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dtv Taschenbücher

Lili Marleen

Die Geschichte eines Liedes von Liebe und Tod

von Rosa Sala Rose, Andreas Löhrer

1. Auflage

Lili Marleen – Rose / Löhrer schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Thematische Gliederung:

dtv München 2010

Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 24801 3

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de Rosa Sala Rose

Lili Marleen

Die Geschichte eines Liedes von Liebe und Tod

Aus dem Spanischen von Andreas Löhrer

Mit 21 Schwarzweißabbildungen Mit Audio-CD

Deutscher Taschenbuch Verlag Deutsche Erstausgabe 2010 Deutscher Ta schenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 2008 Rosa Sala Rose Titel der spanischen Originalausgabe: ›Lili Marleen – Canción de amor y muerte‹ (Global Rhythm Press S. L., Barcelona) © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Ta schenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © der phonographischen Rechte: GmbH, Hambergen Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten. Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: gettyimages/Keystone Redaktion und Satz: Olaf Benzinger, Lektyre Verlagsbüro, Germering Gesetzt aus der Bembo 11/13° und der Futura 10/11° Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in · ISBN 978-3-423-24801-3 Inhalt

Vorwort ...... 9 Die Schilderung des Ursprungs ...... 11 Ein Lied von Liebe und Tod ...... 19 Lili Marleens Identität ...... 30 Freuds Nichte und die »echte« Lili Marleen ...... 37 Die eigentlichen Verschwörer ...... 59 Lale Andersens Metamorphose ...... 70 Eine gescheiterte ›Lili Marleen‹ ...... 79 Der »unberufene« ...... 86 Ein Wachtposten mit Frauenstimme ...... 99 Der Weg zum Erfolg ...... 103 Ein Nazilied? ...... 115 Die Afrikafront ...... 119 ›Lili Marleen‹ an der russischen Front ...... 125 Die dunkle Seite von ›Lili Marleen‹ ...... 130 ›Lili Marleen‹ als Kriegsbeute ...... 135 , ein politischer Mensch? ...... 145 In Ungnade gefallen ...... 150 Ein willkommener Selbstmordversuch ...... 157 Marlene Dietrichs »indirekte Propaganda« ...... 163 an der Front ...... 167 ›Lili Marleen‹ in Las Vegas ...... 173 Lili Marleen: treue Frau oder leichtes Mädchen? ...... 179 Von Lili zu Barbie ...... 188 ›Lili Marleen‹ und die Laterne ...... 193 Fassbinder oder der Schwanengesang ...... 199 . Anhang Anmerkungen ...... 209 Bibliografie ...... 227 Bildnachweis ...... 231 ›Lili Marleen‹. Begleit-CD ...... 233 Namenregister ...... 237 Für meine Freundin Joana, deren Version von ›Lili Marleen‹ ich immer im Gehör haben werde, auch wenn sie es nie gesungen hat.

Vorwort

Die in den 1920er und 30er Jahren sehr populäre Varietésängerin Mistinguett sagte einmal, ein Lied sei »immer der beste Spiegel ei- ner Epoche«.1 Wenn dem so ist, dann kommt ›Lili Marleen‹, »dem einzigen erwähnenswerten Lied, das der Zweite Weltkrieg zum weltweiten Repertoire beigetragen hat«,2 die zweifelhafte Ehre zu, der beste Spiegel der schrecklichsten Epoche zu sein. Das Beun - ruhigende daran ist, dass ausgerechnet ein deutsches Lied zur of- fiziellen Hymne der Soldaten an allen Fronten des großen Krieges des 20. Jahrhunderts wurde, und zwar weit vor jeder damaligen englischen, französischen oder US-amerikanischen Musikpro - duktion. So gesehen könnte man sagen, dass ›Lili Marleen‹ einen unverhofften kulturellen Sieg des Nationalsozia lismus darstellt. Selbst John Steinbeck fragte sich, ob es nicht »amüsant wäre, wenn nach all dem Theater und Sieg-Heil-Ge schrei, nach all der Marschiererei und Indoktrination der einzige Nazi-Beitrag für die Welt ›Lili Marleen‹ gewesen sein sollte«.3 Auch heute noch belastet dieses ambivalente Erbe im Guten wie im Schlechten die Rezeption. Für manche Deutsche war ›Lili Marleen‹ eine Rechtfertigung, der greifbare Beweis, dass nicht alles im Dritten Reich schlecht war. Für andere trug seine Präsenz im Äther dazu bei, die Gräueltaten der Nazis mit einem nostalgischen und sentimentalen Mantel zuzudecken. Und für diejenigen, die den Erfolg des Liedes an vorderster Front, das heißt an der Kriegsfront erlebten, war ›Lili Marleen‹ nur ein Medium, das es ihnen erlaubte, in einem Umfeld massenhafter Entmenschlichung wieder an ihre Individualität und ihre Ge- fühlswelt anzuknüpfen. Zu bestimmen, wo die Unschuld eines Liedes wie ›Lili Marleen‹ anfängt und wo sie aufhört, ist eine der Absichten der vorliegenden Darstellung. Jedem wirklich interessanten Phänomen – und es besteht kein Zweifel daran, dass ›Lili Marleen‹ eines ist – wohnt ein

9 Mysterium inne, das jeder Analyse widersteht. Als Lale Ander- sen, die deutsche Sängerin, die dieses Lied berühmt gemacht hatte, nach den Gründen für diesen Erfolg gefragt wurde, be- schränkte sie sich darauf zu sagen: »Kann man denn erklären, warum der Wind zum Sturm wird?« Auch heute kann niemand mit Gewissheit sagen, warum es dieser Song und nicht irgend- ein anderer war, der zum großen Lied des Krieges wurde. Die gern verwendete Erklärung mit der magischen Kombination des richtigen Ortes, des passenden Moments und der richtigen Melodie erlangt im Falle von ›Lili Marleen‹ eine besondere Komplexität: Der Text entstand während des Ersten Weltkriegs aus der Feder von und die Musik in den ersten Jahren des Dritten Reichs stammt von Norbert Schultze; die erste Aufnahme mit Lale Andersen erschien in dem Jahr, als Hitler Polen überfiel, und sein Erfolg, das Werk des Militärsenders Radio Belgrad, kam zustande, als der Krieg sich für die Deut- schen in eine Abfolge von Niederlagen zu verwandeln begann. Und so kam es, dass sich über das Leben dieses einfachen Liedchens eine gute Geschichte erzählen lässt. Die Schilderung des Ursprungs

Es heißt, dass jedem Anfang ein Mythos innewohnt. Wie die Götter im Mythos kann auch das Lied ›Lili Marleen‹ mit einer wundersamen Erzählung über die genauen Umstände seiner Entstehung aufwarten. Es ist eine Erzählung, die aus einer einzi- gen unüberprüfbaren und nebulösen Quelle stammt – der Erinnerung von Hans Leip – und von uns einen kleinen Ver- trauensakt verlangt. Die historische Realität der Episode, die uns dieser heute praktisch vergessene Hamburger Schriftsteller er- zählt, sperrt sich gegen jeden Versuch, sie zu überprüfen. Doch ›Lili Marleen‹ ist bereits ein Mythos, also lassen wir sie als sol- chen bestehen. Aber bevor es zum Mythos wurde, war das Lied nur ein Lied, und davor ein einfaches Gedicht. Seine Kindheit ist daher genuin literarisch. Hans Leip, der Autor und Vater des Textes, wurde in einer Allee geboren, die den Namen eines anderen Dichters trug, den von Ferdinand Freiligrath, einem der vielen Deutschen des 19. Jahrhunderts, in deren Werk die Sehnsucht nach Freiheit mit einem stürmischen Nationalismus einherging. »Pulver ist schwarz / Blut ist rot / golden flackert die Flamme!« lautet ein damals berühmtes Gedicht, das er den Farben der Natio nal - flagge gewidmet hatte. Leip erzählt, dass seine Mutter, aus einfa- chen Verhältnissen stammend, den Umstand, dass der kleine Hans in der Allee eines berühmten deutschen Dichters geboren wurde, als ein Zeichen des Schicksals deutete; und zugleich auch als Schutz gegen die größte ihrer Ängste: dass der Junge, von dem dumpfen Tröten der Ozeandampfer angezogen, das vom Fenster aus zu hören war, beschließen würde, den Spuren seines Vaters zu folgen und in See zu stechen. »Du bist in der Freiligrath-Allee geboren«, sagte sie zu ihm. »Die heißt zu Ehren eines Dichters so. Werde du lieber so einer.«1 Leips Mutter konnte nicht wissen, dass damals die eigentliche Gefahr für

11 ihren Sohn nicht sosehr in der See, sondern im kämpferischen Patriotismus lag, den Gedichte wie die von Freiligrath Tausen- den kindlicher Seelen einflößten. Der Taufpate des kleinen Hans, ein unverbesserlicher Seebär, hatte alles Mögliche getan, um dem angeblich wohltuenden Einfluss Freiligraths entgegenzuwirken. Dazu bediente er sich einer alten Matrosenbeschwörung, die darin bestand, Seewasser in das Taufbecken zu gießen, auf dass das damit getaufte Kind dem Ruf der Wellen folge. Und diese Methode muss Wirkung gezeigt haben, da Leip aufgrund der üblichen Anziehungskraft, die Verbotenes ausübt, hinter dem Rücken seines Vaters als Schiffsjunge anheuerte. Einige Wochen auf einem Fisch- dampfer, auf dem er Kartoffeln schälen und Fische ausnehmen musste, genügten aber, um den Zauber zu bannen und aus ihm für immer einen Landmatrosen zu machen. Die See und ihr Einfluss sollten zwar weiter in Leips Geist präsent sein, aber ge- zähmt und sublimiert in den mehr als einhundert literarischen Werken dieses äußerst produktiven Autors, der die Hafenästhe- tik, die Piratenabenteuer und die Gefühlsduselei der Matrosen auf seine ästhetische Fahne schrieb: ein echtes Meer aus Tinte, von dem nur ›Lili Marleen‹ es geschafft hat, sich im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Als der angesehene deutsche Litera - turkritiker Marcel Reich-Ranicki 2003 seine persönliche Antho- logie der deutschen Lyrik zusammenstellte, war ›Lili Marleen‹ das einzige Gedicht von Hans Leip, das er für würdig hielt, dar- in aufgenommen zu werden.2 Leip erzählt, dass ›Lili Marleen‹ die Tochter des Ersten und nicht des Zweiten Weltkriegs war, wie viele dachten. Es war die- ser Krieg – den man naiverweise den »Großen Krieg« nannte, weil man es nicht für möglich hielt, dass ein noch größerer kom- men könnte –, der für das Zusammentreffen der Umstände sorgte, die die Entstehung des Gedichts ermöglichten. Der Schauplatz der Geburt war , die Stadt, in der der debütie- rende Autor nach einem abgebrochenen Studium der Kunst- geschichte und einigen wenigen unglücklichen Jahren als Lehrer seinen Militärdienst ableisten musste. Vielleicht gewährte der willkommene Abstand von einem Seehafen, den die große

12 Hauptstadt des Kaiserreichs bot, ›Lili Marleen‹ Schutz vor dem Meeresrausch seines Schöpfers und machte aus ihr ein geeigne- tes Lied für die Infanterie. Schließlich schaffte es Leip – womög- lich wegen seiner großen Statur – im Gardefüsilierregiment zu landen, einer Institution, die so altmodisch wie entschieden un- seemännisch war und deren Kaserne im Zentrum der Stadt lag. Der Großteil der Militärausbildung bestand im Präsentieren

Hans Leip zu der Zeit, als er das Gedicht ›Lili Marleen‹ schrieb, mit seiner im- posanten blauen preußischen Uniform. In den zwanziger Jahren trugen Kinder diese Uniformen gerne an Fasching.

13 und Marschieren, alles im Hinblick auf den Glanz der Truppe beim baldigen Siegesmarsch. Schließlich erwartete das deutsche Kaiserreich, das sich noch seiner militärischen Erfolge von 1871 rühmte, dass der Sieg fast unmittelbar und ohne große Verluste erfolgen würde. Ein »Spaziergang nach «, so hatte Kaiser Wilhelm II. den bevorstehenden Krieg bezeichnet. Doch der »Spaziergang« wurde zur ersten großen Katastrophe des 20. Jahr- hunderts und viele dieser jungen Männer, die unsinnigerwei se für den Sieg exerziert hatten, sollten Gelegenheit haben, am eige - nen Leib zu erfahren, wie bitter und sinnlos der Krieg war. Ein Glücksfall bewahrte Leip davor, seine prächtige Garde- uniform vorzeitig gegen die mausgraue Felduniform eintau- schen zu müssen, in der seine Kameraden an der Front massa- kriert wurden, da er unerwarteterweise für einen Offiziers- lehrgang ausgewählt wurde. Nach Leips eigenen Erklärungen zu urteilen,3 war dieser Glücksfall ein vergiftetes Geschenk: Damals war es noch üblich, dass die Offiziere, um ein Vorbild zu sein, als Erste an der Spitze ihrer Truppe den Säbel zückten, und so wurden sie zur bevorzugten Zielscheibe des Feindes oder im äu- ßersten Fall auch ihrer eigenen Soldaten, die ihnen in den Rücken schossen. Offenbar brachte dies einen Aderlass an hoch- qualifizierten Militärs mit sich, so dass im Ersten Weltkrieg so- wohl mit dieser Gewohnheit als auch mit anderen ritterlichen Bräuchen aus früheren Zeiten Schluss gemacht wurde: ein wei- terer Schritt, um die Kriege des 20. Jahrhunderts zu dem uns be- kannten Grauen ganz ohne Courtoisie und ohne Beschönigung werden zu lassen. Jedenfalls ermöglichte es die Offiziersaus - bildung Leip, die ungastliche Kaserne zu verlassen und mit ei- nem Kameraden ein Zimmer in einem Privathaus zu mieten, wenn ihn das auch nicht vom Zapfenstreich befreite, der wie für die anderen Soldaten auch um zehn Uhr geblasen wurde und nach dem kein Soldat mehr auf der Straße sein durfte. Das soll- te genau die Zeit sein, in der Jahrzehnte später das Lied ›Lili Marleen‹ von Millionen von Menschen über die Radiowellen gehört wurde. In diesem Zimmer zur Untermiete hatte Hans Leip »Lili« kennengelernt. Oder besser gesagt Betty, die Tochter der Gemü-

14 sehändler, die ihren Laden im Keller des Hauses hatten, und die er zum ersten Mal vom Fenster aus sah, als sie die Hühner füt- terte. Dass Leip ihr den Spitznamen »Lili«, gab, war in diesen Zeiten eine historische Reminiszenz, genauso wie der Anblick einer Grenadieruniform. Kaum jemand außer Leip wäre nach dem »Großen Krieg« auf die Idee gekommen, einem Mädchen einen solchen Spitznamen zu geben. Lili – Lili Schönemann – war der Name der ersten offiziellen Verlobten, die Johann Wolfgang von Goethe in Frankfurt hatte. Die Szene mit der jun- gen Betty, die mit Futter die Hühner anlockte, weckte bei Leip wohl eine Assoziation an Goethes wohlbekanntes Gedicht ›Lilis Park‹. Goethe hat dieses Gedicht 1775 geschrieben. Seine reizende Verlobte faszinierte ihn, und er war unglücklich deswegen. Bei ihr fühlte er sich nämlich wie ein Bär, der unfreiwillig vom Zauber der Liebe gezähmt wurde und sah sich rettungslos in ihrem Privatzoo von Verehrern gefangen. (Goethe sollte diese Fesseln tatsächlich mit der eines Bären würdigen Plumpheit zer- reißen, nach Weimar flüchten und das Mädchen ohne ein Wort zurücklassen.) Aus dem langen Gedicht Goethes waren es wohl Verse wie die folgenden, die Leip im Geiste mit diesem jungen Mädchen und ihren Hühnern verband:

Welch ein Geräusch, welch ein Gegacker, wenn sie sich in die Türe stellt und in der Hand das Futterkörbchen hält! Welch ein Gequiek, welch ein Gequacker! Alle Bäume, alle Büsche scheinen lebendig zu werden: So stürzen sich ganze Herden zu ihren Füßen; sogar im Bassin die Fische patschen ungeduldig mit den Köpfen heraus. Und sie streut dann das Futter aus mit einem Blick – Götter zu entzücken, geschweige die Bestien.4

Die spontane Assoziation dieser klassischen Verse mit jener Unbekannten auf dem Hühnerhof zeigt, wie weit die deutsche

15 Hochkultur damals noch im Alltagsleben der Menschen präsent war. Die Zäsur des Ersten Weltkriegs, die für die Modernität und die Avantgarde die Schleusen öffnete, und ganz besonders der Bruch von 1945 sollten bald diese bürgerliche Kultur zum Gegenstand des Interesses der Philologen machen, zu einem Teil dieser Welt von gestern, die Stefan Zweig in seiner Auto- biografie so dramatisch beschwört. Doch für die jungen Deut- schen aus der Generation von Hans Leip war diese alltäglich von Goethes und Schillers Gedichten bevölkerte Welt noch Gegen- wart. Es ergab sich, dass die schöne Betty-Lili, die Leip beschreibt, wie sie im Gemüseladen zwischen Kartoffeln, Flaschenbier und Fässern mit Sauerkraut herumsprang, ebenso heftig die Auf- merksamkeit seines Zimmergenossen Klaas Deters erregt hatte, weswegen der Dichter an diesen aus Höflichkeit das Vorrecht abtrat, sie zu verführen. Und während Deters seine ganze Energie in dieses Unternehmen legte, versuchte Leip seine Freizeit zu nutzen, um Museen zu besuchen und sein Kunst- studium weiter vorzubereiten. In der Nationalgalerie lernte er Marleen kennen, die – wie Leip erzählte – mit einer eleganten Schwanenfeder geschmückt im Saal erschien. Im Gegensatz zur plumpen Betty-Lili wurde diese elegante, liberale Kranken- schwester und Arzttochter tatsächlich Leips Geliebte, und zwar für die damalige Zeit ungewöhnlich schnell. Einmal wurden sie von seiner Zimmerwirtin in flagranti ertappt. Sie wollte ihnen sogleich eine Lektion in Moral erteilen, aber Marleen unter- brach sie entschlossen: »Liebe, bedenken Sie …« Damals, im Jahr 1915, war der Sinn dieses Satzes klar, ohne dass man die Auslassungspunkte ergänzen musste. Die Krankenhäuser und die Straßen von Berlin waren voller ver- stümmelter oder blinder junger Männer, die aus den Schüt- zengräben kamen. Marleen, die als Krankenschwester in Nacht- schicht in einem Militärlazarett arbeitete, wusste besser als jeder andere, was dieser »Spaziergang nach Paris« in Wirklichkeit be- deutete, den Deutschland mit einem aberwitzigen patriotischen Hochmut unternommen hatte, und der, als er zu einem endlo- sen Stellungskrieg von außerordentlicher Brutalität wurde,

16 schließlich den Untergang des Kaiserreichs besiegelte. Die Zimmerwirtin begriff. Sie sagte nichts mehr, drehte sich um und ließ sie allein. Niemand besaß die moralische Autorität, einem Soldaten angesichts des bevorstehenden Todes seine un- erlaubte Liebe zu verweigern. Der Zwischenfall mit der Zimmerwirtin ist ein erhellendes Indiz für den großen Mentalitätswandel, den die Erfahrung des Ersten Weltkriegs Deutschland und Europa bescheren sollte. Die strengen Werte der wilhelminischen Ära konnten der Tatsache nicht standhalten, dass eine ganze Generation junger Deutscher im Namen des Kaisers in den Schützengräben aufge- rieben wurde. Die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes zerstörte vorgefasste Schemata und öffnete eine moralische Bresche bei den Zeitgenossen, eine Bresche, deren unmittelbar- ste Folge, wenigstens in den Großstädten, der Hedonismus sein sollte, der so charakteristisch für die »Goldenen Zwanziger« war. Es war, als hätte der Krieg die kulturelle Welt der damaligen Zeit in zwei Hälften mit entgegengesetzten Vorzeichen zerbrochen. Der mehr oder weniger vorhandene Fatalismus mischte sich mit einer zornigen Lebenslust, die in der Erotik ihren explosivsten Ausdruck fand. Nicht nur der Expressionismus zeigte diese ex- treme Polarisierung: Auch die Verse, die Hans Leip seiner ausge- dachten Lili Marleen widmete, wiesen sie auf. Es waren also zwei Frauen, die dem berühmten Lied den Titel gegeben haben. Leip erzählt, dass sich die magische Verbindung zwischen beiden Namen und ihre Kristallisation in Form eines Gedichts in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1915 vollzog, als er an einem Seiteneingang der Kaserne Wache stand. Es war seine letzte Nacht in Berlin: Am darauffolgenden Morgen sollte er an die Karpatenfront aufbrechen. Er war in me- lancholischer Stimmung, »um mich herum lauer April, regen- feucht […] vom Invalidenpark her keimfrohes Erdreich und aufbrechendes Buschwerk«.5 Kurz bevor er zu seinem Wacht- posten ging, musste er einen heftigen Liebesanfall von Betty-Lili abwehren, die offenbar nicht damit zufrieden war, dass Leip sie seinem Kameraden überlassen hatte. Sobald er vor jeglicher ero- tischen Versuchung auf dem Wachtposten neben dem Kasernen-

17 tor gerettet war, empfand Leip, während der Regen im Licht- kegel einer Laterne funkelte, eine tiefe Sehnsucht. »Und ich sag- te Marleen und dachte an Lili und sagte Lili und dachte an Marleen.«6 Ganz in sich versunken vergaß er vor einem Vor - gesetzten stillzustehen, der in diesem Moment an ihm vorbei- ging, und während er gerügt wurde, sah er Marleen im Later- nenlicht zu ihrer Nachtschicht gehen. Sie sah ihn an und flüs- terte ihm ein paar Worte zu, die er nicht verstehen konnte. Aber er musste weiter stillstehen und so tun, als hörte er den albernen Bemerkungen des Vorgesetzten zu. Es sollte das letzte Mal sein, dass er sie sah. Als er wieder allein war, waren von Marleen nur noch die Spuren ihrer hochhackigen Schuhe geblieben, deren Tritte auf dem nassen Pflaster im gelben Licht der Laterne ge- hallt hatten, und eine dumpfe Todesahnung schnürte ihm bald die Kehle zu.

Die Vorahnung erleichterte sich mir zum Gesumme im Gleich- maß der Schritte, die ich zwischen den grauen Torpfosten hin- und herpendelte. Der von Kindheit geläufige Singsang rankte sich um die beiden Namen, die mir zugeflogen waren hier in der Fremde , und als sei daran mein Halt und Talisman. Sie verschmolzen in eins und wurden fast gestaltlos zu einer einzigen Lust und Bedrängnis, liebreich neu geboren zu einer vereinten Erscheinung, nicht Lili, nicht Marleen, sondern Lili Marleen. Da schwand vor mir der ganze Wust aus Verängstigung und Bangnis. […] Plötzlich war mir gewiss, ich würde heimkehren, und sei es nur als Wiedergänger, der uns an der Küste vertraut ist. Wie von selber formte sich da Vers an Vers und schrieb sich musiziert in den Spiegelglanz des Asphalts.7

Das war laut Hans Leip die Entstehung von ›Lili Marleen‹.

18 Ein Lied von Liebe und Tod

Nachdem seine Ablösung gekommen war, notierte Leip eilig die ersten drei Strophen dieses Gedichts in sein Notizbuch. Das sind die Verse:

Vor der Kaserne vor dem großen Tor stand eine Laterne und steht sie noch davor, so wolln wir uns da wiedersehn, bei der Laterne wolln wir stehn, wie einst, Lili Marleen.

Unsre beiden Schatten sahn wie einer aus; dass wir so lieb uns hatten, das sah man gleich daraus. Und alle Leute solln es sehn, wenn wir bei der Laterne stehn wie einst, Lili Marleen.

Schon rief der Posten: Sie blasen Zapfenstreich; Es kann drei Tage kosten! – Kamerad, ich komm ja gleich. – Da sagten wir Auf Wiedersehn. Wie gerne wollt ich mit dir gehn, mit dir, Lili Marleen!

So endet das in dieser Berliner Regennacht geschriebene Ge- dicht mit dem Abschied von der Geliebten. Kurioserweise hatte Leip, ein vielschichtiger Künstler, diese Verse von Anfang an als Lied geschrieben und sogar eine Melodie dazu komponiert, so wie er es später mit vielen anderen seiner Gedichte tat, doch die- se musikalische Version [CD, Nr. 2] wurde nie bekannt. Ihr

19 Debüt erlebte sie am nächsten Abend in Leips Zimmer, als er und seine Kameraden noch eine unverhoffte Gnadenfrist hat- ten, bevor sie an die Front mussten, eine Nacht, die sie dazu nutzten, um zu trinken und zu singen. Das Bier hatte ihnen das Gemüsemädchen Betty gebracht, ebendiese Lili aus dem Lied. Jahrzehnte später sollte Leip seiner vierten Ehefrau Kathrin er- zählen, dass er es für eine unerträgliche Bloßstellung seiner Gefühle hielt, dieses intime Lied, das er in der Nacht zuvor komponiert hatte, in einer Gruppe anzustimmen. Deshalb sagte er seinen Kameraden, es sei ein altes Volkslied und jede Ver- bindung zwischen dem Text und seiner damaligen Gefühlslage reiner Zufall.1 Nach dieser denkwürdigen Nacht in Gesang und Rausch erwartete sie die Front. Von diesem Quartett, das ›Lili Marleen‹ zum ersten Mal sang, überlebten nur zwei: Klaas Deters – Betty-Lilis Verehrer –, der später Lehrer wurde, und Hans Leip, der dank einer Verletzung an der Wirbelsäule bei einem Gefangenentransport die Front verlassen konnte. Jahrzehnte später, im Jahr 1945, sollte Leip einen Brief von Deters erhalten. Darin schreibt ihm sein ehemaliger Kamerad: »Seit Juli 1945 bin ich als Nazisünder aus dem Dienst entlassen. Wie ein Parzival, der nach einem Gral suchte und drängt, unwis- send, etwas Böses zu tun, bin ich in diese Lage geraten.« Deters bittet ihn, motiviert durch die Berühmtheit, die sein alter Freund nun dank ›Lili Marleen‹ erlangt hatte, um ein Leumundszeugnis, damit er im Entnazifizierungsverfahren un- geschoren blieb. In Deutschland wurden die auf diese Weise er- langten Leumundszeugnisse bekanntlich »Persilscheine« ge- nannt: Die Waschmittelmarke spielt auf deren magische Fähig- keit an, diejenigen »weißwaschen« zu können, die sich mit den braunen Flecken des Nationalsozialismus beschmutzt hatten. Um Leip die Arbeit zu erleichtern, hatte Deters ihm sogar die Sätze diktiert, die in dem gewünschten Papier stehen sollten:

Ich gebe dir einzelne Anhaltspunkte, die du, Meister der deut- schen Sprache, besser formen kannst als ich – dass du mich seit dreißig Jahren kennst, dass ich durch meine Leicht gläubig keit

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