrat der BA (C) nem undurchsichtigen Gewirr sozialer Dienstleistungen Einfluss auf die Mittelvergabe für den Weiterbildungs- ein durchschaubares und transparentes System für Wirt- sektor, den die Bundesagentur verantwortet, und dabei schafts- und Arbeitsmarktpolitik gestaltet haben. wäre eine Person besonders aktiv. Die FDP konstatiert eine unzulässige Interessenüberschneidung aus drei Es ist ja noch nachvollziehbar, dass eine kleine Oppo- Gründen: Erstens wird mit Mitgliedsgeldern umgegan- sitionsfraktion nach Aufmerksamkeit, nach Profilierung gen, also mit Zwangsbeiträgen der Versicherten, zwei- sucht. Aber machen Sie das doch so, dass man Sie we- tens stehen große Summen zur Debatte und drittens sind nigstens ein kleines bisschen ernst nehmen kann. einzelne Vertreter des Verwaltungsrates in Personalunion Sie hätten doch in den letzten Wochen des Jahres in überregionalen Bildungsträgern tätig. 2003 lernen können, dass es in parlamentarischen Ver- Darüber muss man reden. Was notwendig ist, das ist fahren auch für die Opposition eine reale Möglichkeit Transparenz. Was notwendig ist, das ist auch Fingerspit- der Mitwirkung, ja Mitgestaltung gibt. Und genau das zengefühl. Dort, wo es Interessenüberschneidungen gibt, macht doch Parlamentarismus aus. muss man sich zurückzunehmen. Das gilt allerdings Mitverantwortung, Mitgestaltung, selbst Konzepte nicht nur für die Bundesagentur für Arbeit. Darauf einbringen, das alles anstelle von abstrusen Verdächti- kommt es an. Eine „Lex XY“ als Parlament zu verab- gungen, das wäre für die FDP ein Sprung aus politischer schieden, das kann nicht die Lösung des Problems sein. Bedeutungslosigkeit gewesen und hätte aus ihrem Spre- Der Antrag bildet allenfalls einen Randaspekt der gan- cher vielleicht einen ernst zu nehmenden Arbeitsmarkt- zen Problematik ab. experten machen können. Meine Fraktion wird deshalb dem Antrag nicht zu- Und sie waren doch dabei, als wir die Struktur der stimmen. Den Antrag könnten wir also getrost zu den Selbstverwaltungsorgane neu definiert haben. Die Ver- Akten legen, wenn er nicht – und das war ursprünglich antwortlichkeiten und Einwirkungsmöglichkeiten des sicher auch gar nicht so beabsichtigt – indirekt die Unge- Verwaltungsrates sind klar und eindeutig geregelt, und reimtheiten und Probleme auf dem Sektor der berufli- das Verhalten seiner Mitglieder auf allen drei Seiten, Ar- chen Weiterbildung in den Vordergrund geschoben hätte, beitgeber, Arbeitnehmer und öffentliche Hand, gibt nicht Probleme, die durch die Art und Weise der Umsetzung den geringsten Verdacht der Vorteilsnahme oder Befan- der Hartz-Gesetze durch die jetzige Bundesagentur sehr genheit her, der ihren Antrag zu einem Gegenstand virulent geworden sind. ernsthafter Betrachtung machen könnte. In der ersten Lesung zu diesem Antrag am 11. Dezem- ber wurde meines Erachtens klar, dass es unabhängig von Kolleginnen und Kollegen der FDP, lassen Sie die (B) den im FDP-Antrag angesprochenen Interessenkonflik- (D) Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit ihre Arbeit ten große Probleme auf dem Sektor der beruflichen Wei- machen, fördern Sie den notwendigen Umbau und ich terbildung gibt. Die müssen angesprochen werden. Das verspreche Ihnen, wenn Sie sich produktiv und kreativ in sind, wenn man die gegenwärtige Situation auf dem Wei- diesen Prozess einbringen wollen, werden Ihnen die Mit- terbildungsmarkt sieht, gravierendere Probleme, als die glieder des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit mit vermeintliche Interessensüberschneidung bei einzelnen Sicherheit zuhören und das nicht als gestohlene Zeit Mitgliedern des Verwaltungsrates. werten, was wir hier heute allerdings tun müssen. Wir hoffen jetzt, mit der Ablehnung Ihres Antrages zukünftig Mein Kollege Straubinger hat im Dezember Beispiele Zeit für die wirklich wichtigen Reformprozesse zu ha- angeführt, bei denen einem die Haare zu Berge stehen ben. müssen. Da wurde offensichtlich tatsächlich das Geld zum Fenster rausgeworfen, Geld, das an anderer Stelle Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Eigentlich hatte fehlt. Es gibt ganz offenkundig Wildwuchs, vielleicht ich erwartet, dass der Antrag, über den wir hier debattie- auch Seilschaften in der Branche. Aber mir scheint doch ren, zurückgezogen wird. Nach den sehr ausführlichen wichtig, festzustellen, dass die ganz überwiegende Zahl Diskussionen im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zu der Träger von beruflicher Weiterbildung solide, effizi- den Vorgängen um die Auftragsvergaben in der Bun- ent und ergebnisorientiert ihre Arbeit macht. Ich kenne desagentur ist mittlerweile nun allen klar, worauf es an- die Weiterbildungslandschaft in meinem Wahlkreis kommt. ziemlich genau. Es bestätigt meinen Eindruck, dass sie gegenwärtig schwere Zeiten durchmacht, da mit den Wir sollten, und da sind wir uns wohl weitgehend ei- Hartz-Gesetzen und deren Umsetzung durch die Bun- nig, die Bundesagentur unter der neuen Führung von desagentur über Nacht ganz neue Rahmenbedingungen Herrn Weise in Ruhe die Fehler der Vergangenheit aufar- entstanden sind, denen sie teilweise nicht gewachsen beiten lassen. Es stehen vor ihm wahrlich anspruchsvolle sind, auch nicht gewachsen sein können. Ich möchte die Aufgaben. Eine davon betrifft auch das Thema der Auf- Debatte zu diesem Antrag deshalb nutzen, diese Pro- tragsvergabe. In diesem Falle geht es aber nicht um die bleme anzusprechen. Auftragsvergabe an PR-Unternehmen, sondern die auf dem Weiterbildungssektor. Hier gibt es nämlich große Es ist wohl hier im Hause politischer Konsens, dass Probleme. die berufliche Weiterbildung ein wichtiger Aspekt bei der Eindämmung der Massenarbeitslosigkeit ist. Alle Der Antrag der FDP hat einen ganz bestimmten Hin- Welt weiß es, wir haben auf dem Arbeitsmarkt nicht nur tergrund: Es wird in ihm unterstellt, bestimmte große ein Struktur-, sondern auch ein Bildungsproblem. Wir 8170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) haben Lehrstellenbewerber, die nur rudimentär deutsch bung, bei der offensichtlich nur noch der Preis eine Rolle (C) können, Schulabgänger, die kaum das kleine Einmaleins spielt und Qualität und Kenntnisse des lokalen Arbeits- beherrschen, Arbeitslose, die nicht das geforderte Quali- marktes keine Bedeutung mehr haben, nicht mehr beste- fikationsniveau in ihrem Beruf oder Arbeitslose, die hen. Aber gerade diese Träger haben in der Vergangen- keine marktgerechte Ausbildung haben. Dazu kommen heit auf der Basis der Erfahrungen der laufenden dann noch die Menschen, die behindert sind oder andere Maßnahmen diese weiterentwickelt und an den (regiona- von ihnen nicht zu vertretende Einschränkungen haben, len) Arbeitsmarkt angepasst. Dieser Innovationsprozess die also einer besonderen beruflichen Förderung bedür- droht verloren zu gehen. fen. Der Anteil ungelernter Arbeitsloser ist signifikant höher als der von Facharbeitern. Bei den Langzeitar- Niemand wird bestreiten wollen, dass auch auf dem beitslosen stellt sich das noch gravierender dar. Weiterbildungssektor Wettbewerb nicht schadet. Es gibt auch sicher den einen oder anderen Bildungsträger, des- Allen diesen Menschen kann der Einstieg oder auch sen Maßnahmen ineffizient, also im Klartext überflüssig Verbleib im Arbeitsmarkt erleichtert werden, wenn eine sind. Wettbewerb muss aber alle einschließen und darf passgenaue Bildungsmaßnahme zur Verfügung stünde. nicht von vornherein eine ganze Gruppe von Anbietern Ich argumentiere seit Jahren mit dem „Maßanzug“, den durch eine gezielte Ausschreibepraxis ausschließen bzw. der Arbeitslose in vielen Fällen braucht, um wieder Fuß eine andere bevorzugen. zu fassen. Dabei habe ich natürlich in erster Linie den Langzeitarbeitslosen im Auge, der ja das eigentliche Nicht nur die zentralistische Ausschreibepraxis ist Problem für den Arbeitsmarkt darstellt. Ich denke aber, fragwürdig, auch inhaltlich verzichtet man auf Vorga- das gilt auch generell. Es stellt sich die Frage: Wer kann ben, die an anderer Stelle zum Beispiel für die Zertifizie- diesen Maßanzug liefern? Und ich antworte darauf: Der rung von Trägern verlangt werden. Es fehlen Zielvorga- „regionale Schneider“, der die Verhältnisse vor Ort bes- ben für die Vermittlung, Anforderungen an die Qualität tens kennt. des Personals, Verpflichtung zur Sozialversicherungs- pflichtigen Beschäftigung. Es gab und gibt viele Projekte in unserem Land, die diesen Grundsatz umsetzen und danach handeln. Die Er- Unter der Hand werden von dubiosen Anbietern Stun- folge sprechen für sich. Als emsländischer Abgeordneter densätze pro Teilnehmer von 98 Cent in den alten und kann ich auf meine Region in dieser Beziehung durchaus 35 Cent in den neuen Bundesländern bei Trainingsmaß- stolz sein. Das setzt allerdings voraus, dass es eine örtli- nahmen als „Angebot“ gehandelt. Der Selbstkostensatz che Bildungslandschaft gibt, die einen starken regiona- traditioneller Träger liegt bei 3 Euro. Für solche Sum- len Bezug hat. Die gab es bisher. Aber gerade diese ist men können sie höchstens auf der grünen Wiese vermit- (B) es, der durch die neue Ausschreibepraxis der Bundes- teln und trainieren, nicht aber in geheizten Räumen mit (D) agentur der Boden unter den Füßen weggezogen wird. wenigstens einem Computer. Diese Träger konzentrieren Das sind meist kleinere qualifizierte Bildungsträger mit sich vor allem auf Teilnehmer, von denen sie annehmen, einer langen Tradition. dass sie leichter integrierbar sind und mit denen sie leichter die verlangte Verbleibsquote von mindestens Die neue Praxis sieht jetzt so aus: Von den Agenturen 70 Prozent erreichen. vor Ort wird der konkrete Bedarf, ausgerichtet an den re- gionalen Bedürfnissen, entwickelt. Ausgeschrieben aber Dies lässt sich an der Weiterbildungsstruktur inzwi- wird nur in großen Losen überregional. Konkret für mei- schen ablesen. Im Vergleich zum Vorjahr hat in 2003 der nen Wahlkreis im Emsland sieht das dann so aus, dass Anteil von Langzeitarbeitslosen, Schwerbehinderten, beispielsweise im IT Bereich der Bedarf für einen be- Menschen ohne vorherige Berufsausbildung und Älteren stimmten Ausbildungsgang festgestellt wird, der aber an über 50 Jahre deutlich abgenommen. Bildungsträger nach NRW oder in die neuen Bundeslän- der vergeben wird, nur weil sie ein paar Cent billiger an- Letztlich ist diese Regel auch frauenfeindlich; denn bieten können als heimische Bildungsträger. Hinzu kom- die Verbleibsquote von Frauen liegt signifikant unter der men Modalitäten der Ausschreibung, die es nur großen von Männern. Es wird einer Selektion der Boden berei- Trägern ermöglicht, daran teilzunehmen. Kennzeichen tet, die sich noch verschärfen wird, wenn die Bundes- dieser Ausschreibungen sind: Potenzielle Bewerber ha- agentur die Verbleibsquote auf 80 Prozent anheben wird. ben nur wenig Zeit, Angebote zu entwickeln. Die Leis- Das wurde zwar inzwischen dementiert, jeder Beobach- tungsbeschreibungen umfassen zum Teil über 100 Seiten ter der Szene weiß aber, dass diese Anhebung bereits in mit detaillierten Vorgaben für Werkstätten. Die Leis- der Schublade liegt. tungsbeschreibungen werden während der Ausschrei- bung ständig aktualisiert (definiert) und erklärt. Bei der Die jetzige durchschnittliche Verbleibsquote liegt im Regionaldirektion Niedersachsen/Bremen beispiels- Westen bei 61,5 Prozent, im Osten nur bei 52,9 Prozent. weise beläuft sich das bereits auf 66 Internetseiten. Sie lässt sich nach meiner Überzeugung nur deutlich steigern, wenn passgenauer qualifiziert wird. Ich habe Kenner der Weiterbildungsszene weisen darauf hin, eingangs schon etwas dazu gesagt. Dies schaffen am dass insbesondere gewerkschaftliche Weiterbildungsträ- besten im regionalen Arbeitsmarkt verwurzelte Anbieter. ger von diesen Bedingungen profitieren. Diese Praxis Die Hartz-Gesetze verschieben die Priorität in der beruf- führt letztlich zur Zerschlagung der regionalen Träger- lichen Weiterbildung von langfristig angelegter Kompe- struktur. Insbesondere kleine und vor Ort tätige Bil- tenzentwicklung hin zu kurzfristigen Wiedereingliede- dungseinrichtungen können bei dieser Art Ausschrei- rungseffekten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8171

(A) Zentrale Instrumente der Hartz-Vorschläge auf dem speisen? Der Personalabbau bei den Bildungsträgern be- (C) Feld der beruflichen Weiterbildung sind Bildungsgut- trägt teilweise bis zu 50 Prozent. Einzelne haben bereits schein und Verbleibsquote. Alle Evaluationsstudien be- aufgegeben, die Existenz einer ganzen Branche ist letzt- legen, dass der Eingliederungserfolg im Wesentlichen lich bedroht. Wir müssen uns fragen, was wir politisch abhängig ist vom regionalen Arbeitsmarkt, von der an- wollen. gestrebten und verwirklichten Qualifikation, von der Teilnehmerzusammensetzung. Betrachten wir die berufliche Weiterbildung nur als Mittel, vordergründig die Arbeitslosenzahlen zu reduzie- Die inzwischen eingeführten Bildungsgutscheine ent- ren, oder wollen wir dieses Instrument auch nutzen als falten diesbezüglich leider nur eine zweifelhafte Wir- Hilfe für ein gelingendes Leben? Jugendliche, die jahre- kung. Die, die der Weiterbildung am dringendsten be- lang keine Struktur in ihrem Tagesablauf hatten, werden dürfen, sind mit der neuen „Wahlfreiheit“ häufig nur sehr schwer zurückfinden in ein geregeltes Arbeits- überfordert. Sie können ja auch nur zwischen Trägern leben. Schreiben wir diese Menschen ab? Oder sollten wählen, nicht zu den Inhalten. Statt der erhofften Trans- wir nicht versuchen, sie über Bildungsangebote reifen zu parenz entsteht für sie eine neue Unübersichtlichkeit. lassen? Ich weiß, das ist in Zeiten knapper Kassen eine Häufig befinden sich auch infrage kommende Träger provozierende Frage. Uns wird sie aber einholen, wenn nicht in der Region. Mit dem Wegfall des Unterhaltsgel- wir heute darauf keine Antwort finden. des wird es äußerst problematisch, einen zusätzlichen Nebenwohnsitz zu finanzieren. Für die Anbieter entsteht Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um eine Unplanbarkeit. Und auch für den Arbeitslosen, denn es noch einmal vorauszuschicken: Der Antrag der FDP- er weiß praktisch bis zum Beginn der Maßnahme nicht, Fraktion ist inhaltlich völlig überholt; dies ist ja gestern ob sie überhaupt zustande kommt. im Ausschuss noch einmal deutlich geworden. Er ist Die hohe Zahl an verfallenen Bildungsgutscheinen überholt, weil seit dem 1. Januar dieses Jahres mit den belegt diese Schwierigkeiten: Von den zwischen 1. März Änderungen des Dritten Gesetzes für moderne Dienst- und 30. September 2003 bundesweit ausgegebenen leistungen am Arbeitsmarkt die Aufgaben des Verwal- 147 400 Bildungsgutscheinen sind 21 400 nach abgelau- tungsrates innerhalb der Bundesagentur für Arbeit neu fener Gültigkeit storniert worden. definiert worden sind: Der Verwaltungsrat der BA hat nun keinerlei Aufgaben in der Ausgestaltung des opera- Was bedeutet das alles? Es wird nur mehr unterschie- tiven Geschäfts mehr und ist auf eine reine Kontroll- den danach, was der Einzelne weiterbildungsmäßig kos- funktion gegenüber dem Vorstand beschränkt. Damit tet, und nicht, ob durch eine aufwendigere Maßnahme sind die von der FDP-Fraktion angesprochenen Interes- erfolgreich vermittelt werden könnte. Kurzfristig spart senkonflikte zwischen der Gestaltung des operativen Ge- (B) das natürlich Geld, langfristig wird es bestimmt nicht schäfts des Vorstands und den Interessen der Verwal- (D) billiger. tungsratsmitglieder in Zukunft ausgeschlossen. Die berufliche Weiterbildung genießt zu Recht einen Des Weiteren sehe ich den von Ihnen angesprochenen hohen Stellenwert. „Wissensgesellschaft“, „lebenslanges Interessenkonflikt auf Gewerkschaftsseite nicht und Lernen“ sind Stichworte für die wohl von allen Seiten werte den hier vorgelegten Antrag vielmehr als einen un- des Hauses anerkannte Bedeutung der beruflichen Wei- zulässigen Versuch, in die Selbstverwaltung der Bun- terbildung. Dies muss sich auch am Arbeitsmarkt ange- desagentur einzugreifen. Die Absetzung eines Mitglieds messen widerspiegeln. Es ist klar, dass die berufliche des BA-Vorstandes ist nur im Falle einer groben Amts- Weiterbildung zu allererst dazu dienen muss, eine Ver- verletzung nach § 377 Abs. 3 SGB III möglich. Diese mittlung oder den Verbleib im ersten Arbeitsmarkt zu liegt hier aber nicht vor. Frau Engelen-Kefer ist die legi- ermöglichen. Weiterbildung heißt aber auch Kompetenz- time Vertreterin der Arbeitnehmerseite und wurde durch entwicklung und Kompetenzentwicklung heißt wie- den vorschlagsberechtigten DGB benannt. Dies sollte derum, dass dies gegebenenfalls in Abschnitten erfolgen auch die FDP-Fraktion im Bundestag respektieren. muss. Ich meine, mit diesen Ausführungen ist nun wirklich Die Entwicklung im vergangenen Jahr lässt aber auf- alles zum Antrag der FDP gesagt und wir sollten nun horchen: Die Zahl der Neueintritte in nach dem Dritten dazu übergehen, uns um die wirklichen Probleme mit Buch Sozialgesetzbuch geförderte berufliche Weiterbil- der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu kümmern. Der Haus- dungsmaßnahmen hat sich von 456 301 im Jahre 2002 halt der BA für das Jahr 2004 sieht eine gravierende Re- auf nur noch 246 245 im Jahr 2003 fast halbiert. Und duzierung des Eingliederungstitels um 18 Prozent dieser Prozess setzt sich fort. gegenüber dem Jahr 2003 vor. Bei genauerer Betrach- tung fällt zwar auf, dass es auch zu Verschiebungen in- Im Bereich der Agentur Nordhorn – der umfasst das nerhalb der einzelnen Haushaltstitel gekommen ist, die südliche und mittlere Emsland und die Grafschaft diese absolute Kürzung teilweise kompensieren, sodass Bentheim – ist die Zahl der Weiterbildungsmaßnahmen am Ende ein Minus von 12 Prozent zu Buche schlägt. 2003 um 35 Prozent zurückgegangen, in erster Linie zu- Insgesamt stehen jedoch für Maßnahmen der aktiven Ar- lasten der Problemgruppen des Arbeitsmarktes. Die Zahl beitsmarktpolitik im kommenden Jahr 1,4 Milliarden der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz beträgt 3 184. Euro weniger zur Verfügung. Das sind Menschen, denen mit beruflichen Bildungsan- geboten geholfen werden könnte, den Einstieg noch zu Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass schaffen. Wollen wir die mit Bildungsgutscheinen ab- Bündnis 90/Die Grünen diese Schwerpunktsetzung der 8172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) BA skeptisch betrachten. Gerade die geplanten Kürzun- Kostendiktat geopfert, und zwar mit gravierenden lang- (C) gen von Leistungen für Berufsrückkehrerinnen und äl- fristigen Folgen, deren Kosten zurzeit überhaupt nicht tere Arbeitnehmer sowie ein Zusammenstreichen des beachtet werden. Davon betroffen sind behinderte JUMP-Programms werfen Fragen auf. An die Stelle des Jugendliche mit Lern- oder Körperbehinderungen, für Zusammenstreichens von Haushaltstiteln setzten wir die ohnehin kaum Chancen auf dem Ausbildungs- und eine Geschäftspolitik, die sinnvolle Strukturen effi- Arbeitsmarkt bestehen. Wir können eine solche zienter und gerne auch schlanker macht, aber in ihrer Geschäftspolitik nicht mittragen, mit der diese jungen Substanz erhält. Menschen von der Schulbank in die Perspektivlosigkeit und in den Sozialhilfebezug entlassen werden. Erfolgrei- Als behindertenpolitischer Sprecher meiner Fraktion ches, ganzheitliches Profiling, Fallmanagement und eine beobachte ich besonders aufmerksam, wie die Ge- erfolgreiche Vermittlung brauchen örtliche Bezüge, ins- schäftspolitik der Bundesagentur für Menschen mit Be- besondere bei Arbeitslosen mit multiplen Vermittlungs- hinderungen in den letzten Monaten geändert wurde. Ich hemmnissen. möchte hier nur ein paar Beispiele nennen: In einem Weisungspapier der BA an die Landesarbeitsämter wur- Diese Ausschreibungspraxis der BA widerspricht klar den diese angewiesen, durch eine ganze Reihe von Maß- dem durch die rot-grüne Koalition im SGB II formulier- nahmen die Ausgaben für Berufsbildungswerke zu drü- ten Anliegen, die vorhandenen Strukturen zu erhalten cken. Da sollen nun alle Berufsbildungswerke auf einen und im Interesse der Arbeitslosen zu nutzen. Es sind die Durchschnittskostenwert gedrückt werden, ungeachtet Träger vor Ort, die das größte Know-how und die besten ihrer spezifischen Ausstattung, ihrer individuellen Ange- Kontakte haben, gerade weil sie lokal arbeiten und regio- botsstruktur und ihrer Leistungsfähigkeit. Diese Anwei- nal vernetzt sind. Wir haben uns von Anfang an dafür sung verkennt, dass Berufsbildungswerken eine ent- eingesetzt, bestehende Strukturen nicht zu zerschlagen. scheidende Rolle bei der Eingliederung benachteiligter Wir brauchen deren Erfahrung, um die neuen Jobcenter Jugendlicher in das Erwerbsleben zukommt. Für viele aufbauen und erfolgreich betreiben zu können. Hätten Jugendliche ist eine individuelle Förderung in diesen Sie, Herr Niebel, einen ernst zu nehmenden Antrag stel- Einrichtungen die einzige Möglichkeit, den Einstieg in len wollen, hätten Sie diese Probleme aufgegriffen, an- den ersten Arbeitsmarkt und den dauerhaften Ausstieg statt einem kläglichen Populismus mit Schlagworten wie aus der Sozialhilfe zu schaffen. Arbeitslosenindustrie zu frönen. Hinzu kommt die neue Ausschreibungspraxis: Seit Sommer 2003 werden Leistungen der aktiven Arbeits- Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- marktpolitik von der Bundesanstalt für Arbeit zentral in minister für Wirtschaft und Arbeit: Wir beraten hier über einen Antrag der FDP-Fraktion, der im Dezember 2003 (B) ihren Leistungsmerkmalen definiert und zur Aus- (D) schreibung freigegeben. Dazu gehören im Moment Trai- sehr kurzfristig in die Tagesordnung aufgenommen wor- ningsmaßnahmen, Vermittlungsleistungen nach § 37 a den war. Dieser Antrag stammt, wie Sie alle der Bundes- SGB III und berufsvorbereitende Maßnahmen. In den tagsdrucksache entnehmen können, vom 2. April des nächsten Ausschreibungsrunden sollen alle weiteren In- letzten Jahres. strumente zu diesem Katalog hinzukommen. Langfristig Der Zeitpunkt der Wiederbelebung dieses Antrags ist vorgesehen, dass 75 Prozent aller Maßnahmen in ih- war übrigens nicht zufällig. Im Dezember war der dama- ren Leistungscharakteristika von der Zentrale vorgege- lige Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt wegen ei- ben werden und dann auf Ebene der Landesarbeitsämter nes Beratervertrages mit der Firma WMP im Zentrum bzw. der neuen Regionaldirektionen ausgeschrieben der öffentlichen Kritik. Die FDP nahm dies als willkom- werden. Nur noch 25 Prozent der Leistungen sollen auch menen Anlass, sich mit der Auferweckung dieses Uralt- in ihrem spezifischen Zuschnitt in der Verantwortung der Antrages sozusagen in den Windschatten zu setzen und örtlichen Arbeitsagenturen bleiben. versucht von da aus einmal mehr, Sand in das Getriebe der Reformbemühungen der Bundesagentur für Arbeit Diese Praxis verkennt völlig die Bedeutung gewach- zu streuen. Das ist ja nichts Neues. sener Strukturen: Gerade für die Integration von schwer vermittelbaren Menschen mit Behinderungen ist das Zu- Dieses Mal hat sie die Selbstverwaltung als Zielob- sammenwirken der Akteure vor Ort unerlässlich, um jekt entdeckt und versucht, völlig grundlos Misstrauen erfolgreich zu sein. In der Vergangenheit konnten be- gegen das seit Jahrzehnten bewährte System der Selbst- hinderte Jugendliche nur deswegen in den ersten Ar- verwaltung aufzubauen. Und da der FDP die Vertreter beitsmarkt integriert werden, weil engagierte Mitarbeiter der Gewerkschaften schon immer ein Dorn im Auge wa- der Berufsförderungswerke vor Ort langjährige Verbin- ren, will sie Frau Engelen-Kefer gleichsam im Hand- dungen mit den lokalen Betrieben und Handwerkskam- streich als Mitglied der Selbstverwaltung abberufen wis- mern aufgebaut haben und sich persönlich für die Ein- sen. Das ist einfach lächerlich und das nimmt hier auch stellung ihrer Absolventen eingesetzt haben. niemand ernst. Es ist überhaupt nicht verständlich, dass nun solche Aber wenigstens scheint die FDP von ihrer bisherigen berufsvorbereitenden Maßnahmen nach den Grundsät- – meines Erachtens im Übrigen absurden – Forderung, zen des deutschen Vergaberechts bundesweit ausge- die Bundesanstalt für Arbeit aufzulösen, Abstand ge- schrieben werden sollen und dass sich die Vergabe nur nommen zu haben. Anders kann ich es mir nicht erklä- noch nach dem günstigsten Angebot richten soll. Hier ren, dass sie zukünftig eine grundlegende Reform der werden funktionierende Strukturen dem kurzfristigen Selbstverwaltungsstrukturen in Angriff nehmen will. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8173

(A) Mit diesem Antrag hat sich die FDP selbst ein Ar- sehr gut beobachten. Die Selbstverwaltung bei der Bun- (C) mutszeugnis ausgestellt. Die einzig richtige Handlung desagentur für Arbeit hat sich dabei in sicherlich proble- wäre gewesen, diesen Antrag zurückzuziehen oder ihn matischen Situationen bewährt und ist ihrer neuen Rolle dort zu belassen, wo er sich anscheinend vorher befun- durchaus gerecht geworden. den hat, nämlich in der Versenkung. Ebenfalls entgangen ist der FDP-Fraktion, dass die Ich will nur kurz auf die bestehenden Forderungen Bundesregierung die neue Rolle der Selbstverwaltung eingehen. durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt fortgeschrieben hat. Die auf der Ebene Die von Ihnen angesprochene Vorschrift § 16 Zehntes des Verwaltungsrates begonnene Neustrukturierung der Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist in ihrer jetzigen Selbstverwaltung ist konsequent auf die untere Ebene Form ausreichend. Diese Regelung schließt ausdrücklich übertragen worden. Die örtlichen Verwaltungsausschüsse und ausnahmslos Personen vom Tätigwerden in einem bei den Agenturen für Arbeit können nicht mehr – wie Verwaltungsverfahren aus, bei dem die Beteiligten das früher der Fall war – über Mittel des Eingliederungs- – zum Beispiel ein Antragsteller oder ein Geforderter – titels oder der freien Förderung entscheiden. Sie kontrol- gegen Entgelt beschäftigt sind oder bei ihm als Mitglied lieren nur noch die Entscheidungen der Geschäftsfüh- des Vorstands, Aufsichtsrats oder eines gleichartigen Or- rung. Und dazu sind sie auch mit stärkeren Informations- gans tätig sind. und Beratungsrechten ausgestattet worden. Bereits im März 2002 hat die Bundesanstalt einen entsprechenden Runderlass zum Abstimmungsverhalten Damit existieren die von Ihnen so überzogen darge- von Mitgliedern der Selbstverwaltung herausgegeben, stellten Interessenüberschneidungen überhaupt nicht um dort ein besonderes Bewusstsein für dieses wichtige mehr. Thema zu schaffen. Doch dabei ist die Bundesanstalt Meine Rede beenden möchte ich mit einem kleinen nicht stehen geblieben. Der Bundesanstalt war bewusst, Beispiel aus der Praxis: Seit Anfang dieses Jahres ist be- dass auch schon im Rahmen von Beratungen und Ge- kanntlich der Verwaltungsrat für die Berufung der Mit- sprächen ein Interessenkonflikt entstehen oder auch nur glieder der örtlichen Verwaltungsausschüsse zuständig. der Anschein eines solchen Konflikts erweckt werden Auf der Sitzung des Verwaltungsrates am letzten Freitag kann, was sich wiederum negativ auf das Ansehen der ist die Berufung einer Person in einen Verwaltungsaus- Bundesanstalt auswirken könnte. Um in diesem sensi- schuss abgelehnt worden. Der Grund: Diese Person war blen Bereich das Ansehen der Bundesanstalt und der Leiter eines örtlichen Bildungsträgers. An diesem Mitglieder der Selbstverwaltung zu stärken, hat der Beispiel wird einmal mehr deutlich, dass die Selbstver- Verwaltungsrat Ende Juni dieses Jahres eine Art „Ehren- waltung ihrer neuen Rolle gerecht wird und dass die Ver- (B) kodex“ beschlossen. Darin wird den Selbstverwaltungs- meidung von Interessenkonflikten innerhalb der Bundes- (D) mitgliedern nahe gelegt, die Gefahr möglicher Interes- agentur ernst genommen wird. senkonflikte und die möglichen Ansehensverluste der Bundesanstalt – wie sie insbesondere durch die parallele Mitgliedschaft in der Selbstverwaltung und in externen Anlage 7 Gremien entstehen können – stärker als bisher zu ge- wichten. Nach individueller Prüfling des Einzelfalls ist Zu Protokoll gegebene Reden auch die Beendigung der Mitarbeit in einem externen zur Beratung der Anträge: Gremium in Betracht zu ziehen. Eine Verpflichtung zur Beendigung der Mitarbeit in entsprechenden Gremien ist – Früherkennung, Behandlung und Pflege bei allerdings aus dem Grund nicht ausgesprochen worden, Demenz verbessern da die strikte Beachtung des § 16 SGB X grundsätzlich für ausreichend erachtet wurde. – Demenz früh erkennen und behandeln – für eine Vernetzung von Strukturen, die Intensi- Den Verwaltungsausschüssen der damaligen Landes- vierung von Forschung und Unterstützung arbeitsämter und Arbeitsämter hat der Verwaltungsrat im von Projekten Übrigen empfohlen, entsprechende Beschlüsse zu fas- sen. (Tagesordnungspunkt 14 a und b) So viel zu den im Antrag aufgestellten Forderungen. Verena Butalikakis (CDU/CSU): 1,2 Millionen Sie entbehren also jeglicher Grundlage. Menschen mit einer demenziellen Erkrankung und die Aber das ist noch nicht alles. Besonders beschämend mitbetroffenen Familien erwarten zu Recht Hilfe. Umso ist, dass die Mitglieder der FDP überhaupt nicht am Re- mehr bedaure ich, dass ich angesichts dieser ernsthaften formprozess der Bundesagentur interessiert sind. Wäre Thematik zunächst gezwungen bin, gleich zu Beginn fal- dies anders, wäre ihnen nämlich aufgefallen, dass bereits sche Behauptungen, die von der rot-grünen Regierungs- im letzten Jahr die Aufgaben des Verwaltungsrates auf koalition hinsichtlich des Zeitablaufs in Bezug auf die reine Kontrollaufgaben ausgerichtet worden sind. Auch heute zu behandelnden Anträge immer wieder in den und schon aus diesem Grund geht der Antrag ins Leere. Raum gestellt werden, zu widerlegen. Die ihm eingeräumte Kontrolltätigkeit nimmt der Die Wahrheit ist, dass die SPD-Fraktion den von der Verwaltungsrat auch aktiv wahr. Das konnten wir gerade FDP eingebrachten Antrag mit dem Schwerpunkt „Früh- bei den Ereignissen in den letzten Tagen und Wochen erkennung und Behandlung“ bei der 1. Beratung im 8174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Februar 2003 abgelehnt hat. Bündnis 90/Die Grünen ha- perten. Für die Betroffenen ist die durch Handlungsunfä- (C) ben Beratungsbedarf angekündigt und die CDU/CSU hat higkeit verlorene Zeit eine Katastrophe. bei grundsätzlicher Zustimmung Änderungen und Er- gänzungen angemeldet. Wie richtig es war, dass die CDU/CSU-Fraktion ihren eigenen Antrag „Früherkennung, Behandlung und Zur abschließenden Beratung im Ausschuss für Ge- Pflege bei Demenz verbessern“ eingebracht hat, wird auf sundheit und soziale Sicherung – nach der Anhörung im den dritten Blick – bei differenzierter Betrachtung – end- Mai am 4. Juni 2003 – legte die CDU/CSU-Fraktion den gültig deutlich, wenn es um die Art und Weise geht, wer angekündigten fundierten Änderungsantrag vor. Jetzt und wie konkret zum Handeln aufgefordert wird. Hier wäre eine interfraktionelle Einigung möglich gewesen. will ich zunächst drei thematische Schwerpunkte beson- Aber die rot-grüne Regierungskoalition erklärte deut- ders herausgreifen: lich, dass sie bei einer Abstimmung auch den verbesser- ten Antrag ablehnen werde und schlug vor, den Entwurf Erstens. Die Erweiterung des verrichtungsbezogenen für einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten. Die Pflegebegriffs um den Hilfebedarf für die allgemeine Abstimmung wurde daraufhin ausgesetzt. Beaufsichtigung und Betreuung in zeitlich begrenztem Umfang. Bundesministerin hatte – wie von Nach 5 Monaten, am 5. November 2003, und nach der durch die Regierung eingesetzten Rürup-Kommis- mehreren Nachfragen vonseiten der Opposition, ging sion gefordert – in den im Oktober 2003 vorgestellten dann der Antragsentwurf per E-Mail ein. In der CDU/ Eckpunkten zur Reform der Pflegeversicherung für die- CSU-Arbeitsgruppe Gesundheit und Soziales wurde der sen Hilfebedarf einen pauschalen Zeitzuschlag von Antrag sofort in den nächsten beiden Sitzungen am 30 Minuten geplant. In der von der CDU/CSU beantrag- 11. November und abschließend am 25. November be- ten Aktuellen Stunde am vorletzten Freitag „Zur Zukunft handelt. Seit Anfang Dezember war der rot-grünen Re- der Pflegeversicherung“ versicherten sowohl Ministerin gierungskoalition bekannt, dass wir – wie im Übrigen Ulla Schmidt wie mehrere Abgeordnete der SPD und auch die FDP-Fraktion – den Antrag angesichts grundle- von Bündnis 90/Die Grünen, dass trotz Machtwort des gender Unterschiede in entscheidenden Fragen die rot- Kanzlers noch in diesem Jahr Verbesserungen für De- grüne Vorlage ablehnen und einen eigenen Antrag zur menzerkrankte kommen werden. Meine Frage, wie die Verdeutlichung der Unterschiede einbringen werden. Finanzierung bei der desolaten Kassenlage der Pflege- Das ist dann auch auf dem normalen parlamentarischen versicherung ohne grundlegende Reform, die der Kanz- Weg geschehen. ler ja verboten hatte, gesichert werden soll, wurde aber nicht beantwortet. In dem heute zu beratenden Antrag Die von mir dargestellten Zeitabläufe – auch die fünf der Regierungskoalition vom 16. Januar 2004 – also vor Monate Verzögerung durch die Regierungskoalition – dem „Kanzlermachtwort“ – heißt es: „bedarf der Pflege- (B) sind belegbar, weiteres Lügen in diesem Zusammenhang (D) begriff … mittelfristig einer Überarbeitung und Erweite- somit obsolet. Die betroffenen Menschen interessiert rung.“ Das Chaos dieser Aussagen bestätigt aus meiner dieses von rot-grün angezettelte Ablenkungsmanöver Sicht die Unredlichkeit. natürlich überhaupt nicht, denn für sie kommt es auf schnelles Handeln und vor allem auf die Inhalte an. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte bereits im Die heute zur Beratung anstehenden Anträge greifen März 2001 mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbes- auf den ersten Blick gleichartige Punkte auf. Der Kol- serung der Leistungen in der Pflege die Versorgung von lege Parr hatte ja schon darauf hingewiesen, dass sie Demenzkranken durch zusätzliche 30 Minuten beim all- weit über den Schwerpunkt im FDP-Antrag hinausge- gemeinen Hilfe- und Betreuungsaufwand verbessern hen. wollen. Die rot-grüne Regierungskoalition hatte dies da- mals mit Hinweis auf den fehlenden Finanzspielraum Diese Gleichartigkeit der Punkte ist nicht überra- abgelehnt. Heute fordern wir in unserem Antrag wie- schend, denn die Anregungen und Forderungen von derum diese Leistungsverbesserung für Demenzkranke, Experten verschiedener Disziplinen und von Betroffe- nicht „mittelfristig“ sondern unmittelbar; und genauso nenvertretern sind nicht neu. Spätestens als die Sachver- fordern wir auch die notwendige Reform der Pflegever- ständigenkommission im April 2002 ihren 4. Alten- sicherung ein. bericht zum Thema „Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksich- Zweitens. Die Früherkennung und Behandlung im tigung demenzieller Erkrankungen“ vorlegte, waren alle Frühstadium von Demenz. Demenzerkrankungen sind Mängel bei der Erkennung und Versorgung von De- bisher zwar noch nicht heilbar, aber der Verlauf der Er- menzkrankheiten zusammengefasst dokumentiert und krankung kann – wie Studien belegen – bei Erkennung alle Handlungserfordernisse konkret benannt. im frühen Stadium durch eine gezielte medikamentöse – so genannte Antidementiva – und nichtmedikamentöse Auf den zweiten Blick wird somit offenbar, dass der Therapie – aktivierende Hilfe – verzögert werden. Die Antrag der rot-grünen Regierungskoalition eine schal- Sachverständigenkommission zum 4. Altenbericht stellt lende Ohrfeige für die rot-grüne Bundesregierung, ins- hierzu fest, dass es gerade gegenüber der Grundlagenfor- besondere für die zuständige Ministerin, ist, denn er do- schung erhebliche Defizite in der anwendungsbezogenen kumentiert bei der Feststellung der Ist-Situation, dass in Forschung gibt. Ebenso müssen Erkenntnisse der Grund- den letzten zwei Jahren offensichtlich nichts passiert ist. lagenforschung stärker in praxisbezogene Behandlungs- Das beklagen wir als Opposition seit langem. Das kriti- maßnahmen umgesetzt werden. Der dringende Hand- sieren Ärzte, Selbsthilfegruppen, Pflegekräfte und Ex- lungsbedarf in diesem Bereich wird durch zwei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8175

(A) statistische Zahlen belegt: Erkannt werden nach Exper- genannten Anstrengungen und Initiativen der Regie- (C) tenschätzungen derzeit nur circa 50 Prozent der De- rungskoalition ist wirklich keine Zeit mehr. menzerkrankungen in einem frühen Stadium, beim Ein- setzen einer effizienten Medikation im Frühstadium wird Hilde Mattheis (SPD): Niemand bezweifelt, dass der Krankheitsverlauf um etwa ein Jahr verzögert. Menschen, die an Demenz erkrankt sind, besonderer Hil- Entsprechend der dargelegten Handlungsnotwendig- fen bedürfen. Niemand bezweifelt, dass die Betreuung keit fordern wir in unserem Antrag, verstärkt For- und Versorgung eine besondere gesellschaftliche He- schungsvorhaben zu initiieren und Früherkennungs- und rausforderung ist. Und niemand bezweifelt, dass wir uns Frühbehandlungskonzepte zu entwickeln und zu fördern. dieser Herausforderung in Zukunft verstärkt stellen müs- sen. Im Antrag der rot-grünen Regierungskoalition findet Jeder von uns, der in seiner Familie, im Freundes- sich zu der gesamten Thematik dagegen der lapidare oder Bekanntenkreis Menschen begleitet hat oder beglei- Satz: „Die bereits ergriffenen Initiativen … sind zügig tet, die sich immer weiter von der Person entfernen, die weiterzuführen.“ Eine konkrete Aufforderung direkt an sie einmal waren, kann dies in besonderer Weise bestäti- die Bundesregierung zum Handeln findet sich dagegen gen. Der gesamte Tag wird bestimmt von den Bedürfnis- in diesem Antrag nur an einer Stelle – und damit sind wir sen dieser Pflegebedürftigen, der Tag läuft nicht so ab, beim dritten thematischen Schwerpunkt, den ich geson- wie wir, die wir nicht an Demenz erkrankt sind, uns den dert herausstellen möchte. Tag einteilen. Drittens. Die wohnortnahen Beratungs- und Versor- Der Prozess ist oft schleichend. Was für Angehörige gungsangebote. anfangs aussehen mag wie eine leichte Altersvergess- Die Wichtigkeit einer vielfältigen Struktur dieser lichkeit kann sich rasant verschlimmern. Demente unter- Hilfeangebote vor Ort sowohl für die Erkrankten als scheiden dann oft nicht zwischen Tag und Nacht, haben auch besonders für die pflegenden Angehörigen ist un- oft einen starken Bewegungsdrang, kennen die nächsten umstritten. Im rot-grünen Antrag wird die Bundesregie- Angehörigen nicht mehr, wollen nach Hause, obwohl sie rung aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass Länder und in der Wohnung sind, in der sie seit 30 oder 40 Jahren le- Kommunen ihrer Verantwortung nachkommen und die ben. Beim Anziehen „vergessen“ sie, was sie mit dem Angebote ausbauen. Den schwarzen Peter direkt den Strumpf, der in ihrer Hand ist, tun wollten. Selbstver- Ländern und Kommunen zuzuschieben, bringt uns ange- ständlichkeiten werden zu unüberbrückbaren Schwierig- sichts ihrer bekanntermaßen kastastrophalen Finanzlage keiten – eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist erforder- keinen Schritt weiter. lich. (B) Demente können nicht mehr selbstständig am gesell- (D) Der Hinweis auf das Pflegeleistungs-Ergänzungsge- schaftlichen Leben teilnehmen. Auch ihre Angehörigen setz, durch das die Kommunen finanziell stärker unter- geraten durch den ständigen Betreuungsbedarf in soziale stützt werden sollen, unterstreicht die Unredlichkeit der Isolation. Oft ist die extreme Belastung so groß, dass nur Regierungskoalition an diesem Punkt. „20 Millionen die stationäre Betreuung übrigbleibt, und oft gibt es gar Euro stehen ab 1. Januar 2002 für die Weiterentwicklung keine nahen Angehörigen, die die Pflege übernehmen der Versorgungsstrukturen und Versorgungskonzepte zu- könnten. sätzlich zur Verfügung, lautete damals die Ankündigung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Unser medizinischer Fortschritt macht ein immer län- geres Leben möglich. Lag vor hundert Jahren die Le- Während die Länder und Kommunen aus ihren leeren benserwartung bei nur 46 Jahren, werden wir heute sehr Kassen zusätzlich 10 Millionen Euro bereitstellen sollen, viel älter. 2050 wird die Lebenserwartung um weitere damit im Rahmen der paritätischen Finanzierung die sieben Jahre steigen, das heißt Frauen werden im Schnitt 10 Millionen Euro der Pflegekassen eingebracht werden, 87 Jahre, Männer 82 Jahre alt. strich das zuständige Ministerium genau in diesem Be- reich in den Haushaltsjahren 2002 bis 2004 insgesamt Mit der steigende Zahl der Hochbetagten steigt auch 9 Millionen Euro, wie ein Blick in den Bundeshaushalts- die Zahl der Demenzerkrankten. Bei den über 80-Jähri- plan bei Kapitel 15 02, Titel 684 11 und 893 11 beweist. gen ist heute jeder fünfte betroffen, bei den über 90-Jäh- rigen jeder dritte. Bis zum Jahr 2020 wird ihre Zahl von Das ist rot-grüne Politik: Der Bund stiehlt sich aus der unter 1 Million auf über 1,2 Millionen Menschen an- Verantwortung und spart; die Länder und Kommunen wachsen, die an Demenz leiden. Sie werden zu zwei sollen zahlen. Für die CDU/CSU-Fraktion ist der weitere Dritteln von ihren Angehörigen versorgt. Sie leben aller- Ausbau der wohnortnahen Angebotsstruktur verbunden dings mit zunehmendem Alter häufig allein in ihrem mit der Forderung nach einer fairen Finanzierung unter Haushalt. Von den 70- bis 75-Jährigen sind es 31,8 Pro- Beteiligung des Bundes. So steht es in unserem Antrag. zent, von den 75- bis 80-Jährigen sind es bereits 46 Pro- zent. Und 60,1 Prozent der über 80-Jährigen wohnen al- Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung lein, meist unter ungünstigen Wohnbedingungen, die auf, endlich umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um die nicht flexibel genug sind, um dem Hilfe- und Pflegebe- Früherkennung, Forschung, Prävention und Pflege im darf entsprechend umgestaltet zu werden. Bereich der Demenzerkrankungen voranzutreiben; denn für die im Antrag der Fraktionen von SPD und Grünen Diese demografische Entwicklung beinhaltet also vorgebrachten Lobeshymnen auf die bereits erfolgten so eine große gesellschaftliche Herausforderung. Wir 8176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) müssen entscheiden, wie wir mit den älteren und hoch- rige demenzkranker Menschen Informations-, Supervi- (C) betagten Menschen in unserer Gesellschaft umgehen, sions- und Ausbildungsangebote bereitstehen müssen. welche Unterstützung, Beratung und Angebote wir bie- Wir sind uns einig, dass Familien und pflegende Ange- ten, um das Leben in der dritten Lebensphase so zu ge- hörige eines Netzes abgestufter, bedürfnisorientierter stalten, dass ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges und gemeindenaher Hilfen und Versorgungsangebote Leben innerhalb und nicht nur am Rand der Gesellschaft einschließlich niedrigschwelliger Angebote bedürfen. möglich ist. Sie brauchen Tages- und Nachtpflegeeinrichtungen, Die Herausforderungen sind nicht nur erkannt, es sind Kurzzeitpflegeangebote und unterstützende ehrenamtli- bereits wichtige Schritte unternommen worden. Ich che Hilfe. Selbsthilfeorganisationen müssen vor Ort ein- nenne zum Beispiel das Pflegeleistungs-Ergänzungsge- gerichtet und bekannt gemacht werden. setz und das Gesetz über die Berufe in der Altenpflege, die unter der Regierung von Rot-Grün auf den Weg ge- Als Alternative zum traditionellen Wohnen im Heim bracht wurden. sind in der Pflegeversicherung und in den heimrechtli- chen Vorschriften – hier insbesondere der Heimmindest- Trotzdem besteht weiterer Verbesserungsbedarf. bauverordnung – neue Wohnformen wie zum Beispiel Diese Einsicht besteht parteiübergreifend. Denn, das Wohn- oder Hausgemeinschaften zu fördern. sollte damit auch klar sein, das Thema eignet sich nicht für parteipolitische Spielchen. Dafür ist die Situation der Wir wissen, Länder und Kommunen müssen mit ins Menschen, die von Demenz betroffen sind, zu ernst. Boot, müssen ihrer Verantwortung nachkommen und die Wem es bei dem Thema allein auf eine Schlagzeile an- Angebote, die den Verbleib im häuslichen Umfeld er- kommt oder wer durch Tricksereien den Eindruck ver- möglichen, ausbauen. Das geht nicht ohne Geld, das mitteln möchte, allein nur die Problematik zu sehen, geht nicht von heute auf morgen, aber alle politischen handelt unseriös. Vor ungefähr einem Jahr gab es bereits Ebenen müssen auch wissen: Stationäre Angebote sind eine Debatte zu diesem Thema in diesem Hohen Haus. teurer und für die Menschen immer nur die zweitbeste Dabei wurde von allen Parteien die Wichtigkeit des Möglichkeit. Themas bekundet. Es wurde vereinbart, interfraktionell an dem Thema weiter zu arbeiten. Wir, SPD und Bünd- Wir fordern darüber hinaus – und sind bei den Punk- nis 90/Die Grünen, sollten einen ersten Antragsentwurf ten, die ich schon genannt habe, auch präziser –, die von vorlegen. Das haben wir gemacht. Schon im letzten Jahr den einzelnen Bundesministerien geplanten Maßnahmen lag der Entwurf vor. Die FDP hat sich sofort ausgeklinkt, zur Verbesserung der Versorgungssituation demenziell die Berichterstatterin der CDU signalisierte zunächst erkrankter Menschen aufeinander abzustimmen und mit ihre Bereitschaft, Änderungsvorschläge zu unterbreiten. den Bundesländern eine Querschnittsarbeitsgruppe zu (B) bilden. Die Förderung einer vergleichenden internationa- (D) Dann entschloss sich die CDU, einen eigenen Antrag len Zusammenarbeit soll die Erstellung von Evaluations- vorzulegen. Wenn jetzt platt behauptet wird, wir hätten und Wirksamkeitsstudien erleichtern und verbessern. den Antrag von der CDU „abgeschrieben“, entspricht Als Basis für ein qualitätsgesichertes Versorgungsange- das weder dem tatsächlichen Ablauf, noch ist eine solche bot müssen bundeseinheitliche Pflegeleitlinien entwi- Behauptung der Ernsthaftigkeit der Sache angemessen. ckelt werden. Ich halte fest: Der Entwurf der Regierungskoalition war der Opposition lange bekannt. Eine weitere zentrale Forderung ist, dass der Pflege- begriff in der Pflegeversicherung mittelfristig überarbei- Welches sind jetzt die zentralen Forderungen unseres tet und erweitert wird. Das wird im CDU-Antrag auch Antrags, des Koalitionsantrags, und welche Forderungen gefordert. Wir sind darüber hinaus wieder viel genauer, erhebt die CDU? wenn es um weitere Schritte geht. Wir fordern, im Zuge Im Großen und Ganzen schließt sich die CDU dem eines ausführlichen, qualitätsgesicherten Assessments an, was meine Kollegin von Bündnis 90/Die Grünen und die Pflegebedürftigkeit festzustellen und einen verbindli- ich vorgearbeitet hatten: Wir sind uns einig: In Sachen chen Hilfe- bzw. Maßnahmenplan festzulegen. Das Be- Forschung, Prävention und Unterstützung der Angehöri- gutachtungsverfahren muss so weiterentwickelt werden, gen brauchen wir Verbesserungen. In diesen Bereichen dass auch präventive, rehabilitative und aktivierende As- muss mehr getan werden. Wir sind uns einig, dass die pekte stärker berücksichtigt werden. Pflegebedürftige bereits ergriffenen Initiativen zur Verbesserung der brauchen einen individuell zugeschnittenen Hilfe- bzw. Früherkennung und Therapie von Demenzerkrankungen Maßnahmenplan, da sie keine einheitliche Gruppe, son- zügig weiterzuführen sind. In die Aus-, Fort- und Wei- dern Individuen mit unterschiedlichen Kompetenzen und terbildung der Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Defiziten sind. Daraus ergeben sich unterschiedliche An- Therapeuten und Pflegekräfte sollten demenzbezogene forderungen an Betreuung, Pflege und Therapie. In der Pflichtbausteine aufgenommen werden. Wir sind uns ei- Demenzdiagnostik und -behandlung sowie bei der Be- nig, dass kostenträgerübergreifende finanzielle Anreiz- treuung Demenzkranker ist eine Qualitätskontrolle si- strukturen geschaffen werden, um Prävention und Reha- cherzustellen. Die Ergebnisse dieser Qualitätskontrolle bilitation zu fördern. Die Bevölkerung muss mithilfe von müssen der Öffentlichkeit in leicht verständlicher Spra- Aufklärungskampagnen mehr Informationen über das che zugänglich gemacht werden. Die bewertende Institu- Krankheitsbild erhalten. Neben der Aufklärung muss die tion sollte auch Beratungsfunktion vor Ort haben. Sofern Enttabuisierung der Demenzkrankheiten im Mittelpunkt bestehende Institutionen dies nicht leisten können, ist stehen. Wir sind uns einig, dass für pflegende Angehö- der Aufbau neuer Strukturen erforderlich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8177

(A) Wir wollen auf die Situation der jeweiligen Einrich- menzkranke nicht zum Spielball einer einseitigen inter- (C) tung und ihrer Bewohner bezogene Instrumente zur Per- essensgeleiteten Politik werden. sonalbemessung flexibel gestalten. Außerdem sind wir Natürlich wollen und werden wir die Situation der uns einig, dass die Gesetze zur Reform der Alten- und Demenzkranken verbessern, wir werden alle Hilfs-, und Krankenpflegeausbildung so umgesetzt werden müssen, Therapiemöglichkeiten vorurteilsfrei prüfen. Aber eine dass die besonderen Belange Demenzkranker in der Aufhebung der Deckelung ist ein Signal, das kreative Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden. Kennt- Potenziale untergräbt. Wir brauchen eine stärkere nisse, Zusatzqualifikationen oder Spezialisierungen in Vernetzung der Hilfsangebote, eine Förderung des eh- den Bereichen Prävention, Rehabilitation und Palliativ- renamtlichen Engagements, die Verknüpfung von nicht pflege sind notwendig. In Aus- und Weiterbildung sollen medikamentösen und medikamentösen Behandlungsfor- insbesondere solche Pflegekonzepte vermittelt werden, men, aber wir brauchen keine einseitige Aufhebung der die die Möglichkeit der aktiven Teilhabe am täglichen Deckelung, die nur signalisiert, dass hemmungslos zuge- Leben eröffnen. griffen werden kann. In diesen Dingen sind wir uns also größtenteils einig. Demenzkranke brauchen insbesondere soziale Be- Warum, fragt sich also der vernunftbegabte Mensch, wa- treuung und Ansprache, Annahme in ihrer besonderen rum nur macht die CDU einen eigenen Antrag? Wenn Lebenssituation, die nicht durch Sturzhelme, wie auch das Thema nicht so bitterernst wäre, könnte man hier sa- im CDU-Antrag gefordert, „aufgefangen“ wird, sondern gen, dass der CDU-Antrag zur Förderung der Demenz- insbesondere durch menschliche Zuwendung geleistet kranken eine Betroffeneninitiative ist. Die CDU zeigt werden kann. Das ist die gesellschaftliche Herausforde- nämlich erstaunliche Gedächtnislücken, was ihre frühere rung, vor der wir stehen. Haltung zu Initiativen zur Verbesserung der Lebenssitua- tion von Demenzkranken betrifft. Auf alle Fälle ist die- Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ser Antrag der Opposition überflüssig und rein taktisch Bundesregierung weiß, dass angesichts der erwarteten motiviert. Wie eingangs erwähnt, ist nach anfänglicher Zunahme demenzieller Erkrankungen großer Hand- konstruktiver Mitarbeit die Opposition Ende letzten Jah- lungsbedarf besteht, um unsere Gesellschaft auf diese res aus dem Projekt ausgestiegen. Herausforderung vorzubereiten. Deshalb ist die Bundes- Was unterscheidet nun also die beiden Anträge? regierung bereits heute auf vielen Gebieten aktiv, um die Situation demenzkranker Menschen in Deutschland zu Außer, dass im Antrag sehr unfachlich Demenz mit Alz- verbessern. So beschreibt der 2002 erschienene Vierte heimer gleichgesetzt wird, geht es auch um medikamen- Altenbericht der Bundesregierung die Probleme, denen töse Behandlungsmaßnahmen. Was sich hinter der gefor- wir in Zukunft gegenüberstehen werden bzw. zum Teil derten optimalen medikamentösen Behandlung von (B) bereits gegenüberstehen. Außerdem zeigt er Wege auf, (D) Alzheimer im Frühstadium verbirgt, ist dasselbe, was die wie wir als Gesellschaft mit dieser Herausforderung um- FDP forderte, als sie im letzten Jahr die Aufhebung der gehen können. Deckelung der Behandlung von Demenzkranken ver- langt hat: Wertschöpfung auf Kosten der schwächsten Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse arbeitet das Mitglieder unserer Gesellschaft! Niemand wird generell BMGS an Verbesserungen hinsichtlich der Frühbehand- gegen die Verabreichung von Medikamenten sein, wenn lung und Früherkennung von Demenz. In einem ak- sie den Patienten helfen. Das ist selbstverständlich. tuellen Forschungsprojekt des BMGS wird eine „Ge- Wenn wir hier aber von Cholinesterasehemmern und rontopsychiatrische Handreichung für Hausärzte und Actylcholinesterasehemmern reden, empfehle ich, ein Allgemeinmediziner“ erarbeitet. Sie soll die Ärzte beim solches Präparat zu beschaffen und sich den Beipackzet- Umgang mit demenzkranken Menschen unterstützen tel durchzulesen: Abdominale Beschwerden, Verwirrt- und vorhandenes Wissen besser vermitteln. heit, verstärkter Bewegungsdrang und Gedächtnis- Weiterhin fördert das Bundesministerium für Bildung störungen. Das liest sich, als wollten FDP und CDU vor und Forschung das „Kompetenznetz Demenzen“, in dem allem bei Alzheimerpatienten den Teufel mit dem Belze- sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische Zentren bub austreiben. zusammengeschlossen haben. Beteiligt sind auch Kran- Und dabei wissen sie es eigentlich besser: In ihrer kenhäuser, niedergelassene Ärzte, insbesondere All- Antwort auf die Große Anfrage der SPD zum Thema gemeinmediziner, Industrieunternehmen und Patien- „Lage der Demenzkranken in Deutschland“ hatte die tenorganisationen wie beispielsweise die Deutsche schwarz-gelbe Bundesregierung 1996 auf die Frage nach Alzheimer Gesellschaft. Dieses Kompetenznetzwerk ar- medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten Cholin- beitet gegenwärtig an Leitlinien für Diagnostik und The- esterasehemmer ausdrücklich abgelehnt. Begründung: rapie demenzieller Erkrankungen. Ziel ist, die Versor- „Von einem Teil der Patienten wird das Präparat wegen gungsqualität bei Demenz deutlich zu verbessern. Übelkeit und Erbrechen nicht vertragen. Es kann abdo- Diesem Ziel, nämlich der Verbesserung der Versor- minale Beschwerden, Appetitverlust und gelegentliche gungsqualität unter anderem bei Demenzkranken, dient auch die Neuregelung der Altenpflegeausbildung, die vorübergehende Verwirrtheitszustände auslösen. Aus letztes Jahr in Kraft trat. den bisherigen Untersuchungen geht zudem hervor, dass es zu Leberfunktionsstörungen führen kann.“ Der thera- Für die betroffenen demenzkranken Menschen haben peutische Nutzen für eine kleine Gruppe von Patienten wir hinsichtlich ihrer Leistungsansprüche in der Pflege- wird in dieser Antwort nicht bestritten – das tun wir auch versicherung bereits einen ersten Schritt zur Verbesse- nicht. Wir müssen aber sehr darauf Acht geben, dass De- rung der Lage getan. Am 1. Januar 2002 trat das 8178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Pflegeleistungsergänzungsgesetz in Kraft. Seitdem ste- der Pflegeversicherung nicht ausreichend erfasst. Die (C) hen rund 550 000 Pflegebedürftigen mit erheblichem all- besonderen Bedürfnisse zum Beispiel demenzkranker gemeinen Betreuungsbedarf zusätzlich 225 Millionen Menschen werden folglich nicht ausreichend berück- Euro zur Verfügung. Die Neuregelung ermöglicht erst- sichtigt. Das wollen wir ändern. mals die finanzielle Förderung zusätzlicher Versorgungs- angebote und Hilfen für demenzkranke Pflegebedürftige Deshalb ruhen wir uns nicht auf dem bisher Erreich- aus Mitteln der Pflegeversicherung. ten aus. Bei der bevorstehenden Pflegeversicherungsre- form werden wir weitere Schritte unternehmen, um die Diese Beispiele zeigen, dass wir den Handlungsbe- genannten Ziele zu erreichen. Wir werden zusätzliche darf bei demenziellen Erkrankungen erkannt haben und Leistungen unter anderem für Menschen mit Demenz bereits heute daran arbeiten, die Situation zu verbessern. einführen. Das wird dazu führen, dass circa 60 000 Men- Das kann und darf natürlich nicht heißen, dass wir bei schen erstmals Leistungen aus der sozialen Pflegeversi- dem bisher Erreichten stehen bleiben. Im Gegenteil: Wir cherung erhalten. Zahlreiche andere werden höher ein- werden diese Anstrengungen noch weiter vorantreiben; gestuft werden als bisher. Dabei soll es jedoch nicht denn wir wissen, dass Demenz eine der großen Heraus- bleiben. Mittelfristig wollen wir das Einstufungsverfah- forderungen der Zukunft für unser Gesundheitswesen ren so verändern, dass der gesamte Unterstützungsbedarf sein wird. abgebildet wird. Grundlage eines solchen ganzheitlichen Deshalb haben wir hier heute diesen Antrag vorge- Einstufungsverfahrens soll ein erweiterter Pflegebegriff legt. Er beschreibt die Ziele, welche die Bundesregie- sein. rung beim Umgang mit dem Thema Demenz verfolgt. Außerdem skizziert der Antrag die Maßnahmen, die wir Außerdem wollen wir den ambulanten Bereich stär- Schritt für Schritt ergreifen werden, um der gesellschaft- ken, indem wir die ambulanten Leistungssätze in der lichen Herausforderung durch Demenzerkrankungen ge- Pflegeversicherung spürbar anheben. Parallel dazu wer- recht zu werden. den wir überprüfen, inwieweit bestehende gesetzliche Regelungen die Entstehung neuer, innovativer Wohnfor- Ein zentrales Ziel rot-grüner Politik ist es, die Präven- men gerade auch für demenzkranke Menschen behin- tion und Rehabilitation von Pflegebedürftigkeit zu dern. Sollte es hier rechtliche Hindernisse geben, dann fördern. Bezogen auf die Demenzerkrankungen heißt werden wir diese beseitigen. das: Die Krankheit muss möglichst früh erkannt und be- handelt werden. Außerdem müssen die betroffenen Men- Sie sehen also: Wir arbeiten konsequent weiter an der schen möglichst stark aktiviert werden, um das Fort- Verbesserung der Situation demenzkranker Menschen in schreiten der Krankheit zu verhindern. Dazu gehört, dass diesem Land. Von einem Ende der Reformen kann keine (B) sie in einem Umfeld wohnen und leben können, in dem Rede sein. Die Pflegeversicherungsreform wird auch (D) sie ihre verbliebenen Potentziale voll ausschöpfen kön- eine Reform für demenzkranke Menschen sein und sie nen. In diesem Zusammenhang existieren mittlerweile wird definitiv in dieser Legislaturperiode kommen. Da- zahlreiche viel versprechende Projekte zu neuen Wohn- her appelliere ich an die Opposition: Verweigern Sie sich formen, die auch von der Bundesregierung gefördert nicht! Die Menschen in diesem Land brauchen keinen werden. Jetzt kommt es darauf an, diese Angebote in der Parteienstreit beim Thema Pflege. Für taktische Spiele- Breite zu entwickeln. Dabei wollen wir den ambulanten reien taugt dieses Thema nicht. Bereich stärken. Niedrigschwellige Angebote und die Einbindung von Selbsthilfegruppen sind aus unserer Detlef Parr (FDP): Vor über einem Jahr hat die FDP- Sicht unerlässlich, wenn die Versorgungsqualität verbes- Bundestagsfraktion einen Antrag zum Thema Demenz in sert werden soll. den Bundestag eingebracht. Jetzt endlich haben auch die Darüber hinaus ist es uns ein großes Anliegen, Ange- anderen Fraktionen erkannt, dass im Sinne der betroffe- hörige von demenzkranken Menschen zu unterstützen. nen Erkrankten und Angehörigen dringend eine Verbes- Sie werden durch Pflege und Betreuung oft bis an die serung von Früherkennung und Behandlung von De- Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit menz erreicht werden muss. Besser spät als nie. gefordert. Deshalb ist es wichtig, dass entlastende Ver- sorgungsangebote wie zum Beispiel Tages- oder Nacht- In Deutschland leiden schätzungsweise mehr als pflegeeinrichtungen flächendeckend verfügbar gemacht 1,2 Millionen Menschen unter der Alzheimer Krankheit werden. Außerdem brauchen wir gerade im Pflegebe- und anderen Demenzkrankheiten. Mit steigendem Alter reich bessere Informations- und Beratungsangebote. Bei nimmt das Erkrankungsrisiko zu. Weltweit sind 5 Pro- diesen Fragen kann die Bundesregierung jedoch allen- zent der Männer und 6 Prozent der Frauen über 60 davon falls günstige Rahmenbedingungen setzen. Für die kon- direkt betroffen. Über 20 Prozent der Menschen, die äl- krete Umsetzung sind die Länder bzw. die Kommunen ter als 80 Jahre sind, sind allein von der Alzheimer verantwortlich. Krankheit betroffen. Die Last für unser Pflegesystem ist enorm. Die Behandlung eines Patienten, der nicht mehr Wichtig ist darüber hinaus, dass der Pflegebegriff in in der Lage ist, die Alltagsaufgaben zu bewältigen, ist der Pflegeversicherung erweitert wird. Bisher konzen- mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Die triert sich die Pflegeversicherung auf die Unterstützung Auswirkungen der Krankheit spüren nicht nur das Ge- bei körperlichen Verrichtungen, also auf den Ausgleich sundheitssystem, sondern vor allem auch die Familien von körperlichen Defiziten. Menschen, die nur kontinu- und Freunde der Betroffenen. Es ist absehbar, dass auf- ierliche Aufsicht oder Anleitung brauchen, werden von grund der bekannten demographischen Entwicklung in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8179

(A) unserem Land diese Krankheiten eine zunehmende Rolle im Frühstadium. Die Rehabilitation für Demenzkranke (C) in unserer Gesellschaft spielen werden. mit dem Ziel einer Verbesserung des selbstständigen Handelns muss weiterentwickelt werden. Größtmögliche Dabei ist man schon heute mit einfach handhabbaren Selbstbestimmung ist ein Kernziel unserer Bemühungen. und für den Patienten nicht belastenden diagnostischen Wir müssen einen Konsens über einen evidenzbasierten Werkzeugen in der Lage, normale Leistungseinbußen Behandlungskorridor für eine Diagnosekette zur Siche- des Gehirns von krankhaften Störungen zu unterschei- rung einer qualitätsgesicherten Demenzfrüherkennung den. Insbesondere ist die Früherkennung der Alzheimer und -behandlung finden. Krankheit heute ambulant mit einer Trefferquote von über 90 Prozent möglich. Dabei spielen als erste Anlauf- Eine Verbesserung der Ausbildung im gerontopsychia- stelle für Patienten häufig die Hausärzte eine wichtige trischen Bereich und die Entwicklung entsprechender Rolle. Sie sind am ehesten in der Lage, bei langjährigen Fort- und Weiterbildungsangebote für Hausärzte und auf Patienten auch kleinere Veränderungen wahrzunehmen, Demenzdiagnose und -behandlung spezialisierte Fach- die dann von hierauf spezialisierten Fachärzten auf ihre ärzte ist dringend geboten. Eine enge Verzahnung und Ursachen hin untersucht werden müssen. Diese Früher- Kooperation zwischen den einzelnen Versorgungsberei- kennung ermöglicht individuell zugeschnittene Maßnah- chen einschließlich der Pflegeeinrichtungen, in denen men, die für den Patienten einen spürbaren Behand- Demenzkranke behandelt werden, muss geschaffen werden. lungserfolg bewirken können. In der Frühphase und der Die Finanzierung der ärztlichen Leistungen außerhalb mittleren Phase kann eine kombinierte Behandlung mit der gedeckelten Gesamtvergütung und Herausnahme der Antidementiva und aktivierenden Maßnahmen im Hin- für Vorsorge und Therapie von Demenzerkrankungen blick auf die Hirnleistung, also eine Kombination von benötigten Arzneimittel aus den Richtgrößenvereinba- medikamentöser und nicht medikamentöser Behand- rungen muss sichergestellt werden. lung, das weitere Fortschreiten der Krankheit deutlich Dass diese Forderungen berechtigt sind, hat die An- hinauszögern. Dass dies möglichst gut gelingt, ist nicht hörung im letzten Jahr bestätigt. Der SPD-Antrag be- nur für die Familie wichtig, sondern könnte auch unser weist, dass die Regierungspartei zwar die Notwendigkeit Pflegesystem entlasten. erkennt, dass wir uns um die Demenzkranken kümmern Aber in Deutschland ist in naher Zukunft ein flächen- müssen, sie aber die Frage der Finanzierung der notwen- deckender Pflegepersonalmangel zu erwarten. Die pfle- digen medikamentösen und nicht medikamentösen The- gerische Versorgung der Bürger und Bürgerinnen ist ge- rapie nicht löst. Mehr Kontrolle, Qualitätszirkel, Assess- fährlich infrage gestellt. Personelle Engpässe, steigende ments sind ihre Forderungen. Kurz: Wieder einmal mehr Arbeitsbelastung und abnehmende Eignung der Bewer- Regulierung und Bürokratie sind ihre für mich unbefrie- digenden Antworten. (B) ber werden vorausgesagt. (D) Die Früherkennung und Frühbehandlung von De- Die Anhörung und die Debatten im Ausschuss wer- menzkrankheiten kann helfen, diese Probleme zu ver- den zeigen, wie unsere jeweiligen Anträge zu werten mindern. Wenn die Betroffenen länger in ihren Familien sind und wie wir im Sinne der Patienten und Angehöri- oder auch allein leben können, ist das mit einem deutli- gen zu einem Abschluss kommen, der tatsächlich eine chen Zuwachs an Lebensqualität bei gleichzeitiger Re- Verbesserung der Situation der Demenzkranken bewir- duzierung von Pflegekosten verbunden. ken kann. Die Demenzfrüherkennung muss optimiert werden, um den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die Anlage 8 Möglichkeit zu geben, selbst etwas für ihre Gesunder- haltung zu tun, über eine frühzeitige Behandlung mög- Zu Protokoll gegebene Reden lichst lange ein eigenständiges Leben zu führen und die zur Beratung des Antrags: Konsequenzen aus eigene Lebensqualität zu verbessern. Dresdener Bombenfund ziehen (Tagesord- Die Forderungen der FDP sind klar, präzise und im nungspunkt 15) Sinne der Demenzkranken und derjenigen, die diese Krankheit in Zukunft erleiden müssen: Wir brauchen Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Ich frage mich, eine Intensivierung der Versorgungs- und Ursachenfor- wieso man diesen Antrag überhaupt im Plenum debat- schung auf dem Gebiet der Demenzerkrankung. Bereits tiert. Da werden Forderungen an die Bundesregierung vorhandene Behandlungsansätze müssen weiter unter- gerichtet, über die ich nur den Kopf schütteln kann: zum sucht und die Entwicklung von Methoden zur Verhinde- Beispiel eine spezifizierte Gefährdungsanalyse zu erstel- rung bzw. zum Hinauszögern von Demenzerkrankungen len. Diese Arbeit ist das tägliche Brot jeder Polizei auf gefördert werden. jeder Ebene. Zu der Aufforderung an die Bundesregie- rung, für eine umfassende Aufklärung und Sensibilisie- Ein flächendeckendes und qualitätsgesichertes Früh- rung zu sorgen, die Mitarbeit der Bevölkerung zu akti- erkennungsprogramm muss aufgebaut, etabliert und fi- vieren: Das gehört zum täglichen Brot von Polizei, von nanziert werden. Validierte Früherkennungsuntersu- Verantwortlichen in der Bundespolitik, in der Landespo- chungen vermeiden spätere hohe Kosten. Es ist sinnvoll litik, in der Kommunalpolitik. für die Kassen, rechtzeitig zu investieren. Wir brauchen eine Unterstützung und Förderung nicht medikamentö- Am 6. Juni 2003 wurde auf dem Dresdner Haupt- ser Behandlungsmaßnahmen für Demenzerkrankte auch bahnhof eine Kofferbombe aufgefunden und entschärft. 8180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Am 24. Juni 2003 stellt die CDU diesen Antrag und Der Bombenfund von Dresden hat uns allen deutlich (C) bringt ihn in Zusammenhang damit, dass Deutschland gemacht: Deutschland ist nicht länger nur Zuschauer ter- offensichtlich Zielland von Terroristen sei. Das einzige, roristischer Greueltaten in aller Welt. Deutschland ist was zu diesem Zeitpunkt feststand, war, dass ein terro- selbst ein Ziel terroristischer Aktivitäten. Wir sind hier ristischer Hintergrund nicht auszuschließen ist. Im nicht eine Insel der Seligen, nicht abseits vom Weltge- September wurde als Täter für diese Kofferbombe ein schehen, sondern mittendrin. Dieser Einsicht in die 62-jähriger Finanz- und Immobilienmakler aus dem neuen Risiken müssen aber auch sicherheitspolitische Vogtland verhaftet. Der Tat lag ein Erpressungsversuch Konsequenzen folgen. gegen die Deutsche Bank zugrunde. Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits im Juni 2003, un- Das alles interessiert die CDU/CSU-Fraktion aber mittelbar nach dem Dresdener Bombenfund, reagiert nicht. Ihr geht es darum: Angst schüren, die Bevölke- und den heute zu beratenden Antrag eingebracht. Unsere rung verunsichern, die Bundesregierung verunglimpfen zentrale Forderung lautet, dass an allen risikosensiblen und absolute Sicherheit fordern. So tönt es aus ihren Rei- und gefährdeten Orten mit erhöhtem Publikumsverkehr hen. wie Flughäfen, Bahnhöfen und Seehäfen unverzüglich Videoanlagen mit Tag- und Nachtbetrieb eingerichtet Wir sagen: Abklären, analysieren, das Richtige tun. werden. Die Aufzeichnungen sollen der Aufklärung und Das haben wir gemacht, das hat die Bundesregierung ge- Verhinderung von Straftaten dienen. Sie sind unverzüg- macht. Das ist ihr täglich Brot. lich zu löschen, sobald sie nicht mehr benötigt werden. Dabei ist der Austausch der Daten mit Bundesgrenz- Der Bundesgrenzschutz hat gemäß § 27 Bundes- schutz und Landespolizeien zu gewährleisten. Außer- grenzschutzgesetz die rechtliche Möglichkeit, selbst- dem fordern wir die Bundesregierung auf, über eine um- tätige Bildaufnahme- und Bildaufzeichnungsgeräte auf fassende Aufklärung und Sensibilisierung die Mitarbeit Bahnhöfen und Flughäfen einzusetzen, um Gefahren der Bevölkerung zu aktivieren und eine Gefährdungs- von Benutzern der Anlagen oder Einrichtungen der Ei- analyse vorzulegen. senbahnen des Bundes abzuwehren. Diese Möglichkeit nutzt der Bundesgrenzschutz zum Beispiel in enger Zu- Im Zentrum unserer Forderungen steht die flächende- sammenarbeit mit der Deutschen Bahn AG. Auf nahezu ckende und permanente Videoüberwachung an an- allen großen Bahnhöfen befinden sich erkennbar instal- schlagsrelevanten Orten. Sie hat zwei Vorteile. Erstens lierte Kameras. Nach dem Auffinden des Sprengsatzes könnte der BGS bei Verdacht die Bänder anfordern und auf dem Hauptbahnhof Dresden wurde die Überwa- innerhalb kürzester Zeit den Täter ermitteln. Wie Sie chung der einzelnen Bahnhöfe nochmals intensiviert. sich erinnern, nahm die Ermittlung des Täters von Dres- (B) Auch in Zukunft wird der Bundesgrenzschutz selbst- den damals über zwei Wochen in Anspruch. Zweitens (D) tätige Bildaufnahmegeräte einsetzen und die Aufnah- hätte die Installierung von Videokameras aber auch eine men, soweit zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung abschreckende Wirkung – nicht nur für terroristische notwendig und erforderlich, auch aufzeichnen. Aktivitäten, sondern auch für kriminelle Aktivitäten jed- weder Art. Die sächsische Polizei hat mit der Überwa- Der Bundesgrenzschutz leistet hier gute und professi- chung des Bahnhofsvorplatzes in Leipzig dort inzwi- onelle Arbeit. Ihre Forderung an die Bundesregierung ist schen auch die Klein- und Drogenkriminalität völlig eine verklausulierte Kritik am Bundesgrenzschutz, die gebannt. jeder Grundlage entbehrt und die ich zurückweise. Die Forderung der Union an die Bundesregierung, Gefähr- Zweifellos ist dabei das Bundesdatenschutzgesetz zu dungsanalysen zu erstellen, bei risikosensiblen Orten, beachten. Es sind allerdings in der Zwischenzeit all die- wie Bahnhöfen, Flughäfen und Seehäfen, Videoauf- jenigen Lügen gestraft worden, die von Anfang an be- zeichnungen zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung haupteten, unser Antrag sei mit dem Datenschutz nicht rund um die Uhr zu betreiben und für einen Datenaus- in Übereinstimmung zu bringen. Das Gegenteil ist der tausch zu sorgen, geht ins Leere. Fall: Der Dresdener Bahnhof wird bereits seit kurzem vi- deoüberwacht. Am vergangenen Freitag hat der Bundes- Ihr Antrag ist lediglich geeignet gewesen, um Presse- innenminister Schily gemeinsam mit dem sächsischen erklärungen absetzen zu können, aber völlig ungeeignet Innenminister Rasch die Anlage inspiziert. Beide bekräf- für Aktivitäten des Deutschen Bundestages und der Bun- tigten, dass eine permanente Bildaufzeichnung mit desregierung. Ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Überschreibung der Bilder in einem Zeitraum von 48 Stunden rechtlich zulässig und sicherheitspolitisch dringend geboten ist. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt Günter Baumann (CDU/CSU): Am Freitag vor es, daß gerade in Dresden eben jene Sicherheitsstandards Pfingsten vergangenen Jahres sind Hunderte von Men- auf den Weg gebracht worden sind, die wir seit langem schen im Dresdener Hauptbahnhof knapp einer Katastro- fordern. Und dennoch fragen wir uns – und mit uns die phe entgangen. Auf einem Bahnsteig war ein herrenloser Bürger in unserem Land –, warum es ein Dreivierteljahr Koffer aufgefallen. Wie sich später herausstellte, enthielt dauert, bis die Politik endlich Maßnahmen ergreift. er eine Kofferbombe mit TNT-Sprengstoff. Wäre er ge- zündet worden, hätte es ein furchtbares Blutbad gege- Möglicherweise liegt das auch an den rechtlich kom- ben. Nur die Wachsamkeit eines Bahnangestellten und plizierten Befugnissen von Landespolizei, Bundespoli- der professionelle Einsatz des Bundesgrenzschutzes hat zei und Bahn AG. Die Landespolizeien haben nur die uns davor bewahrt. Überwachungskompetenz für die Bahnhofsvorplätze. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8181

(A) Der BGS dagegen hat Kontrollbefugnisse in den Bahn- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE (C) hofsgebäuden. Punktuell, etwa bei Bahnreisen gewaltbe- GRÜNEN): Der Bombenfund auf dem Dresdener Bahn- reiter Fußballfans, übt der BGS diese Befugnis schon hof hat uns vor Augen geführt: Wir sind auch in seit langem auch mit Videokameras aus. Der Bund kann Deutschland vor Anschlägen nicht sicher. Deutlich ge- aber nicht die Installierung permanenter Videoüberwa- worden ist allerdings auch, Videokameras verhindern chungsanlagen im Bahnhofsgebäude verordnen. Denn solche Anschläge nicht. Es waren die wachsamen im Gebäude gilt das Hausrecht der Deutschen Bahn AG. menschlichen Augen, die den verdächtigen Koffer ent- deckten. Wir müssen daher heute fragen, wie kooperativ sich Die CDU kommt heute mit einem Antrag, der Dinge die Deutsche Bahn AG in den vergangenen Monaten fordert, die längst gemacht werden oder die sich zwar verhalten hat. Die Antwort lautet, daß die Bahn AG schön anhören, aber nicht mehr Sicherheit bringen. Ih- lange Zeit als Bremser aufgetreten ist und kategorisch nen ist offensichtlich jedes Ereignis recht, schärfere die Videoüberwachung aus Datenschutzgründen abge- Maßnahmen zu fordern. Mit Ihren Anträgen produzieren lehnt hat. Erst in jüngerer Zeit gibt sie zu, dass die si- Sie hier am laufenden Band Scheinsicherheit. In Wirk- cherheitspolitische Notwendigkeit der Videoüberwa- lichkeit geht es Ihnen um nichts anderes als um die ei- chung auch mit den Erfordernissen des Datenschutzes gene Profilierung. vereinbart werden kann. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, was bereits Stan- Es liegt mir aber fern, der Deutschen Bahn, die das dard ist: Es gibt bereits eine ständige Bewertung der ak- Hausrecht in den Bahnhöfen ausübt, allein den schwar- tuellen Gefährdungssituation mit allen beteiligten Si- zen Peter zuzuschieben. Schließlich ist der Bund Mehr- cherheitsbehörden. Die technischen Voraussetzungen, heitsaktionär der Deutschen Bahn. Mir scheint, dass er um die Bilddaten aller Kameras an den gesetzlich er- seinen Einfluss alles andere als optimal ausgenutzt hat. laubten Orten aufzuzeichnen, sind bereits geschaffen Sicherheitspolitisch haben wir wieder viel Zeit verloren. worden. Diese Bilddaten werden bereits anlassbezogen den Länderpolizeien zur Strafverfolgung zur Verfügung Es ist zudem äußerst unbefriedigend, wenn Innenmi- gestellt. nister Schily neun Monate nach dem Dresdener Bom- Wenn Sie sich einmal die Mühe machten, sich zu in- benfund in einer Pressemitteilung verkündet „Videoauf- formieren, dann könnten Sie vielleicht einsehen, dass zeichnung verbessert Sicherheit auf Bahnhöfen“, er aber wir solche Anträge der Union nicht brauchen. Sie steh- keinerlei Auskunft darüber gibt, ob an den großen Bahn- len uns die Zeit und sie halten uns von sinnvoller Arbeit höfen in Deutschland von dieser Möglichkeit bereits flä- ab. (B) chendeckend Gebrauch gemacht wird. Dies ist ganz of- (D) fensichtlich nicht der Fall. Bei Dresden dürfte es sich Ich komme jetzt noch einmal zu Ihrem Lieb- vielmehr um ein Pilotprojekt handeln. lingsthema, die Videoüberwachung. In Bund und Län- dern boomt derzeit die Ausdehnung der Videoüberwa- Aus diesem Grund fordert die CDU/CSU einen Be- chung. An allen möglichen und unmöglichen Orten im richt über die Gefährdungslage und eine systematische öffentlichen Raum werden Kameras installiert – meist Auflistung aller bereits eingeleiteten und noch einzulei- ohne Sinn und Verstand, meist ohne Konzept. tenden Maßnahmen. In diesem Zusammenhang muß der Auf der ersten internationalen Konferenz des Center Bundesinnenminister das Parlament auch über die for Criminological Research in Sheffield im Januar die- Gründe der Verzögerung aufklären. Rechtlicher Art ses Jahres wurden die Forschungsergebnisse zur Video- dürften diese Gründe nicht sein: Der Deutschen Bahn ist überwachung in England vorgestellt. Sie sind ernüch- die die permanente Videoüberwachung ebenso erlaubt ternd und ich wünsche mir auch hier in Deutschland wie jeder Tankstelle. mehr wissenschaftliche Untersuchungen zur Videoüber- wachung. Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher den Bundesin- nenminister auf, in Kooperation mit der Bahn das recht- Die Forschung kommt zu dem Ergebnis: Eine Kamera lich Mögliche umzusetzen. Sollte sich dabei herausstel- macht nur Sinn, wenn hinter ihr auch ein sachkundiger len, daß die Verhandlungen am Unwillen der Deutschen Beamter sitzt, der angemessen und situationsgerecht rea- Bahn scheitern, bliebe dem Bund nur eine Alternative: gieren kann. Kameras machen nur an ganz bestimmten, Dann müsste das Bundesgrenzschutzgesetz den Risiken vorsichtig ausgewählten Orten Sinn, wenn sie in ein um- unserer Zeit angepasst und der Bund zu den erforderli- fassendes Sicherheitskonzept integriert sind. „Technolo- chen Maßnahmen ermächtigt werden. Sollte der Innen- gie als Lösung“ heißt in vielen Fällen: Viel Geld wird minister an einem besseren Bevölkerungsschutz wirklich unsinnig ausgegeben, der Zweck wird nicht erfüllt. interessiert sein, wird sich die Union ihrer staatspoliti- Über das Thema Sicherheit in Seehäfen werden wir scher Verantwortung nicht verschließen und ihm volle intensiv zu reden haben. Es ist viel komplexer als in Ih- Rückendeckung geben. Die Union ist die Partei des rem Antrag angesprochen. Hier ist es nicht mit ein paar Rechtsstaates und der inneren Sicherheit. Dazu gehört Spiegelstrichen getan. Ich kann Ihnen versichern, die für uns das Grundrecht der Bürger auf Sicherheit und Bundesregierung arbeitet auch intensiv an diesem Schutz vor Kriminalität und Terrorismus in allen Er- Thema. Wir brauchen auch hier keine Nachhilfe von der scheinungsformen. Opposition. 8182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Dr. Max Stadler (FDP): Der heute zu beratende An- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) trag der CDU/CSU befasst sich mit dem Bombenfund im desminister des Innern: Die Sicherheit der Bevölkerung, Dresdener Hauptbahnhof an Pfingsten 2002. Es wird ge- insbesondere an exponierten Orten wie Bahnhöfen, ist fordert, die Sicherheit auf Bahnhöfen zu verbessern und für die Bundesregierung von hoher Bedeutung. Im Rah- insgesamt die Videoüberwachung gefährdeter öffentli- men der bundespolizeilichen Zuständigkeit haben wir cher Plätze auszuweiten. Glücklicherweise wurde der nicht erst seit dem Fund der Bombe auf dem Hauptbahn- Koffer mit Sprengstoff in Dresden noch rechtzeitig ge- hof Dresden vielfältige Anstrengungen unternommen, funden, bevor eine Katastrophe eingetreten ist. Es stellt um mögliche Gefahren abzuwehren oder zu verhindern. sich allerdings die Frage, ob mit einer besseren Video- Noch vor dem Fund der Bombe auf dem Hauptbahn- überwachung dieser Vorfall tatsächlich hätte verhindert hof Dresden hat der Bundesgrenzschutz gemeinsam mit werden können. Dies müsste erst einmal näher unter- der Konzernsicherheit der DB AG ein Verfahren entwi- sucht werden. ckelt, das zusätzlich auch die Angestellten der DB AG Unabhängig davon hat die FDP-Bundestagsfraktion für dieses Thema sensibilisiert und ein gemeinsames und zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze stets nicht klar strukturiertes Verfahren zur Behandlung derartiger etwa eine grundsätzlich ablehnende Position vertreten, Situationen vorgibt. sondern schon immer eine differenzierte Meinung ge- Der Videoüberwachung kommt im Rahmen der bahn- habt. Bahnhöfe wie der Dresdener Hauptbahnhof gehö- polizeilichen Arbeit des BGS eine besondere Bedeutung ren ohne Zweifel zu den besonders gefährdeten Objek- zu. Sie ist ein wichtiges Unterstützungsinstrument prä- ten. Dies gilt sowohl in Bezug auf Anschläge als auch ventiver und ermittlungstaktischer Arbeit. Beamtinnen hinsichtlich sonstiger Kriminalität wie zum Beispiel Ta- und Beamte des BGS sind bereits seit 1998 im Rahmen schendiebstähle. Deshalb ist die Videoüberwachung sol- des Sicherheitskonzepts „Sauberkeit – Sicherheit – cher Bahnhöfe längst Alltagspraxis. Das Bundesdaten- Service“ der DB AG in den so genannten 3-S-Zentralen schutzgesetz regelt in ausreichender Weise Zulässigkeit an Großbahnhöfen zur Videoüberwachung eingesetzt. und Modalitäten. Eine Gesetzesänderung ist nicht erfor- derlich. Ebenso ist beispielsweise die Überwachung von Nach dem Fund der Bombe auf dem Hauptbahnhof U-Bahnhöfen längst eine Routinemaßnahme und trägt Dresden im Juni 2003 hat der BGS verschiedene Maß- zur Erhöhung des subjektiven Sicherheitsgefühls der nahmen in enger Abstimmung mit den Polizeien der Bürgerinnen und Bürger und der objektiven Sicherheit Länder sowie der DB AG intensiviert. Dazu gehören bei. verbesserte Verfahrensabsprachen mit den Landespoli- zeien, vor allem aber der Einsatz moderner Technik. Umgekehrt muss aber wesentlich sensibler, als dies Hierdurch können mögliche Gefahren, zum Beispiel bei (B) im Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Aus- sprengstoffverdächtigen Gegenständen, eher erkannt und (D) druck kommt, auch über die Grenzen von Videoüberwa- umgehend abgewehrt werden. Dazu gehört auch eine chungen in einem Rechtsstaat nachgedacht werden. Die ständige Bewertung der aktuellen Gefährdungssituation FDP hat daher stets eine flächendeckende Videoüberwa- durch alle beteiligten Sicherheitsbehörden. chung abgelehnt. Ein übertriebener Einsatz dieser Tech- nik ist für uns in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht Die Kamerabilder, die in den 3-S-Zentralen auflaufen, vorstellbar. werden rund um die Uhr für den BGS aufgezeichnet. Selbstverständlich werden diese Bilder, sofern sie nicht Zudem stellen sich auch praktische Probleme. In einer für polizeiliche Ermittlungen benötigt werden, wieder Anhörung des Innenausschusses aus der letzten Legisla- gelöscht. Die Aufzeichnungen helfen dem BGS, ver- turperiode hat sich eindeutig gezeigt, dass als Ergebnis meintliche oder tatsächliche Gefahrensituationen, aber von Videoüberwachungen häufig nur die Verlagerung auch Straftaten schnellstmöglich aufzuklären. Mittler- von Kriminalität auf andere Tatorte stattfindet. Gerade weile kann der BGS nicht nur auf nahezu allen großen ein Modellversuch in Bayern, dessen CSU-geführte Bahnhöfen, sondern auch auf zahlreichen kleineren Staatsregierung sehr auf die Ausdehnung der Videoüber- Bahnhöfen und Haltepunkten auf solche Aufzeichnun- wachung setzt, hat in Regensburg keine besonders guten gen zurückgreifen. Auch dies ist ein weiteres Beispiel praktischen Erfahrungen gebracht. für die gute und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwi- schen der DB AG und dem BGS. Deshalb ist es der richtige Weg, diejenigen öffentli- chen Plätze, bei denen wegen einer besonderen Gefähr- Der Landespolizei wird darüber hinaus anlassbezogen dungslage oder wegen einer besonderen Häufung von entsprechendes Datenmaterial, insbesondere zur Straf- Straftaten eine Videoüberwachung in Betracht kommt, verfolgung, zur Verfügung gestellt. sehr sorgfältig auszuwählen. Selbstverständlich sind hin- Herr Minister Schily hat sich am 6. Februar 2004 ge- sichtlich der Datenspeicherung und Datenverwertung die meinsam mit seinem Amtskollegen aus Sachsen und hohen Schutzstandards des deutschen Datenschutzrech- Vertretern der DB AG vor Ort in Dresden ein Bild von tes zu beachten. der Leistungsfähigkeit der Videoüberwachung auf Bahn- höfen machen können. Sie können sicher sein, dass der Insgesamt gilt aber: Die Videoüberwachung ist in BGS mit diesem technischen Hilfsmittel einen sehr ho- manchen Fällen eine nützliche ergänzende polizeiliche hen Sicherheitsstandard setzt. Maßnahme. Noch besser als der Einsatz von Technik ist aber die persönliche Präsenz von Polizeibeamten an Ge- Die in dem Antrag der CDU/CSU aufgestellten For- fährdungs- und Kriminalitätsschwerpunkten. derungen gehen ins Leere. Auf den Verkehrsflughäfen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8183

(A) findet Videoüberwachung in den Bereichen, für die das zessiven wirtschaftlichen Entwicklung in Polen und (C) Bundesministerium des Innern im Rahmen der Luftsi- Deutschland liegt. cherheit Verantwortung trägt, schon lange statt. Auch die Forderungen zur Erstellung von Gefährdungsanalysen, Was die ins Feld geführten neuen Institutionen an- der Gewährleistung eines Datenaustausches und einer geht, so sind sie noch nicht einmal ansatzweise so erfah- regelmäßigen Information der Bevölkerung über aktu- ren und schlagkräftig wie die TWG und greifen häufig elle Erkenntnisse sind überholt. Für die Forderung nach sogar auf deren Unterstützung zurück. Videoüberwachung in den Seehäfen ist die Bundesregie- Weder honoriert noch anerkannt wird zudem das An- rung hingegen der falsche Adressat. gebot der TWG, künftig einen erheblichen Teil ihrer Mit- Sie können versichert sein, dass sowohl der Bundes- tel selbst zu erwirtschaften und dadurch ab 2005 mit der innenminister selbst als auch die Sicherheitsbehörden Hälfte der bisherigen Fördermittel auskommen zu wol- des Bundes alle Anstrengungen unternehmen, um unse- len. rer Bevölkerung den größtmöglichen Schutz zu gewäh- Während Brandenburg und Berlin einerseits für frag- ren. würdige Investitionen viele Millionen Euro in den Sand setzen, stellen sie sich andererseits bei vergleichsweise bescheidenen 70 000 Euro pro Jahr, die nachweislich für Anlage 9 sie einen Mehrwert bringen, quer. Das ist nicht nachvoll- ziehbar. Zu Protokoll gegebene Reden Ich halte es für sehr bedauerlich, dass sich die Länder zur Beratung des Antrags: Deutsch-Polnische Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sowie die Bun- Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG erhalten desregierung aufgrund der Verweigerungshaltung von (Tagesordnungspunkt 16) Brandenburg und Berlin ebenfalls aus der Finanzierung zurückziehen wollen, womit das Ende der Gesellschaft Jürgen Türk (FDP): Aus Sicht der Wirtschaft, bei- besiegelt sein dürfte – wenn nicht noch ein Wunder ge- spielsweise eines bedeutenden Arbeitgebers in Branden- schieht, auf das, wie mir bekannt ist, auch Kollegen bei burg, der Raffinerie in Schwedt, ist es ein völlig falsches der SPD hoffen. Signal zum falschen Zeitpunkt, die Deutsch-polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG, kurz TWG, Ende Das Wunder könnte zum Beispiel darin bestehen, dieses Jahres zu liquidieren. Der Geschäftsführer der dass Brandenburg und Berlin doch noch einlenken, oder Raffinerie hat dies dem brandenburgischen Wirtschafts- darin, dass sich die Bundesregierung nicht hinter den minister auch schwarz auf weiß mitgeteilt. Ergebnis: zahlungsunwilligen Ländern versteckt und die (D) (B) Keine Reaktion. 307 000 Euro, die sie für die TWG ohnehin bereits für die Haushalte 2005 und 2006 eingeplant hat, locker- Die TWG, die von den Ländern Brandenburg, Berlin, macht. Auf diese Weise würde sie auch verhindern, dass Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Bun- die polnische Regierung, die die einzige binational be- desregierung und Polen finanziert wird, hat seit ihrer triebene und unterhaltene Wirtschaftsförderungsgesell- Gründung 1994 rund 9 400 mittelständische Unterneh- schaft gern fortgeführt sähe, vor den Kopf gestoßen men in ihren grenzüberschreitenden Vorhaben unter- wird. Und das dürfte im Zeichen der Erweiterung nun stützt. Sie hat zahlreiche Ex- und Importgeschäfte, wahrlich kein gutes Signal sein. gewerbliche Kooperationen sowie Joint Ventures vermit- telt, ferner hunderte Kooperationsreisen, Unternehmer- Aus allen diesen Gründen bitte ich Sie darum, unse- reisen und Informationsveranstaltungen durchgeführt. rem Antrag zuzustimmen. Sie betreibt zudem ein viel genutztes Internetportal für deutsche Unternehmer über den Wirtschaftsstandort Po- Christian Müller (Zittau) (SPD): Jenseits der Be- len. handlung des vorliegenden Antrags steht außer Zweifel, Jetzt meinen einige Kritiker, die vor allem in den no- dass die TWG in den zurückliegenden zehn Jahren, also torisch klammen und wirtschaftlich nicht eben erfolg- seit ihrer Gründung, sehr erfolgreich war. Dies wird im reich agierenden Ländern Brandenburg und Berlin Eingangsteil des Antrags zu Recht gewürdigt. Darüber sitzen, dass dies alles nicht mehr nötig sei, weil Polen hinausreichende positive Referenzen seitens der regiona- bald Teil der EU sei, weil in letzter Zeit nicht mehr ganz len Kammern und einzelner Unternehmer sind bekannt so viele Joint Ventures zustande gekommen seien wie in und sollen hiermit erwähnt werden. Derzeit nehmen mit den Anfangsjahren der TWG und weil sich neue Institu- 68 Prozent des gesamten Aufkommens die Anfragen aus tionen der deutsch-polnischen Wirtschaftsförderung in anderen, also den Nicht-Aktionärsländern der Gesell- Brandenburg und Berlin etabliert haben. schaft zu, während die aus den ostdeutschen Ländern nicht abnehmen. Darin spiegelt sich das zunehmende In- Dass im Vorfeld der Osterweiterung die Zahl der Rat teresse am polnischen Markt und an der bevorstehenden und Hilfe suchenden Firmen bei der TWG beständig ge- Erweiterung der EU wider. Dabei erstrecken sich die Be- stiegen ist – statt durchschnittlich 100 Unternehmen pro ratungsleistungen der TWG nicht nur auf das wirtschaft- Monat melden sich derzeit rund 140 Unternehmen –, liche Umfeld, sondern auch auf zu beachtende kulturelle ignorieren sie. Ebenso können oder wollen sie nicht zur Unterschiede, die für ein erfolgreiches geschäftliches Kenntnis nehmen, dass die Ursache für die geringere Agieren nicht unwesentlich sind. Also gäbe es, gerade Zahl an zustande gekommenen Joint Ventures in der re- auch wegen der EU-Erweiterung, genügend gute 8184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Gründe, dieses mittelstandsfreundliche und vergleichs- nem Antwortschreiben an seinen zuständigen Kollegen (C) weise billige Instrument einer gezielten Beratung für ei- in Warschau erläutert. Damit ist die nötige Klarheit vor- nen interessanten Markt beizubehalten. handen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anteilseigner dazu auch bereit sind. Auf polnischer Seite scheint dies Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Heute sind es noch grundsätzlich der Fall zu sein. Der polnische Staat hält 78 Tage bis zur Osterweiterung der Europäischen Union 50 Prozent der Anteile an der Gesellschaft und hat wohl bzw. Einigung Europas. Für Deutschland und für Europa angeboten, seinen Anteil an der Finanzierung auch über ist dies ein historischer Schritt, der zur Sicherung von das Jahr 2004 hinaus beizubringen. Demgegenüber stellt Frieden und Freiheit beiträgt. Die EU-Erweiterung hat sich die Situation auf der deutschen Seite, schon wegen Auswirkungen auf alle Bereiche unserer Gesellschaft. der Zusammensetzung der Anteilseigner und der Finan- Insbesondere der Wirtschaft bietet dieser Prozess zahl- zierungsstruktur, anders dar. Anteilseigner sind die Bun- reiche Chancen. Neue Märkte können erschlossen wer- desländer Brandenburg mit 24,69 Prozent, Berlin mit den, Kooperations- und Handelspartner sind zu gewin- 24,69 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern mit 0,31 Pro- nen und Joint Ventures sollen verstärkt abgeschlossen zent und Sachsen mit 0,31 Prozent. Der Bund hatte, ob- werden. Die EU-Erweiterung birgt aber auch Risiken. wohl er nicht an der Gesellschaft beteiligt ist, bei deren Gerade kleine und mittelständische Unternehmen, vor Gründung im Sinne einer Vorbeitrittshilfe bis 2004 eine allem in den Grenzregionen zu den Beitrittsländern, ste- degressive und befristete Mitfinanzierung zur Verfügung hen vor großen Herausforderungen. Das anhaltende gestellt – 32 Prozent, 2003 und 2004 je 307 000 Euro – Lohn- und Wohlstandsgefälle zu den neuen Mitglied- und war prinzipiell offen für eine Fortsetzung. staaten schafft einen erheblichen Konkurrenzdruck. Das Fördergefalle von Ost nach West wird die schwierige Leider sind die Anteilseigner, offenbar aufgrund ver- wirtschaftliche Situation verschärfen. änderter eigener Prioritäten, zu der Auffassung gelangt, Ende 2004 ihrerseits die Finanzierung der Gesellschaft In den brisanten Bereichen der Arbeitnehmerfreizü- einzustellen. Bereits am 9. Januar haben sie im Auf- gigkeit und der Dienstleistungsfreiheit wurden mit den sichtsrat der TWG einen Kompromissvorschlag zur Re- Beitrittsstaaten Übergangsfristen vereinbart. Sie können duzierung der Länderanteile auf jeweils 70 000 Euro bei bis zu sieben Jahren gelten. Ob diese voll ausgeschöpft Verlängerung des Zuwendungszeitraumes um zwei Jahre werden, ist heute noch nicht abzusehen. Solche Regelun- abgelehnt und dies am 5. Februar nochmals bekräftigt. gen dürfen jedoch nicht zur Folge haben, dass ein Zu- Nach den Vorstellungen der Anteilseigner soll die TWG sammenführen der Arbeitsmärkte behindert oder sogar künftig bei Ausschreibungen für Projekte berücksichtigt blockiert wird. Die jetzt vereinbarten Übergangsfristen müssen genutzt werden, das Verbinden der Arbeits- (B) werden. Damit solle insgesamt eine Umstellung der (D) TWG auf Projektfinanzierung erfolgen. märkte zu gestalten. Wir alle kennen den Druck aus Tschechien und Polen, aber auch aus der Wirtschaft, die Der vorliegende FDP-Antrag fordert demgegenüber, solche Regelungen nicht wünscht. der Bund möge ab 2005 den gesamten deutschen Anteil an der Finanzierung der Gesellschaft in Höhe von Das Lohn- und Wohlstandsgefälle wird auch nach 950 000 Euro übernehmen und die Finanzierung der Ablauf der Fristen nicht vollständig überwunden sein. TWG bis 2010 bei Erhöhung der eigenen Einnahmen auf Die Unternehmen müssen sich auf die EU-Erweiterung 20 Prozent des Gesamtfinanzierungsbedarfs sichern. vorbereiten, soweit dies bis jetzt nicht geschehen ist. Die mittelständischen Unternehmen, vorwiegend aus dem Dies ist angesichts der klaren, allerdings bedauerli- Bereich des Handwerks in den Grenzregionen, sind be- chen Position der deutschen Anteilseigner nicht mög- sonders gefordert. Die Markterschließung in Richtung lich. Der Bund hatte immer zu Recht darauf hingewie- Osten stellt viele Betriebe vor enorme Herausforderun- sen, dass er bei einem Ausstieg der Länder aus der gen. Neue Vertriebswege, andere gesetzliche Bestim- Finanzierung der TWG nicht an deren Stelle treten mungen und vor allem die Sprachbarriere sind gerade für würde. kleine und mittelständische Unternehmen erhebliche Hindernisse. Einrichtungen wie die Deutsch-Polnische Angesichts der mittelständischen Interessen hinsicht- Wirtschaftsförderungsgesellschaft geben den Betrieben lich des polnischen Marktes ist die entstandene Situation in diesem Prozess entscheidende Hilfestellungen. tatsächlich zu bedauern, aber eindeutig auf die nicht vor- handene Bereitschaft zur Finanzierung – 70 000 Euro – Diese Gesellschaft kann in den letzten Jahren auf eine sollten auch bei einem engen Landeshaushalt für den ei- beachtliche Erfolgsbilanz verweisen. 9 300 Unterneh- genen Mittelstand ausgegeben werden können – der vier men, Institutionen und Kommunen haben bei der Gesell- deutschen Gesellschafter der TWG zurückzuführen. In- schaft Rat und Unterstützung gefunden. Sie hat 180 Joint sofern kann der Antrag der FDP-Fraktion nur abgelehnt Ventures befördert und war an 170 Kooperationsverein- werden. barungen beteiligt. Mehr als 1 000 Arbeitsplätze konnten dadurch geschaffen bzw. gesichert werden. Gewarnt seien diejenigen in der Opposition, die ange- sichts dieses Sachverhalts in die Versuchung geraten Das Leistungsangebot der Gesellschaft ist auf die Be- könnten, ein „Versagen der Bundesregierung“ zu kon- dürfnisse der Unternehmen zugeschnitten, um ihnen den struieren und eine Belastung des deutsch-polnischen Markteinstieg im Nachbarland zu erleichtern: Zweispra- Verhältnisses herbeizureden. Dies wäre unverantwort- chige, branchenspezialisierte Mitarbeiter sind direkt vor lich. Der Wirtschaftsminister hat den Sachverhalt in ei- Ort. Die Mitarbeiter sind mit den polnischen Standorten, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8185

(A) Marktbedingungen und den polnischen Gesetzen bestens Die TWG hat in den vergangenen Jahren Unterneh- (C) vertraut. Die Gesellschaft verfügt über bewährte Kon- men informiert und beraten, Kontakte vermittelt sowie takte zu den polnischen Behörden und Einrichtungen. Aktivitäten begleitet. Darüber hinaus hat sie sich etwa Nicht zuletzt kennt die Gesellschaft auch die Marketing- um potenzielle Investoren bemüht, Ausstellungen, Mes- konzepte, die in Polen am besten greifen. Sie hilft beson- sen, Schulungen und Konferenzen veranstaltet sowie in ders kleinen und mittleren Unternehmen, den Marktein- Wirtschaftsförderungsinstitutionen mitgewirkt. Die stieg im jeweiligen Nachbarland zu bewältigen. Die TWG hat somit sicher auch einen Beitrag dafür geleistet, Gesellschaft betreut ihre Kunden individuell, erarbeitet um den Beitritt Polens zur EU vorzubereiten. für jeden einen konkreten Maßnahmeplan und hilft bei dessen Umsetzung. Die wichtige Aufgabe ist mit dem Spätestens seit Frühjahr 2002 ist allen Beteiligten l. Mai 2004 nicht beendet, sondern muss sogar verstärkt klar, dass mit dem Beitritt Polens zur EU die institutio- fortgesetzt werden. nelle Förderung der Gesellschaft durch die beteiligten Bundesländer und den Bund enden wird. Schon damals Einrichtungen wie die Deutsch-Polnische Wirt- wurde der Vorstand aufgefordert, Alternativen zur Fort- schaftsförderungsgesellschaft sind auch aus einem ande- führung der TWG auch ohne institutionelle Förderung ren Grund dringend notwendig. Ich habe vor einigen zu entwickeln. Die Länder haben mehrfach unterstri- Monaten in meinem Wahlkreis in Ostbayern eine Um- chen, dass sie ihre bisherige Förderung mit Ablauf des frage zur EU-Erweiterung durchgeführt. Über 1 300 Per- Jahres 2004 einstellen werden. Erst daraufhin hat der sonen haben sich daran beteiligt. 57 Prozent der Be- Bund entschieden, seinerseits die Finanzierung ebenfalls fragten stehen der Osterweiterung eher pessimistisch einzustellen. gegenüber. 60 Prozent sehen sie eher als Risiko und die Mehrzahl der Befragten sieht beim Arbeitsmarkt und bei Seitens des Bundes hat es bereits in der Vergangen- der Wirtschaft den größten Handlungsbedarf. Besonde- heit neben der institutionellen Förderung die Förderung res Augenmerk verdient, dass 72 Prozent aller Befrag- von Projekten gegeben. Dies soll fortgesetzt werden. ten, die Informationen über die EU-Osterweiterung als Auch die Länder haben angeboten, die TWG bei der nicht ausreichend empfinden. Diese Ängste müssen Ausschreibung von Projekten zu beteiligen. Diese Pro- durch gezielte Informationskampagnen abgebaut wer- jektfördermaßnahmen dienen auch dem Wettbewerb mit den. anderen privaten Dienstleistern. Schon allein aus diesem Grunde ist der Antrag der FDP so nicht nachvollziehbar. Die Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesell- Im Übrigen sei daran erinnert, dass die Wirtschaftsförde- schaft ist eine Einrichtung, die aktiv zum Erfolg der rung vorrangig Sache der Länder ist. Dies ist natürlich Osterweiterung beiträgt. Das Zusammenwachsen der auch der FDP bekannt. Wir jedenfalls sehen keine Ver- (B) Wirtschaft und der Arbeitsmärkte, gerade in den Grenz- anlassung, diesem Antrag zuzustimmen. (D) regionen, kann durch sie entscheidend gefördert werden. Die CDU/CSU-Fraktion sieht in dem vorliegenden An- Trotzdem hoffen wir, dass auch ohne institutionelle trag eine wichtige Initiative, die in der Ausschussbera- Förderung eine Weiterexistenz der TWG möglich ist. tung näher erörtert werden sollte. Seitens des deutschen Vorstandsvertreters wird dies un- ter bestimmten Umständen jedenfalls nicht ausgeschlos- Die Gesellschaft unterstützt vorwiegend mittelständi- sen. Wir würden es begrüßen, wenn sich dafür in den sche Unternehmen, die Herausforderungen und Chancen nächsten Wochen und Monaten eine konsensuale Lö- der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Unter- sung finden würde. Hierfür könnte sicher auch die FDP nehmen zu bewältigen. Dies ist ein wichtiger Beitrag, einen Beitrag leisten, indem sie ihre Kontakte nutzt, um die Erweiterung mit Leben zu erfüllen. Die Aufgaben- privates Kapital zu mobilisieren und damit den Anteil stellung endet nicht zum 1. Mai 2004. Ihre Arbeit muss der Eigeneinnahmen der TWG auf eine solide Basis zu sogar verstärkt fortgesetzt werden. Dazu müssen wir die stellen. Voraussetzungen schaffen. Deshalb unterstützt die CDU/CSU-Fraktion den An- Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- trag der FDP. nister für Wirtschaft und Arbeit: „Die Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG, TWG, leistet seit ihrer Gründung im Jahr 1994 einen wichtigen Beitrag für Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die grenzüberschreitende wirtschaftliche Zusammenar- NEN): Uns allen ist bewusst, dass ein wichtiger Bereich beit und damit für die EU-Osterweiterung.“ in der Entwicklung der deutsch-polnischen Kontakte die grenzüberschreitende wirtschaftliche Kooperation ist. Dieser zusammenfassenden Feststellung im vorlie- Mit der Schaffung der Deutsch-Polnischen Wirtschafts- genden Antrag der FDP-Fraktion kann ich für die Bun- förderungsgesellschaft AG (TWG) vor ziemlich genau desregierung durchaus zustimmen. Die Ergebnisse der zehn Jahren wurde ein wichtiger Schritt in diese Rich- TWG rechtfertigen die finanziellen Mittel, die die Bun- tung getan. Aktionäre der Gesellschaft auf deutscher desregierung seit 1994 für diese Arbeit zur Verfügung Seite sind die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Meck- gestellt hat. Mit dieser finanziellen Unterstützung hat die lenburg-Vorpommern und Sachsen. Der Bund ist nicht Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet, dass in der Gesellschafter; dies ist bei der Gründung bewusst festge- Vorbeitrittsphase diese insbesondere für kleine und mitt- legt worden. Trotzdem hat er sich finanziell mit rund ei- lere Unternehmen wichtige Arbeit überhaupt geleistet nem Drittel der Mittel an der TWG beteiligt. werden konnte. 8186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Die Frage ist also nicht, ob die Bundesregierung hier rung der TWG bedeutet nicht automatisch das Aus für (C) eine sinnvolle Finanzierungshilfe geleistet hat. Hier sind die Gesellschaft. Es ist in dieser Situation vielmehr Sa- wir uns ja einig. Zu erörtern haben wir heute, ob es – wie che des Vorstands und Aufsichtsrates, ein Konzept zur im Antrag der FDP gefordert –, Aufgabe der Bundesre- Weiterfuhrung der TWG ab 2005 ohne deutsche institu- gierung ist, bis 2010 den gesamten deutschen Anteil für tionelle Förderung zu verabschieden. eine weitere institutioneile Finanzierung dieser Einrich- Die betroffenen deutschen Bundesländer als Mitge- tung zu übernehmen. Über dieses Ansinnen der FDP- sellschafter haben ihre Bereitschaft geäußert, an einer Fraktion kann ich mich nur wundern. gesellschaftsrechtlichen Lösung mitzuwirken, die eine Ich darf Sie erinnern: Die TWG wurde 1994 als Ge- Fortsetzung der Tätigkeit der TWG ermöglicht. Sie bie- meinschaftsunternehmen zur Wirtschaftsförderung mit ten an, die TWG bei Ausschreibungen von Projekten zu dem regionalen Schwerpunkt in der deutsch-polnischen berücksichtigen und damit ihren Beitrag zu einem Wei- Grenzregion gegründet. Gründungsgesellschafter waren terbestand der Gesellschaft zu leisten. Der Bund hat be- der polnische Staat und die Bundesländer Berlin, Bran- reits in der Vergangenheit Projektaufträge an die TWG denburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Der vergeben. Bund ist bewusst nicht Mitgesellschafter geworden, hat aber dieses Projekt der regionalen Wirtschaftsförderung Ich bin zuversichtlich, dass wir in den Beratungen mit der polnischen Seite eine einvernehmliche Lösung fin- der Länder mit einer Anschubfinanzierung unterstützt. den, die die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Von Anfang an bestand zwischen allen Beteiligten Einvernehmen, dass eine institutioneile Finanzierung nur befristet möglich ist. Die deutsche und polnische Anlage 10 Seite haben im Jahr 2001 in einem Notenwechsel festge- legt, dass sie sechs Monate vor dem EU-Beitritt Polens Zu Protokoll gegebene Reden eine Vereinbarung über die Art und Weise der Beendi- zur Beratung des Antrags: Den Fahrradtouris- gung oder Umwandlung der TWG schließen werden. mus in Deutschland umfassend fördern (Tages- Im Frühjahr 2002 hat der Aufsichtsrat eingehend die ordnungspunkt 17) Zukunft der TWG erörtert. Seitdem ist allen Beteiligten bewusst, dass mit dem Beitritt Polens zur EU die institu- Jürgen Klimke (CDU/CSU): tionelle Förderung der Gesellschaft durch die vier betei- Oh wie liebe ich mein Fahrrad ligten Bundesländer und den Bund enden wird. Nach- Warum, das weiß ich nicht genau dem sich die Bundesländer entschieden haben, ihre Meinem Fahrrad werd’ ich treu sein (B) (D) Finanzierung Ende 2004 zu beenden, wird der Bund sei- Im Gegensatz zu meiner Frau nerseits die weitere anteilige Finanzierung einstellen. Niemals werd’ ich es verlassen Eine Übernahme des Finanzierungsanteils der Länder Niemals werd’ ich von ihm geh’n durch den Bund scheidet aus. Ich sehe keinen Grund, der Denn wir fliegen wie auf Wolken dies rechtfertigen würde. Weil wir uns so gut versteh’n Kooperationswillige Unternehmen finden heute ein Ganz so extrem wie die Popgruppe „Die Prinzen“ ha- breites, oftmals mit EU- und Landesmitteln gefördertes ben wir von der Union es nicht mit dem Fahrrad. Und Beratungsnetz in den Grenzregionen. Industrie- und mit der Untreue schon gar nicht. Aber wir schenken die- Handelskammern, Handwerkskammern, Euro-Info-Cen- sem Verkehrsmittel deutlich mehr Zuneigung als die tren, die vier Euroregionen an der deutsch-polnischen Kollegen und Kolleginnen von SPD und sogar die Grü- Grenze und eine Vielzahl anderer regionaler Institutio- nen. Und das basiert nicht auf einer kurzfristigen Lei- nen, aber auch private Beratungsunternehmen sind zu- denschaft, sondern einer Vielzahl von Gründen: Wer mit nehmend auf dem Gebiet der grenzübergreifenden Wirt- dem Fahrrad unterwegs ist, tut etwas für seine Gesund- schaftskooperation mit Polen tätig. Dabei setzen die heit. Er baut zudem eine enge Beziehung zur Natur auf. Grenzländer mehr und mehr auf die bilaterale Zusam- Das führt Mensch und Natur zusammen und stärkt die menarbeit mit den benachbarten polnischen Regionen: Einsicht, dass Umweltschutz notwendig und lohnend ist. In Brandenburg wird unter der Dachmarke „2win-eine Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung des Rad- Region, doppelter Vorteil“ das Konzept der länderüber- wanderns. Diese Form des Tourismus ist nicht nur um- greifenden Wirtschaftskooperation durch eine eigens da- weltfreundlich, sondern stellt zugleich einen wichtigen für eingerichtete Koordinierungsstelle bei der Zukunfts- regionalen Wirtschaftsfaktor dar, der erhalten und ausge- agentur BB in Frankfurt an der Oder vermarktet; baut werden muss. Mecklenburg-Vorpommern fördert das Haus der Wirt- schaft in Stettin; Sachsen hat zur Stärkung der unterneh- Kurz auf den Punkt gebracht lauten unsere Beweg- merischen Tätigkeit in den Grenzgebieten die „Stiftung gründe also: Rad fahren dient der Gesundheit, Rad fah- für Innovation und Arbeit Sachsen“ gegründet und in ren nützt der Umwelt, Rad fahren und insbesondere Berlin bietet die BAO Berlin International GmbH ko- Fahrradtourismus bringen die deutsche Wirtschaft voran. operationswilligen Unternehmen ein umfassendes Ser- Und extra für Sie, liebe rot-grünen Kolleginnen und viceangebot. Kollegen, damit Sie sehen, dass in Deutschland trotz Ih- Um das noch einmal zu unterstreichen: Der Rückzug rer Politik noch was wächst, ein paar Zahlen: Im Jahr von Ländern und Bund aus der institutionellen Finanzie- 2002 haben mehr als zwei Millionen Menschen Urlaub Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8187

(A) mit dem Rad gemacht, was ein Plus von 12 Prozent ge- tend zu machen. Und wenn wir schon dabei sind, noch (C) genüber dem Vorjahr bedeutet. Damit ist der Fahrradtou- ein paar zusätzliche Überlegungen: Setzen Sie sich bei rismus nicht nur ein wichtiger, sondern auch ein wach- der Bahn für eine Fahrradmitnahme in ICE-Zügen ein, sender Wirtschaftsbereich in Deutschland mit großem um die Erreichbarkeit deutscher Ferienregionen im Fern- Wachstumspotenzial. verkehr für Radtouristen deutlich zu verbessern. Angesichts der Perspektiven und Chancen, die sich Wer kritisiert, der muss auch mal loben: Das gute der deutschen Wirtschaft durch das Ausschöpfen des Po- Konzept der 2002 in drei deutschen Städten eingeführten tenzials des Fahrradtourismus eröffnen, muss Deutsch- Callbikes der DB AG sollten wir unterstützen und die land noch fahrradfreundlicher werden. Ausbreitung dieses Konzepts in weiteren Städten för- dern. Nun höre ich geistig schon den Widerspruch der Re- gierungskoalition: Ja, wir stärken doch den Fahrradtou- Zur Entwicklung eines umfassenden Angebotes für rismus, wo wir nur können – schauen Sie sich doch nur Fahrradtouristen zählt auch das bequeme und sichere unseren schönen „nationalen Radverkehrsplan“ an! Ja, Abstellen der Fahrräder. Dadurch leisten wir auch einen liebe Kollegen, aber das war’s auch schon. Eine Recher- Beitrag zur Eindämmung des Fahrraddiebstahls. che bringt es an den Tag: In den letzen Jahren war das Ihre einzige Initiative in Sachen Rad. Wir sehen: Fahr- Bauliche Maßnahmen an Fahrradabstellplätzen wie radpolitisch ist bei Ihnen schon lange die Kette abgelau- Boxen eignen sich hier ebenso wie eine bessere Kenn- fen! zeichnung der Fahrräder beispielsweise durch Codie- rung. Dies hätte auch den zusätzlichen Effekt, dass hier- Um den Fahrradtourismus in Deutschland zu fördern, durch der Kauf und Gebrauch hochwertiger Fahrräder müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Deutlich verbes- unterstützt würden, da die Codierung die Identifizierung sern müssen wir aber die Rahmenbedingungen. Dazu der Fahrrad-Eigentümer erleichtert. Endlich mal eine In- gehören: Erstens. Verlässliche Angaben. Zweitens. Aus- novation, die kein Luftschloss ist. gebaute Verkehrswege. Drittens. Innovative Verkehrs- sicherheit. Viertens. Kooperation mit der Deutschen Mein Damen und Herren, alle drei Jahre kaufen sich Bahn AG. die Deutschen – rein statistisch – ein Auto. Aber ein Fahrrad muss ein Leben lang halten. Das ist schon ein Aber schon beim ersten Punkt hapert es. So verfügt wenig schizophren, oder? die Bundesregierung weder über Erkenntnisse über den prozentualen Anteil des Fahrradtourismus am gesamten Denn auch im wirtschaftlichen Bereich bietet das deutschen Tourismus, noch kann sie Zahlen über die An- Fahrrad erhebliche Arbeitsmarktpotenziale, nicht nur bei Fahrradproduktion und -handel und im Reparaturge- (B) zahl der Übernachtungen von Radtouristen in Deutsch- (D) land vorlegen. Bei solchen Defiziten im Forschungs- werbe, sondern auch bei Folgeprodukten wie spezieller und Statistikbereich kann der Fahrradtourismus in Radfahrerkleidung bis hin zu völlig neuen Serviceange- Deutschland gar nicht zielgerichtet gefördert werden. boten. Neue Arbeitsplätze können im Servicebereich Diese Lücken müssen in Zusammenarbeit mit der Tou- entstehen, zum Beispiel bei Fahrradstationen mit Bewa- rismuswirtschaft, wie beispielsweise der Forschungsge- chung, Vermietung, Kleinreparaturen, Zubehörhandel meinschaft Urlaub und Reisen oder dem Tourismusbaro- und Information. Das Fahrrad ist nicht, wie häufig ange- meter des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes, nommen, ein „Low-Tech-Produkt“, sondern muss erheb- geschlossen werden, damit wir gezielter und effektiver lichen Anforderungen bei möglichst geringem Gewicht fördern können. Schließlich fährt Jan Ulrich die Tour de gerecht werden: Das bedeutet, dass die technische Ent- France auch nicht mit verbundenen Augen. wicklung des Fahrrades – unter anderem bei innovativen Federungs-, Licht- und Bremssystemen, aber auch schon Bei den Verkehrswegen müssen vor allem der zusam- hinsichtlich des Designs – längst nicht abgeschlossen ist. menhängende Ausbau überregionaler Radwege und die Der Gesamtumsatz des deutschen Fahrradhandels be- Wegweisung der Routen vorangebracht werden. Dabei trägt gegenwärtig rund acht Milliarden DM pro Jahr und ist die Anbindung an die europäischen Routen – ich erin- es gibt 6 800 Fachhandelsbetriebe mit rund 50 000 Be- nere nur an das EuroVeloNetz – zu berücksichtigen. So- schäftigten sowie mehr als 4 000 Ausbildungsplätzen. lange aber der Verkehrsminister über die Maut stolpert, Fahrradförderung ist angesichts dieser Zahlen immer ist hier wohl nichts zu machen, befürchte ich. auch vor allem eine aktive Mittelstandsförderung. Wenn wir schon bei den Problemzonen der Regierung Neben diesen doch recht einfach zu realisierenden sind: Verbesserungsbedarf besteht auch bei der Fahrrad- Maßnahmen ist es in meinen Augen weitaus schwieriger, mitnahme durch die Deutsche Bahn AG. Denn trotz ein fahrradfreundlicheres Klima im Verkehrsgeschehen wachsendem Fahrradtourismus ist die Fahrradmitnahme zu schaffen, das ein Miteinander der Verkehrsteilnehmer im Fernverkehr der DB AG zwischen 1998 und 2002 um und die gegenseitige Rücksichtnahme erleichtert. Leider über 40 Prozent zurückgegangen. Wir müssen mit der haben wir es in diesem Bereich mit einer schleichenden DB zusammen Lösungsvorschläge erarbeiten, wie der Verrohung zu tun. Kein Tag ohne Horrormeldung. Ein Rückgang bei der Fahrradbeförderung gestoppt werden sinnvoller Ansatz wäre die Ausgestaltung eines Rechts- kann. Hier muss endlich Schluss sein mit selbstherrli- rahmens, der regelkonformes Verhalten fördert. Positive chen und vor allem falschen Entscheidungen gegenüber Erfahrungen mit der Verkehrssicherheitsphilosophie von dem Kunden. Die Regierung als Hauptaktionär ist gera- Nachbarländern – zum Beispiel Niederlande, Dänemark – dezu verpflichtet, ihren Einfluss bei Herr Mehdorn gel- sollten hier einfließen. 8188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Deutschland ist fahrradtouristisch ein interessantes „Bundeskompetenz in diesem Bereich unterstrichen“ (C) Ziel für Gäste aus dem Ausland. In den Nachbarländern hat. Immerhin! wie zum Beispiel den Niederlanden und Dänemark be- steht ein großes Interesse, Deutschland mit dem Fahrrad Sehen wir uns jetzt einen Teil Ihrer Forderungen im zu erkunden. Sogar die Nachfrage aus Übersee steigt Einzelnen an: Jahr für Jahr. Mit attraktiven Angeboten gewinnen wir Der Fahrradtourismus soll in bestehenden Umfragen ein interessiertes, junges, ausländisches Publikum für berücksichtigt werden: das geschieht bereits durch Um- den Urlaub in Deutschland. Mit unserem Antrag wollen fragen des Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen wir diese Entwicklung fördern. Übrigens liegen wir mit e. V. Die Voraussagen für die nächsten drei Jahre weisen unserer Forderung, den Fahrradtourismus zu fördern, gar auf eine Steigerung von 42,3 Prozent hin! nicht so weit auseinander, wenn ich Ihren Antrag „Fahr- Rad – für ein fahrradfreundliches Deutschland“ aus 2001 Sie fordern, Erhebungen zu den von Radtouristen auf mit unserer Initiative vergleiche. dem Weg zu ihrem Urlaubsziel genutzten Verkehrsmit- teln durchzuführen. Befragungsergebnisse hierzu gibt es Daher bitte ich Sie um Unterstützung für unseren An- durchaus, diese können allerdings aufgrund von Mehr- trag. Bei einer Ablehnung ist es doch ziemlich offen- fachnennungen und unterschiedlichen Verkehrsträgern sichtlich, dass es Ihnen nicht um die Sache, sondern ein- für Hin- und Rückreisen nur bedingt aussagekräftig sein. fach nur um die Ablehnung eines Oppositionsantrages Was sollen Aussagen hierzu auch an weiterer Erkenntnis geht. Deshalb noch einmal mein Appell an Sie: Unter- bringen? Das erklären Sie uns leider nicht. Gleiches gilt stützen Sie unseren Antrag, damit der Fahrradtourismus für Ihre Forderung nach Erhebungsparametern, die zei- in Deutschland nicht auf dem Schlauch steht. gen sollen, wie hoch der Anteil des Fahrradtourismus am Deutschlandtourismus ist. Für die Steigerung des Fahr- radtourismus in Deutschland ist nicht die Datenlage ent- Annette Faße (SPD): Ich freue mich, dass die Da- scheidend! men und Herren von der Opposition jetzt endlich auch den Fahrradtourismus entdeckt haben! Hätten sie aller- Der Ausbau des Bundesradroutennetzes geschieht be- dings die Antwort der Bundesregierung auf ihre Anfrage reits und wird seit 2002 mit jährlich 100 Millionen Euro vom Oktober vergangenen Jahres auch gelesen, hätten in einem gesondert eingerichteten Haushaltstitel finan- sie dem Bundestag diesen Antrag ersparen können. Hier ziert. Weitere 10 Millionen Euro jährlich sind zweckbe- wird lediglich Bekanntes wiederholt und bereits Umge- stimmt für den Bau von Radwegen auf Betriebswegen an setzes gefordert! Offensichtlich wollten Sie auch einmal Bundeswasserstraßen. etwas für Ihre umweltbewussten Wähler tun! Der Nationale Radverkehrsplan NRVP enthält eine (B) (D) Seit Jahren ist es Ziel der SPD-Fraktion, Deutschland Vielzahl von Maßnahmen und Handlungsempfehlungen, fahrradfreundlicher zu gestalten. Bereits vor zwei Jahren gegliedert nach Handlungsfeld, Maßnahme, Akteure und hat die Bundesregierung den Nationalen Radverkehrs- Mengengerüst. Im Rahmen des föderativen Aufbaus der plan 2002 bis 2012 herausgegeben, um die Chancen des Bundesrepublik Deutschland und der verfassungsgemä- Fahrradverkehrs im Rahmen einer integrierten Verkehrs- ßen Rechtsordnung liegt die Hauptverantwortung des politik auszubauen. Es ist sowohl der SPD-Fraktion als Radverkehrs bei Ländern und Kommunen. Eine Reihe auch der Bundesregierung bekannt, dass sich der der Forderungen aus Ihrem Antrag sind somit schlicht Fahrradtourismus in Deutschland bereits seit Beginn der und einfach überflüssig, weil sich die Mitglieder des 80er-Jahre in ländlichen Regionen zu einem wichtigen Bund-Länder-Arbeitskreises „Fahrradverkehr“ bereits in Wirtschaftszweig mit einem jährlichen Umsatz von fünf Unterarbeitskreisen intensiv um die Begleitung und 5 Milliarden Euro entwickelt hat. Nach dem Ergebnis Umsetzung des NRVP kümmern. der Reiseanalyse von 2003 haben im Jahr 2002 mehr als Die Fahrradmitnahme in ICE-Zügen ist ein Thema, 2 Millionen Menschen Urlaub mit dem Rad gemacht. das die SPD-Fraktion in zahlreichen Gesprächen mit der Das ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von über Bahn angesprochen hat. Letztendlich handelt die DB AG 12 Prozent! Knapp die Hälfte der Fahrradtouristen ver- hier aber als privatrechtlich organisiertes Unternehmen brachte ihren Urlaub in Deutschland. Bekannt ist eben- eigenverantwortlich. Die DB AG bietet aber in allen Zü- falls, dass es hier noch ein ausbaufähiges Potenzial gibt. gen des Fernverkehrs eine Mitnahme von Fahrrädern an, Was sagen Sie uns also Neues? Erstens, dass Radfah- außerdem Verschickung von Fahrrädern und Fahrradver- ren gesund ist – wie auch eine aktuelle Studie des mietung sowie Call-Bikes. Sie sehen, hier ist schon eine Robert Koch-Instituts beweist – vielen Dank für diese ganze Menge erreicht worden! Und wir stehen hier wei- beachtenswerte Information! –, und zweitens, dass das terhin in intensiven Gesprächen. Fahrrad das umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist. Lassen Sie mich zum Schluss noch weitere bereits ge- Auch das wussten wir doch wohl schon! troffene Maßnahmen zur Förderung des Fahrradtouris- mus erwähnen: Wenn man Ihren Antrag liest, kommt einem schon der Verdacht, dass alle bisherigen Maßnahmen zur Förde- Im Haushaltsplan für dieses Jahr sind für Maßnahmen rung des Fahrradtourismus an der Opposition vorbeige- zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplanes, wie gangen sind. Zumindest stellen Sie ja fest, dass es „eine zum Beispiel die Durchführung von Fachkonferenzen erfreuliche Entwicklung der letzten Jahre“ gibt und dass oder gezielte Öffentlichkeitsarbeit Mittel bis zu einer die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage die Höhe von 2 Millionen Euro eingestellt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8189

(A) Im Jahr 2002 wurden für die Durchführung des ich mich besonders, denn mit diesen nicht investiven (C) bundesweiten Fahrradwettbewerbs „Best for bike“ Mitteln leistet die Bundesregierung einen weiteren Bei- 30 000 Euro bereitgestellt, ab 2003 werden jährlich trag für eine effiziente Umsetzung des NRVP. 50 000 Euro dafür zur Verfügung stehen. Bevor ich auf einzelne Forderungen des Antrages ein- Das zuständige Referat des Bundesverkehrsministeri- gehe, will ich nochmals konkretisieren, an welchen ums wurde ab diesem Frühjahr mit einer Mitarbeiterin Überlegungen und Fragen wir uns als rot-grüne Ver- verstärkt, die sich schwerpunktmäßig mit der Koordinie- kehrspolitiker bei der Umsetzung des NRVP vorrangig rung der Umsetzung des NRVP befasst. Das begrüßen zu orientieren haben. Diese sind: Werden mit der jeweili- wir ausdrücklich! gen Maßnahme die Rahmenbedingungen für den Rad- verkehr und den Radtourismus insgesamt und umfassend Für die Umsetzung des NRVP soll ein Fahrradportal verbessert? Werden die Chancen und damit auch die als Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverkehrs- Entwicklungspotenziale, die der Fahrradverkehr im Rah- ministeriums eingerichtet werden. Das Fahrradportal in- men einer integrierten Verkehrspolitik bietet, optimal ge- formiert über Planungs- und Rechtsvorschriften, For- nutzt? schungsergebnisse, Fachliteratur, gute Beispiele und Ähnliches und dient als Arbeitsplattform für den Bund- Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst aus dem Länder-Arbeitskreis „Fahrradverkehr“ und seine Unter- 16 Punkte umfassenden Forderungskatalog einen Punkt arbeitskreise sowie für die Fahrradbeauftragten auf Län- herausgreifen, der mir schon lange am Herzen liegt: die derebene und kommunaler Ebene. Die Installation kann Radmitnahme im DB-Fernverkehr. Dies aus zweierlei nach Freigabe der Haushaltsmittel durch das Parlament Gründen: Einerseits halte ich die Radmitnahme im Fern- erfolgen. verkehr für eine wichtige Voraussetzung dafür, dass alle Zielgebiete in Deutschland, insbesondere auch touristi- Die Damen und Herren von der Opposition wollen sche, von Radtouristen erreicht werden können. Ohne den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern dieses Angebot ist der Radtourismus gefährdet. Zum an- und haben leider nicht erkannt, dass das bereits ge- deren sehe ich gerade bei der Frage Radmitnahme im schieht! Ein überflüssiger Antrag mehr! DB-Fernverkehr Klärungsbedarf zwischen den beteilig- ten Akteuren und erheblichen Handlungsbedarf. Heidi Wright (SPD): Der vorliegende Antrag, der heute beraten und dann an den Fachausschuss überwie- Das Gute vorab: Wie aktuell von der DB Rent GmbH sen wird, zielt darauf ab, dass Deutschland noch fahrrad- zu hören ist, hat der Vorstand der DB AG auf seiner Sit- freundlicher werden soll. Die umwelt-, verkehrs-, ge- zung im Dezember 2003 die Entwicklung eines neuen Fahrradkonzeptes beschlossen; die Einzelheiten sind in (B) sundheits- und tourismuspolitische Bedeutung des (D) Fahrrads soll noch stärker hervorgehoben werden. Ganz der Abstimmung und interessieren uns brennend. grundsätzlich stimme ich hier natürlich zu. Die Argumentationsweise der DB AG entspricht der Doch bei näherem Blick auf den 16 Punkte umfassen- eines privatrechtlich organisierten Unternehmens, das den Forderungskatalog wird schnell deutlich, dass der sich von (betriebs-)wirtschaftlichen Gesichtspunkten lei- größte Teil der Forderungen längst Gegenstand der rot- ten lässt: Die Fahrradmitnahme im Hochgeschwindig- grünen Radverkehrspolitik ist. Einige Maßnahmen sind keitsverkehr lasse sich nicht wirtschaftlich realisieren, von der Bundesregierung, von den Ländern oder Kom- da Umsteigezeiten verlängert würden und das Vorhalten munen teilweise bereits realisiert, einige befinden sich in von Fahrradabstellplätzen Kapazitäten binde, die dann der aktiven Planungsphase. zulasten der Fahrgastbeförderung gingen. Das Bundes- verkehrsministerium als Dialogpartner führt an, es könne Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen: Es gibt nicht in Planung und Durchführung der Leistungs- keineswegs einen Stillstand bei der Umsetzung des Nati- angebote eingreifen und demzufolge auf die DB AG onalen Radverkehrsplans 2002 bis 2012 (NRVP) – ganz auch nicht Einfluss nehmen. im Gegenteil: Die rot-grüne Verkehrspolitik hat einiges auf die Beine gestellt und kann handfeste Erfolge benen- Dem halte ich Zahlen entgegen, die die Bahn selbst nen. hat erheben lassen – und ich beziehe mich hier auf ein Schreiben des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs Von zentraler Bedeutung ist zunächst die Tatsache, (ADFC) vom 20. August 2003: Diese Zahlen weisen dass seit 2002 ein gesondert eingerichteter Haushaltstitel klar aus, dass in der Vergangenheit die Bahn davon pro- mit 100 Millionen Euro pro Jahr – vorher waren es nur fitiert hat, dass gerade der Fahrradtourismus anhaltend 50 Millionen Euro gewesen – zur Finanzierung von Rad- höhere Wachstumsraten aufweist als alle anderen Reise- wegen an Bundesstraßen zur Verfügung steht. Weitere sparten; in 2002 erneut ein Plus von 12,7 Prozent. Die 10 Millionen Euro pro Jahr sind zweckbestimmt für den Zahlen weisen aus, dass Fahrrad fahrende Bahnkunden Bau von Radwegen auf Betriebswegen an Bundeswas- viel öfter den Zug benutzen als andere Personen und da- serstraßen. mit zu den besonders treuen Kunden gehören. Ein weiterer Erfolg ist, dass es uns trotz angespannter Es braucht eine baldige und eine kluge Entscheidung Haushaltslage gelungen ist, für den Haushalt 2004 Fi- der DB AG, die den Fahrradtourismus stärkt. Ich werde nanzmittel in Höhe von 2 Millionen Euro aus dem Rad- deshalb die weitere Entwicklung forcieren und den Ab- wegebautitel für nicht investive Maßnahmen zur Umset- klärungsprozess zwischen den beteiligten Akteuren kri- zung des NRVP zur Verfügung zu stellen. Darüber freue tisch begleiten. 8190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Noch ein paar Anmerkungen zu den Forderungen 13 und rung preist hier zu Recht den Angebotskatalog der Deut- (C) 14 des Antrages: Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) schen Zentrale für Tourismus „Deutschland per Rad ent- und die Verwaltungsvorschriften der StVO sollen zu- decken“ und lobt die weltweite Verbreitung mittels einer gunsten eines noch sichereren und attraktiveren Fahrrad- englischsprachigen Fassung. Dabei verschweigt sie aber, verkehrs überarbeitet werden; ein entsprechender Refe- dass die DZT die finanzielle Unterstützung für dieses rentenentwurf des Bundesverkehrsministeriums ist Gemeinschaftsprojekt mit dem Allgemeinen Deutschen erarbeitet. Der Bund-Länder-Arbeitskreis Fahrradver- Fahrrad-Club im Jahr 2004 um 10 Prozent kürzen will. kehr wird Anfang dieses Jahres in die Beratungen Die Fortführung des gesamten Projektes ist damit exis- miteinbezogen werden, nachdem der zuständige Bund- tenziell gefährdet. Länder-Fachausschuss für den Straßenverkehr und die Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, diesen finan- Verkehrspolizei der Länder sich auf voraussichtlich im ziellen Engpass schnell zu beheben. Wir werden bei die- Bundesrat mehrheitsfähige Vorschläge zu einigen sehr ser Forderung nicht locker lassen, denn am Geld liegt es streitig diskutierten Detailregelungen verständigt haben. nicht. Es wäre genug Geld für die DZT und das Stand- Gut, dass wir jetzt die Koordinierungsstelle im Bundes- ortmarketing vorhanden. Leider setzt die Bundesregie- ministerium haben – also, los jetzt. Auch diese Sache rung das Geld allerdings falsch ein. Anstatt teilweise darf nicht weiter verschleppt werden. fragwürdige Beraterverträge abzuschließen und mit teu- Ein Wort noch zu einer erfreulichen Entwicklung ren Werbekampagnen die Korrektur der selbstverschul- beim Versicherungsschutz der Radfahrerinnen und Rad- deten Imageschäden zu betreiben, sollten durch die fahrer: Die fünfte Autoversicherungs-Direktive der EU Generierung zusätzlicher Kaufkraft Arbeitsplätze im zur Haftpflichtversicherung sieht vor, dass künftig Ver- Tourismus gesichert bzw. neu geschaffen werden. Die letzungen von Radfahrern bei Unfällen mit Kraftfahr- Akquisition von kaufkräftigen Touristen muss endlich zeugen grundsätzlich von der Haftpflichtversicherung als aktive Wirtschaftsförderung verstanden werden. der Autofahrer abgesichert werden, und zwar unabhän- Schon Henry Ford hat gewusst: Enten legen ihre Eier in gig von der Schuldfrage. aller Stille. Hühner gackern dabei wie verrückt. Was ist die Folge? Alle Welt isst Hühnereier. Voraussetzung für Diese Regelung bringt mehr Rechtssicherheit für die den Erfolg des Fahrradtourismus ist also neben einer Radfahrer, sie wird die Schadensregulierung vereinfa- vernünftigen Infrastruktur die Anfangsinvestition, um chen und das allgemeine Gesundheits- und Sozialversi- Kunden auf das Produkt aufmerksam zu machen. cherungssystem entlasten. Der Bundesverkehrsminister ist nun gefordert, die Umsetzung der Regelung in Ein Beispiel aus dem Freistaat Sachsen zeigt, dass der Deutschland vorzunehmen – und somit eine weitere For- Fahrradtourismus ein hohes Potenzial für die Gastrono- mie- und Beherbergungsunternehmen entwickeln kann. (B) derung aus dem NRVP zu erfüllen. (D) Allein im sächsischen Teil des Elberadweges, zwischen Bad Schandau in meinem Wahlkreis und Torgau, setzten Klaus Brähmig (CDU/CSU): Dass die CDU/CSU- Bundestagsfraktion heute einen Antrag mit dem Titel circa 70 000 Radtouristen in der Zeit zwischen April und „Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend för- Oktober 2003 rund 28 Millionen Euro um. dern“ in den Deutschen Bundestag einbringt, zeigt eines An diesen Zahlen kann man erkennen, dass ein gut sehr deutlich: Die rot-grüne Bundesregierung versäumt aufbereitetes Branchennetzwerk zum Erfolg beiträgt. es nach wie vor, zentrale Probleme des Fahrradtourismus Auf dem Elberadweg werden neben Hotel- und Gastro- in Deutschland endlich tatkräftig anzupacken. nomie auch Fahrradhersteller, Händler und Reparatur- werkstätten in die Vermarktungsstrategie integriert. Der Mit dem Nationalen Radverkehrswegeplan aus dem potenzielle Besucher erhält auf einen Blick alle notwen- Jahr 2002 wollte die Regierung zwar Handlungskompe- digen Informationen für seinen Fahrradurlaub. Diesem tenz beweisen, scheitert aber eklatant bei der praktischen positiven Beispiel sollten auch andere Regionen folgen, Umsetzung. Sie verfügt weder über strategische Planun- um dieses attraktive Segment des Deutschlandtourismus gen noch kann sie konkrete Arbeitspläne präsentieren. noch weiter zu stärken. Weiterhin ist es völlig inakzeptabel, dass wesentliche Fragen der Verantwortung und Finanzierung den Län- Gerade wegen der bevorstehenden EU-Osterweite- dern und Kommunen zugewiesen werden. Der Bund rung ist es auch notwendig, dass die Bundesregierung muss hier seiner Aufgabe gerecht werden, den Ausbau auf die EU-Kommission einwirkt, Finanzmittel zur Rea- des Bundesradroutennetzes voranzutreiben und regio- lisierung eines europäischen Radfernwegenetzes bereit- nale und touristische Belange zu koordinieren. Insbeson- zustellen. Die transeuropäischen Verkehrsnetze dürfen dere bei der Aufgabe der Beschilderung versagt der sich nicht allein auf den Ausbau von Straße und Schiene Bund; denn er stellt hierfür keine Finanzmittel zur Verfü- konzentrieren, sondern müssen auch das umweltfreund- gung. Auch hier gilt das bewährte rot-grüne Motto: Die liche und gesundheitsfördernde Verkehrsmittel Fahrrad vollmundigen Versprechungen übernimmt der Bund, die einbeziehen. Länder und Kommunen dürfen die Finanzierung sicher- stellen. Analog zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- gesetz sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, ob wir Neben dem Ausbau des Radwegenetzes ist es die tou- nicht ein Fahrradwegebeschleunigungsgesetz brauchen. ristische Vermarktung des Projektes „Fahrradtourismus Zurzeit ist es nämlich vielfach ein Problem, die vorhan- in Deutschland“, die einen wichtigen Ansatzpunkt für denen Finanzmittel schnell in konkrete Baupläne umzu- ein fahrradfreundliches Land darstellt. Die Bundesregie- setzen. Beispielsweise hapert es aufgrund der finanziel- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8191

(A) len Situation einiger Kommunen daran, bestehende Euro sind für den Radwegebau an Bundeswasserstraßen (C) Lücken im nationalen Radwegenetz schließen zu kön- vorgesehen. Wir haben dieses hohe Niveau übrigens nen. auch in der jetzigen Phase knapper finanzieller Mittel beibehalten. Ich hoffe, dass wir in den vor uns liegenden Aus- schussberatungen gemeinsam für die Förderung des Wir wollen als Regierungskoalition da weitermachen. Fahrradtourismus in Deutschland und Europa in die Pe- Denn wir wissen, dass Radverkehr und Radtourismus dale treten. Ideologische Auseinandersetzungen sind an eine deutschlandweit bessere Radinfrastruktur brauchen. dieser Stelle nicht angebracht. Dazu haben wir im Jahr 2002 den Nationalen Radver- kehrsplan erarbeitet, mit dem wir uns auch selbst politi- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sche Vorgaben bis zum Jahr 2012 für ein fahrradfreund- Wenn vor 20 Jahren ein Antrag gestellt worden wäre, liches Deutschland machen. Denn Fahrradtourismus über Fahrradtourismus in Deutschland im Deutschen boomt besonders dort, wo es durchgängige Verbindun- Bundestag zu debattieren, dann hätte wohl die Mehrheit gen zum Beispiel entlang größerer Flüsse gibt. Es darf in in und außerhalb des Hohen Hauses gesagt: „Jetzt spin- der Frage eines überregionalen Radverkehrsnetzes nicht nen sie, diese Grünen-Ökos!“ länger eine kleinkarierte und unkoordinierte Politik ge- ben. Für diesen übergreifenden Teil der Verkehrspolitik Heute kommt ein solcher Antrag von der CDU/CSU. ist daher auch der Bund in der Pflicht, es müssen aber Mein augenzwinkerndes Kompliment an die Antragstel- auch andere staatliche Ebenen mitziehen. So sollten sich lerinnen und Antragsteller, denn Sie haben endlich – we- viele Bundesländer an der guten Radverkehrspolitik in nigstens verbal und vielleicht auch nur kurz – das Steuer Nordrhein-Westfalen ein Beispiel nehmen. weggelegt und den Fahrradlenker entdeckt. Jetzt freuen sich endlich auch mal alle Fraktionen über die beeindru- Wir müssen Klarheit bekommen über den Ausbau des ckende Erfolgsgeschichte des Radtourismus in den letz- überregionalen Fahrradnetzes. Ich halte dies auch vor ten Jahren. dem Hintergrund des touristischen Zusammenwachsens mit unseren Nachbarländern für unverzichtbar. So kön- Die Zeiten haben sich verändert: Radfahren und Rad- nen auch Randregionen attraktiver werden. In unserem tourismus sind keine Exotenthemen mehr, sondern das Land müssen die auf regionaler Ebene bestehenden Rad- Rad ist quasi ein boomender „Volkssport“ geworden. wege besser vernetzt werden, und es müssen ärgerliche Die Reiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrrad- Lücken endlich geschlossen werden. Vielfach ist die Be- Clubs (ADFC) für das Jahr 2002 belegt diesen Wachs- schilderung nach wie vor verbesserungsbedürftig. Es ist tumstrend in Zahlen. Bei den Radreisen in Deutschland ein offenes Geheimnis, dass wir mit der ständigen Redu- (B) verbrachten mehr als 2 Millionen Menschen ihren Ur- zierung der Radmitnahmemöglichkeiten im Fernverkehr (D) laub auf dem Fahrradsattel – das ist eine zweistellige Zu- der Deutschen Bahn nicht einverstanden sind. Die Rad- wachsrate von knapp 13 Prozent im Vergleich zum Vor- mitnahme im IC-Zug ist zwar erlaubt, aber ziemlich un- jahr. Für jeden zweiten Urlauber gehört das Radfahren praktisch. Die Interregio-Züge sind weitgehend gestri- zur Urlaubsaktivität dazu. Die Zukunftsaussichten sind chen worden. Im ICE ist leider keine Radmitnahme gut, denn Radurlaub wächst kontinuierlich weiter. Über möglich. Die Unternehmensvorstände der Deutschen 11 Prozent der Bürgerinnen und Bürger planen nach Bahn müssen endlich verstehen, dass Radfahrerinnen ADFC-Angaben in nächster Zeit „ziemlich sicher“ eine und Radfahrer nicht nur am Urlaubsort treue Bahnkun- Radreise. den sein wollen, sondern auch bei An- und Abreise. Wenn die Deutsche Bahn in dieser Frage an ihrer restrik- Damit zeigt sich, dass mit dem Fahrradtourismus ein tiven Politik festhält, wird sie nicht nur für sich selbst ein stabiles Marktsegment entstanden ist. Die Zuwachsraten wichtiges Kundenpotenzial vergraulen, sondern auch die für die Beherbergungsbetriebe mit dem bekannten Na- Entwicklung des Radtourismus in Deutschland insge- men „Bett & Bike“ sind enorm. Längst setzen kleine samt beeinträchtigen. Gasthöfe und Hotels auf Einzelradler, Familienurlaub oder auch auf die organisierte Radlergruppe. Von 1995 Der Radtourismus ist unter ökologischen Aspekten bis zum Jahr 2003 hat sich die Zahl der fahrradfreundli- eine vernünftige Form des Tourismus. Er ist auch wichti- chen Beherbergungsbetriebe mehr als verfünfzehnfacht! ger Teil eines nachhaltigen Tourismus. Es freut mich, Es ist beeindruckend, dass die Radlerinnen und Radler dass immer mehr Menschen sagen können: Er ist auch nicht nur Deutschland entdecken, sondern dass umge- ein gutes Geschäft geworden. Denn damit ist auch ein kehrt auch gilt: Deutschland entdeckt die Radfahrerin- Nachweis erbracht, dass die belächelten, ehemaligen nen und Radfahrer. Exoten von einst heute als seriöse Experten anerkannt werden können. In diesem Sinne verstehe ich den vorlie- Die Bundesregierung bestätigt diese positive Ent- genden Antrag als Ermunterung und Unterstützung, den wicklung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der erfolgreichen Weg der letzten Jahre fortzusetzen. CDU/CSU, und auch die heutigen Antragsteller verwei- sen auf die vom ADFC vorgelegten Umfragen. Diese Er- folgsgeschichte ist maßgeblich mitgestaltet worden Ernst Burgbacher (FDP): Die Ausgangslage für ei- durch einen verstärkten Ausbau der Radinfrastruktur in nen erfolgreichen Fahrradtourismus in unserem Land ist Deutschland in letzter Zeit. Wir haben im Jahr 2002 die gut. Deutschland bietet geeignete klimatische Vorausset- Mittel für den Radwegebau an Bundesstraßen auf zungen für den Fahrradtourismus. Welcher Radler hätte 100 Millionen Euro verdoppelt. Weitere 10 Millionen Lust und Laune, unter sengender Sonne und in brütender 8192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) Hitze etliche Kilometer abzustrampeln? – Ich nicht! Hier nen, nicht noch weitere zu verlieren. Ferienregionen (C) ist Deutschland mit seinen eher gemäßigten Temperatu- sollten gerade auch per Bahn erreichbar sein. ren begünstigt. Hinzu kommt das reizvolle landschaftli- Bei Punkt 13, in dem es um die Schaffung eines fahr- che und kulturelle Angebot, das sich dem Radtouristen, radfreundlichen Klimas im Verkehrsgeschehen und die aber nicht nur diesem, erschließt. Ich jedenfalls genieße gegenseitige Rücksichtnahme der Verkehrsteilnehmer Radtouren durch verschiedene deutsche Regionen im- geht – ohne Zweifel ein sehr wichtiger Aspekt ange- mer ganz besonders. sichts der Verkehrsunfallstatistiken –, interessiert mich, Der Radtourismus trägt insbesondere in ländlichen wie die Union sich dies konkret vorstellt. Welche Maß- und strukturschwachen Gebieten zu einer Verbesserung nahmen sollen hier ergriffen werden? der Infrastruktur bei und kommt diesen Regionen wirt- Was die Forderung nach einer Codierung aller Fahrrä- schaftlich zugute. Radler, egal ob auf Tagestouren oder der und die Unterstützung des Kaufs und Gebrauchs auf mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Touren, kehren hochwertiger Fahrräder angeht, um den Raddiebstahl in einem Gasthaus oder Restaurant ein, brauchen Über- einzudämmen, so sage ich hier ganz klar: Das ist nicht nachtungsmöglichkeiten und kaufen Dinge des täglichen Aufgabe der Politik und das soll es auch nicht sein. Fahr- Bedarfs. Mehr als 2 Millionen Menschen haben im Jahr radkauf und -nutzung sind eine Sache des Marktes. Ob 2002 Urlaub mit dem Rad gemacht, knapp die Hälfte da- jemand ein hochwertiges codiertes Fahrrad oder ein von in Deutschland. Ein ausbaufähiges Potenzial ist vor- preisgünstigeres, nicht codiertes Rad kauft, sollte jedem handen. Für die nächsten Jahre werden weitere deutliche Käufer selbst überlassen bleiben. Zuwachsraten prognostiziert. Von diesen Einzelpunkten einmal abgesehen gilt, wie Daher ist es wichtig, den Fahrradtourismus in eingangs bereits gesagt, dass die FDP-Bundestagsfrak- Deutschland zu fördern. Allerdings warne ich davor, tion den Antrag zur Förderung des Fahrradtourismus in dort regulieren zu wollen, wo die Verantwortung bei den Deutschland im Grundsatz begrüßt und unterstützt. Ländern und Kommunen liegt. Ich trete in und außerhalb der Föderalismuskommission von Bundestag und Bun- desrat, deren Mitglied ich bin, für eine klare Kompetenz- Anlage 11 trennung zwischen Bund und Ländern und die strikte Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ein. Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: „Demokratie und Deshalb halte ich den Punkt vier des Unionsantrags, Rechtsstaatlichkeit in Venezuela unterstützen – den Ausbau des Bundesradroutennetzes voranzutreiben Freiheit der Medien und wirtschaftliche Pros- und hier regionale und touristische Belange zu koordi- (B) perität wiederherstellen“ (Tagesordnungs- (D) nieren, für ungeeignet. Dies gehört – bis auf Radwege an punkt 18) Bundesstraßen – nicht in Bundeskompetenz. Tourismus allgemein und die Förderung des Radverkehrs im Beson- deren sind Sache der Länder und Kommunen. Was die Lothar Mark (SPD): Der hier zu beratende Antrag Beschilderung von Radwegen angeht, so verweise ich „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Venezuela unter- auf die Ergebnisse der von der FDP-Fraktion beantrag- stützen – Freiheit der Medien und wirtschaftliche Pros- ten Anhörung im Tourismusausschuss zur touristischen perität wiederherstellen“ findet nicht die Zustimmung Beschilderung. Wir müssen ein System für die touristi- der SPD-Bundestagsfraktion. sche Beschilderung entwickeln, in das auch die Beschil- Dies hat folgende Gründe: Der Antrag weist unseres derung von Radwegen einbezogen wird. Erachtens erhebliche Mängel auf, denn er lässt von sei- Zu den anderen Punkten des Antrags: Die FDP-Bun- nem Grundtenor her wesentliche Aspekte der venezola- destagsfraktion unterstützt die Forderung nach einer nischen Krise außer Acht. In seiner Konzentration auf stärkeren Berücksichtigung des Segments Radtourismus die Freiheit der Medien und die wirtschaftliche Prosperi- bei Umfragen und statistischen Erhebungen, um auf tät Venezuelas greift er unserer Ansicht nach zu kurz. diese Weise mehr und verlässliches Zahlenmaterial über Entsprechend eindimensional sind die daraus resultie- Umfang und Bedeutung des Fahrradtourismus zu gewin- renden Schlussfolgerungen. Sie zeugen zudem von einer nen. Wichtig ist auch, dass von den zuständigen Touris- einseitigen Haltung zugunsten der venezolanischen Op- musorganisationen stimmige Angebotspakete für Rad- position. Damit beteiligen Sie sich, liebe Kolleginnen touristen geschnürt und professionell vermarktet und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, kräftig am werden. Denn obwohl noch immer die Mehrzahl der gleichen Spiel, das Venezuela seit Monaten paralysiert. Radtouristen ihre Touren selbst organisiert, wächst die Durch ein solches parteiisches Verhalten unterstützen Nachfrage nach „maßgeschneiderten Pauschalangebo- Sie die dort herrschende Polarisierung noch. Sie nehmen ten“. Hier bieten sich Chancen, dieser Nachfrage zu ent- dabei in Kauf, dass Deutschland seine Rolle als ehrlicher sprechen und neue Kunden zu gewinnen. Makler und damit seine Einflussmöglichkeiten aufs Spiel setzt. Die Vernetzung der Verkehrsträger halte ich ebenfalls für wichtig. Wir alle kennen die berechtigten Klagen Die Krise in Venezuela hat nicht erst 1998 mit der über die Probleme bei der Fahrradmitnahme im ICE. – demokratischen – Wahl von Hugo Chávez begonnen, Hier muss sich die Bahn bewegen. Es müsste meines Er- wie der Antrag richtig bemerkt. Als allgemein anerkannt achtens im Interesse der DB liegen, Kunden zu gewin- gilt, dass das Scheitern der paktierten Elitendemokratie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004 8193

(A) zu Beginn der 90er-Jahre die tiefer liegende Ursache der neralstreik im Dezember 2002, aber durch diesen we- (C) heutigen Krise ist, die sich in einem hohen Maß an poli- sentlich beschleunigt, eine besorgniserregende Entwick- tischer und sozialer Gewalt und dem Glaubwürdigkeits- lung genommen. Insofern muss auch hier wieder die verlust der tragenden politischen Institutionen, vor allem Verantwortung beider Seiten benannt werden, denn die der Parteien und dem Parlament manifestiert. Opposition hat diese wirtschaftlichen Schäden durch ih- ren Streikaufruf billigend in Kauf genommen. Die im Das derzeitige politische Tauziehen zwischen der Re- Antrag kritisierten Maßnahmen zur Kontrolle des Devi- gierung und der Oppositionsbewegung hat das Land po- senabflusses, die Präsident Chávez nach dem zweimona- larisiert und das staatliche und wirtschaftliche Gefüge tigen Streik der Opposition verordnet hat, sollen im Üb- ausgehöhlt. Ein Plebiszit kann in dieser Situation zwar rigen offiziellen Angaben zu Folge gelockert werden. die Mehrheitsverhältnisse ändern, nicht aber die Patt- situation zwischen beiden Kräften aufheben. Die Grund- Es ist richtig, dass an Präsident Chávez’ Regierungs- lage für eine Rekonsolidierung des Staates liegt daher führung in vielen Punkten Kritik zu üben ist. Anstatt unserer Auffassung nach in einer dauerhaften demokrati- aber ausschließlich mit objektiv belegbaren Daten und schen Konsensfindung, was mit der ebenso heterogenen Argumenten zu arbeiten, spielt der Antrag mit ungesi- wie konzeptionslosen venezolanischen Opposition nicht cherten Erkenntnissen und beteiligt sich an Spekulatio- ohne weiteres ersichtlich ist. nen, wie zum Beispiel über die spionageverdächtigen kubanischen Ärzte. Diese wurden im Rahmen eines von Führen wir uns einmal vor Augen, um welche politi- der Regierung ins Leben gerufenen Sozialprogramms schen Kräfte es sich hier handelt und welche zweifelhaf- zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in den ten Meriten sie sich bislang im Dienste einer konstrukti- Armenvierteln eingesetzt. In die Kritik gekommen ist ven Lösungsfindung erworben haben. Einziger das Programm in Venezuela vor allem durch die Be- gemeinsamer Nenner dieser ein breites politisches Spek- schäftigung kubanischer und nicht venezolanischer trum abdeckenden Bewegung ist die Absetzung der Ärzte. Für den Verdacht, es handele sich um Geheim- rechtmäßig gewählten Regierung bzw. des Präsidenten. dienstmitarbeiter, der aus venezolanischen Oppositions- Der Staatsstreich vom April 2002, der antidemokratische kreisen lanciert wurde, gibt es meines Wissens bisher Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung, sowie das un- keinerlei Beweise. verantwortliche Vorgehen bei der Ausrufung des Gene- ralstreiks im Dezember 2002 zeugen nicht gerade von Vielmehr scheint es, als solle hier mit dem Schüren dem verantwortungsvollen Handeln einer demokratisch der Angst vor dem Abgleiten Venezuelas in den Sozialis- gesinnten Opposition, so wie es der vorliegende Antrag mus/Kommunismus die Regierung Chávez diskreditiert annimmt. werden, was ebenso unberechtigt wie unverantwortlich ist. (B) Zur Beurteilung der Situation der Medienfreiheit in (D) Venezuela muss man dies und noch einige weitere Fakten Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Be- im Hinterkopf behalten, die im Antrag nicht genannt wer- obachtung im internationalen Kontext: Das Schüren ei- den: Die venezolanischen Massenmedien haben sich ner Eskalation der Auseinandersetzungen bzw. die De- längst zu einem entscheidenden Macht- und Mobilisie- stabilisierung Venezuelas aus wirtschaftlichen und rungsfaktor mit enormem Einfluss auf die öffentliche geopolitischen Gesichtspunkten scheint im Interesse ei- Meinung entwickelt. Sie sind in einem Ausmaß selbst niger Länder zu liegen, die sich nicht im zu erwartenden zum politischen Akteur geworden, das für unsere Verhält- Maß für eine konstruktive Lösung des Konflikts enga- nisse schwer vorstellbar ist. Vier der fünf landesweit aus- gieren. Wie sonst wäre zum Beispiel die vorschnelle An- strahlenden TV-Sender sind privat und de facto von der erkennung der nach dem Putsch gegen Chávez einge- Opposition dominiert. Sie sind damit ebenso sehr „Agita- setzten Carmona-Regierung durch die USA und Spanien tionsinstrument“, wie dies zweifellos der staatliche Kanal zu erklären? für die Regierung ist. Bei meiner letzten Reise nach Ve- Trotz kritischer Haltung zum „Bolivarianischen Re- nezuela konnte ich mich selbst vom weitreichenden Ein- formprojekt“ Chávez’, das in der Tat bislang eine ge- fluss der privaten Sender überzeugen, als mir deren Di- ringe Ergebnisorientierung in Bezug auf die drängenden rektoren unverblümt sagten, dass die privaten Medien wirtschaftlichen und sozialen Probleme Venezuelas auf- einen Gegenkandidaten für mögliche Präsidentschafts- weist, scheint es mir vorrangig, einen rechtmäßig ge- wahlen aufbauen würden, wenn die Opposition dazu wei- wählten Präsidenten anzuerkennen. Ebenso hat die neue, terhin nicht im Stande sei. Ähnlich sehe man es mit dem fünfte venezolanische Verfassung – bei aller Kritik an Wahlprogramm der Opposition. Verfahrensfehlern und Verweisen auf die geringe Wahl- Die Medien bieten also ein genaues Abbild der ex- beteiligung – im Megawahljahr 2000 die Zustimmung trem gespaltenen venezolanischen Gesellschaft. Sie sind einer Mehrheit der Bevölkerung erhalten. Diese Wahl- einer der wichtigsten Austragungsorte, an dem sich die entscheidungen müssen von allen Parteien akzeptiert Auseinandersetzung zwischen Chavisten und der Oppo- werden und jeglichem Lösungsansatz des Konflikts zu- sition abspielt. Beide Seiten kämpfen offensichtlich mit grunde liegen. harten Bandagen; dies ist nicht schön zu reden, aber Insofern sollte das Hinwirken auf einen demokrati- eben auch nicht einseitig der Regierung anzulasten. schen Minimalkonsens alle politischen Kräfte des Lan- Im Antrag wird weiterhin zu Recht die wirtschaftlich des einschließen und von einem echten, glaubwürdigen desolate Situation Venezuelas aufgezeigt. In der Tat hat internationalen Engagement zur Einbindung Venezuelas die venezolanische Wirtschaft nicht erst durch den Ge- getragen werden. Die Forderung des Antrags nach einem 8194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

(A) aktiveren politischen Krisenmanagement in Koordina- Wandel der politischen Kultur abzielen können. Die po- (C) tion mit der OAS und dem Carter-Center ist somit sehr litischen Stiftungen leisten hier schon sehr gute Arbeit, zu begrüßen. die noch ausgebaut werden könnte. Ob allerdings die einseitige Einmischung der KAS in Caracas dienlich ist, Den sozio-ökonomischen Ursachen des Konfliktes bleibt mehr als fragwürdig. und seinen das gesamtgesellschaftliche Gefüge betref- fenden Auswirkungen sollte dabei aber stärker Rech- Wir müssen ein großes Interesse daran haben, dass nung getragen werden, als im Antrag formuliert. dem Legitimationsverlust des politischen Systems in der Bevölkerung entgegengewirkt wird. Das Beispiel Vene- Für die SPD-Fraktion ergeben sich folgende Schwer- zuelas hat aufgrund seiner als Maßstab für andere Län- punkte: Einer sowohl politischen wie auch wirtschaftli- der der Region geltenden demokratischen Tradition und chen Isolierung Venezuelas muss unbedingt entgegenge- Stabilität eine große Ausstrahlung in den Andenraum hi- wirkt werden. Bestehende Initiativen zur Einbindung nein und auf Gesamtlateinamerika. von Venezuela in das internationale System begrüßen wir. Insbesondere die wirtschaftliche Einbindung des Das schwierige Verhältnis zu Kolumbien aufgrund Landes in die existierenden südamerikanischen Integra- des oft geäußerten Vorwurfs der fehlenden Unterstüt- tionssysteme halten wir für wichtig. Wir begrüßen – wie zung beim Anti-Terrorkampf bzw. der Unterstützung zurzeit beantragt – eine Aufnahme Venezuelas als asso- von Guerillatruppen auf venezolanischem Gebiet zeigt ziiertes Mitglied in einem von neuer Dynamik gekenn- die regionale Dimension der Problematik. Wer die geo- zeichneten Mercosur. Hervorzuheben ist auch eine stär- graphische Situation dort kennt, weiß allerdings auch, kere Zusammenarbeit mit dem großen Nachbarn im dass diese Grenzen nicht 100 Prozent kontrollierbar Süden, Brasilien, wie sie im jüngsten Abkommen von sind. Recife zwischen beiden Staaten für den Erdölsektor ver- Abschließend würde ich mir insgesamt eine differen- einbart wurde. Diese Initiativen zeigen, dass Venezuela ziertere Herangehensweise an die Diskussion um die ak- handlungsfähig ist, sich stärker in den südamerikani- tuellen Entwicklungen in Venezuela wünschen. Wir schen Markt einbringen wird und wecken die Hoffnung müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass auf – zumindest mittel- bis langfristig – stabilisierende neopopulistische Politikprofile in Lateinamerika insge- Wirkung. samt an Bedeutung gewinnen, was unter anderem auch Von deutscher bzw. europäischer Seite aus sollten die an bestimmten historischen und gesellschaftlichen Vo- Bemühungen um eine Wiederbelebung der wirtschaftli- raussetzungen in der Region liegt. Wir sollten uns zu- chen Beziehungen im Vordergrund stehen. Deutsche Un- nächst fragen, welche internen und externen Faktoren ternehmen haben sich in Reaktion auf die Entwicklun- zur Erosion traditioneller repräsentativer Politiksysteme (B) gen in Venezuela vergleichsweise zurückhaltend führen, bevor wir versuchen, einfache Antworten zu ge- (D) verhalten. Einige Schlaglichter, wie beispielsweise das ben. Engagement von Siemens im Nahverkehrsbereich in Im Fall Venezuelas scheint es besonders schwer, zwi- Maracaibo, hellen das Dunkel etwas auf, müssten aber schen Schwarz und Weiß auch noch Grautöne wahrzu- weitere Aktivitäten auch von KMU nach sich ziehen. nehmen. Aber gerade hier ist es besonders wichtig. Der Ein weiterer Schwerpunkt sollte bei der Zusammenar- vorliegende Antrag versucht nicht, sich diesen Schattie- beit im Bereich der Heranbildung von Humankapital so- rungen anzunähern und kann daher keine differenzierten wie der Vorstellung von wirtschafts- und sozialpoliti- Lösungsansätze entwickeln. Aus diesem Grund ist er für schen Initiativen liegen, die bei der Entwicklung von uns eine nicht akzeptable Betrachtung der venezolani- eigenen Erfahrungen in Venezuela nützen und auf einen schen Realität.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344 ISSN 0722-7980