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Aufsatz

Katja Protte

Mythos »« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege1

Einleitung

1915, im Ersten Weltkrieg, schrieb der junge Soldat und angehende Dichter ein Gedicht über Liebe, Abschied und Krieg. 23 Jahre später vertonte der auf- strebende Komponist die Zeilen. 1939, kurz vor Beginn des Zwei- ten Weltkriegs, sang es auf Schallplatte. Die allabendliche Aus- strahlung von »Lili Marleen« über den deutschen Soldatensender Belgrad brach- te 1941 den Durchbruch. Das Lied berührte menschliche Grundbefindlichkeiten der Zeit: Trennung von geliebten Menschen, Sehnsucht nach zu Hause, Einsam- keit, Angst vorm Sterben - »Lili Marleen« gab diesen Gefühlen Raum, hob sie in wehmütiger Verklärung auf. Bald hörten und sangen es nicht nur deutsche, son- dern auch alliierte Soldaten. Ubersetzungen und Umdichtungen entstanden; das Lied wurde zur Waffe im Propagandakrieg. Heute ist »Lili Marleen« Menschen auf der ganzen Welt ein Begriff; fast jeder kennt die Melodie. Das Lied wird von Bundeswehrsoldaten auf dem Balkan gesungen2 und von Geschäftsleuten in ja- panischen Karaoke-Bars3; Schlager- und Chansonsängerinnen, aber auch Heavy- Metal- und Punk-Bands covern es immer wieder. Schiffe, Restaurants, Geschäfte, Rennpferde und Pornodarstellerinnen heißen nach der besungenen Geliebten4. »Lili Marleen« gehört nicht nur zu den international erfolgreichsten deutschen Lie- dern, sondern ist vielleicht auch das einzige, das sich sowohl im militärischen Be-

' Ein wichtiger Teil der Recherchen für diesen Aufsatz erfolgte im Rahmen meiner Tätig- keit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, für die Wechselausstellung »Lili Marleen. Ein Schlager macht Ge- schichte«. Diese war vom 7.12.2001 bis 10.2.2002 im Haus der Geschichte zu sehen und Wurde anschließend im Nationaal Oorlogs- en Verzetsmuseum Overloon (26.4.2002 bis 13.4.2003) und im Verzetsmuseum Amsterdam (3.5. bis 16.11.2003) gezeigt. Eine weniger umfangreiche Wanderausstellung war u.a. an den Goethe-Instituten in Tel Aviv und Je- rusalem zu sehen und ist weiterhin im In- und Ausland im Einsatz. Zur Ausstellung ist ein Begleitbuch erschienen: Christian Peters, Lili Marleen. Ein Schlager macht Geschichte, Bonn 2001. Ich danke dem Haus der Geschichte und insbesondere dem Projektleiter die- ser Ausstellung Herrn Dr. Christian Peters dafür, die Ausstellungsrecherchen für diesen Aufsatz nutzen zu dürfen. 2 Siehe Kapitel 6. 3 Vgl. Andrea Strunk, Überlebenstraining in Tokio, in: Frankfurter Rundschau/Magazin, 9.12.2000. 4 Ergebnisse einer Internetrecherche über die Suchmaschine »Google«. Die umfangreich- ste mir bekannte Zusammenstellung von unterschiedlichen Medien mit Bezug zu »Lili Marleen«, unter anderem eine Auflistung von über 100 Interpreten des Liedes, eine Zu- sammenstellung von Filmen und Fernsehsendungen, künstlerischen Darstellungen und Belletristik bietet Peter Gmachl, »Lili Marleen« - Gestern und Heute. Analyse eines her- ausragenden Phänomens in der Medien- und Kommunikationsgeschichte, unveröffent- lichte Diplomarbeit mit fünf CDs als Anlage, Salzburg 2001. Der vorliegende Aufsatz greift diese mediale Rezeption nur punktuell auf; Vollständigkeit ist nicht angestrebt.

Mililärgeschichtliche Zeitschrift 63 (2004), S. 355-400 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 356 MGZ 63 (2004) Katja Protte

Lili Marleen

Vor der Kaserne vor dem großen Tor stand eine Laterne, und steht sie noch davor, so wolln wir uns da wiedersehn, bei der Laterne wolln wir stehn, wie einst, Lili Marleen.

Unsere beiden Schatten sahn wie einer aus. Daß wir so lieb uns hatten, das sah man gleich daraus., Und alle Leute solin es sehn, wenn wir bei der Laterne stehn, wie einst, Lili Marleen.

Schon rief der Posten, sie blasen Zapfenstreich, es kann drei Tage kosten, Kamerad, ich komm ja gleich. Da sagten wir auf Wiedersehn, wie gerne wollt ich mit dir gehn, mit dir, Lili Marleen.

Deine Schritte kennt sie, deinen zieren Gang, alle Abend brennt sie, mich vergaß sie lang. Und sollte mir ein Leids geschehn, wer wird bei der Laterne stehn mit Dir, Lili Marleen?

Aus dem stillen Räume, aus der Erde Grund hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund. Wenn sich die späten Nebel drehn werd ich bei der Laterne stehn wie einst, Lili Marleen5.

Zit. nach Hans Leip, Die kleine Hafenorgel. Gedichte und Zeichnungen, 1937, S. 32 f. Die Schreibweise des Liedtitels variiert stark. Mehr als fünfzehn Varianten lassen sich über die Suchmaschine »Google« im Internet nachweisen. Abgesehen von Zitaten wird in diesem Aufsatz, dem ursprünglichen Gedicht von Hans Leip folgend, die Schreib- weise »Lili Marleen« verwendet. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 357 reich als auch in der Unterhaltungsbranche anhaltender und weitreichender Po- pularität erfreut. Die wenigsten Menschen kennen mehr als einige Zeilen des Lie- des; doch allein der Name »Lili Marleen« weckt nostalgische Gefühle und evoziert Bilder einer Traumfrau. Gleichzeitig ruft der enge Bezug zum Zweiten Weltkrieg und zur NS-Zeit aber auch Ablehnung hervor. Als Propagandalied, als verharm- losende Schnulze, als Deckmantel für Militarismus und Kriegsverherrlichung gilt das Lied bei seinen Kritikern. In der deutschen zeithistorischen Forschung wurde das Phänomen »Lili Mar- leen« bisher kaum wahrgenommen. Monographische Arbeiten zur Geschichte des Liedes liegen sehr verstreut, zum Teil unveröffentlicht vor und stammen meist aus anderen Fachrichtungen6. In den USA ist bereits vor 25 Jahren eine Arbeit des Hi- storikers Carlton Jackson erschienen, die interessante Ansätze zur Analyse des Phänomens bietet, im Detail aber sehr unzuverlässig ist7. In Deutschland hat sich im universitären Bereich besonders die musikalische Volkskunde mit »Lili Mar- leen« beschäftigt8. Den Fokus auf die Rolle des deutschen Soldatensenders Belgrad legen zwei von Veteranen verfaßte Arbeiten9. In jüngerer Zeit sind zwei univer- sitäre Abschlußarbeiten zum Thema »Lili Marleen« entstanden10. Peter Gmachls Arbeit stammt aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaften und hebt be- sonders die Breite der Rezeption in Musik- und Unterhaltungsbranche hervor; Alan Popes Studie legt den Schwerpunkt auf Copyright-Fragen und - unter Auswer- tung unveröffentlichter Quellen der BBC Written Archives - auf die Herausforde- rung, die das Lied für die britische Rundfunkpropaganda im Zweiten Weltkrieg bedeutete. 2001 erschien ein Begleitbuch zur Ausstellung »Lili Marleen. Ein Schla- ger macht Geschichte« des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-

6 Angesichts der unübersichtlichen Forschungslage kann der folgende Uberblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Dies gilt insbesondere fur das nicht anglo-ame- rikanische Ausland und den Bereich unveröffentlichter Abschlußarbeiten. Erwähnt wer- den hier auch nur Arbeiten, die selbständig erschienen sind, und bzw. oder ihre Aus- führungen wissenschaftlich belegen. Die zahlreichen kürzeren Ausführungen, die nur punktuell Neues bringen, werden im weiteren jeweils an gegebener Stelle zitiert. Auto- biographien und Arbeiten über an Entstehung und Verbreitung des Liedes Beteiligte werden in Kapitel 1 angegeben. 7 Carlton Jackson, The Great Lili, San Francisco 1979. 8 Wilhelm Schepping, Zeitgeschichte im Spiegel eines Liedes. Der Fall »Lili Marleen«. Ver- such einer Summierung, in: Festschrift fiir Ernst Klüsen zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Günther Noll und Marianne Bröcker, Bonn 1984, S. 435-464. Dieser Aufsatz ist, ergänzt um einige Quellen zur Lili-Marleen-Rezeption in Italien, vor einigen Jahren erneut ver- öffentlichlicht worden: La storia che si riflette in una canzone: il caso »Lili Marleen«, in: Il de Martino, 1998, Nr. 8: Canto sociale e Resistenza, S. 9-46. 9 Kurt Schneider und Georg Steigner, Lili Marlen bezaubert Völker, Armeen und Könige. Ein Lied schlägt die kostbarste Brücke der Welt. Die Geschichte eines Liedes und eines Senders, Zweibrücken 1954; Johann Holzem, Lili Marleen und Belgrad 1941. Der lange Weg zum Ruhm, 3., erg. Aufl., Meckenheim 1997 (Erstdruck in der Zeitschrift des Ver- bandes deutscher Soldaten e.V. Bonn »Soldat im Volk«, Hefte 10/1990 bis 1/1991). Bei Schneider/Steigner handelt es sich um eine anekdotenreiche, essayistische Schilderung; Holzem zeichnet sich durch große Detailgenauigkeit aus. 10 Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4); Alan David Pope, The Story of Lili Marleen - a Nazi Conquest?, unveröffentl. Diplomarbeit (BA), Oxford 2001. Popes Arbeit entstand im Rahmen eines Studiengangs, der »Contemporary Studies« und »Publishing and Copy- right in a Business and Legal Context« verbindet. Ich danke beiden Autor für die freund- liche Erlaubnis, ihre Arbeiten für diesen Aufsatz nutzen zu dürfen. 358 MGZ 63 (2004) Katja Protte land in Bonn, das wichtiges Bild- und Quellenmaterial enthält". Eine CD-Edition mit unterschiedlichen Versionen von »Lili Marleen« sowie einem Begleitband von Rainer E. Lötz und Horst J.P. Bergmeier ist in Vorbereitung12. Der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht eine ungleich stärkere jour- nalistische13, literarische und filmische14 Beschäftigung mit dem Thema gegenüber, die noch während des Zweiten Weltkriegs einsetzte und bis heute anhält. Bekannte Künstler wie der US-Schriftsteller John Steinbeck in einer Kriegsreportage von 194315 oder der westdeutsche Regisseur in seinem Spiel- film »Lili Marleen« von 1980/81 haben ebenso zur Tradierung beigetragen wie die mündliche Überlieferung durch zahllose Veteranen und Zivilisten. Kennzeichnend ist die große Anzahl vielfach wiederholter, aber nicht belegter Aussagen, die große Bedeutung des Hörensagens. Legenden und Anekdoten ranken sich um die Entstehungs- und Verbrei- tungsgeschichte des Liedes. Allen Trivialisierungstendenzen zum Trotz, die mit dem Welterfolg einhergingen, wird immer wieder eine persönliche Betroffenheit, eine fast andächtige Atmosphäre beschrieben, wenn Menschen, insbesondere Sol- daten, »Lili Marleen« hören16. Die verbreitete Haltung, das eigene Schicksal mit dem Lied in Verbindung zu setzen, legt es nahe, dieses kulturhistorische Phänomen als einen modernen Mythos zu beschreiben. Dabei ist der Begriff »Mythos« nicht nur mit »Legende« gleichzusetzen, die durch die Konfrontation mit historischen Fak- ten zu entlarven wäre. Vielmehr soll er als Teil des Gesamtkomplexes tradierter Kulturmuster betrachtet werden, als eine der kollektiven erzählerischen Verarbei- tungsformen, »die man zur Verortung der empirischen Welt, zur Erklärung des- sen, was nach Erklärung verlangt, zur Verfügung hat«17. Mit der Öffnung der neue- ren Militärgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte des Krieges rücken auch For- schungsgegenstände ins Blickfeld, die man bisher eher dem Bereich der (europäi- schen) Ethnologie zugerechnet hat. Am Beispiel von »Lili Marleen« läßt sich in ungewöhnlicher Komplexität die Entstehung eines Mythos im Zeitalter der Welt-

11 Siehe Anm.l. 12 Die Box mit 10 CDs soll bei erscheinen. 13 Aus der großen Menge der journalistischen Darstellungen seien hier besonders erwähnt: Derek Jewell, Lilli Marlene: a song for all armies, in: Alamein and the desert war. Ed. by Derek Jewell, 1967, S. 147-156 (erstmals im Sunday Times Magazine); Rudolf Walter Leonhardt, Lieder aus dem Krieg, München 1979, S. 151-175 (basierend auf Ar- tikeln für Die Zeit). 14 Einige Dokumentarfilme bzw. Hörfunkfeatures haben über den Einsatz von Zeitzeu- geninterviews hinaus einen hohen Informationswert: Wenn sich die späten Nebel dre- hen, Dokumentarfilm, BRD 1973, Buch: Günter Karweina, Regie: Norbert Schultze jr., 50 Min.; Lale Andersen - Die Stimme der Lili Marleen, Dokumentarfilm, Deutschland 2001, Buch/Regie: Irene Langemann, 90 Min. (auch als 60minütige Fernsehfassung); 40 Jahre Lili Marleen, Hörfunkfeature, Süddeutscher Rundfunk, 14.08.1981; Bettina Hindemith und Sabine Milewski, Lili Andersen - Lale Marleen. Die Geschichte einer Legende, Hör- bücher vom Hessischen Rundfunk, 2 CDs, Frankfurt a.M. 2001,120 Min. 15 Vgl. John Steinbeck, The alien they couldn't intern, in: Daily Express, 10.7.1943 (Mit klei- nen Veränderungen wieder abgedruckt unter dem Titel »Lilü Marlene«, in: John Stein- beck, Once There Was a War, New York 1958, S. 62-65). 16 Siehe besonders Kapitel 2, 4 und 6. 17 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frank- furt a.M. 2001, S. 62. Zur Verwendung dieses ethnologischen Vokabulars in historischen Arbeiten vgl. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996 (= Kölner Beiträ- ge zur Nationsforschung, Bd 2), S. 35-64. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 359

kriege zwischen anthropologischen Grundlagen und historisch-situativen Fakto- ren analysieren. Zunächst soll die Entstehungsgeschichte des Liedes von 1915 bis 1939 geschil- dert werden. Da die vorliegenden Quellen, vor allem autobiographische Zeugnis- se, meist schwer zu objektivieren sind und häufig rückblickend zu einer Zeit ent- standen, als die Protagonisten bereits um den Erfolg ihres Liedes wußten, bietet das erste Kapitel weniger eine geradlinige, historisch unzweifelhafte Erzählung als vielmehr eine Untersuchung individueller, für die Entwicklung des Mythos wichtiger Darstellungsstrategien. Textgrundlage, Melodie und erste Plattenauf- nahme werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Erfolg des Liedes kurz ana- lysiert. Das zweite Kapitel zeigt Grundzüge der Verbreitungsgeschichte auf, die eng mit dem Radiozeitalter verbunden ist. Dabei werden ausführlich zeitnahe Quel- len wiedergegeben, um zu belegen, daß der Lili-Marleen-Mythos nicht erst ein Pro- dukt der Nachkriegszeit ist, sondern wesentliche Elemente bereits wenige Mona- te nach der ersten Ausstrahlung über den Soldatensender Belgrad ausgeprägt wa- ren. Ebenso wichtig für die Analyse der Mythenbildung ist das Aufspüren von Ele- menten, die nicht langfristig in den Mythos Eingang fanden, so zum Beispiel die Bedeutung von »Lili Marleen« für die Ostfront. Das dritte Kapitel soll die immer wieder angeführten, aber nur teilweise belegten Aussagen über die Verfolgung Lale Andersens und ein Verbot des Liedes durch das NS-Regime näher beleuchten, zum einen - so weit möglich - durch Prüfung und Erweiterung der Quellen- grundlage, zum anderen durch Analyse ihrer Funktion für die Mythenbildung. Das vierte Kapitel untersucht die Bedingungen für den internationalen Erfolg von »Lili Marleen« im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Verhältnis vom »Eigensinn«18 der Soldaten, die ein Lied der Gegner zu ihrem ei- genen machten, einerseits und gezielten propagandistischen Maßnahmen ande- rerseits. Das fünfte Kapitel bildet ein Exkurs, der sich anhand von Ubersetzungen und Umdichtungen mit den unterschiedlichen Frauenbildern beschäftigt, die mit dem Lili-Marleen-Mythos verbunden werden. Der Diskurs um Treue/Untreue und Unschuld/Schuld, der dabei nachvollzogen wird, leitet zum sechsten Kapitel über, das die Rezeption nach 1945 im Spannungsfeld zwischen militärischem Traditi- onsgut, Unterhaltungsgenre und Umgang mit NS-Zeit sowie Zweitem Weltkrieg behandelt. Ein Schwerpunkt bildet hierbei die Rezeption des Lili-Marleen-Mythos in der Bundeswehr.

1. Wer war Lili Marleen? - Entstehungsgeschichten

»Und ich sagte Marleen und dachte an Lili und sagte Lili und dachte Marleen. [...] Sie verschmolzen in eins und wurden fast gestaltlos zu einer einzigen Lust und Bedrängnis, liebreich neugeboren zu einer vereinten Erscheinung, nicht Lili, nicht Marleen, sondern Lili Marleen. [...] Wie von selber formte sich da Vers an Vers und schrieb sich musiziert in den Spiegelglanz des Asphalts. Und nach

18 Zur Verwendung dieses Begriffs vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn: Fabrikalltag, Arbeiter- erfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 360 MGZ 63 (2004) Katja Prette

mechanischer Ableistung der Vergatterung von meinem Posten erlöst, begann ich's noch stehend ins Notizbuch zu kritzeln und setzte es auf der Pritsche des Wachlokals fort, und es war später daran nichts zu ändern und blieb, wie es entstanden war19.« In seiner Autobiographie »Das Tanzrad« beschreibt der Hamburger Schriftsteller und Künstler Hans Leip (1893-1983) die Entstehung seines Gedichts »Lili Mar- leen« als schöpferischen Akt aus sehr persönlichen Motiven heraus, aber vor dem Hintergrund historisch bedeutender Ereignisse. Bald nach Beginn des Ersten Welt- kriegs war er, damals noch schriftstellerisch ambitionierter Zeichenlehrer, einge- zogen worden und absolvierte eine Ausbildung für Offizieranwärter an der Gar- defüsilierkaserne -Mitte. Hier verliebte er sich in zwei Mädchen: Marlene, groß, blond und elegant, Tochter eines Militärarztes und als Hilfsschwester an ei- nem Berliner Lazarett tätig, und die in einer Gemüsehandlung arbeitende, braun- gelockte Betty, die von Leip und seinen Kameraden den Spitznamen »Lili« erhielt. In der Nacht vom 3. auf den 4. April 1915 hatte er Wachdienst. Seine Verlegung an die Karpatenfront stand kurz bevor und ihn plagten dumpfe Todesahnungen. Auf diese Zeit datiert Leip die Geburtsstunde von »Lili Marleen«20. Noch heute exi- stiert der Notizzettel mit einer schlichten Melodie und den ersten dreieinhalb Stro- phen des Gedichts, der in dieser Nacht entstanden sein soll. Leip gibt an, die letz- ten Zeilen bereits im Kopf gehabt, sie aber aus einer Art abergläubischer Furcht nicht niedergeschrieben zu haben, da sie die Möglichkeit umzukommen offen aus- sprechen21. Veröffentlicht hat er den Text erst 1937 in seinem Gedichtband »Die kleine Hafenorgel«22. Zu dieser Zeit hatte sich Leip bereits als Schriftsteller etabliert. 1925 war sein Ro- man »Godekes Knecht« über das Schicksal der berüchtigten Vitalienbrüder er- schienen, von dem sich sogar Thomas Mann beeindruckt zeigte23. Zahlreiche wei- tere Bücher mit spezifisch norddeutsch-seemännischen Themen folgten, konnten jedoch nicht an diesen Erfolg anknüpfen. Nach 1933 hoffte er von der Begeisterung der Nationalsozialisten für alles »Nordische« zu profitieren. Er schrieb für Goeb-

19 Hans Leip, Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins, Frankfurt a.M., Berlin 1979, S. 78 f. 20 Vgl. ebd., S. 72-81. Der Spitzname »Lili« soll entstanden sein, als Leip und seine Kame- raden Betty beim Hühnerfüttern beobachteten und sich an Goethes Gedicht »Lilis Park« (1775) erinnert fühlten. 21 Die Vorderseite des Zettels mit der »Urfassung« ist in Leip, Das Tanzrad.(wie Anm. 19), S. 80, abgedruckt. Das Original befindet sich im Museum für Hamburgische Geschich- te, wo Teile des Hans-Leip-Nachlasses liegen. Die Frage, wann er die letzten Zeilen er- gänzt habe, beantwortete Leip im Laufe seines Lebens unterschiedlich. Im Museum für Hamburgische Geschichte, Hans-Leip-Archiv, findet sich die Kopie eines »Die Laterne« überschriebenen Manuskripts mit einer Rohfassung von »Lili Marleen«, die zudem Leips Darstellung (»und es war später daran nichts zu ändern und blieb, wie es entstanden war«) relativiert. Auf diesem Manuskript hat Hans Leip nachträglich angemerkt: »Die Korrekturen zur endgültigen Fassung sind erst später, wahrscheinlich 1921 in Oevel- gönne, eingefügt, als ich zum ersten Mal einige Gedichte [...] zusammenstellte unter dem Titel >Der grüne Wagen<, was aber unveröffentlicht blieb.« In dem Artikel »Das Schick- sal der >Lili Marleen<«, in: Hamburger Freie Presse, 3.11.1949, schreibt er, die Verse sei- en erst 20 lahre später für »Die kleine Hafenorgel« ergänzt worden. 22 Leip, Die kleine Hafenorgel (wie Anm. 5), S. 32 f. 23 Vgl. Godekes Knecht, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hrsg. von Walter Jens, Bd 10, München 1990, S. 163. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 361

bels' Renommierzeitung »Das Reich« und nahm an den »Dichtertreffen« in Weimar teil, wo sich der nationalsozialistische Literaturbetrieb selbst feierte24. Ebensowenig wie die Authentizität der Leip-Freundinnen Lili und Marleen be- legbar ist, läßt sich klären, ob das Gedicht wirklich »Produkt unkontrollierten und unkalkulierten Schaffensdrangs <«25 war. Die Schilderung Leips zur Entstehungs- geschichte des Textes stellt jedoch wesentliche Elemente heraus, die zum späteren Erfolg von »Lili Marleen« beitrugen: Intimität und persönliche Betroffenheit; eine Stimmungslage zwischen Verliebtheit, Lebenslust und Todesangst, zwischen Hof- fen und (Ver-)Zweifeln; Sehnsucht als zentrales Motiv; die Evozierung einer Frau- engestalt, die sowohl unnahbare Schöne als auch bodenständig-derbe Geliebte sein kann. Der Text von »Lili Marleen« ist bei aller scheinbaren Einfachheit kunstvoll auf- gebaut. Leip verwendete verschiedene Stilmittel des Volksliedes: eine eingängige, gleichbleibende Strophenform (ABABCCC), die direkte Anrede »Lili Marleen«, den Wechselgesang zwischen Wachposten und Sprecher in der dritten Strophe, die Personifizierung eines unbelebten Objekts (»Laterne«) in der vierten Strophe (»al- le Abend brennt sie, / mich vergaß sie lang.«). Die fünfte Strophe zeigt in ihrer bildhaften Sprache und der Auflösung der Grenzen zwischen Realität und Imagi- nation deutliche Einflüsse der zeitgenössischen expressionistischen Dichtung (»Aus dem stillen Räume, / aus der Erde Grund / hebt mich wie im Traume / dein ver- liebter Mund.«). Sie weckt Vorstellungen von Tod und Auferstehung; diese werden jedoch nicht greifbar, bleiben im Ungewissen. Die verschiedenen Zeitebenen und Modi sind geschickt miteinander verwoben, beginnend mit der volksliedtypischen Parataxe in der ersten Strophe (»stand eine Laterne, / und steht sie noch davor«), die zu der in die Zukunft gerichteten Aufforderung »bei der Laterne wolln wir stehn« hinleitet. Die zweite Strophe läßt das Wiedersehen fast zur Gewißheit wer- den (»Und alle Leute solln es sehn, / wenn wir bei der Laterne stehn«); die dritte schildert einen bereits in der Vergangenheit nicht in Erfüllung gegangenen Wunsch (»wie gerne wollt ich mit dir gehn«); die vierte handelt schon konkret von der Vor- stellung, keine gemeinsame Zukunft zu haben (»Und sollte mir ein Leids geschehn, / wer wird bei der Laterne stehn / mit dir, Lili Marleen?«). Die fünfte Strophe hebt das Wiedersehen schließlich in eine Sphäre von Traum und Mystik (»Wenn sich die späten Nebel drehn / werd ich bei der Laterne stehn«). So wird zwischen Er- innerung an gemeinsames Glück, Hoffen auf ein Wiedersehen und der Möglichkeit des eigenen Todes ein emotional anrührender Schwebezustand hergestellt. Es be- darf nicht der Kenntnis des gesamten Textes, um diese Atmosphäre zu spüren. Ei- nige Wortfetzen und die wirkungsmächtige Zeile »wie einst, Lili Marleen« genü- gen. Für die spätere Rezeption wichtig ist auch die Doppeldeutigkeit dieser Zeile: Im ursprünglichen Text ist »Lili Marleen«, abgetrennt durch ein Komma, die An- rede an die ferne Geliebte. Wird dieses Komma jedoch weggelassen oder wird die

Vgl. Rüdiger Schütt, Deplaziert im literarischen Feld? Warum »Lili Marleen« seinen Ver- fasser nicht immer glücklich machte, in: Praxisorientierte Literaturtheorie. Annäherun- gen an Texte der Moderne. Hrsg. von Thomas Bleitner [u.a.], Bielefeld 1999, S. 45-56, hier S. 51 f. Ebd., S. 50. Schütt führt weiter an, daß »Lili Marleen« wahrscheinlich Leips einziges so spontan entstandenes Gedicht sei - ein Umstand, der meines Erachtens nahelegt, Leips Schilderung der Entstehungsgeschichte eher als literarische Verarbeitungsform denn als Tatsachenbericht zu lesen. Siehe auch Anm. 21. 362 MGZ 63 (2004) Katja Protte

Zäsur gesungen nicht hörbar, ist »Lili Marleen« nicht mehr Adressatin, sondern bereits Erinnerung an eine unbestimmte Vergangenheit: Wir wollen an der Later- ne stehen, so wie Lili Marleen dort einst gestanden hat. Dieses verbreitete Text- verständnis verstärkt den mythischen Charakter der Kunstfigur »Lili Marleen«26. Als »Die kleine Hafenorgel« 1937 erschien, war Leips eigene Melodie zu »Lili Marleen« nicht bekannt. Sie hätte, wie der Dichter später eingestand, auch kaum das Potential für einen breiteren Erfolg gehabt27. Im selben Jahr noch vertonte der von Hindemith beeinflußte Münchener Rudolf Zink (1910-1983) »Lili Marleen« und andere Gedichte der »Hafenorgel« auf Anregung der noch wenig bekannten Sängerin Lale Andersen, die er im Münchener Kabarett »Simplicissimus« ken- nengelernt hatte. Seine Aufnahme in die Reichsmusikkammer war wegen kriti- scher Äußerungen und sogenannter verdächtiger Auslandskontakte abgelehnt worden; er komponierte als Autodidakt in seiner Freizeit. Zinks lyrische Verto- nung folgt nicht der Strophenform, wie bei Soldatenliedern üblich, sondern der Form des dreiteiligen Kunstliedes. Lale Andersen sang diese Version 1937/38 im »Simplicissimus« und nahm das Lied mit einigen weiteren von Zink vertonten Leip-Gedichten in ihr Repertoire auf. Weitere Verbreitung fand seine Lili-Marleen- Version nicht28. Die berühmt gewordene Vertonung entstand wenig später: »Jan hat inzwischen Texte für Seemannslieder besorgt: Kleine Hafenorgel - Ge- dichte von Hans Leip. [...] Während die anderen weitersprechen, lachen und erzählen, bin ich schon am Klavier und spiele ohne langes Nachdenken so vor mich hin eine kleine, ganz einfache Melodie: [...] Da werden wir jäh unterbro- chen: Von draußen poltert jemand herein zu uns: Die Synagoge brennt29!« Der Komponist Norbert Schultze (1911-2002) datiert in seiner Autobiographie »Mit dir, Lili Marleen« die eher beiläufige Arbeit an der Melodie auf die Nacht des 9. November 1938 und verleiht so ihrer Entstehung eine schicksalsschwere Aura, die Leips Schilderung der Kriegssituation 1915 an historischer Tragweite übertrifft.

26 Vgl. Rüdiger Schütt, Dichter gibt es nur im Himmel. Leben und Werk von Hans Leip - Biographie und Briefedition 1893-1948, Hamburg 2001, S. 34; Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 42^5. 27 Vgl. Hans Leip, Richtigstellende Bemerkung zu Lili, zu Marleen und zum Lied Lili Mar- leen, in: Das Hans-Leip-Buch. Erinnerungen, Gedichte, Gedanken, Erzählungen. Zsgest. von Joachim Jessen und Detlef Lerch, Hamburg 1983, S. 78-81, hier S. 80 f. Publiziert wurde seine Melodie erstmals in Hans Leip, Frühe Lieder. Mit Singweisen und Holz- schnitten vom Verfasser, Hamburg 1948, S. 48 f. 28 Vgl. Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 20 f.; Hindemith/Milewski, Lili Andersen (wie Anm. 14), wo ein älteres Interview mit Andersen und Zink wiedergegeben ist, ebenso die von Lale Andersen wohl aus diesem Anlaß erstmals aufgezeichnete Zink-Version von »Lili Marleen«. Ein Manuskript der Zink-Version befindet sich im Deutschen Musikarchiv, Berlin. Lale Andersen, Der Himmel hat viele Farben. Leben mit einem Lied, Stuttgart 1972, S. 152, schreibt, Zink sei Hindemith-Schüler gewesen. Nach Aussagen seines Soh- nes, Rudolf Zink jun., München, hat Zink jedoch kein reguläres Musikstudium absol- viert (Telefonat mit der Autorin vom 6.4.2003). 29 Norbert Schultze, Mit dir, Lili Marleen. Die Lebenserinnerungen des Komponisten Nor- bert Schultze, Zürich, Mainz 1995, S. 58 f. Schultze ist oft nachgesagt worden, er habe die Melodie nicht selbst komponiert. Aber es ist offenbar noch niemandem gelungen, ein konkretes Lied zu identifizieren, das für »Lili Marleen« Pate gestanden hätte. Vgl. Jackson, The Great Lili (wie Anm. 7), S. 43-45; Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 152. Michael Danzi, American Musician in 1924-1939. Memoirs of , entertain- ment, and movie world of Berlin during the Weimar Republic and the Nazi era - and in the as told to Rainer E. Lötz, Schmitten 1986, S. 113, behauptet, die Melo- die sei ursprünglich als Jingle für Chlorodont-Zahnpastareklame entstanden. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 363

Später räumte er in einem Interview ein, daß sich hier Dichtung und Wahrheit mi- schen. Die dramatische Zuspitzung, das bekannteste deutsche Lied des Zweiten Weltkriegs sei in der sogenannten Reichskristallnacht entstanden, geht wahr- scheinlich erst auf Überlegungen zur Verfilmung der Geschichte von »Lili Mar- leen« in den fünfziger Jahren zurück30. Schultze hatte 1931 sein Musikstudium in Köln abgebrochen und trat unter dem Künstlernamen Norbert Frank mit dem bekannten Studentenkabarett »Die vier Nachrichter« auf. Bereits zu dieser Zeit lernte er in der Berliner Künstlerknei- pe »Groschenkeller« die norddeutsche Sängerin kennen, die sich später Lale An- dersen nannte. Nach kurzer Verliebtheit verlor er sie aus den Augen. Er arbeitete als Korrepetitor und Kapellmeister. 1936 feierte Schultze mit seiner Märchenoper »Der schwarze Peter« einen ersten großen Erfolg als Komponist. Er trat dem na- tionalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur und später der NSDAP bei31. Der Opernsänger Jan Behrens, der damals eine Shanty-Sendung im Radio hatte, suchte 1938 dringend neue Lieder und brachte dem befreundeten Komponisten deshalb zur Vertonung »Die kleine Hafenorgel« mit in den »Groschenkeller«. Schultzes eingängige Melodie greift den volksliedhaften Charakter des Textes auf. Als kurzes, einfaches Strophenlied in C-Dur und Viervierteltakt angelegt, ist die Vertonung nicht weniger geschickt und durchdacht als Leips Text. Statt der üb- lichen acht oder 16 Takte wählte Schultze eine Liedlänge von zwölf Takten. Unüb- lich für Volkslieder, folgen nach den ersten fünf Takten auf den Grundrhythmus drei weitere Takte, bei denen die dritte Viertelnote punktiert und so die Auflösung je- der Phrase verzögert ist, womit musikalisch ein Sehnsuchtsmotiv angedeutet wird. Pope weist auch auf Übereinstimmungen in der Melodik von »Lili Marleen« mit einem anderen sehr populären deutschen Lied hin, nämlich mit der »Moritat« (»Mackie Messer«) aus Brecht/Weills »Dreigroschenoper« (1928). Beides sind Lie- der, die ihre Wirkung stärker entfalten, wenn sie nicht von Interpreten mit klassi- scher Stimmausbildung gesungen werden, sondern von Schauspielern oder Ka- barettsängern32. Der Baß Jan Behrens soll mit Schultzes Arbeit nicht zufrieden ge- wesen sein: »Is ja aliens viel zu sanft, viel zu lyrisch, mehr für kleine Mädchen. Was ich brauche, ist doch was Derbes, was Zünftiges, was für Männer33!« Auch an- dere befreundete Sänger, Musikverlage und der Rundfunk zeigten zunächst kein Interesse. Schultze hektographierte selbst rund 30 Hefte mit zehn vertonten Leip- Gedichten und schickte sie an Bekannte, darunter auch Lale Andersen34. Keine andere Sängerin wird so stark mit der Kunstfigur »Lili Marleen« identi- fiziert wie ihre erste Interpretin. Geboren als Liese-Lotte Helene Berta Bunnenberg in Lehe bei , begann Lale Andersen (1905-1972) ihre künstlerische Karriere relativ spät. 1.922 hatte sie den Landschaftsmaler Paul-Ernst Wilke gehei- ratet. Die dreifache Mutter träumte jedoch von Unabhängigkeit und verließ ihren Mann 1929, um in Berlin eine Karriere als Sängerin und Schauspielerin einzu- schlagen. Die Tochter wuchs bei Andersens Schwester auf, die beiden Söhne leb-

30 Vgl. Hindemith/Milewski, Lili Andersen (wie Anm. 14). Dieses Filmprojekt kam nicht zustande, aber Norbert Schultze schrieb für den Film »Wie einst Lili Marleen« (BRD 1956, Regie: Paul Verhoeven) die Musik. 31 Vgl. Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 23-57, 75. 32 Vgl. Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 32-34. 33 Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 60. 34 Vgl. ebd., S. 60 f. 364 MGZ 63 (2004) Katja Protte ten zeitweise bei ihr, überwiegend aber bei Verwandten und in Internaten. Müh- sam faßte Lale Andersen zunächst im Kleinkunstbereich Fuß. Erste Engagements beim Theater und beim Rundfunk folgten. Sie bewegte sich im Berliner Künstler- milieu, war häufig unterwegs und trat unter anderem in München und Zürich auf. Ihr Repertoire basierte einerseits auf Texten und Chansons von Autoren wie Ber- tolt Brecht, Kurt Weill, Kurt Tucholsky und Joachim Ringelnatz, andererseits auf Ha- fen- und Seemannsliedern35. Nach 1933 verhielt sie sich ambivalent, wie ihre Ta- gebucheintragungen zeigen. Sie hatte enge berufliche Kontakte mit deutschen Emi- granten in der Schweiz und verliebte sich in den deutsch-jüdischen Komponisten . Kritik an ihrem Repertoire verärgerte sie: »Zum erstenmal solange ich singe, wird an meinen Chansons dirigiert [sie]. Das eine ist zu übermütig, das andere verdächtig sozial, das dritte von einem jüdischen Autor. Wird alles verboten. Auch die Rockhosen, die ich drei Jahre tra- gen durfte.« Andererseits sah und ergriff sie durchaus die Karrierechancen, die sich ihr als nord- deutsch-herbem Typ boten: »Wenn zu blondem Haar und arischen Urahnen heut noch etwas Begabung kommt«. Die nächste Tagebuchseite fehlt36. Spätestens ab Herbst 1934 nannte sich die Künstlerin nicht mehr Liselott Wilke, sondern Lale An- dersen. Zunehmend trat sie in skandinavischen Trachtenkleidern auf. Gerüchte, sie sei skandinavischer Herkunft, etwa Norwegerin, dementierte sie nicht ange- sichts der großen Erfolge, die die Schwedin Zarah Leander feierte37. 1939 hatte sich Lale Andersen einen Platz im Showgeschäft erkämpft, war aber noch nicht berühmt. Wahrscheinlich gehörten sowohl Zinks als auch die ihr zuge- sandte Version von Norbert Schultze zu ihrem Repertoire38. Die erste Plattenäuf- nahme von »Lili Marleen« schildert sie in ihrem autobiographischen Roman »Der Himmel hat viele Farben« vor allem als Folge ihrer eigenen Hartnäckigkeit und der ihres Pianisten. Die Produzenten der Schallplattenfirma »Electrola« seien erst wenig begeistert gewesen: »Diese Leip-Schultze-Sachen sind weder Lieder im Sinn von klassischem Lied- gut noch Schlager, von denen man sich einen Erfolg versprechen könnte [...]. Hören Sie sich doch mal Platten von Marika Rökk, Rosita Serrano, Ilse Werner an. So was läßt sich verkaufen39.«

35 Vgl. Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 18 f.; Gisela Lehrke, Wie einst Lili Marleen. Das Leben der Lale Andersen, Berlin 2002, S. 7-9,18^40. Lehrke ist Leiterin des Kulturamtes Bremerhaven, wo sich große Teile von Lale Andersens Nachlaß befinden. 36 Tagebuch Lale Andersen, Einträge vom 5.6.1933 und vom 4.10.1934. Lale Andersen hat von 1931 bis zu ihrem Tod 1972 Tagebuch geführt, allerdings unregelmäßig mit Unter- brechungen von einigen Wochen bis hin zu mehreren Jahren. Gelegentlich fehlen auch Seiten. Heute befinden sich ihre Tagebücher in Privatbesitz. Ich danke Herrn Rüdiger K. Weng dafür, sie für diesen Aufsatz nutzen zu dürfen. Auszüge wurden von Andersens Tochter vor dem Verkauf der Tagebücher publiziert: Litta Magnus Andersen, Lale An- dersen - die Lili Marleen. Das Lebensbild einer Künstlerin. Mit Auszügen aus bisher un- veröffentlichten Tagebüchern, München 1981. 37 Lehrke, Wie einst (wie Anm. 35), S. 41-66. 38 Andersen, Der Himmel (wie Anm. 28), S. 177-182, legt das Zusammentreffen mit Nor- bert Schultzé und das erstmalige Singen seiner Lili-Marleen-Ver tonung zusammen und datiert beides auf das Jähr 1939. Ihr Tagebuch (wie Anm. 36), Eintrag vom 10.5.1932, be- stätigt jedoch eher die Angabe von Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 32, er habe sie be- reits 1932 kennengelernt und 1939 keinen direkten Kontakt mehr gehabt. 39 Andersen, Der Himmel (wie Anm. 28), S. 182. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 365

Ihre Kollegin Trude Hesterberg sei jedoch weitsichtiger gewesen: »Die erste Ver- tonung von >Lili Marleen< war besser, aparter, sphärischer, [...] aber die neue An- sage und der Rhythmus, der wie die Schritte marschierender Soldaten klingt - Kin- der, das trifft aber wirklich haargenau den Nerv der Zeit.« Die erste Lili-Marleen- Schallplatte, die wahrscheinlich im Juli 1939 bei »Electrola« erschien40, betonte tatsächlich die militärische Seite durch den Titel »Lied eines jungen Wachtpostens« und das Arrangement: Am Anfang steht ein preußischer Zapfenstreich, im Hin- tergrund singt ein Männerchor, bestimmend ist ein leichter Marschrhythmus41. Lale Andersen hatte keine Gesangsausbildung; ihre Stimme war nicht herausragend. Auffallend ist ihre deutliche Aussprache und ein Vortragsstil ohne Vibrato und an- dere operettenhafte Anklänge. Ihr unprätentiöser Gesang erzeugte keine Distanz. Auch die eigentümliche Vertauschung der Geschlechterrollen war eine Vorausset- zung für den Erfolg. Leip schildert, er sei zunächst irritiert gewesen, seine »männ- liche Äußerung« von einer Frau wiedergegeben zu hören42; doch von einer Män- nerstimme vorgetragen, hätte das Lied die Phantasie der Soldaten kaum so beflü- geln können. Anfangs war die Schallplatte wenig erfolgreich. Bis Jahresende 1939 registrier- te die »Staatlich genehmigte Gesellschaft für musikalische Aufführungsrechte« (STAGMA/AMRE, heute GEMA) 700 verkaufte Exemplare. Der Verleger Hans Si- korski, der normalerweise Schultzes Kompositionen herausgab, hatte kein Interesse an »Lili Marleen«. Das Copyright erwarb 1940 der Berliner Apollo-Verlag Paul Lincke43. Die Eingängigkeit von Schultzes Melodie, die sofort mitgesummt werden kann, ist für die Popularität des Liedes ebenso wichtig wie Leips Namensschöpfung »Lili Marleen« und die zwischen Vergangenheit und Zukunft oszillierenden Verse, die nicht vollständig verstanden werden müssen, um gleichzeitig ein Gefühl von Sehn- sucht und Nähe zu erzeugen. Lale Andersen traf mit ihrer Plattenaufnahme die- sen Charakter des Liedes und war noch unbekannt genug, um den Assoziationen der Zuhörer freien Lauf zu lassen. Diese Faktoren ermöglichten den Erfolg von »Lili Marleen«, waren aber keineswegs eine Erfolgsgarantie. Die Möglichkeit des Scheiterns ist integraler Teil der verschiedenen Entstehungsgeschichten. Neben dem Bemühen, die spätere zeitgeschichtliche Bedeutung des Liedes bereits in der Situation zum Zeitpunkt der Entstehung anklingen zu lassen, verbindet dieses Mo- ment der Zufälligkeit und Absichtslosigkeit die Rückblicke der beteiligten Künst- ler, von denen jeder geübt in professioneller Selbstdarstellung war. Es ist typisch für Erfolgsgeschichten, daß die Widerstände, das nahe Scheitern betont werden,

40 Electrola, Nr. EG 6993, ca. Juli 1939, Seite A: Lied eines jungen Wachtpostens (Lili Mar- len), Seite B: Drei rote Rosen (Gedenken) [ein weiteres von Schultze vertontes Gedicht aus Leips »Die kleine Hafenorgel«]. Beide Titel gesungen von Lale Andersen mit Orchester- begleitung (Kleines Ensemble, Dirigent: Bruno Seidler-Winkler). Vgl. Manfred Weiher- müller, Discographie der deutschen Kleinkunst, Bd 3, Bonn 1992, S. 590. 41 Vgl. Schultze, Mit Dir (wie Anm. 29), S. 64; Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 20; Hindemith/Milewski, Lili Andersen (wie Anm. 14). Lale Andersen sang das Lied mit kleineren rhythmischen und textlichen Änderungen gegenüber Leip/Schultze. So er- setzte sie zum Beispiel die altertümliche Wendung »zieren Gang« durch »schönen Gang«. 42 Leip, Das Tanzrad (wie Anm. 19), S. 185. 43 Vgl. Schultze, Mit Dir (wie Anm. 29), S. 60, 64, 76 f. Das Copyright für »Lili Marleen« liegt immer noch beim Apollo-Verlag Paul Lincke, der heute in Mainz sitzt und zu Uni- versal Music Publishing, Berlin, gehört. 366 MGZ 63 (2004) Katja Protte um die Dramatik der Erzählung zu steigern. Beim Lili-Marleen-Mythos kommt je- doch eine besondere Spannung hinzu, die daraus entsteht, daß das Lied zwar während des Zweiten Weltkriegs seinen Durchbruch erlebte und deutschen Ur- sprungs ist, aber nicht als ein auf propagandistische Wirkung hin produziertes NS- Machwerk abgetan werden kann.

2. Eine Brücke zwischen Heimat und Front - Verbreitungsgeschichten

Einen höheren Bekanntheitsgrad erhielt das Lied »Lili Marleen« erst durch seine Verbreitung über den deutschen Soldatensender Belgrad. Am 6. April 1941 über- fiel das Deutsche Reich Jugoslawien ohne vorherige Kriegserklärung und bom- bardierte großflächig das zur offenen Stadt erklärte Belgrad44. Nach der Kapitula- tion Jugoslawiens am 17. April 1941 erhielten der junge Leutnant Karl-Heinz Reini- gen (1915-1990) und fünf weitere Soldaten den Auftrag, als Senderbetreuungs- trupp der die Rundfunkstation Belgrad zu übernehmen. Obwohl Gebäude und Sendeanlagen durch die Kampfhandlungen beschädigt waren, begann der Trupp bereits am 21. April 1941 auf der in Frontzeitungen bekanntgemachten Mittelwellenfrequenz 473,3 Meter zu senden, zunächst nur zwei Stunden täglich. Der Soldatensender Belgrad expandierte schnell. Er bot bei aller anfänglichen Im- provisation ein modernes Unterhaltungsprogramm, das sich großer Beliebtheit er- freute. Sein legendärer Ruf ist untrennbar mit der Erfolgsgeschichte von »Lili Mar- leen« verbunden45. Eine Jubiläumsschrift zum einjährigen Bestehen schildert die Anfänge des Senders: »Der Sender Belgrad beschaffte sich einen Teil seiner Schallplatten aus Wien. Unter den damals herbeigeholten Platten aber befand sich auch eine, die den Ti- tel >Lied eines jungen Wachtposten< trug. [...] Wir setzten die Platte vom jun- gen Wachtposten ebenso wie jede andere in unsere Sendungen ein. Da wir we- nige Platten hatten und uns die Aufnahme gefiel, tauchte sie öfter einmal auf. [...] Ja, die Platte von der Lili-Marlen wurde so oft gesendet, dass kurzerhand für einige Zeit das Spielen der Platte überhaupt verboten wurde. Aber hier schalteten sich unsere Hörer ein. Tag für Tag kamen von unseren Kameraden Briefe, in denen gerade diese Platte verlangt wurde. Und so sahen wir uns ge- zwungen, sie wieder ins Programm zu nehmen. Und nun wurden wir auch auf die Besonderheit der Platte aufmerksam46.«

44 Vgl. Detlef Vogel, Operation »Strafgericht«. Die rücksichtslose Bombardierung Belgrads durch die deutsche Luftwaffe am 6. April 1941, in: Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2001, S. 303-308. 45 Vgl. Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 30-42; Willi A. Boelcke, Die Macht des Radi- os. Weltpolitik und Auslandsrundfunk 1924-1976, Frankfurt a.M. [u.a.] 1977, S. 225-239; Horst J.P. Bergmeier und Rainer E. Lötz, Hitler's Airwaves. The Inside Story of Nazi Ra- dio Broadcasting and Propaganda Swing, New Haven, CT, London 1997, S. 187-189; Wal- ter Klingler, Nationalsozialistische Rundfunkpolitik 1942-1945. Organisation, Programm und die Hörer, Diss. Mannheim 1983, S. 113-116; Günter Grull, Radio und Musik von und für Soldaten. Kriegs- und Nachkriegsgeschichten 1939-1960, Köln 2000, S. 151-162. 46 Ein Jahr Soldatensender Belgrad, von den Soldaten des Senders Belgrad, Belgrad [1942] (= Schriftenreihe der Prop. Abt. »SO«, Stadt und Veste Belgrad, H. 3), unpag. [S. 22 f.]. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 367

Am 27. oder 28. April 1941 wurde vermutlich zum ersten Mal Lale Andersens Plat- te »Lied eines jungen Wachtpostens« vom Soldatensender Belgrad gespielt47. Spä- ter erinnerte sich Reintgen, daß das Lied auch wegen des Zapfenstreichs beson- ders häufig verwendet worden sei48. Von der Vehemenz des Protests beeindruckt und mit sicherem Gespür für die Bedürfnisse der Hörer, richtete der Sendeleiter am 18. eine tägliche Grußsendung ein, die kurz vor 22 Uhr mit »Lili Marleen« endete. Sie erhielt nach dem Schallplattentitel den Namen »Belgrader (Junger) Wachtposten«, der zum Synonym für den ganzen Sender wurde. Die Zu- schriften der Soldaten und ihrer Angehörigen verlas Reintgen selbst49. Die Darstellung in der Jubiläumsschrift räumt dem unvoreingenommenen Hö- rer, der für »sein« Lied gekämpft habe, die Hauptrolle bei der Entdeckung »Lili Marieens« ein und stärkt damit die Auffassung, es handele sich um ein wirkliches »Volkslied«50. Diese Auffassung fügt sich nahtlos in das Selbstverständnis eines Senders ein, bei dem Soldaten für ihre Kameraden selbst ein Programm gestalten sollten. Die griffige, bewußt soldatisch-kernig klingende Formel »Ein Leutnant und 5 Mann«, mit der die Jubiläumsschrift die Zusammensetzung des ersten Sender- betreuungstrupps beschrieb, spiegelt dieses Konzept wider. Reintgen und die mei- sten seiner engen Mitarbeiter waren zwar Soldaten, aber gleichzeitig auch junge, versierte Medienprofis, die hier eine einmalige Gelegenheit hatten, Erfahrungen zu sammeln und ihre Vorstellungen von Rundfunk umzusetzen51. Wie gut das Kon-

47 Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 23, 41-56, versucht mit Hilfe von Zeitzeugen ei- ne genaue Rekonstruktion der Vorgänge. Danach wurde »Lili Marleen« zum erstenmal am 26.4.1941 von einem improvisierten Soldatenchor unter Leitung Max Fabichs (Chef der dritten Kompanie des Infanterieregiments Großdeutschland und damals Holzems Vor- gesetzter) für den Soldatensender Belgrad gesungen, als Abschluß eines Programms mit verschiedenen anderen Operetten- und Soldatenliedern. Wahrscheinlich war es eben- falls Fabich gewesen, der - ohne regulärer Mitarbeiter des Senders zu sein - im Archiv der Radio-Verkehrs-AG, Wien, aus dort wenig gespielten Schallplatten Material für den Soldatensender Belgrad aussuchen durfte und dabei die Lili-Marleen-Platte einpackte. Später nahm jedoch Richard Kistenmacher, Conférencier des Senders und enger Mitar- beiter Reintgens, für sich in Anspruch, diese für den Durchbruch von »Lili Marleen« so bedeutsame Fahrt unternommen zu haben. Vgl. Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14); Alfred Weber, Die Wahrheit über Lili Marlen, in: Hörzu, H. 29 (17.-23.7.1971), S. 29-34; Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 77-80. 48 Vgl. Interview mit Reintgen, in: Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14). 49 Vgl. Ein Jahr Soldatensender Belgrad (wie Anm. 46), [S. 24], Nach Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 53,55, war der Verlauf etwas komplizierter. Julius Lippert, Lächle ... und verbirg die Tränen. Erlebnisse und Bemerkungen eines deutschen »Kriegsverbrechers«, Leoni am Starnberger See 1955, S. 128 f., schildert die Geschichte ganz ohne ein Verbot. Von Anfang an hätten sich die meisten positiven Zuschriften auf »Lili Marleen« bezogen und darauf sei reagiert worden. Als Major und Kommandeur der Wehrmachtspropa- gandaabteilung Südost war Lippert 1941 /42 Reintgens Vorgesetzter. Der ehemalige Stadt- präsident und Oberbürgermeister von Berlin, NSDAP-Mitglied ab 1927, war 1940 nach Kompetenzstreitigkeiten mit Albert Speer zur Wehrmacht gewechselt. 50 Wir schlagen die kostbarste Brücke der Welt... Zwei Jahre Soldatensender Belgrad, von den Soldaten des Senders Belgrad, Belgrad 1943 (= Schriftenreihe der Propaganda Ab- teilung Südost, Stadt und Veste Belgrad, H. 4), unpag. [S. 5]. 51 Vgl. Ein Jahr Soldatensender Belgrad (wie Anm. 46), [S. 3]; Schneider/Steigrier, Lili Mar- len (wie Anm. 9), S. 36. Neben dem Sendeleiter Karl-Heinz Reintgen gehörten dazu sein Stellvertreter Walter Jensen, Richard Kistenmacher, Fritz Marzahn, Hans-Jürgen Nie- rentz und Franz Waldmann. Reintgen hatte zum Beispiel am Deutschlandsender gelernt; Nierentz war Radiojournalist und hatte unter anderem den Berliner Fernsehsender Paul Nipkow geleitet. Viele Mitarbeiter des Senders waren nach dem Krieg am Neuaufbau 368 MGZ 63 (2004) Katja Protte

zept der Belgrader Rundfunkleute aufging, zeigt auch eine Tagebucheintragung des Reichspropagandaministers vom 26. September 1941: »Der Sender Belgrad, der von einfachen Soldaten aufgemacht wurde, übertrifft in seinem Unterhaltungsprogramm alle anderen deutschen Sender. Er wird allem Anschein nach vom Denken der Front wesentlich mit beeinflußt52.« Der Minister erwog so- gar, Mitarbeiter des Belgrader Senders zum Deutschlandsender zu versetzen, »um ihre Erfahrung und ihren guten Riecher für wirkungsvolle Musik für den gesam- ten deutschen Rundfunk zur Verfügung zu stellen«. Die deutsche Rundfunkpolitik in den besetzten Gebieten war durch Kompe- tenzstreitigkeiten zwischen Reichspropagandaministerium, Auswärtigem Amt und Oberkommando der Wehrmacht geprägt. Am 1. Juni 1941 hatte Goebbels in sein Tagebuch notiert: »Das A.A. hat uns den Sender Belgrad vor der Nase weg- gekauft. Ich werde mir das nicht gefallen lassen. Protest beim Führer53.« Er konn- te jedoch nicht verhindern, daß die Betreuung des Soldatensenders Belgrad durch das Auswärtige Amt in Zusammenwirken mit dem Oberkommando der Wehr- macht geschah - genauer gesagt, durch den Bevollmächtigten des Auswärtigen Amts beim Militärbefehlshaber in Serbien in Zusammenwirken mit der Wehr- machtspropagandaabteilung Südost. Goebbels versuchte seitdem mit unter- schiedlichem Erfolg, Einfluß zu nehmen, erlangte aber nicht die Oberhoheit54. Für die spätere Auffassung, das Lied »Lili Marleen« habe seinen Siegeszug geradezu in Opposition zum NS-System angetreten, spielte die rechtliche Unabhängigkeit des Senders vom Reichspropagandaministeriüm eine wichtige Rolle. Bemerkenswert ist die Schnelligkeit, mit der im Zweiten Weltkrieg ein wenig bekanntes Lied zum Mythos wurde. Dieser Erfolg war in hohem Maße ein Phä- nomen des Radiozeitalters. Im Ersten Weltkrieg wäre eine so schnelle Verbreitung nicht möglich gewesen; im Femsehzeitalter hätte dem Lied wahrscheinlich die ge- heimnisvolle Aura gefehlt, die gerade dadurch entstand, daß eine körperlose Stim- me die Hörer erreichte. Der Sender Belgrad hatte dank seiner günstigen Strah- lungsanlage eine Reichweite von England bis in die Pyrenäen, von Tunis bis in die Türkei und den Iran, vom Kaukasus bis in den asiatischen Teil der Sowjetunion hinein. Angeschlossen war der »Lili Marleen« genannte Kurzwellensender auf der Frequenz 31,65 Meter55. Bereits im September 1941 findet sich im geheimen Lage- bericht des Sicherheitsdienstes der SS folgende Meldung:

der westdeutschen Rundfunklandschaft beteiligt und nahmen später führende Positio- nen ein. Reintgen wurde stellvertretender Intendant und Chefredakteur des Saarländi- schen Rundfunks. Zu den biographischen Angaben vgl. Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 39, 49; Bergmeier/Lotz, Hitler's Airwaves (wie Anm. 45), S. 187 f.; Boelcke, Die Macht des Radios (wie Anm. 45), S. 231; Grull, Radio (wie Anm. 45), S. 160 f.; Walter Forst, Der »Mitentdecker« der »Lili Marleen«, in: Studienkreis Rundfunk und Geschichte. Mitteilungen, 1 (1975), 4, S. 3 f. 52 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftr. des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hrsg. von Elke Fröhlich, Teil II, Bd 1, München [u.a.] 1996, S. 499. 53 Ebd., Teil I, Bd 9, München [u.a.] 1998, S. 348. 54 Vgl. Ansgar Diller, Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980 (= Rundfunk in Deutschland, Bd 2), S. 316-345; Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 58 f.; Boelcke, Die Macht des Radios (wie Anm. 45), S. 228-230; Klingler, Nationalsozialistische Rund- funkpolitik (wie Anm. 45), S. 114-116. 55 Vgl. Boelcke, Die Macht des Radios (wie Anm. 45), S. 230, 233. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 369

»Es mehren sich in letzter Zeit die Stimmen, die darauf hinweisen, daß der Sol- datensender Belgrad sehr gern gehört werde. Sein Programm bringe namentlich in der Zeit nach 22 Uhr eine sehr gern gehörte Mischung von Unterhaltungs- und Tanzmusik. Neuerdings sei er durch Spielen eines Liedes >Der Wachtposten< besonders aufgefallen. Viele Hörer würden allein um dieses Liedes willen den PK-Sender einstellen (z.B. Oppeln, Königsberg, Graz, Wien, Radom, Dresden)56.« Goebbels äußerte sich am 4. Oktober 1941 in seinem Tagebuch leicht verwundert- herablassend über die Popularität des Liedes: »Ich kann ihm [Hitler] noch eine Reihe von neuen Soldatenliedern vorführen, zum Teil volkstümlichen Charakters, u.a. eines vom >jungen Wachtsoldaten<, das augenblicklich an der Front außerordentlich populär ist. Die Front will - das ist einerseits das Merkwürdige, andererseits aber auch das Verständliche - in der Hauptsache etwas sentimentale Lieder, die die Sehnsucht nach der Hei- mat zum Ausdruck bringen. Man kann verstehen, daß ein deutscher Soldat, sa- gen wir aus einem fränkischen oder rheinischen Dörflein, in der endlosen Step- penlandschaft des Ostens die Sehnsucht nach Hause umso stärker verspürt57.« Ende 1941 beschrieb der Kriegsberichterstatter Robert Oberhauser in der Zeitschrift »Reichsrundfunk« das Phänomen »Lili Marleen« als »Das Lied der deutschen Sol- daten in der Sowjetunion«: »Es kam fast über Nacht. Niemand wußte recht, wie es zuging. Eines Tages war es jedenfalls so weit. An der fast dreitausend Kilometer langen Front summte, pfiff und sang die ganze Truppe plötzlich ein und dasselbe Lied. [...] Am Abend saßen wir alle um den Lautsprecher. [...] Sofort nach den ersten Tönen waren wir gefangen. Es wurde still, muksmäuschenstill [sie]. Wir bekamen Herzklopfen vor Aufregung. [...] Die Stimme der Frau, die uns dieses Lied sang, machte uns weich wie Butter. Waren das die rauhen Krieger, die in diesem entsetzlichen Land nichts mehr erschüttern konnte? [...] Jeder weiß aber: das ist das Lied, auf das wir so lange gewartet haben. Das ist das Lied der Ostfront. [...] Das Lied kam im richtigen Augenblick. Es macht alles leichter. Es schafft den Ausgleich zu all dem Grauen um uns her. Kein Lied hätte uns so die Heimat nahe brin- gen können wie Lili Marleen. Schon gehen ungezählte Briefe in die Heimat an die Frau, die Braut, den Schatz: Hört am Abend Lili Marleen! Auch ich werde· am Lautsprecher sein, und wenn ich noch so weit laufen müßte58.« Entscheidende Elemente eines Mythos zeigen sich bereits in dieser zeitnahen Schil- derung, formal wie inhaltlich. Das Lied war weit über seine ursprüngliche Be- deutung hinausgewachsen und hatte für viele Menschen existentielle Bedeutung gewonnen. Es verkörperte die menschlich-weiche Seite des Kriegers, seine Ver- bindung zur zivilen Welt. Für einander nahestehende Menschen wurde das Lied zum Symbol ihrer Verbundenheit. Es bildete eine Brücke zwischen Heimat und Front. Regelrechte Rituale waren entstanden.

56 Meldungen aus dem Reich, Nr. 219,11.9.1941, in: Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hrsg. und eingel. von Heinz Boberach, Bd 8, Herrsching 1984, S. 2750. 57 Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 52), Teil II, Bd 2, München [u.a.] 1996, S. 53 f. 58 Reichsrundfunk, 1941/42, H. 20 (21.12.1941), S. 405 f. Ebd., H. 18 (23.11.1941), waren be- reits auf der Titelseite ein Foto von Lale Andersen und auf der Rückseite unter der Ru- brik »Unser Rundfunklied« Noten und Text von »Lili Marleen« abgedruckt worden. 370 MGZ 63 (2004) Katja Protte

Die Jubiläumsschrift des Soldatensenders berichtet über eine wahre Briefflut, die durch die Grußsendung eingesetzt habe. Zunächst seien 30 bis 40 Briefe am Tag eingetroffen; inzwischen seien es 3000 bis 4000. Wie beim populären »Wunsch- konzert für die Wehrmacht« war diese Grußsendung auch mit Spendenaufrufen ver- bunden59. Das Schreiben einer Waffen-SS-Einheit im Osten hebt die pseudosakra- len Elemente der Lili-Marleen-Begeisterung hervor: »Das Lied erklingt, und nun geschehen Wunder. Man merkt deutlich, wie sich die Gesichtszüge der rauhen Krieger zu einem heimlichen Lächeln verklären. [...] - Das Lied war für sie das Nachtgebet60.« Weniger stilisiert schildert St. T. aus Luttenberg, welche Bedeutung das Lied für sie/ihn persönlich hat: »Lieber Wachposten, [...] Du hast keine Ahnung, dass Du in den letzten paar Wo- chen mein einziger Halt warst. Weisst Du, was es heisst, einfach fertig zu sein? Ich kann einfach nicht mehr - so dachte ich jeden Morgen beim Aufstehen. Und trotzdem wartete ich jeden Abend bis Punkt 10 Uhr auf Dein Lied. Nicht, dass etwa mein seelisches Gleichgewicht damit wieder hergestellt gewesen wäre. O nein! ich heulte immer dabei. Aber ich hatte etwas, auf das ich warten konnte61!« Auch Lale Andersen wurde mit Briefen und kleinen Geschenken überhäuft. Die Sängerin notierte am 31. Dezember 1941 in ihr Tagebuch: »Die Zärtlichkeitswelle, die aus vielen Hunderten Soldatenbriefen von der Front kommt, ist wunderbar62.« Die Schreiben waren oft direkt an »Lili Marleen« gerichtet: »Liebe Lili Marleen, ich bin 24 Jahre alt, seit ein paar Monaten kämpfe ich in Rußland. Ihr Lied habe ich sehr oft gehört, bevor ich an die Front kam. Gestern fiel mein bester Kamerad. Ehe er starb, bat er, ihm noch einmal >Lili Marleen< vorzusingen63.« Nicht nur Soldat und Frau nutzten das Lied als Kommunikationsmittel, sondern auch Mutter und Sohn, Vater und Kind, Soldat und Kamerad64. Wie sehr das Lied Teil des Alltagslebens geworden war, zeigen auch von Amateuren angefertigte Zeichnungen65 und zahlreiche Umdichtungen66. Einige stammen aus einem sehr

59 Vgl. Ein Jahr Soldatensender Belgrad (wie Anm. 46), [S. 24—26]. Größere Konvolute von Briefen an den Soldatensender Belgrad scheinen im Original nicht erhalten geblieben zu sein. Lediglich ein Soldatenbrief mit der Bitte, seine »süße kleine Friedel aus Karlsburg (Siebenbürgen)« zu grüßen, aus dem Nachlaß Karl-Heinz Reintgens (Privatbesitz) konn- te für die Ausstellung »Lili Marleen. Ein Schlager macht Geschichte« (siehe Anm. 1) er- mittelt werden. 60 Ein Jahr Soldatensender Belgrad (wie Anm. 46), [S. 41]. 61 Ebd., [S. 46], 62 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36). 63 Magnus Andersen, Lale Andersen (wie Anm. 36), S. 149. 64 Vgl. Ein Jahr Soldatensender Belgrad (wie Anm. 46), [S. 24-26,41-47,50 f., 60]; Wir schla- gen die kostbarste Brücke der Welt (wie Anm. 50), [S. 22-25, 43 f.]; Schneider/Steigner, Lili Marlen (wie Ahm· 9), S. 32-36. Jackson, The Great Lili (wie Anm. 7), S. 22, berichtet von Hunderten von Briefen, die Norbert Schultze von Frauen erhalten habe, deren Söh- ne im Krieg umgekommen waren. Die Briefe seien aber in den Nachkriegswirren verlo- ren gegangen. 65 Das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, besitzt z.B. Aufnahmen des Fotografen Hans Hubmann von einer an Zeitungskarika turen erinnernden »Lilly Marlen«-Wand- zeichnung in der Gaststätte eines deutschen Soldatenheims in Rußland aus dem Winter 1941/42 (Inv.-Nr. H 134/15a, 20a, 21a). Im Besitz des Hauses der Geschichte der Bun- desrepublik Deutschland, Bonn, befindet sich ein kleines Notizbuch aus sowjetischer . Kriegsgefangenschaft, in das ein Lili-Marleen-Motiv gezeichnet wurde (Inv.Nr. 2001/11/0316). Siehe auch Anm. 167. 66 Die Abteilung Lieddokumentation (Archiv) des Deutschen Volksliedarchivs/Arbeitstelle Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 371

persönlichen Umfeld. So ließ etwa A. Geyr aus dem Rheinland Anfang 1942 ihren Verlobten an der Ostfront über den Soldatensender Belgrad grüßen. Bald darauf er- hielt der junge Mann Urlaub und im Mai konnten beide heiraten. Ein Verwandter dichtete aus diesem Anlaß ein neunstrophiges Hochzeitslied auf die Melodie von »Lili Marleen«, das humorig die Schwierigkeiten einer Liebe im Krieg beschreibt: »Man mußt' lange warten, / Lechzt nach Liebe schon, / Mars ließ beide schmach- ten, / Verwaist war Amors Thron. / Endlich jedoch hat's nun geklappt, / Der Bräu- tigam sein Bräutchen schnappt, / :,: Heil H ... - A ...! :,:«67. Andere Umdichtungen fanden weitere Verbreitung. Ein Soldat schrieb am 23. April 1942 von der Ostfront: »Es gibt jetzt Urlaub. Immer 2 % jeder Einheit dürfen nacheinander fahren. Ich bin dann 1945 dran. - In einer Parodie auf >Lili Marlen< heißt es: >... Und wenn ich wieder Urlaub krieg, treib ich Bevölkerungspolitik, mit Dir, Lili Marlen<68!« Für die Allgegenwärtigkeit und den Bekanntheitsgrad des Liedes spricht auch, daß Parodien entstanden, die unabhängig vom ursprünglichen Liedthema Miß- stände aufgriffen, im militärischen wie im zivilen Bereich. Die Frontzeitung »Das Neueste« veröffentlichte am 15. Februar 1942 zum Beispiel das fünfstrophige »Lau- selied« des Obergefreiten Paul Kleb: »Einst in der Kaserne ging es sauber zu / Doch in Russlands Ferne gibt es keine Ruh! / Nie zieht man sich die Sachen aus, / Drum juckt uns täglich, >Ei der Daus<, / 'ne kleine süße Laus69.« Nur durch Mund-zu- Mund-Propaganda verbreitet wurde eine Variante, die im weiteren Kriegsverlauf auf die schlechte Ernährungslage Bezug nahm: »Schweinefleisch ist teuer, / Och- senfleisch ist knapp / Gehn wir mal zu Meier / Ob er Knochen hat / Und alle Leu- te solin es sehn / Wenn wir bei Meier Schlange stehn / Wie einst Lili Marleen70.« Aufgeregt teilte Hans Leip am 13. Oktober 1941 seiner Lektorin Kläre Buch- mann mit: »Dann schreibt mir eben der Apollo-(Musik) Verlag, Lili Marleen wachse sich geradezu zu einem Rummel aus, alle Plattenfirmen hätten es aufgenommen, immer ausverkauft, und die Tobis wolle einen Film daraus drehen, und ob ich das Drehbuch usw...71«

für internationale Volksliedforschung, Freiburg, besitzt eine Sammlung mündlicher Auf- zeichnungen von Lili-Marleen-Parodien (Arbeitsmappe KiV: Belegmaterial zu »Lili Mar- leen«). 67 Vgl. Schepping, Zeitgeschichte (wie Anm. 8), S. 439 f. 68 Brief von Heinz S. (geb. 1914 in Berlin, gilt seit dem 10.2.1945 bei Frauenburg als ver- mißt) an seine Schwester Elly, Feldpost-Archiv, Berlin, Sign.: 3.2002.0827. 69 Sonderdruck »Des Neuesten«, Alois Hinterhuber und sein Urlaub auf Probe/Das Lau- selied, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Willi-Bredel-Archiv, Sign.: 3038/12. Weiterhin abgedruckt unter dem Titel »Lili Marleen aus dem Osten« und mit der Quellenangabe Deutsche Marine-Front-Zeitung »Gen England«, Nr. 80 (12.4.1942), in: Neue Illustrierte Zeitung, 18 (1.9.1942), 35; auch in: Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 172 f., wo S. 168-171 mehrere ähnlich ausgerichtete Parodien aufgeführt sind. 70 Abgedruckt bei Peter Rühmkorf, Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 237. Zu dieser Thematik gab es zahlreiche Varianten. Vgl. Schepping, Zeitgeschichte (wie Anm. 8), S. 451-453. Weitere Beispiele im Deutschen Volksliedarchiv (wie Anm. 66). 71 Schütt, Dichter (wie Anm. 26), S. 379 f. Der erwähnte Film kam damals nicht zustande. Vgl. Leip, Das Tanzrad (wie Anm. 19), S. 184. Mindestens sieben weitere Interpreten nah- men das Lied bis Ende 1941 auf Schallplatte auf: Horst Winter, Telefunken, Nr. 10370A, 25.9.1941; Mimi Thoma, Grammophon, Nr. 47575A, 30.9.1941; Irene Noiret, Odeon, Nr. 0-26487A, 2.10.1941; Willy Schneider, Grammophon, Nr. 47579A, 7.10.1941; Anita Spa- da, Imperial, Nr. 17358, Sept./Okt. 1941; Heyn-Quartett, Tempo, Nr. 5071, Okt. 1941; Do- rit Talmagde, Odeon, Nr. O-26502a, 4.11.1941. 372 MGZ 63 (2004) Katja Protte

In der Medienlandschaft des NS-Staates war »Lili Marleen« 1941 /42 omnipräsent. Das Lied wurde nicht nur vom Belgrader Soldatensender gespielt, sondern war bis zu 30 Mal am Tag im Rundfunk zu hören72. Die Deutsche Arbeitsfront gab als Schallplattenspende für die deutsche Wehrmacht zur »Kriegsweihnacht 1941« ei- ne Aufnahme mit Horst Winter heraus73. Nicht nur im Deutschen Reich, auch in den besetzten Gebieten erschienen Lili-Marleen-Schallplatten und Notenausgaben74. Postkarten mit dem Liedtext und verschiedenen Bildmotiven wurden gedruckt75. Die Illustrierte »Erika« startete sogar einen Suchaufruf nach den Leip-Freundin- nen Lili und Marleen. Im Mai 1942 präsentierte sie Fotos von zwei Frauen, die sich angesprochen fühlten; der Schriftsteller erkannte jedoch in den Bildern keine sei- ner Jugendlieben wieder76. Andere Zeitungen und Illustrierten widmeten dem The- ma »Lili Marleen« ganze Witzseiten. Einem jungen Paar wurde beispielsweise fol- gender Dialog in den Mund gelegt: »20 Jahre später: >Und wie heißt du?< - >Lili Marleen. < - >Dann bist du im Spätjahr 1941 geboren<77.« Auch eine populäre Um- dichtung machte sich über die Lili-Marleen-Begeisterung lustig: »Kind, ich hab' dich gerne, kleine süße Maus, / Aber die Laterne hängt mir zum Halse raus! / Wenn sie's erst auf der Orgel drehn, / Daß wir bei der Laterne stehn, / Adjüs, Lili Marleen78.« Lale Andersen erwähnte »Lili Marleen« erstmals am 26. Oktober 1941 in ihrem , Tagebuch: »Manchmal, wenn ich an Lucienne Boyers >Parlez moi d'amour< oder Tino Ros- si's >J'attendrai< gedacht hab, glaubte ich, dass das bei meinen Liedern nie mög- lich sei, dass einmal eins durch mich das Lied ganz Europa's werden könne. Denn ich sing ja keine Schlager, sondern bemüh mich seit jeher, Wort und Mu- sik von zeitnahen, jungen Künstlern zu interpretieren, keinen Schlager-Auto- ren, sondern wahrhaften Dichtern u. Komponisten. Und nun ist von diesen Lie- dern doch eins das Lied seiner Zeit geworden u. muss ich mich daran gewöh- nen, für eine Zeit >berühmt< zu sein79.« Anfang 1942 notierte sie: »Ich bin auf Konzertreise. Wohlverstanden: nicht auf Tournée, sondern auf Kon- zertreise. Ich strahle. Man sagt, dass es neben Furtwängler und der Sack so bre- chend ausverkaufte Sääle nicht gäbe. Das jahrelange Ziel, vor einem Auditori- um zu stehen, dass [sie] einen Abend wirklich nur dem Zuhören meiner klei- nen Lieder schenkt, hat sich erfüllt. Teils durch unbeirrbare Arbeit, teils: durch dich, Lili Marleen80.«

72 Vgl. Schütt, Dichter (wie Anm. 26), S. 206; Jewell, Lilli Marlene (wie Anm. 13), S. 148 L n Vgl. Abb. in Peters, Lili Marleen (wie Ànm. 1), S. 11. 74 Vgl. z.B. eine tschechische Lili-Marleen-Version, gesungen von Lilly Hodacova, 16.6.1942, oder eine niederländische Notenausgabe »Onder de Lantaren« des Apollo Verlags Paul Lincke, Berlin, Text: Herre de Vos. Das Titelblatt letzterer ist abgedruckt bei Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 11. 75 Zwei Beispiele sind abgedruckt ebd., S. 7 f. 76 Erika fand Lili und Marleen, in: Erika, 3 (Mai 1942), 9/10. Vgl. auch Leip, Das Tanzrad (wie Anm. 19), S. 81,186 f. 77 Man singt's, man pfeift's, man summt's: Lili Marleen, in: Stuttgarter NS-Kurier, 12 (4.1.1942), 3. 78 Abgedruckt ist diese siebenstrophige Umdichtung unter dem Titel »Lili Marleen - fun- kelnagelneu« in: Neue Illustrierte Zeitung (wie Anm. 69); ähnlich in: Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 163 f. 79 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36). 80 Ebd., Eintrag vom 24.1.1942. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 373

Im März 1942 trat sie vor ständig ausverkauftem Haus in der Berliner Scala auf. Kon- zertreisen nach Breslau, Brünn, Prag, Leipzig, Karlsbad und Dresden, in die Nie- derlande, nach Norwegen und Italien schlossen sich an81. Norbert Schultze war zu dieser Zeit bereits auf dem Weg zu einem der führen- den Filmkomponisten der - und NS-Propaganda. 1939 komponierte er die Musik zu »Feuertaufe«, dem Luftwaffen-Film über den deutschen Polen- feldzug, darunter auch die Melodie des sehr populär gewordenen Liedes »Bomben auf Engelland«, das ihm den Spitznamen »Bomben-Schultze« einbrachte. Weitere Aufträge folgten. 1941 schrieb er die Musik für das Lied des Afrikafeldzuges »Pan- zer rollen in Afrika vor«. Wenig später setzte er sich mit seiner Vertonung eines von Goebbels gewünschten Liedes für den Ost-Feldzug durch, »Vorwärts nach Osten«. Nach seiner eigenen Schilderung spielte er die Melodie Goebbels persön- lich vor. Der Reichspropagandaminister habe sich anschließend zu ihm ans Kla- vier gesetzt, Um der Zeile »Führer, befiehl - wir folgen dir!« den letzten musikali- schen Schliff zu geben82. Im Vergleich zu diesen genau kalkulierten und über- wachten Auftragswerken erscheint die Erfolgsgeschichte von »Lili Marleen« trotz der großen Resonanz in der Medienlandschaft des NS-Staates geradezu anarchisch.

3. Lili Marleen im KZ? - Ein Problemfall der NS-Propaganda

Bereits Ende 1941 wurde Lale Andersens Popularität für Teile der NS-Propagan- da bedenklich. Wahrscheinlich wegen ihrer Kontakte zu Emigranten in der Schweiz war sie ins Visier des Sicherheitsdienstes der SS geraten. Maßnahmen wie ein zeit- weiliges Verbot von Rundfunkaufnahmen mit der Sängerin, Anweisungen an die Presse, Bilder von ihr nur mit besonderer Erlaubnis zu veröffentlichen, oder die ausbleibende Genehmigung für eine Reise zum Soldatensender Belgrad richteten sich jedoch nicht gegen ihr Erfolgslied. Ihre erste Schallplattenaufnahme »Lied ei- nes jungen Wachtpostens« durfte weiter gespielt werden. Im September 1942 es- kalierte die Situation83. Auf einer Programmkonferenz im Reichspropagandami- nisterium erging nach der Verlesung eines abgefangenen Briefes Lale Andersens fol- gende Anweisung: »Im Archiv bleibt lediglich die >Urplatte< von Lilli-Marleen; - alle anderen L. An- dersen-Platten verschwinden. [...] L.A. wird aus dem öffentlichen Künstlerle-

81 Vgl. Lehrke, Wie einst (wie Anm. 35), S. 84 f.; Schütt, Dichter (wie Aran. 26), S. 207; Ta- gebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), diverse Einträge 1942. 82 Vgl. Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 67-76,82-84; Den Teufel am Hintern geküßt. Der erstaunliche Werdegang des >Lili Marleen<-Komponisten Nobert Schultze, Deutschland 1992, Regie: Arpad Bondy, Buch: Margit Knapp, 92 Min. 83 Vgl. Klingler, Nationalsozialistische Rundfunkpolitik (wie Anm. 45), S. 131 f., der sich auf die im Bundesarchiv überlieferten Protokolle der Programmkonferenzen des Reichs- propagandaministeriums stützt; Diller, Rundfunkpolitik (wie Anm. 54), S. 361; Magnus Andersen, Lale Andersen (wie Anm. 36), S. 165-212, wo u.a. die im Bundesarchiv über- lieferten Kulturpolitischen Informationen Nr. 22 und 24 des Reichspropagandaamtes ab- gedruckt sind; Lehrke, Wie einst (wie Anm. 35), S. 87-95. 374 MGZ 63 (2004) Katja Protte

ben verschwinden. Jedoch ist nicht vorgesehen, etwas gegen ihre Person oder ihre persönliche Freiheit zu tun84.« Hans Hinkel, Generalsekretär der Reichskulturkammer und im Reichspropagan- daministerium unter anderem für »Kulturpersonalien«, unterhaltendes und künst- lerisches Rundfunkprogramm sowie Truppenbetreuung zuständig, faßte in einem vertraulichen Vermerk vom 19. Oktober 1942 zusammen: »Lale Andersen hat bekanntlich bis zum Juni ds.Js. mit jüdischen Emigranten in der Schweiz - besonders mit dem berüchtigten ehemaligen Dramaturgen Dr. Samuel Hirschfeld in Zürich - in fortlaufender Korrespondenz gestanden. Es lie- gen dafür als Beweismaterial mehrere Briefe des Hirschfeld an Lale Andersen und der Andersen an Hirschfeld im Wortlaut vor. Der letzte Brief von Lale An- dersen an Hirschfeld wurde durch den SD sichergestellt und uns zugeleitet. Lale Andersen schrieb diesen Brief, dessen Inhalt politisch unwürdig und por- nographischen Inhalts ist, während einer Tournee aus Den Haag nach Zürich. [...] Auf Entscheid des Herrn Ministers hat die Gestapo bei Lale Andersen-Wil- ke eine Pass- und Ausreisesperre verhängt85.« Die Sängerin, die erst spät von den Maßnahmen gegen sie erfuhr, vermutete Intri- gen neidischer Kolleginnen86. In ihrer Autobiographie erklärt sie die Antipathie mit Vorfällen auf einer von Hinkel organisierten Berliner Künstlerfahrt nach Po- len. Provoziert von ihrer Eigenwilligkeit und Respektlosigkeit, habe Hinkel sie mit- ten in der Nacht aus dem Bett holen lassen und sie genötigt, mit ihm zu tanzen. Sie habe ihn geohrfeigt und sei am nächsten Morgen abgereist87. In ihrem Tagebuch erwähnte Andersen erstmals am 15. Oktober 1942 ein Auftrittsverbot und ver- merkte wenige Tage später, man habe sie nicht zu Goebbels vorgelassen, um sich wegen des »so unwichtigen, kindischen Briefes« zu rechtfertigen88. Ein Schreiben an Hans Leip vom 5. Dezember 1942 begann sie mit den Worten: »Ich werd zwar z.Zt. meinen Mitmenschen vom Reichkulturhammer Hinkel als ein so ausgemachter Teufelsbraten serviert, dass manchem der Appetit nach mir vergehen wird. Aber wenn ich Ihnen heut schreib, so glaub ich mich we- der mit der Beteuerung aufhalten zu müssen, dass ich nicht nach Palästina aus- wandern wollte, noch mit der, dass ich mir von einem hohen Herrn eine Woh- nung einrichten liess, um ihm anschliessend den Zutritt zu ihr zu verweigern, noch was es sonst an Gerüchten zu entkräften gibt89.« Am 27. Januar 1943 notierte sie, daß sie für den nächsten Tag zur Gestapo bestellt sei90. Danach fehlen einige Seiten im Tagebuch. Andersen berichtete später von ei-

84 Protokoll der Programmkonferenz vom 16.9.1942, Bundesarchiv, R 55/596, fol. 62, in: Klingler, Nationalsozialistische Rundfunkpolitik (wie Anm. 45), S. 132. 85 Abschrift des Vermerks, Bundesarchiv (personenbezogene Unterlagen des ehémaligen Berlin Document Center), RKK 2600/0004/11 Lale Andersen. 86 Vgl. Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), Eintrag vom 21.9.1942: »zum Leiter der Reichskulturkammer einen Mann [Hinkel] bekommen haben, der sich von den, ihn um- gebenden Weiblichkeiten, deren hübsche Köpfchen nichts füllt als Stroh u. Ehrgeiz u. ein edler Hass gegen meine menschliche Überlegenheit, zu unverantwortlichen Anti- pathie-Massnahmen gegen mich beeinflussen lässt«. 87 Vgl. Andersen, Der Himmel (wie Anm. 28), S. 245-257. 88 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), Eintrag vom 21.10.1942. 89 Brief Lale Andersen an Hans Leip, Berlin, 5.12.[1942], Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Handschriftenabteilung, Hans-Leip-Nachlaß, NLP Bb 2. 90 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36). Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 375

nem Selbstmordversuch, den sie im Gefühl wachsender Hoffnungslosigkeit verübt habe91. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß nicht primär Goebbels, sondern Hin- kel Lale Andersens Gegenspieler war. Inwieweit der Reichspropagandaminister persönlich und nicht nur als oberster Dienstherr Hinkeis an Maßnahmen gegen Lale Andersen beteiligt war, ist fraglich. Von einem Ausschluß aus der Reichskul- turkammer wurde auf Weisung des Ministers Ende November 1942 vorläufig Ab- stand genommen92. Ab Mitte Mai durfte sie wieder auftreten, allerdings nicht bei offiziellen Veranstaltungen vor Soldaten, nicht bei staatlichen Veranstaltungen, sol- chen der NSDAP, ihrer Gliederungen sowie der KdF und nicht im Großdeutschen Rundfunk. Und vor allem durfte sie nicht mehr »Lili Marleen« singen93. Auch die Presse wurde instruiert, daß nur. lokale Berichterstattung über die Sängerin er- wünscht sei, »ohne grosse Aufmachung und ohne jegliche Verbindung ihres Na- mens mit dem Soldatenlied >Lilli Marlen< «94. Das Publikum forderte das Lied jedoch immer wieder: »Die Konzerte endeten eins wie das andre in einem herrlichen Erfolg. Manch- mal standen Soldaten lange nach Schluss immer noch vor der Bühne und ba- ten um >Lili Marleen<. Und dass mir Hinkel verboten hat, es zu singen - >ihr< und >mein Lied<, war das einzige Tröpfchen Bitternis in diesen Wochen95.« Offiziell wurden als Grund für die Aufhebung des Auftrittsverbots Andersens fa- miliäre Verhältnisse, insbesondere der Einsatz ihres ältesten Sohnes an der Ost- front angegeben. Vermutlich spielte aber öffentlicher Druck eine entscheidendere Rolle, Denn die Gerüchte um das Verschwinden der Sängerin aus der Öffentlich- keit mehrten sich. Bereits am 28. Oktober 1942 notierte Andersen, daß man am Kurfürstendamm erzähle, sie sei längst im Konzentrationslager96. Am 3. April 1943 sendete sogar das deutschsprachige Programm der BBC eine Nachricht, die diese Annahme nahelegte97. Durfte sie auch im Großdeutschen Rundfunk nicht auftre- ten, so war ihr Einsatz im Auslandsrundfunk sehr erwünscht: »Der Aussen-Mini- ster möchte [,] dass ich in Sendungen nach Afrika und Amerika singe, und einiges dazu von mir erzähle, damit endlich die Behauptung des anglo-amerikanischen Radio's, ich sei erschossen, dementiert wird98.« Selbst in der Zeit ihres Auftrittsverbots soll der Soldatensender Belgrad weiter Lale Andersens Schallplatte »Lied eines jungen Wachtpostens« gespielt haben99.

91 Vgl. Andersen, Der Himmel (wie Anm. 28), S. 295 f. 92 Vgl. Magnus Andersen, Lale Andersen (wie Anm. 36), S. 185. 93 Vgl. Einschreiben des Präsidenten der Reichskulturkammer/Der Generalsekretär (Hin- kel) an Lieselotte Wilke-Andersen, Berlin, 15.5.1943, Bundesarchiv (wie Anm. 85), 94 Sonderinformation des Reichspropagandaminsteriums für die Presse vom 24.5.1943, Nr. 18/1943, Bundesarchiv, Slg. Oberheitmann, ZSg. 109/42, fol. 120; Karteikarte Nr. 819 zu Lale Andersen, 21.5.1943, aus der »Kartei der Vertraulichen Information« (Verlag Dr. Ernst Droescher, Berlin), Bundesarchiv. 95 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), Eintrag vom 1.8.1943. 96 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36). 97 Lili Marleen, 3.4.1943,3.45 Min., Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnr. 2783630 (Tondo- kument). Auch im Internet abrufbar über das Audioarchiv des »Lebendigen virtuellen Museums Online« (LeMO), . 96 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), Eintrag zum 24.5.1943. 99 Vgl. den Brief Rudolf Zinks an Lale Andersen, Ostfront, 11.11.1942, Staats- und Univer- sitätsbibliothek Hamburg, Handschriftenabteilung, Hans-Leip-Nachlaß, NLP Bd 24: »Und wenn es Ihre geliebte Stimme auch nur über den Belgrader Sender zu hören gibt, so soll uns das nicht unverzagt [sie] und ganz traurig machen, weil es doch nicht mehr lange dauern kann und man holt Sie wieder an ein heimatliches Mikrofon«. 376 MGZ 63 (2004) Katja Protte

Zwar bemühte sich Goebbels ab Frühjahr 1943 verstärkt, seine Programmvorgaben auch in Belgrad durchzusetzen, Hinkel kam jedoch Anfang 1944 zu dem Schluß, daß die Verantwortlichen sich nur in den wenigstens Fällen an die Weisungen aus Berlin hielten. Erst im Laufe des Jahres fanden sie stärkere Berücksichtigung100. Holzem zitiert ein Fernschreiben des Wehrmachtspropagandaregiments des Ober- kommandos der Wehrmacht vom April 1944, das Goebbels Verbot weitergab, »Lili Marleen«, gesungen von Lale Andersen, zu spielen. Nach Zeitzeugenaussagen sol- len kurzzeitig tatsächlich Schallplatten anderer Sängerinnen wie Mimi Thoma, Dorit Talmagde oder eine reine Orchesterfassung aufgelegt worden sein. Dann ent- schied man sich jedoch, absichtlich die Platten zu verwechseln, und spielte wie- der Lale Andersens Version, ohne daß dies irgendwelche Folgen gehabt hätte101. Die meisten Darstellungen zu »Lili Marleen« aus der Zeit nach 1945 verweisen nicht nur darauf, daß Lale Andersen in Konflikt mit dem NS-Staat geraten sei, son- dern auch, daß Goebbels spätestens seit der Niederlage bei Stalingrad das Lied ab- gelehnt oder sogar verboten habe. In ihrer Autobiographie zitiert Lale Andersen Grethe Weiser, laut der sich Goebbels darüber ärgerte, daß die Grußsendung des Soldatensenders Belgrad noch beliebter sei als sein »Wunschkonzert« und daß das Lied, das auch bei den Feinden verdächtig beliebt sei, »muntere Krieger nach- denklich« mache102. Leip schrieb 1949: »Die frankfurter Zeitung< wies als erste auf den >makabren< Charakter der Verse hin. Erst nach der Katastrophe von Stalingrad soll Goebbels das gleiche empfunden und das Lied für die deutsche Wehrmacht verboten haben wegen des darin angeblich verborgenen >Totentanzes<103.« Anläßlich der bevorstehenden Verfilmung von Lale Andersens Autobiographie ti- telte 1978 unter anderen die Augsburger Allgemeine Zeitung »Lili Marlen - Schnul- ze mit Totentanzgeruch« und legte dieses Zitat Goebbels in den Mund104. Konkre- te Nachweise fehlen jedoch. Die oft zu findende Aussage, der Reichspropaganda- minister habe das Lied von Anfang an gehaßt, ist nicht haltbar105; aber die allgemeine Ausrichtung der NS-Propaganda läßt vermuten, daß ein Lied wie »Lili Marleen« auch unabhängig von seiner Interpretin als problematisch eingeschätzt wurde. Nach der Niederlage bei Stalingrad wurde eine dreitägige Staatstrauer angeordnet und das Rundfunkprogramm dementsprechend umgestaltet. An diesen Tagen wur- de wahrscheinlich »Lili Marleen« - wie viele andere Schlager auch - nicht gespielt. Danach war aus der Sicht des Reichspropagandaministeriums äußerste Vorsicht bei der Programmgestaltung geboten. So beanstandete Hinkel in Anbetracht von Protesten aus der Bevölkerung, daß nach dem großen Luftangriff auf Berlin am 2.

100 Vgl. Klingler, Nationalsozialistische Rundfunkpolitik (wie Anm. 45), S. 113-116. 101 Vgl. Holzem, Lili Marleen (wie Anm. 9), S. 58-60; Interview mit Reintgen, in: Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14); Schneider/Steigner, Lili Marlen (wie Anm. 9), S. 28 f. 102 Vgl. Andersen, Der Himmel (wie Anm. 28), S. 252. 103 Leip, Das Schicksal (wie Anm. 21). 104 Vgl. Erich Kocian, Filmnotizen. Lili Marlen - Schnulze mit Totentanzgeruch, in: Augs- burger Allgemeine Zeitung, 27.5.1978. 105 Siehe die zitierten Tagebucheinträge Goebbels in Kapitel 2 und 4. Leip schrieb in einem Brief an Kläre Buchmann vom 10.12.1941, in: Schütt, Dichter (wie Anm. 26), S. 382: »Lale Andersen sagte, L.M. sei das Lieblingslied von Goebbels und seinen Kindern.« Diese auf Hörensagen beruhende Passage darf nicht überbewertet werden, zeigt aber, daß es 1941 plausibel erschien, daß Goebbels das Lied mochte. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 377

März 1943 das Lied »Für eine Nacht voller Seligkeit« gesendet worden sei. Auch der Schlager »Es geht alles vorüber« - ein anderes Lied, das der Soldatensender Belgrad berühmt gemacht hatte und häufig spielte - durfte nur noch eingeschränkt gesendet werden. Ebensowenig war es erwünscht, angesichts ausbleibender mi- litärischer Erfolge sentimentale Stimmungen in der Bevölkerung zu unterstützen106. Darauf, daß »Lili-Marleen« im NS-Staat nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß, verweist auch ein Artikel im »Führerdienst der Hitlerjugend« vom Dezember 1943107. Der HJ-BDM-Bann 631 Reichenberg berichtete, daß ein Konzert »Lili Mar- lens« [sie] gesprengt worden sei, um die Darbietung ihrer »schmierigen Lieder« zu verhindern. Nach dem Abbruch des Konzerts sei spontan »Es zittern die mor- schen Knochen« angestimmt worden. Ebenso wie die Entdeckung des Liedes »von unten« durch einfache Soldaten und ihre Angehörigen ist das Beharren auf »ihrem« Lied ungeachtet staatlicher Miß- billigung und nationalsozialistischer Anfeindungen Teil des Lili-Marleen-Mythos. Obgleich »Lili Marleen« in der Medienlandschaft des NS-Staates 1941/42 allge- genwärtig war und nationalsozialistische Institutionen zunächst positiv auf den Erfolg reagierten, schafft das lose Zusammenwirken verschiedener Versatzstücke eine Aura von Opposition gegen das NS-System, die diesen Aspekt in den Hin- tergrund treten läßt: die relative Unabhängigkeit des Soldatensenders Belgrad vom Reichspropagandaministerium, die in Ungnade gefallene Sängerin und die ableh- nende Haltung Goebbels. Dabei ist das am schwersten einzuschätzende Element, die Haltung Goebbels, für den Lili-Marleen-Mythos besonders wichtig. Denn der Reichspropagandaminister steht, wie sonst nur noch Hitler, für den NS-Staat als Ganzes. Zu Erzählungen über kulturelles Handeln in der NS-Zeit, das nicht of- fensichtlich als Widerstand erkennbar wird, aber in deutliche Distanz zum Natio- nalsozialismus gerückt werden soll, gehört die Ablehnung durch Goebbels fast zwingend dazu108.

4. The Song-Hit of the Allied Forces - Eigensinn und Propaganda

Die Bedeutung des Liedes »Lili Marleen« für die deutschen Truppen an der Ost- front109 ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Dort fehlte ein entscheidendes Moment, das zur Anziehungskraft und Langlebigkeit des Lili-Marleen-Mythos

me vgl. Nanny Drechsler, Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933-1945, Pfaf- fenweiler 1988 (= Musikwissenschaftliche Studien, Bd 3), S. 141 f., 155, Anm. 90; Diller, Rundfunkpolitik (wie Anm. 54), S. 361 ; Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 52), Teil II, Bd 6, München [u.a.] 1996, Eintrag vom 18.12.1942, S. 468; ebd., Bd 7, Mün- chen [u.a.] 1993, Eintrag vom 4.2.1943, S. 255 f., 259; Wir schlagen die kostbarste Brücke der Welt (wie Anm. 50), [S. 4 f.]. '07 Beglaubigte Abschrift des Artikels im Museum für Hamburgische Geschichte, Hans- Leip-Archiv. 108 Vgl. z.B. Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 155: »Als echtes Lied des Zweiten Welt- kriegs weist sich >Lili Marleen< auch dadurch aus, daß der Propagandaminister es nicht mochte.« Die Zeitung »Frau von heute«, Wien, titelte am 18.10.1951 »Lilli Marlens Kampf mit Goebbels«, abgedruckt bei Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 36. 109 Siehe Kapitel 2. 378 MGZ 63 (2004) Katja Protte beitrug: der grenzüberschreitende Erfolg des Liedes110. Heute gelten meist die Sol- daten des Afrikafeldzugs als die frühesten Anhänger. Denn in Nordafrika über- nahmen erstmals auch gegnerische Truppen das Lied. Während an der Ostfront ein rassistisch motivierter Vernichtungskrieg geführt wurde, stellte Afrika kein primäres Ziel nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik dar. Nach dem Selbst- verständnis Rommels, Befehlshaber des deutschen Afrikakorps, und Montgomerys, Befehlshaber der britischen Eighth Army, wurde dort »a gentleman's war« geführt. Die Vorstellung vom sauberen Krieg in Afrika ging eine enge Verbindung mit dem Lili-Marleen-Mythos ein111. Kernstück sind - zumindest auf deutscher Seite - Er- zählungen, nach denen abends kurz vor 22 Uhr, wenn der deutsche Soldatensender Belgrad »Lili Marleen« spielte, auf beiden Seiten die Waffen schwiegen. Zwei Ve- teranen des deutschen Afrika-Korps berichten sogar, sie hätten in Kampfpausen abends »Lili Marleen« mit Hilfe eines umgebauten Tornisterfunkgeräts empfan- gen, und gegen 22 Uhr seien britische Soldaten näher an das deutsche Lager her- angerobbt, um auch mitzuhören. »Comrades, louder, please«, hätten sie den Deut- schen zugerufen. Es sei eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit gewesen, daß in dieser Situation nicht geschossen wurde. Wie realistisch solche Schilderun- gen sind, ist fraglich112. Auf jeden Fall konnte die Eighth Army, selbst wenn dies ei- gentlich verboten war, die eigenen Rundfunkgeräte so einstellen, daß der Solda- tensender Belgrad zu empfangen war. Britische Soldaten lernten das Lied auch in deutscher Kriegsgefangenschaft oder durch deutsche Kriegsgefangene kennen113. In Großbritannien löste der Umstand, daß die eigenen Soldaten begeistert ein Lied des Gegners sangen, Besorgnis aus. Am 25. Mai 1942 erschien im Daily Her- ald der aufsehenerregende Artikel »Lili Captures the Eighth Army«: »Something must be done about >Lili Marlene« - the German broadcast song which lulls the Afrika Korps to sleep and nigthly tickles the sentimental ears of our own Eighth Army. Its singer, Lili Andersen [sic], is the toast of the German Army, and is becoming the dope of the British in the Middle East. In a husky,

110 Das Lied kam zwar auch bei sowjetischen Soldaten gut an, aber über einen Boom oder sogar eine offiziell sanktionierte Übernahme des Liedes ist nichts bekannt. Vgl. Jackson, The Great Lili (wie Anm. 7), S. 74; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 30. In Lale An- dersen - die Stimme der Lili Marleen (wie Anm. 14) berichtet ein russischer Zeitzeuge über seine erste Begegnung mit dem Lied beim Kampf um Warschau: »Auf dem hohen Flußufer stand ein altes Gutshaus. Dort gab es ein Grammophon und irgendwo lagen Schallplatten herum. Wir haben zufällig diese Platte aufgelegt. >Lili Marleen< [in der deutschen Version Lale Andersens]. Ich habe sie erst gar nicht beachtet. Und plötzlich [...] klebte dieses Lied an uns, es blieb einfach hängen. Uberall, wo wir waren, haben wir es ständig gesungen, ohne zu wissen, dass es ein berühmtes Lied in Deutschland ist.« (Zi- tiert nach den deutschen Untertiteln. In der 60minütigen Fernsehfassung des Films ist die- se Szene nicht enthalten.) 111 Vgl. Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 27 f. 112 Vgl. das Interview mit Hans-Günther Stark und Wolf-Dieter Manslau vom Verband Deut- sches Afrika-Korps e.V. in: Lale Andersen - die Stimme der Lili Marleen (wie Anm. 14); Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 104 f.; Grull, Radio (wie Anm. 45), S. 154. Schnei- der/Steigner, Lili Marlen (wie Anm. 9), S. 33, berichten unter Berufung auf Hörerbriefe an den Soldatensender Belgrad von einer weniger bekannten Variante: Selbst in Bosni- en hätten die Waffen kurz vor 22 Uhr geschwiegen, da auch die Partisanen »Lili Mar- leen« hören wollten. 113 Vgl. Alan Grace, Battiedress Broadcasters. Fifty Years of Forces Broadcasting, Chalfont 1993, S. 25. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 379

come-and-kiss-me voice, she puts over a song which goes right to the heart of masculine home-sickness and almost produces tears. She has achieved such a reputation that the Prime Minister's last speech was listened to by some Bri- tish desert audiences with considerable anxiety - lest they should miss their nightly dose of delight114.« Goebbels reagierte mit Genugtuung: »Der >Daily Herald< beschwert sich darüber, daß unser bekanntes Soldatenlied >Lilli-Marleen< im Begriff stehe, zum populärsten Schlager in der englischen Armee zu werden. Im [Ersten] Weltkrieg sangen unsere Soldaten das Tipperary- Lied; heute singen die englischen Soldaten das Lilli-Marleen-Lied. Auch das ist ein beredtes Zeichen dafür, wie die Dinge sich seit damals gewandelt ha- ben115.« Wie ernst dieses Problem von offizieller Seite her genommen wurde, zeigen Un- terlagen der BBC. Erste Hinweise, daß Mitarbeiter auf »Lili Marleen« aufmerksam wurden, finden sich schon Anfang 1942; Notizen vom 20./21. Juli 1942 zeugen von dem Bemühen, Genaueres über »Lili Marleen« zu erfahren116. Ein besorgter briti- scher Luftwaffenoffizier schrieb seinem Parlamentsabgeordneten, das Lied sei Teil einer infamen deutschen Propaganda zur Schwächung der britischen Kampfkraft: »The broadcast too will possibly create a feeling that the Germans who can pro- duce such good music, etc. cannot be such bad chaps after all117.« Die Sorge, daß das Singen eines gemeinsamen Liedes zu Fraternisierung führen könne, begleitete das Lied bis in die Nachkriegszeit118. Tatsächlich machte sich die NS-Propaganda sei- ne Popularität, die auch als eine Form von »unintentional propaganda« beschrie- ben wird, zunutze. Mit großen Lautsprechern von Lastwagen aus sollen die Deut- schen ihre Gegner mit »Lili Marleen« beschallt haben119. Besser belegbar ist der Ein- satz des Liedes im deutschen Auslandsrundfunk. Der geborene Brite Norman Bail- lie Stewart, tätig für die englischsprachige Rundfunkpropaganda des Reichsaußenministeriums, übersetzte »Lili Marleen« ins Englische. Lale Andersen war es zwar ab 1943 verboten, sich mit »Lili Marleen« in Verbindung zu bringen, für den Auslandsrundfunk sang sie es jedoch weiterhin. Ansprechende Musik wur- de als wichtiges Mittel betrachtet, um Hörer an einen Sender zu binden und ihn so auch mit stark propagandistischen Beiträgen und Nachrichten zu erreichen. Eine Veränderung des Textes von »Lili Marleen« hin zu eindeutigen propagandistischen Aussagen hat bei der englischen Übersetzung durch Baillie Stewart nicht stattge- funden, die Zeilen »Now is the time to meet your pal, / to meet your gal, to meet your pal« können jedoch als Aufforderung gelesen werden, die privaten Sehnsüch-

114 F.G.H. Salusbury, Lili Captures the Eighth Army, in: Daily Herald, 25.5.1942 [Titelseite]. 115 Die Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 52),Teil II, Bd 4, München [u.a.] 1995, Eintrag vom 27.5.1942, S. 378. 116 Vgl. Memo »German >Vera Lynn< « der Empire Services, BBC, 20./21.7.1942, BBC Writ- ten Archives Centre, E43/162/1, in: Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 104 f., Anhang 15; ebd., S. 50-54. 117 Abschrift eines Briefes von S/Ldr R.A. Foggin 72832, Air Headquarters, Western Desert, an W.J. Brown [MP], undatiert, BBC Written Archives Centre, R27/178, in: ebd., S. 42. 118 Vgl. Jewell, Lili Marlene (wie Anm. 13), S. 35; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 152. 119 Maurice Gorham, Broadcasting and television since 1900, London 1952, S. 197. Vgl. auch Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 46 f.; Frank E. Huggett, Goodnight Sweetheart. Songs and Memories of the Second World War, London 1979, S. 142 f.; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 33. 380 MGZ 63 (2004) Katja Protte te und nicht den Kampfeinsatz an erste Stelle zu setzen120. Sehr viel expliziter in dieser Hinsicht sind deutschsprachige Flugblätter und Zeitschriften, mit denen die sowjetische Propaganda versuchte, deutsche Soldaten zur Aufgabe zu bewegen121. »Neue Worte zum vielgesungenen Soldatenlied« verkündet der »Singkamerad No. 2«122 und beginnt geschickt mit der ersten Strophe einer Umdichtung, die bei deutschen Soldaten sehr beliebt und sogar über die illustrierte Presse im Deut- schen Reich verbreitet worden war: »Über dem Polarkreis, / Da ist es bitter kalt. / Da gibt es keine Mädchen, / Nur Berge, Schnee und Wald. / Wir wollen lieber heim ins Reich, / Zu Fuß, zu Bahn, das ist uns gleich, / Zu Dir, Lilli Marlen!« Der Text geht noch etwas in diesem respektlos, aber eher harmlos-heiteren Stil weiter, fügt dann aber neue Strophen in einer ernsteren Tonart an: »Wie viele Jäger star- ben / Am kalten Lizastrand! / Ich will nicht weiter darben / Fürs falsche Vaterland! / Ich mache mit dem Kriege Schluß, / Weil ich nach Hause kommen muß, / Zu Dir, Lilli Marlen. / Auf bald'ges Wiedersehn123!« Andere Versionen sind noch stärker politisch ausgerichtet: »[...] / All wir wünschen gerne, / jeder hat sein Grund, / Daß auf der Laterne mal hängt der braune Hund. / Er wird sich beim Krepieren drehn, / und alle Leute solin es sehn, / Auch du, Lili Marleen, auch du, Lili Mar- leen124.« Im Ernst-Weinert-Nachlaß ist eine Version überliefert, in der Lili Marleen bei einem Bombenangriff ums Leben kommt und ihr Tod durch den Sieg der Ro- ten Armee über Hitler-Deutschland gerächt werden soll: »[...] / Hitler seine Ban- de / Ist schuld an all dem Blut! / Doch sind wir erst im Lande, / Dann gehts dem Pack nicht gut! / Dann hats gekracht im Hauptquartier! / An diesem Tag, da rächen wir / Auch dich - Lilli Marleen125!« Der britische Rundfunk nutzte die Popularität des Liedes ebenfalls. Anläßlich des dritten Jahrestags des Kriegsbeginns 1942 wandte sich der Schauspieler Mari- us Goring, verheiratet mit der emigrierten deutschen Schauspielerin Lucie Mann- heim und für das deutschsprachige Programm der BBC tätig, mit einem Beitrag an eine fiktive deutsche Frau und meinte damit eigentlich alle deutschen Frauen: »Meine liebe Lili Marleen, verzeih', daß ich Dich Lili Marleen nenne. Aber Du weißt

120 Bergmeier/Lötz, Hitler's Airwaves (wie Anm. 45), S. 316. Vgl. auch ebd., 91 f., 188 f., 268, 287. Evelyn Künneke, Sing Evelyn sing. Revue eines Lebens. In Szene gesetzt von Walter Haas, Hamburg 1982, S. 69, berichtet, daß sie 1943 bei einem Besuch des Solda- tensenders Belgrad zusammen mit Mitarbeitern des Senders eine englische Übersetzung improvisiert habe für die über den Kurzwellensender »Lili Marleen« ausgestrahlte »Eng- lische Sendung«. 121 Leip, Das Schicksal (wie Anm. 21), kolportiert auch, sowjetische Soldaten hätten die geg- nerischen Deutschen aus Lautsprechern mit »Lili Marleen« beschallt, und als sie so tatsächlich das Feuer zum Schweigen brachten, sei in die Stille die übliche Propaganda losgebrochen - eine Variante, die in Umkehrung des Motivs schweigender Waffen die so- wjetischen Soldaten besonders perfide erscheinen läßt. 122 Flugblatt, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. 123 Lili Marleen an der Eismeerfront, in: Neue Illustrierte Zeitung (wie Anm. 69). 124 Das neue Lili Marleen, Worte: ein Frontsoldat im Osten, Musik: Norbert Schultze, Post- karte, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung; auch als »Das Neue Wachtpostenlied (auf die bekannte Weise)«, in: Soldaten Zeitung. Il- lustrierte Beilage, Nr. 1 (Januar 1942), Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- land, Bonn, Inv.-Nr. 2001/11 /0067. 125 Wir kommen wieder, - Lili Marleen!, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Erich-Weinert-Archiv, Sign. 584, fol. 395. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 381 ja, was sonst passieren würde. Die Gestapo ist rasch da126.« Eine Beschreibung der auf Krieg ausgerichteten Politik Hitlers folgt. Der spektakulärste Coup der BBC war jedoch der bereits erwähnte Beitrag127, mit dem die britische Propaganda am 3. April 1943 auf die Gerüchte um das Verschwinden der Sängerin Lale Andersen reagierte. Die Sendung begann mit der ersten Strophe ihres Liedes. Dann fragte ein Sprecher: »Ist es Ihnen aufgefallen, daß Sie dieses Lied schon lange nicht gehört haben? Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil Lale Andersen im Konzentrationslager ist? Wie immer dem sei, die Worte des Liedes sind heute nicht mehr aktuell. Wie würden sie lauten, wenn Lili Marleen ihrem Soldaten heute einen Brief schriebe?« Nun folgt eine fünfstrophige Version, gesungen von Lucie Mannheim, die mit den eindringlichen Strophen endet:

Vielleicht fällst Du in Rußland, Vielleicht in Afrika, Doch irgendwo, da fällst Du, So will's Dein Führer ja. Und wenn wir doch uns wiedersehn, Oh, möge die Laterne stehn In einem andern Deutschland, Deine Lili Marleen.

Der Führer ist ein Schinder, Das sehn wir hier genau, Zu Waisen macht er Kinder, Zur Witwe jede Frau. Und der an allem Schuld ist, Den will ich an der Laterne sehn, Hängt ihn an die Laterne, Deine Lili Marleen.

Mit diesem Beitrag half die BBC nicht nur der in Bedrängnis geratenen Sängerin, sondern kehrte den propagandistischen Vorteil, den das Deutsche Reich durch die internationale Popularität eines deutschen Liedes gewonnen hatte, ins Gegenteil um. Das wahre Gesicht des NS-Regimes sollte durch dessen Umgang mit Lale Ander- sen entlarvt werden. Wie auf die Begeisterung der eigenen Truppen für »Lili Marleen« reagiert wer- den sollte, war jedoch noch nicht grundsätzlich entschieden. Ein interner Bericht der BBC vom 11. Juni 1943 beschrieb die möglichen Vorgehensweisen auf britischer Seite - Unterdrückung oder Vereinnahmung: »There were two possible policies to pursue here with regard to >Lili Marlenen - One was to try to crush it; the other, to adopt it. Crushing it involved not me- rely barring it from the British air, and all the other air which the BBC rides, but also taking an active attitude, presumably by producing a song of greater lilt and

126 Brief an Lili Marleen, 1.9.1942,3.50 Min., Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnr. 2783630 (Tondokument; Aufzeichnung bricht mitten im Satz ab). 127 Siehe Anm. 97. 382 MGZ 63 (2004) Katja Protte

seduction which would overwhelm it. A tall order. Adopting it would involve producing a suitable lyric in English and plugging it with terrific emphasis and tenacity until it should be simply identified as a British product and its enemy origins forgotten128.« 1943 war »Lili Marleen« nicht mehr nur das Problem der Briten und ihrer Domi- nions. Das Lied sangen auch amerikanische Soldaten, die am afrikanischen Kriegs- schauplatz und - nach der Kapitulation des deutschen Afrikakorps - in Italien zum Einsatz kamen. Am 10. Juli 1943 beschrieb der damals als Kriegskorrespondent tätige John Steinbeck das Phänomen »Lili Marleen« und nahm entschieden dage- gen Stellung, das Lied zu verbieten: »Now >Lilli< is getting deeply into the American forces in Africa.[...] There is nothing you can do about a song like this except to let it go. [...] It is to be ex- pected that some groups in America will attack >Lilli< first on the ground that she is an enemy alien, and second because she is no better than she should be. Such attacks will have little effect. >Lilli< is immortal. Her simple desire to meet a brigadier is hardly a German copyright. Politics may be dominated and na- tionalised, but songs have a way of leaping boundaries. And it would be amu- sing if, after all the fuss and heiling, all the marching and indoctrination, the only contribution to the world by the Nazis were - >Lilli Marlene<129.« Das Urteil des CBC-Rundfunkreporters Peter Stursberg, der für die Kanadier im Sep- tember 1943 aus Sizilien berichtete, fiel noch eindeutiger aus: »It's the one true song this war has produced so far which can be compared with >Tipperary< and >Over there<. But it's different from both these pieces. It's even more extraordinary. For >Lili Marlene< is being sung by both sides. It's not the song of the Afrika Korps or the desert Army, it's the song of the Mediter- ranean theatre. [...] And that's because, I think, they [the words] appeal to sol- diers of all nations [,..]130.« Bereits im Herbst 1942 hatte die junge britische Sängerin Anne Shelton (1928-1994) eine eigene Radiosendung, »Introducing Anne«, erhalten, die nach Nordafrika aus- gestrahlt wurde und den alliierten Soldaten eine Alternative zum deutschen Sol- datensender Belgrad bieten sollte. Ihre Erkennungsmelodie war »Lili Marleen«, das allerdings so Orchestriert werden sollte, daß seine Herkunft nicht gleich zu er- kennen sei131. Sie sang das Lied auch als erste in der englischen Übersetzung von auf Schallplatte. Briten verbinden noch heute mit »Lili Marleen« häufig zuerst Anne Shelton oder , eine andere bei britischen Soldaten

128 Bericht von Morris Gilbert an Thomas H. Eliot über »Lili Marlene«, 11.6.1943, BBC Writ- ten Archives Centre, R27/178, in: Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 106 f., Anhang 16. 129 Steinbeck, The alien they couldn't intern (wie Anm. 15). In den USA ist eine englische »Lili Marleen«-Version wahrscheinlich erstmals am 29.4.1943 im »March of Time radio Pro- gramm«, New York, gesendet worden. Vgl. Grull, Radio (wie Anm. 45), S. 154,158. «ο Peter Stursberg (CBC), Lili Marleen, Sept. 1943,10.45 Min., Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnr. 2823893 (Tondokument). Vgl. auch die Zeitzeugenaussagen von Stursberg in: Lale Andersen - die Stimme der Lili Marleen (wie Anm. 14). 131 Siehe Anm. 128. Grace, Battiedress Broadcasters (wie Anm. 113), S. 24, berichtet, die »Bri- tish Forces Experimental Station«, ein Vorläufer von BFBS, die Anfang 1944 den Sen- debetrieb in Algier aufnahm, hätte ebenfalls einige Tage »Lili Marleen« als Erken- nungsmelodie verwendet, bis nochmals auf den deutschen Ursprung hingewiesen wor- den sei und das Lied durch »Rule Britannia« ersetzt wurde. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 383

sehr beliebte Interpretin - ein Zeichen dafür, daß die Strategie, »Lili Marleen« zu vereinnahmen, langfristig Erfolg hatte132. In den USA ist (1901-1992) die bekannteste Lili-Marleen-In- terpretin. Die geborene Deutsche war eine entschiedene Gegnerin des National- sozialismus, hatte 1937 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen und engagierte sich stark bei der Truppenbetreuung. Im Herbst 1943 nahm sie das Lied in einer kämpferischen englischen Version in ihr Repertoire auf und sang es wenig später vor amerikanischen Soldaten in Nordafrika, Italien, Frankreich und Deutsch- land. Zu dieser Zeit war sie bereits ein Weltstar und konnte den Lili-Marleen-My- thos problemlos in den eigenen Mythos integrieren. Die zufällige Ubereinstim- mung des Vornamens und vielleicht auch ihre berühmten Filmrollen als »Lily« in »Shanghai Express« (USA 1932) oder als »Lola« in »Der blaue Engel« (Deutsch- land 1930) ließen den Eindruck entstehen, das Lied sei eigens auf den Star zuge- schnitten worden133. Die ersten autorisierten englischen Notenausgaben erschienen in Großbritan- nien und den USA erst 1944. Dies mag zum einen an grundsätzlichen Bedenken ge- genüber der Vereinnahmungsstrategie gelegen haben, zum anderen an Copyright- Schwierigkeiten. Längere Zeit war den Verwaltern des Feindvermögens, die in Kriegszeiten die Urheberrechte des gegnerischen Auslandes vertraten, nicht klar, bei wem die Rechte überhaupt lagen. Anfang 1944 beantragten sowohl die Peter Maurice Music Ltd. als auch der britische Zweig der amerikanischen Chappell Company, der bereits eine unautorisierte Fassung von Phil Parks herausgegeben hatte, das exklusive Veröffentlichungsrecht. Sie einigten sich dann jedoch und brachten beide jeweils eigene Versionen heraus. Die Notenausgabe von Peter Mau- rice Music Ltd. enthielt die englische Textfassung »My Lili of the Lamplight« von Tommie Connor, für die der routinierte Texter wahrscheinlich bereits 1942 von of- fizieller Seite den Auftrag erhalten hatte und die in Großbritannien die größte Po- pularität erlangte134. J.J. Philipps, der Inhaber der Peter Maurice Music Ltd., erzählt eine Entstehungsgeschichte, die die spezifisch britische Seite des Lili-Marleen-My- thos betont: In einem Pub in Stoke Poges stimmen Soldaten der Eighth Army »Lili Marleen« an. Philipps warnt sie angesichts der irritierten Einheimischen davor, ein deutsches Lied zu singen. Sie würden sich verdächtig machen und eine Verhaf- tung riskieren. Gekränkt erklärt ein Leutnant Thom, »Lili Marleen« sei »ihr« Lied. Er bringt Philipps eine Lili-Marleen-Platte mit, die bei der Einnahme Tobruks »er- obert« worden sei, und fordert ihn auf, doch einen englischen Text zu produzieren. Philipps unterbreitet dem Ministry of Information diese Idee, das begeistert ist,

132 George Forty, Songs for Soldiers Everywhere, in: War Monthly, 8 (Sept. 1980), 80, S. 12-15, hier S. 13, spricht zum Beispiel von »our own Anne Shelton«. Vgl. Jewell, Lilli Marlene (wie Anm. 13), S. 150; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 34. 133 vgl. Lars Jacob, Die letzte Preußin, in: Apropos Marlene Dietrich. Mit einem Essay von Lars Jacob, Frankfurt a.M. 2000 (Apropos, Bd 16), S. 7-54, hier bes. S. 35-42; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 29-31; Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 35-40. In ihrer Autobiographie »Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin«, Frankfurt a.M., Berlin 1987, S. 267-308,348, schildert sie ihren Kriegseinsatz, nicht unähnlich männlichen Veteranen, als beste Zeit ihres Lebens; »Lili Marleen« spielt jedoch kaum eine Rolle. 134 Vgl. Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 20-25,82-85, Anhang 7; Bergmeier/Lotz, Hitler's i Airwaves (wie Anm. 45), S. 316; Jewell, Lilli Marlene (wie Anm. 13), S. 150. 384 MGZ 63 (2004) Katja Protte da es schon selbst nach einer geeigneten Übersetzung gesucht hat135. Für die briti- sche Variante des Lili-Marleen-Mythos ist es ebenso grundlegend wie für die deut- sche, daß es zuerst einfache Soldaten waren, die das Lied für sich entdeckten: Die Männer der Eighth Army eroberten »Lili Marleen« nicht nur von den Deutschen, sondern verteidigten es auch erfolgreich gegen alle Angriffe aus der Heimat, die ihnen das Singen »ihres« Liedes untersagen wollten. Titelte der Daily Herald 1942 noch »Lili Captures the Eighth Army«, so erschien 1944 eine Notenausgabe des Chappell-Verlags mit dem Aufdruck »Lili Marlene - The Song the Eighth Army Captured«. Bildlich gesprochen machten die Soldaten der Eighth Army »Lili Mar- leen« zu ihrer Verbündeten. Umdichtungen entstanden, die den Sieg über Rom- mels Afrika-Korps feierten136: »The Africa Corps has sunk into the dust, / Gone are the Stukas, its Panzers lie and rust, / No more we'll hear that haunting Strain. / That soft refrain each night again, / For Lili Marlene's boyfriend will never see Marlene137.« Größere Verbreitung fand jedoch ein Text, mit dem sich in Italien kämp- fende Soldaten gegen Kritik aus der Heimat wehrten. Nach ihrem Sieg in Nordafrika war die Eighth Army im September 1943 an der süditalienischen Küste, gelandet. Der Vormarsch gestaltete sich unerwartet zäh. Als am 6. Juni 1944, dem »D-Day«, die Invasion der Alliierten an der französischen Atlantikküste begann und dort die deutsche Front viel schneller aufgerollt wurde, regte sich in Großbritannien Unmut über die Truppen in Italien. Angeblich ließen sie es sich gutgehen, während der Krieg in Frankreich entschieden werde. Aus den Helden des Afrikafeldzugs waren plötzlich »D-Day-Dodgers« (D-Day-Drückeberger) geworden. Als Reaktion auf die Vorwürfe entstand zur Melodie von »Lili Marleen« eine der bekanntesten britischen Parodien des Zweiten Weltkriegs138:

There is a song Eighth Army used to sing Marching thro the desert, marching with a swing. But now they're on a different game. Although the tune is still the same The words have all been altered - The words we're singing still

We're the »D« Day Dodgers here in Drinking all the vino, always on the spree,

«s vgl. Interview mit Jimmy Philipps, in: Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14); Jackson, The Great Lilli (wie Anm. 7), S. 47-52. 136 Abgedruckt als fünfte Strophe des sechsstrophigen Song of the Regiment, in: Mars & Mi- nerva. The Journal of The Special Air Service, 9 (Dez. 2000), 10, S. 40. 137 Lili Marlene. The Song the Eighth Army Captured. As featured in the film The True Story of »Lili Marlene«, Words by Marius Goring, Music by Norbert Schultze, Chappell & Co Ltd., London, New York, Sydney 1944. 138 Die beiden Strophen sind nach einem vervielfältigten Typoskript aus dem Nachlaß eines Soldaten der Eighth Army zitiert. Vgl. . Es gibt den Text in zahlreichen unterschiedlichen Varianten. Eine geschliffe- nere Version findet sich zum Beispiel bei Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 185-188. Vgl. auch Jewell, Lilli Marlene (wie Anm. 13), S. 151; Roy Palmer, »What a Lovely War!«. British Soldiers' Songs from the Boer War to the Present Day, London 1990, S. 177-181; Kiss Me Goodnight, Sergeant Major. The Songs and Ballads of World War II. Ed. by Mar- tin Page, London 1975, S. 160-162. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 385

We didn't land with Eisenhower And so they think we're just a shower For we[']re the »D« Day Dodgers out here in Italy [.··]

1944 drehte der britische Regisseur Humphrey Jennings den rund 20minütigen Propagandafilm »The True Story of Lilli Marlene«, der den Höhepunkt der Ver- einnahmungsstrategie bildete. Für die Filmgeschichte spielt dieses Werk des be- kannten Dokumentarfilmers zwar eine untergeordnete Rolle, für die Ausbildung des Lili-Marleen-Mythos war es jedoch von großer Bedeutung139. Im Stil eines Do- kumentarfilms verdichtete Jennings verschiedene Fakten und Legenden, die sich um die Geschichte des Liedes rankten, zu einer großen, in sich schlüssigen Erzäh- lung. Schon der einführende Text bezeichnet die Rekonstruktion der Geschichte als eine Gemeinschaftsleistung von Soldaten der Eighth Army, Dockarbeitern, Ra- dioexperten und Flüchtlingen vor dem NS-Regime. Der Film beginnt mit der Lili- Marleen-Platte, die die Eighth Army bei Tobruk »erobert« haben soll. Dann wird in das Hamburg des Jahres 1923 zurückgeblendet, wo Hans Leip angeblich den Text verfaßte. Es ist das Jahr des Hitlerputsches, aber Hamburg mit seinen Hafen- arbeitern bildet ein Bollwerk gegen den Faschismus. Ob Jennings diese Abwei- chung zu Leips eigener Datierung ins Berlin des Jahres 1915 bewußt war oder nicht, jedenfalls wird durch diesen Kunstgriff geschickt der Text des Liedes in die Nähe der internationalen Arbeiterbewegung gerückt. Ein junges schwedisches Mädchen, im Film von einer Schauspielerin (Pat Hughes) dargestellt, die vom Typ her eher der mädchenhaften Anne Shelton als Lale Anderson gleicht, singt »Lili Marleen« erstmals in einem deutschen Nachtclub. Das Lied wird bei Freund und Feind berühmt, und die Eighth Army erobert in der afrikanischen Wüste nicht nur deut- sche Stellungen und Panzer, sondern auch »Lili Marleen«. Nach Aufnahmen von Stalingrad folgen Bilder der Andersen-Darstellerin hinter Stacheldraht. Der Kom- mentar beruft sich auf Meldungen aus dem neutralen Ausland, und was der BBC- Beitrag 1943 nur andeutete, wird im Film zur Gewißheit: Die Deutschen haben die schwedische Sängerin, die das Land verlassen wollte, ins KZ gebracht. Nun schlägt auch im Film die Stunde der BBC. Mit verändertem Text sendet sie das Lied zurück nach Deutschland, als Nachricht der bekehrten Lale Andersen an die deutschen Soldaten. Für den Film singt Lucie Mannheim ihre Anti-Hitler-Version noch ein- mal auf Englisch. Das eigenwillige Beharren der Eighth Army auf »ihrem« Lied geht im Kampf gegen Hitler-Deutschland auf. Der Erzähler des Films faßt zusam- men: Lili Marleen »was sent to the desert and was captured. And then she was transformed and marched with the armies of liberation into the heart of .« So bruchlos wie im Film ließ sich »Lili Marleen« jedoch nicht in die Kriegssi- tuation der Jahre 1944/45 integrieren. Mit dem Vorrücken der alliierten Truppen in die deutsch besetzten Gebiete Europas wurde das Spielen von »Lili Marleen« erneut problematisch. Man befürchtete, die Gefühle der einheimischen Bevölke- rung zu verletzen, insbesondere in Jugoslawien. Während »Lili Marleen« von Bel- grad aus zu einem der populärsten Lieder des Zweiten Weltkriegs wurde, hatten

139 Vgl. z.B. die Ausführungen zu Jennings bei Anthony Aldgate and Jeffrey Richards, Bri- tain can take it. The British Cinema in the Second World War, Oxford, New York 1986, S. 218-245, wo »The True Story of Lilli Marlene« nur ganz am Rande erwähnt wird (S. 230). 386 MGZ 63 (2004) Katja Prette die deutschen Besatzer in Serbien zeitweise jeweils 100 zivile Geiseln für einen durch Partisanen getöteten deutschen Soldaten erschossen; für einen verletzten Deutschen starben 50 Serben. Von den insgesamt 75 000 jugoslawischen Juden wur- den während der deutschen Besatzung etwa 60 000 getötet140. Eine Notiz aus dem BBC-Archiv vom 19. Juni 1944 erklärte: »I don't think there is any likelihood of this [Lili Marleen] slipping into the re- cordings for South Eastern Europe, but we have just had evidence of intense resentment, leading even to demonstrations, by Yuogoslav [sic] patriots on hea- ring >Marlene< included in BBC transmissions. You will remember that it was definitely War Office Policy to adopt the tune which had become so popular with our own men as well as the Germans, and by giving it another lyric hoped to convert it into a sort of >Boomerang<. The Yuogoslaws, and presumably other patriots, associate >Marlene< with the incessant singing of it by German Troops with a background of misery, so we must steer clear of it ourselves141.«

5. Exkurs: War Lili Marleen treu?

Hans Leips Text verarbeitet auf poetische Weise eine archetypische Situation: Der Soldat zieht in den Krieg und läßt die geliebte Frau zurück. Die Sorge, es könne ein Abschied für immer sein, verleiht der Liebe und dem Gefühl der Sehnsucht be- sonderen Glanz und Tiefe. Zugleich stellt sich in verschärfter Form die Frage, wie weit die Liebe reicht. Ist es eine Liebe über den Tod hinaus, oder ist der Geliebte schnell zu ersetzen? Die vierte Strophe legt letztere Möglichkeit nahe (»Und soll- te mir ein Leids geschehn, / wer wird bei der Laterne stehn / mit dir, Lili Mar- leen?«). Aber die fünfte Strophe deutet in einer mythischen Dimension die Über- windung des Todes durch die Liebe an (»Aus dem stillen Räume, / aus der Erde Grund / hebt mich wie im Traume / dein verliebter Mund. / Wenn sich die spä- ten Nebel drehn / werd ich bei der Laterne stehn / wie einst, Lili Marleen.«). Ge- wißheit vermittelt der Text nicht. Denn er beschränkt sich auf die Sicht des männ- lichen Sprechers und bietet keinerlei Anhaltspunkte zur Lebenssituation, zum Cha- rakter oder auch nur zum Aussehen der angeredeten Frau. »Lili Marleen« ist nicht mehr als ein Name, als eine geheimnisumwobene Gestalt unter einer Laterne, die sich in den Gefühlen ihres abwesenden Geliebten widerspiegelt.

140 Vgl. Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 2002, S. 507-529; Walter Mano- schek, Kriegsverbrechen und Judenvernichtung in Serbien 1941-1942, in: Kriegsverbre- chen im 20. Jahrhundert (wie Anm. 44), S. 123-136; Ilse Schmidt, Die Mitläuferin. Erin- nerungen einer Wehrmachtsangehörigen, Berlin 1999, S. 35-40. 141 Notiz des Deputy Directors of Music an den Transcription Manager, Bedford College, 19.6.1944, BBC Written Archives Centre, R27/178, in: Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 55 f., 122. Auch in einer geheimen Anweisung an die Is1 Field Broadcasting Unit vom 19.12.1944 wurde »Lili Marleen« bis auf weiteres verboten, allerdings ohne Angabe von Gründen. Vgl. Operational Instruction. Detachment Commanders. 1st Field Broadcasting Unit, Serial No. 12, 19.12.1944, Public Record Office, Kew, Richmond/Surrey, W0171/3810/89366. Mythos »Lili Marken« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 387

Dieser dichterische Kunstgriff hat viel zur Anziehungskraft und universellen Wirkung des Liedes beigetragen. »Lili Marleen« kann für jeden Zuhörer eine an- dere Frau sein. Das Bild der Frau unter der Laterne hat zudem die Konnotation der käuflichen Geliebten. Hans Leip hat zwar dieser Interpretation widersprochen, aber die stark sexuelle Aufladung, die das Lied aus dieser Perspektive erhält, hat seinem Erfolg sicher nicht geschadet142. Leip nennt »Lili Marleen« sein »allerprivatestes kleines Gedicht« - kein »Kriegs- lied, sondern nur ein Lied im Krieg, [...] nur ein Liebeslied«143. Eine wichtige Funk- tion, die das Lied für Soldaten erfüllte, war tatsächlich die Rückzugsmöglichkeit in die eigene, höchst persönliche Gefühlswelt. Dennoch war das Thema »Liebe im Krieg« keineswegs Privatsache. Nicht nur die nationalsozialistische Bevölke- rungspolitik zielte darauf, tief in das Privatleben des einzelnen Menschen einzu- greifen; bei allen kriegsteilnehmenden Staaten wurde das Verhalten der zurück- gebliebenen Frauen als entscheidend für die Kampfmoral der Truppe betrachtet. Die zwischenmenschliche Frage, ob Freundin, Verlobte oder Frau in der Abwe- senheit des Mannes treu sei, erhielt eine kriegswichtige Bedeutung144. So vermerkt zum Beispiel das Protokoll einer Programmkonferenz im Reichspropagandamini- sterium vom 4. März 1943, daß keine Texte gebracht werden sollten, die geeignet seien, »primitive« Soldaten zu beunruhigen, nach der Art »Warum soll ich treu sein, wie ein Reh so scheu sein«145. Politisch-propagandistische Erwägungen lagen Leip fern, als er im Ersten Welt- krieg »Lili Marleen« schrieb. Die im Zweiten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt der Popularität des Liedes entstandenen, autorisierten englischsprachigen Versionen berücksichtigten hingegen solche Anforderungen und veränderten vor allem die im Urtext unbestimmt gehaltene Beziehung zwischen Soldat und Frau. In Groß- britannien ging der Auftrag nicht zufällig an Tommie Connor, der familien- freundliche Lieder wie »I Saw Mummy Kissing Santa Claus« gedichtet hatte. Der Routinier bemühte sich, einen anrührenden, aber unverfänglichen Text zu schaf- fen - »a song that wouldn't offend the hearts and morals of people«146. Seiner vier- strophigen Version fehlt jeder Hinweis auf den möglichen Tod des Soldaten und die Unbeständigkeit der geliebten Frau. »Lili Marleen« gelobt dem Soldaten schon in der ersten Strophe keusch ihre immerwährende Liebe: »Underneath the lantern / by the barrack gate, / darling, I remember / the way you used to wait. /'t was

142 Vgl. z.B. Leip, Richtigstellende Bemerkung (wie Anm. 27), S. 79. 143 Ebd., S. 78. 144 Vgl. Birthe Kundrus, »Die Unmoral deutscher Soldatenfrauen«. Diskurs, Alltagsverhal- ten und Ahndungspraxis 1939-1945, in: Zwischen Karriere und Verfolgung. Hand- lungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland. Hrsg. von Kirsten Hein- sohn [u.a.], Frankfurt a.M., New York 1997 (= Geschichte und Geschlechter, Bd 20), S. 96-110. 145 Vgl. Drechsler, Die Funktion der Musik (wie Anm. 106), S. 155, Anm. 90. Belege, daß auch »Lili Marleen« in dieser Hinsicht kontrovers diskutiert wurde, sind nicht bekannt. Im Deutschen Rundfunkarchiv finden sich zwei Tondokumente von öffentlichen Ver- anstaltungen, auf denen Lale Andersen 1941 /42 »Lili Marleen« singt. Einmal läßt sie die fünfte Strophe weg, das andere Mal die vierte, ein Verzicht auf beide problematischen Stro- phen ist nicht überliefert. Vgl. Öffentliche Veranstaltung mit Lale Andersen, 1941/42, 3.26 Min., Deutsches Rundfunkarchiv, Archivnr. 2832484; Kabarett-Vorträge vor Solda- ten, 18.9.1941,10.10 Min., ebd., Archivnr. 2613021. 146 Vgl. Jewell, Lili Marlene (wie Anm. 13), S. 150. 388 MGZ 63 (2004) Katja Protte

there that you whispered tenderly / that you lov'd me, you'd always be / my Lili of the Lamplight, / my own Lili Marlene147.« Marlene Dietrich sang eine andere vierstrophige, an der italienischen Version orientierte Fassung. Statt Todesahnungen und Mystik enthält die letzte Strophe, die die Sängerin kämpferisch mit prononciertem Marschrhythmus vortrug, sogar einen klaren Appell an den Durchhaltewillen. Die Liebe zur abwesenden Frau be- kommt die Funktion, den Soldaten die Härten des Kampfes ertragen zu lassen: »When we are marching / in the mud and cold, / and when my pack / seems mo- re than I can hold, / my love for you renews my might, / I'm warm again, my pack is light. / It's you, Lilli Marlene, / ifs you, Lilli Marlene148.« Eine 1944 von gesungene Version, die der eigentlichen Strophe je- weils noch Verse mit eigener Melodie voranstellt, beschreibt »Lili Marleen« bereits als einen Mythos, als ein Sinnbild unverbrüchlicher Treue:

This is the story of Lili Marlene Doo-doo-do-do-doo, doo-do-do-doo-do Would you like to hear the story Of a girl that many soldiers know It's a tale of love in all it's glory They tell when the Iigths are soft and low Underneath the lamppost by the barrack gate Standing all alone every night you'll see her wait She waits for a boy who marched away And though he's gone she hears him say Oh, promise you'll be true, fare thee well, Lili Marlene Till I return to you, fare the well, Lili Marlene

This is the story of Lili Marlene With a kiss she gave her promise To be constant as the stars up above Every soldier knows she's kept her promise And she has been faithful to her love

147 Text vollständig abgedruckt bei Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 159. 148 Text vollständig wiedergegeben bei Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 54 f. Zur italienischen Version vgl. ebd., S. 58 f.; Jacob Hieble, Lily Marlene - A Study of A Modern Song, in: The Modern Language Journal, 31 (Jan. 1947), 1, S. 30-34, hier S. 32. Die italie- nische Vorlage enthält in der dritten Strophe die Frage nach der Beständigkeit der Ge- liebten: »Forse domani piangerai, / ma dopo tu sorriderai / a chi, Lily Marlene?« (»Viel- leicht wirst Du morgen weinen, / aber danach wirst Du wieder lächeln. / Wem wirst Du zulächeln, Lili Marleen?«). In der englischsprachigen Ubersetzung, die Dietrich sang, wird jedoch eine doppeldeutige Formulierung gewählt, die entweder so verstanden wer- den kann, daß die Frau durch die Trennung eine neue, tiefere Art der Liebe erfährt, oder daß der Soldat sie uneigennützig mit der Aussicht auf eine neue Liebe tröstet: »Surely tomorrow you'll feel blue, / but then will come a love thafs new / for you, Lilli Marle- ne, / for you, Lilli Marlene.« - Auf Schallplatten/CD's mit Dietrichs Lili-Marleen-Ver- sion wird häufig fälschlicherweise Connor als Textautor angegeben. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 389

Underneath the lamppost by the barrack gate Standing all alone every night you'll see her wait And as they go marching to the fray The soldiers all salute and say We'll tell him you've been true, fare thee well, Lili Marlene Till he returns to you, fare the well, Lili Marlene149

Im Gegensatz zu den offiziösen Fassungen beantworten Ubersetzungen, die in der Truppe entstanden, unautorisierte Versionen und Parodien die Frage nach der Treue der Frau oft anders, und belegen so, wie sehr die mögliche Untreue ihrer Frauen die Soldaten beschäftigte. In Peter Stursbergs CBC-Feature singt ein kana- discher Soldat eine zweistrophige Version in fast wörtlicher Übersetzung der deut- schen Urfassung. Bezeichnenderweise sind nur die erste und die vierte Strophe übersetzt, die die Frage nach der Treue über den Tod hinaus stellt: »[...] and if I don't return again, / who stands besides you in the rain, / with you, Lili Marlene? With you, Lili Marlene150?« Die erste unautorisierte Fassung der Chappell-Verlags von Phil Park, ebenfalls um Verse mit eigener Melodie ergänzt, ging wesentlich weiter; sie ist geradezu eine Ballade über weibliche Unbeständigkeit. Die Gelieb- te wendet sich dem jeweils verfügbaren Soldaten mit dem nächsthöheren Dienst- grad zu. Eine gewisse Distanz zu dieser Haltung wird dadurch erzeugt, daß »Lili Marleen« offensichtlich ein deutsches Mädchen sein soll, und nicht die Frau, die zu Hause auf den US-Soldaten wartet:

Underneath the lantern, By the Barrack Square, [I] used to meet Marlene And she was young and fair. I said: »Have you ever known, Fraulein, A love like mine?« and she said »Nein«. Remember me, Marlene, And I'll remember you. [.··]

So what promised to be love eternal Was as foolish as a dream could be. Now she's waiting for a blooming colonel Each night where she used to wait for me151. [··.]

149 Text vollständig abgedruckt bei Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 56 f. 150 Stursberg, Lili Marleen (wie Anm. 130). 151 Text vollständig abgedruckt bei Pope, The Story (wie Anm. 10), S. 82-85, Anhang 7. 390 MGZ 63 (2004) Katja Prette

Eine deutsche Parodie in Zerbster Mundart, gesprochen in der Gegend um Mag- deburg, ist noch drastischer. Die Frau muß für ihre Untreue mit dem Leben be- zahlen: [·..]

Hören tu ick Schritte, den bekannten Jang, auf der Straßenmitte jing doch wat entlang? Im Dunkeln könnt ich sie bald sehn, die Sinne wollten mir verjehn: Marleen war nich alleen.

Wild war mir zu Mute, treulos war det Biest. Hab die falsche Pute wütend uffjespießt. Ins Kittchen mußt ick dafür jehn. Wann wern die fuffzehn Jahr verjehn, um dich, Lili Marleen152? [...]

Auch in Großbritannien war eine Variante sehr populär, die genau das Thema auf- griff, das Connor so sorgfältig vermieden hatte. »My Faithless English Rose« er- zählt von einem britischen Soldaten, der bei seiner Heimkehr feststellt, daß die dort stationierten Amerikaner seinen Platz eingenommen und das Herz seiner Liebsten mit Kaugummi und Jeep-Spritztouren gewonnen haben153. Vergleichba- re deutsche Varianten, in denen sich »Lili Marieens« gegen Schokolade und Ziga- retten auf die US-Besatzungssoldaten einlassen, entstanden in der Nachkriegs- zeit154. Im Gegensatz zu ihren Frauen war Soldaten während des Krieges eine relative Freizügigkeit zugestanden worden. Unter den Lili-Marleen-Parodien waren sol- che mit explizit sexuellen Bezügen sehr beliebt155. Nach Kriegsende wurden aber verstärkt wieder striktere Moralvorstellungen propagiert. Diese Tendenz spiegelt das Lied »The Wedding of Lilli Marlene« wider, das Tommie Connor, inspiriert von Lale Andersens Hochzeit mit dem Schweizer Komponisten Arthur Beul, 1949

152 Text vollständig abgedruckt bei Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 166 f. 153 Vgl. Brian Murdoch, Fighting Songs and Warring Words. Popular lyrics of two world wars, London, New York 1990, S. 180. 154 Vgl. z.B. Schepping, Zeitgeschichte (wie Anm. 8), S. 458 f. iss Ygj z g Lj]j ]yfar]eeri - funkelnagelneu (wie Anm. 78): »Klapprige Laternen gibt es über- all, / Liebe unter Sternen, das war' vielleicht mein Fall! / Was soll'n die Leute uns noch sehn, / Laß uns doch in den Hausflur gehn, / Sei klug, Lili Marleen.« (2. Strophe). Oder Leonhardt, Lieder (wie Anm. 13), S. 165: »Ich drückt sie an den Pfosten: / Mädchen, sei nicht dumm, / denn die alte Funzel, / die fällt beim Stoß nicht um. / So haben wir zum erstenmal / gevögelt am Laternenpfahl / mit der Lili Marleen«. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 391

textete156. Es beschreibt die Hochzeit der »Lili Marleen« als Abschied vom »sweetheart« der Nation; für die britischen Soldaten, die in Nordafrika gekämpft hatten, heißt es nun »Fare-well my angel of the lamplight«. Connor stellt zwar die moralische Integrität von »Lili Marleen« nicht in Frage, dennoch wird deutlich, daß der Abschied von ihr symbolisch auch der Abschied von der moralisch-ethi- schen Ausnahmesituation des Krieges sein sollte.

6. Lili Marleen, die »unberührte Braut«? - Rezeption nach 1945

Eine der bekanntesten Anekdoten Leips über »Lili Marleen« knüpft am interna- tionalen Erfolg des Liedes an: General Eisenhower habe 1945 bei einem Besuch der Regenbogen-Division in Tirol erfahren, daß hier zurückgezogen der Verfasser der »Lili Marleen« lebe. Der US-General wollte ihn kennenlernen, der Schriftsteller war aber bereits zu Bett gegangen. Daraufhin habe Eisenhower gesagt: »Dann wol- len wir ihn nicht stören. Er ist der einzige Deutsche, der während des Krieges der ganzen Welt Freude gemacht hat157.« Seine Verbindung mit »Lili Marleen« brach- te dem Dichter jedoch nicht nur Verehrung ein. 1947 bemühte sich Leip um den Vorsitz der neu zu gründenden Sektion des PEN-Clubs in Hamburg - eine Be- werbung, die vor allem bei NS-verfolgten Schriftstellern auf Protest stieß. Der große Erfolg von »Lili Marleen« wurde dabei besonders gegen ihn verwandt. Er habe gut verdient, während andere am Krepieren gewesen seien. Am 23. Mai 1948 er- schien zudem ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, nach dem »Lili Marleen« ursprünglich der jüdischen Diseuse Lilly Freud-Marié, einer Nichte Sigmund Freuds, gewidmet gewesen sei158. Das soll Leip jedoch nicht gehindert haben, am Belgrader Radio Nazi-Propaganda zu machen und für das Renommierblatt »Das Reich« zu arbeiten. Letzterer Vorwurf war in gewisser Weise gerechtfertigt, erste- rer nicht. Am Ende der Affäre mußte Leip jedoch froh sein, daß er wenigstens als einfaches Mitglied des PEN-Clubs zugelassen wurde159. Später spielte der Dichter die Bedeutung des Liedes für seine Biographie herunter und betonte, daß »Lili Marleen« aus einer anderen Zeit stamme. Sein zeitgemäßer dichterischer Ausdruck des Zweiten Weltkriegs sei das düstere Gedicht »Lied im Schutt« gewesen, in dem er 1943 die Bombenangriffe auf Hamburg verarbeitet habe160. Daß er »Lili Mar- leen« später nicht nur abtat, weil er sich als Dichter zu Höherem berufen fühlte161,

156 The Wedding of Lilli Marlene, Tommie Connor (Text), Johnny Reine (Musik), Box & Cox (Publications) Ltd., London 1949 (Notenausgabe). Vgl. Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 48 f. 1953; Lehrke, Wie einst (wie Anm. 35), S. 99-105. 157 Leip, Das Schicksal (wie Anm. 21); vgl. auch Leip, Das Tanzrad (wie Anm. 19), S. 288 f. iss vgl. Margrit Freud, Zur Geschichte eines Schlagers, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.5.1948. 159 Vgl. Schütt, Deplaziert (wie Anm. 24), S. 54 f.; Schütt, Dichter (wie Anm. 26), bes. S. 244-249. 160 Vgl. Leip, Das Schicksal (wie Anm. 21). Das »Lied im Schutt« erschien erstmals im Sim- plicissimus, 48 (3.11.1943), 44, S. 573. Wieder abgedruckt in: Das Hans-Leip-Buch (wie Anm. 27), S. 59-62. 161 Vgl. z.B. den Nachruf auf sich selbst, in: Leip, Das Tanzrad (wie Anm. 19), S. 358: »Er ge- dachte, sich mit Kadenzen zu kränzen / und auch mit seinen Pentamen zu glänzen. / Man hat drüber hingesehn / und hielt sich an Lili Marleen«. 392 MGZ 63 (2004) Katja Protte sondern daß der Erfolg des Liedes in der NS-Zeit ihm auch geschadet hatte, spar- te er in seinen Rückblicken aus; es lief der oft beschworenen Integrationskraft des Lili-Marleen-Mythos zuwider. Der Komponist Norbert Schultze beschreibt in seiner Autobiographie »Lili Mar- ken« als Türöffner bei den westlichen Alliierten: Nach seiner Flucht aus dem So- wjetischen Sektor durfte er Ende 1945 trotz strikten Auftrittsverbots im American Press Club in Zehlendorf mit seiner Frau, der bulgarischen Sängerin Iwa Wanja, vor Feldmarschall Montgomery »Lili Marleen« spielen. Die Verbindung mit dem Lied konnte ihn kaum mehr belasten, als er es durch seine Vertonungen von NS- Propagandaliedern und -filmen ohnehin schon war. Im Oktober 1948 wurde er vom Entnazifizierungs-Hauptausschuß in Hannover als Mitläufer eingestuft und mußte lediglich die Verfahrenskosten in Höhe von 3000 DM tragen. Eine Entnazi- fizierung in Berlin hatte er aus Angst vor einem strengeren Urteil bewußt umgan- gen. Mit entwaffnender Offenheit erklärte Schultze sein Verhalten damit, daß er Karriere machen und nicht Soldat werden wollte. Als eine Art persönlicher Wie- dergutmachung dichtete er Jahrzehnte später, zum Beispiel anläßlich des Golf- krieges 1991, zur Melodie von »Lili Marleen« Antikriegslieder, die jedoch nicht veröffentlicht wurden162. Lale Andersen erlebte die letzten Kriegswochen auf . Im Juni 1945 begann dort ihre Nachkriegskarriere mit einem Konzert für deutsche und kanadi- sche Verwundete. Ende August begann sie für den Nordwestdeutschen Rundfunk zu arbeiten, der unter britischer Regie in Hamburg aufgebaut wurde. Sie erhielt zahlreiche Konzerteinladungen im Rahmen der britischen Truppenbetreuung. Pla- kate kündeten sie als »The Original Lily Marlene« an163. In ihrem Tagebuch ver- merkt sie, daß ihre Popularität durch den Lili-Marleen-Song bei den Briten unge- heuer groß sei: »Es scheint ihnen absolut thrilling, diese Sängerin nun wirklich kennen zu lernen164.« Dennoch wurde sie am 1. Juni 1946 auf die »American Black- list« gesetzt und es dauerte mehrere Monate, bis das Verfahren zur Klärung der Vorwürfe gegen sie abgeschlossen war, und sie wieder eine uneingeschränkte Auf- trittsgenehmigung für die britische und die amerikanische Zone erhielt165. Die Ein- ladung, 1950 in Großbritannien vor Veteranen aufzutreten, bildete den Auftakt zu einer Reihe von Auslandstourneen. Als der Verband Deutsches Afrikakorps e.V. 1956 ein großes »Afrikaner-Treffen« in Düsseldorf organisierte, an dem auch ehe- malige Angehörige der britischen Eighth Army teilnahmen, gehörte Lále Ander- sen selbstverständlich zum Programm. Bis zu ihrer Abschiedstournee 1966/67 hat- te sie noch verschiedene Erfolge mit anderen Schlagern, blieb aber bis zu ihrem Lebensende vor allem die Lili-Marleen-Sängerin166. Ehemalige Soldaten schrieben ihr noch weit bis in die siebziger Jahre hinein und machten sie zur Kronzeugin ih- rer menschlichen Integrität: »Ich übersende es [ein Lili-Marleen-Kärtchen von 1942]

162 Vgl. Schultze, Mit dir (wie Anm. 29), S. 107-113; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 40-42; Sch., »Ich hatte Angst...«. Der Komponist von »Lili-Marleen« vor der Spruch- kammer, in: Die Welt, 26.10.1948; Schütt, Dichter (wie Anm. 26), S. 209. 163 Abgedruckt bei Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 41. 164 Tagebuch Lale Andersen (wie Anm. 36), Eintrag Ende August [1945], 165 Vgl. die Unterlagen im Bundesarchiv (personenbezogene Unterlagen des ehemaligen Berlin Document Center), RKK 2600/0004/11 Lale Andersen. 166 Vgl. Lehrke, Wie einst Lili Marleen (wie Anm. 35), S. 96 f., 109-154; Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 42-45. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 393

Ihnen in der Hoffnung, daß Sie es annehmen zum Zeichen dafür, daß wir Sie gern hörten und uns der Sinn nicht nur danach stand, Menschen zu töten167.« Nicht nur für die Protagonisten des Welterfolgs, auch für die Anhänger des Lie- des, hatte der Lili-Marleen-Mythos eine Entlastungsfunktion. Hans Leip zitierte 1949 einen nicht genannten Bekannten, um zu erklären, warum er sich verpflich- tet gefühlt habe, Tommie Connors Schlager »The Wedding of Lilli Marlene« zu übersetzen: »Und bedenke, diese Lili Marleen ist mehr als dein seit vielen Jahr- zehnten verblaßtes persönliches Idol; sie ist eine andere für jeden und doch uns al- len gemeinsam. Sie ist des vergangenen Grauens unberührt gebliebene Braut...168« Das Lied erhob den Einzelnen scheinbar über die Frage nach Schuld und Mitläu- fertum hinaus in eine moralisch unangreifbare Sphäre, galt als Beweis für ein in- taktes Gefühlsleben in Kriegszeiten. Nach außen diente der völkerverbindende Aspekt des Lili-Marleen-Mythos als Schutzschild. Die enge zeitgeschichtliche Bindung des Mythos an den Zweiten Weltkrieg er- zeugt ein Spannungsfeld, das dem Lied einerseits im Vergleich mit anderen Ever- greens mehr emotionale Tiefe gibt, andererseits aber auch heftige Gegenreaktio- nen auslöst. Besonderen Anstoß erregte »Lili Marleen« im ehemaligen Jugoslawi- en, wo es von offizieller Seite wegen seiner wichtigen Rolle für den deutschen Sol- datensender Belgrad als Symbol der NS-Besatzungszeit bewertet wurde. Als österreichische und kanadische Touristen 1978 in einer Gaststätte im kroatischen Korcula »Lili Marleen« anstimmten, wurden sie festgenommen, zu Geldstrafen verurteilt und ausgewiesen. Durch das Singen des nazistischen Liedes hätten sie die patriotischen Gefühle der Einheimischen geringgeschätzt und beleidigt169. Marlene Dietrich behauptete 1966 in einem Interview, daß sie in Frankreich nie »Lili Marleen« gesungen habe. Denn für die Franzosen sei es »ein Lied der Besat- zer, sie hören zugleich immer den Widerhall der Militärstiefel«170. Bei ihrem ersten Konzert in Israel 1960 sang sie auf Bitten des Publikums »Lili Marleen« auf Eng- lisch. Als sie jedoch am nächsten Abend gebeten wurde, das Lied auf Deutsch zu singen, fragte sie erst das Publikum und verzichtete aus Respekt vor dem Einwand

167 Brief von Walter O. an Lala [sie] Andersen, Frankfurt a.M., 5.12.1965, Lale-Andersen- Nachlaß (wie Anm. 35). Dem Schreiben lag das Schwarzweißfoto einer Zeichnung bei, das ein Paar unter einer Laterne zeigt. 1942 sandte es O. seiner Frau mit der Aufschrift: »Lili Marlen vom Belgrader Wachtposten / >Unsere beiden Schatten sahn wie einer aus [...]< / gezeichnet von Gefr. Bauer, aufgenommen von Gefr. Börner in Kamenka, 30 km ostw. Smolensk [...] im Februar 42 / »Wer küßt michParis hatte die Sängerin Suzy Solidor 1942 »Lily Marlene« in der französischen Übersetzung von Henry Lemarchand bekannt gemacht. Ihr haftet jedoch bis heute der Ruch der Kollaboration an. Vgl. Eddy Florentin, Quand tous les soldats reprenaient en choeur »Lili Marleen«, in: Historia, Nr. 631 (1999), S. 30-34, hier S. 32. 394 MGZ 63 (2004) Katja Protte eines Zuhörers darauf171: »Vielleicht erinnerte es ihn an einen Aufseher in Bergen, der singend am Stacheldrahtzaun stand, an die Schäferhunde und an die Maschi- nengewehre?« Die Implikation, daß derjenige, den »Lili Marleen« rühre, kein schlechter Mensch sein könne, führen Darstellungen von Verfolgten des NS-Regi- mes ganz bewußt ad absurdum. Der in Polen geborene Schriftsteller Louis Begley schildert in seinem autobiographisch gefärbten Roman »Wartime Lies«, wie nach dem vergeblichen Aufstand im Warschauer Ghetto 1944 Männer, Frauen und Kin- der auf dem Bahnhofsvorplatz zusammengetrieben werden und zu Massenver- gewaltigungen und blindwütigem Schießen über einen Lautsprecher »Lili Mar- leert« erklingt172. Roman Frister beschreibt in seiner Autobiographie »Die Mütze oder Der Preis des Lebens«, daß der Gestapo-Offizier Wilhelm Kunde und seine Gä- ste im Krakauer Gestapo-Hauptquartier als »Präludium« vor sadistischen Er- schießungszeremonien besonders gern »Lili Marleen« hörten173. In einer Erzählung Liana Millus174 über das Frauenlager Auschwitz-Birkenau hingegen ist »Lili Mar- leen« nicht das Lied der Folterer, sondern das Lied der Gefangenen, weil in die- sem traurigen Lied »die ganze Verzweiflung des Menschen widerklingt, der einer aussichtslosen Zukunft entgegengeht«. 1956 drehte der Regisseur Paul Verhoeven den Spielfilm »... wie einst Lili Mar- leen«, in dem das Lied ein Liebespaar von seiner Trennung in den Wirren des Zwei- ten Weltkriegs bis zum glücklichen Wiedersehen zehn Jahre später begleitet. Die Filmmusik schrieb Norbert Schultze; Lale Andersen und der ehemalige Leiter des Soldatensenders Belgrad, Karl-Heinz Reintgen, spielten sich in kurzen, aber wich- tigen Auftritten selbst. Im gleichen Jahr rückten in der Bundesrepublik, nach über zehn Jahren ohne eigene Armee, die ersten deutschen Soldaten wieder in den Ka- sernen ein - für die DDR ein Grund, den Film als ein Beispiel für Kasernenhofro- mantik im Zeichen westdeutscher Wiederbewaffnung zu brandmarken: »Das Lied des zweiten Weltkrieges, das Lied des Bomben-auf-Engelland-Kom- ponisten wird fünfzehn Jahre später in Westdeutschland als NATO-Schnulze zu neuem Leben erweckt und auf den EWG-Markt gebracht. [...] Auf dem Zel- luloid führt der Schlager alle wieder zusammen, als sei im zweiten Weltkrieg nichts geschehen, als hätte der deutsche Militarismus nicht Millionen den Tod, sondern die Erfüllung ihrer Liebe gebracht. Nichts vom Unrecht des Krieges, nichts vom Grauen. Die Liebenden finden zueinander, der Krieg war für sie nur Unterbrechung und Bewährung ihres Gefühls, so will es das offizielle Bonn175.« In Zeiten des Kalten Krieges scheint die Pflege des Lili-Marleen-Mythos ein west- liches Phänomen gewesen zu sein. Zumindest auf offizieller Ebene war das Lied in den Ostblockstaaten als Wehrmachtslied diskreditiert. Aber auch im Westen war

171 Hillel Tryster, Der blaue und der weiße Engel. Marlene Dietrich in Israel 1960 und 1966, in: Marlene Dietrich, Ausst.-Kat. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1995, S. 80-87, hier S. 86. 172 Vgl. Louis Begley, Wartime Lies, New York 1991, S. 146. 173 Roman Frister, Die Mütze oder Der Preis des Lebens. Ein Lebensbericht. Aus dem He- bräischen von Eva und Georges Basnizki, Berlin 1997, S. 151 f. 174 Liana Millu, Der Rauch über Birkenau. Mit einem Vorwort von Primo Levi. Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel, München 1997, S. 12. Der Band enthält sechs bereits 1947 niedergeschriebene Erzählungen, von denen eine den Titel »Lili Marleen« trägt. 175 Hans Oley und Joachim Hellwig,... wie einst Lili Marleen, Berlin (Ost) 1963, S. 5. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 395

die anhaltende Popularität von »Lili Marleen« kaum das Werk von Regierungen und Ministerien. Die Planungen für eine neue Armee und die schwierige Anfangsphase der Bundeswehr führten in der westdeutschen und der internationalen Öffent- lichkeit zu einer Vielzahl von Anspielungen und Persiflagen auf das bekannte Lied. Das Kabarett »Nürnberger Trichter« dichtete 1952 auf die Melodie von »Lili Mar- leen«: »[...] Es ging der Faschismus [,] die Defätisten gehn / es bleibt mein Rheu- matismus vom vielen Draußenstehn. / Trotzdem bleib ich aktiv [,] mein Schatz, / man braucht 'n Truppenübungsplatz, / doch nötiger noch als den / braucht man Lili Marleen176!« Im britischen Satiremagazin »Punch« erschien 1956 die Parodie »Lilli Marlene Rides Again«, in der das Lied ebenfalls für ungebrochene Konti- nuität steht: »[...] As they lift the seidel, what is it they sing, / Manstein and Spei- del and Marshal Kesselring? / ,The Afrika Korps will watch with care / The boys who in the Bundeswehr / Will sing Lilli Marlene, / Will sing Lilli Marleen!? [...]177« Nachdenklich-optimistisch gibt sich der Text zum Foto eines Abschieds vor einer Bundeswehrkaserne aus den späten 1950er Jahren: »Vor der Kaserne, vor dem großen Tor... Diese Worte und die dazugehörige Me- lodie sind uns noch gut im Ohr, obwohl sie mancher gern vergessen hätte. [...] Lange Zeit glaubten wir, daß das Geschehen, das dem Text zum Vorwurf dien- te und dem Lied zum Erfolg verhalf, für uns auf immer der Vergangenheit an- gehöre. Heute wissen wir es besser. Doch es hat sich manches geändert. Ka- serne und Kasernentor haben sich wieder geöffnet, auch den Abschied unter der Laterne gibt es wieder, aber die Menschen sind anders. Unser Foto weckt Er- innerungen. Wer genau hinsieht, wird aber auch den Geist des Neuen aus ihm spüren178.« In den 60er Jahren findet sich zum Beispiel die Karikatur »Germany is, perhaps, the most steady« im »Evening Standard«, die Konrad Adenauer im Lili-Marleen-Ko- stüm als Garant westdeutscher Bündnistreue zeigt179. Die Zeichnung einer »Lilli Marleen 1964« unter titelten, parteiischen Justitia spielt auf den Skandal um die Schleifermentalität einer Fallschirmspringer-Ausbildungskompanie in Nagold an180. Im Umkreis der westdeutschen Friedensbewegung entstanden ebenfalls Umdich- tungen und Umwidmungen, die vor atomarer Bedrohung und Notstandsgesetzen warnten181.

176 Text: Curth Flatow, Nachlaß Norbert Schultze (Privatbesitz). 177 B.A. Young, Lilü Marlene Rides Again, in: Punch, 10.10.1956, S. 423. 178 Foto von Lothar K. Wiedemann, Zeitungsausschnitt mit der Seitenbezeichnung Herren- spiegel, 25./26.10.19[58], Museum für Hamburgische Geschichte, Hans-Leip-Archiv. 179 Vickys [Victor Weisz], Germany is, perhaps, the most steady, in: Evening Standard, 7.12.1962. 180 Gerd Hiisch, Lilli Marleen 1964, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 23.1.1964. 181 Vgl. z.B. Lieder gegen die Bombe. Liederheft des komitees volkskunstschaffender gegen den atomtod, gedruckt als Beilage zur »deutschen Volkskunst«, Bochum 1963, [Um- schlagrückseite]: »Aus dem Reich der Toten, / Aus der Erde Grund, / Steigen die Musch- koten / Und öffnen ihren Mund: / Tod bracht uns das Kasernegehn, / Ach, kurz war das Laternestehn / Mit dir, Lilli Marleen. [...] Denk daran Marleene, / Eh' dein Sohn mar- schiert: / Heult erst die Sirene, / Dann ist es bald passiert. / Nie wirst du jemand glück- lich sehn, / Wo die Atomraketen stehn. / Denk stets daran, Marleen!«; Wie einst Lili Marlen ... Flugblatt der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung, Ingeborg Küster (ver- antwortl.), Hannover 1966, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Inv. Nr. 1994/05/0056. 396 MGZ 63 (2004) Katja Protte

Vor Bundeswehrsoldaten sang Laie Andersen wahrscheinlich erstmals 1959 in Fürstenfeldbruck »Lili Marleen«182. Ob eine Anknüpfung an den Lili-Marleen-My- thos in der Frühzeit der Bundeswehr offiziell gefördert wurde, müßte noch ge- nauer untersucht werden. Im 1958 erschienenen Liederbuch der Bundeswehr ist das Lied nicht abgedruckt; es findet sich erstmals in einer Neuausgabe von 1991183. Zehn Jahre zuvor hatte der an der Autobiographie Lale Andersens orientierte Film »Lili Marleen« (BRD 1980/81) von Rainer Werner Fassbinder dem Lied zu einem neuen Popularitätsschub verholfen. Das international erfolgreiche 10-Millionen- Mark-Melodram war eine aufsehenerregende Zusammenarbeit des bekanntesten Vertreters des Neuen Deutschen Films und des konservativen Münchner Altpro- duzenten Luggi Waldleitner. Die Hauptdarstellerin Hanna Schygulla wurde als neue »Lili Marleen« gefeiert. Fassbinder stellt in dem Film die Frage nach der Gren- ze zwischen Mitmachen und Widerstand, zwischen Naivität und Schuld, in einer ästhetisch monumentalen Form, die Elemente alter Ufa-Filme aufgriff und ironisch übersteigerte. Ihm wurde sowohl zu große Nähe zur NS-Asthetik vorgeworfen als auch eine überzogene Darstellung mit dem Ziel die Kriegsgeneration und ihr Lied zu verunglimpfen. Obwohl oder gerade weil der Film so umstritten war, rückte er das Lied in das Blickfeld einer neuen Generation184. Die Aufnahme in das Liederbuch der Bundeswehr 1991 erfolgte vermutlich in dem Bestreben, die Liedsammlung zu modernisieren und mehr dem Geschmack der Rekruten anzupassen. Nicht nur bei internationalen militärischen Treffen wur- de und wird »Lili Marleen« gerne gespielt185, auch auf Truppen- und Garnisonebene war der Lili-Marleeri-Mythos zu dieser Zeit bereits wieder aufgegriffen worden. Hatte das Lied im Zweiten Weltkrieg eine Brückenfunktion zwischen Heimat und Front, so bot es sich nun als Symbol für die Verbindung zwischen Soldaten und zi- viler Bevölkerung an - ein Verhältnis, das nach den Erfahrungen des Zweiten Welt- kriegs in der Bundesrepublik problematischer war als in anderen Ländern. 1987 wurde im norddeutschen Munster, dem heute größten Bundeswehrstandort, eine Lili-Marleen-Plastik eingeweiht, die schnell zu einem Wahrzeichen der Stadt wur- de. Im »Spendenaufruf an die Bürger und Soldaten in Munster« hieß es aus- drücklich: »Die Gruppe soll auch das in unserer Garnisonstadt immer wieder be- stätigte harmonische Miteinander der Bürger und Soldaten ausdrücken und allen Besuchern Munsters deutlich werden lassen186.« Ein Oberstleutnant dichtete im Begleitschreiben zu einer Spende: »Liebe Lili Marlen! / Schick' ihn nicht weg, Dei- nen Rekruten! / Sei ein Symbol für Zusammenhalt im Guten, / auf daß ein fried-

182 Unter der Laterne. Das Lied, das um die Welt ging, in: Quick, Juni 1959, S. 6 f. iss Vgl Liederbuch der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte, Bonn 1991, S. 74 f. 184 Vgl. Herbert Spaich, Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk, Weinheim 1992, S. 95-98, 321-327; Margaret Hinxman, Waiting for Hanna... And the Stunning Rebirth of that Lili Marlene Legend, in: Daily Mai], 18.11.1981; Ray Connolly (Text), Helmut Newton (Fotos), Hanna. A Modern Day Lili of the Lamplight, in: Sunday Express Supplement, 10.1.1982. 185 Vgl. z.B. »Lili Marleen« beim Azaleenfest in Norfolk, in: Die Welt, 5.5.1970; Klaus Resch- ke, Lilli Marleen im Land der Seen, in: Das Magazin der Landeszeitung Lüneburg, 12./13.5.2001; Zum Schluß erklang in drei Sprachen »Lilli Marleen«. Hildesheimer Gre- nadiere im multinationalen Einsatz in der Champagne, Frankreich, in: Hildesheimer All- gemeine Zeitung, 20.6.2001. 186 Das grüne Blatt, 11.3.1987. Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 397

licher Geist bei uns wehe / und keine Trennung Zivil von Militär entstehe187.« Fand die Idee eines Lili-Marleen-Denkmals auch breite Zustimmung, so war die Um- setzung doch umstritten. Der 1986 ausgeschriebene Wettbewerb, zu dem drei Künst- ler eingeladen worden waren, endete ohne Ergebnis. Der Bildhauer Bernd Maro aus Wedemark legte zwei sehr individuelle, künstlerisch anspruchsvolle Entwür- fe vor: Der erste knüpfte an den Todesahnungen der letzten Liedstrophen an und zeigte einen stilisierten Kasernentorflügel mit einer vergeblich wartenden Frau auf der einen Seite und einer apokalyptischen Szene sich »aus der Erde Grund« win- dender Leiber auf der anderen. Im zweiten Entwurf - »Rocklady« - erscheint »Lili Marleen« als selbstbewußte moderne Frau mit Punkfrisur und Mikrophon, die Sol- datenfigur als gedemütigter, Versehrter Kriegsheimkehrer. Diese kritische Zuspit- zung des Lili-Marleen-Mythos war jedoch nicht konsensfähig. Schließlich erhielt ein anderer Künstler, der Bremer Claus Homfeld, den Auftrag, eine zeitlose Figuren- gruppe zu schaffen, bestehend aus Frau, Soldat und Laterne. Zur Einweihung wur- de Hanna Schygulla eingeladen, sie lehnte jedoch mit der Begründung ab, daß sie nicht auf die Rolle der Lili-Marleen-Sängerin festgelegt werden wolle188. Ein anderes Beispiel für den Einsatz des Liedes als Brücke zwischen Soldaten und Zivilisten findet sich 1991 beim Gelöbnis von Wehrpflichtigen der zweiten Kompanie des Panzergrenadierbataillons 313 in Varel/Oldenburg. Die anwesen- den Verwandten und Bekannten der Soldaten waren positiv überrascht, daß die Rekruten »Lili Marleen« sangen, als sie auf den Gelöbnisplatz marschierten, und nicht ein herkömmliches Marschlied. Die Auswahl war nicht zufällig; »Lili Marleen« war damals bereits das Kompanielied dieser Einheit189. Auch international findet sich ein solcher Eingang des Liedes in das militärische Traditionsgut. So übernahm zum Beispiel das Princess Patricia's Canadian Light Infantry Regiment 1970 »Lili Marlene« als langsamen Regimentsmarsch190. Von Fremdenlegionären, die im Indochina-Krieg »Lili Marleen« gesungen ha- ben sollen191, bis zum US-Soldatensender AFN in Vietnam, der Al Martinos Lili- Marleen-Platte spielte192, begleitete das Lied auch Soldaten in Kriegen nach 1945. Mit den ersten Auslandseinsätzen begann in der Bundeswehr eine Verwendung des Liedes, die an die Nutzung durch den deutschen Soldatensender Belgrad vor über 50 Jahren erinnert. 1993 erklang für Burideswehrsoldaten in Somalia als Zap-

187 Wunderlich, Oberstleutnant und Vorsitzender der Truppenkameradschaft Deutscher Bundeswehrverband an der Kampftruppenschule 2, Munster, Dez. 1987, Stadt Munster, Az.: 40/41-6310 Lili-Marleen-Gruppe und Prinz-Albrecht-Straße, Bd 2. iss Vgl peterS/ Liii Marleen (wie Anm. 1), S. 50 f. (hier auch Abb. der ausgeführten Figu- rengruppe und des apokalyptischen Entwurfs von Maro). Für mündliche Auskünfte danke ich Dietrich Breuer, damals Schulamtsleiter der Stadt Munster. Die beiden weite- ren Künstler, die zum Wettbewerb eingeladen wurden, waren Fritz Thomas-Gottesberg, Flensburg, der eine Teilnahme ablehnte, und Josef Baron, Unna-Hemmerde, dessen et- was altmodisch anmutende Abschiedsszene sich nicht durchsetzten konnte. Erläute- rungen der Künstler zu ihren Entwürfen, in: Stadt Munster, Az.: 40/41-6310 Lili-Mar- leen-Gruppe und Prinz-Albrecht-Straße, Bd 1. 189 Diesen Hinweis verdanke ich Major Frank Hagemann, Dresden. 190 Vgl. Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14); Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 52. Im Museum für Hamburgische Geschichte, Hans-Leip-Archiv, findet sich in Kopie eine Anfrage des Regiments an die GEMA vom 19.11.1969 wegen des Copyrights. Auch das britische Special Air Service Regiment wählte »Lillie Marlene« als »Regimental Slow March«. Vgl. By Authority, The Army List 2000, Part I, Norwich, S. 226. 191 Vgl. ...wie einst Lilli Marleen, in: Neue Zeit, 21.2.1948. 192 Vgl. Wenn sich die späten Nebel drehn (wie Anm. 14). 398 MGZ 63 (2004) Katja Prette fenstreich über Lagerlautsprecher allabendlich um 22 Uhr »Lili Marleen«. Auf der Suche nach einem Signal für das Ende des Einsatztages, das soldatischer Traditi- on entspreche und vertraut klinge, erschien das Lied besonders geeignet193. Seit dem Einsatz von Bundeswehrsoldaten auf dem Balkan 1995/96, sendet der deut- sche Soldatensender Radio Andernach jeden Abend um 21.56 Uhr »Lili Marleen«, gesungen von Lale Andersen: »Das ist ein Lied, das einfach in die Situation reinpaßt. Das hat mit Heimweh zu tun, das hat mit den Problemen zu tun, seine Frau, seine Geliebte nicht da zu haben. Das war der Wunsch von Soldaten in Benkovac, die dort einfach ei- ne Tradition eines Soldatensenders aufleben lassen wollten, eben des Belgra- der Soldatensenders, der auch immer mit >Lili Marleen< Schluß gemacht hat im Zweiten Weltkrieg194.« Offiziell ist »Lili Marleen« für Radio Andernach »das internationale Soldatenlied schlechthin«, ein »Symbol für Völkerverständigung und Frieden«195. Den alltägli- chen Gebrauch auf Truppenebene belegt zum Beispiel eine Taschenkarte mit Lied- texten196 - ein Medium, das sehr viel aussagekräftiger ist als das Liederbuch der Bundeswehr, wenn es um die Frage geht, welche der vorgesehenen Lieder tatsäch- lich gesungen werden. Deutsche Heeresflieger in Rajlovac bei Sarajevo tauften so- gar ihre Transporthubschrauber CH 53 G »Lili« und die kleineren Bell UH-1 D »Marleen«. 1997 zeichnete ein Hauptfeldwebel als Maskottchen dazu eine vollbu- sige, blonde »Lili« und eine brünette »Marleen«, die auf Stickern, T-Shirts und als Comic Verbreitung fanden197. Über die emotional bewegende Atmosphäre, die das Lied noch heute unter Soldaten schafft, berichtet ein Hauptgefreiter198: 1996/97 war auf der lautstarken Feier des Einsatzendes eines Kontingents »Lili Marleen« gespielt worden. »Es trat nach den ersten Takten Stille ein. Nach und nach erhoben sich alle Sol- daten von ihren Sitzplätzen und fielen im Chor in das Lied ein. Dabei traten so manchem altgedienten Feldwebel oder Offizier die Tränen in die Augen. Die- se Geschichte ist keine Anekdote, sondern hat sich so zugetragen.« Kaum ein Journalist, der über Radio Andernach und das Leben von Bundes- wehrsoldaten auf dem Balkan berichtet, läßt den Verweis auf dieses Wiederaufle-

193 Diesen Hinweis verdanke ich Oberstleutnant Harald Beiz, Mayen. 194 Thomas Barsch, Radio in Uniform. Der deutsche Soldatensender in Kroatien, MDR1996, 24.26 Min. Das Zitat stammt aus einem Interview mit einem Hauptmann, der damals bei Radio Andernach arbeitete. Vgl. auch Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 115-118; Oliver Zöllner, Sendestation im Einsatzgebiet. Radio Andernach - ein Sender der Bun- deswehr, in: Rundfunk und Geschichte, 21 (Januar/April 2001), Nr. 1/2, S. 66 f. 195 E-Mail des AStO-Redakteurs Hauptgefreiter Markus Edlinger an Peter Gmachl, 4.6.2001 ; E-Mail des Presseoffiziers Major Hans Jürgen Mertins, Zentrum Operative Information Mayen, an die Verfasserin, 2.4.2003. 196 Taschenkarte. Lieder der gemHFlgStff SFOR - 3. EinsKtgt, created by butchy 8.2001. Die- sen Hinweis verdanke ich Oberstleutnant H.W. Ringelmann, Dezernatsleiter Militär- musik, Streitkräfteamt Bonn. 197 Vgl. Peters, Lili Marleen (wie Anm. 1), S. 52; mHFlgTrspStff GECONSFOR (L). 10.7.1999-19.11.1999, Rajlovac 1999 [Erinnerungsbuch für Angehörige des Kontingents], passim. Daß Kampfmittel Frauennamen erhalten und mit mehr oder weniger erotischen Frauenbildern geschmückt werden, ist ein verbreitetes Phänomen. Im Zweiten Weltkrieg wurden z.B. zwei amerikanische B-24-Bomber »Lili Marlene« getauft. Vgl. Gmachl, »Lili Marleen« (wie Anm. 4), S. 75,108-110. 198 E-Mail Edlinger (wie Anm. 195). Mythos »Lili Marleen« - Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege 399

ben des Lili-Marleen-Mythos aus199: »Es gab politische Bedenken gegen Lili Mar- leen. Doch da blieb die Truppe eisern - und auch verbündete KFor-Soldaten sum- men abends manchmal mit.« Einige Autoren sehen in dieser Form der Traditions- pflege ein Indiz für eine deutsche Politik, die sich von der bisherigen außenpoliti- schen Bescheidenheit der Bundesrepublik verabschiedet hat200. Ein Skandal blieb aber aus. Denn zum Lili-Marleen-Mythos gehört eben nicht nur der Soldatensender Belgrad, sondern auch die völkerverbindende Wirkung, die ambivalente Stim- mung der letzten beiden Strophen und die Schwierigkeiten Lale Andersens im NS- Staat. Typisch ist der taz-Artikel »Radio in Feldgrün« von Jan Rosenkranz, der mit den Sätzen endet: »Dann erklingt >Lili Marleen< [...] - militärischer Kult seit der Soldatensender Belgrad den Song jeden Abend als Schlussmusik spielte. Das war 1941201.« Mit der Erwähnung des Liedes wird eine direkte didaktisch-moralische Stellungnahme vermieden und die Beurteilung der Situation dem einzelnen Leser anheim stellt. Die veränderte Rolle der Bundeswehr läßt sich heute durch Anspielungen auf »Lili Marleen« genauso gut kommunizieren wie die Schwierigkeiten ihrer An- fangsjahre. Eine Karikatur von 1995 nimmt beispielsweise darauf Bezug, daß sich nicht nur die internationale Rolle der Bundeswehr ändert, sondern auch Ge- schlechterverhältnisse in Frage gestellt werden202: Nun wartet »Willy Marleen« vor der Kaserne. Eine andere Karikatur zu Sparbeschlüssen der Regierung vom Fe- bruar 2001203 zeigt zwischen den verschiedensten Waffen »Lili Marleen« unter ih- rer Laterne als ein Highlight im »Bundeswehr-Erlebnis-Park«. Wenn dies auch nicht die zentrale Aussage der Zeichnung ist, verweist sie doch deutlich darauf, daß der Lili-Marleen-Mythos inzwischen ein Aktivposten der Bundeswehr ge- worden ist.

Schlußbetrachtung

Als der deutsche Soldatensender Belgrad 1941 begann, »Lili Marleen« allabend- lich auszustrahlen, wurde aus einem fast unbekannten Lied ein Kristallisations- punkt für Gefühle wie Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit, Fatalismus und Angst. Das Lied und insbesondere das zeitgleiche Hören des Liedes, um das sich schnell sa- kral anmutende Rituale ausbildeten, sanktionierte, ja glorifizierte diese Emotio- nen. In einer Situation, in der alles, was den Soldaten im zivilen Leben wert und teuer gewesen war, weit entrückt schien, bedeutete das rituelle Hören von »Lili Marleen« ein Stück Selbstbehauptung. Die zufällige Entstehungsgeschichte, die Entdeckung des Liedes durch einfache Soldaten, die partielle Mißbilligung des NS- Regimes und der Fronten übergreifende, internationale Erfolg erweiterten das Phä-

199 Das ergaben Recherchen in den Online-Archiven der Gruner+Jahr PresseDatenBank; SPIEGELonline und taz-Archiv. Das folgende Zitat stammt aus Christian Schmidt-Häu- er, Tatort Prizren, in: Die Zeit, 12.8.1999. 200 Vgl. z.B. Matthias Küntzel, Der Weg in den Krieg. Deutschland, die NATO und das Ko- sovo, Berlin 2000, S. 90 f. 201 Jan Rosenkranz, Radio in Feldgrün, in: die tageszeitung (taz), 11.3.2000· 202 Zel (Joachim Stenzel), Willy Marleen, in: Berliner Morgenpost, 8.9.1995. 203 Burkhard Mohr, Bundeswehr-Erlebnis-Park, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2001. 400 MGZ 63 (2004) Katja Protte nomen - ungeachtet aller Einschränkungen, die sich bei genauerer Betrachtung er- geben - zu einem tragfähigen Mythos. Nicht nur wegen des hohen Bekanntheitsgrades eignet sich »Lili Marleen« bis heute als ein Bezugssystem, mit dessen Hilfe die eigene Haltung zur NS-Zeit, zum Zweiten Weltkrieg, zu Krieg und Geschlechterverhältnissen überhaupt kommu- niziert werden kann. Die anrührende Melodie und die Ambivalenz des Liedtextes schwingen mit, wenn auf den Lili-Marleen-Mythos Bezug genommen wird. Jenseits rational nachvollziehbarer Argumente wird durch die Erwähnung des Liedes ein Assoziationsraum geöffnet, der gemischte Gefühle zuläßt.

Abstract

»Lili Marleen« is not only among the best-known German songs worldwide; it is perhaps also the only one of them that enjoys lasting popularity both in the fields of military music and of entertainment. Its lyrics were written by Hans Leip in 1915 and set to music by Norbert Schultze in 1938. Sung by Lale Andersen, it was first recorded in 1939. When the German forces' radio station in began broad- casting »Lili Marleen« every evening in 1941, the song went within a few weeks from almost complete obscurity to being a symbol that seemed to crystallise the under- lying contemporary mood of yearning, loneliness and nearness to death. The un- usual story of its making, its »discovery« by common soldiers, the partial disap- proval of it by the Nazi regime and its success among those fighting on both sides contributed to the development of the phenomenon, notwithstanding the reser- vations which become evident upon closer scrutiny, into a viable myth. Variations on the theme and references to it show that, to this day, »Lili Marleen« forms a system of references which people make use of in communicating their attitudes towards the National Socialist period and the Second World War, as well as war and the relationship between the sexes in general.