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EDITED VOLUME SERIES

Erika Thurner, Elisabeth Hussl, Beate Eder-Jordan (Hg.) Roma und Travellers. Identitäten im Wandel

Mit einem Vorwort von Karl-Markus Gauß

innsbruck university press EDITED VOLUME SERIES

innsbruck university press

Erika Thurner, Elisabeth Hussl, Beate Eder-Jordan (Hg.) Roma und Travellers. Identitäten im Wandel

Mit einem Vorwort von Karl-Markus Gauß Erika Thurner Institut für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck

Beate Eder-Jordan Institut für Sprachen und Literaturen, Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Innsbruck

Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Innsbruck sowie des Magistrats der Stadt Innsbruck, Abt. für Familie, Bildung und Gesellschaft gedruckt.

© innsbruck university press, 2015 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. Umschlag: Ivan Leuzzi Die Verwendung des Coverbildes, das Ceija Stojka mit rotem Megaphon bei einer Demonstration gegen die Abschiebung rumänischer und bulgarischer Roma/Romnja aus Frankreich zeigt (Wien, Haus der EU, 4.9.2010), erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Andrea Härle. Bildbearbeitung: Ivan Leuzzi www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-902936-95-0 Inhaltsverzeichnis

Karl-Markus Gauß Vorwort ...... 9

Erika Thurner / Elisabeth Hussl / Beate Eder-Jordan Einleitung ...... 17

Erika Thurner Roma in Europa, Roma in Österreich ...... 21

Beate Eder-Jordan „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen ...... 51

Rudolf Sarközi Rom sein in Österreich ...... 97

Peter Hilpold Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma ...... 105

Cécile Kovácsházy Manusch, , Roma: „Tsiganes“ in Frankreich ...... 125

Christiane Fennesz-Juhasz / Mozes F. Heinschink Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte ...... 135

Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs Roma und Romani in Österreich ...... 159

5 Inhaltsverzeichnis

Ursula Hemetek Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung ...... 173

Helena Sadílková Romani teaching in the Czech Republic ...... 191

Peter Stöger Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, und Jenische ...... 205

Gerald Kurdoğlu Nitsche Wir sind Fahrende ...... 221

Heidi Schleich Das Jenische ...... 247

Sieglinde Schauer-Glatz Fragmente meines Lebens ...... 259

Alois Lucke „Die Verbrechen an mir, meiner Familie und meiner Volksgruppe“ ...... 263

Elisabeth M. Grosinger-Spiss Jenische in Tirol ...... 267

Roman Spiss Das Bezirksmuseum auf Schloss Landeck ...... 281

Marlene Roner-Trojer Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir? ...... 289

6 Inhaltsverzeichnis

Ricarda Kössl ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie ...... 307

Milena Hübschmannová † Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma ...... 325

Literaturhinweise ...... 367

AutorInnen und Herausgeberinnen ...... 379

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Karl-Markus Gauß

Vorwort

Im Sommer 2014 war ich einige Wochen in Bulgarien unterwegs, einem Land, reich an landschaftlicher Schönheit und mit herzergreifend armen Landstrichen, die aussahen, als wären sie von ihren Bewohnern verlassen worden. Fast kam mir vor, die einzigen, die ihren Weilern, Dörfern, kleinen Städten die Treue gehalten und geblieben waren, wären die Roma gewesen. Ich habe es in Bulgarien mit linken Künstlern und rechten Intellektuel- len, mit nationalen, liberalen, sozialistischen Leuten zu tun bekommen und den Eindruck gewonnen, das Einzige, was sie alle eint, das ist die gemeinsame Verachtung der Roma, nein, der Hass gegen sie. Was die Roma auch tun, ob sie betteln oder die Straßen fegen, als Tagelöhner auf dem verödeten Land ihr karges Auskommen finden oder in den Städten zu einigem Wohlstand gekommen sind: man wirft es ihnen immer vor, ihre Armut und ihren Wohlstand, ihre Randständigkeit und ihren Erfolg. Sind sie arm, gelten sie für faul, schuften sie bei der Müllabfuhr, dann haben sie diesen Posten nur dank der unablässigen Bemühung der Kommunen ergaunert, sie vom Stehlen ab- und zur Arbeit anzuhalten; sind gerade keine von ihnen in der Innenstadt zu sehen, sitzen sie sicher irgendwo in ihren dreckigen Siedlungen und hecken Böses aus, geht einer von ihnen gut gekleidet mit einer Aktentasche vorbei, dann handelt es sich natürlich um einen Ganoven, der seinen Status dem Verbrechen verdankt. Was für Bulgarien gilt, dass die meisten der Roma in schier unentrinnbarer Armut gefangen sind, aber auch jene, denen die Integration gelungen ist, unter dem Verdacht ste- hen, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne, das ist in den anderen Ländern, die einst dem Ostblock zugehörten, nicht viel besser. Zsolt Bayer, der Ideologe der ungarischen Regierungspartei Fidesz und deren historisches Parteimitglied mit der Nummer Fünf, hat die Roma vor einiger Zeit ungestraft als „Tiere“ bezeichnet, „unwür- dig mit Menschen zu leben“; je öfter Roma in Ungarn zum Opfer rassistischer Gewalt werden, um so häufiger sind sie es, die öffentlich der Gewalttätigkeit geziehen werden. In Rumänien hat der letzte, vom Westen als verlässlicher Partner wohl angesehene Staatsprä- sident Trajan Basescu verlangt, das Wort „Zigeuner“ wieder als offizielle Bezeichnung der

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Volksgruppe einzuführen, weil „Roma“ und „Română“ (Rumänisch) zu ähnlich klängen, weswegen die anständigen Rumänen Gefahr liefen, außerhalb ihres Landes mit den dre- ckigen Roma identifiziert zu werden. Der tschechische Abgeordnete Jiri Sulc wiederum hat im Parlament in Prag gefordert, die Roma nach Haiti zu deportieren, und zwar, wie er höhnisch anfügte, als europäische Wiederaufbauhilfe für das durch das Erdbeben verwüs- tete Land: „Hilfe für Haiti – wir schicken 200.000 neue Haitianer.“ Wer sich darüber wundert oder gar ärgert, dass in den letzten Jahren so viele Roma aus dem Osten aufgebrochen sind und in unseren schmucken Städten durch ihren schieren Anblick den Wohlstandsfrieden stören, der hat keine Ahnung, was in dem Teil Europas geschieht, aus dem sie sich auf den Weg gemacht haben. Was aber erwartet sie im anderen Teil, im Westen? Von Skandinavien bis Griechenland suchen die nationalen Regierungen nach Möglichkeiten, wie sich den Roma als einzigen Europäern das Recht, innerhalb der Europäischen Union ihre Freizügigkeit durchzusetzen, absprechen ließe. Dass sich an die- ser Politik auch Länder wie Dänemark oder Schweden beteiligen, deren demokratische Traditionen für gefestigt gelten können, ist mehr als nur bedauerlich; vielmehr zeitigt es Folgen für die Roma in ganz Europa, auch für jene, die sich gar nicht auf den Weg ge- macht haben und in ihren Ländern gut integriert leben. Wer den Roma nämlich, und nur ihnen, durch nationale Zusatzregelungen kollektiv Rechte verweigert, die zu den Rechten aller Bürger der europäischen Union gehören, der mag in politischen Sonntagspredigten noch so fromm vor dem Rassismus warnen, er ist doch dabei, über die größte europäische Minderheit im Reichsgebiet der Union die Apartheid zu verhängen. Es ist der Pesthauch von „Sondergesetzen“, der aus diesen Bemühungen weht, Sondergesetzen, die nur für eine einzige Volksgruppe gelten und über die in der Geschichte immer schon mittels Ent- rechtung der Weg zur Verfolgung frei gemacht wurde. Empörend und demoralisierend zugleich ist es, dass ausgerechnet Frankreich, das Land, in dem die Menschenrechte erklärt wurden und das sich in seiner Geschichte immer wie- der ruhmreich als Hort der Flüchtenden, Verfolgten erwiesen hat, im Falle der Roma seine eigene Tradition so rüde gekappt hat. Was unter der Regierung jenes Präsidenten, dessen Vorfahren aus Ungarn stammen und der auf den schönen Roma-Namen Sarkozy hört, begonnen hat, das ist unter dem Sozialisten Hollande und vor allem von dessen einstigem Innenminister und späteren Premierminister Valls fortgeführt, ja vielfach sogar verschärft worden. Im Jahr 2014 sind nicht weniger als 138 Roma-Siedlungen geräumt und geschleift und mehrere Zehntausend ihrer Bewohner entweder außer Landes verfrachtet oder inner- halb des Landes in die Flucht geschlagen worden. Dass ausgerechnet Frankreich so rabiat

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gegen europäische Gesetze und gegen die eigenen libertären Traditionen verstößt, ist für das Land der Menschenrechte eine Schande; für Europa aber ist es ein Menetekel, denn wenn derlei in Frankreich geschehen kann, das Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu sei- nen ureigenen nationalen Mythen zählt, dann werden sich erst recht in anderen Ländern jene Politiker zu Zwangsmaßnahmen ermutigt fühlen, die sich ihren Wählern ohnedies als populistische Radaubrüder zu empfehlen pflegen. Kann man also, wenn über die Situation der Roma gesprochen wird, nur von Elend und Verfolgung und von sonst gar nichts berichten? Keineswegs. Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen, dass sich noch niemals in der Geschichte so viele Menschen so sehr für die Roma interessiert haben wie jetzt. Und wer etwas über die Roma erfahren, schlichtweg mehr von ihnen und ihrer Geschichte wissen will, der hat heute wahrlich genügend Mög- lichkeiten, sich kundig zu machen. Überall haben sich gesellschaftliche Gruppen, Vereine, Organisationen gebildet, die die Roma unterstützen, über ihre prekäre Lage von heute unterrichten, aber auch über Geschichte und Kultur der Roma informieren. Überall sind auch Romavereine entstanden, in denen die Roma ihre Sache in die eigenen Hände neh- men, Aufklärung und Hilfe bieten und im Übrigen selbstbewusst nicht nur das Elend an- prangern, sondern auch von interessanten Initiativen, gelungenen Projekten, von vielerlei Erfolgen berichten. Es ist zwar bedauerlich, dass es an den europäischen Universitäten noch kaum Lehr- stühle für Roma-Studien gibt, aber das heißt nicht, dass die Roma von der Wissenschaft ignoriert würden. Im Gegenteil, in den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Beschäf- tigung mit so vielen Aspekten der Geschichte, Kultur, Sprache der Roma ein Niveau erreicht, das vor zwei, drei Jahrzehnten noch kaum vorstellbar war. An diesem realen Fortschritt sind Forscher und Forscherinnen aus vielen Disziplinen beteiligt, aus der Ge- schichtswissenschaft und der Politologie, der Ethnologie und Soziologie, der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, der Landschafts- und Stadtgeographie, der Architektur und Linguistik, von den verschiedenen juristischen und ökonomischen Zugängen zum Thema gar nicht zu sprechen; und in dieser vielgestaltigen Gemeinschaft von Forsche- rinnen und Forschern sind es wiederum Angehörige der Roma selbst, von denen viele Impulse ausgegangen sind und wichtige Arbeiten vorgelegt wurden. Das hat zu einem paradoxen Sachverhalt geführt: Einerseits wissen wir so viel von den Roma wie noch nie vorher; andererseits geht es dieser Volksgruppe in Europa gerade jetzt so schlecht wie seit den Jahren der großen Verfolgung durch Faschismus und Nati- onalsozialismus nicht mehr. Auch da muss man freilich differenzieren, denn in einzelnen

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Ländern, zu denen übrigens Österreich zählt, hat sich die Situation der Roma in den letz- ten Jahren zum Besseren verändert, was den rechtlichen Status, die schulische, berufliche, universitäre Bildung und Ausbildung, aber auch was die gesellschaftliche Anerkennung anbelangt. Gleichwohl ist mit Blick auf ganz Europa zu sagen, dass Millionen Roma in äußerst schwierigen Verhältnisse leben – und dass wir doch im selben historischen Zeit- punkt dank der Arbeiten von Wissenschaftlern, Künstlerinnen, Menschenrechtsaktivisten und nicht zuletzt dank der Selbstorganisation der Roma heute viel mehr von deren Kultur wissen als früher, dass wir diese Kultur besser in ihren Eigenheiten und in ihren Zusam- menhängen mit der Kultur der Nicht-Roma verstehen, ihren Reichtum erkennen, über ihre Vielfalt staunen können. Die Roma sind also immer noch eine vielerorts gering geschätzte, aber sie sind kei- ne unbekannte Volksgruppe mehr, über die außer ein paar Spezialisten niemand etwas wüsste. Erfreulicherweise neigen fast alle Forscherinnen und Forscher, die auf ihre Weise „Romani-Studies“ betreiben, nicht dazu, sich mit Anerkennung und Diskussion im aka- demischen Zirkel zufrieden zu geben; den akademischen Elfenbeinturm hat es, was die Roma-Studien betrifft, nie gegeben, denn wer immer über Roma forscht, tut es auch, um auf seine Weise das fatale und gefährliche Bild, das sich die Öffentlichkeit von den Roma so lange gemacht hat, zu korrigieren, und Wissen zu verbreiten, das in die Gesellschaft hinauswirkt. Dennoch werden findige Leute, Roma und Gadsche, noch viele kluge und wilde Ideen entwickeln, pragmatische und kühne Ansprüche erheben müssen, um den Roma zu jener Anerkennung zu verhelfen, die ihnen gebührt und die einer demokratischen Union der Europäer entspricht. Es kann keine Union geben, die sich als rechtsstaatliche, soziale, de- mokratische Vereinigung europäischer Staaten rühmt, in der die Rechte der Roma in ein- zelnen Mitgliedstaaten permanent verletzt und diese als Volksgruppe in Armut gedrückt, an die Ränder der Städte abgedrängt und gesellschaftlicher Ächtung preisgegeben werden. Von vielen möglichen und notwendigen Initiativen möchte ich auf zwei hinweisen, die mir besonders wichtig erscheinen, und von denen sich viele, mit denen ich über sie gesprochen habe, persönlich stark angesprochen fühlten. Die eine Initiative geht auf den Bereich Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck und namentlich auf Beate Eder-Jordan zurück, die sich seit vielen Jahren nicht nur mit der Literatur der Roma beschäftigt, sondern auch nach Wegen sucht, diese in ihrer Vielfalt einer größeren Leserschaft bekannt zu machen. Die Literatur der Roma wird in verschiedenen Sprachen verfasst, weit verstreut publiziert und ist insgesamt

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bis heute nahezu völlig unbekannt geblieben. Unter Roma-Literatur sind nicht nur die oft so erschütternden Lebenszeugnisse zu verstehen, mit denen einzelne Roma an die Öffent- lichkeit getreten sind, in der doppelten Absicht, ein literarisches Dokument ihres Lebens zwischen Verfolgung und Widerstand zu geben und die Leser und Leserinnen, die von der Geschichte der Roma oft nicht viel wussten, moralisch aufzurütteln. Zur Roma-Literatur gehören ebenso die alten Märchen und Legenden, die gesammelt wurden, wie die heutigen Versuche, das Schicksal der Volksgruppe ins literarische Bild zu heben. Zeitgenössische Roma-Literatur muss keineswegs nur Roma-spezifische Themen abhandeln, denn auch nicht jeder neue deutsche Roman verhandelt nichts als neue deutsche Geschichte und kein englischer Autor würde es sich gefallen lassen, immer nur auf Themen verpflichtet zu wer- den, die mit seinen Land und seiner eigenen unmittelbaren Lebenssituation in diesem zu tun haben. Zur Roma-Literatur zählen außerdem nicht nur Bücher, die in einer der Varian- ten von Romanes oder Romani verfasst wurden, sondern auch all die Bücher von Roma- Autoren, die auf Ungarisch oder Serbisch, auf Französisch oder Bulgarisch schreiben. Beate Eder-Jordan hat mich und andere mit dem Gedanken infiziert, dass die so ver- standene Roma-Literatur endlich einmal den Schwerpunkt einer großen Buchmesse, etwa der von Leipzig, bilden sollte. Zu berücksichtigen wären in diesem Rahmen auch die Literaturen der Jenischen, die auf Deutsch und Jenisch, und die der Travellers, die auf Englisch schreiben. Damit verbinden sich etliche Absichten und Hoffnungen: Zum einen, dass die Roma-Literatur, die in vielen Ländern und mehreren Sprachen entsteht, im großen Überblick gesammelt und an einem renommierten, beachteten Ort der Literatur, beispielsweise der Leipziger Buchmesse, versammelt wird. Dazu ist es nötig, dass diese Literatur, die oft in Nischenverlagen, kleinen Unternehmungen erscheint und leider auch verborgen bleibt, systematisch erkundet, gesichtet und in großer Zahl ins Deutsche über- setzt wird. Es wäre durchaus erwünscht, wenn auch Buchmessen in anderen Ländern – ob in Belgrad oder Pula, Warschau, Bologna, Göteborg – einmal die Roma-Literatur ins Zen- trum ihres Programms rückten. Mögen die Buchmessen verschiedener Länder darin wett- eifern, Roma-Literatur in ihre Sprachen zu übersetzen. Wir alle, auch die wenigen, die seit Jahren ein Auge auf die europäische Literatur der Roma geworfen haben, werden selbst überrascht sein von der Fülle an Roma-Literatur, mit der wir es zu tun bekommen werden. Und der Buchmesse von Leipzig, die sich in ihren Gründungsartikeln zur europäischen Völkerverständigung bekennt, würde es ohnedies zur Ehre gereichen, einer Volksgruppe beizustehen, die sich in großer Bedrängnis befindet, und ihr dazu zu verhelfen, sich end- lich auch literarisch Gehör zu verschaffen.

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Für die zweite Initiative, die anzugehen überfällig ist, hat der für die Anliegen von Min- derheiten so engagierte, inzwischen pensionierte Grazer Kulturpolitiker Helmut Strobl und ein um ihn gruppierter Freundeskreis schon vor Jahren viele interessante Konzepte entworfen und wieder verworfen. Dass damals aus der Idee trotz vieler Debatten, Briefe und Gespräche, an denen ich mich aus der Ferne beteiligte, nichts wurde, hatte mit allerlei Unwägbarkeiten zu tun: mit rechtlichen Fragen des Projekts, über die innerhalb dieses Freundeskreises keine Klarheit erlangt wurde, aber ebenso mit der gesundheitlichen Ver- fassung, der beruflichen Belastung verschiedener Protagonisten. Die Idee aber ist es den- noch wert, dass sie nicht aus den Augen verloren, sondern aufgegriffen, weitergesponnen, einer breiten Diskussion gestellt werde. Es gilt dafür ein- und aufzutreten, dass die Euro- päische Union, wenn es wieder darum geht, eine Kulturhauptstadt zu wählen, Originalität und Mut beweisen möge und sich auch bereit erweise, für ein Mal von ihren selbst gestell- ten Regeln abzuweichen: Warum nämlich könnte zur europäischen Kulturhauptstadt nicht erstmals keine bestimmte, sondern gewissermaßen eine wandernde Stadt gekürt werden, die Stadt der Roma? Was ist damit gemeint? Jedenfalls eine Sache mit vielen Facetten, die länderübergreifend angelegt sein muss und nicht eine Stadt alleine ins Zentrum rückt, mag die nun für ihre verkannte Schönheit oder ihre aufstrebende Urbanität ausgewählt und ausgezeichnet werden. Es gibt zahllose Städte, berühmte und überregional kaum bekannte, die man zwar nicht einfach als Roma-Städte bezeichnen kann, in denen aber, von Spanien bis Bulgarien, ganze Stadtviertel fast nur von Roma bewohnt werden. In den allermeisten dieser Städte sind die Reviere der Roma entweder ungeplant durch raschen Zuzug der aus ihren einstigen Berufen und sozialen Sicherheiten gerissenen Roma entstanden; in anderen sind solche Viertel strategisch von der Stadtverwaltung ausgewählt worden, damit jene Stadtteile, die vorher über Generationen von Roma bewohnt wurden, großflächig abgerissen und einer profitablen städtischen Neuordnung zugeführt werden konnten. Solches war in der Kul- turhauptstadt von 2013, Košice, der Fall, aus dessen prächtig restaurierter Altstadt zuerst Abertausende dort lebender Roma von militärischen Einheiten auf Lastwägen verfrach- tet und in eine weit außerhalb der Stadt hochgezogene Trabantensiedlung ausgesiedelt werden mussten, damit die von der Europäischen Union später ahnungslos gerühmte innerstädtische Restaurierung überhaupt begonnen werden konnte; Ähnliches geschieht gerade in , in dem nach dem historischen Roma-Viertel Sulukule, das um die Jahr- tausendwende ethnisch gesäubert wurde, neuerdings Tarlabasi, eines der ältesten Quartie- re der Roma, profitabel demoliert wird, damit hier ein Einkaufsviertel im Erdoganschen

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Monumentalstil entstehen möge. Und natürlich gibt es zudem, je weiter gegen Osten man in Europa kommt, Kleinstädte und Dörfer, in denen die Roma nicht am Rande größerer Gemeinden der Gadsche siedeln, sondern sie die Mehrheit stellen. Wenn ich von der Stadt der Roma spreche, die zur europäischen Kulturhauptstadt ge- wählt werden möge, gehe ich also von einer Spannweite urbaner Architektur und urbanen Lebens aus, wie sie größer kaum sein kann: Sie reicht von Großstädten mit Roma-Vierteln bis zu Kleinstädten, in denen sich spezifische Traditionen der Bau- und Lebenskultur der Roma erhalten haben; sie reicht von kommunal hochproblematischen Zonen am Rande von Millionenstädten bis hin zu dörflichen Slums, die sich auf den vergifteten Böden aufgelassener Industriekombinate gebildet haben; sie reicht von gelungenen Formen städ- tischer Integration mittels einer architektonisch innovativen und sozial verantwortlichen Stadtplanung bis zum Wildwuchs von oft binnen wenigen Monaten entstehenden Dritte- weltstädten inmitten und am Rande europäischer Metropolen. Das Projekt benötigt die Phantasie, Sachkenntnis, das leidenschaftliche Interesse von möglichst vielen Architekten, Stadtplanern, Soziologen und böte ihnen die Chance, mit- tels Studienaufenthalten und Recherche überhaupt erst einmal zu einer provisorischen Bestandsaufnahme dessen zu gelangen, was Wohnen und Hausen für Millionen Europäer bedeutet. Es böte sich die Gelegenheit, interdisziplinär zu neuen Konzepten urbaner Ent- wicklung zu gelangen und diese zu erproben. Ich weiß es aus Eigenem: Nicht einmal ein Slum gleicht dem anderen, und kein Slum ist nur ein Slum. Ich bin in Slums geraten, die ohne jedwede Infrastruktur auskommen, in denen die Bewohner ihre Notdurft bei einer Grube fünfzig Meter von ihren wackeligen Hütten entfernt verrichten und jedes Frühjahr wieder der nahe Bach mit seinem Hochwasser die Siedlung unter Wasser setzt und über Monate mit Schlamm und Morast überzieht. Und ich habe andere Slums gesehen, die immer noch Slums sind, in denen aber eine wie einfach auch immer ausgestattete Infra- struktur das Leben der dortigen Bewohner vergleichsweise – vergleichsweise! – angeneh- mer macht: Weil es eine Kanalisation gibt, die zwar nicht unseren Ansprüchen entspricht, aber den Ort doch von Fäkalien frei hält, weil die Häuser simpel, aber wetterfest gefertigt sind, sodass es auch bei Unwetter nicht durch das Dach hereinregnet, weil es ein kleines kommunales Zentrum gibt, in dem eine Waschmaschine steht, für deren Nutzung sich die Bewohner einen zeitlichen Plan erstellt haben, und weil in einem winzigen Behand- lungsraum einmal im Monat ein Arzt aus der Kreisstadt ordiniert... Auch dieser Ort ist ein soziales und ethnisches Ghetto, bleibt ein Slum, aber er bietet denen, die dort leben und leben müssen, doch wesentlich mehr, was die Befriedigung ihrer sozialen Grundbedürf-

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nisse betrifft und, ja, er bietet ihnen damit den sozialen Raum für ein besseres Leben. Wir alle können uns eine Welt vorstellen, in der kein Mensch mehr in einem Slum leben muss; aber bis es so weit ist, lassen sich mit relativ geringen Mitteln, mit Phantasie und sozialer Empathie von Architekten, Sozialarbeitern, Regionalentwicklern und anderen die Lebens- verhältnisse von Millionen europäischer Slumbewohner erheblich verbessern. Eine Voraussetzung allerdings ist zu beachten, ohne die alles schöne Planen zu gar nichts führen wird: Dass man nämlich nicht Gutes für die Roma tun kann, wenn man es nicht mit ihnen tut. Wer sich paternalistisch daran macht, ihnen, weil sie selbst nicht wis- sen, was für sie gut ist, den Fortschritt vor ihr Haus zu liefern und in ihren Ort zu setzen, der wird jämmerlich scheitern. Angeblich hat die Europäische Union in den letzten Jahren die wahrlich nicht geringe Summe von dreißig Milliarden Euro an die diversen Staaten aus- bezahlt, damit diese es zur Förderung ihrer jeweiligen Roma-Bevölkerung verwenden. In welchen trüben Abwässerkanälen der Korruption sie auch versickert sind, bei den Roma selbst ist davon jedenfalls nicht viel angekommen. Aber auch dort, wo man wohlmeinend das Eine oder Andere für sie tun wollte, war jedes noch so schön ausgedachte Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn es für die Roma gedacht, aber ohne sie geplant und verwirklicht wurde. Da gibt es am Rande des schönen Košice eine Großfeldsiedlung, die eigens für die aus den engen, verfallenden Häusern der Innenstadt vertriebenen Roma errichtet wurde; und die Slowaken wundern und ärgern sich heute noch, dass die Roma die Hochhäuser binnen kurzer Frist so achtlos haben verfallen lassen, dass das ganze Revier schon nach wenigen Jahren nachgerade als Mahnmal der vermeintlichen kulturellen Inferiorität der Roma galt. Die Roma, die bis dahin nur ebenerdig oder in Häusern von höchstens einem Stockwerk gewohnt hatten, haben sich schlichtweg als unfähig und unwillig erwiesen, ihre schmucken Wohnungen im neunten oder vierzehnten Stock in Besitz zu nehmen. Darü- ber wundert sich mancher Menschenfreund, schuldhaft in seiner Ahnungslosigkeit, immer noch. Das Experiment, die Roma aus verfallenden historischen Innenstädten oder aus wild entstandenen dörflichen Slums abzusiedeln und irgendwohin auf der grünen Wiese in gut ausgestattete Wohnsiedlungen zu verpflanzen, ist fast überall, wo es unternommen wurde, glorios gescheitert. Es kann, wem die Emanzipation der Roma ein Anliegen ist, sie nicht ihres Anrechts enteignen, über das, was man wohlmeinend für sie zu tun gedenkt, mitentscheiden zu lassen. Die Roma bedürfen unserer Hilfe; sie bedürfen nicht der Ent- mündigung.

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Einleitung

Die aktuelle Situation von Roma in Europa hat dazu geführt, dass dem Thema heute mehr mediale Öffentlichkeit zukommt. Die Anzahl von wissenschaftlichen Publikatio- nen erhöht sich von Jahr zu Jahr und auch kritische populärwissenschaftliche Werke sowie journalistische Stimmen mischen die Diskurse auf. Aber: Es fehlt nach wie vor ein breit gestreutes Informations- und Aufklärungsangebot für die Mehrheitsbevölkerung – in allen Bildungseinrichtungen. Romani Studies sind an fast allen in- und ausländischen Hochschulen bis heute noch immer kein Studienfach. Gibt es Lehrveranstaltungen zu Geschichte, Kultur, Literatur und Sprache dieser Minderheiten, so handelt es sich um individuelle personenbezogene Offerte. So war und ist es auch an der Universität Innsbruck. Doch hier haben wir – trotz einiger Hürden – damit begonnen, fächerübergreifend Seminare, Tagungen und Vorträge abzuhalten. Unter anderem die Ringvorlesung und Tagung „Romani and Traveller Studies“ im Wintersemester 2010/11. Ein Großteil der Tagungsbeiträ- ge findet sich in dieser Publikation.1 Sie bietet einen breiten Überblick über Lebens- verhältnisse und kulturelle Zeugnisse (Sprache, Musik, Literatur) von verschiedenen Roma-Communities in Österreich sowie darüber hinaus. Rechtliche und bildungspo- litische Fragestellungen im europäischen Kontext werden ebenso thematisiert wie ar- chitektonische Konzepte und gesellschaftspolitische Herausforderungen. Erstmals auf Deutsch abgedruckt wird in der vorliegenden Publikation der Aufsatz der tsche- chischen Romistin Milena Hübschmannová (1933–2005) „Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma“, der den Übergang der mündlichen Erzähltradition zu schriftlich fixierter Literatur slowakischer und tschechischer Roma thematisiert. Eine Reihe von Beiträgen setzt sich mit Geschichte, Sprache, Kultur und Literatur von Jenischen auseinander. Jenische gingen, wie viele Roma in der Vergangenheit, ambulanten Berufen nach und wurden als „Zigeuner“ verfolgt und diskriminiert. Die Bezeichnung

1 Die Mehrheit der Beiträge wurde in diesem Zeitraum verfasst und partiell aktualisiert.

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Travellers wird für Nicht-Roma-Gruppen verwendet, die eine „fahrende“ Vergangen- heit und/oder Gegenwart haben oder denen eine solche zugeschrieben wird. All diesen Gruppen ist gemein, dass ihre Angehörigen in überwiegender Mehrheit – entgegen weit verbreiteter Meinung in der Öffentlichkeit – sesshaft sind. Sie alle werden mit Vorurtei- len, diskriminierenden Zuschreibungen und Fremdbezeichnungen konfrontiert. Die Frage der Bezeichnungen ist problematisch. Barbara Tiefenbacher geht in ihrer Dissertation auf die Notwendigkeit eines „reflektierte(n) Umgang(s) in der Benennung von Angehörigen unterschiedlicher Romani Communitys“2 ein:

So bedarf es einer analytisch nützlichen und zugleich differenzierenden Form, um Homogenisierungen entgegenzuwirken. Meist wird dabei der Terminus „Roma“ als Dachbegriff herangezogen, der bei der ersten Zusammenkunft der Internationalen Romani Union 1971 in Orpington bei London von Vertrete- rInnen und RepräsentantInnen als Ablöse für den von vielen als diskriminie- rend empfundenen Begriff „Zigeuner“ vorgeschlagen wurde und der seitdem forciert wird.(…) Der Terminus wurde somit als positiv konnotiert eingeführt und zugleich auch politisch für die Romani BürgerInnenrechtsbewegung nutzbar gemacht.3

Tiefenbacher führt kritisch an, dass

in deutschsprachigen Publikationen, in denen ansonsten eine geschlechter- differenzierende Sprache verwendet wird, der Terminus „Roma“ häufig als solcher bestehen bleibt. (…) Denn der aus der Sprache Romanes kommende Begriff „Roma“ bedeutet in seiner Übersetzung „(Ehe)männer, die der Ro- mani Community zugehörig sind“. Die Singularform davon lautet „Rom“, die weiblichen Pendants sind „Romni“ im Singular – übersetzt „(Ehe)frau, die der Romani Community zugehörig ist“ – und „Romnija“ im Plural.(…)4

2 Barbara Tiefenbacher: „Es springt so hin und her.“ Verhandlungen um ethnische Zugehörigkeiten in post-/ migrantischen Romani Communitys in Österreich. Dissertation, Universität Wien, 2014, S. 20. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 21. Neben der Schreibweise „Romnija“ wird auch häufig „Romnja“ verwendet.

18 Einleitung

Als Analogie zum Binnen-I plädiert Tiefenbacher für die Schreibweise mit Binnen- N: RomNija. Im deutschen Sprachraum wird als Sammelbezeichnung für alle Roma- Gruppen – uneinheitlich – von „Roma“, aber auch häufig von „Roma und Sinti“ bzw. „Sinti und Roma“ gesprochen.5 „Sinti“ ist die männliche Pluralform (Singular: „Sinto“). Die weibliche Pluralform lautet „Sintize“ (Singular: „Sintiza“). Ausgrenzung und erdrückende Armut in den südosteuropäischen Ländern motiviert eine Vielzahl von RomNija zur Migration. Der „goldene Westen“ bietet allerdings den wenigsten Existenz- und Überlebenssicherung. Im Gegenteil. Zahlreiche Länder machen ihre Grenzen dicht, verstoßen offen gegen Menschenrechte, unterlaufen geltende Geset- ze und EU-Richtlinien, um die ungebetenen Gäste abschieben zu können. Dies passierte und passiert noch immer vor allem gegenüber RomNija aus Rumänien und Bulgarien, also gegenüber EU-BürgerInnen, obwohl nach dem Abschiebeskandal in Frankreich 2010 (noch unter Präsident Sarkozy) die EU-Kommission diese Form der „ethnischen Diskriminierung von Roma“ offen skandalisiert und verboten hat. Damals mussten sich alle EU-Mitgliedsländer darauf verpflichten, bereits laufende Programme zur De-Segregation von RomNija nachzuschärfen und Sofortmaßnahmen zur Inklusion ganz zentral auch auf die jeweilige nationale politische Agenda zu setzen („Nationale Roma-Strategie bis 2020“). Damit sollen in den südöstlichen Ländern verpflichtend Basisstandards etabliert wer- den, um der Verelendung ganzer Regionen entgegenzusteuern. Aber auch die reiche(re)n postmodernen Industriegesellschaften sind gefordert, gegen Diskriminierung und Aus- grenzung aufzutreten, stattdessen Mitbürgerschaft und Gastfreundschaft gegenüber ein- heimischen RomNija oder Durchreisenden zu pflegen. Den Phänomenen und Problemen des Antiziganismus – Rassismus gegenüber Men- schen, die als „Zigeuner“ fremdidentifiziert werden6 – ist allerdings nur sehr begrenzt durch Förder- und Bildungsprogramme für RomNija beizukommen. Die Mehrheitsge- sellschaften sind gefordert, umfassende Aufklärungs- und Bildungsarbeit in ihren eige- nen Reihen zu leisten. Denn: Solange Geschichte und Kultur von RomNija und Tra- vellers nicht als attraktives Wissensgut in unserer Gesellschaft begriffen und geschätzt

5 Als „Roma“ werden einerseits Mitglieder von Gruppen bezeichnet, die lange im osteuropäischen Raum lebten, andererseits ist „Roma“, wie oben erwähnt, die international übliche Sammelbezeichnung für alle Gruppen. „Sinti“ leben schon seit mehreren Jahrhunderten in Mittel- und Westeuropa. 6 Markus End: Was ist Antiziganismus?, in: Romane Thana. Orte der Roma und Sinti, Katalog zur Ausstellung. Hg. von Andrea Härle u.a., Wien 2015, S. 35–37.

19 Erika Thurner / Elisabeth Hussl / Beate Eder-Jordan

werden, solange weder Unterricht noch Aufklärung zu dieser Thematik angeboten wer- den, solange leben tradierte Stereotype und Klischees weiter, schaffen alten und erneuer- ten Vorurteilen viel Raum und Verbreitung, vergiften die gesellschaftliche Atmosphäre. Daneben ist die Politik gefordert – auch in Österreich – nachhaltige Maßnahmen zu setzen. Da stocken so sinnvolle Projekte wie z. B. die Errichtung von Durchreiseplätzen, die zu Vorurteilsabbau oder Entschärfung beitragen könnten. Da wird populistischen Neidgenossen viel zu viel Raum für ihre menschenverachtende, verhetzende Politik ge- boten. Um aber mit Positivem abzuschließen: Die Ausstellung „Romane Thana. Orte der Roma und Sinti“, eine Kooperation von Wien Museum, Landesmuseum Burgenland, Initiative Minderheiten und Romano Centro, die in weiten Teilen von Angehörigen der Romani Community gestaltet wurde, zog zwischen Februar und Mai 2015 zirka 21.000 BesucherInnen an. Ein großartiger Erfolg! Viele haben Anteil am Zustandekommen dieses Buches – dafür möchten wir uns herzlich bedanken: vor allem bei jenen Institutionen, die das finanzielle Fundament ge- legt haben. Besondere Unterstützung erfuhren wir zudem von Elisabeth Grabner-Niel vom Büro für Gleichstellung und Gender Studies der Universität Innsbruck, die Ring- vorlesung und Tagung von Anfang an mitgetragen hat. Ein spezieller Dank gilt auch Anton Rauter für Korrekturarbeiten sowie Birgit Holzner und Carmen Drolshagen von innsbruck university press für die gute Kooperation.

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Roma in Europa, Roma in Österreich

Jetzt, da wir freie Menschen sind, kommt Brüder, ran an die Arbeit, damit auch wir zu Achtung und Ehre gelangen, zur Wertschätzung der Roma! Mihai Schein, Temeswar 19891

Gegensätzliche Realitäten?

Roma in Österreich und ihre Vertretungen können auf zahlreiche Erfolge in den letz- ten zwei Jahrzehnten zurückblicken. Eine heiß umkämpfte Errungenschaft – die An- erkennung als österreichische Volksgruppe – konnte im Dezember 2013 zum 20. Mal gefeiert werden. Dagegen hat die Mehrheit der europäischen Roma wenig Grund zu Freude und Zuversicht. Deren prekäre Lebenssituation hat sich in den letzten Jahren – auch seit der Finanzkrise – in nahezu allen jüngeren EU-Ländern noch einmal drastisch verschärft. Verbale Rassismen und gewaltsame Übergriffe gehören zum Alltag und be- gleiten in alten und neuen EU-Ländern auch staatliche Politiken. So verweigern demo- kratische Rechtsstaaten ausländischen Roma längerfristigen Aufenthalt oder Asyl, auch wenn es sich um EU-Bürger oder um Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien handelt. Im Falle der Roma-Minderheit akzeptieren Politik und Gesellschaft Menschenrechts- und EU-Rechtsver­letzungen. Während die Zivilgesellschaften in den Nationalstaaten ab- ­

1 Nachsatz von Mihai Schein zu seinem 1989/90 auf Rumänisch und Romanes verfassten Gedicht „Die Märtyrer von Temeswar“, in dem er die Revolution vom Dezember 1989 thematisiert. Er war Fabriksarbeiter, wurde im Dezember 1989 aktiv gegen die kommunistische Diktatur und verfasste „zeitbezogene revolutionär – patriotische Dichtung“. Vgl. Beate Eder-Jordan, Literaturproduktion von Roma in Rumänien, in: Julia Blandfort, Marina Ortrud M. Hertrampf (Hg.), Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania, Berlin 2011, S. 155–158.

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wartend und verhalten reagieren, wenig Solidarität zeigen, funktioniert die Diffamierung und Ausgrenzung dieser größten europäischen Minderheit auch im 21. Jahrhundert.

Alte Vorurteile, aktualisierte Rassismen und ein neuer Begriff

Ablehnung und Feindschaft gegenüber den Roma sind alte Phänomene, dagegen ist der heute in der Wissenschaft verwendete Begriff des Antiziganismus sehr jung. Er steht für eine Form des Rassismus, der wie kein anderer durch tiefe Verachtung gekennzeichnet ist und kann so als Paria unter den Rassismustypen bezeichnet werden. Unmittelbar nach der Ankunft der Roma in Europa, ab dem 14. Jahrhundert, begann die Konstruktion zigeunerfeindlicher Stereotype. Sie begleiteten gleichsam den westlichen Zivilisationspro- zess. Parallel zur Herausbildung bürgerlich-kapitalistischer Strukturen erfolgte der Aus- schluss jener, die sich den Zumutungen der sich formierenden Arbeits- und Disziplinie- rungsgesellschaft widersetzten. Die Roma wurden von den Verlockungen der Moderne kaum berührt, und sie versuchten, staatlich legitimierten Zwängen auszuweichen.2 An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entbrannte der Diskurs darüber, wie- weit die „Zigeuner“ einer „bürgerlichen Verbesserung“ unterzogen werden könnten, und ob auch für sie – so wie für die Juden – eine Emanzipation möglich sei. Die Mehrheit der damit befassten Denker und gesellschaftlichen Machtträger sprach sich klar dagegen aus. Sie setzten die Roma, die sogenannten „Zigeuner“, den „Schwarzen“ und „Wilden“ gleich. Und sie forderten für sie Zwangsmaßnahmen statt bürgerlicher Freiheiten. Nur wenige erhoben dagegen Einspruch. So z. B. der der deutschen Aufklärung verpflichtete Christian Wilhelm von Dohm. Und sein Landsmann, der Sprachwissenschafter Johann Rüdiger, ging sogar so weit, dass er die „zigeunerfeindliche Umwelt“ für die den Roma zugeschriebenen negativen Eigenschaften verantwortlich machte. Das waren Minderhei- tenpositionen, die dann im 19. und 20. Jahrhundert für die darauf folgenden 200 Jahre fast gänzlich verloren gehen sollten. Der moderne National- und Territorialstaat sorgte im Verbund mit Verwaltungsrefor- men (Personenerfassung, Passwesen, etc.) dafür, dass unterschiedliche Menschenkatego- rien geschaffen wurden: Berechtigte, Dazugehörige, Nichtberechtigte und Fremde. Die

2 Franz Maciejewski, Elemente des Antiziganismus, in: Jacqueline Giere (Hg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt/New York 1996, S. 9–29.

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weitere Ausdifferenzierung der Armen in einheimische und fremde Bettler schuf neue Inklusions- und Exklusionsbeziehungen, beförderte die einen langfristig in die Position von außerstaatlichen, rechtlosen Fremden. Der vagabundierende Hass des 18. und 19. Jahrhunderts richtete sich zunächst auf alle vermeintlich „Unproduktiven“. Erst nach und nach erfolgte die Konzentration auf die schwächste und exotischste Gruppe, auf die Roma, wobei die ökonomischen Interessen von Ausgrenzung und Vertreibung auch durch religiöse Motive überdeckt wurden. An der Wende zum 20. Jahrhundert schürte und kanalisierte der politisch rechtlich agierende Antiziganismus im Interesse der Herrschaftssicherung Ressentiments gegen- über Roma und Sinti. Die staatlichen Anti-Roma-Politiken schufen mit eigenen Zigeuner- gesetzen und Erlässen – sowie durch die Etablierung einer „Internationalen Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ – Voraussetzungen und tragfähige Fundamen- te zur restriktiven Umsetzung nationalsozialistischer und faschistischer Verfolgungs- und Ausrottungsmaßnahmen. Unterschiedlichste Wissenschaftsdisziplinen agierten als eifrige Zuarbeiter der Politik. Sie tradierten und erweiterten die zigeunerfeindlichen Klischees und Stereotype, nährten so die ohnehin leicht abrufbaren Ressentiments der Bevölke- rung über die Jahrhunderte und die politischen Systeme hinweg. Roma und Sinti – mit ihren bis in die jüngste Zeit herauf nur mündlich überlieferten Kultur- und Sprachtra- ditionen – hatten schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Randposition keinerlei Macht, diese negativen Bilder zu korrigieren oder gar außer Kraft zu setzen.

Roma – die echten Europäer?

Roma sind nicht nur die größte Minderheit in Europa. In einigen Ländern der euro- päischen Union sind sie auch die am meisten bedrohte Minderheit. Zwei Drittel der geschätzten zehn bis zwölf (oder auch 15) Millionen Roma leben in der Slowakei, in Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien.3 Durch die Osterweiterung ist der ­Anteil der Roma-Bevölkerung im EU-Raum enorm angestiegen; die Zahlen werden durch wei- tere Mitgliedsländer in den kommenden Jahren nochmals in die Höhe schnellen (z. B. Serbien). Und eine Mehrheit der Roma lebt in den zentral- und süd/osteuropäischen

3 Vgl. Vera Klopcic, The Legal Status of the Roma in Eastern and Central Europe, in: Der Donauraum, Roma in Mittel- und Osteuropa, 40, 1–2 (2001), S. 74.

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Ländern unter (extrem) schlechten Bedingungen. Die Lebensverhältnisse vieler gleichen Dritte-Welt-Szenarien. Roma sind nicht nur ausgegrenzt im Bildungssektor und am Ar- beitsmarkt. Das Leben in ghetto- und slumähnlichen Unterkünften beraubt sie jedweder Entwicklungs- und Teilhabechancen. Und die existenzielle Unterversorgung verbündet sich mit gezielten und willkürlichen Diskriminierungsstrategien und Verfolgungsmaß- nahmen. Vom Status gleichberechtigter EU-BürgerInnen sind Roma und Romnija in diesen Ländern (meilen)weit entfernt, aber auch in den „alten“ EU-Ländern hat sich deren Si- tuation erst in den letzten 20 Jahren verbessert. Die westlichen Demokratien ignorierten lange, allzu lange jedwedes Minderheitenrecht gegenüber Roma und Sinti und verhinder- ten – durch eine parallele „Politik“ der fortgesetzten Diskriminierung, Ghettoisierung und Kriminalisierung – deren gesellschaftliche Integration.4 Das Gegenmodell zum Westen, die sozialistische Zwangsintegration, war ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Neben einer dort voranschreitenden „Verproletarisierung“ und „Verslumung“ konnte sich allerdings durch die partielle Gewährung begrenzter Minder- heitenrechte in den Ländern des Ostblocks zumindest eine schmale intellektuelle und politische Elite herausbilden. Allen Ländern gemeinsam, ob West oder Ost, war der Umgang mit der nationalsozia- listischen und faschistischen Vergangenheit. Systematische Ausrottung und Grausamkei- ten am Volk der sogenannten „Zigeuner“ wurden überall ignoriert, tabuisiert, geleugnet oder verharmlost. Die potenzierte Stigmatisierung und Kriminalisierung der Roma im Nationalsozialismus und in den diversen Ausformungen europäischer Faschismen ende- ten nicht mit diesen Systemen. Negative Stereotype und Vorurteile lebten und leben – fast ungebrochen – weiter. Unterschiede in der Entwicklung und in den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkei- ten für Roma ergaben sich in den einzelnen Ländern – und damit auch in EU-Ländern – durch eine praktizierte Doppelstrategie in der rechtlichen Einstufung: durch Zuerken- nung oder Verweigerung von Bürger- und Staatsbürgerrechten. So war es maßgebend, ob Roma als „einheimische“, „ansässige Bürger“ galten oder ob ihnen diese Rechtsposi- tion vorenthalten blieb. Jene, denen der Staatsbürgerstatus verweigert wurde (aufgrund fehlender, ihnen vorenthaltener oder im Zuge der Verfolgung gestohlener Dokumente),

4 Die Eigenbezeichnungen „Roma“ oder „Roma/Sinti“ (= Pluralformen) werden heute europa-/weltweit statt dis­ kriminieren­der Fremdbegriffe verwendet. (Singular fem. = Romni, Sintiza oder Sinteza; Singular mask. = Rom, Sinto; Plural fem. Romnija, Sintize)

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Dies ist das meist zitierte Dokument in Arbeiten über Roma in Österreich nach 1945. Es wurde erstmals in der Dissertation der Verfasserin publiziert und entstammt einem Aktenbestand aus dem Innenministerium. An die Auflage, auf keinen Fall dieses Dokument zu veröffentlichen, konnte sich Erika Thurner im Interesse der Sache nicht halten. Bildnachweis: Aktenbestand BMI Zl.84-426-4/48 vom 20.9.1948

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sahen sich mit Verfahrens- und Behandlungsweisen konfrontiert, die auf nomadisie- rende, staatenlose Roma oder „ausländische Zigeuner“ abstellten. Dies bedeutete für die Betroffenen ein Leben in völliger Rechtlosigkeit. Aber auch gegenüber anerkannten Roma-Staatsbürgern wurden – systematisch und/oder willkürlich – Ausgrenzung und Diskriminierung in allen zentralen Lebensbereichen praktiziert.5 Die Schaffung von unterschiedlichen „Rechts“-Kategorien führte zur Aufspaltung der Roma-Bevölkerung (= Heterogenisierung, Identitätsverlust und Entsolidarisierung), sowohl in den einzelnen Nationalstaaten als auch innerhalb von Europa. Der drohende Ethnozid – die eingeleitete und umgesetzte Zerstörung spezifischer Roma-Sozialord- nungen, begleitet von Kultur- und Sprachverlust – setzte allerdings auch identitätsstiften- de Mechanismen frei. So formierten sich in nahezu allen europäischen Ländern Roma- Bewegungen, vereinzelt bereits ab den 1950er-/1960er-Jahren, vor allem aber ab den 70er- und in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Dieses Engagement in West und Ost mündete in der Gründung von nationalen und transnationalen Eigenorganisationen, fast überall allerdings mit Unterstützung von „außen“, durch Nicht-Roma. Die „staatssozialistische Domestizierung“ hatte zwar in erster Linie auf Zwangsassi- milation und auf mögliche Vollintegration gesetzt, dennoch war nur ein kleiner Bruch- teil dieser Programme realisiert worden. Die Mehrheit der in diesen Ländern stark an- wachsenden Roma-Community lebte am Rand der Gesellschaften. In einigen Ländern wuchs der Anteil der Roma gegen zehn Prozent der Gesamtbevölkerung an (bspw. in der Slowakei oder Ungarn).6 Dennoch kamen bestimmte Demokratisierungselemente und Einrichtungen der kommunistischen Gesellschaften vereinzelt auch Roma zugute; so im Rahmen des Bildungssystems oder durch die Zuordnung bestimmter Arbeitsplätze und Unterkünfte. Parallel dazu bzw. als Konsequenz daraus entstanden ein spezifisches Engagement und Forderungen. Roma mischten sich in Politik und Gesellschaft ein, so- wohl mit Eigenorganisationen als auch als politische Funktionäre oder als intellektuelle Autoritäten. In jenen Ländern, in denen Roma eine rechtliche Sonderstellung durchset- zen konnten (in Provinzen und Teilrepubliken Jugoslawiens, in Ungarn etc.), hatte es sich allerdings nur um einen begrenzten Minderheitenstatus gehandelt. Als sogenannte

5 Vgl. Erika Thurner, Die Veränderung der rechtlichen Lage der Roma in Europa. Ein Vergleich der wichtigsten Trends in EU-Mitgliedstaaten und in europäischen Nicht-EU-Ländern, in: Vera Klopcic/ Miroslav Polzer (Hg.), Wege zur Verbesserung der Lage der Roma in Mittel- und Osteuropa, Ethnos: Bd. 54, Wien 1999, S. 34ff. 6 Aufgrund von Maximalschätzungen leben in den südosteuropäischen Ländern zwischen 3,5 und 10 Prozent Roma, wie Anm. 3.

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„ethnische Gruppe“ waren sie auch in diesen Ländern gegenüber anderen „nationalen Minderheiten“ benachteiligt gewesen. Dennoch konnten Roma-Intellektuelle und Roma- Sprecher ab 1989 für westliche Demokratien als Impulsgeber und Vorbilder wirksam werden.

Zusammenbruch des Staatssozialismus: Roma als Sündenböcke

Das Ende des Kommunismus war für die Mehrheit der Roma von einer Welle von Nega- tiv-Ereignissen begleitet. Sofort nach Fall des „Eisernen Vorhangs“ verloren viele Roma ihre Arbeitsplätze in den staatseigenen (Industrie-)Betrieben. Sie wurden zur Zielscheibe von Aggressionen in unterschiedlicher Intensität in den einzelnen Ländern. Pogrome und Übergriffe – und dadurch ausgelöste Flüchtlingsströme der Roma-Minderheit in den Westen – waren keine spektakulären Zwischenfälle, sondern brutale Alltagserscheinun- gen in fast allen Reformländern.7 Verliefen die Umbruchstage und Neustrukturierungen auch sehr unterschiedlich, je nach Ausprägung bereits existenter oder erwachender Zivil- gesellschaften, entwickelten sich romophobe Haltungen bald zum einigenden Band. Das kann, muss aber nicht verwundern. Denn überall gab es „zigeunerfeindliche“ Strukturen. Stereotype, Klischees, Vorurteile und Ressentiments waren nahezu reflexiv abruf- und reaktivierbar. Roma, die in der Umbruchsphase – durch den Verlust ihrer Jobs oder den Wegfall bescheidenster Existenzsicherungsmittel und zuvor garantierter Mindestversorgung – ohnehin alle Härten der Transformation zu spüren bekamen, wurden als diffamier- te „Un-Produktive“ nicht nur Zielscheibe verbaler Aggression. Tätliche Angriffe und Gewaltexzesse fanden in nahezu jedem Transformationsland statt. Rumänien setzte im Winter 1989 eine Serie von Pogromen in Gang. Unter Beteiligung und Hilfestellung von Staatsgewalt wurden Roma-Siedlungen niedergebrannt, Treibjagden auf wehrlose Menschen veranstaltet. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Ex-Jugoslawien, in nahezu jedem ehemaligen Ostblock-Land. NGOs und

7 Vgl. Publikationen der Helsinki-Watch-Federation (z. B. Destroying Ethnic Identity, The Persecution of Gypsies in Romania, A Helsinki Watch Report, September 1991); Berichte aus: Pogrom. Zeitschrift für bedrohte Völker, Göttingen sowie aus „Roma Rights“, Newsletter of the European Roma Rights Center, Budapest, 1980er-Jahre ff.; Renata M. Erich, Roma in den ehemaligen kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas, in: Mozes F. Heinschink/ Ursula Hemetek (Hg.), Roma – das unbekannte Volk, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 30ff.

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Roma-Rights-Organisationen berichteten von erschreckenden Vorfällen. Grobe Men- schenrechts- und Minderheitenrechtsverletzungen, einschließlich zahlreicher Mord- und Totschläge, wurden von den westlichen Demokratien und ihren Medien damals nur am Rande registriert. Maximal kleine Insidergruppen interessierten sich dafür, dass gegen- über Roma die grundlegendsten zivilisatorischen Werte außer Kraft gesetzt wurden. Und dies passierte nicht nur von Seiten rechtsextremer Kräfte und aufgebrachter Umsturzver- lierer. Auch nach Demokratie strebende Regierungsverantwortliche suchten im Schlag- schatten gewalttätiger und lautstarker „Zigeunerjagden“ nach praktikablen Lösungen, um den Roma-Anteil in ihren Ländern zu reduzieren bzw. der eigenen Romabevölkerung staatsbürgerliche Rechte vorzuenthalten. So in Slowenien bei den ersten freien Wahlen 1990. Damals wurden Roma von den Wahlurnen ferngehalten.8 Auch in der Tschechischen Republik war der demokratische Aufbruch von der pa- rallelen Abrechnung mit der Roma-Bevölkerung überschattet – und dies, obwohl der erste Präsident, Vaclav Havel, versuchte, dem aufbrechenden Hass entgegen zu treten.9 Anlässlich der Teilung der Slowakei und Tschechien in zwei unabhängige Staaten, ab 1. Januar 1993, wurde den Roma verdeutlicht, dass sie in ihrem Land unerwünscht sind. Über 100.000 während der kommunistischen Ära von der Ost-Slowakei in die böhmi- schen Braunkohlenreviere umgesiedelte Roma gerieten durch das Nationalitätengesetz von 1994 zwischen zwei Staaten. Der tschechischen Staatsbürgerschaft beraubt, wurden sie zu „Staatenlosen“ deklariert bzw. der in dieser Phase extrem nationalistisch aufgelade- nen „Meciar-Slowakei“ zugeschoben.10 Die Reaktion zahlreicher Romafamilien darauf: die Flucht in den Westen. Viele hat- ten Großbritannien als Reise- und Zufluchtsziel ausgewählt. Die Ankunft im Zielland scheiterte allerdings viel zu oft an den vorinformierten Grenzorganen.11 Nicht nur Eng- land machte seine Grenzen dicht, der Westen reagierte generell ablehnend auf Flucht-

8 Bei der Vorbereitung der Volkszählung 2001 ignorierten die Behörden der Slowakei den Minderheitenstatus der Roma, „vergaßen“ sie in den Formularen. 9 Vaclav Havel versuchte immer wieder zu kalmieren und unterstützte 1995 einen symbolischen Akt gegen die tschechische Romophobie. Am 13. Mai 1995 wurde in Písek ein Roma-Mahnmal enthüllt, zum Gedenken an die Verfolgungs- und Vernichtungsopfer während Faschismus und Nationalsozialismus, in: Neznamy Holocaust, hg. von Hanna Fristenka u. a., Praha 1995. 10 Erika Thurner, Eine Zeitbombe tickt – EU-Osterweiterung zur Entschärfung des europäischen Roma-Problems, in: Der Donauraum, wie Anm. 3, S. 88; International Helsinki Federation for Human Rights, annual report of activities 1993/94, S.45ff.; Profil Nr. 33, 13.8.1994, S. 50ff.; vgl. auch: Joana Radzyner, Vor den Toren Europas – Die „Visegrad“-Staaten und die Menschenrechte, in: Zeitgeschichte, 25. Jg., H. 3/4, Innsbruck/Wien, März/April 1998, S. 104ff. 11 Thurner, wie Anm. 10, S. 90.

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bewegungen. Dass Roma auch schon lange vor dem kommunistischen Zusammenbruch Überlebensmöglichkeiten in anderen Ländern suchten (bspw. jugoslawische, aber auch rumänische Roma migrierten schon vor 1989 in Großgruppen nach Italien), hat die Si- tuation nicht entschärft, vielmehr den Handlungsbedarf im „Westen“ als gerechtfertigt eingestuft. Die Angst vor der Armut der Fremden machte Politik und Bevölkerung in den Zufluchtsländern blind für die Gefahren, denen ein Teil dieser Flüchtlinge ausge- setzt waren. Politische Bedrohung als Motiv wurde nahezu gänzlich ignoriert. So auch für die von den Jugoslawien-Kriegen in vielfacher Weise betroffenen Roma.12 Sie wurden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Habenichtse“ deklariert, und diese Flüchtlings-Roma störten die Ordnung der zusehends am Wohlfahrtsstaatsabbau arbeitenden und in den Neoliberalismus einschwenkenden EU-Länder. Da wurde mit erhöhtem Grenzschutz oder mit erweiterten Visa-Bestimmungen gearbeitet, da kam es zur Verschärfung von Asylgesetzen, da verhandelten legitimierte Regierungen um halblegale Machenschaften (z. B. durch Abschlagszahlungen oder Flüchtlings-Los-Kauf-Aktionen).13 So entwickelten sich alte und neue Antiziganismen nicht nur zum einigenden, identi- tären Muster in den Transformations-Ländern; romafeindliche Haltungen entwickelten sich zum kulturellen Code der europäischen Mehrheitsgesellschaften. Die Umfrage-Er- gebnisse aus den diversen EU-europäischen Ländern, wer die am stärksten abgelehnten Nachbarn sind (60 bis 80 Prozent Ablehnung), sind für Betroffene niederschmetternd: „Im ersten Moment, wenn man solche Umfrage-Ergebnisse hört, ist man wütend, dann muss man die Wut als große Kraft nützen ...“, so die Reaktion der ungarischen EU- Politikerin Viktória Mohácsi auf eine im Februar 2009 veröffentlichte Studie. Während in dieser Untersuchung 81 Prozent der befragten Ungarn eine negative Einstellung ge- genüber Roma offenlegten, ermittelte eine im Jahre 2010 fertiggestellte deutsche Studie, dass Roma – im Vergleich zu anderen „Fremdgruppen“ (Einwanderer, Muslime, Juden, Schwarze) – „interessanterweise vor allem in Deutschland, Frankreich, Großbritannien

12 RomNewsNetwork/http://www.romnews.com: Roma demonstrate against continuing violence in Kosovo and for their right to stay, 26.2.2000; Informationen von Mozes Heinschink, zit. n. Beate Eder-Jordan, Die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik im Spiegel der Literatur der Roma und Sinti, in: Der nationalsozialistische Genozid an den Roma Osteuropas, hg. von Felicitas Fischer von Weikersthal u.a., Köln/ Weimar/Wien 2008, S. 117ff. 13 Italien verhandelte bezüglich Abschlagszahlungen mit Rumänien, um die Rückführung rumänischer Roma in ihr Herkunftsland zu erwirken; Großbritannien intervenierte in Polen und beteiligte sich an Hilfsprojekten, um die polnische Roma-Migration nach England zu stoppen. Vgl. Elisabeth Hussl, Roma-Politiken in Polen, Diplomarbeit, Innsbruck 2010, S. 125.

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Entgegen EU-rechtlicher und internationaler Vorgaben zur Roma-Inklusion und Ent-Segregation sind in zahl- reichen (jüngeren) EU-Ländern räumliche Separierung und Ausgrenzung im Alltag durchaus aktuell. So existie- ren in Schulen getrennte Klassen- und Pausenräume oder aber auch Gaststätten – so wie hier in der Slowakei. RomNija werden nur in abgetrennten, hässlichen „Gast“zimmern geduldet. Bildnachweis: Stefan Benedik und Italien besonders unbeliebt [sind], während sie in Portugal, Ungarn und Polen im Mittelfeld der Antipathie liegen“14.

Zukunftshoffnung: Europäische Union

In Vorbereitung der ersten EU-Osterweiterung wurden die Roma schließlich auf die politische Agenda gesetzt. Die Angst vor noch größeren Fluchtbewegungen – und mög-

14 „Europäische Zustände“, Ergebnisse einer Studie über gruppenbezogene Menschen­feindlichkeit in Europa, Universität Bielefeld, E-Mail-Information von Beate Küppers, 26.2.2010; vgl. zudem Umfrage-Ergebnisse aus „Eurobarometer zu Rassismus“ 1990ff, http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb_special_en.htm; Sabine Adler, Leben am Rande der Gesellschaft, http://www.deutschlandfunk.de/leben-am-rande-der-gesellschaft.724. de.html?dram:article_id=99240 (Zugriff 9.1.2014); dROMa 21/2009.

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lichen sozialen Aufständen – hat die Institutionen der Europäischen Union und andere internationale Akteure dazu gebracht, das Roma-Thema nicht nur ernst zu nehmen, son- dern zeitweilig dem „Roma-Problem“ auf europäischer Ebene sogar Priorität einzuräu- men. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, davor KSZE) sowie der Europarat hatten schon seit den 1980er-Jahren das Thema fokussiert, doch mehr öffentliches Echo haben schließlich die Aktivitäten der EU-Institutionen hervorgerufen.15 Durch die jährlich verfassten Kommissions-Berichte zur Situation von Menschen-(und auch Roma-)Rechten sowie zur Lage von Minderheiten in den einzelnen EU-Beitrittskandidatenländern wurden den bis dahin gering beachteten – vor allem von NGOs recherchierten – Zustandsberichten endlich mehr Interesse entgegengebracht. Dass die Vermeidung fremden- und romafeindlichen Verhaltens zum Aufnahmekri- terium erklärt wurde (Kopenhagener Kriterien, 1993), schlug sich zunächst selten in den Alltagserfahrungen der Betroffenen nieder. Dennoch wurde einigen Ländern offen da- mit gedroht, ihre EU-Aufnahme in Frage zu stellen und den möglichen Beitrittstermin – aufgrund von romafeindlichen Vorfällen – zu gefährden. So wurden 1994 kurzfristig die Verhandlungen mit der Slowakei auf Eis gelegt, so wurde im Oktober/November 1999 Druck auf Tschechien ausgeübt. War doch in der nordböhmischen Kleinstadt Ústí nad Labem eine Mauer errichtet worden, die die örtliche Roma-Siedlung zum abgesperrten Ghetto werden ließ.16 Erst nach wochenlangen Interventionen gelang es der tschechi- schen Regierungsspitze die involvierten Kommunalpolitiker zu einer entlastenden Lö- sung zu motivieren. Die Mauer wurde schließlich demontiert und einem Museum über- antwortet. Dagegen konnten die im Ort überschwappenden rassistischen und verbohrten Haltungen erst nach und nach – zumindest oberflächlich – eingedämmt werden. Vieles verblieb im Ankündigungsstatus. Aber das Agieren der EU-Kommission rief Romavertreter auf den Plan, befürchteten sie doch, dass dadurch noch mehr Aggressi- onen auf die Roma gelenkt werden. Die Romabevölkerung in den ent­sprechenden Län- dern setzte große Hoffnung auf einen EU-Beitritt, – Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, aber vor allem Hoffnung, um dem täglich anwachsenden Anti­ ziganismus zu entkommen. Und dies, obwohl nicht wenige die Situation in den „alten

15 Vgl. div. Beiträge in: Europäische Roma – Roma in Europa, Berliner Blätter, Ethnographische und ethnologische Beiträge, 39 (2006) (bes. Michi Knecht und Reetta Toivanen, Miranda Vuolasranta, Judith Okely); sowie: Klopcic, The Legal Status, wie Anm. 3, S. 71–83. 16 Thurner, wie Anm. 10.

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Ländern“ der EU kannten, von Roma-Abschie­bungen aus dem EU-Raum wussten oder selber schon betroffen waren. Tatsächlich soll(te) vom Zivilisationsprojekt Europa und entsprechenden EU-Gel- dern auch die Roma-Bevölkerung profitieren. Zahlreiche Integrations- und Unterstüt- zungsprojekte stellen darauf ab, sowohl offenen als auch subtilen Segregations-, Ghettoi- sierungs- und Ausgrenzungsmaßnahmen in allen zentralen Gesellschaftsbereichen entge- genzuwirken. Neben neu installierten Gremien und bewusstseinsbildenden Maßnahmen wurde und wird konkrete strukturelle finanzielle Intervention betrieben.17 Ein Ergebnis von bewusstseinsbildenden Bemühungen gipfelte in der 1995 beschlos- senen Unterlassung von bis dahin (parallel) verwendeten Begrifflichkeiten („Zigeuner“, Gypsies“, etc.). Die seither für alle – doch auch sehr heterogenen – Gruppen empfoh- lene Sammelbezeichnung „Roma“ hat sich mittlerweile durchgesetzt. Dies war sowohl eine pragmatische als auch eine politische Entscheidung. Die Pragmatik überzeugt: auch gegen anderslautende Wünsche erleichtert ein subsumierender Begriff die Kommuni- kation und damit die politische Arbeit.18 Daneben ging es darum, die von Roma/Sinti abgelehnten, negativ aufgeladenen Fremdbezeichnungen zu vermeiden. In Deutschland hat sich der Vorsitzende des Zentralrats für Sinti und Roma, Romani Rose, bereits in den 1980er-Jahren darum bemüht, bei Zuwiderhandlung strafrechtliche Verfolgung zu erwirken. Dagegen wird die jeweilige Fremdbezeichnung (z. B. Tsigane in Frankreich oder Cigany in Ungarn) nicht von der ganzen Community abgelehnt; entweder ist die Negativ-Konnotation in einigen Ländern tatsächlich abgeschwächt oder aber Teilen der Roma-Bevölkerung gar nicht (mehr oder noch nicht) bewusst.19 Hierbei handelt es sich um Bewusstseinsprozesse, von denen nicht alle gleichzeitig erfasst wurden. Die Auffor- derung zur strikten Ablehnung der Fremdbezeichnungen kam sozusagen von „oben“, wurde von Roma-VertreterInnen oder AktivistInnen vorgegeben. Akademische Zirkel fungier(t)en dabei als MultiplikatorInnen. Außerdem haben sich Europarat und EU-Institutionen darum bemüht, qualifizierte Roma aktiv in die Tätigkeiten einzubinden. So wurde u.a. 2004 das „Europäische Fo- rum der Roma und Fahrenden (ERTF)“ beim Europarat in Straßburg eingerichtet, ein

17 Rainer Klien, EU 2011 – Banken retten, Roma versklaven und Flüchtlinge vertreiben!, http://www.sosmitmensch- bgld.at/materialien/texte/EU_2011.htm (Zugriff 9.1.2014). 18 Europäische Roma, wie Anm. 15, S. 7. 19 Interviews mit österreichischen/europäischen Roma/Sinti, ab 1984ff., audiovisuelle Quellen: Tonband-/Video- Interviews im Besitz der Verf.

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Beratungsorgan für Europarat und für die EU. Eine Führungsfunktion ist seit Jahren mit Miranda Vuolasranta besetzt, einer engagierten, aber auch sehr traditionsbewuss- ten finnischen Romni. Ihre optimistische Einschätzung zum Zeitpunkt ihrer Funktions- übernahme 2004: „Das Forum ist die erste Gelegenheit, die es jemals während unserer 700jährigen Geschichte in Europa gab, bei der die Roma den Staatsführern und Reprä- sentanten gleichgestellt sind, dass sie bei Fragen, die ihre Stellung betreffen, mitentschei- den können.“20 In den EU-Gremien sind Roma schon länger präsent, wenn auch in minimaler An- zahl. Erstmals schaffte es mit Juan de Dios Ramírez-Heredia 1994 (bis: 1999) ein Spanier ins EU-Parlament, und 2004 entsandte Ungarn sogar zwei Romnija nach Brüssel: Lívia Járóka und Viktória Mohácsi. Beide Frauen, jung und akademisch gebildet, waren keine expliziten Roma-Vertreterinnen, engagierten sich dennoch für diverse Roma-Anliegen. Und sie gerieten auch im EU-Parlament zur Zielscheibe rassistischer und sexistischer Angriffe21, vor allem dann, wenn sie gegen den sich radikalisierenden Antiziganismus in ihrem Land auftraten.22 Während die politische Karriere der Liberalen Mohácsi 2009 endete, ist Járóka nach wie vor aktiv. Dem Fidesz-Mitglied wurden mit der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2011 zusätzliche Roma-Agenden übertragen. Sie zeichnet maßgeblich für die von der EU-Kommission ausgerufene Roma-Strategie mitverantwortlich, die bis zum Jahr 2020 die gesellschaftliche Inklusion der Roma-Min- derheit in allen EU-Mitgliedsländern voranbringen soll. Zudem könnte Járóka in diesem Zeitraum beweisen, dass sie nicht nur eine Feigenblatt-Funktion für die rechtspopulisti- sche und romafeindliche Politik ihrer Volkspartei Fidesz erfüllt. Intelligente, nachhaltige Programme sind von fundamentaler Bedeutung, gefordert ist aber auch Járókas mutiger Einsatz, um Jobbik-Akteure und andere rechtsextreme Scharfmacher in die Schranken zu weisen.23

20 Interview mit M. Vuolasranta, im Jahre 2004, in: Europäische Roma, wie Anm. 15, S. 124. 21 Der bulgarische Abgeordnete Dimitar Sojanow von der ultranationalistischen Partei Ataka attackierte Járóka und sorgte im EU-Parlament für Aufregung. 22 V. Mohácsi wurde – nachdem sie sich kritisch über die sehr „zurückhaltenden“ Ermittlungen der Polizei äußerte und die Hinterbliebenen der Mordopfer aufsuchte – durch anonyme Briefe und Anrufe massiv bedroht; sie musste Polizeischutz in Anspruch nehmen. Nach den Wahlen 2009 hatte sie kein Mandat mehr, hat Ungarn inzwischen verlassen und in Kanada um Asyl angesucht. 23 The Parliament. Politics, Policy and People Magazine, Issue 327, 2 May 2011, S. 18–26.

34 Roma in Europa, Roma in Österreich

Österreich – Vorbild in der Roma-Politik?

Wurde von den zentral- und süd/osteuropäischen Beitrittskandidatenländern die Inte- gration bzw. Verbesserung der Lebensverhältnisse ihrer Roma gefordert, so wurde selten ein altes/westliches EU-Land als Vorbild und Modell für gelungene Roma-Integration präsentiert. Tatsächlich war es nahezu allen europäischen Ländern bis in die jüngste Zeit herauf kein besonderes Anliegen, durch romafreundliche Politik aufzufallen. Faktum war vielmehr, dass es bei Ab- und Rückschiebungen, Räumung und Zerstörung von nicht legalen Sammelplätzen kaum Sanktionen von Seiten der EU gab. Desinteresse und Wegschauen waren zudem bestimmend, dass Roma in keinem Land einen besonderen Rechtsstatus hatten. Die Anerkennung von Roma (Roma/Sinti) als ethnische, sprach- liche und/oder kulturelle Minderheiten kann bis Ende der 1980er-Jahre als absolutes Randthema bezeichnet werden. Zudem hatte die zeithistorische Beschäftigung mit dem NS-„Zigeuner“-Holocaust in den ehemaligen NS-Verfolgungsländern, Deutschland und Österreich, erst sehr spät begonnen. Diese Auseinandersetzung, ab Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet, war aber die Voraussetzung für die Akzeptanz und Anerkennung der Roma in den Opfer- und Gedenkgesellschaften, war eine Grundvoraussetzung gesell- schaftspolitischer Maßnahmen und bewusstseinsbildender Aktivitäten.24 Als Österreich 1995 in die Europäische Union aufgenommen wurde, war es das erste und zunächst noch einzige EU-Land, in dem die autochthonen Roma Volksgruppen- status vorweisen konnten. Das in Bezug auf seine Minderheiten eher restriktive Öster- reich hat hierbei Deutschland und Italien überholt, obwohl in beiden Ländern die Forde- rungen und Diskussionen um die Minderheitenposition von Roma/Sinti damals schon weiter vorangeschritten waren.25 Die in Österreich durchgeboxte Gleichstellung mit den

24 Die erste vorurteilsfreie Aufarbeitung im deutschen Sprachraum stammt von der österreichischen Widerstands­ kämpferin und Historikerin Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat. Monographien zur Zeitgeschichte, Wien/Frankfurt/Zürich 1966; für die Bundesrepublik: Tilman Zülch (Hg.), In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt, Reinbek bei Hamburg 1979; vgl. des Weiteren: Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich. Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte 2, Wien/Salzburg 1983 (seit 1998 liegt eine US-amerikanische Übersetzung vor: National Socialism and Gypsies in Austria. Updated and expanded Edition. Edited and translated by Gilya Gerda Schmidt, Foreword by Michael Berenbaum, Survivor of the Shoah Visual History Foundation Washington, The University of Alabama Press, Tuscaloosa and London 1998), sowie die umfassende Aufarbeitung von Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeuenerfrage“, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 33, Hamburg 1996. 25 In Deutschland erfolgte die Anerkennung als ethnische Minderheit 1995 (bzw. 1998), vgl. Wolfgang Wippermann, Vom langen Schlaf ermuntert, in: Europäische Roma, wie Anm. 15, S. 81; in Italien wurden die Roma 1995 zumin- dest „als 13. und letzte Sprachminderheit“ in die Gesetzesvorschläge zur Umsetzung des Verfassungsartikels 6 einbe- zogen, vgl. dazu: Mirella Karpati, Kampf um Anerkennung, in: Pogrom, 26, 186 (1995/96), S. 19.

35 Erika Thurner

Erika Thurner mit Aktenfunden im Innenraum des ehemaligen Kommandanturgebäudes des „Zigeuner-La- gers“ Lackenbach im Burgenland. 1981 stand der Abbruch des Hauses bevor. Da passierte etwas, wovon Histo- rikerInnen nicht einmal zu träumen wagen. Thurner konnte einen riesigen Berg von Schriftstücken am Täterort auffinden. Es bedurfte allerdings der tatkräftigen Unterstützung von Freunden, ging es doch darum, Wände und Dachgebälk einzureißen, um den dort aufbewahrten (1945 versteckten?) Nachlass der NS-Lagerleitung zu sichern. Neben ca. 300 Karteikarten konnten unterschiedlichste Schriftstücke geborgen werden. Dieser „wert- volle“ Fund extrem verstaubter und zerschlissener Dokumente ermöglichte eine umfassende Rekonstruktion dieses Lagerkosmos, des größten nur für „Zigeuner“ eingerichteten Zwangsarbeitslagers auf österreichischem Boden.* Danach – nach Säuberung, systematischer Aufbereitung und Verwendung für die eigene Dissertation – übergab die Verfasserin diesen Quellenbestand dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstan- des in Wien.** Einige der Fundstücke wurden bei der Ausstellung „Romane Thana“ (Februar bis Mai 2015) im Wien-Museum präsentiert. Bildnachweis: Privatarchiv Erika Thurner

* Erika Thurner: Roma, Sinti und Jenische in Österreich. Die langen Schatten des (Ver)Schweigens, in: Gaismair-Jahr- buch 2012, Demokratie – Erinnerung – Kritik, hg. v. Martin Haselwanter, Lisa Gensluckner, Monika Jarosch u.a., Innsbruck 2011, S. 100. ** Siehe Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich. Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte 2, Wien/Salzburg 1983, S. 6 sowie 60 Seiten Anhang.

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Das ehemalige Kommandanturgebäude. Aufnahme aus den 1960er-Jahren. Bildnachweis: DÖW Wien

1984 wurde ein erstes Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti im burgenländi- schen Lackenbach errichtet. Im Bild: Der Wiener Sinto Josef Fojn bei der Enthüllung des Roma-Gedenksteines in Lackenbach im Oktober 1984. Bildnachweis: Privatarchiv Erika Thurner

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Bundespräsident Rudolf Kirchschläger bei der offiziellen Gedenkfeier in Lackenbach, Oktober 1984. Bildnachweis: Privatarchiv Erika Thurner anderen fünf anerkannten Volksgruppen war im Dezember 1993 erfolgt. Dieser wichtige Schritt in Richtung gesellschaftliche Aufwertung und rechtliche Besserstellung der klei- nen österreichischen Roma-Bevölkerungsgruppe (geschätzte 0,01 bis 0,03 Prozent der Gesamtbevölkerung) passierte damals allerdings ohne großes Medien-Echo.26 Dagegen lenkte ein schreckliches Ereignis, geschehen im Februar 1995, nicht nur das nationale, sondern internationales Interesse auf die Lebensverhältnisse von Roma in Österreich. Ein Rohrbombenanschlag in Oberwart, bei dem vier junge Roma wenige Meter von ihrer Siedlung entfernt ermordet wurden, war das zweite und größte politische Attentat in der Zweiten Republik. Durch diesen Vorfall kamen ignorierte Fakten und Versäumnisse erstmalig ans Licht. Reporterteams und JournalistInnen aus der ganzen Welt strömten ins Burgenland und berichteten über die dort existierende Roma-Siedlung. Hässliche, bis dahin kaum gekannte Österreich-Bilder gingen damals um die Welt. Damit

26 Rudolf Sarközi, „Wir sind Österreicher“, in: Geschriebenstein, Sondernummer, 22/23 (1995), S. 8; ders., Roma. Österreichische Volksgruppe. Von der Verfolgung bis zur Anerkennung, Klagenfurt/Celovec 2008, S. 37ff.

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wurde ein verdrängter Teil österreichischer Geschichte und Realität öffentlich. Die bis dahin weitgehend ignorierte Existenz von Roma in Österreich (geschätzte 12.000 bis 25.000), die jahrzehntelange Tabuisierung der Geschichte ihrer nationalsozialistischen Verfolgung (mit nur 15 Prozent Überlebenden), ihre viel zu spät erfolgte Anerkennung als NS-Opfer.27

Stefan Horvath wurde durch das traumatische Erlebnis des Bombenattentats – er hat damals seinen Sohn Peter verloren – zum Schriftsteller („Ich war nicht in Auschwitz“ 2003, „Katzenstreu“ 2008). In „Atsinganos“ 2013 bearbeitet er literarisch die Entwicklung der Oberwarter Siedlungen, liefert biografische Skizzen von Bewoh­ nerInnen und beschreibt den Existenzkampf von NS-Überlebenden und ihrer Nachkommen. Bildnachweis: Horst Horvath, Oberwart

Erstmalig in der Geschichte der Roma gab es 1995 allerdings Anteilnahme am erlittenen Leid: Empörung über die Mordfälle, die Teilnahme der gesamten österreichischen Bun- desregierung am Begräbnis der Ermordeten, Interesse für die Benachteiligungen dieser

27 Beiträge in: Geschriebenstein (1995), wie Anm. 26.

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verschwiegenen, in die Anonymität gedrängten Minderheit. Zusicherungen von Seiten der Politik, in Zukunft Diskriminierungen entgegenzusteuern und integrative Schritte zu setzen, wurden zwar nicht umgehend realisiert, das Faktum, dass viele Roma auch in Österreich unter prekären Existenzbedingungen leben, aber nicht mehr ignoriert. Dafür sorgten zum einen die durch das Volksgruppengesetz erworbenen Möglichkeiten: so die Einrichtung eines eigenen Volksgruppenbeirates für Roma; die Gründung und Etablie- rung von Eigenorganisationen sowie die Einbindung von Roma-Vertretern in den Dach- verband des Österreichischen Volksgruppenzentrums in Wien.

1989 bis 2009: 20 Jahre Roma-Bewegung in Österreich

Ab Sommer 1989 formierten sich die ersten Roma-Vereine, die die Basis für den vom Volksgruppengesetz erforderlichen Nachweis lieferten, dass Roma eine „in Teilen des Bundesgebietes wohnhafte Minderheit sind, die die österreichische Staatsbürgerschaft, aber eine eigene Muttersprache und eigenkulturelles Volkstum besitzen“. Damals wag- ten erst wenige Roma den Schritt in die Öffentlichkeit, agierten mit Vorsicht und Angst – Angst, dass sie durch ihr eigenes Outing als Roma ihren oder den Arbeitsplatz von Familienmitgliedern gefährden, dass sie – durch ihr Engagement – Aufmerksamkeit auf sich und ihre Verwandtschaft ziehen und letztlich Benachteiligungen für alle riskieren. Befürchtungen, die zu innerfamiliären Auseinandersetzungen führten und die auch von unterstützenden Nicht-Roma durchaus ernst genommen wurden. Unterstützung erhielten aufbruchsbereite Roma in Österreich nicht nur von Einzel- personen und AktivistInnen aus unterschiedlichsten Sozialbewegungen (von der entste- henden Zivilgesellschaft), sondern auch durch Roma-Eliten aus Süd-Osteuropa. Dies erfolgte bei internationalen Tagungen, dies erfolgte durch aus dem Osten geflohene und migrierte Roma, die die bis dahin „defensive Westszene“ belebten. Das erste Produkt dieser Aktivitäten, der im Juli 1989 im Burgenland gegründete „Verein Roma Oberwart“, setzte sich aus Roma jeden Alters zusammen – Überlebende des NS-Holocaust, Nachkriegsgeborene, aber auch junge Roma aus der Enkelgeneration. Sie alle wollten das Leben im Verborgenen, das Identitätsversteckspiel, die Zurückwei- sungen der Gesellschaft nicht mehr akzeptieren – auch um die Gefahr, sich noch größere Ächtung einzuhandeln:

40 Roma in Europa, Roma in Österreich

Es waren junge Roma, die vor 20 Jahren in den Oberwarter Diskotheken Lo- kalverbot erhielten. Sie trafen sich dort vorwiegend an Wochenenden. (…) Es genügte nur die dunkle Hautfarbe. Eine Gruppe dieser Jugendlichen ließ sich dies nicht gefallen und brachte eine Beschwerde beim damaligen Bundespräsi- denten ein. (…) Tatsächlich hat es dieses Lokalverbot gegeben. Aber was viel schwerer wog, war die leidvolle Erfahrung einer damals jungen Roma-Gruppe, die endlich was unternehmen wollte gegen Abstempelung und Ausgrenzung.28

Dies war der Anfang. Weitere Vereinsgründungen folgten: 1991 „Romano Centro“ sowie der „Kulturverein österreichischer Roma“, beide mit Sitz in Wien. Noch 1993 konnte sich in Villach kurzfristig ein erster Sinti-Verein etablieren (bis zum Tod des Obmanns Hugo Taubmann). 1998 ist das Gründungsjahr des „Vereins Ketani“ in Linz. Dieser obe- rösterreichischen Einrichtung ging es zum einen darum, auch und vor allem die bis da- hin kaum berücksichtigen Sinti/Roma im westlichen Österreich zu vertreten, aber auch beratend und unterstützend Roma-Flüchtlingen in der Region zur Seite zu stehen, so die Vereinsgründerin und langjährige Geschäftsführerin Rosa Martl.29 Zudem erweitert seit 2004 der „Verein Roma-Service“ in Kleinbachselten (Obmann: Emmerich Gärtner- Horvath) den Output und die Reichweite von kulturell-sprachlichen Tätigkeiten im Bur- genland. Heute publiziert nahezu jeder Verein periodisch (vierteljährlich) sein eigenes Medium. Die ein- oder zweisprachigen Zeitungen (Romanes/Deutsch) verstehen sich als Informationsorgane für Roma-Communities ebenso wie für alle Interessierten in den Mehrheitsgesellschaften.30 Die Anfangsphase war durch die Bemühungen rund um die Volksgruppen-Anerken- nung geprägt, getragen vom „Verein Oberwart“ und vom „Kulturverein österreichischer Roma“, aber auch unterstützt von „Romano Centro“.31 Schon damals, 1989 und in den Folgejahren, setzten sich alle Institutionen ein breites Betätigungsfeld. Soziale sowie schul-, bildungs- und arbeitsmarktpolitische Bedürfnisse hatten zunächst Priorität, er-

28 Romani Patrin 2, 2009, S. 7. 29 Jahresberichte der Vereine; Materialiensammlung der Verf. 30 Zeitschriften der Vereine: Romano Kipo, Romano Centro, Romani Patrin und dROMa. Berichte und Analysen zu den Vereinen und ihren Organen in: Iris Höller, Die Bedeutung der österreichischen Roma- und Sinti-Vereine für die Integration der Volksgruppe in die Gesellschaft, Diplomarbeit, Innsbruck 2005; Nadine K. Bischof, Roma und Sinti in der medialen Öffentlichkeit in Österreich, Diplomarbeit, Innsbruck 2008. 31 Durch die Einbindung des Romano Centro in alle Aktivitäten, auch in jene rund um die Volksgruppenanerkennung, versuchten die AktivistInnen, die durch das Volksgruppengesetz gesetzte Spaltung – zwischen autochthonen Roma und MigrantInnen – zu verkleinern.

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Rosa Gitta Martl, Gründerin des Linzer Vereines „Ketani“, bei der Verleihung des „Goldenen Verdienstzei- chens der Republik Österreich“ im Oktober 2013 durch den oberösterreichischen Landeshauptmann Josef Pühringer (rechts im Bild; links: LHStv. Josef Ackerl). Bildnachweis: Verein Ketani, Linz folgten aber immer in Parallelität mit den diversen kulturellen und soziohistorischen Ak- tivitäten. Re-Ethnisierung, Revitalisierung und Kodifizierung von Kulturgut und Spra- che, die Auseinandersetzung mit Geschichte und Vergangenheit – zur Identitätsfestigung nach innen, zur Hebung des Selbstwertgefühls nach außen.32 Mittlerweile sind weitere Vereine entstanden, die sich mit Kultur, Sprache und/oder Bildungsaufgaben befassen (z. B.: Romano Drom, Voice of Diversity, Verein der Volkshochschule der burgenländi- schen Roma).

Das neue öffentliche Auftreten von Roma hat mehrere Fakten deutlich gemacht: • die Heterogenität der in Österreich lebenden Roma-Bevölkerung; • die bis dahin auch von InsiderInnen unterschätzte Anzahl der in Österreich lebenden Roma. D. h. es gab wenig Wissen über den Roma-Anteil in den MigrantInnen- und

32 Vgl. dazu die Diplomarbeiten von Höller und Bischof, wie Anm. 30.

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Flüchtlingsmilieus. Tatsächlich weist eine Mehrheit der Roma in Österreich Migra- tionshintergrund auf, das bedeutet: die Alteingesessenen – die autochthonen Roma – sind Minorität in der Minderheit. • Weiteres Faktum: ein Teil der Roma-Bevölkerung ist – aufgrund erfolgreicher Berufs- verläufe – durchaus integriert/teilintegriert und lebt überdurchschnittlich gut. • Keine neue Erkenntnis, aber nach wie vor aktuell: viele Roma – vor allem die „Gast- arbeiter-Roma“ – machen ihre Zugehörigkeit zur Ethnie nicht öffentlich. • Eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen – unabhängig davon, ob sie sich als Roma zu erkennen geben – ist im Bildungs- und Ausbildungsprozess benachteiligt. Deren überproportionale Abschiebung in Sonderschulen hat/te auch in Österreich Tradition und kann als Begleitmotiv für schlechte Berufsaussichten gewertet werden.

Österreichische Roma-AktivistInnen und anerkannte Leitfiguren

Entsprechend den Hierarchien – sowohl in der Roma- als auch in der Mehrheitsgesell- schaft – haben in der Anfangsphase vorwiegend Männer die Vereinsgeschäfte geführt und Führungspositionen für sich reklamiert. Die Rekrutierung des „Personals“ war we- der Ritual noch ausgeklügeltes System, sondern erfolgte sehr pragmatisch. Wer da war und aktiv werden wollte, hatte Chancen. Schon deshalb, weil die Roma weder auf eine Bildungselite, noch auf Honoratioren oder auf Menschen mit Erfahrungen in allgemei- nen politischen Vertretungskörpern zurückgreifen konnten. Nur ein einziger Rom hat seine politischen Erfahrungen und entsprechendes Know-how in den neuen Aktivitäts- raum Volksgruppen- und Minderheitenpolitik eingebracht: Rudolf Sarközi – 1944 im NS-Anhaltelager Lackenbach als Sohn eines Wiener Sinto und einer burgenländischen Romni geboren. Sarközi war vor seinem Outing als Rom jahrzehntelang in der sozia- listischen Gewerkschafts- und Parteipolitik sowie in der Wiener Gemeindepolitik en- gagiert, zunächst als Leiter einer SPÖ-Sektion; ab März 2001 Bezirksrat im 19. Wiener Gemeindebezirk. Durch seine Zugehörigkeit zur gleichen Parteisektion, der auch der SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky und später Franz Vranitzky angehörten, geriet Sarközi nah an politische Einflusssphären. Dies gab ihm die Möglichkeit – sozusagen auf gleicher

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Augenhöhe, – von Genosse zu Genosse wichtige Anliegen der österreichischen Roma an die richtigen politischen Orte zu tragen.33 Daneben konnten all diejenigen, die in den bewegten Wochen und Monaten, seit dem Sommer 1989, zur Stelle waren, sich einbringen und nach und nach auch Positionen be- setzen. Trotz eingeschliffener patriarchaler Muster waren es nicht wenige Frauen, die sich im Prozess des „Learning by doing“ vereins- und gesellschaftspolitisches Können an- eigneten. Hohe Einsatzbereitschaft, Verlässlichkeit, Durchsetzungs- und Beharrungsver- mögen von Frauen und Männern, von Roma und Nicht-Roma, haben dazu geführt, dass „20 Jahre Roma-Bewegung“ in Österreich als Erfolgsgeschichte gefeiert werden konnte. „Wir haben viel erreicht, aber die Herausforderungen sind nicht kleiner geworden“, so der allgemeine Tenor anlässlich der „Oberwarter Jubiläumstagung“.34 Susanne Bara- nyai, Gründungsmitglied, langjährige Obfrau und heute Berufs- und Sozialpädagogin im Verein Roma, verweist auf die veränderte Bildungssituation der Kinder. Die systemati- sche Bildungsverweigerung für Roma-Kinder gehört der Vergangenheit an. Durch die angebotene außerschulische Lernbetreuung in Oberwart und den Abbau von Vorurteilen konnte erreicht werden, dass kein einziges Roma-Kind aus der Region die Sonderschule besucht. „Matura und Studium sind für unsere Jugend keine unüberwindbaren Barrie- ren mehr.“35 Die kulturelle Präsenz und das über Sprachprojekte und -kurse gewonne- ne Selbstbewusstsein stehen ganz oben auf der Positivbilanz. Dagegen zählt die erst z. T. gelungene Integration von Roma in den (regionalen) Arbeitsmarkt zu den weiterhin großen Herausforderungen, zumal die jüngere Wirtschaftsentwicklung (Neoliberalismus, Finanzkrise) bereits Funktionierendes erneut erschüttert. Erich Schneller, unterstützender Nicht-Rom seit den frühen 1980er-Jahren, schreibt im Editorial der Zeitschrift „Romani Patrin“ (2/2009):

Vor zwei Jahrzehnten ging ein Ruck durch die Welt. Europa wurde neu geord- net. Und auch im Burgenland fiel eine Mauer. Die Gründung des Oberwarter Romavereins war der Anfang vom Ende der Ausgrenzung und Selbstverleug- nung einer ganzen Volksgruppe. Auch wenn es seither immer wieder Ver-

33 Sarközi, Roma. Österreichische Volksgruppe, wie Anm. 26. 34 Geburtstagsfest im Vereinshaus, in: Romani Patrin, 2 (2009), S. 4–9. 35 Ebd. S. 9.

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suche gegeben hat, diese Mauer wiederzuerrichten, es wird nie wieder so sein wie vorher.36

Diese erfolgreiche Entwicklung spiegelt sich in so mancher Biographie von Roma-Ak- tivistInnen wider. So konnte sich bspw. Susanne Baranyai in Verbindung mit ihren Ver- einsfunktionen auch beruflich qualifizieren. Nicole Sevik, schon früh durch das Enga- gement ihrer Mutter, Rosa Gitta Martl, politisiert, führt heute die Vereinsgeschäfte von „Ketani“. Beide Frauen arbeiten zudem als KZ-Guide in Mauthausen und sind gefragte Referentinnen in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Eine andere Romni, Mirjam Ka- roly, unterstützt nicht nur die Volksgruppenarbeit der Roma in Österreich (2014 wurde sie schon zum dritten Mal in den Volksgruppenbeirat gewählt), sondern hat es bereits auf internationales Parkett geschafft. Im Jahr 2007 wurde sie zur OSZE-Beraterin für Minderheiten/Roma-Fragen in Priština ernannt, 2009 übernahm sie eine entsprechen- de Funktion in Warschau. Die Politikwissenschafterin hat es sich zum Ziel gesetzt, die gesellschaftliche Integration von Roma-Frauen, deren stärkere Sichtbarkeit und Berück- sichtigung in der Politik voranzutreiben. Für sie selbst – als gebildete jüngere Frau – gilt es als normal, Positionen in Politik und Öffentlichkeit zu übernehmen. Dennoch weiß sie sehr wohl, dass sie als Frau vorsichtig und diplomatisch agieren muss, um den männ- lichen (Allein-)Vertretungsanspruch in Schach zu halten.37 Mit viel Diplomatie und Charme haben in der Vergangenheit ältere Romnija gearbei- tet, um traditionelle Grenzen zu überschreiten und den Gang in die Öffentlichkeit zu wagen. Die 1933 geborene, aus einer Familie reisender Lovara stammende Ceija Stojka war die erste österreichische Romni, die ihre KZ-Erinnerungen zu Papier brachte und 1988 mit Unterstützung von Karin Berger publizierte. Damit beging sie damals mehrere Tabubrüche, outete sich als Angehörige der Roma und betrat als Frau einen öffentlichen Raum, der ihr – als Frau, als Romni – nicht zustand.38 Tatsächlich hat sie durch ihr litera- risches und künstlerisches Engagement viel dazu beigetragen, die Mauer des Schweigens und der Abgrenzung zu Fall zu bringen. Im Oktober 2009 wurde sie als erste Romni mit dem Professor-Titel ausgezeichnet. Vor ihr erhielten diesen österreichischen Berufstitel

36 Romani Patrin, 2 (2009), S. 3. 37 Interview mit M. Karoly, in: Romano Centro, 65/66 (2009), S. 18–21. 38 Beate Eder-Jordan, Nachwort zur tschechischen Ausgabe von Ceija Stojkas „Wir leben im Verborgenen“: Beate Eder- Jordan, Celistvost uměleckého díla Ceiji Stojky, in: Ceija Stojka: Žijeme ve skrytu. Vyprávění rakouské Romky, Prag 2008, S. 115–125. Manuskript im Besitz der Verf. C. Stojka verstarb Ende Januar 2013 in Wien.

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bereits drei Männer aus der Roma-Community: Ceijas verstorbener Bruder, der Maler Karl Stojka, sowie Rudolf Sarközi. Diese symbolische Aufwertung wurde zudem Mozes F. Heinschink zuteil, Romafreund und international anerkannter Fachmann für Sprache und Kulturen der Roma.39 In Volksgruppen-Fragen ziehen alle an einem Strang, pflegen gute Kontakte zu den anderen Gruppen und zum zuständigen Referat im österreichischen Bundeskanzleramt. Ein kleiner, nicht nur Roma betreffender Erfolg: Im Jahr 2000 wurde „das Faktum der historisch gewachsenen kulturellen, sprachlichen und ethnischen Vielfalt“ in die Ver- fassung eingeschrieben und damit der Erhalt auch der autochthonen Minderheiten als österreichisches Staatsziel formuliert.40

Nationale Roma-Strategien – ein Gebot der Stunde

In den letzten Jahren stellt der stärker werdende Antiziganismus nationale und interna- tionale Politiken vor neue Herausforderungen. Die prekären Verhältnisse in den neu- en EU-Mitgliedstaaten lassen auch die „alten Länder“ nicht zur Ruhe kommen. Überall steigt die Anzahl von Zuwanderern und Flüchtlingen. Die Mehrheit stammt aus Ru- mänien und Bulgarien, viele kommen aus der Slowakei, aus Polen oder Ungarn. Vor allem rumänische Roma wählen Italien und Frankreich als Zielländer. Hierbei wirkt die Sprachverwandtschaft – Rumänisch ist eine romanische Sprache – als wichtiges Motiv. Doch die Politik in diesen Ländern reagiert abweisend: ethnische Stigmatisierung und Zwangsausweisungen sorgten EU-weit für Aufsehen. Während im Sommer 2008 eine Fingerprint-Aktion in Italien durch internationale Protestnoten gestoppt wurde41, ver- hinderte im August 2010 das Einschreiten der EU-Kommission Massenabschiebungen aus Frankreich. Der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy musste sich vor der Kommission verantworten und zur Kenntnis nehmen, dass nicht die Roma – zu diesem

39 Der Romist und Autodidakt Mozes F. Heinschink ist mit seinem großen Wissen nicht nur der beste Kenner der österreichischen Roma-Sprachen und Dialekte, seine Kenntnisse und Erfahrungen gehen weit über den süd-/ südosteuropäischen Raum hinaus, reichen z. B. in die Türkei hinein. Obwohl ein Gadscho (Nicht-Rom), wird er von den Roma als einer der ihren angesehen. Vgl. „70 Jahre Mozes Heinschink”, in: Romano Centro, 65/66 (2009), S. 8–11. 40 Art. 8 der österr. Bundesverfassung. Bericht der Republik Österreich gemäß Art. 25 Abs. 1 des Rahmenüberein­ kommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Wien, 30. Juni 2000, S. 3. 41 Zuständig war Innenminister Robert Maroni/Lega Nord im Kabinett Berlusconi IV.

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Zeitpunkt bereits EU-Bürger – französisches oder europäisches Recht verletzten. Viel- mehr sah sich Frankreich veranlasst, weitere Zwangsrückführungen einzustellen, um ein EU-Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden. Durch diese öffentliche Maßregelung der „Grande Nation“ und die Beharrlichkeit von Justizkommissarin Viviane Reding wurden nicht nur Frankreich, sondern auch an- deren Mitgliedstaaten Grenzen aufgezeigt.42 Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass eine Anything-goes-Politik gegenüber der Roma-Minderheit einen Höhepunkt überschritten hatte, und dass Anti-Roma-Rhetorik in der offiziellen Politik nicht mehr toleriert wird. Stattdessen trat die nationale Roma-Strategie auf den Plan, ein EU-umspannendes Vorhaben, das die Inklusion der Roma in ihre Gesellschaften zum Ziel hat. Die über- wiegende Mehrheit im EU-Parlament stimmte dem von der ungarischen Abgeordneten Lívia Járóka vorgelegten Entwurf zu43, der Rat empfahl seine dringliche Umsetzung und die europäische Grundrechte-Agentur überwacht die Durchführung44. Finanzielle Interventionen (EU-kofinanzierte Projekte) hat es schon bisher gegeben. Bei dieser nationalen Strategie ist zwar auch viel Geld im Spiel, doch eine ausgeklügelte Konzeption fordert die Mitgliedstaaten zur Selbstverpflichtung auf und bindet unter- schiedlichste AkteurInnen auf allen politischen Ebenen – und ganz zentral und partizipa- tiv – auch Roma-VertreterInnen in die Projektgestaltung und deren Umsetzung ein. Bis 2020 sollen erste positive Bilanzen präsentiert werden. Ein (fast zu) großes Vorhaben, das nur bei parallel gesetzter intensiver Aufklärungs- und Antidiskriminierungsarbeit ge- lingen kann.

42 Schon vor der „Frankreich-Affäre“, seit ihrem Amtsantritt als Vizepräsidentin der Kommission, hat Reding der Roma-Integration hohe Bedeutung beigemessen, konnte aber – durch die Ignoranz nationaler PolitikerInnen – wenig bewirken. Schon deswegen setzte sie ab 2010 das Thema ganz oben auf die politische Agenda, verpflichtete EU- Kommission, Parlament und nationale Regierungen zum Handeln. Vgl. Roma-Inclusion. United in diversity, in: The Parliament. Politics, Policy and People Magazine, Issue 327, 2 May 2011, S. 18–27. 43 Damals übernahm Ungarn die Ratspräsidentschaft und überantwortete Lívia Járóka die Ausarbeitung des Strategie­ planes. 44 Zur Tätigkeit der Grundrechte-Agentur : The situation of Roma in 11 EU Member States. Survey results at a glance, Luxemburg, Publications Office of the European Union, 2012.

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1988, noch bevor das Wissen um den NS-Holocaust in Österreich weite Verbreitung fand, wurde das Schick- sal von Sidonie Adlersburg vom österreichischen Schriftsteller Erich Hackl in seinem Roman „Abschied von Sidonie“ öffentlich gemacht. 1990 folgte die Verfilmung „Sidonie“ (Regie Karin Brandauer). Sidonie, 1933 auf der Landstraße bei Altheim/OÖ. geboren, wurde ihren Pflegeeltern weggenommen, um sie 1943 gemeinsam mit ihrer Herkunftsfamilie, die sie nie kennengelernt hatte, ins KZ zu verfrachten. Sidonie starb kurz nach der Ankunft in Auschwitz. In Sierning-Letten, der Heimatgemeinde der Pflegeeltern, gibt es heute einen Sidonie- Adlersburg-Kindergarten und am Vorplatz dieses berührende Denkmal von Gerald Brandstötter. Im Bild: Erich Hackl im Mai 2010 anlässlich einer Studienexkursion. Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

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Dieses Sidonie-Faltbild hängt in dreifacher Ausführung in der zentralen Aula der Fachhochschule für Soziales in Linz, entworfen und gestaltet von Elisa Treml. Sie war Gewinnerin eines von der Kunstuniversität Linz 2005 veranstalteten Wettbewerbs. Die Idee zum Projekt stammt von Frau Professor Marianne Gumpinger, Leiterin des Studienganges Soziale Arbeit. Die drei großen Faltbilder – eine Ansicht zeigt jeweils das Gesicht von Sido- nie, die andere gezeichnete Kinderporträts – beherrschen die Aula als ständige Wandinstallation. Bildnachweis: Fachhochschule Oberösterreich, Linz.

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„Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmen- wechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Der romantisierende und rassistische Diskurs über Roma und Romnja prägt seit Jahr- hunderten Literatur, Kunst und Gesellschaft. „Europa erfindet die Zigeuner“1, betitelt Klaus-Michael Bogdal sein 2011 erschienenes Buch zum Thema der europäischen Ge- schichte der Ausgrenzung der Roma – und das zu Recht. Roma, Travellers und eine mit den Jahren wachsende Zahl von Nicht-Roma haben vor mehreren Jahrzehnten damit begonnen, ein Europa zu erfinden und zu imaginie- ren, das auch eines der Roma und Travellers ist. Es setzte eine Umbruchsphase ein, ein Paradigmenwechsel im gesellschaftspolitischen, kulturellen, künstlerischen und wissen- schaftlichen Bereich, der sich auf Roma bezieht. In vielen Ländern ergriffen Roma und Romnja, nach jahrhundertelangem Schweigen, die Stimme. Sie sprechen, performen und schreiben „zurück“, um hier auf eine berühmte Formel des postkolonialen Diskurses anzuspielen („The Empire writes back“2). „Imagining it otherwise“3, es sich anders vorstellen: Der Impetus zu künstlerischem Schaffen und die Bereitschaft zur Arbeit in Initiativen und Vereinen entspringen in vielen Fällen dem Wunsch und der Sehnsucht nach einer Veränderung der Situation, in der sich Roma und Travellers befinden. Diese Bewegung des „imagining it otherwise“ ist breit gestreut, stark, unübersichtlich, uneinheitlich, umspannt die europäischen Länder sowie

1 Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011. 2 Im postkolonialen Diskurs verweist die von Salman Rushdie ausgegebene Formel „The Empire writes back“ auf die „Gegenbewegung einer Literatur (…), die von der anderen Seite des Planeten her dem bislang dominanten eu- ropäischen Kanon den Rang streitig macht.“ Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart/Weimar 2008, S. 589. Romani-Literaturen – auch sie stellen eine Gegenbewegung dar – leben allerdings nach wie vor meist „im Verborgenen“. 3 Vgl. den Aufruf des Arts & Culture Program des Open Society Institute (OSI) aus dem Jahr 2009, in dem dazu aufgefordert wird, Projektvorschläge für den zweiten Roma Pavillon auf der Biennale in Venedig 2011 einzureichen: „The Second Roma/Gypsy Pavilion offers the possibility of engaging artistically with the world in the framework of these issues, but also, and perhaps more importantly, moving further towards imagining it otherwise.“ http://www. roma-service.at/dromablog/?p=4554 (Zugriff 1.10.2013).

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einige außereuropäische. In dieser Bewegung engagieren sich Roma, Travellers sowie – inzwischen auch – viele Nicht-Roma. Womit hat es der Gegendiskurs zu tun? Er begehrt auf gegen Verfolgung, Diskriminierung und jahrhundertelang tradierte symbolische Re- präsentationen.

Die symbolischen Repräsentationen der Romvölker, die Bilder, die man sich von ihnen macht, und die Geschichten, die man über sie erzählt, sind schon in den Stadtchroniken entscheidender für ihre soziale Verortung als die Eth- nie ‚an sich‘. Selbst der Rassismus des 20. Jahrhunderts, der überzeugt davon ist, sich den ‚Zigeuner-Körpern‘ zuzuwenden, greift auf nichts anderes als auf diese Repräsentationen zurück, denen er ein paar dürftige biologische Daten beimischt. Nicht die biologische Begründung, sondern das, was man schon immer über die Zigeuner weiß, verschafft den todbringenden Aussa- gen des Rassismus Plausibilität. Gewalt richtet sich diskontinuierlich und mit unterschiedlicher Intensität gegen die Romvölker, die Definitionsmacht der kulturellen Repräsentationen durchdringt kontinuierlich die europäische Ge- sellschaft und schreibt sich in deren Gedächtnis ein.4

Die „bloße Existenz der Romvölker“ wird, so Bogdal, „als allgegenwärtige Bedrohung empfunden“, als „tödliche Gefahr“, die „in Bildern des verschlagenen Wilden, des Raub­tiers, des Seuchenträgers, der triebhaften Kreatur präsentiert“ wird.5 Ein Zusam- menleben mit Roma wird als unmöglich erachtet, Bogdal spricht hier von „scheinbar rationale(n) Überlegungen“ und einer „gegen jede Erfahrung resistente(n) Gewissheit“. „Wandertrieb, fehlende Ausdauer und zivilisatorische Rückständigkeit würden ohnehin zum Scheitern jedes Integrationsversuchs führen.“6 Die „zivilisatorische Entwicklung Europas“ geht einher mit einer „Enteuropäisierung der Romvölker“. „‚Zigeuner‘ wer- den deshalb bis heute nicht als Teil der vielgestaltigen europäischen Völkergemeinschaft wahrgenommen. Nicht Ähnlichkeiten oder der kleinste gemeinsame Nenner interessie- ren, sondern die größtmöglichen Unterschiede.“7

4 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 482. 5 Ebd., S. 480. 6 Ebd., S. 481. 7 Ebd., S. 481f.

52 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Diese Beschreibung und Analyse des Status Quo erscheinen erdrückend. Lassen sich „gegen jede Erfahrung resistente Gewissheit(en)“ ändern? Im Folgenden sollen Informa- tionen zu einigen Bewegungen gegeben werden, in deren Rahmen kulturelle Repräsenta­ tionen entwickelt werden, die sich den verachtenden Diskursen entgegenstellen. Ich greife einige Beispiele heraus: Ich gebe einen kurzen Einblick in die Entwicklung der Literaturen der Roma, berichte von der Arbeit der Autorin und Künstlerin Ceija Stojka (1933–2013) mit SchülerInnen und StudentInnen, gehe auf das Konzept der „Gadjology“ der Musi- kethnologin und Roma-Aktivistin Petra Gelbart ein, analysiere das Gedicht „Identity“ des britischen Roma-Autors Charles Smith und verweise auf das literarische und gesellschafts- politische Schaffen der jenischen Autorin Sieglinde Schauer-Glatz.

Die Literatur

Im 20. Jahrhundert begannen Menschen, die sich Romani-Communities zugehörig füh- len oder ihnen zugerechnet werden, damit, literarische Werke zu produzieren. Frühe lite- rarische Strömungen – vor dem Zweiten Weltkrieg – gab es u.a. in der Sowjetunion und in Rumänien.8 Auch das erste Buch Matéo Maximoffs, des wohl bekanntesten Roma- Schriftstellers, wurde vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Veröffentlicht wurde die auf Französisch verfasste Erzählung „Les Ursitory“ im Jahr 1946.9 Wie so viele andere Strömungen in Wissenschaft und Kunst kamen auch erste litera- rische Bewegungen der Roma in den 1930er- und 1940er-Jahren durch Druck, Zwang, Verbote und Verfolgungsmaßnahmen zum Erliegen. Nach 1945 begannen einige Roma und Romnja – wieder oder erstmalig – mit dem Schreiben. Es sind vereinzelte Stimmen aus unterschiedlichen Ländern, die SchriftstellerInnen kannten jene Roma, die in anderen

8 Franz Remmel, Botschaft und Illusion. Zeugnisse der Literatur der rumänischen Roma, Reşiţa 2007; Beate Eder- Jordan, Literaturproduktion von Roma in Rumänien. Einige Gedanken aus komparatistischer Sicht, in: Julia Bland- fort/Marina Ortrud M. Hertrampf, Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania, Münster u.a. 2011, S. 145-168; Marianna Seslavinskaya, Publication d’auteurs roms contemporains de Russie: „l’intérieur“, „l’extérieur“ et le „vrai Romano“, in: études tsiganes, 43 (2011), S. 128–149, hier S. 129. 9 Die Ursitory, drei männliche Engel, sind die Träger der Macht des Schicksals, sie erscheinen in der dritten Nacht nach der Geburt eines Kindes, um über die Dauer seines Lebens zu bestimmen. Die unausweichliche Gebundenheit an das vorbestimmte Schicksal ist die Hauptthematik der Erzählung. Matéo Maximoff, Les Ursitory, Paris 1946. Matéo Maximoff, Die Ursitory. Übersetzt von Walter Fabian, Zürich 1954. Zu einer Analyse des Textes vgl. Beate Eder, Geboren bin ich vor Jahrtausenden. Bilderwelten in der Literatur der Roma und Sinti. Mit einem Vorwort von Erich Hackl, Klagenfurt/Celovec 1993, S. 154–159, vgl. auch Julia Blandfort, Die Literatur der Roma Frankreichs, Berlin 2015.

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Ländern literarisch tätig waren, meist nicht. In der Literaturwissenschaft wird in solchen Fällen von typologischen Analogien gesprochen. Es entstehen ähnliche Werke aufgrund vergleichbarer – z. B. gesellschaftspolitischer – Bedingungen, obwohl die AutorInnen keine Kenntnis voneinander besitzen. Die Ähnlichkeit der soziohistorischen Kontexte bestand in der tiefgreifenden Erfahrung von jahrhundertelanger Diskriminierung, Ver- folgung und dem Genozid an der Volksgruppe im 20. Jahrhundert.10 Es entstanden in erster Linie lyrische und autobiographische Texte sowie Erzählungen. Seltener wurden Theatertexte und Romane verfasst.

Die Bedeutung der mündlichen Erzähltradition

Viele der literarischen Werke sind dabei stark durch die mündliche Erzähltradition ge- prägt. Die Bedeutung und den Stellenwert der Mündlichkeit beim Übergang zu schriftlich fixierter Literatur – am Beispiel des literarischen Schaffens von tschechischen und slowa- kischen Roma-AutorInnen – analysiert auf spannende Weise die Gründerin der Romistik an der Karls-Universität Prag, Milena Hübschmannová. Für diese auf Romani verfasste Literatur arbeitet Hübschmannová Charakteristika heraus (Die Aufrichtigkeit des Aus- drucks ist für die Texte wesentlich, das Herz „spricht“. / Die Gattungen sind schwer zu bestimmen. Den Nicht-Roma vertraute formale Aspekte fehlen. / In zahlreichen Texten von Roma fehlt aus der Sicht der Gadsche die Pointe. / Roma bewerten die Texte­ danach, ob sie romano čačipen (Wahrheit / Realität) beschreiben, für Gadsche-LeserInnen­ ist dieses Kriterium in keiner Weise relevant. / Geheimnisvolles und Rätselhaftes sind wichtige Elemente in den literarischen Texten. / Bei einigen AutorInnen kommt die Kontinuität von Mündlichem und Schriftlichem durch die Verwendung des divano zum Ausdruck. Durch divano werden bzw. wurden in der mündlichen Erzähltradition die Handlungen von Personen bewertet, nach den Prinzipien und Normen des romipen, der Roma-Kultur. / In der Literatur der Roma wird die Roma-Kultur, romipen, glorifiziert.)11

10 Vgl. Eder, Geboren bin ich vor Jahrtausenden. 11 Milena Hübschmannová, Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma. Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Costa, vgl. Beitrag im vorliegenden Sammelband (das Manuskript wurde 1998/99 in englischer Sprache verfasst); In der tschechischen Fassung: Milena Hübschmannová, Moje setkání s romano šukar laviben, in: Roma- no džaniben, ňilaj (2006), S. 27–60. In der französischen Fassung: Mes rencontres avec le romano šukar laviben, in: études tsiganes 36, Vol. 1 (2009), S. 98–135. Zu Zusammenfassungen von Hübschmannovás Analysen und zu weiteren Aspekten zum Thema Mündlichkeit vgl. Beate Eder-Jordan, Die nationalsozialistische Rassen- und Vernich-

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Hübschmannová geht im Rahmen ihrer Analyse auch auf Rezeptionsschwierigkeiten der Nicht-Roma ein. Sie beschreibt den Roma wichtige, den Gadsche hingegen meist unver- ständliche Aspekte im literarischen Schaffen.

Es sind zwei Dinge, die sie ansprechen, oder zwei Aspekte desselben Dings: zuerst die „magischen Wörter“ wie jilo (Herz)/phuterel o jilo (das Herz öffnen), jekhetane (zusammen), phrala (Brüder), manuš (Mensch), jakha (schwarze Augen – […]) etc. Die Kraft eines Wortes wird in der traditionellen Roma- Gemeinschaft viel mehr geschätzt – ein Wort kann als guter oder böser Zau- ber wirken – und die Wörter, die ich angeführt habe, gehören zu den gu- ten. Manchmal genügt es, ein Wort wie jilo, daj (Mutter), Del (Gott), sem Roma sam! (Wir sind Roma) auszusprechen – und die „Atmosphäre wird gereinigt“. Während der Rom-Leser sehr offen ist für die „magische Kraft der Worte“, ist der Gadžo-Leser ihnen gegenüber „taub“, oder zumindestens taub für viele bare romane lava (große/wichtige Worte der Roma). Und natürlich kann der Gadžo-Leser den dringenden Appell des Gedichtes nicht verstehen, den Wunsch nach gegenseitigem Verständnis, nach Einheit, ein Wunsch, der aus dem verzweifelten Bedürfnis einer Minderheit entsteht, akzeptiert zu werden. Ein Vertreter der Mehrheit „braucht dieses Bedürfnis nicht zu spüren“.12

tungspolitik im Spiegel der Literatur der Roma und Sinti, in: Felicitas Fischer von Weikersthal/Christoph Garstka/ Urs Heftrich/Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Der nationalsozialistische Genozid an den Roma Osteuropas. Geschichte und künstlerische Verarbeitung, Köln 2008, S. 115–167; Beate Eder-Jordan, Oral and written Šukar Laviben of the Roma. The beginning of a Romani literary historiography, in: Daniel F. Chamberlain/J. Edward Chamberlin (eds.), Or Words to That Effect: Orality and the Writing of Literary History, in Vorbereitung zum Druck bei John Ben- jamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia. 12 Hübschmannová, Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma (im vorliegenden Sammelband).

55 Beate Eder-Jordan

Sprachenvielfalt, Unbekanntheit und „selbst-gelehrtes“ künstlerisches Schaffen

In Europa13 sind Hunderte von Roma-AutorInnen/Roma-KünstlerInnen (aus den Be- reichen Bildende Kunst, Theater, Film etc.) aktiv.14 Werke entstehen einerseits in Ro- mani, andererseits in den europäischen Landessprachen.15 Diese Sprachenvielfalt stellt RezipientInnen vor unüberwindliche Hindernisse: Ein einzelner Forscher/eine einzelne Forscherin kann nur einen Bruchteil der literarischen/künstlerischen Aktivitäten über- blicken. Auch sind die Werke der AutorInnen/der KünstlerInnen in vielen Fällen nur in der jeweiligen Region, im jeweiligen Land bekannt und zum Teil nur bei Menschen, die sich für Roma-Kulturen interessieren. Betrachtet man die Situation der Rezeption von Romani-Literaturen, so lässt sich Folgendes sagen: Es fehlen nicht die literarischen und künstlerischen Werke, von einigen Ausnahmen abgesehen, fehlten – bis in die allerjüngste Vergangenheit – die LiteraturwissenschafterInnen, die sie rezipierten. Zum gegenwärti- gen Zeitpunkt kann von der Geburt einer „Romani-Literaturwissenschaft“16 gesprochen werden.17 Der Aspekt der „Unbekanntheit“, der auf Roma-Literaturen zutrifft, erinnert

13 Auch außerhalb Europas gibt es zahlreiche Roma-AutorInnen/Roma-KünstlerInnen. Die große Mehrheit lebt und arbeitet aber in Europa. 14 „In spite of discrimination there are thousands of intellectuals among us.“ Veijo Baltzar, Präsident der International Romani Writers‘ Association (IRWA), http://www.romaniwriters.com/appeal.htm (Zugriff 30.12.2006). Zur Vorbe­ reitung der Gründung der IRWA vgl.: Vorba Romengi – Roma am Wort – The Voice of the Roma. Internationales Treffen europäischer Roma-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller, 17.–19. November 2001 in Köln, http://www. mariellamehr.com/romanipe/roma_lib.htm (Zugriff 10.12.2013). 15 In wie vielen Sprachen sich literarische Texte von Roma finden, könnte der Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Ich vermute, dass in beinahe allen Sprachen, die in Europa gesprochen werden, literarische Texte (teils publiziert, teils nicht publiziert) von Roma-AutorInnen geschrieben wurden. 16 Ob diese Bezeichnung passend ist, sollte diskutiert werden. 17 Vgl. u.a. Rajko Djuric, Die Literatur der Roma und Sinti, Berlin 2002; Beate Eder, Geboren bin ich vor Jahrtau- senden… Bilderwelten in der Literatur der Roma und Sinti, Klagenfurt/Celovec 1993; Beate Eder-Jordan, Mensch sein. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Roma und Sinti. Dissertation, Universität Innsbruck 2005; Hübschmannová, Moje setkání s romano šukar laviben, S. 27–60 bzw. Mes rencontres avec le romano šukar laviben, S. 98–135. Einige Fachzeitschriften widmeten dem Thema Romani-Literaturen eigene Themenhefte: „Oral tradition among the Rom“, lacio drom, supplemento al numero 6, dicembre 1985; „Littérature Romani“, études tsiganes, Vol. 4 (1991); „Les Tsiganes de la littérature. La littérature des Tsiganes“, études tsiganes, Vol. 9 (1997); „Littératures Roma- ni: Construction ou réalité?“, études tsiganes 36 (2009), (gelistet unter 2008, erschienen 2009) und 37 (2009); „Une ou des littérature-s Romani?“, études tsiganes 43 (2011), (gelistet unter 2010, erschienen 2011), Nr. 36, 37 und 43 wurden von Cécile Kovacshazy herausgegeben; Literatur der Roma ist auch in zahlreichen Ausgaben der Zeitschrift Romano džaniben Thema; Paola Toninato, La funzione della scrittura fra i Roma sloveno-croati: un utilizzo diversifi- cato, Tesi di laurea. Trieste, Università degli Studi di Trieste, Facoltà di Lettere e Filosofia 1997; Susan Tebbutt (Hg.), Sinti und Roma in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur, Frankfurt a. M. 2001; Martin Shaw, Narrating Gypsies Telling Travellers: A Study of the Relational Self in Four Life Stories, Umeå 2006; Franz Remmel, Botschaft und Illusion. Zeugnisse der Literatur der rumänischen Roma, Reşiţa 2007; Deike Wilhelm, Wir wollen sprechen:

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an die Situation der bildenden KünstlerInnen, wie sie die ungarische Roma-Aktivistin Ágnes Daróczi beschreibt:

Let me recall the first unstable steps. In summer 1974 my husband and I set out to find János Balázs, a painter whose works had already been known in several countries of Europe. In the railway station of the town of Salgótarján we turned to the first Romany man we met and asked him about the where- ’abouts of the elderly artist, who had lived on his own. „How come that visitors only ask about Uncle János? Why do you think he is the only painter in our community?“ – came the indignant answer. That is how we were introduced to András Balogh Balázs. It was sheer pleasure to see his colourful pictures that showed the hill of Pécskő. And then we met another person we never heard of before: Jolán Oláh – who painted superb portraits on paper she had secretly taken from her children and used paint that her husband left. She showed us her genuinely naive pictures. Those experiences encouraged me to embark on organising the exhibition. In 1978, upon graduating from university, I was ad- mitted to the staff of the Institute of Popular Culture. If a small town like Salgótarján has as many as three painters – I thought – the country as a whole must have numerous unknown or little known artists. It seemed to me a won- derful idea to find them and show their works to the general public.18

Ágnes Daróczi beschreibt die Schwierigkeiten bei den Vorbereitungen zur ersten Aus- stellung im Jahr 1979. „We wished to change the way the public saw Romanies, to free

Selbstdarstellungen in der Literatur der Sinti und Roma, Saarbrücken 2008; Gérald Kurth, Identitäten zwischen Ethnos und Kosmos: Studien zur Literatur der Roma in Makedonien, Wiesbaden 2008; Marianne Zwicker, Journeys into Memory: Romani Identity and the Holocaust in Autobiographical Writing by German and Austrian Romanies, The University of Edinburgh 2009, https://www.era.lib.ed.ac.uk/bitstream/1842/6201/1/Zwicker2010.pdf; Julia Blandfort/Marina Ortrud M. Hertrampf (Hg.), Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania, Berlin 2011; Klaus-Michael Bogdal, vgl. besonders das Kapitel „Mit eigener Stimme. Erinnerungsliteratur der Sinti und Roma“, in: Klaus-Michael Bogdal, Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, S. 442–478; Paola Toninato, Romani Writing: Literacy, Literature and Identity Politics, New York/London 2014; Karolína Ryvolová, Romany Letters in the Making: Testing the Frontiers of Legitimate Literature. A Comparative Analysis of Four Romany Life Stories, Dissertation, Universität Prag 2014; Julia Blandfort, Die Literatur der Roma Frankreichs, Berlin 2015; Lorely French, Roma Voices in the German-Speaking World, New York/London 2015. 18 Ágnes Daróczi, An Introduction to the Third Exhibition, in: Roma Képzőművészek III. Országos Kiállítása 2000. The rd3 National Exhibition of Roma Artists in Hungary, Budapest 2000, S. 6–8, hier S. 6; vgl. auch Eder-Jordan, Mensch sein. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Roma und Sinti, S. 77f.

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them from old stigmas.“19 Die OrganisatorInnen lehnten es ab, die Ausstellung „Roma Naive Painters“ zu nennen, da sie das Wort naiv als irreführend betrachteten und sich auch die „naiven Maler“ von den traditionellen „peasant artists“ unterschieden. „That is why we settled for the term: ‚self-taught‘ because that was true of them all. Those Romani artists were so committed and persevering that neither poverty, nor their unhelp- ful families could dissuade them from carrying on.“20 Hier sind Analogien auf der Ebene der Produktion festzustellen, auch das literarische Schaffen von Roma und Travellers ist in vielen Fällen „selbst-gelehrt“ und auch die Familien der AutorInnen sind oft alles andere als hilfreich.

Peter Wagner, „Spatzo“, mit seinem unvollendeten Manuskript, Belgrad 2003 Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

19 Daróczi, An Introduction to the Third Exhibition, S. 6. 20 Ebd.

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In den vergangenen Jahren hatte ich immer wieder Gelegenheit, mit AutorInnen und deren Werken in Kontakt zu kommen. Die Orte der Romani-Literaturen können seltsam sein. In Belgrad, im Frühjahr 2003, begleitete ich den Romani-Experten Mozes Hein- schink zu seinem Freund „Spatzo“, den Sinto Peter Wagner. Spatzo, von einer Krank- heit schwer gezeichnet, zeigte uns ein altes Manuskript: Es hätte ein Roman über die Geschichte der Roma werden sollen. Vor uns lag ein Stoß vergilbter, beschädigter, eng beschriebener Blätter. Nicht vollendet und nicht vollständig – ein Mitglied seiner Familie hatte vor langer Zeit einen Teil des Manuskripts verbrannt. Die Gründe dafür lassen sich erahnen. Unter ärmlichen, schwierigen Lebensbedingungen kann es, aus der Sicht von Familienangehörigen, wohl sehr frustrierend sein, wenn Zeit und Energie dafür verwen- det werden, „nutzloses Zeug“ aufzuschreiben, für das sich keine Menschenseele interes- siert und das keinen Groschen Geld ins Haus bringt. Spatzo starb einige Monate nach unserem Besuch.21 Spatzo war nicht der einzige schreibende Rom, dem wir in ­Belgrad begegneten.

Die Schwierigkeit der Definition und literaturwissenschaftliche Kategorisierung

Wie lässt sich der Begriff „Romani-Literaturen“ definieren? Romani-Literaturen sind Texte in Romani22 und anderen Sprachen, die von Menschen produziert werden, die sich selbst, unter anderem, als Roma bezeichnen oder die, unter anderem, als Roma bezeich- net werden. Die Betonung in dieser Definition sollte auf „unter anderem“ liegen: Rom- Sein/Romni-Sein ist eine Subjektposition unter vielen. Die Definition, die ich verwende, versehe ich gleich mit einigen Fragezeichen: Wie bei der Definition von Literatur (Ideolo- gien von Gesellschaften entscheiden darüber, was als Literatur anzusehen ist)23, so üben auch bei der Definition von Romani-Literaturen Menschen und Gruppen Macht auf

21 Das Romanmanuskript existiert vermutlich nicht mehr (Auskunft von Mozes Heinschink). 22 Die Bezeichnung „Romani“ für die neuindische Sprache der Roma ist der sprachwissenschaftliche Terminus (analog zu Hindi, Panjabi u.a.). Roma selbst nennen ihre Sprache „Romanes“, „Romani chib“. Vgl. Mozes F. Heinschink, E Romani Čhib – Die Sprache der Roma, in: Mozes F. Heinschink/Ursula Hemetek (Hg.), Roma. Das unbekannte Volk. Schicksal und Kultur, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 110–128. 23 Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart/Weimar 1997, S. 18.

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andere Menschen und Gruppen aus – daher ist der Akt einer Definition problematisch. Wer hat das Recht, zu bestimmen, was Romani-Literaturen sind?24 Ich verwende nicht das Kriterium der Sprache, um Romani-Literaturen zu definieren. Viele Roma schreiben in den Landessprachen, einige von ihnen beherrschen das Ro- mani nicht mehr. In der Definition steckt also eine „ethnische“ Komponente – es sind Roma und Romnja, die schreiben. Im Zentrum der ethnischen Identität stehen Zugehö- rigkeit und Identifikation mit einer bestimmten Gruppe, Interaktionen sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen. Manche Autoren und Autorinnen sind mit der Zuordnung und Etikettierung „Roma-Autor“ nicht glücklich, da die Gefahr besteht, dass ihre Werke nur unter dem Blickwinkel „Roma-Literatur“ bzw. – exotisch – als „‚Zigeuner‘-Literatur“ rezipiert und andere Komponenten ihres literarischen Werks vernachlässigt werden.25 Diesem Problem könnte man entgehen, wenn möglichst viele Facetten der Werke eines Autors/einer Autorin analysiert werden.26 Aus (kultur)wissenschaftlicher Sicht ist es – zu Recht – „out“, sich bei der Definition ethnischer Identität auf essentialistische Qualitäten (Glaube an gemeinsame Abstam- mung, Kultur und Sprache) zu stützen. Im Mittelpunkt der Diskussion steht der Kon- struktcharakter ethnischer Identitäten, der durch Akte der Grenzziehung sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen entsteht. Für viele Romani-KünstlerInnen stellt die ethnische Identität jedoch ein wichtiges Konzept dar, um kulturelle Identität auszudrücken und dient als Mittel, eine Position innerhalb der Gesellschaft zu finden.27 Wie so oft in meiner Beschäftigung mit Romani-Literaturen, finde ich die Einstellung Milena Hübschmanno- vás hilfreich:

24 Vgl. Beate Eder-Jordan, La littérature romani: une aubaine pour la littérature comparée, in: études tsiganes 36, 1 (2009), S. 146-179, hier S. 147ff.; Eder-Jordan, Mensch sein, S. 33–36. 25 Vgl. hier z. B. die Positionen José Heredia Mayas (1947–2010) aus Spanien und Károly Baris aus Ungarn. Eder- Jordan, La littérature romani: une aubaine pour la littérature comparée, S. 148f; Eder-Jordan, Mensch sein. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Roma und Sinti, S. 35f.; Marina Ortrud M. Hertrampf, Camelamos naquerar: Literarische Stimmen spanischer Roma-Autoren, in: Blandfort/Hertrampf (Hg.), Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania, S. 169–188, hier S. 172–174. 26 Zur Problematik der Definition von Romani-Literaturen vgl. besonders Cécile Kovacshazy, Littératures Romani: Cas exemplaire de la littérature-monde? (Illustrations à partir d’auteurs autrichiens), in: études tsiganes 36, 1 (2009), S. 136–145; Toninato, Romani Writing: Literacy, Literature and Identity Politics, S. 71–136; Blandfort‚ Die Literatur der Roma Frankreichs, S. 17–36. 27 Vgl. die Ausführungen von Mario Erdheim zur Bedeutung ethnischer Identität. Mario Erdheim, Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität, in: Psyche, 5 (1992), S. 730–744.

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Die Roma durchlaufen eine historische Phase in ihrer politischen und ethni- schen Emanzipation. Besonders in einem solchen Entwicklungsstadium fin- den sich bei jeder Nation politische und kulturelle Aktivisten, die die anderen „aufwecken“ und ihnen ihre kollektive Identität bewusst machen. Und es ist ganz natürlich und vollkommen legitim, dass Lieder, Gedichte, Literatur für diesen Zweck verwendet werden.28

Hier gilt anzumerken, dass – global gesehen – Texte, die mit dem Ziel verfasst wurden, die kollektive/ethnische Identität zu stärken, auch großen Schaden anrichten und kriegerische Auseinandersetzungen befördern können. In vielen Texten der Roma und Romnja geht es hingegen um eine Stärkung des Selbstwert- und Zusammengehörigkeitsgefühls. Für einen Teil der Roma-AutorInnen/KünstlerInnen ist das Herausarbeiten der ethnischen Identität in Texten und Kunstwerken von Bedeutung, für andere wiederum steht nicht die ethni- sche Identität im Vordergrund, sondern das kritische künstlerische Schaffen.29 Unterschiedliche Entwicklungen der Romani-Literaturen lassen sich im sogenannten „Westen“ und in den ehemals sozialistisch regierten Ländern feststellen. Im „Westen“ lebten Roma „im Verborgenen“30, da es nach 1945 zu keiner Zäsur in Bezug auf Diskri- minierung und Romantisierung kam. Der Holocaust an den Roma und Romnja wurde lange totgeschwiegen, sowohl von der Mehrheitsbevölkerung als auch von Roma selbst. In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu einem der wichtigsten Themen in den Romani-Literaturen/Künsten. In sozialistisch regierten Ländern, in denen Roma als soziale Minderheit betrachtet wurden, führten Zwangsassimilation und damit verbundene Schulbildung „unfreiwillig“ zu einer höheren Alphabetisierungsrate. Das beförderte die Produktion von literarischen Werken, vor allem in den jeweiligen Landessprachen, aber auch teilweise in Romani.31 Dass sich Romani auch als Literatursprache eignet, war für viele Roma und Romnja eine unglaubliche Entdeckung. Auch wenn bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der ehemaligen Sowjetunion auf Romani geschrieben und publiziert wurde, war es für

28 Hübschmannová, Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma (vgl. den Beitrag von Hübschmannová in der vorliegenden Publikation). 29 Beate Eder-Jordan, Œuvres littéraires et artistique des Tsiganes. Une critique interne est-elle possible?, Texte traduit de l’allemand par Catherine Lederbauer, in: études tsiganes 43 (2011), S. 10–29. 30 Vgl. Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, hg. von Karin Berger, Wien 1988. 31 Vgl. Toninato, Romani Writing; Hübschmannová, Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma. Vgl. den Beitrag von Hübschmannová in der vorliegenden Publikation.

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Roma in anderen Ländern, etwa in der Tschechoslowakei der 1960er-Jahre, etwas völlig Neues und Überraschendes. Ihre Muttersprache, von der Außenwelt als Kauderwelsch verunglimpft, konnte verwendet werden, um Gedichte und Erzählungen zu schreiben. In dieser Sprache, die, wie die Roma selbst, kein Prestige besaß, deren Verwendung im öf- fentlichen Raum sanktioniert und die von mehreren Roma selbst abgelehnt wurde, ließ es sich schreiben. Die Ermunterung und Aufforderung zum Schreiben kam in der Tschecho- slowakei von außen, von der Gelehrten und Freundin der Roma, Milena Hübschmannová. Ihre Beharrlichkeit und Begeisterung führten dazu, dass Texte veröffentlicht wurden. Das Zeitfenster Ende der 1960er-Jahre, Anfang der 1970er-Jahre war schmal, für kurze Zeit entwickelte sich, nach dem Prager Frühling, eine lebendige Literatur- und Kulturszene, die jedoch 1973 wieder zum Schweigen gebracht wurde. Erst in den achtziger Jahren, beson- ders nach der sogenannten „Samtenen Revolution“ 1989, bekamen Roma und Romnja wi- eder die Möglichkeit zu schreiben. Hübschmannová spricht von einem explosionsartigen Entstehen von Texten: „Im November 1990 wurde die Vereinigung der Roma-Schriftstel- ler gegründet. Margita Reiznerová wurde zur Vorsitzenden gewählt. Zwischen 1990 und 1992 wurde mehr Roma-Literatur veröffentlicht als in der ganzen 600-jährigen Geschichte der Roma auf dem Gebiet der Slowakischen und Tschechischen Republik.“32 War Milena Hübschmannová daran beteiligt, eine Tradition des Schreibens auf Ro- mani zu begründen? Trifft auf sie zu, was die Musikethnologin Ursula Hemetek in ihrem Beitrag im vorliegenden Sammelband33 anspricht, die „invention of tradition“? Hemetek unterzieht ihre eigenen Forschungen einer kritischen Revision und stellt, bezugnehmend auf Eric Hobsbawm und Terence Ranger, die Frage, inwieweit sie selbst und andere ForscherInnen Tradition und Ethnizität der Roma „miterfunden“ haben. Durch Veran- staltungen, Aufnahmen und Publikationen von Ursula Hemetek wurde zu Beginn der 1990er-Jahre die Vokalmusiktradition der Roma-Gruppe der Lovara in Österreich einem Gadsche-Publikum zugänglich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Lovara ihre musika- lische Tradition nur gruppenintern gepflegt. Hat Milena Hübschmannová die Romani- Literatur in Tschechien und der Slowakei „miterfunden“?34

32 Ebd. 33 Ursula Hemetek, Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung. Vgl den Beitrag von Hemetek in der vorliegenden Publikation. 34 Welch wichtige Rolle Hübschmannová für die literarische Entwicklung vieler SchriftstellerInnen spielte, betonten auch die AutorInnen Gejza Demeter, Emil Cina, Vlado Olah und Hilda Pášová bei einer Diskussion am 27. Mai 2008 im Haus der Minderheiten in Prag. Das Gespräch fand im Rahmen der Exkursion „Kunst und Kultur der Roma“ (organisiert für Studierende der Vergleichenden Literaturwissenschaft der Universität Innsbruck) statt.

62 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Auf die Rolle der Schriftlichkeit innerhalb von Romani Communities geht u.a. Paola Toninato in „Romani Writing: Literacy, Literature and Identity Politics“ ein. Den Bil- dungssystemen der Nicht-Roma wurde mit Misstrauen begegnet, da diese über die Jahr- hunderte hinweg als Machtinstrumente gegen Roma und Romnja eingesetzt wurden, mit dem Ziel, die ethnischen Gruppierungen zu zerschlagen.35 Roma waren sich aber seit ih- rer Ankunft in Europa der Bedeutung von Schriftlichkeit bewusst und nutzten sie, indem sie z. B. Freibriefe von kirchlichen und weltlichen Autoritäten mitführten. Eine positive Bewertung von Schriftlichkeit ist in den letzten Jahrzehnten festzustellen, sie steht in Zu- sammenhang mit dem gesellschaftspolitischen Engagement der Romani-Organisationen. Seit Schreiben für politische Zwecke eingesetzt wird, nimmt das Misstrauen gegenüber der Schriftlichkeit ab.36 Im Juli 2002 wurde in Finnland die International Romani Writers’ Association (IRWA) gegründet. Schriftlichkeit wird u.a. dazu verwendet, um das sprachliche und kulturelle Erbe zu bewahren und zu revitalisieren.37 Literarisches Schreiben von Roma-Frauen ist durch ein „multiples Bewusstsein“38 gekennzeichnet, Ausgrenzung von Seiten der Mehrheitsbevöl- kerung als auch von Seiten der eigenen Gruppe wird thematisiert, z. B. bei Paula Schöpf (Italien), Sandra Jayat (Frankreich) und der jenischen Autorin Mariella Mehr (Schweiz).39 Zahlreiche AutorInnen geraten in Konflikt mit traditionellen Sichtweisen unter den Roma, vor allem „Kritik nach innen“, der eigenen Gruppe gegenüber (u.a. in Bezug auf die Thematisierung von Geschlechtergewalt), findet schwer Akzeptanz.40 Romani-Literatur lässt sich als „kleine Literatur“ charakterisieren.41 Beispiele für lingu- istische Deterritorialisierung42 sind Textstrategien wie Code-Mixing, intertextuelle Brico- lage und Mimikry, die die Funktion einer gegen-hegemonialen Kritik erfüllen, indem sie

Gesprächsleitung und Übersetzung übernahmen MitarbeiterInnen der Prager Romistik. Vgl. „Romani Studies an der Universität Innsbruck? Eine Vision – und Impressionen einer Reise“, http://www.uibk.ac.at/ipoint/news/uni_und_ gesellschaft/601839.html (Zugriff 10.12.2013). 35 Vgl. auch Hübschmannová, Meine Begegnungen (im vorliegenden Sammelband). 36 Vgl. Paola Toninato, The Political Use of Romani Writing, in: Blandfort/Hertrampf, Grenzerfahrungen, S. 85–98, hier S. 86. 37 Toninato, Romani Writing, S. 4. 38 Ebd., S.106. 39 Ebd., S. 106–113. 40 Eder-Jordan, Œuvres littéraires et artistique des Tsiganes, S. 10–29. 41 Vgl. Kovacshazy (bezugnehmend auf Gilles Deleuze und Félix Guattari), Littératures Romani: Cas exemplaire de la littérature-monde?, S. 141-143; mit Einschränkungen: Toninato, Romani Writing, S. 122–125. 42 „Geprägt von den Theoretikern Gilles Deleuze und Félix Guattari, meint der Terminus in kulturkomparatistischer Sicht den Gebrauch von Sprache und symbolischen Codes außerhalb ihres Ausgangskontextes.“ (Evi Zemanek/ Alexander Nebrig (Hg.), Komparatistik, Berlin 2012, S. 256.

63 Beate Eder-Jordan

Ansichten der Nicht-Roma über Roma- ni-Gemeinschaften ins Visier nehmen und einen Akt des Widerstands gegen die Sprache der Mehrheit konstituieren.43 Zwei Stücke des 2010 verstorbenen spanischen Roma-Autors und Litera- turprofessors José Heredia Maya stehen repräsentativ für literarisches/künstle- risches Schaffen der Roma: „Camelamos naquerar“ (Wir wollen sprechen, 1976) und „Macama Jonda“ (tiefe Vereinigung, 1983).44 Das Flamenco-Theaterstück „Camelamos naquerar“ bietet völlig Neu- artiges: Die Verfolgungsgeschichte der Roma wird, 1976, kurz nach Francos Tod, einem staunenden Publikum vor- geführt. Das Stück vereint Gedichte, co- Mariella Mehr, jenische Autorin (Innsbruck, 2009) plas de flamenco, Gesetzestexte, Musik und Bildnachweis: Beate Eder-Jordan Tanz. Nach der Tournee der Gruppe durch Spanien, die durch Bombendrohungen gestört wurde, kam es zur Gründung za- hlreicher Romakomitees und zu Verhandlungen mit der Regierung zur Verbesserung der Situation der Roma. Mit dem Stück „Macama Jonda“ hingegen will Heredia Maya „die Möglichkeit der Begegnung zwischen Menschen und Völkern aufzeigen, symbolisiert in der Hochzeit eines Andalusiers und einer Maurin von Tetuán“45. Zentral in „Macama Jonda“ sind die Musik des Maghreb und die Musik Andalusiens. „In ‚Camelamos naquerar‘ identifizierten sich die Menschen mit dem Problem, in ‚Ma- cama Jonda‘ können sie teilhaben am Wunder des kollektiven, solidarischen und brüder- lichen Festes, das sich auf der Bühne verwirklicht.“46 „Camelamos naquerar“ und „Ma- cama Jonda“ präsentieren sich als zwei Seiten einer Medaille: Kampf und Begegnung, Protest und Versöhnung, Trennung und Bund der Ehe, Macama Jonda/tiefe Begegnung

43 Toninato, The Political Use of Romani Writing, S. 93. 44 José Heredia Maya, Camelamos naquerar, Granada 1976; José Heredia Maya, Macama Jonda, Anel 1983. 45 Heredia Maya, Macama Jonda, o. S. (Übersetzung des Zitats aus dem Spanischen B. E.-J.). 46 Ebd.

64 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

statt Clash of Civilisations. „Camelamos naquerar“ ist aber die Voraussetzung für „Ma- cama Jonda“ – die Vereinigung kann nur nach dem Kampf und dem Protest stattfinden. „Macama Jonda“ präsentiert sich als Zukunftsvision, als Chiffre und Symbol für die Li- teraturen der Roma. Die Texte/Bühnenstücke sind vergangenheits- und zukunftsbezo- gen zugleich und brechen mit dem Erwartungshorizont, nach dem Roma Opfer sind, die es zu bemitleiden gilt.47 Charakteristika von „Camelamos naquerar“ und „Macama Jonda“ sind repräsentativ für Romani-Literaturen/Kunst von Roma insgesamt: Ausei- nandersetzung mit der Verfolgungsgeschichte der Roma (writing back), Abgrenzung von Nicht-Roma verbunden mit Identitätssuche, Bezugnahme auf die indische Herkunft, Dialogizität, interkulturelle Kommunikation, Hoffnung auf friedliches Zusammenleben, „imagining it otherwise“ mit Mitteln der Kunst, Betonung des Mensch-Seins, Steige- rung des Selbstwertgefühls durch künstlerische Arbeit, Verwendung intermedialer, inter- textueller und performativer Strategien, Verwendung von Literatur/Kunst als wirksames Sprechen48 im Sinne Judith Butlers. Literarische/künstlerische Arbeit Heredia Mayas ist nicht nur Teil des politischen Schreibens, sondern Auslöser gesellschaftspolitischer Ak- tivitäten im großen Stil.49 Auch wenn in vielen Texten von Roma und Romnja „exkludierende Grenzziehungen“ und „kulturbewahrende Perspektiven“ dominieren,50 weisen Romani-Literaturen/Roma- ni-Kunst/Schriftlichkeit der Roma ein hohes Potential für den interkulturellen Dialog auf.51 In der Sekundärliteratur werden Analogien und Unterschiede der Romani Literaturen zu „ethnischen Literaturen“, Minderheitenliteraturen und Migrationsliteraturen disku- tiert52 und die Bedeutung der Theorien Édouard Glissants und Patrick Chamoiseaus für ein Verständnis der Romani-Literaturen unterstrichen.53 Als alternative Kategorisierun-

47 Eder-Jordan, Mensch sein, S. 194f. 48 Vgl. Beate Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen. Herausforderungen auf der Ebene der Produktion und Rezeption, in: Nicola Mitterer/Werner Wintersteiner (Hg.), Und (k)ein Wort Deutsch... Literaturen der Minderheiten und MigrantInnen in Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen, 2009, S. 165–190. 49 Vgl. Eder, Geboren bin ich vor Jahrtausenden, S. 92–103, Hertrampf, Camelamos naquerar, S. 176–179, Eder-Jordan, Mensch sein, S. 194f., Beate Eder-Jordan, Romani-Literaturen im Mittelmeerraum, in: Lexikon nicht-staatlicher Gruppen und Gemeinschaften im Mittelmeerraum, hg. von Mihran Dabag u.a. vom Zentrum für Mittelmeerstudien /Institut für Diaspora- und Genozidforschung, Ruhr-Universität Bochum (in Vorbereitung zum Druck). 50 Blandfort, Die Literatur der Roma Frankreichs, S. 342, vgl. auch Eder, Geboren bin ich vor Jahrtausenden, S. 218–229. 51 vgl. u.a. Toninato, Romani Writing, S. 161–180; Eder-Jordan, Mensch sein. 52 Toninato, Romani Writing, S. 114–125. 53 u.a. Kovacshazy, Littératures Romani; Blandfort, Die Literatur der Roma Frankreichs.

65 Beate Eder-Jordan

gen der Romani Literaturen schlägt Toninato vor: Literatur ohne fixe Behausung (in Anlehnung an Kovacshazy, Übernahme der Terminologie von Ottmar Ette), als dezen- tralisiertes Schreiben und als Teil des größeren Weltliteratur-Systems – analog zu ande- ren indigenen bzw. aufstrebenden Literaturen.54 Texte sind in geringerem Maße kanon- gebunden, charakteristisch ist eine bricolage literarischer Themen und Motive, die sich auf Romani- und Nicht-Romani-Traditionen beziehen. Romani-AutorInnen fechten den Kanon an, indem Stereotypen in Bezug auf Roma/„Zigeuner“ eine Absage erteilt wird.55 Als passender theoretischer Rahmen für die Untersuchung literarischer Eigenrepräsen- tationen in narrativen Werken von Roma in Frankreich erweisen sich, wie Blandfort her- ausarbeitet, Diaspora Studies, Gedächtnis und oraliture.56

Der Bruch des Schweigens

Für Nicht-Roma ist es schwer nachvollziehbar: Was bedeutet es, sich als Rom/Romni/ Jenische/Jenischer zu outen? Jahrzehntelang hielten Roma und Jenische ihre ethnische Identität geheim, da es nach 1945 keine Zäsur in Bezug auf Diskriminierung gab. Be- schimpfungen und polizeiliche Nachstellungen57 fanden statt, als ob es keinen national- sozialistischen Genozid an Roma gegeben hätte. Im kollektiven Bewusstsein der Nicht- Roma fehlt jener Holocaust, dessen Opfer die Roma wurden. Roma und Romnja selbst schwiegen. Die Angst der Älteren und ihr Bemühen, Kinder und Enkelkinder zu schüt- zen, führten dazu, dass über den Genozid kaum gesprochen wurde. Manche Roma und Jenische gingen so weit, den eigenen Kindern die ethnische Identität zu verheimlichen, mit dem Ziel, den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Den Ausbruch wagten manchmal die Jungen, manchmal die Älteren, manchmal die Jungen gemeinsam mit den Älteren – wie jene Roma und Romnja im Burgenland, die sich Lokalverboten widersetz- ten und 1989 den ersten österreichischen Roma-Verein gründeten. Der erste Obmann

54 Toninato, Romani Writing, S. 135; Kovacshazy, Littératures Romani. 55 Toninato, Romani Writing, S. 135. 56 Blandfort, Die Literatur der Roma Frankreichs. Zu den Ausführungen in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Einordnung der Romani-Literaturen vgl. Beate Eder-Jordan: Romani-Literaturen im Mittelmeerraum (in Vorbereitung zum Druck). 57 Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Wien/Salzburg 1983; Erika Thurner/Barbara Rieger, Nationalsozialistische Verfolgung, ‚Wiedergutmachungs‘-Praxis und Lebensverhältnisse der Sinti und Roma, in: Mozes F. Heinschink/Ursula Hemetek (Hg.), Roma. Das unbekannte Volk. Schicksal und Kultur. Wien 1994, S. 49–107.

66 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

des Vereins war Ludwig Papai. Fast sein ganzes Leben hatte er seine Roma-Identität verheimlicht, der Beitritt zur Bahai-Religion ermutigte ihn, öffentlich zu seinem Rom- Sein zu stehen. Das Schweigen wurde literarisch, performativ, künstlerisch, wissenschaftlich und ge- sellschaftspolitisch gebrochen. Die AkteurInnen dieses Bruchs sind Roma, Jenische und Angehörige der Mehrheitsgesellschaften. Die Orte, an denen das neue Sprechen, damit verbundene Aktivitäten und das gesellschaftspolitische Engagement stattfanden, waren zum Teil unkonventionell – ein Beispiel dafür findet sich bei Rudolf Sarközi:

Trotzdem waren die Anfänge des Vereines bescheiden und in den ersten Jah- ren verfügte der Kulturverein österreichischer Roma nicht einmal über ein eigenes Büro, sondern wir betrieben die gesamte Arbeit der Anerkennung aus unserer Wohnung im 19. Wiener Gemeindebezirk und während des Tages erledigte ich die vielen Telefonate mit einem der damals noch seltenen Mobil- telefone aus der Führerkabine eines Müllfahrzeuges der MA 48, bei der ich zu dieser Zeit noch beschäftigt war.58

Der Widerstand gegen künstlerisches und gesellschaftspolitisches Engagement, der aus der eigenen Gruppe kam, war für viele AkteurInnen allerdings enorm und extrem be- lastend.

Tausende Aktivitäten und omnipräsenter Hass. Menschen- achtende und menschenverachtende Diskurse

Allein in Österreich sind wir mit einer unüberblickbaren Fülle an Aktionen, gesellschafts- politischen Interventionen sowie künstlerischen Aktivitäten konfrontiert, die die Situati- on der Roma und Romnja ins Zentrum rücken. Sieht man sich die Situation in anderen Ländern an, bietet sich häufig das gleiche Bild: die Vielzahl der Aktivitäten versetzt jene in Erstaunen, die die gesellschaftspolitische Realität vor einigen Jahrzehnten kannten: Ein mühsames Suchen nach historischen Fakten, nach Namen von AutorInnen von Primär-

58 Rudolf Sarközi, Roma. Österreichische Volksgruppe. Von der Verfolgung bis zur Anerkennung, Klagenfurt/Celovec 2008, S. 56.

67 Beate Eder-Jordan

literatur, nach Roma-VertreterInnen und verlässlicher Sekundärliteratur kennzeichneten die Beschäftigung jener, die zu den Themen Geschichte, Kultur, Literatur und Kunst von Roma arbeiteten. Roma-AktivistInnen suchten nach MitstreiterInnen, wie z. B. Edi Károly in Österreich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre.59 Erich Hackl, der 1987 „Zugvögel seit jeher. Freude und Not spanischer Zigeuner“ und 1989 das Buch „Abschied von Sidonie“60 publizierte, vergleicht die Situation in Spa- nien im Jahr 2013 mit jener vor einigen Jahrzehnten. In einer E-Mail schreibt er im März 2013: „Hier in Madrid gibt es z.Zt. übrigens zwei Ausstellungen zu Gitanos. Bei der einen ist mir bewußt geworden, wieviel Selbstdarstellungen, Zeitschriften usw. es inzwischen gibt. Vor 35 Jahren war noch so wenig zu finden!“61 Die Hardcover-Ausgabe von „Abschied von Sidonie“ hatte zwei Auflagen, das Ta- schenbuch wurde (bis März 2013) 28 Mal aufgelegt und in 16 Sprachen übersetzt.62 Ver- kaufszahlen werden vom Diogenes-Verlag nicht genannt. Der Autor selbst schätzt die deutschsprachige Gesamtauflage auf ca. 400.000 Exemplare.63 Das Buch kommt häufig als Schullektüre zum Einsatz – ein und dasselbe Exemplar wird daher von zahlreichen ­SchülerInnen gelesen. Es wäre interessant zu untersuchen, welchen Anteil „Abschied

Kindergarten in Sierning, Ober- österreich, errichtet in Geden- ken an Sidonie Adlersburg, die 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

59 Vgl. den Film von Bert Breit und Xaver Schwarzenberger: Ihr werdet uns nie verstehen, Österreich 1988. 60 Erich Hackl, Zugvögel seit jeher. Freude und Not spanischer Zigeuner, Wien/Freiburg/Basel 1987. Erich Hackl, Abschied von Sidonie, Zürich 1989. 61 E-Mail von Erich Hackl an die Verf. am 1.3.2013. 62 Informationen der Presseabteilung des Diogenes-Verlags, Mail an die Verfasserin, März 2013. 63 E-Mail von Erich Hackl an die Verf. am 1.3.2013.

68 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Gedenktafel Kindergarten Sidonie Adlersburg, Sierning, Oberösterreich Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

Der Schriftsteller Erich Hackl, der mit „Abschied von Sidonie“ dem nach Auschwitz deportierten Kind Sidonie Adlersburg ein literarisches Denk- mal geschaffen hatte, begleitete eine Gruppe von StudentInnen der Politikwissenschaft und der Vergleichenden Literaturwissenschaft der Uni- versität Innsbruck zur Sidonie-Skulptur beim Kindergarten „Sidonie Adlersburg“, Sierning, Mai 2010. Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

69 Beate Eder-Jordan

von Sidonie“ an einer Änderung der „Romabilder“ hat. „Sidonie“ wurde 1990 von Karin Brandauer nach dem Drehbuch von Erich Hackl verfilmt.64 Der erste große Durchbruch in Bezug auf die Selbst-Organisation der Roma, der erste internationale Roma-Kongress, hatte bereits 1971 in London stattgefunden, der interna- tionale Roma-Tag am 8. April erinnert an dieses Ereignis, das von der Weltöffentlichkeit noch nicht in gebührendem Maße wahrgenommen wird. Ein bedeutender Teil der gesellschaftspolitischen und kulturellen Arbeit wird von Roma-Vereinen und Nicht-Regierungs-Organisationen geleistet. In einigen Ländern, z. B. in Österreich, sind es aber auch staatliche Stellen, die – auf Druck von Einzelperso- nen und Vereinen – Sorge trugen, dass eine Besserstellung der Roma (oder bestimmter Roma) erreicht wurde. Ein Beispiel ist hier die Anerkennung der autochthonen öster- reichischen Roma als Volksgruppe mit Minderheitenstatus im Jahr 1993. Wie steht es um die Sichtbarkeit der zahllosen gesellschaftspolitischen und künstleri- schen Aktivitäten von Roma und Nicht-Roma, die auf eine Verbesserung der Situation der Roma abzielen, einerseits, und um die Sichtbarkeit der erschreckenden Diskrimi- nierung sowie der äußerst prekären Lebensumstände von Millionen europäischer Roma andererseits? Die Armut, unter der viele Roma leiden, ist auf einigen Ebenen sichtbar und hat einen Platz in der Agenda der EU eingenommen, wie u.a. der „EU-Rahmen für nationale Stra- tegien zur Integration der Roma bis 2020“65 belegt, der sich zum Ziel setzt, grundlegende Verbesserungen in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge sowie Wohnraum und grundlegende Dienste herbeizuführen. Eine Verbesserung und Verände- rung der Lebensbedingungen der Roma strebten auch die AkteurInnen der Dekade zur Inklusion der Roma 2005-2015 an.66

64 Erich Hackl erhielt für das Drehbuch 1988 den ersten Preis des Drehbuchwettbewerbs „Genf-Europa“ der Union der europäischen Rundfunkorganisationen EBU, 1990 wurde Karin Brandauer und Erich Hackl der Fernsehpreis der Österreichischen Volksbildung verliehen. http://www.literaturhaus.at/index.php?id=4992 (Zugriff 10.12.2014). 65 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Nationale Strategien zur Integration der Roma: erster Schritt zur Umsetzung des EU-Rahmens. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ. do?uri=COM:2012:0226:FIN:DE:PDF (Zugriff 1.12.2012). 66 http://www.romadecade.org/home (Zugriff 1.12.2012). Zu enttäuschten Erwartungen in Bezug auf die „Roma- Dekade“ vgl. u.a. Roman Urbaner, Zahnloser Tiger. Tigeri nisaj dandenca, in: dROMa 40, 1 (2014), S. 21–23.

70 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Die Armut vieler Roma und Romnja bleibt auf anderen Ebenen unsichtbar: Slums, in denen Roma in zahlreichen europäischen Ländern leben, existieren in unmittelbarer Nähe zu Wohngebieten der Mehrheitsbevölkerung und bleiben trotzdem „unsichtbar“, wie Karl-Markus Gauß ausführt.67 Auch die Armut von Menschen, die in westeuropä- ischen Städten betteln und die, unabhängig von ihren Selbstzuschreibungen, als „Zigeu- ner“ wahrgenommen werden, bleibt weitgehend unsichtbar. BettlerInnen werden krimi- nalisiert, eine „Bettlerflut“ wird imaginiert und diskursiv erzeugt. Einen hervorragenden Einblick in die Thematik bieten der Film „Natasha“ von Ulli Gladik aus dem Jahr 2008 sowie Publikationen, die die „imaginierte Bettlerflut“ analysieren.68 Ist die Sichtbarkeit der Armut der Roma auf breiter Ebene nur beschränkt gege- ben und ein Wissen um die Gründe für diese Armut kaum verbreitet, so sieht es mit der Sichtbarkeit der gesellschaftspolitischen und kulturellen Aktivitäten noch wesentlich schlechter aus. Sie haben noch nicht Eingang in das Bewusstsein der Mehrheitsangehöri- gen gefunden, das tradierte „Zigeunerbild“ konnte auf breiter Basis noch nicht mit zeit- gemäßen Bildern überschrieben werden. Die Argumentation des vorliegenden Beitrags geht in folgende Richtung: Viele Roma und Romnja sind AkteurInnen in künstlerischen und gesellschaftspolitischen Bereichen, viele stehen in Arbeitsverhältnissen und nehmen am allgemeinen Wohlstand, sofern er in einem Land vorhanden ist, teil. Die ethnische Identität als Rom/Romni wird allerdings oft verschwiegen, um Diskriminierung zu ent- gehen. Die Sichtbarkeit dessen, was es heute in Europa heißen kann, Rom oder Romni zu sein, ist in einem viel zu geringen Ausmaß gegeben. Um die Situation der Roma zu verbessern, muss diese Sichtbarkeit vergrößert und verstärkt werden, es muss die Sichtbarkeit dessen erhöht werden, welche Projekte bereits existieren und was im Ent- stehen begriffen ist. Und dieses Erhöhen der Sichtbarkeit sollte ein Gemeinschaftspro- jekt sein: von Roma und Nicht-Roma, Nichtregierungsorganisationen und Regierungen, SchülerInnen, Lehrpersonen, Studierenden, WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen und anderen Kunstschaffenden. In diesem Sichtbar-Machen vermischen sich mehrere Diskurse. Bei den Diskursen, die sich auf Roma beziehen, unterscheide ich solche, die

67 Karl-Markus Gauß, Die Hundeesser von Svinia, Wien 2004. 68 Vgl. u.a. Stefan Benedik/Barbara Tiefenbacher/Heidrun Zettelbauer, Die imaginierte „Bettlerflut“. Temporäre Migrationen von Roma / Romnija – Konstrukte und Positionen, Klagenfurt/Celovec 2013; Ferdinand Koller (Hg.): Betteln in Wien. Fakten und Analysen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, Wien/Berlin 2012; Monika Jarosch/Lisa Gensluckner/Martin Haselwanter/Elisabeth Hussl/Horst Schreiber, Gaismair-Jahrbuch 2015, Gegenstimmen (Schwerpunkt: Bettelverbote im Widerspruch), Innsbruck 2014, S. 10–61. Vgl. auch: http:// bettellobbywien.wordpress.com/ (Zugriff 2.5.2013).

71 Beate Eder-Jordan

die Menschenwürde der Roma achten und solche, die den Roma die Menschenwürde absprechen. Wer sind die VermehrerInnen von heterogenen, „positiven“ Diskursen, die den Menschen Achtung entgegenbringen? Roma-Organisationen, Volkshochschulen, kirchliche Einrichtungen, Schulprojekte, Literaturen, Filme und andere Kunstprojekte von Roma und Nicht-Roma, ein Teil der journalistischen Arbeit, ein Teil der Projekte, die von Regierungen initiiert werden, die Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen etc. Im Rahmen achtsamer Diskurse werden – wenn auch zögerlich – Probleme innerhalb der Romani-Communities angesprochen (Gewalt gegen Frauen, Delikte, die von Roma begangen werden) – aber es geschieht in einer differenzierten Art und Weise. Nicolae Gheorge69 weist darauf hin, dass hier noch ein großes Manko besteht (wie über Strafta- ten von Roma reden?). Beispiele für menschenverachtende Diskurse finden sich u.a. im Bericht „Antiziganismus in Österreich“ des Vereins Romano Centro.70 Wie kann man dem omnipräsenten Hass begegnen, der Roma und Romnja in zahl- reichen Ländern entgegenschlägt? Anhand einiger Beispiele möchte ich zu dieser Frage Stellung nehmen.

Ceija Stojka im Amerlinghaus in Wien

Zahlreiche AutorInnen/KünstlerInnen sind sowohl im literarischen als auch im ­außer­literarischen Bereich aktiv. Als eines der berühmtesten Beispiele kann hier die 2013 ­verstorbene österreichische Romni Ceija Stojka71 gelten, die 1988 in Koopera­ tion mit ­Karin Berger das Buch „Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-

69 András Bíró/Nicolae Gheorge/Martin Kovats et al., From Victimhood to Citizenship. The Path of Roma Integration – A Debate, Editor: Will Guy (e-book), 2013. 70 Antiziganismus in Österreich. Dokumentation rassistischer Vorfälle gegen Roma/Romnja und Sinti/Sintize. Informationen für Opfer und ZeugInnen von Rassismus, Romano Centro, Sonderheft Nr. 78, Dezember 2013 (online unter: http://www.romano-centro.org/). 71 Beate Eder-Jordan, Ceija Stojka (1933 – 2013). Ausbruch aus dem Gefängnis des Schweigens, in: STIMME – Zeit­ schrift der Initiative Minderheiten, 86 (2013), 22f. Vgl. auch Beate Eder-Jordan, Ceija Stojka 1933 – 2013. Ein Nachruf, http://minderheiten.at//index.php? (Zugriff 18.2.2013).

72 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Zigeunerin“­ herausbrachte und damit wesentlich dazu beitrug, die Roma-Bewegung in Österreich zu begründen.72 Im Jahr 2009 wurde ihr der Titel Professorin verliehen.73

Ministerin Claudia Schmied überreicht Ceija Stojka das Dekret über die Ver­ leihung des Berufstitels Professorin, Wien, 16.10.2009 Bildnachweis: HBF/Pusch

72 Weitere Bücher von Ceija Stojka, die von Karin Berger herausgegeben wurden, sind: Ceija Stojka: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, Wien 1992 und Träume ich, dass ich lebe? Befreit aus Bergen-Belsen, Wien 2005. Karin Berger produzierte auch zwei Filme mit und über Ceija Stojka: Ceija Stojka. Porträt einer Romni, 1999 und Unter den Brettern hellgrünes Gras, 2005. Ceija Stojkas Lyrikband Gedichte (Romanes, Deutsch) und Bilder. Meine Wahl zu schreiben – Ich kann es nicht. O fallo de isgiri – me tschischanaf les erschien 2003 im EYE- Verlag in Landeck in der Reihe „Am Herzen Europas“ und wurde von Gerald Kurdoğlu Nitsche, einem anderen engen Weggefährten Ceija Stojkas, herausgegeben. Vgl. auch die Kunstbände: ceija stojka. auschwitz ist mein mantel. bilder und texte, hg. von Christa Stippinger, Wien 2008; Ceija Stojka 1933 – 2013. Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz. Even death is afraid of Auschwitz, hg. von Lith Bahlmann und Matthias Reichelt, Nürnberg 2014. 73 Berufstitel „Professorin“ für Ceija Stojka, 5.11.2009, http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/726123.html (Zugriff 10.12.2013).

73 Beate Eder-Jordan

Ich bat Christa Stippinger, Leiterin des „vereins exil“ und der „edition exil“, mir mitzutei- len, wie viele SchülerInnen an den Workshops mit Ceija Stojka im Kulturzentrum im Amerlinghaus in Wien teilgenommen hatten. Den Zahlen, die ich erhielt, sollen einige Informationen zu den Begegnungen von Ceija Stojka mit den SchülerInnen vorangestellt werden: Bei den Workshops, abgehalten zwischen 1992 und 2012, wurde auf einen en- gen Kontakt der SchülerInnen mit Ceija Stojka Wert gelegt, die Gruppen wurden daher klein gehalten, pro Termin kam meist nur eine Schulklasse. Christa Stippinger machte im Galerieraum, in dem Ceija Stojkas Bilder hingen, eine kurze geschichtliche Einführung. Ceija (ich verwende den Vornamen, da er gleichzeitig ihr Künstlername ist) erzählte an- schließend aus ihrem Leben und die SchülerInnen konnten Fragen stellen. Im „Krea- tiv-Teil“ malten die SchülerInnen die für sie eindrucksvollsten Situationen aus Ceijas Lebensgeschichte und gaben schriftliche Feedbacks ab, die auszugsweise und anonym verlesen wurden.74

liebe beate! also zu deinen fragen: in den letzten 10 jahren haben wir nur noch mit schüler­ Innen ab der 8. schulstufe gearbeitet, also ab dem 14. lebensjahr. davor, in den 90er-jahren und anfang der 2000er-jahre waren da oft auch jüngere schüler­ Innen, manchmal auch 4. klasse volksschule. aber auch das hat ceija ganz toll gemeistert. da hat sie natürlich nicht die schlimmsten grausamkeiten erzählt ... du wolltest zahlen: wieviele schülerInnen haben ceija im amerlinghaus erlebt? ja, ich hab nachgerechnet und komme tatsächlich auf die gigantische zahl von mehr als 10.000 schülerInnen, die im laufe der jahre zwischen 1992 und 2012 in unseren workshops im amerlinghaus gewesen sein müssen. wir haben in den ersten jahren jährlich „nur“ etwa 12 workshops angeboten. ab den 2000er-jahren, also in den letzten 12 jahren, haben wir sicherlich jähr- lich 30 workshops durchgeführt. wenn man also rechnet: 25 schülerInnen x 30 workshops = 750 x 12 jahre = 9.000 und dazu aus den vorjahren ganz sicher auch noch mal 3.500 bis 4.000 ... also sind wir schon bei gut 12.500! liebe grüße christa75

74 Informationen von Christa Stippinger (E-Mail an die Verf., 8. März 2013). 75 E-Mail von Christa Stippinger an die Verf., 28. März 2013.

74 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Christa Stippingers Antwort mit den Zahlen, die sie übermittelt, ist vermutlich auch für jene überraschend, die Ceija Stojka gut gekannt und von ihren Aktivitäten im Amer- linghaus gewusst haben. Ab dem Jahr 2000 fanden im Amerlinghaus neben den Workshops jährlich drei große Festveranstaltungen für Schulklassen und Abendpublikum statt sowie ein bis zwei Pro- jektabschlussfeste, zu denen alle Schulklassen noch einmal eingeladen wurden.

Projekt-Abschlussfest im Juni 2010 auf der Bühne im Hof des Amerlinghauses in Wien, zu dem alle Schul- klassen eingeladen waren, die an den Workshops mit Ceija Stojka teilgenommen hatten. Eine Klasse hat einen Schutzmantel für Ceija angefertigt, an dem innen und außen (der Mantel ist beidseitig zu tragen) Symbole und Begriffe in Deutsch und Romanes angebracht sind, die Kraft geben und die Ceija das Überleben in den Kon- zentrationslagern ermöglichten. Sie war von diesem Geschenk der SchülerInnen sehr gerührt.76 Bildnachweis: Christa Stippinger

76 Informationen von Christa Stippinger (E-Mail an die Verf. am 4.2.2015).

75 Beate Eder-Jordan

viele dieser feste waren ganz toll im sinne von unglaublich berührend! die schülerInnen haben da jeweils – als dankeschön – gemeinschaftsarbeiten für ceija mitgebracht und ihr übergeben. (oft für sie gemalt, gesungen, gedichte geschrieben und ihr auf der bühne übergeben). am eindrucksvollsten war wohl das fest von 2010, wo 1 gymnasiums-klasse einen SCHUTZMANTEL für ceija genäht hatte!77

Bei den jährlichen Roma-Festen im September und den Abendveranstaltungen zur Ro- ma-Thematik kamen, so Stippinger – gerechnet ab 1991 – schätzungsweise 8.000 Be- sucherInnen. Die Workshops mit Schulklassen finden nach Ceija Stojkas Tod in verän- derter Form – in Erinnerung an Ceija Stojka – weiterhin statt, mit einem Musikworkshop im „Kreativ-Teil“. Um noch bei den Zahlen zu bleiben: Ceija Stojka war gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter Nuna Stojka im In- und Ausland bei Lesungen, Ausstellungs­ eröffnungen und Vorträgen. Wie viele Menschen kamen in den mehr als zwanzig ­Jahren persönlich (außerhalb des Amerlinghauses) in Kontakt mit Ceija Stojka? Wohl viele ­tausende. Zu den Menschen, die die Gelegenheit hatten, Ceija persönlich kennenzuler- nen, kommen die RezipientInnen der Bücher und Bilder Ceija Stojkas und der Filme über Ceija von Karin Berger hinzu. Die Frage, welche Wirkungen die Begegnungen, die Lektüren und das Rezipieren der Filme auf Menschen hatten, könnte der Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. Das Beispiel einer Rezeption soll hier angeführt werden: Marie Luise Habicher, eine Nicht-Romni, veröffentlichte 2004 im EYE-Verlag ihren ersten Lyrikband: „Herzaus- wärts. Die Stummheit der Sprache“. Ein Gedicht darin widmet sie Ceija Stojka, da sie von Ceijas Veröffentlichung „Meine Wahl zu schreiben – Ich kann es nicht. O fallo de isgiri – me tschischanaf les“, erschienen im selben Verlag ein Jahr zuvor, stark berührt war. Zu einer persönlichen Begegnung der zwei Autorinnen kam es einige Zeit später. Dieses Gedicht von Habicher zeugt vom tiefen Eindruck, den Ceijas literarische Texte und Bilder hinterließen und der zu einer lebendigen Rezeption führte.

77 E-Mail von Christa Stippinger an die Verf., 8. März 2013.

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Ceija!

Thymian und Rosmarien blühn in deinem Herzen Sonnenblumen, Immergrün Melisse, Königskerzen in das höchste Himmelsblau wachsen deine Träume Ceija, große Roma-Frau schenke uns die Räume wo das Leben Flügel hat und tief ist wie dein Strom du erntest Früchte jeden Tag Birnen, Äpfel, Mohn du öffnest alle Türen und machst sie leise zu all deine Wege führen immer hin zum Du.

(für Ceija Stojka)78

Als Mensch Anerkennung finden, als Romni Anerkennung finden, als Autorin und Ma- lerin Anerkennung finden: Dieses Gedicht von Habicher liefert uns quasi den „Beweis“ dafür, dass ein Dialog zustande kommen kann, dass Brücken gebaut werden können. Vor allem die Hinwendung zum Du ortet Habicher in Ceija Stojkas Bildern und Texten.

Ich las das Buch in einem Atemzug, und am Ende musste ich spontan ein Gedicht für sie schreiben, auch wenn ich sie noch nicht persönlich kannte. In diesen, ihren Texten, in den Fotos und Dokumenten, offenbart sich eine Frau, unermesslich reich an Lebenserfahrung, strahlend vor Herzenswärme, intuitiv und mutig, klug und frei wie die schöne Wolfsfrau von Clarissa Pinkola Estés. Und ihre Sprache! Die oft ganz leisen Töne: „Wenn die Gräser/tanzen

78 Marie Luise Habicher, Herzauswärts. Die Stummheit der Sprache, Landeck 2004, S. 63.

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im Wind/ziehen sie ihre/schönsten Farben an/Silbergrün mit Hellgelb/bis zum Grün (...)“. Diese scheinbare Leichtigkeit geht über in die unermessli- che Klage, den tiefen Trauergesang über das Lebenstrauma der Kindheit in Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen: „Der Tod Ist Die Erlösung/So Schön Wie Die Geburt/Doch sollen die Massengräber/drohend sich erhe- ben/Ein Riesenvogel/und zu denen schweben/die an ihrem Tode Schuld sind (...)“.79

Mich interessiert hier dieses starke Berührt-Sein, das durch die Lektüre von Ceija Stojkas Texten bei Habicher ausgelöst wird. Ceija schrieb für sich, nicht für ein Publikum, sie wusste nicht, dass diese Texte veröffentlicht werden würden. Der Gedichtband von Ceija Stojka kam dadurch zustande, dass Gerald Kurdoğlu Nitsche, ein Lyrik-Besessener, Ver- leger und Maler in Ceijas Notizheften mit ihrer Erlaubnis „wühlte“ und daraus ein Buch machte. „Hab’ ich das geschrieben?“ fragt Ceija verwundert bei einer Lesung im Kultur- gasthaus Bierstindl in Innsbruck im November 2003. Für manche ZuhörerInnen, pro- fessionelle LeserInnen, klang das nach Koketterie, für andere war es ehrlich gemeint.80

Die Wucht der Begegnung: Das Wort, die Umarmung, das Geschenk

Welch starken Eindruck Ceija Stojka hinterließ, konnte ich auch selbst feststellen. Am 23. Mai 2008, an ihrem 75. Geburtstag, empfing sie eine Gruppe von StudentInnen der Ver- gleichenden Literaturwissenschaft aus Innsbruck, mehr als 20 Personen, in ihrer Woh- nung in Wien und hielt einen Vortrag über die Zeit in den Konzentrationslagern und in den Nachkriegsjahren. Wie lässt sich die Begegnung mit Ceija Stojka charakterisieren? Es ist die Begegnung mit einem Menschen, und es ist die Begegnung mit dem Thema Holocaust. Durch die Begegnung mit Ceija Stojka wird eine Mauer niedergerissen: Es ist so, als steckte das Wissen über den Holocaust in einer bestimmten Schublade, die mit Schule, Unterricht,

79 Marie Luise Habicher, „Der Tag nur einen Tag alt“. Rezension zum Gedichtband von Ceija Stojka Meine Wahl zu schreiben – Ich kann es nicht. O fallo de isgiri – me tschischanaf les. Landeck: EYE Verlag 2003, in: Stimme von und für Minderheiten, 50 (2004), S. 28. 80 Zu Habichers Gedicht „Ceija!“ vgl. Eder-Jordan, Mensch sein, S. 73f.

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Vollgepfropft-Werden zu tun hat. Der Bezug zur Schule wird gekappt, und die Tatsache, dass es sich um eine Uni-Lehrveranstaltung handelt, tritt in den Hintergrund. Ich treffe dich und du hast es erlebt und überlebt. Ceija umarmte und küsste jede einzelne Studentin und jeden einzelnen Studenten beim Abschied. Ich vermute, dass sie das bei den SchülerInnen im Amerlinghaus ebenso machte. Manchen der Studierenden war das fast zu viel an Nähe.

Studierende der Vergleichenden Literaturwissenschaft der Universität Innsbruck zu Besuch bei Ceija Stojka, Wien, 23. Mai 2008 Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

Das war die unglaublichste Begegnung der ganzen Exkursion. Obwohl Ceija an diesem Tag Geburtstag hatte, empfing sie uns 22 in ihrem Wohnzimmer. Ihre Wohnung war unglaublich. An allen Wänden hingen Unmengen an ­selbstgemalten Bildern (…), auf einer Kommode stand eine Statue von Ma- ria, mit bunten Perlenketten und Flitterzeug behängt. Wir nahmen alle auf

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Stühlen und Sofas Platz und Ceija begann über ihre Kindheit und ihr Leben in Auschwitz zu erzählen. Es war sehr bewegend, ein paar Mal musste ich kräftig mit den Tränen kämpfen. Ihr Vater wurde deportiert und ermordet, ihr kleiner Bruder starb in Auschwitz und sehr viele ihrer Verwandten wurden Opfer des nationalsozialistischen Genozids an den Roma. Ich habe auch ihre Nummer auf dem Arm gesehen. Ich bin sehr dankbar, dass ich dieses Erleb- nis haben durfte. (…) Sie hatte auch Kuchen, Chips und Getränke für uns vor- bereitet. Natürlich haben wir nichts davon angerührt, denn wer kann schon Chips essen, wenn einem jemand von Auschwitz erzählt? Ceija bestand aber darauf, dass wir alles mitnehmen sollten. Sie hat uns dann gleich einen ganzen Proviantsack mit Äpfeln, den Chips, Butterkeksen und Marmorkuchen ge- macht. Beim Abschied küsste sie uns auf die Wange. (Katharina Hollerwöger)

Ceija – unglaubliche Persönlichkeit, so offen und herzlich, sie wirkte sehr authentisch und weiß, was sie erreichen will – gibt uns eine Botschaft mit. (Anna-Maria Krulis)

Für Ceija war es kein Leichtes, uns an ihren Erinnerungen teilhaben zu lassen. Dennoch glaube ich, es war ihr ein großes Anliegen und zuletzt bat sie uns nie zu vergessen, was geschehen ist. Wir sind die Zukunft von morgen. Es könnte wieder geschehen, aber wir können uns dagegenstellen. Es gibt so viel Leid in der Welt und ein Einzelner kann nicht viel, aber er kann doch einen Stein ins Rollen bringen. (Magdalena Trojer)

Viele von meinen Bekannten fragten mich verwundert und auch teilweise bestürzt: Und was nützt dir das? Was hat es für einen Sinn, eine Exkursion zum Thema Roma und Sinti zu machen? Trotz allem ließ ich mich davon nicht entmutigen oder abschrecken. (…) Jede einzelne Person, die wir auf unserer Fahrt kennenlernen durften, war einzigartig in ihrem Charakter und ihrer Ausstrahlung. So verkörperten die beiden Sinti Frauen aus Linz Felsen in einer Brandung, Ceija Stojka die Hoffnung, Ruža eine stolze Sängerin und Fat- ma eine wunderbare Märchenerzählerin. Die Offenheit, Herzenswärme und Gastfreundlichkeit erstaunten mich sehr. Unsere Kultur, die immer mit ihrer Offenheit glänzen will, ist im Gegensatz verschlossen, gefühlskalt und gerade-

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zu kulturfeindlich im Hinblick auf Roma und Sinti. Die Realität holte uns bald ein. Matratzen, Müll auf der Straße und heruntergekommene Häuser. Roma verstoßen und ignoriert in einem Viertel. (Magdalena Karner)81

Unglaublich, wie diese zierliche Frau diese Zeit im KZ überstehen konnte und trotzdem noch so viel Lebensfreude und Energie hat. Wir haben in der Lehrveranstaltung schon sehr viel über den Holocaust erfahren und gelesen, auch einen Film über Ceija gesehen, doch ein persönliches Gespräch geht weit über das hinaus, wodurch der Besuch bei Ceija ein Highlight dieser Exkursion war. (Helmut Lechner †)82

Ihre Erzählungen haben mich tief bewegt – da war an Kuchenessen nicht zu denken; sehr emotional; so viel Lebensfreude; charismatische Persönlichkeit; sehr überraschend, dass sie zum Abschied jeden einzeln auf die Wange küsste; obwohl sie schon so viel mitgemacht hat, ist sie trotzdem nicht verschlossen oder verbittert. (Michaela Strickner)

Es war so schockierend, dass es kaum in Worte fassbar ist. Dabei verlor sie kein einziges böses Wort über jene, die Schuld am Leid tausender Menschen waren. Ein Satz ließ mich noch lange denken: Die Krematorien sind zwar inaktiv, stehen aber immer noch und könnten jederzeit wieder in Betrieb ge- nommen werden. (Julia Stubenböck)

Diese Frau ist so herzlich und offen, obwohl sie Sachen erlebt hat, die man sich gar nicht vorstellen kann und die unbeschreibbar sind. Sie hat darüber ge- schrieben, und dieses Buch finde ich sehr gut, aber es ist natürlich noch einmal etwas Anderes, wenn man solche Geschichten face-to-face erzählt bekommt. (Katharina Mayr)

81 Bei den genannten Personen handelt es sich um Rosa Gitta Martl und Nicole Sevik vom Verein Ketani in Linz, die Lovara-Sängerin Ruža Nikolić-Lakatos und die Erzählerin Fatma Heinschink aus der Gruppe der Sepečides (Korbflechter). Die „Realität“, die Magdalena Karner beschreibt (Müll auf der Straße/„Roma verstoßen und ignoriert“), bezieht sich auf eine Straße in der Nähe des Roma-Museums in Brünn/Tschechien. 82 Unser Exkursionsmitglied, Helmut Lechner, geb. am 24.11.1980, starb am 26.12.2012 in Wien.

81 Beate Eder-Jordan

So viel hatte ich von den Menschen im KZ gelesen, unzählige Dokumentatio- nen über mich ergehen lassen, nichts konnte mir derart die Schrecken dieser Zeit näher bringen wie die Schilderungen dieser Frau. Viele Fragen ergaben sich nach diesem Besuch und kreisen immer wieder in meinen Gedanken: Wie kann ein Mensch derart traumatische Erlebnisse physisch und psychisch über- leben? Woher nimmt sie diese Kraft und Entschlossenheit? Warum zerbre- chen andere Menschen an weniger entsetzlichen Erlebnissen? Diese und noch viel mehr Fragen formulieren sich so nach und nach. Da uns Ceija angeboten hat, dass wir uns bei Fragen an sie wenden dürfen, werde ich nach reiflichem Überdenken mich mit denjenigen offenen Fragen an sie wenden, die einer Antwort harren und letztlich fordern. (Kerstin Bartl)

Ceija Stojka erfüllte in ihrer Literatur, Kunst und in ihren Begegnungen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen das, was die Kulturtheoretikerin Judith Butler Reflektie- ren über erlittene Verletzungen nennt. „To be injured means that one has the chance to reflect upon injury, to find out the mechanisms of its distribution, to find out who else suffers from permeable borders, unexpected violence, dispossession, and fear, and in what ways.“83 Butler hat u.a. folgendes Ziel vor Augen: Es ist notwendig, Gewaltzyklen zu unterbrechen, eine Welt zu imaginieren, in der Gewalt minimiert wird und anzuerken- nen, dass wir – auf globaler Ebene – aufeinander angewiesen sind.84 Das Schaffen Ceija Stojkas im literarischen Bereich, in der bildenden Kunst, als Zeitzeugin, als Sängerin und als Erzählerin erzeugt neue kulturelle Repräsentationen, die den verachtenden Diskursen der vergangenen Jahrhunderte den Kampf ansagen und Gewaltzyklen unterbrechen.85 Ceija Stojka entließ mit ihrem Buch „Wir leben im Verbor- genen“ Roma in Österreich aus dem Gefängnis des Schweigens.86 Sie nahm sich, mit Un-

83 Judith Butler wendet sich mit ihrer Forderung nach Reflektieren über erlittene Verletzungen allerdings in erster Linie an Nationen, vor allem an die USA, deren Umgang mit der Tragödie des Anschlags auf das World Trade Center (9/11) sie scharf kritisiert. Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/New York 2006, XII. 84 Ebd., XIIf. 85 Die vielfältigen Hürden, denen sich Ceija Stojka in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ausgesetzt sah, analysierte ich an anderer Stelle (vgl. Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen, S. 176–183): Wie schreiben, wenn man diese Kulturtechnik als Kind nicht lernen durfte, einem der Schulbesuch verboten war? Wie schreiben, wenn Schreiben nicht als anerkannte Tätigkeit betrachtet wird, schon gar nicht für eine Frau? Wie schreiben, wenn durch den Akt der Veröffentlichung die ganze Familie als Roma geoutet wird? Wie sich schriftlich dem Trauma annähern? 86 Die folgenden Ausführungen, in denen ich Ceija Stojkas Aktivitäten mit Gedanken Judith Butlers verknüpfe, stammen aus meinem Aufsatz Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen. Herausforderungen auf der Ebene der Produktion und Rezeption, S. 181f.

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terstützung von Karin Berger, die „Redefreiheit“87, die ihr weder die Roma-Gesellschaft noch die Gesellschaft der Nicht-Roma zugestanden. „Aber wir müssen hinausgehen, wir müssen uns öffnen, sonst kommt es noch so weit, daß irgendwann alle Romani in ein Loch hineinkippen.“ (Klappentext „Wir leben im Verborgenen“). In ihren Texten, Bildern und in den Filmen fordert Ceija Stojka, um mit Judith Butler zu sprechen, das Recht auf Rechte, das Recht auf Anerkennung, das Recht auf Menschenwürde. Indem sie diese Forderungen deklariert, beginnt sie „sich zu nehmen, wonach sie verlangt“.88 „Das Deklarieren (...) hat Teil am diskursiven Prozeß des Beginns von etwas neuem [sic]; es ist ein Ansporn, ein Anstacheln, ein Einfordern.“89 „‚Deklarieren‘ wird zu einer wichtigen rhetorischen Bewegung, da es die Redefreiheit, die es fordert, selbst ist, oder vielmehr: Es ist der Ruf der Freiheit schlechthin.“90 Die Möglichkeit, sowohl mit den Texten als auch mit der Künstlerin selbst – im wahr- sten Sinne des Wortes – in Berührung zu kommen, öffnet den Blick für die „Dynamik kultureller Prozesse“, die „Dynamik des Gedächtnisses“ und die „Performativität von Kultur“91. „Prozesse des Vorführens, Teilnehmens, Erlebens, Interagierens, Aushan- delns, Austauschens seitens konkreter Akteure, die sich jenseits der Grenze des Textes vollziehen“92, gewinnen, wie Aleida Assmann betont, an Bedeutung. Doris Bachmann- Medick spricht von „nicht textualisierbare(n) ‚Überschüsse(n)‘ des Kulturellen“, z. B. Sinneswahrnehmungen, Geräuschen und Gerüchen, von „Dimensionen von Erfahrung, wie sie auch in Literaturanalysen leicht aus dem Blick geraten“ und mit der „Fixierung auf objektivierende Begrifflichkeit“ westlicher Text-Konzeptionen verloren gehen.93 Was sich am 23. Mai 2008 „jenseits der Grenze des Textes“94 abspielte, das „im Wohnzimmer sein dürfen (‚face to face‘)“, der Anblick der eintätowierten KZ-Nummer am Arm, das Übermitteln und Aufnehmen der Botschaft („Ihr tragt die Verantwortung“), das Ange-

87 Judith Butler/Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, Zürich/Berlin 2007, S. 35. (Ich verwende hier und im Folgenden Ausdrücke und Wendungen der Philosophin und Literaturwissenschafterin Judith Butler, die sie in der Auseinandersetzung mit Texten von Hannah Arendt gebraucht. Judith Butler bezieht sich auf Hannah Arendt, nicht auf Stojka.) 88 Ebd. S. 47. 89 Ebd. S. 39. 90 Ebd. S. 35. 91 Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 27–45, hier S. 30f. 92 Ebd. 93 Doris Bachmann-Medick: Einleitung, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die Anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 33. 94 A. Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, S. 30.

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bot zum Dialog, die Umarmung und die Geschenke (Chips, Kuchen) zum Abschied sind Elemente der Dynamik eines kulturellen Austauschprozesses. Ceija Stojkas Erfahrungsschatz im Bereich der mündlichen Erzähltradition, als eine der herausragendsten ErzählerInnen der Lovara95, trug dazu bei, dass sie in kürzester Zeit einen engen und intensiven Kontakt zum jeweiligen Publikum herstellen und auf- rechterhalten konnte. Bei den folgenden Beispielen begeben wir uns in die Bereiche der Wissenschaften und der Literatur.

Wissenschaftliches und literarisches „writing back“ Petra Gelbarts Konzept der „Gadjology“

Die Musikethnologin, Musikerin und Romani-Aktivistin Petra Gelbart wendet sich in ihrem Konzept, das sie „gadjology“ (abgeleitet von „gadjo“/Nicht-Rom) nennt, gegen das Suchen und Dominant-Setzen von Unterschieden im Rahmen der Romani-Studies. Wenn man Forschungsfragen, die in Bezug auf Roma und Romnja entwickelt und gestellt werden, auf weite Teile der Bevölkerung ausdehnt, zu welchen Ergebnissen kommt man dann? „The aim of gadjology is to expose some of the logical inconsistencies stemming from academic or journalistic difference seeking as well as from people’s everyday com- mentaries about how ‚they‘ diverge from us.“96 Sie fordert eine Umkehrung des ethnog- raphischen Blicks. Menschliche Werte sowie gute und schlechte Charaktereigenschaften sind – über ethnische Grenzen hinweg – dieselben: „The point again is simply to show that human values and personality distributions – good, problematic and foolish – are funda- mentely the same across ethnic groups.“97 Negative Aspekte im Verhalten von Mitgliedern minoritärer Gruppen sollten allerdings nicht unter den Tisch gekehrt werden: „(…) unlike

95 Vgl. u. a. Fern von uns im Traum.../Te na dikhas sunende... Märchen, Erzählungen und Lieder der Lovara. Lovarenge paramiči, tertenetura taj gjila, hg. von Petra Cech, Christiane Fennesz-Juhasz, Dieter W. Halwachs und Mozes F. Heinschink, Klagenfurt/Celovec 2001. 96 Gadjology: a Brief Introduction. Vortrag von Petra Gelbart, New York University, im Rahmen der „2011 Inaugural Conference in Romani Studies“, The University of California, Berkeley, November 10th, 2011, http://www.youtube. com/watch?v=cup3fwqsoLE (Zugriff 10.5.2012). 97 Ebd.

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some other American academics I firmly believe that ethnography should not shy away from social and other deficits in minority groups where they actually exist.“98 Gelbart kritisiert in ihrem Vortrag das Suchen nach Differenzen, das viele ForscherIn- nen leitet. Die Mittelklasse der Roma, die keine Musiker sind, sind kein beliebtes For­ schungsthema. Wen interessiert es, darüber zu lesen, in welcher Weise Roma und Romnja ihren Nicht-Roma-Nachbarn gleichen oder gleich wie sie sein wollen? Gelbart fordert einen Perspektivenwechsel in der Forschung und in der Berichterstattung in den Medien. Quintessenz von Gadjology ist, dass das Verbindende gesucht werden sollte, nicht das Trennende. Je nach Blickwinkel ändern sich die Forschungsergebnisse. Die Forderungen Gelbarts korrespondieren mit jenen, die in literarischen und anderen künstlerischen Ar- beiten von Roma formuliert werden. Anhand eines Beispiels greife ich Gelbarts Forderung, dass wir nach dem Verbinden- den, nicht nach dem Trennenden suchen sollten, auf. Wenn es um die Frage geht, ob Roma-AutorInnen/KünstlerInnen innerhalb der Romani-Communities integriert sind, ist es sinnvoll, die Frage anzuschließen, welche Positionen KünstlerInnen der Mehr­ heitsgesellschaft einnehmen. Mein Freund, Lehrer, Kollege, der international geschätzte Experte für Romani Stud- ies, Mozes F. Heinschink, hat mich öfter darauf hingewiesen, dass Roma-Autorinnen und -Autoren in ihrer Gruppe nicht anerkannt, nicht integriert sind, dass sie Außen- seiter sind. Was bei ihm mitschwang: Es ist ein literarisches/künstlerisches Schaffen, das nicht in die Gruppe eingebettet ist, das am Rand steht, das von den Mitgliedern der Romani-Community nicht geschätzt wird. Mein Eindruck ist der, dass Mozes Heinschink hier ein gewisses Manko sieht. Sein Lebenswerk ist die Dokumentation der mündlichen Erzähl- und Liedtradition der europäischen Roma und Romnja, die in der „Sammlung Heinschink“ im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften archiviert ist, die größte Sammlung dieser Art weltweit.99 Die mündliche Erzähltradition ist, im Gegensatz zum schriftlichen Schaffen, in den meisten Fällen eingebettet in die jeweilige Romani-Community.

98 Ebd. 99 Christiane Fennesz-Juhasz, Ethnographic sound collections of Roma: Aspects of their original context, archiving and use, Calicut University Folkloristics Journal vol. 1, issue 1, 2010, S. 34–59 (einsehbar auch unter http://www. academia.edu/).

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Mozes Heinschink hat völlig Recht. Das Außenseitertum kennzeichnet das Schaffen vieler AutorInnen/KünstlerInnen. Beispiele sind hier Papuscha, Ilija Jovanović, Kiba Lumberg, József Holdosi100, Lilly Habelsberger, Nada Braidic, um nur einige zu nennen.101

Mozes F. Heinschink (am Fest anlässlich seines 70. Geburtstags), die Lovara-Sängerin Ruža Nikolić-Lakatos (Mitte), Ceija Stojka (rechts), Wien, 22.8.2009 Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

Die Frage ist nun, welche Position KünstlerInnen in der Mehrheitsgesellschaft einnehmen. In diesem Zusammenhang erscheint mir wichtig, was Christine Regus zu Bedenken gibt, die sich in ihrer Analyse nicht auf Roma bezieht, sondern vom interkulturellen Theater spricht.

100 Erfreulicherweise kam es zu einer Neuauflage des lange Zeit vergriffenen Romans von József Holdosi „Die Straße der Zigeuner“, aus dem Ungarischen übersetzt von Peter Scharfe, Berlin 1984. Das Buch erschien 2014 unter dem neuen Titel „Die gekrönten Schlangen“ bei innsbruck university press. Der ungarische Originaltitel lautet „Kányák“ (Budapest 1978). 101 Vgl. Eder-Jordan, Œuvres littéraires et artistique des Tsiganes. Une critique interne est-elle possible?, S. 10–29.

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So problematisch es ohnehin ist, Individuen mit Kulturen zu verwechseln, in ihnen vor allem Repräsentanten meist auch noch essentialistisch definierter Kollektive zu sehen, führt dies gerade im Fall von Kunst in die Irre, da diese ja häufig von Menschen hervorgebracht wird, die sehr originelle, eigensinnige, künstlerische Positionen vertreten und sich dagegen verwehren, als Stellver- treter einer Kultur, Nation oder einer sonstigen Gemeinschaft wahrgenom- men zu werden.102

Hier lässt sich anmerken, dass sich zahlreiche Roma-AutorInnen/KünstlerInnen sehr wohl über mehr Anerkennung aus den „eigenen“ Reihen freuen würden (wie das auch bei Nicht-Roma der Fall ist), die künstlerische Arbeit mit ihren „originelle(n)“ und „eigensinnige(n)“ Positionen aber dazu führt, dass viele KünstlerInnen als Außenseiter betrachtet werden – sowohl im Falle von Roma-KünstlerInnen als auch bei Künstle- rInnen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören. Wenn man also die Frage, ob Roma- AutorInnen/KünstlerInnen in ihre Gruppe integriert sind, ausdehnt auf die Frage, in welchem Ausmaß Künstlerpersönlichkeiten im Allgemeinen in ihre jeweiligen Commu- nities integriert sind, lassen sich Ähnlichkeiten feststellen. Wir finden Beispiele von Des- integration, diese haben mit dem künstlerischen Schaffen zu tun und nur zum Teil mit ethnischer Zugehörigkeit. Sehr wohl lassen sich aber auch spezifische Schwierigkeiten finden, mit denen Roma-AutorInnen/KünstlerInnen zu kämpfen haben (Die Stellung der Frau und damit verbundene Rollenerwartungen bei mehreren Roma-Gruppen er- schweren künstlerisches Schaffen; es existiert die Angst, dass Internes einer feindlichen Außenwelt preisgegeben wird; da Roma und Romnja diskriminiert werden, ist Kritik an der eigenen Gruppe nicht erwünscht, etc.103). Petra Gelbarts Konzept der „gadjology“ lässt sich als „wissenschaftliches writing back“ („talking back“) bezeichnen. Abschließend möchte ich zwei Beispiele aus der Li- teratur bringen, das Gedicht „Identity“ von Charles Smith (1956–2005) und das Gedicht „Abschied“ von Sieglinde Schauer-Glatz.

102 Christine Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik. Politik. Postkolonialismus, Bielefeld 2009, S. 38. 103 Eder-Jordan, Œuvres littéraires et artistique des Tsiganes. Une critique interne est-elle possible?, S. 10–29.

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„Am I the Gypsy/You’ve read books about?“

Mosaiksteine von Identität, Aspekte des Mensch-Seins, Selbst- und Fremdbilder sind in Texten der Roma und Romnja eng verwoben. Aus der Sicht der Roma gesehen geben die Texte Antworten auf folgende Fragen: Wie sehen wir uns selbst? Wie sehen wir euch, die Nicht-Roma? Wie seht ihr uns? Die Antworten sind nicht einheitlich. Beispielhaft für das Ineinanderfließen der verschiedenen Bildebenen ist das Gedicht „Identity“ von Charles Smith.104 In „Identity“ wird der Konstruktcharakter von Identität hervorgestrichen. Das Ich im Gedicht wendet sich fragend an den Nicht-Rom/die Nicht-Romni: „What do you see/ When you look at me? Your idea of my identity?“. Diesem Dreireim folgt die spöttische Frage: „Am I the Gypsy/You’ve read books about?“. Wie in vielen anderen Gedichten arbeitet Charles Smith auch in „Identity“ mit zahlreichen Fragen. Im Gedicht geht es auf einer ersten Ebene um das Bild, das sich Nicht-Roma – aus der Sicht des Ichs im Text – von Gypsies machen, es ist aber auch sehr aufschlussreich in Hinblick darauf, wie das Ich, das die Roma vertritt, die Gadsche sieht: Sie verhal- ten sich Roma gegenüber diskriminierend, sie bewerten Roma nach ihrem Aussehen, sie glauben, sie selbst seien perfekt. Miteinander verwoben sind der Aspekt der Arbeit und der „Unsichtbarkeit“105 der Roma; trotz ihrer großen Zahl sind Roma und Romnja unerkannt in allen möglichen Berufen106 tätig. In den letzten Versen des Gedichts wendet sich das Ich mit konkreten Botschaften an die Nicht-Roma: Es mahnt den Gadscho/ die Gadsche, sich nicht vom äußeren Schein leiten zu lassen, weist darauf hin, dass die Beobachtung auch von Seiten der Roma ausgeht und dass das positive Selbstbild, das Nicht-Roma von sich haben, nicht der Realität entspricht: „And you are not so perfect to be calling us names“. Die letzten fünf Verse des Gedichts lauten:

I could be your postman, milkman or priest Busman, mechanic or waiter serving you a feast. So next time you down us, don’t just look at a few

104 Charles Smith, Not all Wagons and Lanes. Poems by Charles Smith, Essex 1995, S. 28. 105 Vgl. den Titel des ersten Buches von Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen, Wien 1988. 106 Auch der Beruf der Hebamme wird genannt. Bei einigen Gruppen, vor allem den Sinti und Lovara, gilt der Beruf der Hebamme als unrein.

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Because we are all around and we’re looking at you too And you are not so perfect to be calling us names.107

Der letzte Vers bleibt nach sieben Paarreimen108 (im Zitat erscheinen nur die letzten zwei) reimlos. „Identity“ von Smith ist ein Protestgedicht. Das Ich fordert die Nicht-Roma auf, sich zu ändern und nicht von einigen Roma auf alle zu schließen. Verschiedene Bilder-Schichten sind in diesem Gedicht verpackt: auf der einen Seite Autoimages/Eigenbilder (wir Roma leben im Verborgenen, wir arbeiten – unerkannt – in vielen Berufen), auf der anderen Seite Heteroimages/Fremdbilder (ihr Nicht-Roma seid unwissend, selbstherrlich, diskri- minierend/ihr Nicht-Roma glaubt, dass wir Roma den Zigeunern in den Büchern ähneln/ ihr Nicht-Roma glaubt von euch selbst, dass ihr perfekt seid): wir Roma glauben von euch Nicht-Roma.../ihr Nicht-Roma glaubt von uns Roma.../ihr Nicht-Roma glaubt von euch selbst... Bilder über Bilder. Das Bild, das hier vom Nicht-Rom entworfen wird, ist wenig schmeichelhaft. Die Identität der Roma/Romnja und Travellers bleibt den Nicht-Roma verborgen. Roma sind keine Gestalten aus Büchern, sondern Menschen, denen die Nicht- Roma im Alltag ständig begegnen, allerdings ohne sie zu erkennen. Der Vers „(...) we are all around and we’re looking at you too“ bezeichnet den Ort (wir sind überall) und bein- haltet eine Warnung: Die Beobachtung erfolgt beidseitig. Der letzte Vers, der sich durch einen Verzicht auf den Reim formal abhebt, transportiert die stärkste Kritik an den Nicht- Roma: Mit ihrer Vollkommenheit und Fehlerlosigkeit ist es nicht so weit her.109

Lyrisches Festschreiben der ethnischen Identität

Um in der Lage zu sein, als „Betroffene/r“ andere Lebensentwürfe für Roma und Jeni- sche im literarischen oder außerliterarischen Bereich zu imaginieren, ist das Sich-Beken- nen zur „ethnischen Identität“, so heiß umstritten dieses Konstrukt in wissenschaftlichen Diskursen auch sein mag, von ausschlaggebender Bedeutung und stellt ein existentielles Thema dar. Wie schwierig es ist, sich zur ethnischen Identität zu bekennen, kommt in Texten der jenischen Autorin Sieglinde Schauer-Glatz zur Sprache. Inspiriert und ermu-

107 Smith, Not all Wagons and Lanes, S. 28. 108 Es reimen sich zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Verse. 109 Zur Analyse des Gedichts „Identity“ von Smith vgl. Eder-Jordan, Mensch sein, S. 167f.

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tigt durch Begegnung und Freundschaft mit dem 2006 verstorbenen jenischen Autor und Kulturvermittler Prof. Romedius (Romed) Mungenast, fand Schauer-Glatz den Mut, sich in literarischen Texten und öffentlich dem Jenisch-Sein „zu stellen“ – mit all dem, was damit verbunden sein kann: Scham, Trauer, Stolz, Unsicherheit, Wut auf die Gesell- schaft der Nicht-Jenischen, Hoffnung, Energie für Bürgerrechtsarbeit und Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit, …110 Da ich das Glück habe bzw. hatte, sowohl mit Romed Mungenast als auch, seit 1996, mit Sieglinde Schauer-Glatz über viele Jahre hinweg zu kooperieren, konnte und durfte ich Zeugin dieser Entwicklung werden.111

Landeshauptmann Herwig van Staa überreicht Romedius Mungenast das Dekret des Bundespräsidenten über die Verleihung des Berufstitels Professor, Innsbruck, 7. September 2004 Bildnachweis: Frischauf-Bild Innsbruck

110 Sieglinde Schauer lernte Romed Mungenast auf einer Lesung der bekanntesten jenischen Autorin, Mariella Mehr, 1996 in Innsbruck kennen. 111 Zu den Leistungen von Sieglinde Schauer-Glatz im Bereich der Integration von Menschen mit Behinderung und zum literarischen und gesellschaftspolitischen Engagement für Minderheiten vgl. Beate Eder-Jordan, Ein tiefes Verständnis von Integration (Auszeichnung für Sieglinde Schauer-Glatz), in: Stimme von und für Minderheiten, 76 (2010), S. 23 (http://minderheiten.at/images/stories/stimme%2B76_gesamt.pdf ).

90 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Sieglinde Schauer-Glatz schrieb für Romed Mungenast, der am 26. Februar 2006 ver- starb, ein Gedicht zum Abschied.112 Das Ich im Gedicht spricht vom Mut, den es braucht, um sich zur (jenischen) Identität zu bekennen. Das angesprochene Du ist der Verstorbe- ne, ihm wird gedankt.

(...) und mich gelehrt, zu hinterfragen die verdrängte totgeschwiegene Vergangenheit mir Mut gegeben, mich zur Herkunft zu bekennen (...)113

Literarischer und außerliterarischer Mut: Die Literatur von Romed Mungenast und sein außerliterarisches Engagement beeindruckten Jenische und Nicht-Jenische und ermun- terten Jenische, wie Sieglinde Schauer-Glatz oder Simone Schönett, sich schriftstellerisch zu betätigen. Das Thema des „Sich Bekennens“ kommt in manchen Texten von Sieglinde Schauer- Glatz zum Tragen. Wenn Milena Hübschmannová davon spricht, dass patriotische Auf- rufe ihre Berechtigung haben und in der Literaturgeschichte vieler Völker und Nationen von Bedeutung sind und waren (welche Gefahren mit solchen Aufrufen auch verbunden sein können, zeigt uns die Zeitgeschichte), lässt sich diese Argumentation auch auf Text- stellen von Sieglinde Schauer-Glatz anwenden. Die letzten zwei Verse in einem ihrer anderen Gedichte, das den Titel „Jenisch“ trägt, lauten: „Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste und / bekenne mich offen mit Stolz ‚Ich bin jenisch!‘“114 Diese Beken- nungslyrik bildet nur einen kleinen Teil im Schaffen von Schauer-Glatz.115 Es handelt

112 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen. Herausforderungen auf der Ebene der Produktion und Rezeption, S. 183–185. 113 Sieglinde Schauer-Glatz, Zum Abschied, in: Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen, S.185. Das Gedicht wurde erstmals in Martin Kolozs (Hg.), Romed Mungenast. Eisenbahner, Dichter, Forscher und Aktivist, Innsbruck 2007, S. 44f. publiziert. Die Fassungen des Gedichts in Kolozs 2007, Eder-Jordan 2009 und im vorliegenden Beitrag unterscheiden sich in Details voneinander. 114 Sieglinde Schauer-Glatz, „Jenisch“, in: Romedius Mungenast (Hg.), Jenische Reminiszenzen. Geschichte(n), Gedichte – ein Lesebuch, Landeck 2001 (=Am Herzen Europas. Lyrik der Wenigerheiten 3), S. 123. 115 Gedichte und Texte von Schauer-Glatz erschienen in verschiedenen Anthologien, zahlreiche Texte sind noch unveröffentlicht.

91 Beate Eder-Jordan

sich hier um ein lyrisches Festschreiben der verdrängten ethnischen Identität. Gelingt ein „Sich-Bekennen“ zuerst im literarischen Text, im Gedicht? Die Lektüre dieser Verse kann allerdings für Nicht-Jenische, die die Textstellen pathetisch empfinden, eine Rezep- tionshürde darstellen. Hinter diesem Pathos steckt eine tiefe Erfahrung von Alterität. Die Einschätzung Hübschmannovás in Bezug auf Roma-Literatur in Tschechien und der Slowakei lässt sich auf die Textpassagen der jenischen Autorin Schauer-Glatz anwenden.

Und natürlich kann der Gadžo-Leser den dringenden Appell des Gedichtes nicht verstehen, den Wunsch nach gegenseitigem Verständnis, nach Einheit, ein Wunsch, der aus dem verzweifelten Bedürfnis einer Minderheit entsteht, akzeptiert zu werden. Ein Vertreter der Mehrheit „braucht dieses Bedürfnis nicht zu spüren“.116

Sieglinde Schauer-Glatz, Aktivistin für Rechte von Minderheiten und jenische Autorin Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

116 Hübschmannová, Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma, vgl. den Beitrag von Hübschmannová in der vorliegenden Publikation.

92 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

Nicole Sevik und Rosa Gitta Martl (Ketani – Verein für Sinti und Roma, Linz), Ludwig Laher und Romedius Mungenast (v. l.) diskutieren an der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Universität Innsbruck (22. Juni 2005) das von Ludwig Laher herausgegebene Buch „Uns hat es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen“ (Grünbach 2004). Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

Mungenast und Schauer-Glatz thematisieren zwar in mehreren ihrer literarischen Tex- te die Situation der Jenischen, beiden gemeinsam ist aber ein tiefes Interesse an den Lebensumständen ausgegrenzter Menschen im Allgemeinen: wohnungsloser Menschen, MigrantInnen, Menschen mit Behinderung. Sie prangern in ihren literarischen Texten Rassismus und Fremdenfeindlichkeit an und tasten sich mit den Mitteln der lyrischen Sprache an das Phänomen des Fremdseins heran. Dieses Fremdsein erschöpft sich aber bei weitem nicht in der ethnischen Identität oder in sozialer Ausgegrenztheit. Das Frem- de ist auch und vor allem der Tod. Die Stimmung in den letzten Wochen und Tagen vor Romed Mungenasts Tod verdichtet Schauer-Glatz mit den Mitteln der Sprache.

93 Beate Eder-Jordan

Zum Abschied

Abseits im Fluss der Schöpfung geht das höchste Sein des Lebens zu Ende zählst die Tage geizig hältst fest an jeder Stunde legst das Vertrauen in Gottes Hände begleitet von Blumen vieler Zeiten gehst du durch Landschaften der Freude der Trauer bis sich der Himmel mit Licht erfüllt dich hinüberrettet in den ewigen Tag

Gelebt in jenischer Schwermut und jenischer Leichtigkeit und mich gelehrt, zu hinterfragen die verdrängte totgeschwiegene Vergangenheit mir Mut gegeben, mich zur Herkunft zu bekennen hast dich gekümmert um den Schwachen nicht aufgegeben den Fremden Bruder werden lassen

Durch viele Monde wird sich dein Anblick im Schattenwald verlieren so sind es Spuren mit deinem Namen, die du für immer hinterlassen – Romed

In unserer Sprache gibt es kein Wort für die Liebe und doch ist sie unendlich

94 „Imagining it otherwise“. Der (un)sichtbare Paradigmenwechsel im Bereich der Romani-Literaturen und -Kulturen

so danken wir dir im Namen der Jenischen Grandig Gwant117

„im Horizont möglicher Abwandlungen“

„Imagining it otherwise“ – es sich anders vorstellen: Das ist die Triebfeder tausender AktivistInnen, KulturarbeiterInnen, KünstlerInnen und WissenschafterInnen im Bereich von Bewegungen, die zum Ziel haben, die Situation der Roma und Jenischen zu verbes- sern, indem neue kulturelle Repräsentationen Eingang in den gesellschaftspolitischen und künstlerischen Diskurs finden. Um den Frieden zu fördern, ist es notwendig, „sich in die Position der anderen Seite hineinzuversetzen“118, literarische/künstlerische Stimmen und Interventionen erscheinen mir hier unerlässlich. Wäre es denkbar, dass Literaturen der Roma, Jenischen und Travel- lers in einigen Jahren „Ehrengast“ bzw. „Gastland“ auf der Frankfurter oder Leipziger Buchmesse werden? Die (bildende) Kunst der Roma und Romnja hat es bereits geschafft, auf das internationale Podium vorzudringen – im Rahmen der Roma-Pavillons auf den Biennalen in Venedig 2007 und 2011. Der Gedanke des „mögliche(n) Anderssein(s)“119 steht im Zentrum der Kategorie der Kontingenz. Dieser Leitbegriff der modernen Sozialtheorie bringt zum Ausdruck, „dass Sachverhalte weder notwendig noch unmöglich, sondern vielmehr auch anders mög- lich sind“.120 Mit Worten des Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Niklas ­Luhmann zum Begriff der Kontingenz möchte ich meine Ausführungen schließen: „Der Begriff

117 Schauer-Glatz, Zum Abschied, in: Eder-Jordan, Die Literatur der Roma, Sinti und Jenischen, S.185. Durch „Grandig Gwant“ soll die Intensität des Danks ausgedrückt werden. Wörtlich bedeutet grandig „viel“, gwant „gut, süß“, vgl. Heidi Schleich, Das Jenische in Tirol. Sprache und Geschichte der Karrner, Laninger, Dörcher, Landeck 2001 (=Am Herzen Europas. Lyrik der Wenigerheiten 4), S. 23 u. S. 25. Ein Wort für „danke“ existiert im Jenischen nicht. Für diese Information danke ich Sieglinde Schauer-Glatz. 118 Anton Pelinka, Vortrag zum Thema: Der Nahostkonflikt. Geschichte – Hintergründe – Entwicklungen, Innsbruck, 10.9.2014. 119 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 152, zit. nach: Sven Opitz, Doppelte Kontingenz, in: Oliver Jahraus et al. (Hg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2012, S. 75–77, hier S. 75. 120 Opitz, Doppelte Kontingenz, S. 75.

95 Beate Eder-Jordan

bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“121

121 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, S. 152, zit. nach: Sven Opitz: Doppelte Kontingenz, S. 75.

96 Rudolf Sarközi

Rom sein in Österreich

In Österreich leben die Roma seit dem 15. Jahrhundert. Ihre ursprüngliche Heimat ist Indien. Es lässt sich nicht lückenlos nachvollziehen, warum sie aus Indien wegzogen. Über drei verschiedene Wanderrichtungen kamen sie bis nach Europa. Die in Österreich lebenden Roma sind urkundlich erwähnt. Im Jahre 1674 stellte Graf Christof Batthyá- ny einer Gruppe von Roma unter der Führung ihres Woiwoden Martin Sárközi einen Schutzbrief für seine Besitzungen im Südburgenland (früher Westungarn) aus. Er er- laubte ihnen auf seinem Komitat Vas zu siedeln und zu leben. Sárközi musste für diese Dienste auch einmal im Jahr Steuern bezahlen, wie es in der Urkunde heißt.1 Nicht immer blieb der Wohnort gleich. Man begann dieses fremdländisch aussehende Volk zu vertrei- ben, so dass es oft nur geduldet wurde. Roma hatten auch keinen Besitz wie Felder, um diese bewirtschaften zu können. Meine Vorfahren hatten das Glück, dass sie unter der Schirmherrschaft des Grafen Batthyány oder des Grafen Almásy standen.

Stigmatisierung, Diskriminierung, Verfolgung, Deportation und Vernichtung

Die Dienste, die sie anboten, waren ganz einfache als Taglöhner, Musiker, Gaukler und Schmiede. Ganz besonders gefragt waren die Schmiede. Verschlechtert hat sich die Lage der Roma nach dem Ersten Weltkrieg. Am 15. Jänner 1933 fand in Oberwart eine Konferenz statt. Es herrschte Angst, dass die Roma in manchen Gemeinden die Mehrzahl der Bevöl- kerung erreichen. Die sozial schlechte Lage war dominierend und es überwogen Armut so- wie geringe Bildung. Wie aus einem Protokoll von dieser Konferenz ersichtlich, wurde die Bewegungsfreiheit der Roma eingeschränkt. Man begann, sie namentlich zu erfassen, mit

1 Das Originaldokument ist im Besitz der reformierten Pfarrgemeinde Oberwart.

97 Rudolf Sarközi

Fotos und Fingerabdrücken. Eine Kartothek wurde angelegt. Das war bereits die Vorar- beit zur Deportation in die Konzentrationslager, die schließlich 1939 begann. Am 23. November 1940 wurde in einem ehemaligen Gutshof in Lackenbach das größte „Zigeunerlager“ auf österreichischem Gebiet eingerichtet. Allein aus diesem La- ger wurden 2.000 Roma und Sinti in das Ghetto Łódź/Litzmannstadt deportiert. Insge- samt wurden zwischen dem 4. und 8. November 1941 5.007 Männer, Frauen und Kinder nach Łódź zwangsverschickt. Bereits in den ersten Wochen nach der Ankunft starben 613 Personen, die meisten wahrscheinlich an einer Fleckfieberepidemie. Alle anderen wurden im Dezember 1941 oder Jänner 1942 ins Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof überstellt und vergast. Von den rund 11.000 österreichischen Roma und Sinti haben zehn Prozent überlebt. Nach dem Befehl Himmlers zur Deportation nach Auschwitz-Birkenau wurden An- fang April 1943 mindestens 2.700 österreichische Roma und Sinti in Güterwaggons nach Polen gebracht. Unter schrecklichsten Umständen mussten sie in einem abgegrenzten Bereich, dem „Zigeuner-Familienlager“, leben. Im Hauptbuch des „Zigeunerlagers“ Auschwitz-Birkenau wurden 10.849 weibliche sowie 10.094 männliche Häftlinge regis- triert. Zu fast zwei Drittel stammten die dort internierten Roma und Sinti aus Deutsch- land und Österreich. Jene Menschen, die die Vernichtung überlebt haben, fanden bei der Rückkehr in ihre Heimatgemeinden nichts von dem, was sie einmal in ihrem Besitz hatten. Eine Rückkehr war nicht vorgesehen. Wir wurden – so wie die Juden – vom Säugling bis zum Greis ermordet. In vielen Gemeinden des Burgenlandes gab es keine Überlebenden aus der Roma-Volksgruppe. Die „Heimkehrer“ wurden notdürftig untergebracht und nur gedul- det. Hier beginnt auch meine persönliche Lebensgeschichte. Ich bin 1944 im sogenannten „Zigeunerlager Lackenbach“ geboren. Durch die Armut und rassistische Ausgrenzung blieben wir auch nach dem Krieg von Bildung nahezu aus- geschlossen. Es gab nur den einfachen Schulbesuch (8 Klassen Volksschule). Sehr viele unserer Mitschüler landeten in der Sonderschule. Der Weg zum Sozialempfänger war damit bereits beschritten, denn in der weiteren Folge hatte man keine Chance auf einen Lehrplatz als Handwerker. An eine höhere Schulausbildung war gar nicht zu denken. Unsere Eltern lebten teilweise von Sozialhilfe und Gelegenheitsarbeit.

98 Rom sein in Österreich

Wiedergutmachung

Entschädigungszahlungen für das erlittene Leid kamen sehr zögerlich. Die Überleben- den KZ-Häftlinge wandten sich an die Lagergemeinschaften und Opferverbände. Un- sere Roma wagten es nicht einmal, eine eigene Vertretung zu gründen. Viel zu groß war die Angst vor einer neuerlichen Verfolgung. Die Situation zwang viele von uns in den 1960er-Jahren, unsere Heimatgemeinden zu verlassen, um in den Großstädten in der Anonymität ein neues Leben zu finden; was uns auch gelang. Jene, die nicht den Mut ge- fasst hatten, blieben größtenteils weiter ausgegrenzt. Für junge Menschen standen keine Lehrplätze zur Verfügung.

Roma und Sinti – Österreichische Volksgruppe

Ende der 1980er-Jahre kam es so weit, dass manche Diskothekenbesitzer der Roma- Jugend den Eintritt in ihre Lokale verwehrten. Aufgrund dieser Ereignisse wurde 1989 der erste Roma-Verein Österreichs in Oberwart gegründet. Es war der erste Verein in der Geschichte meiner Volksgruppe und ich gehörte zu den Gründungsmitgliedern. Ich lebte damals bereits 25 Jahre in Wien. Ich stand gesellschaftlich und beruflich auf festen Beinen. Politisch schloss ich mich der SPÖ-Bewegung an. Als einziger österreichischer Rom übte ich von 2001 bis 2010 ein politisches Mandat als Bezirksrat im 19. Wiener Gemeindebezirk aus. Der politische Zugang eröffnete mir viele Möglichkeiten. Vor allem waren ich und meine Familie keinem Rassismus ausgesetzt. Nachdem wir in Oberwart den ersten Roma-Verein aus der Taufe gehoben hatten, folgten in Wien zwei weitere Vereine. Einer davon war der Kulturverein österreichischer Roma, der am 20. Juni 1991 gegründet wurde.2 Seit dieser Zeit bin ich auch Obmann dieses Vereins, der seine Tätigkeit über ganz Österreich erstreckt. Es begann ein neues Zeitalter für uns Roma. Der nächste Schritt war der Weg zur Anerkennung. Am 16. März 1992 übermittelte der Kulturverein österreichischer Roma eine vom Verein Roma in Oberwart mitgetragene Petition betreffend der Anerkennung der Roma und Sinti als Volksgruppe an die Mitglieder der Bundesregierung. Nach einer Anhörung

2 Internetauftritt des Vereins: http://www.kv-roma.at/ (Zugriff 6.9.2012). Siehe auch Rudolf Sarközi, Vom Rand in die Mitte. 20 Jahre Kulturverein österreichischer Roma, Wien 2012.

99 Rudolf Sarközi

wurde sie von Vertretern der Roma und Sinti in Anwesenheit der Abgeordneten Ernst Piller (SPÖ) und Paul Kiss (ÖVP) am 16. September 1992 im Parlament eingebracht. Am 15. Oktober 1992 wurde der Vier-Parteien-Entschließungsantrag die Anerkennung betreffend einstimmig angenommen. Mit einstimmigem Beschluss im Hauptausschuss des Nationalrates vom 16. Dezember 1993 wurden die österreichischen Roma und Sinti als „Volksgruppe der Roma“ (Roma als Oberbegriff für die verschiedenen in Österreich lebenden autochthonen Untergruppen) anerkannt. Der Beschluss erlangte mit der 895. Verordnung der Bundesregierung im Bundesgesetzblatt 323/1993 am 23. Dezember 1993 Rechtskraft. In meinem im Jahr 2008 erschienenen Buch „Roma – Österreichische Volksgruppe. Von der Verfolgung bis zur Anerkennung“3, welches am 28. Oktober 2010 im Parla- ment offiziell präsentiert wurde, schreibe ich, dass die Anerkennung für mich einer der schönsten Tage meines Lebens war. Nur wenige werden nachvollziehen können, was es für mich als Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma bedeutete, die offizielle Anerkennung schwarz auf weiß vor mir zu sehen. Von Anfang an ist es mir um die Rechte gegangen, die uns zustehen. Meine Mutter hat mich einmal – als sie erfuhr, dass ich mich für unsere Anerkennung einsetze – gefragt, warum ich das eigentlich mache. Ich sagte zu ihr: „Ihr habt nicht gesehen, wer euch mit Füßen getreten hat, aber ich dreh’ mich um und will sehen, wer auf mich hinhaut!“ Die Anerkennung war für die Überlebenden des Holocaust enorm wichtig, denn sie sollten endlich auch zu ihren Rechten kommen. Am Tag der Anerkennung musste ich an all unsere Familienmitglieder denken, die in den Konzentrationslagern erniedrigt, gedemütigt, gequält und ermordet wurden. Viele durf- ten diesen historischen Tag nicht erleben. Ein weiterer Beweggrund meiner Bemühungen zum Wohlergehen meiner Volksgruppenangehörigen war der, dass wir uns selbst in der Öffentlichkeit vertreten sollen. Nach dem Krieg haben immer andere für uns geredet und das wollte ich ändern. Ich war schon immer ein politisch denkender und handelnder Mensch und war der Überzeugung, dass niemand anderer unsere Anliegen in der Öffentlichkeit darstellen kann, als wir Roma selbst. Mit der Anerkennung als sechste österreichische Volksgruppe hat die Republik Österreich einen europaweit vorbildlichen Schritt gesetzt. Zwar hatten einige mitteleuropäische Länder wie Ungarn, Tschechien oder die Slowakei bei der Ausarbeitung

3 Rudolf Sarközi, Roma – Österreichische Volksgruppe. Von der Verfolgung bis zur Anerkennung, Klagenfurt/Celovec 2008.

100 Rom sein in Österreich

ihrer neuen Verfassung zu Beginn der 1990er-Jahre auch die Roma als nationale Minderhei- ten berücksichtigt. Als Österreich 1995 als neues Mitglied in die Europäische Union aufge- nommen wurde, war es das einzige Land der EU, in dem die Roma offiziell als Volks- gruppe anerkannt waren. Die Einberufung der Volksgruppenbeiräte erfolgte am 5. September 1995. Um die Zusammensetzung gab es Diskussionen und daher verzögerte sich die Einberufung der acht Beiräte. Die Verzögerung kam aber auch teilweise durch das Attentat in Oberwart zustande. In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 wurden vier Männer der Roma- Volksgruppe durch einen hinterhältigen Rohrbombenanschlag getötet. Das Attentat von Oberwart war der erste politisch motivierte Mordanschlag gegen Roma in der Zweiten Republik und hat eine Welle der Solidarität mit uns Roma ausgelöst. Für die Hinterblie- benen der Opfer fand am 6. März 1995 ein Benefizkonzert in der Wiener Stadthalle statt, dessen Erlös den Familien der Opfer zufloss. Auch die Verantwortlichen der Landes- und Bundesregierung haben damals erkannt, dass für die Verbesserung der Lebenssituati- on der Roma konkrete Projekte ins Leben gerufen werden müssen. Nach dem Attentat musste man niemand mehr von der Notwendigkeit von Schul- und Integrationsprojekten überzeugen.

Roma-Fonds

Die erste Reaktion auf die Ereignisse von Oberwart war die Einrichtung des Roma- Fonds am 8. Februar 1995. Kinder, SchülerInnen, Jugendliche und Erwachsene aus der Roma-Volksgruppe erhalten im Bereich der vorschulischen Erziehung sowie für Aus-, Weiter- und Fortbildung finanzielle Unterstützung. Die Tätigkeit des Fonds erstreckt sich über ganz Österreich. Die Geschäfte des Fonds werden von einem Verwaltungsausschuss geführt, dessen Vorsitzender ich bin. Ziel des Roma-Fonds ist es, Voraussetzungen für Chancengleichheit, Integration und Qualifikation im Bildungs- und Ausbildungsbereich zu schaffen. Durch die Unterstützung des Roma-Fonds konnte in den vergangenen Jah- ren die Bildungssituation von Kindern aus Roma- und Sintifamilien merklich angehoben und ein gesteigerter Zugang in höhere und weiterbildende Schulen und damit auch ein verbesserter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährleistet werden.

101 Rudolf Sarközi

Forschungsprojekte

Das 1996 eröffnete Dokumentations- und Informationszentrum österreichischer Roma verfügt über eine Dauerausstellung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der österreichi- schen Roma und Sinti. Neben Führungen und Veranstaltungen für SchülerInnen und in- teressierte Erwachsene finden hier auch künstlerische und dokumentarische Ausstellun- gen sowie aktuelle Buchpräsentationen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen statt. Eine wohl sortierte Bibliothek und ein Archiv wichtiger zeitgeschichtlicher Dokumente bieten Wissenschaftlern, Studierenden und interessierten Laien Zugang zu ausgewähl- ter Fachliteratur und zu Pressedokumenten und historischem Bildmaterial. Die wissen- schaftlichen Projekte des Zentrums konzentrieren sich auf zeitgeschichtliche Themen, vor allem auf die Aufarbeitung des Schicksals der österreichischen Roma und Sinti in der Periode des Nationalsozialismus. Durch ein vom Wissenschaftsministerium finanziertes zweijähriges Forschungsprojekt zur Situation der burgenländischen Roma zwischen 1945 und 2000 konnten erstmals wichtige Daten zur Bevölkerungsdichte, der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Roma sowie hinsichtlich ihres Ausbildungsstandes und ihrer beruflichen Chancen gewonnen werden. Im Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojektes „Namentliche Erfassung der im ­Nationalsozialismus ermordeten österreichischen Roma und Sinti“ entstand die erste de- taillierte Erfassung aller Opfer aus der Volksgruppe, die den Hinterbliebenen konkret Auskunft über das Schicksal ihrer verschleppten und verstorbenen Familienangehörigen gibt. Durch die Auswertung umfangreicher Archivbestände im In- und Ausland konnte erstmals eine umfangreiche Datenbank mit persönlichen Daten von derzeit rund 11.000 österreichischen Roma- und Sinti-Opfern des Nationalsozialismus aufgebaut werden. Die Datenbank umfasst an die 23.000 Datensätze mit etwa einer Viertelmillion Einzelda- ten. Damit werden erstmals tausende österreichische Opfer des Holocaust an den Roma und Sinti konkret fassbar. Finanzielle Unterstützung erhielten wir vom Nationalfonds der Republik Österreich, dem Sozialministerium, dem Zukunftsfonds und der EU.

102 Rom sein in Österreich

Lage der Roma und Sinti in Österreich

Durch den Roma-Fonds und die außerschulische Lernbetreuung können wir unseren jungen Menschen in entsprechender Form helfen. Dazu ist es notwendig, die soziale Lage der Familien zu verbessern. Durch diese Unterstützung aus der eigenen Volksgrup- pe ist es gelungen, das Selbstbewusstsein zu heben. Dieser Prozess ist ein langer Weg. Wir stehen nicht mehr alleine da, denn der Zugang zur Bildung ist offen. Der Weg muss nur beschritten werden. Vor allem bemerke ich bei den Eltern, die um die 40 Jahre alt sind, dass es ihnen ein großes Anliegen ist, ihre Kinder in eine bessere Zukunft zu füh- ren. Schwieriger ist es nach wie vor mit jenen Kindern und SchülerInnen, deren Eltern ein geringes Einkommen haben, die womöglich nach Österreich eingewandert sind und wenn zusätzlich noch sprachliche Probleme bestehen. Zahlreiche Städte in Österreich haben ein Bettelverbot erlassen. Dieses Gesetz ist nicht durchdacht. Die Bettler sind nicht nur Roma aus Osteuropa, wie es so oft öffent- lich hingestellt wird. Schon gar nicht sind sie organisiert. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, was Armut bedeutet, denn ich bin in sie hineingeboren worden und arm auf- gewachsen. Ich wünsche niemandem, dem Betteln ausgesetzt sein zu müssen. Betteln ist ein Zeichen der Armut, dessen Ursache in Arbeitslosigkeit und Krankheit zu finden ist. Unsere österreichischen Roma sind zumindest so weit finanziell abgesichert, um ihre Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Ohne Nachbarschaftshilfe und karitative Ein- richtungen könnten sehr viele nicht überleben. Wir als Verein können nur so weit helfen, als es unsere Vereinsfinanzen zulassen. Spenden, die bei uns einlangen, sind sehr schnell wieder ausgegeben. Wir haben keine Lobby, keine eigenen Unternehmungen, die in So- zialbelangen helfen könnten. Für mich besteht die Lösung darin, dass unsere jungen Menschen eine bessere Bil- dung erlangen. Der Roma-Fonds leistet einen Beitrag, der über die staatliche Förderung hinausgeht. Unsere Kinder sind genauso gut im Lernen wie jene aus der Mehrheitsbe- völkerung ihrer Altersstufe. Hier haben wir einen wichtigen Weg beschritten, um den Kindern aus finanziell benachteiligten Familien zu helfen. Was ich auch erwähnen möchte, ist, dass nicht alle Volksgruppenangehörigen unsere Unterstützung benötigen. Man findet Roma in den verschiedensten Berufssparten, aber assimiliert. Teilweise kann ich es verstehen. Auch Namensänderungen sind keine Selten- heit.

103 Rudolf Sarközi

Ich stehe zur Integration und zur kulturellen Vielfalt. Der Beweis ist die Zusammen- arbeit mit den anderen fünf österreichischen Volksgruppen, den politischen Parteien und mit der Kirche. Vor zehn Jahren hat noch kein Politiker oder Kirchenvertreter einige Wörter „Roman“ (Sprache der Roma) bei Begrüßungsreden verwendet. Durch eigene ORF-Sendungen sind wir im Radio und Fernsehen, in den Medien vertreten. Die Ver- einszeitungen der verschiedenen Roma-Vereine informieren über unsere Tätigkeit. Als Gast in der Fernsehdiskussionssendung „Club 2“ oder im Radio in „Ö1 – im Journal zu Gast“ nahm ich Stellung zur Situation der Roma in Österreich. Ohne den großen Einsatz hätte ich nicht die vielen Auszeichnungen bekommen. Ganz besonders zählen hier für mich der Berufstitel Professor (2002) sowie das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (2010). Den Internationalen Roma-Tag (8. April) durften wir 2010 im zu den Räumlichkeiten des Parlaments zählenden Palais Epstein feiern. Es ist dies ein Zeichen der Wertschätzung. Die Mitarbeit in verschiedenen Gremien und die Zusammenarbeit mit anderen Volksgruppen sind eine weitere Bestätigung meiner Arbeit. Besonderen Wert lege ich auf die Zusammenarbeit mit der Israelitischen Kultusgemein- de. Warum wird das Negative als Beispiel genommen? Ich habe in Europa vor allem jene Länder besucht, die 2004 in die Europäische Union aufgenommen wurden. Ich habe die Menschen gesehen! Welche Hoffnung haben sie? Keine, wenn nicht massiv geholfen wird. Wann und wer übernimmt die Verantwortung? Die derzeitig herrschende Finanzkrise überlagert jene Themen, die zu diskutieren für diese Menschen lebensnotwendig sind. Viele sind entwurzelt. Sie bekommen keine Aufenthaltserlaubnis, aber auch ein Zurück in ihre Heimat ist nicht mehr möglich. Die Kinder sind hier am schrecklichsten dran. Sie gehören nirgendwo hin und sind „Frem- de“ in der alten Heimat wie auch in dem Land, in dem sie zur Zeit leben. Ein negatives Beispiel war die Abschiebung der Roma aus Frankreich im Sommer 2010. Dies führte auch zu großer Aufregung in Brüssel – eigentlich müsste man dem damaligen französi- schen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy „dankbar“ sein. Ich bin überzeugt, dass zehn bis zwölf Millionen Roma in Europa ein Recht auf ein besseres Leben haben. Gefordert sind alle, die Politik, aber auch die Roma selbst. Sie sind Staatsbürger des Landes, in dem sie leben, und verdienen eine menschen- würdige Existenz. Österreich ist ein Vorzeigebeispiel in der Volksgruppenpolitik. Jeder Mensch ist wertvoll. Ist er gut ausgebildet, findet er in der Gesellschaft seinen Platz.

104 Peter Hilpold

Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europa- recht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

1. Einführung

Die Abschiebung einer größeren Anzahl von Roma aus Frankreich hat zu internationaler Empörung geführt, gleichzeitig aber auch offen gelegt, welche Defizite im Schutz ver- wundbarer Gruppen selbst in einem hochentwickelten Grundrechtsraum wie dem euro- päischen bestehen. Gerade weil in dieser Region unterschiedliche Grundrechtsregime in wechselseitiger Konkurrenz stehen und sich mit immer fortschrittlicheren Schutzvor- kehrungen materieller und prozeduraler Natur laufend zu überbieten suchen, wird diese Lücke als umso gravierender empfunden. Diese Situation sollte Anlass für eine Bestands- aufnahme in der Entwicklung des internationalen Minderheitenrechts darstellen.1 In der Völkerrechtswissenschaft wurde vom Minderheitenrecht als einer „internatio- nalen Rechtsnorm auf der Suche nach ihrem Gegenstand“ gesprochen.2 Tatsächlich ver- blüfft, wie umfang- und detailreich das internationale Minderheitenrecht mittlerweile geworden ist, während andererseits noch so viele Anwendungsdefizite und Anwen- dungszweifel bestehen. Wenn nachfolgend auf die Situation der Roma einzugehen sein wird und dabei aufgezeigt wird, dass die vorhandenen Instrumente nur unzureichend dem entsprechenden Schutzbedarf gerecht werden können, so muss vorab ein genereller Rahmen erstellt werden, der das Potenzial, aber auch die Unzulänglichkeiten dieses Rechtsgebietes im Allgemeinen sichtbar macht. Es wird zu zeigen sein, dass das Minder- heitenrecht verschiedene Reibungsflächen mit einer modernen, grundsätzlich individua- listisch orientierten Verfassungsordnung aufweist. Andererseits wird aber auch zu zeigen sein, dass gerade in einer hochentwickelten Rechtsordnung Minderheitenschutz unver-

1 Dieser Beitrag wurde auch abgedruckt in: Journal für Rechtspolitik 19, 1 (2011), S. 251–262. 2 Vgl. Ernst-Jörg von Studnitz, Minderheitenschutz im KSZE-Prozess, in: Dieter Blumenwitz/Hans von Mangoldt (Hg.), Neubestätigung und Weiterentwicklung von Menschenrechten und Volksgruppenrechten in Mitteleuropa, Bonn 1991, S. 31–37, hier S. 34.

105 Peter Hilpold

zichtbar ist. Über die Bezugnahme auf den Schutzbedarf der Roma kann wiederum verdeutlicht werden, dass das Minderheitenrecht einer Fortentwicklung und Ergänzung bedarf. Die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte des Minderheiten- rechts liefert reichlich Anschauungsmaterial für die Beurteilung der Frage, welche Fehler vermieden werden sollen und auf welche Herausforderungen besonders zu achten ist.

2. Die Entwicklung des Minderheitenrechts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Das internationale Minderheitenrecht ist weit älter als der internationale Menschen- rechtsschutz, der sich erst im Schoße der Vereinten Nationen herausbilden konnte. Um- gekehrt können im Minderheitenrecht der Vergangenheit erste Ansätze für die Heraus- bildung des modernen Menschenrechtsschutzes gesehen werden.3 Die ersten Minderheitenschutzregelungen galten den religiösen Minderheiten: So wurde im Augsburger Religionsfrieden von 1555 zwar dem Landesherren das Recht ein- geräumt, die Konfession der Untertanen zu bestimmen („cuius regio eius religio“). An- dererseits wurde aber den Untertanen, die mit der Religion ihres Landesherren nicht einverstanden waren, das Recht eingeräumt auszuwandern.4 Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden diese Rechte bestätigt und ausgedehnt, wobei die Reformierten besonderen Schutz erfuhren. Zahlreiche Verträge der Folgezeit führten diese Praxis fort und verdichteten sie.5 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Minderheitenschutz im Verhält- nis zwischen dem russischen Zarenreich und dem Osmanischen Reich immer wichtiger. Das Zarenreich, der weltliche Hüter der Ostkirche, legte dem immer schwächer werden- den Osmanischen Reich Verpflichtungen zum Schutz der Christen (Kapitulationen) auf. Der im 18. Jahrhundert aufkommende Nationalismus und die damit verbundene He- rausbildung von Nationalstaaten führten im Reflexwege zu einer neuen Kategorie von

3 Dies gilt insbesondere für den breiten Bereich des Kampfes gegen Diskriminierung. Zu den Spuren des Menschen- rechtsschutzes im Völkerrecht der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg siehe Hersch Lauterpacht, International Law and Human Rights, New York 1950, S. 33. 4 Vgl. dazu Erich Pircher, Der vertragliche Schutz ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten im Völkerrecht, Bern 1979, S. 62. 5 Vgl. insbesondere die Friedensverträge von Oliva (1660), Nymegen (1678) und Rijswijk (1678), den Vertrag von Warschau (1773) und den Friedensvertrag von Kucuk Kainardji (1779).

106 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

Minderheiten, der ethnisch-nationalen. Die Forderung „Jeder Nation ihr eigener Staat“ war eben nicht erfüllbar, die ethnisch homogene Nation eine Chimäre. Virulent wurde dieses Problem dann, wenn es infolge von Kriegen zu Grenzverschiebungen kam und damit zusammengefügt wurde, was auf den ersten Blick nicht homogen war. Es wurde aber auch erkannt, dass der Volksbegriff stark von subjektiven Elementen geprägt war, Völker rasch ineinander aufgehen und Schutz insbesondere in der ersten Phase der Neu- festlegung von Staatsgrenzen erforderlich war. Dieser Schutz war vornehmlich als Schutz vor Diskriminierung konzipiert. Ein wichtiger diesbezüglicher Schritt wurde mit dem Berliner Kongress von 1878 ge- setzt: Dabei wurde insbesondere den neu entstandenen Staaten auf dem Balkan als Vor- aussetzung für eine Anerkennung das Eingehen von entsprechenden Minderheiten- schutzverpflichtungen abverlangt.6 Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen politisch-territorialen Konsequenzen wurde eine völlig neue Phase eingeleitet, und zwar aus folgenden Gründen: • Die Ereignisse, die zum Krieg geführt hatten, und der Krieg selbst hatten als Grundlage eine Eskalation des nationalistischen Geistes, der schließlich auch für die Friedensverhandlungen prägend wurde. • Die Zerschlagung der Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich, die über weite Gebiete von einer ethnischen Gemengelage geprägt waren, musste zur Entstehung zahlreicher neuer Minderheiten führen. Dasselbe galt für die territoriale Verkleinerung des Deutschen Reiches. • Viele dieser Ethnien waren ihrerseits schon längst vom nationalen Gedanken er- fasst worden bzw. Teil eines national gefestigten Volkes. Von einer freiwilligen Assimilierung durch eine neue Mehrheitsbevölkerung, welche oft kurz zuvor noch den Status einer Minderheit nachrangigen Rechts innegehabt hatte, war nicht auszugehen.

Damit war also der Bedarf an Schutzvorkehrungen gegeben, die möglichst langfristig die Wahrung der kulturellen Identität dieser neu entstandenen Minderheiten schützen und ihre Diskriminierung verhindern sollten. Damit waren die wesentlichen Herausforderun-

6 Vgl. dazu ausführlich Hersch Lauterpacht, Recognition in international law, Cambridge 1947 sowie Peter Hilpold, Die Anerkennung der Neustaaten auf dem Balkan, in: Archiv des Völkerrechts, 4 (1993), S. 387–408.

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gen des Minderheitenschutzsystems im Völkerbund, aber auch die extreme Dimension der damit verbundenen Herausforderungen schon vorgezeichnet.

3. Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes

Nachdem der Selbstbestimmungsanspruch im Rahmen der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg nur in sehr eingeschränkter, ja willkürlicher Form Anerkennung gefunden hat, hat man in der Gewährung von Minderheitenschutz eine Alternative bzw. zumindest einen partiellen Ausgleich gesehen. In der Folge wurde ein komplexes System von Schutzregelungen materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Natur entwickelt. Im Einzelnen wurden gesonderte Minderheitenschutzverträge abgeschlossen, Minder- heitenschutzverpflichtungen in einzelne Friedensverträge aufgenommen oder auch nur Deklarationen mit entsprechenden Schutzzusagen abgegeben. a) Minderheitenschutzverträge Es handelt sich dabei um die Verträge der alliierten und assoziierten Mächte mit: • Polen (Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919, in Kraft seit dem 10. Januar 1920); • dem Serbisch-Kroatisch-Slowenischen Staat (Vertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919, in Kraft seit dem 16. Juli 1920); • der Tschechoslowakei (Vertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919, in Kraft seit dem 16. Juli 1920); • Rumänien (Vertrag von Paris vom 9. Dezember 1919, in Kraft seit dem 4. Sep- tember 1920); • Griechenland (Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920, abgeändert durch das Protokoll von Lausanne vom 24. Juli 1923, in Kraft seit dem 6. August 1924). b) Friedensverträge Z. T. wurden Minderheitenschutzverpflichtungen in die Friedensverträge aufge­nom­ men. Es handelt sich dabei um die Verträge der alliierten und assoziierten ­Mächte mit: • Österreich (Vertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919, in Kraft seit dem 16. Juli 1920);

108 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

• Bulgarien (Vertrag von Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien vom 27. November 1919, in Kraft seit dem 26. Juli 1921); • der Türkei (Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, in Kraft seit dem 6. August 1924).7 c) Minderheitenschutzerklärungen Von einzelnen Staaten wurden schließlich Minderheitenschutzerklärungen abgege- ben, und zwar von: • Albanien (am 2. Oktober 1921); • Litauen (am 12. Mai 1922); • Lettland (am 7. Juli 1923); • Estland (am 17. September 1923); • Irak (am 30. Mai 1923).

Diese Regelungen – insbesondere die Minderheitenschutzverträge – enthielten umfas- sende Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierung, aber auch positive Leistungsrech- te. Zur ersten Gruppe zählen verschiedene Freiheitsrechte (Leben, Freiheit, Religionsaus- übung, Sprachgebrauch und Meinungsäußerung) sowie die politischen Rechte und die sonstigen bürgerlichen Rechte (Wahlrechte, Zulassung zu öffentlichen Ämtern, Aus- übung von Berufen und Gewerben). Zu den Leistungsrechten zählen dagegen der An- spruch auf einen staatlich finanzierten Grundschulunterricht in der Minderheitenspra- che sowie die Zuweisung eines „gerechten Anteils“ an den öffentlichen Ausgaben für Erziehung, Religion und Wohlfahrt. Schließlich wurde noch das Recht eingeräumt, auf eigene Kosten soziale, religiöse und kulturelle Einrichtungen, insbesondere Schulen und Erziehungsanstalten, zu errichten, zu leiten und zu beaufsichtigen und in ihnen die Min- derheitensprache frei zu gebrauchen und die Minderheitenreligion auszuüben. Wichtig war die Schaffung eines entsprechenden Kontrollmechanismus. Grundsätz- lich sollten die Mitglieder des Völkerbundrates diesen auf Verletzungen der Schutzver- pflichtungen aufmerksam machen. Im Grunde war damit ein Staatenbeschwerdeverfah- ren geschaffen worden. Es ist allerdings aus den Erfahrungen der Gegenwart bekannt,

7 Dieser zuletzt genannte Vertrag ist an die Stelle des Vertrages von Sèvres vom 10. August 1920 getreten und bein- haltete aus minderheitenschutzrechtlicher Sicht einen klaren Rückschritt im Vergleich zu der drei Jahre zuvor ge- troffenen Regelung. Die militärische Erstarkung der Türkei und die verheerende Niederlage Griechenlands im Krieg 1920/1922 hatten aber neue Fakten geschaffen.

109 Peter Hilpold

dass Staatenbeschwerdeverfahren im menschenrechtlichen Bereich kaum wirksam sind, da sich kaum ein Staat bereit findet, für Anliegen dieser Art, die ja die Staatengemein- schaft als Ganze betreffen, seine Beziehungen zum Staat aufs Spiel zu setzen, der Adres- sat dieser Kritik ist. Kontrollverfahren sollten deshalb vorzugsweise von der staatlichen Sphäre losgelöst und bei einem internationalen Organ angesiedelt werden. Es war damit sehr weitblickend, dass man Anfang der 1920er-Jahre innerhalb des Völkerbundrates die- se Problematik bereits erkannt hat und in einer Form faktischer Fortentwicklung des Organisationsrechts ein Prüfverfahren für Individualbeschwerden eingeführt hat. Ein Dreierausschuss, bestehend aus dem Ratspräsidenten sowie zwei weiteren Ratsmitglie- dern nahm die Überprüfung der Beschwerde vor und konnte schließlich auch den Völ- kerbundrat damit befassen. Der Völkerbundrat konnte – mit Unterstützung der Minder- heitenabteilung – dazu selbst Stellung beziehen oder auch den Ständigen Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten ersuchen. Beides ist in der Zwischenkriegszeit wiederholt geschehen. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Corpus an Erhebungen, Analysen und Empfehlungen, die die weitere Entwicklung des internationalen Minderheitenrechts nachhaltig geprägt haben. Auf der faktischen Ebene ist das Ergebnis allerdings enttäuschend: Bekanntlich ist das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes samt und sonders untergegangen. In einer Ex-post-Betrachtung ist besonders der Umstand erschütternd, dass gerade jene Minder- heiten, die durch dieses System in der Zwischenkriegszeit einen gewissen Schutz erfahren haben, nur wenige Jahre später Opfer einer ganz massiven Diskriminierung geworden sind. Sie wurden verfolgt, vertrieben, ausgelöscht. Das ist ein entmutigender Befund und könnte dazu verleiten, überhaupt am Sinn des Minderheitenschutzes zu zweifeln. Ist es nicht zynisch, einer Minderheit den Eindruck zu vermitteln, man nehme sie ernst, man wolle sie schützen und fördern, nur um dann jede Forderung nach Einhaltung dieser Zugeständnisse als Illoyalität auszugeben und mit dem Argument, die Minderheit habe es nicht anders gewollt, nicht anders verdient, mit jener Brutalität diesem „Problem“ ein Ende zu bereiten, die man unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nicht an den Tag zu legen gewagt hatte? Tatsächlich sind bei der sachgerechten Aufarbeitung dieser Epoche nach wie vor viele Versäumnisse festzustellen.8 Allzu leichtfertig wird den betreffenden Minderheiten eine

8 Dabei gäbe es genügend zeitgenössische Literatur, die ein verlässliches, einprägsames Bild dieser Zeit vermitteln würde. Vgl. bspw. Arthur von Balogh, Der internationale Schutz der Minderheiten, München 1928; Julius Stone, International Guarantees of Minority Rights, London 1932; Carlile Aylmer Macartney, National states and national

110 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

Mitschuld, wenn nicht sogar die Hauptverantwortung für das Versagen dieses Systems zugesprochen. Immer wieder findet sich das Argument, insbesondere die deutschen Min- derheiten hätten sich von Hitler als „fünfte Kolonne“ missbrauchen lassen. Eine sorgfäl- tigere Auseinandersetzung mit dieser Epoche belegt hingegen sehr klar, dass diese Argu- mentation unhaltbar ist. Sieht man sich die zeitgenössischen Beschwerden und Lagebe- ­schrei­bungen an, so muss man vielmehr den Eindruck gewinnen, dass sich das minder­ heitenpolitische Klima europaweit zusehends verschlechterte. Eine wirkliche Bereit- schaft, den Minderheiten entgegen zu kommen, war am ehesten in der Tschechoslowakei festzustellen und dies auch nur in der ersten Periode. Den Minderheiten kann allenfalls der Vorwurf gemacht werden, dass sie die Möglichkeiten des Völkerbundes überschätz- ten und nicht erkennen wollten, dass die Zeit gegen sie arbeitete, wobei die sich anbah- nende Katastrophe kaum jemand in ihrer vollen Dimension vorhersehen konnte. Auf­ fallend ist tatsächlich, dass die deutschen Minderheiten über viele Jahre hin am nachhal- tigsten auf die Einhaltung der gemachten Zusagen pochten und sich dabei auch der Un- terstützung eines doch immer noch einflussreichen Mutterlandes sicher wussten. Daraus sollten aber keine voreiligen Schlussfolgerungen gezogen werden. Es war gerade der deutsche Außenminister Stresemann, der sich für einen Ausgleich zwischen den Natio- nen und für einen Minderheitenschutz im unmittelbaren Dienste der betroffenen Indivi- duen stark gemacht hatte. Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass mit dem Minder- heitenschutzsystem des Völkerbundes ein Vertrauenstatbestand begründet worden ist. Millionen Minderheitenangehörigen wurde der vom US-amerikanischen Präsidenten proklamierte Selbstbestimmungsanspruch gerade unter Hinweis auf die Alternative des Minderheitenschutzes verwehrt. Wäre 1919/1920 schon deutlich gewesen, dass dieses System letztlich zur Chimäre verkommen sollte, so hätten die Siegermächte wohl nur schwer auf derart breiter Ebene den Selbstbestimmungsgrundsatz missachten können. Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, war das Minderheiten- schutzsystem des Völkerbundes praktisch schon gescheitert gewesen. Definitiv besiegelt war das Schicksal dieses Systems schließlich mit der Kündigung des Minderheitenschutz- vertrages durch Polen im Jahr 1934.9 Hitler-Deutschland hat nicht das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes miss- braucht, sondern sich bewusst außerhalb davon gestellt. Nach der nationalsozialistischen

minorities, London 1934; Jacob Robinson u. a., Were the Minorities Treaties a Failure?, New York 1943 und Pablo de Azcárate, League of nations and National Minorities – An Experiment, Washington 1945. 9 Der Vertrag mit Polen aus 1919 hatte gleichsam die Schablone für die übrigen Minderheitenschutzverträge gebildet.

111 Peter Hilpold

Machtergreifung hat Deutschland sogar zwei Beschwerden in Minderheitenfragen, die vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof anhängig gemacht worden sind, zurück- genommen. Das Versagen des Minderheitenschutzsystems war umgekehrt Wind in den Segeln der Nationalsozialisten. Eine völlig andere Haltung als die deutschen Volksgruppen nahmen die jüdischen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa ein. Diesen schlug eine besonders ausgeprägte Ablehnung entgegen. Polen hatte schon gegen die Berücksichtigung der jüdischen Min- derheit im Minderheitenschutzvertrag von 1919 schärfsten Widerstand an den Tag ge- legt. Die Angehörigen der jüdischen Minderheiten haben nur vereinzelt ihr Los über eine Anrufung des Völkerbundes zu verbessern versucht. Dennoch war diese Minderheit auch in der Zwischenkriegszeit in vielen Staaten Mittel- und Osteuropas schwerster, sys- tematischer Verfolgung ausgesetzt. Aus dem Scheitern dieses Systems können dennoch nützliche Erkenntnisse für die Zukunft gewonnen werden – zumindest in dem Sinne, dass die Ursachen dieses Versa- gens ermittelt werden und für die Zukunft Sorge getragen wird, ähnliche Fehler zu ver- meiden: • Ein internationales Minderheitenschutzsystem kann sich nur eingebettet in einem allgemeinen Menschenrechtsschutzsystem wirksam entfalten. • Es ist Menschenrechtsarbeit in den einzelnen Vertragsstaaten zu leisten, damit sich eine solide Grundrechtskultur herausbilden kann. • Die Unterstützung einer Minderheit durch eine Mutternation kann nützlich sein; es handelt sich dabei aber stets um eine heikle Angelegenheit.10 Am nachhaltigsten un- terstützt eine Mutternation „ihre“ Minderheit im Ausland, wenn sie für gute interna- tionale Beziehungen sorgt und jene internationalen Organisationen unterstützt, die Minderheiten in ihren Anliegen Hilfestellung leisten können. • Generell können internationale Organisationen einen zentralen Beitrag zum Minder- heitenschutz leisten. Das Versagen des Minderheitenschutzsystems des Völkerbun- des war nicht zuletzt das Versagen des Völkerbundes selbst. Ein Bekenntnis zu Mul- tilateralismus und internationaler Friedenssicherung stellt wichtige Garantien für den Erfolg eines Minderheitenschutzsystems dar. Zudem war die Partikularität und Selek- tivität dieses Systems Anlass für massive Kritik. Völlig unbeachtet blieben in dieser

10 Vgl. zu dieser Thematik Peter Hilpold/Christoph Perathoner, Die Schutzfunktion des Mutterstaates im Minderhei- tenrecht – The „kin state“, Wien u. a. 2006.

112 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

Zeit die Roma, die ohne Fürsprecher, ohne „kin state“, massiver Diskriminierung ausgesetzt waren, die direkt überleiten sollte in den Holocaust während der national- sozialistischen Schreckensherrschaft.11

4. Minderheitenschutz im UN-System

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Idee des Minderheitenschutzes schwerwiegend kompromittiert zu sein. Auf der faktischen Ebene konnte der Eindruck entstehen, dass Vertreibung und Vernichtung von ganzen Volksgruppen einen Bedarf an spezifischen minderheitenrechtlichen Schutzvorkehrungen hinfällig gemacht hätten. Wie der bekannte in den USA tätige österreichische Völkerrechtler Josef Kunz sagte: Minderheitenschutz war außer Mode gekommen. Nun trägt man Menschenrechte.12 Das Individuum sollte im Mittelpunkt stehen, nicht mehr das Kollektiv. Rasch wurde aber erkannt, dass die grundlegenden Rechte des Individuums auch sein soziales Sein mit umfassen und verschiedenste Rechte nur über das Kollektiv vermittelt und garantiert werden können. Doch wie sollte der Schutz dieser Ansprüche erfolgen, ohne gleichzeitig die Gefahr heraufzubeschwören, Antagonisten für das nationale System zu schaffen und damit die Souveränität der Staaten zu schwächen, die gerade erst eine Neubetonung er- fahren hat? Zusätzlich erschwert wurde die Suche nach einer Lösung dieser Frage durch den sehr rasch ausbrechenden Kalten Krieg. Ideologische Gegensätze überlagerten nun traditionelle juristische Kategorien und führten zu einer Verwirrung in den Orientierun- gen: • Der westlich-liberale Block hatte zwar Erfahrungen mit dem Konzept des Minderhei- tenschutzes und strebte prinzipiell nach einem umfassenden Grundrechtsschutz. Gleichzeitig misstraute man mehr denn je der kollektivrechtlichen Prägung dieses

11 Dass die Politik der Zwischenkriegszeit in Bezug auf die Sinti und Roma wegbereitend war für die Vernichtungs- maßnahmen während der nationalsozialistischen Zeit, zeigt exemplarisch die Situation in Österreich, wo eine „Zi- geunerkartothek“ mit Daten und Fingerabdrücken der Sinti und Roma angelegt wurde, die 1938 dem „Rasse- und Siedlungshauptamt –SS“ zur Verfügung gestellt worden ist – der erste Schritt zur planmäßigen Vernichtung dieser Volksgruppe. Vgl. dazu im Detail Erika Thurner, Die Zigeuner als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Öster- reich, Dissertation, Salzburg 1982. Vgl. zur Situation der Sinti und Roma in Österreich auch Peter Hilpold, Modernes Minderheitenrecht, Wien 2001, S. 391ff. 12 „At the end of the First World War, ’international protection of minorities’ was the great fashion … Recently this fashion has become obsolete. Today the well dressed international lawyer wears ’human rights’”. Vgl. Josef-Laurenz Kunz, The Present Status of the International Law in the Protection of Minorities, in: AJIL, 1 (1954), S. 282.

113 Peter Hilpold

Anspruchs, die mit der Gefahr verbunden zu sein schien, eine Konkurrenz bzw. eine Alternative für den Individualrechtsschutz zu schaffen. • Die sozialistischen Staaten hatten dagegen den genau spiegelverkehrten Zugang zu dieser Materie: Einer Stärkung der kollektivrechtlichen Komponente im internationa- len Grundrechtsschutz war man grundsätzlich sehr gewogen, doch betrachtete man die Einfügung dieses Schutzansatzes in internationale Mechanismen, die primär dem Individualrechtsschutz gewidmet und mit einer Relativierung der nationalen Souverä- nität verbunden waren, mit Argwohn. • Das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen und Bemühungen war schließlich ein Kom- promiss, Art. 27 des UN-Menschenrechtspaktes über bürgerliche und politische Rechte (sog. UN-Pakt II), der folgendermaßen lautet: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“

Nachdem die Verhandlungen für einen Menschenrechtspakt schon unmittelbar nach der Verabschiedung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung 1948 aufgenommen worden waren, stand die genannte Bestimmung in Art. 27 1954 fest. Definitiv verabschiedet wur- de sie – gemeinsam mit dem gesamten Vertragstext – im Jahr 1966. Sie trat nach dem Zusammenkommen der nötigen Ratifikationen im Jahr 1976 in Kraft – über ein Viertel- jahrhundert, nachdem die Arbeiten daran begonnen hatten. Nun musste aber die genannte, doch eher vage Bestimmung erst mit Leben gefüllt werden. Dazu diente in erster Linie das – fakultative – Individualbeschwerdeverfahren. Danach können sich Personen, die in den Vertragsstaaten Opfer einer Vertragsverletzung geworden sind, mit einer Mitteilung an den Menschenrechtsausschuss wenden.13 Dieser prüft diese Beschwerden – audiatur altera pars – und kann dann entsprechende Bemerkun- gen abgeben. Dieses sehr souveränitätsschonend formulierte Verfahren hat über die Jah- re hin zu einer beeindruckenden „Rechtsprechung“ geführt, die mittlerweile wichtige Anhaltspunkte für die Definition internationaler Minderheitenschutzstandards liefert. Eine weitere Präzisierung dieses Standards ist mit der Deklaration über die Rechte von

13 Voraussetzung dafür ist, dass der betreffende Vertragsstaat das I. Zusatzprotokoll zum UN-Pakt I ratifiziert hat.

114 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten gehören, erfolgt, die am 18. Dezember 1992 von der UN-Generalversammlung verab- schiedet worden ist.14 Im Jahr 1994 folgte ein „Allgemeiner Kommentar“ des Menschen- rechtsausschusses zu Art. 27, der auf der Grundlage der bereits behandelten Fälle, aber auch prospektiv im Sinne einer wirksameren Auseinandersetzung mit minderheitenrecht- lichen Fragen in der Zukunft erarbeitet worden ist. Insgesamt kann zu dieser Entwicklung festgehalten werden, dass aus unscheinbaren Anfängen, ausgehend von einer Situation, die dem Minderheitenschutzgedanken gegen- über ablehnend gestimmt zu sein schien, zwischenzeitlich wieder ein breites Gebäude an substantiellen und verfahrensrechtlichen Schutzvorkehrungen zugunsten von Minder- heitenangehörigen entstanden ist. Minderheitenschutz ist – um mit Kunz zu sprechen – definitiv wieder in Mode.

Was sind nun die wesentlichen Eigenschaften dieses Rechtsgebäudes? • Das Minderheitenrecht ist integrierender Teil des Menschenrechtsschutzsystems. Das Individuum steht im Vordergrund, nicht das Kollektiv. Gleichzeitig wird aber er- kannt, dass der Minderheitenangehörige seine Identität in einem erheblichen Ausmaß aus dem Kollektiv bezieht und dass bestimmte Minderheitenrechte sinnvollerweise nur im Kollektiv ausgeübt werden können. Das Kollektiv erfährt damit auf indirek- tem Wege Schutz, gleichsam im Reflexwege. • Lange war strittig, ob Art. 27 allein Schutz vor Diskriminierung bietet oder auch po- sitive Gewährleistungspflichten beinhaltet. Nunmehr überwiegt eindeutig die zweit- genannte Position.15 U. U. haben die Staaten auch finanzielle Hilfestellung zu leisten.16 • Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit bestimmt sich grundsätzlich über das subjek- tive Bekenntnisprinzip. Objektive Elemente können allenfalls für eine nachprüfende

14 GV Res. 47/137 vom 18.12.1992. 15 Grundlegend dazu war die Arbeit von Christian Tomuschat, Protection of Minorities under Art. 27 of the Interna- tional Convenant on Civil and Political Rights, in: Festschrift Hermann Mosler, Berlin 1983, S. 949–979. Vgl. auch Peter Hilpold, Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen – Die Deklaration v. 18. Dezember 1992, in: SZIER, 1-2 (1994), S. 31–54; Athanasia Spiliopoulou Akermark, Justifications of Minority Protection in Inter- national Law, o. O. 1997 und Peter Hilpold, UN Standard-Setting in the Field of Minority Rights, in: International Journal on Minority and Group Rights, 14 (2007), S. 181–205. 16 Vgl. Kay Hailbronner, Der Schutz der Minderheiten im Völkerrecht – Zum Problem besonderer politischer Reprä- sentationsrechte von Minderheiten, in: Festschrift Dietrich Schindler, Basel/Frankfurt 1989, S. 75 ff.

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Missbrauchskontrolle herangezogen werden. Es darf also dem Einzelnen grundsätz- lich nicht verwehrt werden, sich zu einer Minderheit zu bekennen.17 • Besondere Aufmerksamkeit hat der Menschenrechtsausschuss dem Schutz von Landrechten und der natürlichen Lebensweise von Minderheiten – insbesondere wenn es sich um indigene Völker gehandelt hat – geschenkt (vgl. Kitok gegen Schwe- den, Lubicon Lake Band gegen Kanada oder Länsman et al. gegen Finnland). • Sehr umstritten war und ist die Frage, ob Art. 27 des UN-Paktes II allein „traditionel- le“, „autochthone“, d. h. alteingesessene Minderheiten schützt oder auch sog. neue Minderheiten. Mittlerweile besteht weitgehende Einigkeit darin, dass zwischen diesen beiden Kategorien differenziert werden kann. Ein gewisser Schutz, zumindest ein Schutz vor Diskriminierung, darf aber auch den neuen Minderheiten nicht verwehrt werden. • Die Einhaltung der Minderheitenrechte wird nicht nur im Beschwerdeverfahren kontrolliert, sondern auch über ein Berichtsverfahren. Danach haben die Vertrags- staaten des Menschenrechtspaktes II periodisch über die Einhaltung der Paktver- pflichtungen Bericht zu erstatten. Diese Berichte werden dann vom Menschen- rechtsausschuss einer Prüfung und Würdigung unterzogen. Die damit verbundene Publizität stellt ein wichtiges Instrument zur Sicherstellung der Einhaltung dieser Verpflichtungen dar.18

Insgesamt sind damit auf UN-Ebene wertvolle Beiträge zur Fortentwicklung und Siche- rung minderheitenrechtlicher Garantien erbracht worden.

5. Die europäische Ebene

Der Gedanke des Minderheitenschutzes nimmt in Europa seinen Ausgang. In Europa sind die kulturellen Rahmenbedingungen und die ideologischen Grundhaltungen im Menschenrechtsschutz auch viel homogener als auf universeller Ebene. Es ist also davon

17 Dies hat der Menschenrechtsausschuss schon sehr früh und deutlich im Lovelace-Fall (Mitteilung Nr. 24/1977; Be- merkungen in A/36/40 [1981]) zum Ausdruck gebracht. In der kanadischen Indianergesetzgebung, die einer In- dianerin, Sara Lovelace, die Rückkehr in das Reservat verwehrte, nachdem sie sich von ihrem weißen Ehemann hat scheiden lassen, wurde ein Verstoß gegen Art. 27 des UN-Menschenrechtspaktes II gesehen. 18 Grundsätzlich stellt Publizität ein wichtiges Instrument zur Sicherstellung der Einhaltung völkerrechtlicher Normen dar. Vgl. Hanspeter Neuhold, in: Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, Wien 2004, S. 12f.

116 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

auszugehen, dass im europäischen Raum ein Konsens für viel weiter reichende Maßnah- men gefunden werden kann. Dies ist auch durchaus der Fall, wenngleich dieser Prozess ein sehr mühsamer war und immer wieder ein Neustart vorzunehmen war.

5. 1 Die Europäische Union

Große Erwartungen wurden in die Europäische Gemeinschaft bzw. nunmehr in die Eu- ropäische Union gesetzt. Diese hat aber sehr lange die Frage des Minderheitenschutzes zu meiden versucht. Die EG galt lange Zeit als „minderheitenblind“. Mit der Ausweitung des gemeinschaftlichen Kompetenzbereichs musste sie sich aber schließlich dieser Frage stellen.19 Virulent wurde die Problematik mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens und der UdSSR. Die EG musste sich eine Strategie zurecht legen, wie sie mit den um Anerken- nung ersuchenden Staaten verfahren sollte. Sie erkannte sofort, dass aufgrund der ethni- schen Gemengelage auf dem Balkan und in Osteuropa ein hinreichender Minderheiten- schutz der zentrale Faktor für eine Stabilisierung dieses Gebietes sein würde. In ihren Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten vom 16. Dezember 199120 hat sie dann auch die Gewährleistung eines hinreichenden Minderheitenschutzes zur Vorbedingung für eine Anerkennung gemacht – ähnlich wie dies schon im Rahmen des Berliner Kon- gresses 1878 geschehen ist. Tatsächlich waren die sich neu konstituierenden Staatsgebilde fortan auch bemüht, entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen. Bekanntlich hat der jugoslawische Zerfallsprozess letztlich zu schwersten Verbrechen gerade vor dem Hintergrund eines ethnischen Konfliktes geführt. Dennoch ist der EU-Anerkennungs- politik zugute zu halten, dass sie dazu beigetragen hat, über weite Regionen einen weitge- hend friedlichen Übergang von kommunistischen Gewaltherrschaften, die die ethnischen Konflikte nur unterdrückten, zu liberal-demokratischen Systemen zu ermöglichen, die sich diesen Konflikten stellten und sie zu lösen versuchten. Im Zuge des EU-Erweiterungsprozesses wurden ebenfalls Bedingungen gestellt: Es wurde ein Annäherungsprozess in die Wege geleitet, in dessen Rahmen den Beitrittskan-

19 Vgl. ausführlich dazu Peter Hilpold, Minderheiten im Unionsrecht, in: Archiv des Völkerrechts, Bd. 39, 2001, S. 432–471; Bruno de Witte/Enikö Horváth, The many faces of minority policy in the European Union, in: Kristin Henrard/Robert Dunbar, Synergies in Minority Protection, o. O. 2008, S. 365–384 und Gabriel N. Toggenburg (Hg.), A Rough Orientation Through a Delicate Relationship: The European Union‘s Endeavours for (its) Minori- ties, EIOP, Bd. 4, 2000, Nr. 16, http://eiop.or.at/eiop/texte/2000-016a.htm (Zugriff 4. 11. 2010). 20 31 ILM 1992, S. 1485–1487.

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didaten eine Vielzahl an Verpflichtungen wirtschaftlicher und politisch-rechtlicher Natur auferlegt worden ist, wobei Vorgaben im Bereich des Minderheitenschutzes eine ganz prominente Rolle eingenommen haben. Dabei wurde insbesondere auch auf eine Ver- besserung des Loses der Roma abgezielt. Nachfolgend sind EU-intern Bemühungen in die Wege geleitet worden, die von der EU außenpolitisch vertretene Position auch intern zur Geltung zu bringen, von der EU selbst also die Übernahme minderheitenrechtlicher Verpflichtungen zu verlangen. Dabei traten extreme Gegensätze zu Tage. Diese Bemühungen, die im Europäischen Parlament insbesondere von deutschen Vertretern vorangetragen worden sind und auf einem Kon- zept eines „völkischen“ Minderheitenrechts21 beruhten, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt, da diese Konzeption des Minderheitenschutzes in diametralem Ge- gensatz zu der insbesondere von Frankreich, aber auch von Großbritannien an den Tag gelegten Haltung stand. Für diese Staaten – und auch für viele andere – war in diesen Entwürfen das kollektivrechtliche Element viel zu stark ausgeprägt. Wenn es überhaupt Platz für einen Schutz von Minderheitenrechten in der EU geben sollte, dann musste dieser Schutz unmittelbar aus dem vorherrschenden, klar individualrechtlich orientierten Grundrechtsschutz abgeleitet werden. Wegbereitend dazu wirkte der EuGH, der im Ur- teil „Bickel und Franz“ vom 24. November 1998 obiter festgestellt hat, dass Minderhei- tenschutz ein „legitimes Ziel“ sei, das vom Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen sei.22 Zahlreiche weitere Faktoren haben dazu beigetragen, dass die EU sich schließlich im- mer deutlicher zum Minderheitenschutz bekannte: • das immer stärkere Grundrechtsbewusstsein in der EU; • die immer profundere wissenschaftliche Durchdringung der Grundrechtediskussion, die verdeutlichte, dass Minderheitenschutz ein integraler Bestandteil des Grundrech- teschutzes auch dann sein muss, wenn dieser grundsätzlich individualrechtlich konzi- piert ist; • das starke Lobbying verschiedener NGOs, die im Bereich der Menschenrechte und Minderheitenrechte ihren Schwerpunkt haben; • die fortschreitende Föderalisierung einzelner EU-Mitgliedstaaten und die immer ­größere Bereitschaft auf nationaler Ebene, sich der Minderheitenfrage unvoreinge- nommen zu stellen.

21 Vgl. dazu insbesondere die Entwürfe der Abgeordneten Graf Stauffenberg und Alber. Vorarbeiten dazu wurden in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) geleistet. 22 Vgl. Rn 44 des Urteils in der Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, S. I-7637.

118 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

• Am (vorläufigen) Ende dieser Entwicklung steht nun eine primärrechtliche Situation in der EU, die die Notwendigkeit des Minderheitenschutzes in einer Form anerkennt, die vor zwei Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre: • Schon die im Dezember 2000 proklamierte und seit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages zum EU-Primärrecht zählende Grundrechtecharta enthält in Art. 21 ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minder- heit. Gemäß Art. 22 der Grundrechtecharta achtet die Union die Vielfalt der Kultu- ren, Religionen und Sprachen. • Gemäß Art. 19 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) kann die EU Vorkehrungen treffen zur Bekämpfung der Diskriminierung, u. a. aufgrund der ethnischen Herkunft.23 Auf dieser Grundlage wurde im Jahr 2000 u. a. die sog. Antirassismus-Richtlinie, die Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbe- handlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft24 erlassen.

Mit dem Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, wurde schließlich ein grundlegender Schritt gesetzt: Art. 2 EUV (Vertrag über die Europäische Union) erwähnt nun unter den Werten, auf welchen sich die Union gründet, „die Wah- rung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten ange- hören“. Dies ist eine Errungenschaft, die man noch vor wenigen Jahren für undenkbar erachtet hatte. Sucht man nach den Gründen für diese Haltungsänderung der EU, so sind neben den oben genannten, primär EU-internen Anlässen auch die EU-externen Rah- menbedingungen zu erwähnen. Weitgehend mit der EU überschneidend sind zwischenzeitlich in Europa nämlich pa- rallele Grundrechtsräume entstanden – mit eigenen substantiellen Rechtsverbürgungen und mit gesonderten Durchsetzungsmechanismen. Verankert sind diese im System des Europarates.

23 Diese Bestimmung wurde durch den Vertrag von Amsterdam – damals als Art. 13 EGV – in das EG-Recht eingeführt. 24 ABl. Nr. L 180 v. 19. Juli 2000, S. 22.

119 Peter Hilpold

5.2 Der Europarat

5.2.1 Die Europäische Menschenrechtskonvention

Die EMRK enthält keine gesonderte Minderheitenschutzbestimmung. Art. 14 EMRK bietet, was Minderheitenfragen anbelangt, nur akzessorischen Schutz, d. h. primär muss eine andere Konventionsbestimmung tangiert werden, damit Art. 14 greift:

Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der natio- nalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.

Allein das 2005 in Kraft getretene XII. Zusatzprotokoll enthält ein allgemeines Diskrimi- nierungsverbot auch in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Der Ratifikationsstand ist jedoch noch relativ niedrig. Lange Zeit haben die Europäische Menschenrechtskommission und der EuGHM nur wenig Bereitschaft gezeigt, das Instrumentarium der EMRK zugunsten der Minderheiten anzuwenden. Dies hat sich jetzt grundlegend geändert, und zwar im Besonderen in Hin- blick auf zwei Minderheiten: die Kurden und die Roma. Während in Bezug auf die erst- genannte Minderheit insbesondere die Menschenrechtsverletzungen in Haftanstalten gerügt worden sind und auch zahlreiche Verurteilungen der Türkei folgten, hat der Eu- GHM, was die Roma anbelangt, mittlerweile das breite Spektrum an Diskriminierung, mit welchem diese Minderheit konfrontiert ist, umfassend zur Kenntnis genommen. So hat sich der EuGHM gerade letzthin mit der Zwangssterilisierung von Roma-Frauen in der Slowakei und der Zerstörung von Roma-Siedlungen auf Kreta, in Frankreich und in Rumänien beschäftigt und Vertragsparteien aufgrund der Verletzung der Rechte von Roma-Angehörigen auch wiederholt verurteilt.25 Dabei wurde wiederholt auch eine – be- sonders schwerwiegend erscheinende – Verurteilung aufgrund der Verletzung von Art. 3 EMRK, wegen „unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“ ausgesprochen.

25 Für eine rezente Zusammenstellung vgl. Leto Cariolou, Recent Case Law of the European Court of Human Rights Concerning the Protection of Minorities, in: EYMI 7 (2007/2008), S. 512–544, hier S. 522ff.

120 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

Besonderes Aufsehen haben auch die Urteile gegen Tschechien und Griechenland wegen schulischer Diskriminierung von Roma-Kindern, die systematisch in Sonderschu- len abgeschoben worden sind, erregt.26 Der statistische Nachweis der auffällig großen Anzahl an Roma-Kindern, die in Sonderschulen unterrichtet werden, welche an und für sich für Kinder mit Lernbehinderung eingerichtet worden sind, war für den EuGHM Beweis genug für eine Diskriminierung. Das diesbezüglich angeblich aus freien Stücken abgegebene Ersuchen der betreffenden Eltern, eine Einschreibung in diese Sonderschu- len vorzunehmen, wurde als unbeachtlich angesehen, wobei der Druck der Straße, insbe- sondere in Griechenland, nach Separierung der Kinder ein weiteres wichtiges Beweisele- ment für die Unbeachtlichkeit eines solchen „Konsenses“ ist. Insbesondere dem Lobbying von Menschenrechtsaktivisten und -institutionen ist es zu verdanken, dass der EuGHM das Problem der Roma nunmehr aus einem ganz anderen Blickwinkel betrach- tet und von einer systematischen Diskriminierung dieser Minderheit ausgeht, die beim Nachweis des Diskriminierungstatbestands mit zahlreichen prozesstechnischen Erleich- terungen verbunden ist.27

5.2.2 Die Europäische Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten 1995 und die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen 1992

Im Schoße des Europarates sind zwei Konventionen ausgearbeitet worden, in welchen besonderes Potenzial zum Schutz der Roma steckt: die Europäische Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten und die Charta der Regional- oder Minderheiten- sprachen, beide in Kraft seit 1998. Anfänglich wurde vielfach bemängelt, es handle sich hierbei um eher zahme, politisch-diplomatische Instrumente ohne wirksamen Durchset- zungsmechanismus. Tatsächlich ist hier allein ein Berichtsverfahren vorgesehen, doch dieses hat sich als wirksamer erwiesen denn ursprünglich gedacht. Es hat sich gezeigt, dass die Vertragsparteien Kritik an der Lage ihrer Minderheiten durchaus ernst nehmen und im Regelfall auch bemüht sind, für Abhilfe zu sorgen. Beide Berichtsverfahren haben offengelegt, dass die Roma europaweit Opfer systematischer Diskriminierung sind und

26 Vgl. D.H. gegen Tschechien, Beschwerde Nr. 57325/00, Urteil v. 7.2.2006 bzw. (Große Kammer) Urteil v. 13.11.2007 sowie Sampanis u. a. gegen Griechenland, Urteil v. 5.6.2008. 27 Vgl. dazu im Detail James A. Goldston, The Struggle for Roma Rights: Arguments that Have Worked, in: Human Rights Quarterly, 32, 2010, S. 311–325.

121 Peter Hilpold

wahrscheinlich die in grundlegenden menschenrechtlichen Ansprüchen am meisten dis- kriminierte Gruppe.

5.2.3 Die OSZE

Der KSZE/OSZE gebührt das Verdienst, wegbereitend in Europa für die Entwicklung eines modernen Minderheitenschutzes gewirkt zu haben. Grundlegend war dabei die Konferenz über die menschliche Dimension von Kopenhagen. Das Abschlussdokument vom 29. Juni 1990 nimmt umfassend auf das Problem des Minderheitenschutzes Bezug und hat de facto Minderheitenschutz in Europa wieder allgemein hoffähig gemacht. Zu beachten ist aber, dass der Zugang der KSZE/OSZE zur Minderheitenfrage ein unter- schiedlicher ist, je nachdem, welche Perspektive man wählt. Als Rechtschöpfungsforum ist die KSZE/OSZE auch unmittelbar um die Verbesserung des Loses der Minderheiten und ihrer Angehörigen bemüht. Für diese Institution – und insbesondere wenn man auf die Tätigkeit des Hohen Kommissars für Minderheitenfragen abstellt – steht der Sicher- heitsaspekt im Vordergrund und Minderheitenschutz hat dazu nur eine instrumentale Funktion.28 Die Verbesserung der Lage der Roma und Sinti ist der OSZE – unter Berück- sichtigung beider Perspektiven – seit Jahren ein besonderes Anliegen. So sei bspw. der Aktionsplan des Jahres 2003 zur Verbesserung der Lage der Roma und Sinti im OSZE- Gebiet erwähnt. Gegenwärtig setzt die OSZE besondere Akzente im Bemühen, einen gleichberechtigten Zugang von Roma- und Sinti-Kindern zum Schulunterricht zu ge- währleisten sowie den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und Wohnraum sicherzu- stellen. Auch der Diskriminierung der Roma und Sinti bei Polizei und Medien widmet die OSZE besondere Aufmerksamkeit.

28 So hat der erste Hohe Kommissar für nationale Minderheiten hervorgehoben, dass er sich gemäß seiner englischen Titulierung eben als „Commissioner ‘on’ National Minorities“ verstehe und nicht als „Commissioner ‘for’ National Minorities“. Er sei weder ein Ombudsmann noch untersuche er Verletzungen von Minderheitenrechten im Einzel- fall. Vgl. Max van der Stoel, Gedanken zur Rolle des Hohen Kommissars der OSZE für nationale Minderheiten als ­Instrument zur Konfliktverhütung, in: OSZE Jahrbuch 1999, S. 429–441.

122 Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Berücksichtigung der Roma

6. Schlussbemerkungen: Roma – ein Thema des Minderheitenrechts?

Es wurde aufgezeigt, welche tiefgehenden historischen Wurzeln der internationale Min- derheitenschutz im Allgemeinen und der Schutz der Minderheiten in Europa im Beson- deren haben. Die diesbezüglichen Bemühungen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich in Europa ein Rechtsraum mit höchsten grundrechtlichen Standards herausfor- men konnte. Wie gezeigt, haben die frühen Bemühungen zur Schaffung geeigneter Min- derheitenschutzvorkehrungen auch Pate gestanden für die Entwicklung des Menschen- rechtsschutzes im Allgemeinen. Sind diese Minderheitenstandards aber geeignet, die Lage der Roma zu verbessern? Es wurde die Meinung vertreten, dass Minderheitenschutz im traditionellen Sinne dieser Aufgabe nicht gerecht werden kann. Zu sehr stehe hier ein traditionelles Bild einer Min- derheit im Vordergrund, die durch Grenzverschiebungen entstanden ist, ansonsten aber sesshaft ist und – häufig mit Unterstützung eines benachbarten Mutterstaates – ihre Spra- che, Kultur und Religion aufrecht erhalten möchte. Dieses Bild ist tatsächlich nur schwer oder überhaupt nicht auf die Roma übertragbar. Die Lage der Roma ist europaweit schlichtweg desolat.29 Weder ist eine einheitliche Roma-Sprache noch eine einheitliche Roma-Kultur erkennbar. Das, was weithin als Roma-Kultur wahrgenommen wird, die spezielle Form der Behausung, die Wanderschaft, Betteln, das Auftreten auf Märkten, die Übernahme von Gelegenheitsarbeiten, ist tatsächlich eher Ausdruck extremer wirtschaft- licher Not.30 Zweifelsohne sind neue Ansätze des Minderheitenschutzes gerade in Hin- blick auf einen wirksameren Schutz der Roma erforderlich. Dies bedeutet aber nicht, dass alles bisher Erreichte aufzugeben wäre. Es kann vielmehr sehr gut darauf aufgebaut wer- den. Es konnte gezeigt werden, dass selbst so traditionell orientierte Einrichtungen wie der EuGHM die besondere Problemlage der Roma erkannt und völlig neue prozedurale Ansätze entwickelt haben. Im System der Rahmenkonvention werden die Vertragspartei- en kompromisslos mit ihren Versäumnissen in diesem Bereich konfrontiert.31

29 Vgl. dazu im Detail Istvan Pogány, Minority Rights and the Roma of Central and Eastern Europe, in: Human Rights Law Review, 6, 2006, S. 1–25. 30 Ebd. 31 Vgl. bspw. das Gutachten des Sachverständigenausschusses zu Rumänien v. 24. November 2005, ACFC/OP/ II(2005)007, in dem, beginnend mit Abs. 54, eine Reihe von Diskriminierungstatbeständen über zahlreiche Berei- che der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinweg aufgezählt wird. Dort findet sich auch die zusammenfassende Fest-

123 Peter Hilpold

Es ist aber klar erkennbar, dass Roma-Angehörige nicht primär mit einer Diskriminie- rung im Bereich der bürgerlich-politischen Rechte konfrontiert sind. Diese ist zweifels- ohne gegeben, doch wird diese überlagert von wirtschaftlich-existenziellen Problemen, die dann auch zu einer Schlechterstellung im schulischen Bereich und bei der Wahrneh- mung bürgerlicher Rechte führen. Wenn die Multidimensionalität des minderheiten- schutzrechtlichen Schutzziels (Schutz der menschlichen Würde, Sicherstellung von Frie- den und Sicherheit, Schutz der kulturellen Vielfalt und Ermöglichung einer effektiven Beteiligung am demokratischen Willensbildungsprozess)32 mittlerweile immer stärker betont wird, dann gilt dieser Umstand in Zusammenhang mit der Gruppe der Roma in besonders ausgeprägter Form. Es liegt deshalb im unmittelbaren Interesse der Beherber- gungsnationen, wenn nach wirksameren Schutzmechanismen gesucht wird. Schutzziel darf dabei nicht die Aufrechterhaltung einer trügerischen Folklore sein, sondern es muss auch hier der Schutzbedarf des Individuums in seinem sozialen Kontext im Vordergrund stehen. Das „Roma-Problem“ ist letztlich eine Ressourcenfrage. Trotz Wirtschafts- und Finanzkrise wird kein Weg daran vorbeiführen, sich umfassend dieser Herausforderung zu stellen, und zwar vorzüglich in den am meisten betroffenen Ländern wie Rumänien und Bulgarien. Dies ist wahrscheinlich weniger stimmenwirksam als populistisch moti- vierte Ausweisungen aus westeuropäischen Staaten, aber zweifelsohne effektiver auf der praktischen Ebene und bei weitem kohärenter mit der großen liberal-demokratischen Grundrechtstradition, derer sich gerade die westeuropäischen Staaten so rühmen.

stellung, wonach „… the Roma continue to face serious problems in many areas, and to be victims of marginalisation and social exclusion” (Abs. 55). 32 Vgl. Athanasia Spiliopoulou Akermark, Shifts in the Multiple Justifications of Minority Protection, in: EYMI 7 (2007/2008), S. 5–18, hier S. 7.

124 Cécile Kovácsházy

Manusch, Gitanos, Roma: „Tsiganes“ in Frankreich

Einschneidende Ereignisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Im 21. Jahrhundert stechen zwei Daten heraus, die für die Roma Frankreichs von ganz besonderer Relevanz sind: Erstens wurde im Jahr 2012 ein problematischer Geburtstag „gefeiert“: Hundert Jah- re carnet anthropométrique, eine schon seit 19071 diskutierte und diskriminierende Verord- nung, die durch das Gesetz vom 16. Juli 19122 erlassen wurde, um „die Verwaltung der ambulanten Gewerbe und den Verkehr der Nomaden“ zu kontrollieren. Erst 1969 wurde dieses Gesetz geändert, das auf dem Kriterium der Lebensweise (im Wohnwagen zu leben) basiert. Weitere Novellierungen erfolgten im Jahr 2012.3 Zweitens kamen die in Wohnwägen lebenden Roma und andere Gruppen in die Schlagzeilen französischer Medien. Begonnen hat dies schon früher, am 18. Juli 2010, anlässlich der jährlichen Gedenkfeier zu den Verfolgungen in der Zeit des Vichy Regi- mes, als Regierungsvertreter erstmals die Internierungsbedingungen der Nomaden in Frankreich als Verfolgung anerkannten und die Vertreter der Roma einen Kranz nieder- legen ließen. Am selben Tag noch sollte ein Ereignis um einen jungen französischen voyageur4 das Land buchstäblich in Brand setzen. Dieser Junge wurde von der Polizei getötet, als er versuchte, sich einer Kontrolle zu entziehen. In der Folge führte dies, seitens seiner Ver- wandtschaft, zu Überfällen auf die Polizei − aus Zorn über die ihrer Meinung nach fal- sche Darstellung des Vorfalls durch die Exekutive. Das veranlasste den damaligen Präsi- denten Nicolas Sarkozy mitten im Sommer ein „Gipfeltreffen der nationalen Sicherheits-

1 Das Gesetz entstand in der Zeit von Célestin Hennion („Brigades du Tigre“) und der Affäre von La Tremblade. Siehe Henriette Asséo, „L‘invention des ‚Nomades‘ en Europe au xxe siècle et la nationalisation impossible des Tsiganes“, in: Gérard Noiriel (Hg.), L’Identification, Genèse d’un travail d’État, Paris/Berlin 2007. 2 Das Gesetz ist abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6105294r/f6.image.swf. 3 Siehe: http://www.service-public.fr/actualities/002542.html (Zugriff 5.1.2013). 4 Reisender.

125 Cécile Kovácsházy

kräfte“ einzuberufen. (Das letzte Mal hat so ein Treffen während des Algerienkrieges auf Grund angeblichen „algerischen Terrorismus“ stattgefunden). Der Regierungssprecher, gleichzeitig Erziehungsminister, hat zu diesen Ereignissen auf dramatische Weise Stel- lung bezogen: „Ob Rom, voyageur oder auch Franzose, man hat die Gesetze der franzö- sischen Republik zu respektieren.“ Dieser Satz ist mindestens in vierfacher Hinsicht be- schämend. Erstens sind die gens de voyage5 Franzosen; zweitens sind nicht alle gens de voyage Roma (Schätzungen sprechen von 40 Prozent der ungefähr 400.000 französischen gens de voyage); drittens handelte es sich um einen außergewöhnlichen Zwischenfall, der es nicht zulässt, alle gens de voyage in einen Topf zu werfen; zumal, viertens, es der französische Staat ist, der die Gesetze nicht respektierte. Diese bizarre Reaktion der Regierung ist in einem größeren politischen Zusammenhang zu interpretieren.

Gitanos Canasteros 1999 (130 x 195. Acryl auf Leinwand), Bildnachweis: Gabi Jiménez

5 Reisende/Fahrende.

126 Manusch, Gitanos, Roma: „Tsiganes“ in Frankreich

Um diese zwei Ereignisse besser verstehen zu können, möchte ich die Situation der „Tsiganes“6 in Frankreich in einen breiteren historischen Kontext stellen. Zuerst soll die Geschichte der Tsiganes in Frankreich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kurz skizziert werden, bevor ich eine optimistischere Perspektive biete, indem ich auf ihr Kunst- und Kulturschaffen verweise.

Das 19. Jahrhundert

Kommen wir auf die spezifischen Aspekte der Politik gegenüber Tsiganes, die Frank- reich im Laufe der Jahrhunderte verfolgt hat (anthropometrische Bücher, Konzentrati- onslager, usw.), zurück. Im Frankreich der neueren Zeit wurden die Menschen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen mobiler. Ein Beispiel sind die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, wie die Belgier, die jedes Jahr zur Ernte nach Südfrankreich kommen. Die Toleranz der Behörden gegenüber den Fahrenden ist sowohl auf regionaler als auch auf transnationaler Ebene gegeben.7 Ab 1880 besaßen sie zwar Papiere (Heirats- urkunde, Taufurkunde, Arbeitsheft, usw.), aber keinen französischen Pass. Dasselbe gilt auch für andere europäische Länder. Mit der Etablierung des Nationalitätenrechtes er- folgte in Frankreich und in den anderen europäischen Staaten die Einführung von Päs- sen, was die Entstehung­ von Migrationsbewegungen beschleunigte. Am Ende des 19. Jahrhunderts findet man in Frankreich „Bohémiens“. Dieser Ter- minus bezieht sich auf eine Vielzahl verschiedener Familien: Bohémiens im Baskenland, die seit dem 16. Jahrhundert in den selben Dörfern leben und baskische Familiennamen tragen; Manouches aus der Loireregion – Nachfahren der „Zigeuneranführer“ („capi- taines de Bohémiens“), seit Anfang des 15. Jahrhunderts ansässig und vom lokalen Adel protegiert; Gitanos aus Südkatalonien; „Boumians“ aus der Provence; Sinté aus dem

6 Die Wahl der Bezeichnung unterscheidet sich im deutschen und französischen Sprachgebrauch: In Frankreich ist der Ausdruck „Tsigane“ der neutrale wissenschaftliche Terminus. Das Wort „Rom“ ist in Frankreich in der jüngs- ten Vergangenheit eher zu einem politisch konjunkturell benutzten Terminus geworden, der zunehmend die aktuell sehr abwertenden Stereotype in sich vereint – als ob der „heutige“ Rom eine physiologische Symbiose verschiedener Geschichten wäre. Vgl. dazu Cécile Kovácsházy, «Lesroms» n’existent pas, http://blogs.mediapart.fr/edition/les- invites-de-mediapart/article/130910/lesroms-n-existent-pas (Zugriff 15.7.2012). Im deutschsprachigen Raum hat sich die Bezeichnung Roma (bzw. Sinti und Roma) im wissenschaftlichen Kontext durchgesetzt. Folglich wird im vorliegenden Beitrag neben „Tsiganes“ vor allem die Bezeichnung Roma verwendet. 7 Siehe Daniel Roche, Humeurs vagabondes. De la circulation des hommes et de l’utilité des voyages, Paris 2003.

127 Cécile Kovácsházy

Elsaß; Sinté aus dem Piemont des Herzogtums Savoyen; ‚Ungari‘, die in Wirklichkeit aus Serbien oder Polen­ kamen (u. a. aufgrund der Schließung der Akademie der Bärenführer 1860). Jedes Mal eine andere Kultur, die Romanes und lokale Sprachen vermischt. Vor al- lem aber handelte es sich nicht um Nomaden. Die Stadtarchive dokumentieren ihre Ver- wurzelung und die damit verbundene Diversität. Sensationspresse und Revolverblätter beschreiben meist die „Ungarn“ in Begleitung von Pferden, Bären und Affen. Die Blätter betonen die exotische Kleidung, um Interesse beim Leser zu erwecken.8 Die Größe der Gruppe ist schwer abzuschätzen, da die Presse ständig über sie berichtet, und dadurch die Anzahl der nicht französischen ­Tsiganes überbewertet wird. In den amtlichen Ver- zeichnissen der Polizei und bei der Volkszählung gab es eine ­eigene Rubrik für „Bohé- miens“. Diese grenzte sich deutlich von der Kategorie „Vagabund“ ab. Der Bohémiens hatte einen „festen Wohnsitz“, wenn auch einen mobilen – und zwar seinen Wohnwagen. Die Angabe der Berufsbezeichnung (Kesselflicker,­ Pferdehändler,­ Verkäufer, usw.) sagte aus, dass der Betreffende kein „Vagabund“ ist. Als ­später spezifische Ge­setze erlassen wurden, wurde die Echtheit dieser Berufsbezeichnungen jedoch angezweifelt. Die Bohé- miens, ob Franzosen oder nicht, passierten problemlos die Grenze zwischen zwei Dépar- tements, da die Polizei nicht mehr als ein Département überwachte. Die wirtschaft­liche Integration der Bohémiens ermöglichte die Mobilität.

Das 20. Jahrhundert

Das Jahr 1907 brachte durch die Einführung der „Brigades mobiles“ (mobile Einsatz- kräfte) große Veränderungen. Deren Einsatzbereich reichte über die Départementgren- zen hinaus, und dies trug dazu bei, lokale, mobile wirtschaftliche Tätigkeiten zu zerstö- ren. Gleichzeitig entwickelte Alphonse Bertillon die Methode der Anthropometrie. Laut der französischen Historikerin Henriette Asséo sind Frankreich, Deutschland und Italien die drei Länder, die die „Zigeunerpolitik“ erfunden haben. Diese „Zigeuner- politik“ ist, so Asséo, konjunkturell und nicht strukturell, was bedeutet, dass es sich nicht um bloßen Rassismus handelt, sondern um systemhafte Ausgrenzungs- oder sogar Ver- nichtungspolitik als Kernstück der jeweiligen Regime. Die „Zigeunerpolitik“ ist in vielen

8 Der berühmte Text von Gustave Flaubert versucht gegen die Klischees anzugehen. Flaubert strich die Schönheit dieser „Ungarn“ hervor, die sich 1867 in Rouen aufhielten. (Correspondance von Gustave Flaubert, Brief an George Sand, 12. Juni 1867, Paris, Gallimard, „coll. de la Pléiade“, Bd. 5, S. 653–654).

128 Manusch, Gitanos, Roma: „Tsiganes“ in Frankreich

Fällen eine experimentelle Politik, mit dem Hintergedanken einer Erweiterung auf eine breitere Bevölkerung. „Die ‚Zigeunerpolitik‘ hat niemals zum Ziel, was sie behauptet, nämlich potenziell gefährliche Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren. Man weiß ganz genau, dass diese keine Gefahr darstellen.“9 An einer Gruppe, die gering geschätzt wird, testet man auf diese Weise – auf technologischer und administrativer Ebene – Kontroll- mechanismen, die anschließend auf die Gesamtbevölkerung angewendet werden sollen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine stetig wachsende Kontrolle der Tsiganes – bis zur systematischen Vernichtung im Zweiten Weltkrieg. Die „Zigeunerpolitik“ ab 1907 (das gilt auch für diese Epoche in anderen Ländern) erlaubt auf der nationalen Ebene erstens eine Neukategorisierung der jeweiligen Bevölkerung (so wie der Nationalsozialismus bestimmten Gruppen – „Juden, Zigeunern, Behinderten“ – den Lebenswert absprach) und zweitens die Verstärkung der Polizei-, Justiz- und Finanzgewalt.

Das Gesetz von 1912 und die Folgen

Das Gesetz vom 16. Juli 1912 bringt viele Änderungen mit sich: Die Administration ­reglementierte die Wanderberufe durch Schaffung zweier unterschiedlicher Kategorien, eine individuelle, die des „Schaustellers“, und eine kollektive, die des „Nomaden“. Die Trennungslinie ist nicht ethnischer Natur. Nicht alle Bohémiens Frankreichs werden also zu „Nomaden“, nicht alle Nomaden zu „Bohémiens“. So wurde der berühmte Gitarrist ­Django Reinhardt als Schausteller eingestuft. Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestanden hat, dass sie innerhalb der Familie ein ambulantes Gewerbe betreiben, wurden einer gleichen Kategorie zugeordnet: ob Bretone, Bewohner der Auvergne oder „Bohémiens“, usw. War man erst einmal einer Kategorie zugeordnet, blieb man dort von Generation zu Generation, egal welches Gewerbe die nächste Generation ausübte. Aufgrund des sogenannten „anthropometrischen Familienausweises“ war man gezwun- gen, in der Familie zu reisen. So wurde eine Lebensweise durchgesetzt, die nachher als „typisch“ galt. Die anthropometrische Karte war der erste Personalausweis Frankreichs, allerdings nur einem Teil der Bevölkerung zugedacht. Durch dieses Dokument wurde es sehr ein- fach, 1940 jene Franzosen, die als „Nomaden“ registriert waren, im April 1940 zum

9 Henriette Asséo, séminaire Ecole des hautes études en sciences sociales, 2010–2011.

129 Cécile Kovácsházy

Anhalten zu zwingen, um sie anschließend mit ihren Familien in den Lagern von Vichy, die von den Präfekturen geführt wurden, zu internieren. In diesen Lagern wurden Menschen mit anthropometrischen Ausweisen – unterer- nährt und unter schlechten hygienischen Bedingungen – interniert, so z. B. in den Lagern von Montreuil-Bellay, Jargeau, Poitiers und Rivesaltes. Die Lager standen unter französi- scher Verwaltung. Sie waren nicht auf Befehl der Deutschen errichtet worden, sondern aufgrund französischer Initiative. Die Internierten wurden erst 1946 befreit, und die Ad- ministration registrierte die ganze Familie erneut als „Nomaden“. Erst 1969 wurde das Gesetz abgeschafft, jedoch unter De Gaulle durch ein neues ersetzt, das dem alten sehr ähnlich war. Diese Seite der nationalen Geschichte ist heute noch immer ein Tabu.

Die administrative Situation seit 1969

Ab 1969 wurden aus den „Nomaden“ die gens du voyage: Reisende oder „das fahrende Volk“. Sie blieben als Familien registriert und konnten aus der ihnen einmal aufgezwun- genen Kategorie nicht ausbrechen, egal wie sie auch lebten. Ab dem 16. Lebensjahr mussten die gens de voyage ihr „Büchlein“ alle drei Monate von der Gendarmerie stempeln lassen. In einem Land, wo von offizieller Seite eine ethnische Zuordnung nicht- vor genommen werden dürfte, bedeutet dieses Vorgehen eine Gleichsetzung von Noma- den und Tsiganes. Hier hat man also einen Fall von Rassismus im Gesetz selbst. Dazu kommt, dass die meisten, die im Wohnwagen leben, keinen Ausweis bekommen können, obwohl dieser in Frankreich Pflicht ist. Das ist auch der Grund, warum viele keine Kran- kenversicherung haben oder auch nicht wahlberechtigt sind.10 Das Gesetz „Besson“ vom 31. Mai 1990 (Artikel 9) führt die Schaffung von dauerhaf- ten „Landfahrer-Plätzen/Stellplätzen“ zwingend für jede Stadt und jedes Dorf mit mehr als 5.000 Einwohnern ein. Dieses ambivalente Gesetz wird unterschiedlich aufgenommen: Einerseits stößt es auf Zustimmung, da es gens de voyage entsprechende Stellplätze anbietet. Diese sind jedoch zu klein dimensioniert und es gibt keine anderen Möglichkeiten mehr, woanders legal stehenzubleiben. Das Gesetz ist auch insofern ambivalent, als es heutzu­ tage, mehr als zwanzig Jahre später, weniger als 50 Prozent der Gemeinden in die Praxis

10 Zu den aktuellen Diskriminierungen siehe das Video von Halde (Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l‘égalité): http://halde.defenseurdesdroits.fr/-Discriminations-des-gens-du-voyage-.html. Für weitere Infor- mationen zur aktuellen Situation der gens de voyage, siehe u. a. http://www.voyageurs-citoyens.fr/ (Zugriff 5.1.2013).

130 Manusch, Gitanos, Roma: „Tsiganes“ in Frankreich

umgesetzt haben, obwohl sie finanzielle Unterstützung vom Staat für die Errichtung er- halten hätten können. Während es für die Bürgermeister keine Konsequenzen hat, beste- hende Gesetze nicht umzusetzen, werden die gens de voyage bestraft, wenn sie gezwungen werden, unerlaubterweise zu halten. Gibt es solche Stellplätze, aires de voyage, liegen sie meist in gesundheitsschädigenden Zonen (neben Deponien, unter einer Autobahn, oft ohne Wasser und ohne Strom) mit zu wenig Platz. Um dort für kurze Zeit zu wohnen, muss man pro Nacht oder pro Woche eine Miete sowie die anfallenden Kosten für Wasser und Strom (falls vorhanden) bezahlen. Viele Franzosen glauben allerdings, der Aufenthalt wäre gratis. Ein Gesetz vom 18. März 2003 (auch „Loi Sarkozy“ genannt, nach dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy) sieht schließlich Strafen für die Niederlassung auf nicht offiziell genehmigten Stellplätzen von sechs Monaten Gefängnis vor, 3.750 Euro Straf- gebühr und eine dreijährige Sperre des Führerscheins. Gemeinden, die keine Stellplätze anbieten, werden weiterhin nicht bestraft. Ein paar Monate später wurde wieder ein neues Gesetz beschlossen, das Gesetz „Bor- loo“ vom 1. August 2003, das 28 Städte auflistet, die zwar mehr als 5.000 Einwohner ha- ben, in denen aber den „gens du voyage“ der Aufenthalt untersagt wird. Auf dieser Liste findet man Städte, in denen Tsiganes seit Jahrhunderten berufliche, soziale und familiäre Bindungen haben. Die letzten fünfzehn Jahre sind von Abschiebungen geprägt, organisiert durch die je- weiligen Innenminister. Vor allem Rumänen und Bulgaren werden – trotz EU-Gesetze – gewaltsam abgeschoben. Nach der Wahl Sarkozys zum Präsidenten im Jahr 2007 erhielten die Präfekten ab einer jährlichen Mindestzahl Geldprämien im Ausmaß der erfolgten Ab- schiebungen. Die Zahlen wurden jährlich vom Innenminister öffentlich verkündet – als wären es Sportergebnisse. Das führt zur grotesken Situation, dass rumänische und bulgarische Roma für ein paar Stunden oder Tage in ihre Herkunftsländer zurückkehren, um dann sofort wieder nach Frankreich zu kommen. Sie verlassen Frankreich mit dem „O.Q.T.F.“ (Obligation de quitter le territoire français, Verpflichtung, das französische Territorium zu verlassen) und den verein- barten 300 Euro Rückkehrprämie. Was die Roma aus Bulgarien und aus Rumänien betrifft, so kommen ca. 15.000 pro Jahr nach Frankreich. Das sind höchstens 10 Prozent von den 150.000 Migranten, die jedes Jahr in Frankreich einreisen (Zum Vergleich: Zur Rezessionszeit 1938–39 sind ungefähr eine Million spanische Republikaner nach Frankreich gekommen). Darüber hinaus wollen

131 Cécile Kovácsházy

viele rumänische und bulgarische Roma, die nach Frankreich kommen, nur eine Zeitlang hier arbeiten und mit dem verdienten Geld in ihre Heimatländer zurückkehren. So werden diese Menschen, die nach Frankreich migrieren, immer „Roma“ genannt und nie „Ru- mänen, die aus wirtschaftlichen Gründen migrieren müssen“. Man versucht damit, einen Überbegriff zu schaffen. Das Wort „Roma“ eignet sich dafür, weil es politisch noch nicht besetzt war. Das Wort „Roma“ erlangt also, zumindest auf Französisch, eine eher amtliche als ethnische oder anthropologische Bedeutung. Die politische Situation ist besorgnis- erregend. Vor allem, da diese Kontroll- und Diskriminierungspolitik vermutlich nur der Anfang eines Prozesses ist und sich in Europa flächendeckend auszubreiten scheint.

Zeitgenössische französische Künste

Wie oben erwähnt, möchte ich meinen Beitrag mit etwas Positivem schließen. Denn ich glaube, dass eine Möglichkeit, die Situation der Roma zu verbessern, mit einem größeren gegenseitigen Kennenlernen zu tun hat, und mit konstruktiven Bemühungen, mit den fal- schen, stereotypen und deshalb gefährlichen Projektionen Schluss zu machen. Ich möchte also noch kurz die zeitgenössische künstlerische Produktion aus Frankreich erwähnen. Im Vergleich zu anderen Ländern werden in Frankreich recht viele literarische Wer- ke von Roma publiziert, die meisten davon sind auf Französisch geschrieben. Trotzdem kann man Elemente des Romani in den literarischen Werken, die auf Französisch verfasst wurden, finden. Man kann das z. B. bei dem wahrscheinlich bekanntesten Schriftsteller sehen, und zwar bei Matéo Maximoff (1917–1999). Er hat viel Prosa veröffentlicht: Mär- chen, Erzählungen, Romane, Autobiographisches, etc.; seine Werke, die stets Geschichte und Traditionen der Roma thematisieren, wurden auch ins Deutsche übersetzt. Jean-Marie Kerwich, geboren 1952, ist ein Gitano-Dichter, dessen Werke bei einem bekannten Verlag, Mercure de France, publiziert wurden. Kerwich spricht zwar in seinen Gedichten darüber, dass er Gitano ist, aber es ist nicht das zentrale Thema seiner Werke. Hier stellt sich für LiteraturwissenschaftlerInnen die komplexe Frage, in welchem Zusam- menhang ethnische Identität und literarisches Schaffen zu sehen sind. Alexandre Romanes, geboren 1951, der einen Roma-Zirkus leitet, schreibt Lyrik. Be- kannt wurden auch die Autobiographie von Sandra Jayat, geboren 1940, die auch als Kin- derbuch erschienen ist, sowie Comics, die zwischen Fiktion und Dokumentation liegen: z. B. der Sammelband „Django Banjo et autres histoires manouches“ oder die sehr in-

132 Manusch, Gitanos, Roma: „Tsiganes“ in Frankreich

formativen Comics von Kkriss Mirror über das Konzentrationslager in Montreuil-Bellay, über die Pilgerfahrt nach Les Saintes Maries de la mer usw. In Frankreich gibt es auch eine französische Verlegerin, Françoise Mingot, die der Ro- ma-Literatur im Rahmen ihres Verlagsprogramms eine Reihe widmet. Sie steht auch mit dem österreichischen Drava-Verlag in Verbindung. Die meisten Bücher, die sie herausgibt, sind autobiographisch und stellen den Alltag der Roma dar: die Autoren sind Lick, Cou- cou Doerr, Roberto Lorier usw. Auch darstellende Kunst ist sehr verbreitet. Hier seien erwähnt: Gabi Jiménez, ge- boren 1964, der auf der Biennale von Venedig 2007 ausgestellt hat, sowie Sandra Jayat, die Texte und Bilder mischt. Beide stellen Nomaden und Schauspieler dar: Jayat in einer Traum-Atmosphäre, die an Chagall erinnert, Gimenez in naivem, buntem Stil mit humor- vollem Spiel mit Klischees. 1985 hat Jayat die „première Mondiale d’Art Tzigane“ in der Conciergerie in Paris organisiert, wahrscheinlich die erste internationale Ausstellung von Roma-Künstlern.

Autoportrait 2011 (30 x 30. Acryl auf Leinwand), Bildnachweis: Gabi Jiménez

133 Cécile Kovácsházy

Der berühmteste französische Roma-Künstler ist zweifellos der Regisseur Tony Gat- lif, geboren 1948. In fast allen seinen Filmen (Les Princes, Latcho Drom, Gadjo dilo, Swing, TranSylvania, Liberté, usw.) erscheinen als Hauptfiguren Roma aus Frankreich, Spanien, Rumänien, etc. Die Beliebtheit seiner Filme hat dazu beigetragen, in ganz Europa positi- ve Identitätskonstruktionen der Roma zu verbreiten und das Unwissen der Gadsche zu reduzieren. Es ist zu hoffen, dass in Zukunft vermehrt künstlerische Ereignisse – wie die Roma- Pavillons bei den Biennalen in Venedig 2007 und 2011, die filmischen Erfolge von Tony Gatlif oder Lyrik von heute noch unbekannten DichterInnen – in der medialen Bericht- erstattung Platz einnehmen werden.11

French Gypsies Powers 2013 (100 x 81), Bildnachweis: Gabi Jiménez

11 Die Autorin dankt Catherine Lederbauer für die Hilfe bei der Erstellung des deutschsprachigen Manuskripts.

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Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

Die Geschichte der Roma wurde über weite Strecken von Menschen aufgeschrieben, die selbst nicht dieser Volksgruppe angehörten. In Chroniken, Reiseberichten, Memoi- ren, fiktiver Literatur sowie wissenschaftlichen Abhandlungen und, seit Beginn des 20. Jahrhunderts, in (audio-)visuellen Aufzeichnungen haben Roma mediale Spuren hinter- lassen, bei denen es sich freilich oft mehr um Abbilder und Interpretationen von als anders wahrgenommenen Fremden als um tatsächliche Repräsentationen realer Per- sonen handelt. Dass auf diese Weise über Jahrhunderte auch Stereotype und Feindbil- der festgeschrieben wurden (und weiterhin werden), die letztlich der Legitimation von Ausgrenzung und rassistischer Verfolgung dien(t)en, darauf hat in den letzten Jahren insbesondere die sogenannte Antiziganismusforschung hingewiesen. Erst in den vergan- genen 25 Jahren haben Roma und Sinti selbst in eigenen Schriften diesen Fremdbildern und -beschreibungen ihre Sicht und Erfahrungen entgegengesetzt. Hiervon zeugen rund zwanzig seit 1988 allein im deutschen Sprachraum erschienene Autobiographien, welche mehrheitlich von Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie (z. T. in Kooperation mit anderen Autoren) publiziert wurden. Wir wollen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von spezifischen Primär- quellen hinweisen, insbesondere von Tonaufnahmen, wie sie z. B. während kultur- und sozialwissenschaftlicher Feldforschungen zu Dokumentations- und Analysezwecken gemacht werden. Sofern solche phonographischen oder audiovisuellen Aufzeichnun- gen in Archiven deponiert und erschlossen werden, können sie nicht nur zur Überprü- fung von konkreten Forschungsergebnissen, sondern auch für weitere wissenschaft- liche Fragestellungen und andere Zwecke (z. B. in Unterricht und Bildungsarbeit) herangezogen werden. Nicht zuletzt können diese Archivdokumente von den betref- fenden Gemeinschaften, bei denen sie gesammelt wurden, als Medien ihres kulturellen Gedächtnisses selbst genützt werden. Bezüglich der Kultur und Geschichte von Roma beherbergt das Phonogrammarchiv (PhA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zahlreiche Tonaufnahmen,

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die seit Mitte der 1950er-Jahre im Zuge ethnographischer, ethnomusikologischer und linguistischer Feldforschungen gemacht wurden.1 Der größte Teil dieser Bestände ent- stammt der Sammlung Heinschink, die derzeit archivierte Audio- und Videoaufnahmen in einem Gesamtumfang von rund 720 bzw. 30 Stunden beinhaltet.2 Die Sammlung wur- de seit 1960 in Eigeninitiative und ohne jegliche institutionelle Unterstützung erstellt. Motivation hierzu war zunächst nicht eine konkrete Fragestellung und entsprechende wissenschaftliche Auswertung, sondern vielmehr das Bedürfnis, die vielfältige – aber als bedroht angesehene – Kultur der Roma zu dokumentieren und eigentlich „unwieder- bringliche Momente“ doch in irgendeiner Form, nicht zuletzt für die an den Aufnahmen Beteiligten und ihre Familien aufzubewahren.3 Die Sammlung birgt zahlreiche Tondoku- mente zur Erzähltradition, Sprache, Musik und Alltagskultur von vielen verschiedenen Roma-Gruppen insbesondere aus Mitteleuropa, vom Balkan und der Türkei, aber auch aus einigen nord- und osteuropäischen Ländern. Diese Bestände beinhalten auch persönliche Äußerungen, die über Weltsicht und Wertvorstellungen der UrheberInnen, ihren Umgang mit der eigenen Kultur sowie über ihre Lebens- und Geschichtserfahrungen Auskunft geben. Hierbei handelt es sich um (Ausschnitte aus) Lebensgeschichten, Zeitzeugenberichte, aber auch um Grußworte und „akustische Briefe“ oder Briefdiktate sowie um selbstverfasste Lieder. Zusätzlich liegen in der Sammlung Heinschink auch (hand-)schriftliche Texte, im Wesentlichen Briefe und Lebensgeschichten vor. Diese verschiedenen Arten individueller mündlicher und schrift- licher Mitteilungen, von denen zudem ein gewichtiger Teil autobiographischer Natur ist, sind am ehesten unter dem Begriff Selbstzeugnisse zu subsumieren.

1 Zu den einzelnen Sammlungen und ihren UrheberInnen siehe Christiane Fennesz-Juhasz, Ethnographic sound coll- ections of Roma: Aspects of their original context, archiving and use, in: Calicut University Folkloristics Journal 1, 1 (2010), S. 34–59, sowie den Online Katalog des PhA: http://catalog.pha.oeaw.ac.at/. 2 Zusätzlich sind hier, neben bislang noch nicht archivierten (vor allem Video-)Aufnahmen aus den vergangenen zehn Jahren, weitere Audio- und Videoaufnahmen (zirka 50 h bzw. 20 h) aus Projekten zu erwähnen, an denen Mozes Heinschink – z. T. in Kooperation mit der Co-Verfasserin – maßgeblich beteiligt war: „Kodifizierung der Romanes- Variante der Österreichischen Lovara“ (1996–1998, Audio) sowie Feldforschungen in Slowenien und Österreich in Zusammenarbeit mit dem EU-Projekt RomBase (2001–2003, Audio und Video), beide koordiniert vom Romani- Projekt an der Universität Graz. 3 Die – einer zufälligen Begegnung Ende 1958 folgenden – in kurzer Zeit intensivierten Kontakte mit Roma und Rom- nja in Wien bewirkten ein stetig wachsendes Interesse an ihrer Lebensrealität, gruppeneigenen Kultur und Oraltra- dition (Romanipe) sowie besonders an ihrer Sprache, dem Romanes und seinen verschiedenen Varietäten. Dennoch bevorzugt es der Co-Autor, der sich bis zur Pensionierung 1999 stets neben seinem eigentlichen Brotberuf mit der Kultur von Roma beschäftigte, eher als Dokumentalist denn als Forscher gesehen zu werden.

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Was sind Selbstzeugnisse?

Alltagssprachlich wird unter einem Selbstzeugnis ein „literarisches Zeugnis eigenen Tuns und Denkens, Erlebens o.Ä.“ verstanden.4 Insbesondere in der Geschichtswissenschaft wird dieser Begriff als Bezeichnung für einen spezifischen Typus von historischen,schrift - lich verfassten Quellen definiert und verwendet: Da Selbstzeugnisse unterschiedliche Textgattungen (Tagebücher, Autobiographien, Briefe, Chroniken, etc.) umfassen, sind es nach Benigna von Krusenstjern gemeinsame inhaltliche Kriterien, die konstitutiv für diesen Quellentyp sind. Wesentlichstes Merkmal eines Selbstzeugnisses ist demnach die „Selbst- thematisierung durch ein explizites Selbst“, d. h. „die Person des Verfassers bzw. der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug“.5 Selbstzeugnisse sind also immer „selbstbeschrei- bend“ und häufig aber nicht notwendigerweise autobiographisch im Sinne von „selbst- lebensbeschreibend“; d. h. als Selbstzeugnis kann auch eine persönliche oder familiäre Mitteilung gelten, aus der hervorgeht, was den/die Verfasser/in persönlich bewegte oder beschäftigte, wodurch etwas über seine/ihre Erfahrungswelt und Wertvorstellungen zu erfahren ist.6 Zwei weitere Merkmale von Selbstzeugnissen sind, dass „sie ‚selbst verfaßt‘, in der Regel auch ‚selbst geschrieben‘ (zumindest diktiert) sowie aus eigenem Antrieb, also ‚von sich aus‘, ‚von selbst‘ entstanden sind“.7 Häufig handelt es sich bei Selbstzeugnissen um Erinnerungstexte bzw. „subjektive Erinnerungszeugnisse“8, zu denen auch Zeitzeugenberichte und Oral-History-Interviews gezählt werden. Letztere entsprechen nicht gänzlich den genannten Kriterien von Selbst- zeugnissen, entstehen sie doch in der Regel erst aufgrund des Interesses von ForscherInnen und im Dialog mit diesen.9 Tonaufnahmen von Oral-History-Interviews wären somit eher in die umfassender definierte, übergeordnete Quellengruppe sogenannter „Ego-Dokumente“

4 http://www.duden.de/suchen/dudenonline/Selbstzeugnis (Zugriff 15.7.2012). 5 Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 2, 3 (1994), S. 462–471, hier S. 463. 6 Ebd. S. 467. 7 Ebd. S. 470. 8 Alexander von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS, 13, 1 (2000), S. 5–29, hier S. 7. 9 Vgl. ebd. sowie Anke Stephan, Erinnertes Leben: Autobiographien, Memoiren und Oral-History-Interviews als histo- rische Quellen, in: Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa (http://www.vifaost.de), Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, Bd. 10, 2004, http://epub.ub.uni-muenchen.de/627/, S. 15.

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einzureihen10, werden aber im vorliegenden Beitrag entsprechend dem alltäglichen Sprachgebrauch – und wie bisweilen auch von HistorikerInnen11 – ebenfalls den Selbst- zeugnissen zugeordnet. Von Historikern und Zeitgeschichtsforschern werden Selbstzeugnisse (einschließlich lebensgeschichtlicher Interviews) als ein wesentlicher Quellentyp für mentalitätsgeschicht- liche Fragestellungen angesehen, die auf „Haltungen, Vorstellungen und Verhaltenswei- sen der Menschen ziel[en], die sich eher unbewußt artikulieren“.12 Hierbei wird der Wert von Erinnerungszeugnissen als „eigenständige Quelle für spezifische Fragestellungen zur subjektiven Verarbeitung historischer Erfahrungen“ hervorgehoben, die für die meisten mentalitätsgeschichtlichen Forschungen von größerer Relevanz sind als „die präzise Erin- nerung an Ereignisse“ und damit Rekonstruktion von historischen Fakten und Abläufen.13

Selbstzeugnisse von Roma

Art der Quelle (Medium) mündlich (Tondokument) schriftlich (Manuskript/Typoskript) Inhalt Entstehung der Quelle Entstehung der Quelle Kontext

spontan angeregt spontan angeregt aktuell Grußworte und Grußworte Briefe akustische Briefe, Briefdikdate ------Briefdikate, privat Lieder erinnert Lieder Lebensgeschichten und Lebensgeschichten, autobiogr. Erzählungen, ------biogr. Erzählungen privat Zeitzeugenberichte erinnert autobiogr. Erzählungen, ------Zeitzeugenberichte ------Projekt

Abbildung 1

10 Sie beinhaltet auch persönliche Dokumente, die unfreiwillig und/oder von Dritten verfasst wurden, wie z. B. „Steuer­ erhebung, Visitation, Untertanenbefragung, Zeugenbefragung, gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör, […] etc.“ (Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherungen an den Menschen in der Geschichte? Vor- überlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Winfried Schulze [Hg.], Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte [= Selbstzeugnisse der Neuzeit 2], Berlin 1996, S. 11–30, hier S. 21). 11 Z. B. Stephan, Erinnertes Leben, S. 3. 12 Schulze, Ego-Dokumente, S. 12. 13 Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft, S. 26 und S. 8; vgl. hierzu auch Stephan, Erinnertes Leben, insbes. S. 12ff.

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Die in einem Zeitraum von mehr als 45 Jahren gesammelten Selbstzeugnisse von Roma sind aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit, des jeweiligen Zeitbezuges ihrer Inhalte so- wie ihrer Entstehungskontexte in mehrere Gruppen einzuordnen (s. Abb. 1). Die vorlie- gende schematische Übersicht ist idealtypisch und bedarf der folgenden Erläuterungen bzw. Ergänzungen: Bei der Mehrzahl der Selbstzeugnisse handelt es sich um mündliche Mitteilungen, die in Tonaufnahmen festgehalten wurden. Eine Ausnahme bilden hier die Briefdiktate, von denen nur mehr drei als Tondokumente vorliegen, da die meisten nach ihrer Transkrip- tion gelöscht wurden.14 In größerer Zahl wurden Briefdiktate in Form von Typoskripten15 sowie Briefe an Mozes Heinschink aufbewahrt. Die handschriftlichen Briefe stammen von verschiedenen VerfasserInnen aus unterschiedlichen Ländern (einschließlich Österreich), die in einem freundschaftlichen Verhältnis zum Adressaten standen.16 Alle mündlichen wie schriftlichen Briefe wurden spontan, also aus eigenem Antrieb und ohne Aufforde- rung durch den Sammler verfasst. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die überaus zahlreichen Grußworte, die Mozes Heinschink im Laufe vieler Jahre aufgenommen hat. Bei den meisten handelt es sich um familiäre oder andere persönliche Botschaften von unterschiedlicher Länge und Ausführlichkeit. Häufig diente hier das Tonband als Kommunikationsmedium zwischen in Wien lebenden ArbeitsmigrantInnen und Angehörigen und Freunden in der alten Hei- mat oder zwischen anderen, weit voneinander entfernt lebenden Familienmitgliedern. Mitunter wurden Grußworte aber auch von M. Heinschink angeregt, z. B. wenn er erst- mals in den Herkunftsort von in Wien lebenden Freunden oder Bekannten reiste; diese Mitteilungen dienten dann auch als Empfehlung für den ankommenden Gast. Manch

14 Bei zwei dieser Diktate handelt es sich um Briefe an Familienangehörige (aus 1965 bzw. 1977), beim dritten um einen „akustischen Brief “ an die UNO, der als Vorlage für ein Ansuchen um einen Kredit diente (zirka 1966). Der Verfasser hatte wegen seiner Beteiligung am „Ungarnaufstand“ 1956 nach Österreich flüchten müssen. Sein Brief enthält u. a. genaue Angaben über seine familiäre, Wohn-, Beschäftigungs- und finanzielle Situation zum damaligen Zeitpunkt (PhA: B 35680). Eine Sonderstellung nimmt hier eine 1971 auf Wunsch einer schwerkranken Frau aus Belgrad (ge- boren zirka 1915) gemachte Aufnahme ein, mit der sie ihren Kindern ihr „Testament“ hinterließ: In Anwesenheit der vier Söhne und ihres Mannes erteilte sie ihnen Ratschläge für das weitere Leben (vor allem familiärer Zusammenhalt und Lösung diesbezüglicher Probleme; PhA: B 37539). 15 Hier sind vor allem 30 Briefe aus den Jahren 1969–1976 zu nennen; sie stammen alle von Mitgliedern einer Familie, von der zunächst der Vater als Arbeitsmigrant nach Österreich zuwanderte und einige Jahre später Frau und Kinder folgten. 16 Einer der frühesten aus dem Jahr 1965 ist abgedruckt in Christiane Fennesz-Juhasz/Mozes F. Heinschink (Hg.), Lovarenge Paramiči taj Tekstura anda Österreich, Kotor II – Texte Österreichischer Lovara II, Wien: Verein Romano Centro, 1999, S. 58f.

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andere Grußbotschaft wurde durch eine vorangegangene evoziert, wie z. B. jene, mit denen 1966 elf in Wien lebende Personen den (ebenfalls über Tonband übermittelten) Grüßen des französischen Priesters André Barthélémy antworteten.17 Sicherlich stellt nur ein Teil der vielen mündlichen Grußworte Selbstzeugnisse im engeren Sinne dar und erst eine genauere Analyse kann klären, in welchem Ausmaß hier ausführlichere „akustische Briefe“ vorliegen. Ebenfalls um Botschaften an Familienangehörige und Freunde handelt es sich bei ad hoc verfassten und gesungenen Liedern, die aus Prilep stammende „Gastarbeiter“ um 1970 über M. Heinschinks Tonband von Wien nach Mazedonien sandten.18 Alle bislang erwähnten – und (abgesehen von den genannten Ausnahmen) spontan verfassten – Selbstzeugnisse entstanden in informellem bzw. privatem Rahmen. Sie sind generell an bestimmte Adressaten gerichtet. Dieser Kommunikationszusammenhang be- dingt auch ihre Inhalte, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auf die Gegenwart, eventuell auf jüngst gemachte Erfahrungen bezogen, also aktuell sind; kaum wird hier von länger zurückliegenden Ereignissen oder Erlebnissen berichtet. Der Kontext des überwiegenden Teils der vorliegenden Erinnerungszeugnisse ist ebenfalls als privat anzusehen, da sie zwar auf Initiative M. Heinschinks hin entstanden sind, also angeregt bzw. erfragt wurden, dies jedoch bis zur Mitte der 1990er-Jahre nicht zum Zwecke wissenschaftlicher Auswertung geschah. Die handschriftlich oder mündlich mitgeteilten Lebensgeschichten, von denen die frühesten 1971 entstanden, stammen in der Regel von Personen, mit denen M. Heinschink (oft bereits über Jahre) in freundschaftli- chem Kontakt stand. Zwei der drei schriftlichen Lebensgeschichten wurden im Gegenzug für gewährte Unterkunft verfasst.19 Ein Urheber schrieb 1971 neben Märchen außerdem auch biographische Texte über Bekannte und Freunde aus seiner (1999 während des Ko- sovokriegs zerstörten) Roma-Siedlung in Priština, etwa über einen blinden Sänger, den

17 M. Heinschink wohnte 1965/66 fünf Monate bei dem katholischen „Nomadenseelsorger“ in Paris. Vier der erwähn- ten Grußbotschaften wurden in ebd., S. 61–65, publiziert. Weitere Grüße an Barthélémy stammen aus 1968 und 1972. 18 Siehe Christiane Fennesz-Juhasz, Me ka-džav ko gurbeti ... Klage- und Abschiedslieder mazedonischer Roma-Mig- ranten, in: Ursula Hemetek, u. Mitarb. v. Emil H. Lubej (Hg.), Echo der Vielfalt – Echoes of Diversity. Traditionelle Musik von Minderheiten/ethnischen Gruppen – Traditional Music of Ethnic Groups/Minorities (= Schriften zur Volksmusik, Bd. 16), Wien u. a. 1996, S. 255–270. 19 Der Sammler, der in den 1960er-Jahren öfter Bekannte und Freunde aus dem Ausland als vorübergehende Mitbe- wohner aufnahm, bat diese, ihm im Gegenzug dafür vorzusingen, Märchen oder über ihr Leben zu erzählen bzw. zu schreiben.

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er auf Reisen oft begleitete. Von den beiden anderen VerfasserInnen der schriftlichen Lebensgeschichten liegen auch mündliche autobiographische Selbstzeugnisse vor.20 Die in Tonaufnahmen festgehaltenen lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden vom Sammler zwar erbeten, aber nicht oder nur selten (durch vertiefende oder Verständnisfra- gen) unterbrochen; er machte auch nicht die Vorgabe, die Autobiographie solle möglichst die gesamte bisherige Lebenszeit umspannen, wie dies z. B. bei narrativen Interviews in der Oral-History-Forschung meist angestrebt wird.21 Ausführlich haben zwei Männer aus Serbien (im Alter von 72 bzw. 42 Jahren) und zwei Frauen aus Serbien bzw. der Türkei (mit 30 bzw. 38 Jahren) über ihren Lebensweg berichtet, wobei dies z. T. bei mehreren aufeinander folgenden Aufnahmegelegenheiten geschah. Diese Erinnerungen – auch jene des ältesten Erzählers – legen besondere Gewichtung auf die ersten beiden Lebensjahrzehnte, wobei speziell in der Kindheit und Jugend prägende Erfahrungen und Lebensumstände zur Sprache kommen. Neben diesen Autobiographien liegen hunderte Erzählungen vor, die von mehr oder weniger ausführlichen Selbstpräsentationen (z. B. über familiäre Herkunft, wichtigste Lebensdaten, frühere Lebens- und Wohnbedingungen, Arbeit und handwerkliche Fertigkeiten, Alltagskultur, etc.), über Schilderungen prägender Schicksalsschläge oder Entscheidungen (z.B. Auswanderung, Verehelichung) bis zu Erinnerungen an einschneidende Lebensabschnitte und Erfahrungen rassistischer Verfolgung reichen.22 Letztere beziehen sich fast alle auf die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Diese Zeitzeugenberichte stammen von rund dreißig Personen, Männern und Frauen vorwiegend aus Österreich sowie aus Polen, Rumänien, der Slowakei und Serbien. Der früheste Bericht wurde 1965 aufgenommen,23 ihm folgten allerdings

20 Es handelt sich um die zirka 1969/70 aufgenommene Autobiographie einer jungen Frau aus Belgrad (1941 bis zir- ka 1992), die einige Jahre als Arbeitsmigrantin in Österreich und Australien lebte (PhA: insbes. B 37322f., auch B 37318ff., B 37326, B 37331), sowie um das in Fußnote 14 erwähnte Briefdiktat des Ungarnflüchtlings (verstorben 1987); sein schriftlicher „Lebensweg“ („Trajosko drom, 1.V.1917 bis 1974“, so der Originaltitel) wurde 1999 etwas gekürzt und mit deutscher Übersetzung publiziert (Fennesz-Juhasz/Heinschink [Hg.], Lovarenge Paramiči, S. 66–73 und 112). 21 Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews vgl. z. B. Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft, S. 21ff. sowie Stephan, Erinnertes Leben, S. 16ff. 22 Die Dauer der aufgenommenen Erinnerungszeugnisse reicht von einigen Minuten über rund dreißig Minuten (häu- fig) bis zu eineinhalb, zwei oder (selten) mehr Stunden; beim längsten Erinnerungszeugnis handelt es sich um drei Aufnahmesitzungen von insgesamt 10,5 Stunden. 23 Er stammt von einer Frau (geboren zirka 1910), die 1939 in Warschau lebte, mit ihrer Familie zur Zwangsarbeit ver- schleppt wurde und drohender Erschießung durch Flucht entkam. Der Bericht ist über den Online-Katalog des Pho- nogrammarchivs anzuhören: http://catalog.pha.oeaw.ac.at/viewsession.php?id=74, und mit deutscher Übersetzung nachzulesen in: Christiane Fennesz-Juhasz u. a. (Hg.), Lang ist der Tag, kurz die Nacht. Märchen und Erzählungen

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bis Ende der 1970er-Jahre nur sechs weitere Erzählungen bzw. kurze Gespräche (über KZ-Aufenthalt, Ermordung von Angehörigen oder Überleben im Untergrund). Gerade in der Nachkriegsgesellschaft, in der es „eine breite Akzeptanz der NS-Verbrechen an den ‚Zigeunern‘“ gab,24 war es für die Opfer, die häufig weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt waren, nur sehr selten möglich, unbeschadet über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten. Daher war es in dieser Zeit auch kaum möglich (bzw. wurde davon Abstand genommen), solche Erinnerungen zu erfragen oder gar aufzunehmen. Ausführlichere Zeitzeugengespräche mit Überlebenden von Konzentrationslagern wurden ab 1981 geführt, wobei hier jene hervorgehoben seien, die im Dezember 1994 mit acht Frauen und einem Mann (geboren zwischen 1915 und 1930) im Südburgen- land aufgenommen wurden.25 Schließlich wurden während eines Forschungsprojekts zur Romani-Variante der Lovara (siehe Fußnote 2), an dem wir 1996–1998 gemeinsam mit der Linguistin Petra Cech in Wien arbeiteten, weitere Zeitzeugenberichte sowie – meist in Form von semistrukturierten Experteninterviews – andere Erinnerungszeugnisse von Angehörigen der älteren Generation gesammelt (z. B. zu Alltag und Lebensumständen in der Vorkriegszeit, Erwerbstätigkeiten, Festkultur, Bräuchen, Glauben, etc.).26 Wie die aktuellen Selbstzeugnisse wurden auch die Erinnerungszeugnisse zumeist bei ihren UrheberInnen zu Hause, oft in Anwesenheit von Familienmitgliedern oder

der Kalderaš – Baro o djes, cîni e rjat. Paramiča le Kaldêrašengê, Klagenfurt 2012, S. 458–465. Am weitesten zurück- reichen dürften die 1971 aufgenommenen Erinnerungen einer alten Frau aus Frankreich, die auch über ihre einjährige Internierung während des Ersten Weltkriegs berichtete (PhA: B 37521). 24 Erika Thurner, „Eine wirkliche Befreiung hat es nicht gegeben!“ Konzentrationslager in der Erinnerung von Roma und Sinti, in: Tomáš Dvorák u. a. (Hg.), Milý Bore ... Profesoru Ctiboru Nečasovi k jeho sedmdesátým narozeninám věnují přátelé, kolegové a žáci, Brno: Matice moravská, Historický ústav AV ČR, 2003, S. 363–373, hier S. 363. Selma Steinmetz führte wohl als erste Zeitzeugengespräche mit burgenländischen Roma und Wiener Sinti, die den NS- Terror überlebt hatten. Sie weist darauf hin, dass sie deren Vertrauen nur aufgrund der Fürsprache und in Begleitung von anderen ehemaligen KZ-Insassen erlangte (Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien 1966, S. 45, Fußnote 6). 25 Ein Ausschnitt des mit Paula Nardai (1923–1999) in Oberwart aufgenommenen Berichts wurde 2002 auf CD veröf- fentlicht (Christiane Fennesz-Juhasz/Michael Wogg [Hg.], Schun, so me phukavav ... Romane pamaristscha, phuka- jiptscha taj gila andar o Burgenland – Hör, was ich erzähle … Märchen, Erzählungen und Lieder der Roma aus dem Burgenland, Graz & Wien: Romani Projekt CD 1); in redigierter Form und mit deutscher Übersetzung wurde er publiziert in: Dieter W. Halwachs u. a. (Hg.), Der Rom und der Teufel. Märchen, Erzählungen und Lieder der Roma aus dem Burgenland – O rom taj o beng. Romane pamaristscha, phukajiptscha taj gila andar o Burgenland, Klagen- furt 2000, S. 146–159. 26 Die GesprächspartnerInnen, die sich während des Projekts hierfür (z. T. mehrmals) zur Verfügung stellten, waren bereits langjährige Bekannte von M. Heinschink. Mehrere dieser Erinnerungszeugnisse wurden (in Ausschnitten) mit deutscher Übersetzung publiziert in: Petra Cech u. a. (Hg.), Fern von uns im Traum. Märchen, Erzählungen und Lieder der Lovara – Te na dikhas sunende … Lovarenge paramiči, tertenetura taj gjila. Klagenfurt 2001, S. 246–267, 280–317.

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Freunden, manchmal auch in der Wohnung von M. Heinschink aufgenommen. Viele UrheberInnen erinnerter wie aktueller Selbstzeugnisse stellten sich wiederholt für wei- tere Tonaufnahmen, z. B. von Märchen und anderen fiktiven Geschichten oder Liedern zur Verfügung. Einige langjährige FreundInnen nahmen außerdem – dazu angeregt oder nicht – sich selbst (und ihre Angehörigen) für den Sammler auf. Angesichts des entgegen- gebrachten persönlichen Interesses waren auch viele Personen, mit denen nur einmaliger Kontakt bestand, gerne für eine Aufnahme ihrer Erinnerungen bereit. Diese Bereitschaft hing sicher auch mit den Sprachkenntnissen des Sammlers zusammen, der in vielen Fäl- len die spezifische Romanes-Varietät seiner GesprächspartnerInnen, mit ihren typischen Lexemen und Redewendungen, beherrschte.27 Prinzipiell wurde davon Abstand genom- men, etwas ohne Einwilligung der GesprächspartnerInnen, also geheim aufzunehmen. Dieser (fast ausschließlich) private Kontext, der persönliche Zugang sowie oft über viele Jahre bestehende Kontakte schufen sicher eine andere Kommunikationssituation und Vertrauensbasis als solche während (zeitbegrenzter) Forschungsprojekte. In diesem Zusammenhang ist aber auch nach der methodischen Herangehensweise zu fragen: Gene- rell ist festzuhalten, dass die spontanen wie angeregten Selbstzeugnisse nicht systematisch gesammelt wurden und insofern keinen Anspruch auf Repräsentativität (für bestimmte Zeitperioden, Gruppen, etc.) erheben können. Auch kamen die Erzählungen und Ge- spräche zumeist nicht auf der Basis theoriegeleiteter qualitativer Erhebungsmethoden (wie z. B. in mehreren Phasen ablaufende narrative Interviews) zustande. Des Öfteren wurden zudem nur Teile von Gesprächen aufgezeichnet. Bei Erinnerungszeugnissen wurde den GesprächspartnerInnen meistens zwar intuitiv weitgehende Freiheit bezüglich ihrer Aus- führungen gelassen, wie dies auch in der Hauptphase von narrativen Interviewabläufen geschieht, danach wurde aber oft von Fragen zu unklar gebliebenen Inhalten abgesehen. Dies geschah nicht zuletzt wegen des vorrangigen Interesses an anderen Aspekten der Ausführungen, nämlich den verbalen Ausdrucksmöglichkeiten der SprecherInnen, mit denen sie ihr individuelles narratives Gedächtnis wachriefen. Dennoch stellen die gesammelten Tonaufnahmen und schriftlichen Zeugnisse insgesamt ein umfangreiches Konvolut von Beispielen originaler Selbstzeugnisse von

27 Aufgrund solchen Sprachvermögens wurde auch ein Fremder oft sehr schnell von Roma quasi als einer der ihren aufgenommen. Allerdings ist hier als Ausnahme von der Regel zu erwähnen, dass ein Fremder, der mit Sinti in ihrer Sprache in Kontakt kommen wollte, Misstrauen hervorrief. Dies hängt nicht zuletzt mit der Vorgehensweise von sprachkundigen NS-„Rassenforschern“ wie Eva Justin zusammen, die sich so von vielen Sinti Informationen über ihre Angehörigen und deren Aufenthalt erschlich.

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Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, sozialer und Gruppenzugehörigkeit sowie regionaler bzw. nationaler Herkunft dar, welches bezüglich seiner Inhalte und der abgedeckten Zeitspanne kaum Vergleichbares finden wird.28 Dies trifft umso mehr zu, als fast alle Selbstzeugnisse in der Muttersprache ihrer UrheberInnen, in ihrem jeweiligen Romanes-Dialekt erzählt bzw. geschrieben wurden. Dieser Umstand unterscheidet die 1965–1998 entstandenen Zeitzeugenberichte auch von fast allen anderen, die während wissenschaftlicher Forschungsvorhaben von Roma/Sinti, die das Nazi-Regime überleb- ten, erfragt wurden. Außerdem handelt es sich wohl – neben jenen von Milena Hübsch- mannová in der Slowakei und Tschechien aufgenommenen (siehe Fußnote 28) – um die frühesten derartigen Erinnerungszeugnisse in Romanes.29 Schließlich stellt eine weitere Besonderheit dieses Konvoluts dar, dass die Selbstzeugnisse als historische Primärquellen zugänglich gemacht wurden bzw. – nach Maßgabe ethischer und rechtlicher Richtlinien – in Zukunft sein werden (siehe unten), indem sie in einem hierfür geeigneten Repositori- um deponiert, erschlossen und dokumentiert wurden.30

28 Hier ist vor allem auf Milena Hübschmannová (1933–2005) zu verweisen, die in Tschechien und der Slowakei zahl- reiche Erinnerungszeugnisse und Lebensgeschichten von Roma und Romnja aufnahm und auch (meist in Überset- zung) veröffentlichte. Erwähnt seien insbesondere die vielen auf 28 Tonbändern festgehaltenen Aufnahmesitzungen zwischen 1979 und 1985, während denen Elena Lacková ihre Autobiographie in Romanes erzählte. Sie wurde, von M. Hübschmannová ins Tschechische übertragen und gemeinsam mit der Verfasserin bearbeitet als „Narodila jsem se pod šťastnou hvězdou“ („Ich bin unter einem glücklichen Stern geboren“) 1997 in Prag veröffentlicht. Ruda Dzur- kos Buch „Ich bin wieder Mensch geworden: Bilder und Geschichten eines Rom-Künstlers“ (Leipzig 1990) basiert ebenfalls auf Gesprächen in Romanes (Tonaufnahmen ab 1976). 2005 erschien posthum der erste Band der von M. Hübschmannová herausgegebenen Zeitzeugen-Dokumentation „‚Po židoch cigáni‘. Svědectví Romů ze Slovenska 1939–1945, I. dil (1939-srpen 1944)“, der zahlreiche Erinnerungen von slowakischen Roma-Überlebenden des Ho- locaust (in Romanes und Tschechisch) enthält; diese wurden ab 1970 aufgenommen, seit Mitte der 1990er-Jahre z. T. in Kooperation mit ehemaligen SchülerInnen und MitarbeiterInnen des Romistik-Seminars an der Prager Karls- Universität und gemeinsam mit diesen für die Edition bearbeitet. 29 In Österreich sind ab 2006, im Zuge der zwei vom burgenländischen Verein Roma-Service durchgeführten Projekte „Mri Historija“ und „Amari Historija“ Zeitzeugeninterviews auch in Romanes gemacht und audiovisuell dokumen- tiert worden (siehe hierzu die Publikationen des Roma-Service in der Liste „Weiterführende Literatur“ am Ende des Sammelbandes). Außer diesen sieben (von 20) Gesprächen (z. T. mit Vertretern der Nachfolgegeneration) sind uns 28 weitere Interviews bekannt, die (zumindest teilweise) in Romanes geführt wurden; 24 fanden ab Mitte der 1990er-Jahre mit Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine und Rumänien für das „Shoah Foundation Visual His- tory Archive“ statt, und vier 2005 mit bosnischen Flüchtlingen in Deutschland, während des internationalen Oral- History-Projekts „Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern“ (vgl. http://vhaonline.usc.edu/ und https://zwangsarbeit-archiv.de/archiv/). 30 Dies trifft auch auf die umfangreiche Audio-Sammlung von M. Hübschmannová zur Erzählkultur, Ethnographie und Musik von Roma (primär aus Tschechien und der Slowakei) zu, die ebenfalls im PhA deponiert ist und bis zum Abschluss der detaillierten Erschließung zumindest über eine Inventarliste durchsuchbar ist; M. Hübschmannovás schriftlicher Nachlass (mit Transkriptionen und anderen Typo-/Manuskripten) ist im Roma-Museum in Brünn un- tergebracht.

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Im Folgenden werden anhand von Beispielen einige Aspekte der Selbstzeugnisse heraus- gegriffen, die jedoch weder Anspruch auf Vollständigkeit erheben noch vorschnellen Ver- allgemeinerungen dienen wollen; vielmehr sollen sie Tendenzen aufzeigen, die während der Bearbeitung von ausgewählten (und teils bereits publizierten) Beispielen, aber auch bei der kursorischen Durchsicht der schriftlichen Quellen und der Dokumentation der Tonaufnah-­ men (Protokolle mit Incipits, Inhaltsangaben, eventuell Teiltranskriptionen) festgemacht wurden.

Sprache und Oralität

Die UrheberInnen der Selbstzeugnisse entstammen bekanntlich einer Volksgruppe, die ihre Kultur bis weit ins 20. Jahrhundert (fast) ausschließlich mündlich tradiert hat. Vie- le von ihnen, die zum Zeitpunkt ihrer Ausführungen im mittleren oder bereits hohen Alter waren, verfügten über keine oder nur elementare Schulbildung. (Dies trifft ins- besondere für UrheberInnen von Selbstzeugnissen aus den 1960er- bis 1980er-Jahren zu.) Die Erstsprache fast aller UrheberInnen der Selbstzeugnisse war/ist Romanes, wobei sie daneben mindestens eine weitere Landessprache beherrsch(t)en. In manchen Familien wurde bereits in den 1970er-Jahren auch die Zweitsprache gleichberechtigt neben Romanes gesprochen. Daher wurden mitunter auch spontane Selbstzeugnisse in dieser Sprache verfasst (z. B. Briefe in Türkisch oder Serbisch). Dass nur sehr we- nige Erinnerungszeugnisse – teilweise – in der Zweitsprache erzählt wurden,31 hängt weniger mit dem spezifischen Interesse des Sammlers am Romanes zusammen, denn die SprecherInnen selbst wechselten spätestens dann zur Sprache, in der sie erstsozi- alisiert wurden, wenn ihre Ausführungen mit starken Emotionen verbunden waren.32

31 Eine Ausnahme ist hier das zirka eineinhalbstündige lebensgeschichtliche Gespräch mit Johann „Mongo“ Stojka (ge- boren 1929) aus dem Jahr 1981, das durchgehend in Deutsch stattfand. Die Gründe hierfür sind heute nicht mehr eruierbar (interessant ist hier, dass nach dieser Aufnahme eine Anekdote in Romanes erzählt wurde). Eine Kopie der Aufnahme wurde von Paul Meissner (Ottweiler/BRD) der Redaktion der „Gießener Hefte für Tsiganologie“ über- geben; in ebd. 1, 2 (1984), S. 53–64, erschien unter dem Titel „Zigeuner im ‚Dritten Reich‘. Ein autobiographischer Bericht v. Karl S. [sic!], Wien …“, ein Transkript der ersten 40 Minuten (Leben der Lovara in der Vorkriegszeit, Depor- tation nach und Aufenthalt in den KZs Auschwitz und Buchenwald) – leider enthält dieses viele falsch geschriebene Ortsangaben und andere Bezeichnungen. 32 Interessant ist in diesem Zusammenhang Steinmetz’ Erwähnung, dass Sinti ihre Berichte durch Sätze „in ihrer Spra- che [unterbrachen] – etwa weil sie Dinge ausdrücken wollen, die für die Gadje-Ohren nicht geeignet sind“. (Stein- metz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat, S. 22). Gemeinsam mit Kollegen protokollierte sie rund 100 Berichte von überlebenden Roma und Sinti.

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(Dies geschah/geschieht auch in Alltagssituationen, wie z. B. bei einem Streit.) Mit dem eigenen Alltagswortschatz in Romanes, einer an Bildern und Metaphern reichen Spra- che, ließen sich persönliche Erfahrungen und Gefühle am besten ausdrücken. In die- sem Sinne stellte Mongo Stojka während seiner Erinnerungen an seine Kindheit fest: „Aj but Rom skirin vareso tele, gajžikanes skirin les tele, aj naj kodo sar skirij roma- ni šib tele. I namcicka vorba, kana phenes ‚Wald‘ aver si, sar kana phenes ‚o vejš‘. Me kana phenav ‚o vejš‘, dikhav les taj sungav les! Kana ‚Wald‘ phenav, vejš dikhav feri.“33 Die Tradition der „Nicht-Schriftlichkeit“ prägte natürlich Form und Stil der Selbst- zeugnisse, aber auch Gedächtnisleistungen von ErzählerInnen. Gerade bei mündlichen Erinnerungszeugnissen handelt es sich daher oft um lebhafte und detailreiche Schilde- rungen, die das Erlebte unmittelbar und bildhaft, öfter angereichert mit direkten Reden, Dialogen, rhetorischen Fragen und Sprachformeln (zur Bekräftigung des Gesagten) aufs Neue erstehen lassen. Dies trifft auch auf Zeitzeugenberichte zu, bei denen die Erzähle- rInnen die ihnen angetane Verfolgung und Gewalt, deren schmerzhafte Erinnerung im Alltag möglichst hintangehalten wurde, wieder durchleben mussten.34 Ein Beispiel für das Gesagte sind die Schilderungen Karl Stojkas (1931–2003) über seine Deportation und den Aufenthalt im KZ Auschwitz-Birkenau, die M. Heinschink während eines langen Gesprächs im Februar 1997 aufnahm.35 Es war nicht das erste Mal,

33 „Inzwischen haben viele Rom etwas aufgeschrieben, aber auf Deutsch, und das ist nicht so, wie wenn man es in Ro- manes niederschreibt. Wenn du auf Deutsch ‚Wald‘ sagst, ist es etwas anderes, als wenn du sagst: o vejš. Wenn ich o vejš sage, dann sehe ich ihn vor mir und ich rieche ihn! Wenn ich ‚Wald‘ sage, sehe ich bloß einen Wald.“ (PhA: D 4723, aufgenommen 12.2.1996 in Wien; zitiert nach Cech u. a., Fern von uns im Traum, S. 266f.) 34 Wie bereits Selma Steinmetz (a.a.O., S. 21) stellte auch Erika Thurner (a.a.O., S. 364), die im Zuge ihrer Forschun- gen 1980–1995 systematisch Zeitzeugeninterviews mit Roma und Sinti durchführte, einen Unterschied zwischen deren Berichten und jenen anderer Überlebender fest. Beide erwähnen die lebhafte, plastische Darstellungsweise (Steinmetz) bzw. Originalität dieser – auf Deutsch erzählten – Berichte. Thurner verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die überlebenden Roma/Sinti „keine (kaum) Vorbildstudien und Faktensammlungen [hatten], an de- nen sie sich orientieren konnten“. Gründe hierfür seien vor allem das gesellschaftliche Desinteresse an und die späte Auseinandersetzung mit dem Holocaust dieser Opfergruppe, gepaart mit deren sozialer Randstellung und geringer Schulbildung (Analphabetismus). 35 Karl Stojka überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Flossenbürg und wurde wäh- rend eines Todesmarsches im April 1945 nahe Rötz (Bayern) befreit. Das Gespräch, in dem auch andere Erinnerun- gen bzw. Themen angesprochen wurden (Familienangehörige und deren Ermordung, Zeit nach der Befreiung, eigene Lebensphilosophie, rezenter Rassismus), fand im Zuge des oben erwähnten „Lovara-Projekts“ statt. Es dauerte, mit kurzen Unterbrechungen rund sechs Stunden, wobei mindestens eine Stunde des Beginns (sowie kürzere Teile we- gen Kassettenwechsel oder familiärer Unterhaltungen zwischendurch) nicht aufgenommen wurden. Die Aufnahmen haben eine Gesamtdauer von drei Stunden und zwanzig Minuten (PhA: D 4760 – D 4767), ein langer Ausschnitt wurde schriftlich, etwas redigiert und mit deutscher Übersetzung publiziert in Cech u. a. (Hg.), Lovarenge Paramiči taj Tekstura anda Österreich – Texte Österreichischer Lovara, Wien 21999, S. 98–127.

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dass Karl Stojka von diesen traumatischen Erfahrungen berichtete, hatte er dies doch davor bereits in einigen schriftlichen – und vielen künstlerischen – Arbeiten getan. Un- seres Wissens ist das vorliegende Tondokument aber sein einziges Erinnerungszeugnis in Romanes. Zwar wurde dieses Gespräch zunächst in Deutsch begonnen, allerdings wechselte der Zeitzeuge schnell in seine Muttersprache, obwohl sie im Alltag bereits seine Zweitsprache geworden war.36 Sehr ausführlich und mit drastischer Unmittelbarkeit berichtete er über die Ankunft in Auschwitz. Zwei kurze Ausschnitte37 vermögen einen Eindruck von erlittenen Strapazen, Gewalt und Erniedrigungen zu vermitteln und bis zu einem gewissen Maß auch von den Gefühlen, die der Erzähler bei deren Schilderungen noch einmal durchmachte. Allerdings kann das Transkript nicht den in der Tonaufnah- me festgehaltenen nonverbalen Gehalt seiner Ausführungen wiedergeben: Stimmfarbe und Tonfall, Betonungen und Innehalten, beschleunigtes und lauteres Sprechen, vernehmba- re Gefühlsregungen usw. Dieser nur über den direkten Sinneseindruck wahrnehmbare Gehalt ermöglicht es den Hörern, sich ihr eigenes Bild von der momentanen emotiona- len Verfassung und der Persönlichkeit des Erzählers, aber auch von der Aufnahmesitua- tion selbst zu machen.38

36 Sein Bericht enthält deshalb auch häufigesCode-Switching , d. h. Wechsel zum Deutschen, z. B. bei Straßen- und Ortsbezeichnungen, Datumsangaben. Tatsächlich deutsch gesprochene Aussagen anderer zitierte er auch in dieser Sprache – und im Tonfall, wie z. B. die Befehle der Täter. Etwas längere Ausführungen in Deutsch galten Ereignissen, die er nicht selbst mit angesehen hatte (Ermordung der im „Zigeunerlager“ in Auschwitz verbliebenen Roma und Sin- ti am 2. August 1944), und reflexiven Äußerungen (z. B. über die Normalbürger, die willige Vollstrecker des Regimes waren), diese hat er in ähnlicher Form auch schriftlich festgehalten (siehe Cech u. a. [Hg.], Lovarenge Paramiči, S. 124 [Ende 2. Absatz] und S. 106, und vgl. dazu z. B. Karl Stojka, Mein Name im Dritten Reich Z 5742, Wien, 2000, S. 26 [Ende 1. Absatz] und S. 165). 37 Siehe Anhang, Beispiel 1; die betreffenden Textstellen entsprechen dem Transkript in Cech u.a. (Hg.), Lovarenge Paramiči, S. 112–115, aber mit geringfügigen Korrekturen und möglichst wörtlicher deutscher Übersetzung. – Die gesamte Schilderung der Ankunft bis zur Überbringung ins Lager Birkenau BIIe ist detaillierter und länger als in seinen schriftlichen Publikationen, vgl. z. B. ebd., S. 14 sowie Karl Stojka/Reinhard Pohanka, Auf der ganzen Welt zu Hause. Das Leben und Wandern des Zigeuners Karl Stojka, Wien 1994, S. 37f. 38 Natürlich vermitteln Video- bzw. Filmaufnahmen in größerem Ausmaß solche „Interpretamente“ (Mimik, Gestik, Aufnahmeumgebung, etc.); aufgrund des größeren technischen Aufwands und der auf die Gesprächspartner gerich- teten Kamera beeinflussen sie aber die Situation mehr (störender) als eine Tonaufnahme (vgl. Alexander von Plato, Medialität und Erinnerung. Darstellung und „Verwendung“ von Zeitzeugen in Ton, Bild und Film, in: BIOS, 21, 1 [2008], S. 79–92, hier S. 83f.).

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Gestalteter Lebensweg und Verarbeitung des „Schicksals“

Die UrheberInnen von erinnerten und aktuellen Selbstzeugnissen übermitteln bestimmte Aspekte ihrer Lebensumstände und -erfahrungen und werden dabei auch als individuelle AkteurInnen erkennbar. Dementsprechend bergen die Selbstzeugnisse zahlreiche für die Kulturgeschichte von einzelnen Gruppen relevante Informationen, etwa bezüglich (sich ändernder) sozialer Bedingungen und tradierter gruppenspezifischer Reglementierun- gen und Werte. Zugleich verweisen sie aber auch auf persönliche Entscheidungen und genutzte Handlungsspielräume, durch die die ErzählerInnen nicht nur als ihre Kultur Interpretierende, sondern auch als das eigene Dasein gestaltende Subjekte hervortreten. „Mangê s’ akana eftavardeš thaj duj bêrš thaj mangav te mothav tukê, kana biandilem, sar anklistem te avav manuš aj t’ avav ande bêršende aj t’ avel sa so manglem.“39 Mit diesen Worten leitet ein Mann aus Serbien seine Autobiographie ein, mit der er zunächst den Bogen von der Geburt bis zu Familiengründung und Leben als junger Erwachsener spannt, um später zu erzählen, wie er im fünften Lebensjahrzehnt als Arbeitsmigrant nach Österreich kam. Seine anschaulichen Schilderungen, von denen einige kurze Aus- schnitte im Anhang (Beispiel 2) zu finden sind, geben u. a. Einblick in die – sich all- mählich wandelnden – Lebensumstände von mobilen Handwerkern in den 1920er- und 1930er-Jahren; entsprechend seinem vorangestellten Motto zeichnet der Erzähler aber auch die eigene Entwicklung vom schwierigen Lebensstart in großer Armut bis zum wohlhabenden und angesehenen Mann, zu dem er aufgrund harter Arbeit und Verläss- lichkeit geworden war. Wie schwierig Lebensentscheidungen sein können, davon zeugen improvisierte Lieder, die zwischen 1968 und 1972 in Tonaufnahmen an Familien in Prilep übermittelt wurden. In diesen gesungenen Botschaften beklagten (fast ausschließlich männliche) Migranten die Trennung von daheim gebliebenen Angehörigen und Freunden; dabei brachten sie aber auch die aufgegebene Existenz in der Heimat, weitere Auswanderungspläne (nach Übersee) und – in Andeutungen – eigene Probleme sowie jene von Freunden (vergebliche Unterkunfts- und Arbeitssuche) zur Sprache (siehe hierzu ein kurzes Beispiel im Anhang, ­

39 „Ich bin nun 72 Jahre alt und möchte dir erzählen, wann ich geboren wurde, wie ich zu einem Mann [wörtl. Men- schen] heranwuchs und in die Jahre kam und alles so wurde, wie [wörtl. was] ich [es] wollte!“ (PhA: B 39513, aufge- nommen 1986.)

148 Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

Beispiel 3).40 Nur vereinzelt liegen in der Sammlung vergleichbare (ad hoc) selbstverfasste Lieder von Personen aus anderen Regionen vor, diese stammen von Frauen und Män- nern aus dem Kosovo, Serbien, Österreich oder Westanatolien. Selten wird in solchen Gesängen (mitunter ironisch) auf aktuelle Probleme eingegangen, handelt es sich doch fast durchwegs um retrospektive Darstellungen von erfahrenem Leid. Hier finden sich Klagen über persönliche Schicksalsschläge (z. B. Erblindung, Tod der Eltern, Natur- katastrophe) sowie künstlerische Verarbeitungen von rassistischer Verfolgung oder von prägenden Stationen der eigenen Biographie.41

Gesagtes und Unerwähntes

Gerade aktuelle Selbstzeugnisse beschränken sich oft auf die wesentlichsten Aspekte im Leben ihrer UrheberInnen. Familiäre Briefe und kurze Grußbotschaften, die auf den ers- ten Blick kaum mehr als – oft auf tradierte Umgangsformen und Sprachformeln basie- rende – Wünsche enthalten, spiegeln so für Verfasser und Adressaten zentrale Werte wi- der. Abgesehen von allfälligen kurzen Berichten über meist alltägliche Begebenheiten und Aktivitäten oder Ermahnungen und Ratschlägen „erzählen“ diese Zeugnisse vor allem über persönliche Beziehungen und über die Bindung an eine Gemeinschaft. So wird der Adressat eines „akustischen Briefs“, mittels dem er als einziger Verwandter um ein Tref- fen gebeten wird, einundzwanzigmal mit „muro kuč vero“ („mein lieber Cousin“) ange- sprochen; dementsprechend senden in familiären Briefen zahlreiche namentlich genannte Angehörige ihren Gruß bzw. werden hier in großer Zahl namentlich angeführte Personen gegrüßt (bis zu fünfundzwanzig, zusätzlich jener, „die den Brief lesen beziehungswei- se vorgelesen bekommen werden“). Generell dürfen dabei unerlässliche Elemente des

40 Die Verfasser erhielten – manchmal gesungene – Antworten ihrer Angehörigen. Solche improvisierte – und mu- sikalisch unter Verwendung von Modellmelodien ad hoc variierte – Abschieds- und Klagelieder wurden nicht nur bei Zusammenkünften mit Freunden in Wien, sondern bereits bei Festen vor der Abreise in Prilep gesungen. Frauen trugen bei diesen Gelegenheiten selten spontane Klagegesänge vor, sie reflektierten ihre aktuelle Situation aber auch in Wiegenliedern. – Bis zu einem gewissen Grad knüpfen die spontanen Prileper Klagelieder an einen bestimmten Typ von mazedonischen Volksliedern, den pečalbarski pesni („Wanderarbeiterliedern“) an, sie unterscheiden sich von diesen aber durch ihre spezifische Text- und Melodiegestaltung. 41 Vgl. hierzu z. B. das Lied von Ferad Asanović über die Ermordung von Roma nahe des serbischen Dorfes Jabuka durch deutsche „Einsatzgruppen“ 1941 (aufgenommen 1968; siehe Christiane Fennesz-Juhasz, Quellen zur Musik der Roma in der Sammlung Heinschink, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 45 [1996], S. 111–133, hier S. 124) sowie die lyrischen Klagen des Şerif Tetik (vulgo Kufala) aus Izmir (siehe Beate Eder-Jordan, Mensch sein. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Roma und Sinti: Dissertation, Innsbruck 2005, S. 159ff.).

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respektvollen Umgangs nicht fehlen, wie „Gesundheit“ und „Glück“ zu wünschen; bei Briefen muslimischer UrheberInnen vom Balkan bzw. der Türkei werden außerdem – je nach altersmäßiger Hierarchie – die Stirn oder Augen von jüngeren bzw. die Hände von älteren Adressaten quasi verbal geküsst (siehe Beispiel 4). Wie in den gesungenen Botschaften der Prileper Auswanderer wird auch in ande­ ren Briefen praktisch nichts über die weitere soziale oder örtliche Umgebung der VerfasserInnen (etwa Erfahrungen oder Kontakte von Migranten im neuen Wohnort oder am Arbeitsplatz) mitgeteilt. Auch in autobiographischen Erzählungen findet das Zusammenleben mit Nicht-Roma meist nur am Rande Erwähnung.42 Inwieweit diese weitgehende Absenz als ein Beleg dafür zu bewerten ist, dass Roma in „geschlossenen Gesellschaften“ leben, sei jedoch weiteren Untersuchungen überlassen, die den Vergleich zu anderen derartigen Quellen einbeziehen können. Jedenfalls verweisen die vorliegenden Selbstzeugnisse auf die zentrale Bedeutung, die – nicht nur die engste – Familie und Verwandtschaft für ihre UrheberInnen haben.

Zur Verwendung und Verbreitung der Selbstzeugnisse als Quellen

Das hier vorgestellte Konvolut von Selbstzeugnissen birgt relevante Vergleichsdaten für verschiedene wissenschaftliche Fragestellungen, z. B. von ethnographischen, Oral-Histo- ry- oder linguistischen Forschungsvorhaben. Die adäquate Benützung dieser Dokumente bedarf natürlich entsprechender Quellenkritik, die – wie bei allen historischen Quellen und Ergebnissen von rezenten kultur- und sozialwissenschaftlichen Erhebungen – eine notwendige Voraussetzung für ihre korrekte Einordnung und Interpretation ist. Die Quellenkritik beinhaltet, wie oben ausgeführt auch die Frage nach den Entstehungszu- sammenhängen der Tonaufnahmen und schriftlichen Zeugnisse, die Rolle und das (For- schungs-)Interesse ihres Sammlers mit eingeschlossen. Notwendige Voraussetzung hier- für ist eine möglichst umfassende Dokumentation dieser Daten sowie der Lebensdaten und Herkunft der betreffenden UrheberInnen (wie sie im Zuge der Archivierung erstellt wurde) – und eine entsprechende Sichtung und Berücksichtigung bei der Auswertung der

42 Hier sei aber auf die Erinnerungen von Dragan Jevremović, insbesondere an seine Kindheit verwiesen (siehe Fennesz- Juhasz u. a. [Hg.], Lang ist der Tag, S. 486–505).

150 Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

Quellen. Diese Kontextualisierung wird in vielen Fällen noch zusätzlicher Recherchen bedürfen, etwa um einzelne Beispiele hinsichtlich ihrer Repräsentativität oder bestimmter Äußerungen richtig interpretieren zu können. Gerade der spezifische Zusammenhang ihrer Entstehung sowie ihre Inhalte bringen unweigerlich ethische Implikationen im Umgang mit diesen Quellen mit sich. Ein großer Teil der Selbstzeugnisse, die dem Sammler auf Tonband gesprochen bzw. überlassen wurden, war nicht für ein größeres Publikum gedacht. Dies erfordert eine entsprechend sensible Herangehensweise bei ihrer Benützung für wissenschaftliche oder andere Zwe- cke zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte von UrheberInnen und anderen Beteiligten; diesbezüglich liegen für einzelne Forschungsdisziplinen wie auch für Archive professio- nelle Richtlinien vor.43 Da autobiographische Zeugnisse und Briefe oft persönliche und/ oder familiäre bzw. andere als vertraulich zu behandelnde Informationen beinhalten, sind auch entsprechende Vorkehrungen zur Wahrung der Privatsphäre der betreffenden Per- sonen (und ihrer Angehörigen) zu treffen. Aufgrund solcher sensibler (Teil-)Inhalte sind viele der vorliegenden Selbstzeugnisse derzeit nicht oder nur eingeschränkt benützbar, wobei die Dauer dieser Zugriffssperre in Einzelfällen über mehrere Jahrzehnte gehen kann.44 Dies ist heute noch von größerer Bedeutung als zum Zeitpunkt der Archivierung eines Großteils der Selbstzeugnisse Anfang der 1990er-Jahre. Das Internet und damit die potenziell unbegrenzte digitale Verbreitung von Informationen jeglicher Art stellen eine nie zuvor da gewesene Möglichkeit der Demokratisierung des Wissens dar; dem- entsprechenden Aufgaben und Erwartungshaltungen bezüglich der Verfügbarkeit ihrer Bestände sehen sich – wie andere Bildungsinstitutionen – auch audio-visuelle Archive gegenüber, in deren Verantwortung aber die Wahrung der Rechte der UrheberInnen bzw. Aufgenommenen liegt. Wir haben in den vergangenen Jahren einige Selbstzeugnisse in schriftlicher Form und mit Übersetzung, aber auch in ihrem originalen Medium als Tonaufnahmen (in Aus- schnitten) veröffentlicht. Dies geschah insbesondere in Publikationen, die an eine breite-

43 Siehe z. B. „Code of Ethics of the American Anthropological Association“ (= http://www.aaanet.org/profdev/ ethics/) und „Ethical Principles for Sound and Audiovisual Archives“ (= IASA Special Publication No. 6, http:// www.iasa-web.org/ethical-principles). 44 Auch Teile der beiden hier gebrachten Beispiele 1 und 2 sind derzeit nicht für eine Benützung freigegeben, weshalb die betreffenden Aufnahmen auch nicht im Online-Katalog des PhA ausgewiesen sind. Aus den angeführten ethi- schen Gründen wurde auch im vorliegenden Text auf die Nennung von Namen und genauer Herkunft von Urhebe- rInnen der Selbstzeugnisse weitgehend verzichtet.

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re Öffentlichkeit gerichtet waren.45 Soweit dies noch möglich war, haben wir hierfür das Einverständnis der jeweiligen UrheberInnen eingeholt. Auch wurden in diesen Publikati- onen entsprechende Zusatzinformationen in Form von Kommentaren bereitgestellt und nötige redaktionelle Eingriffe (aus eben erwähnten, aber auch Platzgründen) möglichst nachvollziehbar gemacht. Gerade bei der Publikation von Tonaufnahmen im Internet ist es nicht immer möglich, eine Kontextualisierung mittels ausführlicher Begleittexte mit- zuliefern. Hier wurde darauf geachtet, die Aufnahmen durch ihre Auswahl und Zusam- menstellung sowie knapp gehaltene Metadaten weitgehend selbsterklärend aufzuberei- ten. Die Verbreitung von solchen Originalquellen über das Internet birgt natürlich auch Gefahren hinsichtlich der Manipulation und Verwendung für nicht intendierte Zwecke, allerdings stellt sie – wie oben angedeutet – eine Chance dar, diese Dokumente einem möglichst breiten, interessierten Publikum, einschließlich Gemeinschaften, aus denen sie stammen, verfügbar zu machen.

Schlussbemerkung

„Feri i vorba si te phenes, te ašol pi luma, ke kana či phenes la, či ašol o hango. Wenn man den Ton nicht spricht, bleibt er nicht auf der Erde. Wenn du ihn gesprochen hast, kate si pi luma, taj ašol mindig ...“ (Karl Stojka)46

Selbstzeugnisse spiegeln konkrete Erfahrungen und kulturell geprägte Haltungen wider, aber auch subjektive Auffassungen von realen Personen. Als solchermaßen differenzierte Darstellungen sollten die hier vorgestellten Quellen auch gelesen – und präsentiert – werden. Wir meinen, gerade diese individuelle Perspektive kann einer differenzierteren

45 Außer in den bereits angeführten zweisprachigen Büchern und CDs wurden Erinnerungszeugnisse auch in der Zeit- schrift Romano Centro publiziert; Ausschnitte von einschlägigen Tonaufnahmen (mit Übersetzungen) dienten in der Kulturdokumentationsdatenbank der didaktischen Web-Site RomBase (http://romani.uni-graz.at/rombase/) der Illustration von einzelnen Stichwörtern, z. B. betreffend Erwerbstätigkeiten, sozialer Organisation, Ritualen etc. 2010 stellte das PhA 23 Tonaufnahmen zur Kultur von Roma (aus den Jahren 1901 bis 2002) für eine virtuelle Ausstellung der Online-Plattform der Europäischen Nationalbibliotheken zur Verfügung; diese Auswahl enthält ne- ben Musik, Märchen, Interview(ausschnitten) und Präsentationen eigener Werke von bekannten SchriftstellerInnen auch autobiographische Selbstzeugnisse, z. B. von Ceija Stojka (siehe http://www.theeuropeanlibrary.org/exhibiti- on/roma_journey/eng/index.html). Die Aufnahmen sind (mit ausführlichen englischen Inhaltsangaben) auch im Online-Katalog des PhA abrufbar. 46 12.2.1997, PhA: D 4766.

152 Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

Wahrnehmung von Menschen dienlich sein, die von anderen oft ausschließlich als Ange- hörige einer (wie immer definierten) Gruppe angesehen werden. Im besten Falle mögen die Selbstzeugnisse damit auch beitragen, der ständigen Reproduktion von Stereotypen entgegenzuwirken.

Anhang

Beispiel 1: Karl Stojka, aufgenommen am 12.2.1997 in Wien (PhA: D 4761)

„[…] Taj folijas telej o khul, taj o muter, taj njivinas taj cipinas e Rom. Taj kodaj terne šukar šeja, so sas, taj kodaj šave, so barimange sas, taj xlijenas pe tejle, taj muternas pe te- lej. No, mišto-j. A tradam, tradas, tradas, tradas; meren e manuša, ek khamni romni merel kote. Pustisajlas vi peske šavoresa, khamni sas, pelas opre mosa taj šutam la po eko kote. Kutka khandenas e mule, katka khandelas o khul taj o muter. Taj avilas kodo baro djes. Jek ezero, injašela taj štarvardeštajtrin März, März trandatajjeg, taj avilam ando Auschwitz- Birkenau pi Rampe. Avilam ande, tordjilas, ke či dikhas khanči! Ke phandado sas! Putren o vudar, rumpumpum putren, si kote šel ta ‘k šel ketani, SS-ura pe žukelenca, taj cipin: ‚Raus! Raus!‘ Kon birijas te xutjil tejle, xutjilas. Ko či birijas, tejle pelas. So pheno tuke, but! Samas 83 vaj 85, taj avri avilam, taj sas o Doktor Mengele kote: ‚Alles Raus! Antreten!‘ Taj samas 50 manuša, e aver sa mule. Kon pakjal kodo adjes? […] Pale si te žas ame links und rechts: Entlausung. So-j kodo Entlausung? – Jaj, mo he. Si katka ka e Rom, ka e Romna perdal, si te šon e gada tejle. Nanges. No, so phenav tuke? Mi phen angla ma taj kade paša ma kade. Nas dur, deš meteri, dešupanž! Lažan pe, mi dej, mi dej, mi – ame lažas ame. E Romna laž-, e terne šeja lažan pe! Avel kodo kapo, taj šingrel la ande, a čomagasa, taj pharadjon šere. Aj mindjar sas e gajdora tejle! […]“

„[…] Scheiße und Urin rannen an uns herunter, und die Rom jammerten und schrien. Die wunderschönen jungen Mädchen, die dabei waren, und die stolzen Burschen, alle schissen und pissten sich an. Und wir fuhren, [der Zug] fuhr, fuhr; die Menschen darin sterben, eine schwangere Frau stirbt dort, sie ging mit ihrem Kind zugrunde. Sie war schwanger, sie fiel um mit dem Gesicht nach oben, und auch sie legten wir dort in die Ecke. Dort stanken [schon] die Leichen, und hier stanken die Scheiße und der Urin.

153 Christiane Fennesz-Juhasz / Mozes F. Heinschink

Dann kam der große Tag, März 1943, [der] 31., wir kamen nach Auschwitz Birkenau auf die Rampe. Wir kamen dorthin und hielten an, und konnten gar nichts sehen! Denn wir waren eingesperrt gewesen. Sie öffnen die Tür, [lautmalerisch:] rumpumpum, sie öffnen, hunderte Soldaten, SS-ler mit Hunden, und sie brüllen: ‚Raus! Raus!‘ Wer runterspringen konnte, der sprang. Wer nicht konnte, der fiel hinunter. Was soll ich dir viel sagen?! Wir waren 83 oder 85 Leute [im Waggon] gewesen, und wir kamen heraus, und Doktor Men- gele war dort: ‚Alles raus! Antreten!‘ Und 50 Menschen waren wir [übrig], alle anderen waren gestorben. Wer glaubt das heutzutage? […] Wieder müssen wir links und rechts gehen: Entlausung. Was ist das, Entlausung? Joj, mein Lieber. Dort sind Männer und Frauen dort drüben, sie müssen sich ihre Kleider ausziehen. Nackt! Was soll ich dir sagen, meine Schwester vor mir und so nah bei mir. Nicht weit weg, 10, 15 Meter! Sie schämen sich, meine Mutter, meine Mutter, meine – wir schämen uns! Die Frauen, die jungen Mädchen schämen sich! [Da] kommt dieser Kapo und schlägt auf sie ein, mit dem [ihrem] Gepäck, [dass] die Schädel krachen. Und sofort waren die Kleider unten! […]“

Beispiel 2: Ausschnitt aus einer Lebensgeschichte, aufgenommen 1986 in Wien (PhA: B 39513, B 39517)

„[…] Me atunč gelem ka l’ gaźe thaj služisardem. Arakhavas êl bakrjan. Kaj arakhlem le bakrjan avilo mangê ande l’ dešuduj bêrš. Boldav ma ande cêre, dikhav le Řom sar kêren bući, sar čokojin, sar kêren le kakavja, sar xanon êl buća, le kola! Me phenav: ‚Joj Devla, so me ara­khav le bakrjan a ka gaźo samo pravarel ma haj del ma kak purane gadořa pe man- de. Te avav mangê i me maškar le cêre, te sîćov mangê te kêrav bući řomaji!‘ Thaj lem ma kadja, djes po djes, djes po djes kêravas pirořa, čarořê, tepsiji dok sîćilem te thav kotora ande l’ bare kêkavja thaj kolivas le, či baš źanavas prvo data te koliv le šukar, mekavas le cîřa ivand. E kana sîćilem nakhlo duj, trin bêrš. Kêrdem kodja bući, boga mi, či daravas me kata l’ Řom êl purane, kaj sas lengê po pinda bêrš, kana sas mangê dešutrin, dešuštar bêrs. Šukar bući kêravas sar o taxtaj haj sasti bući kêravas. […] Kana avilem źi lovende ćindem mangê jek magari. Lesa kanglem ma edno efta, oxto śon bi vurdonesko, po samari thavas leskê pe l’ zeja tha phiravelas amare čokaja thaj amari cêrica kaj sovasas. […]

154 Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

Pošto ćindem mangê grast, vurdon, cêra, šêranda, sovimaskê, vasurja, xamaskê. Sas ma sar svakone manušês kaj sas leskê štavardeš źi ka l’ pinda bêrš. Thaj dja mangê ande l’ kan, hajde Devla, te źav te zumavav muřî baxt te lav mangê řomni, kê ka korkořo naštivas te kanda ma, te xalava ma, te gêtiv mangê xabe, vuśćav pala dopo, te gêtiv xabe, dok me gêtiv xabe nakhli muřî vrjama. Maj but bêšavas i bokhalo nego čajlo. […]

Kadja phirdjam, geljam vurdonenca, mučisas amen, pičalas amengê ando čaro, ande řoj univar, kana delas o bêršind, o iv. Nas amen vendjarimata, slabo kon delas amen khêra te vendjaras. Vendjarasas tela l’ cêre. Kas sas bilaśi cêra vo xailas, kas sas zurali cêra vov sar i ando khêr, zarune cêre zurale. Phandaves, kêres sja naj šîl. Ej posle ljam amengê khêra ande ’g gav […] Mila phirenas, ivende avenas, ćidenas pe kote tela kodo plaj thaj kêrenas peskê vendjarimos, pravarenas grasten, kolen. Mučilas pe o narodo, naj sar akana, kê akana anklisto o trajo rajikano. Anenas la borořa, kon anenas bori ande cêra anelas paj. O iv źi ande kuštik, źalas la drzasa te anel kaš, źalas ando gav, phirelas, drabarelas, anelas xamaskê, anelas kak banka duj, mučinas pe le borořa atunč ka l’ purane Řom. Patime sas, mučime sas. Nas la akana, te maj xal pe la sakrasa h‘ êl sokrosa, ta l’ řomesa kataj bući. […]“

„[…] Dann ging ich als Knecht zu den Bauern. Ich hütete die Schafe. Ich hütete Schafe, bis ich zwölf war. Dann kehrte ich zu den Zelten zurück und sehe, wie die Roma arbeiten, wie sie hämmern, wie sie Kessel herstellen, wie sie die Gefäße und dergleichen verzinnen. Ich sagte: ‚Joj, mein Gott, wozu hüte ich Schafe, der Bauer gibt mir nur zu essen und alte Kleider. Ich will in die Zeltlager gehen, um das Handwerk der Roma zu lernen!‘ Also begann ich, Tag für Tag stellte ich Töpfe, Schüsseln, Pfannen her, bis ich auch lernte, Kessel zu flicken und zu verzinnen. Das erste Mal konnte ich es noch nicht so recht schön, sie waren noch nicht wie aus einem Stück. Zwei, drei Jahre lernte ich so. Ich arbeitete so, mein Gott, ich brauchte mich vor den alten Roma, die 50 Jahre alt waren, mit meinen 13, 14 Jahren nicht zu verstecken! Ich arbeitete sehr gut, alle Arbeiten waren formvollendet. […] Als ich genug Geld beisammen hatte, kaufte ich mir einen Esel. Ihn nutzte ich sieben, acht Monate lang ohne Wagen, nur mit Sattelzeug zum Aufladen, und er trug unser Werkzeug und unser kleines Zelt, in dem wir schliefen. […]

155 Christiane Fennesz-Juhasz / Mozes F. Heinschink

Dann kaufte ich mir Pferd, Wagen, ein Zelt, Polster, Bettzeug, Kochgeschirr. Somit hatte ich schon alles, was ein Mensch normalerweise mit 40, 50 Jahren so besitzt. Und es kam mir in den Sinn, mein Glück zu versuchen und mir eine Frau zu nehmen, denn alleine konnte ich keinen Haushalt führen, putzen und kochen. Ich stehe auf und fange sofort am Amboss an, wenn ich kochen auch noch muss, ist meine Zeit um. Ich war öfter mehr hungrig als satt. […]

So zogen wir umher, mit den Wägen, mühten uns ab, manchmal tropfte es uns in den Teller oder auf den Löffel, wenn es regnete und schneite. Wir hatten keine Winterquartiere, selten, dass jemand uns in Häusern übernachten ließ. Wir überwinterten in den Zelten. Wer ein schlechtes Zelt hatte, ging zugrunde, wer ein starkes Zelt hatte, lebte wie in einem Haus, die geflochtenen Zelte waren stark. Wenn es geschlossen war, war es nicht kalt. Später kauften wir uns Häuser in einem Dorf […]. Im Sommer zogen sie umher, im Winter kamen sie zurück, versammelten sich am Fuße des Berges und schlugen ihr Winterlager auf, zogen ihre Pferde groß und so. Das Volk mühte sich ab, es war nicht so wie jetzt, denn jetzt führt man ein Leben wie ein Fürst. Sie nahmen ein Schwiegertöchterchen, brachten eine Schwiegertochter in das Zelt, sie holte Wasser. Bis zu den Hüften im Schnee ging sie mit einem Tuch Holz holen, ging ins Dorf, ging herum, sagte wahr, brachte etwas zu Essen, brachte Geld, zwei Zehnermünzen. Unter den alten Roma plagten sich die Schwiegertöchter sehr ab. Sie lebten in Mühe und Plage. Über die Arbeit durften sie sich bei der Schwiegermutter, Schwiegervater oder ihrem Mann nicht beklagen. […]“

Beispiel 3: Lied eines Migranten, aufgenommen 1968 in Wien (PhA: B 36802)

„Me, o Eštrefi, meklum la, e košarka korkori. Minde o nivije ačhile korkore, mindo mo kher na pherel pe tutuni. Me but buti keravas, me sa kinlum i sa meklum, me ka džav ko gurbeti. Pusto te ačhel o gurbeti, so meklum mindi mi familija. Ašun’ akate, Romale, ma te daran, i tumen te džan ko gurbeti.“

156 Selbstzeugnisse von Roma zu ihrer (Kultur-)Geschichte

„Ich, Eštref, habe den Bienenstock zurückgelassen. Meine Felder sind alleine geblieben, mein Haus füllt sich nicht mehr mit Tabak. Ich arbeitete viel, sodass ich mir alles leisten konnte, und jetzt habe ich alles zurückgelassen, denn ich werde in die Fremde gehen. Verflucht soll die Fremde sein, da ich meine Familie zurückgelassen habe. Hört her, Roma, fürchtet euch nicht, auch in die Fremde zu gehen.“

Beispiel 4: Ausschnitt eines schriftlichen Briefs von Osman Zambaklı an seinen Schwager Mozes Heinschink, Izmir 1987

„[…] Akana palpale selami kerava: Tire čamjendar čumidava, mire šukar phenake i Fatake but but selami kerava, lakere jakhendar čumidava, i Sadullaske i Seherjake but but selami kerava, lengere jakhendar čumidava. Mi romni but but tumenge selami kerela, tumare ja­khendar čumidela. Ömeri, Hayriya, i Cemila, Arifi, o Nazimi, i Meyrem, o Reşati, o Cemalis, Erguni tumenge but but selami kerena, tumare vastendar čumidena. Akana miri bari phen i Cemila, i Cevriya, i Dudulin, o Yakupi, Ayşa but but selami kerena, tumare jakhendar čumidena. Mo kak Arifi, leskiri romni but but selami kerena. Mi bibi i Şerifa, la- koro rom but but selami kerena. Sare ko Ballıkuyus o Roma savore but but selami kerena. Akana ačhon Devlesar, but but sastimasar vestimasar. Tumen ič pire jilestar na nikavela tumaro phral Osmani. H’ ačhon Devlesar. Son […]“

„[…] Nun noch einmal viele Grüße: Ich küsse Deine Wangen, meine liebe Schwester Fatma grüße ich vielmals, ich küsse ihre Augen, Sadulla und Seher grüße ich vielmals, ich küsse ihre Augen. Meine Frau schickt viele, viele Grüße, sie küsst Eure Augen. Ömer, Hayriye, Cemile, Arif, Nazim, Meyrem, Reşat, Cemal, Ergun schicken Euch viele Grüße, sie küssen Eure Hände. Nun meine ältere Schwester Cemile, Cevriye, Dudulin, Yakup, Ayşe schicken viele, viele Grüße, sie küssen Eure Augen. Mein Onkel Arif und seine Frau schicken viele, viele Grüße. Meine Tante Şerifa und ihr Mann schicken viele, viele

157 Christiane Fennesz-Juhasz / Mozes F. Heinschink

Grüße. Alle Roma aus Ballıkuyu schicken viele, viele Grüße. Und nun verbleibt mit Gott, mit viel, viel Gesundheit. Niemals nimmt Euch aus seinem Herzen heraus Euer Bruder Osman. Verbleibt mit Gott. Ende […]“

158 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

Roma und Romani in Österreich

1. Einleitung

Die österreichische Romapopulation stellt keine homogene Gruppe dar, sondern besteht vielmehr aus Subgruppen, die sich in Bezug auf ihren soziokulturellen Hintergrund, ihren soziopolitischen Status und die von ihnen gesprochenen Romani-Varietäten unterschei- den. Die Zusammensetzung der österreichischen Romabevölkerung ist exemplarisch für viele, vor allem westeuropäische Länder. Basierend auf früheren Publikationen zum The- ma geht der Artikel auf die soziohistorischen und soziokulturellen Charakteristika der österreichischen Romabevölkerung sowie auf die linguistischen und soziolin­guistischen Besonderheiten des österreichischen Romani sowie des Romani im Allgemeinen ein.1

2. Die österreichischen Roma

2.1 Gruppen und Herkunftsregionen

Es gibt keinerlei valide statistische Daten in Bezug auf die zahlenmäßige Stärke der öster- reichischen Romabevölkerung. Zwar wurde beim Zensus 2001 nach der Umgangsspra- che gefragt, jedoch lässt die Beantwortung dieser Frage keinerlei präzisen Aussagen in Bezug auf die zahlenmäßige Stärke der Roma oder irgendeiner anderen österreichischen Bevölkerungsgruppe zu. Vorsichtigen Schätzungen zufolge leben heute mindestens 25.000 Roma in Österreich, wobei als „Österreichische Roma“ alle auf österreichischem

1 Frühere Publikationen zum Thema: Dieter W. Halwachs, Die Österreichischen Roma, in: Rosita Rindler-Schjerve/ Peter Nelde (Hg.), Plurilingua XXVI, Der Beitrag Österreichs zu einer europäischen Kultur der Differenz. Sprachliche Minderheiten und Migranten unter die Lupe genommen, St. Augustin 2003, S. 231–258; Dieter W. Halwachs, Roma and Romani in Austria. Romani Studies 5, 15, 2 (2003), S. 145–173; Romani-Projekt: http://romaniprojekt.uni- graz.at/autroma-index.de.html (Zugriff 31.05.2012).

159 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

Staatsgebiet lebenden Roma, unabhängig ihres soziopolitischen Status zu verstehen sind. Daneben werden jedoch immer wieder bei weitem höhere Zahlen genannt. Da es in de- mokratischen Systemen keinerlei Zwang gibt, sich öffentlich zu einer ethnischen Gruppe zu bekennen, kann davon ausgegangen werden, dass konservative Schätzungen am unte- ren Ende des möglichen Zahlenspektrums liegen. Deswegen dürfte im Fall der österrei- chischen Romapopulation durchaus eine realistische Zahl von um die 50.000 anzusetzen sein. Ähnlich wie in vielen, vorwiegend westeuropäischen Ländern setzt sich die österrei- chische Romabevölkerung grundsätzlich aus drei Gruppen unterschiedlichen soziohis- torischen Hintergrunds zusammen, was sich wiederum aus drei „Migrationswellen“ mit gesamteuropäischen Auswirkungen begründet. Diese drei Gruppen sind in sich wiede- rum heterogen:

1. Migration / Ersteinwanderung – indigene Romabevölkerung, die meist seit dem 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert im jeweiligen Gebiet lebt; 2. Migration / Vlach-Migration – Vlach-Roma, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehend von der Walachei, Moldawien und benachbarten Gebieten in Folge sozio­ politischer Veränderungen wie Abschaffung von Leibeigenschaft und Sklaverei in diesen Ländern weltweit verbreitet haben; 3. Migration / (Süd-)Ost-West-Migration – Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, die ab den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts aus Ost- und Südosteuropa in den wirtschaft- lich höher entwickelten und soziopolitisch stabileren Westen Europas gekommen sind.

Unter Berücksichtigung der drei gesamteuropäischen Migrationsbewegungen gibt ­ Tabelle 1 einen Überblick über in Österreich ansässige Roma-Gruppen, deren Emigra­ tionsregionen sowie über die ungefähren Zeitpunkte der Immigration.

160 Roma und Romani in Österreich

Tabelle 1: Daten zur österreichischen Romapopulation

Migration Gruppen Emigrationsregion Immigrationszeit

Süd-Ost-Europa 1 Burgenland-Roma 15. Jahrhundert (Ungarn)

Süd-Ost-Europa 15. Jahrhundert Sinti (Böhmen, Mähren (~ 1900) & Süd-Deutschland) 2 ~ 1900 Ungarn Lovara (Slowakei) 1956

Banat-Roma „Ex-Jugoslawien“ Kalderaš Bosnien, Montenegro, Serbien, Gurbet Vojvodina, ...... von Mitte der 1960er an 3 Arlije „Ex-Jugoslawien“ Bugurdži Kosovo, Mazedonien, Serbien, ......

von Ende der Andere Ost- & Südost-Europa 1980er an

Die Namen der einzelnen Roma-Gruppen sind unterschiedlich motiviert: Neben geo- graphischen Bezeichnungen – Burgenland Roma, Banat Roma – finden sich Berufsbezeich- nungen – Kalderaš „Verzinner“ aus dem rumänischen căldărar „Kupferschmied“, Lovara „Pferdehändler“ abgeleitet vom ungarischen lo „Pferd“, Bugurdži ‚Bohrermacher‘, das sich auf türkisch burgu „Bohrer“ zurückführen lässt; weiters Statusangaben wie Arlije aus dem türkischen yerli „einheimisch“ und Gurbet aus dem türkischen gurbet „Fremde“, was einerseits als Hinweis auf lange Sesshaftigkeit, andererseits auf spätere Zuwande- rung – Gurbet sind Vlach-Roma – zu interpretieren ist. Die Herkunft und Bedeutung des ­Ethnonyms Sinti ist unklar. Dieses Ethnonym ist jedoch erst spät als Selbstbezeichnung bei den Ersteinwanderern in den deutsch-mitteleuropäischen Kulturraum aufgetreten. Diese bezeichneten sich ursprünglich als Kale, dem substantivierten Plural des Romani- adjektivs kalo „schwarz“.

161 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

Am längsten im heutigen Österreich leben die Burgenland-Roma, die ab dem späten 15. Jahrhundert aus Zentralungarn einwanderten und den westungarisch-pannonischen Raum seither nicht verlassen haben. Die Einwanderung von Lovara im späten 19. Jahr- hundert und die der Sinti um die Wende zum 20. Jahrhundert kann man durchaus auch als Binnenwanderung bezeichnen: Sowohl die Lovara als auch ein Großteil der Sinti kamen aus Gebieten der damaligen Österreich-Ungarischen Monarchie; die einen aus Ungarn und der Slowakei, die anderen aus Böhmen und Mähren (heutige Tschechische Republik). Einige wenige Sinti-Familien kamen auch aus Süddeutschland. Weitere Lovara flohen 1956 während des sogenannten „Ungarn-Aufstands“ nach Österreich. Im Rahmen der Arbeitsmigration ab Mitte der 1960er-Jahre kommt es zur Zuwan- derung von Roma-Gruppen aus verschiedenen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien. Die mit Ende der 1980er-Jahre verstärkt einsetzende Zuwanderung von Roma aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks ist demographisch kaum erfasst. Ähnliches gilt für Flüchtlinge aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, obwohl man annehmen kann, dass sich diese teilweise aufgrund ähnlichen oder gleichen Herkunfthintergrunds in bereits länger ansässige Gruppen von Arbeitsmigranten integriert haben. Der Großteil der Einwanderer vom Balkan sowie der Lovara lebt heute im Großraum Wien. Sinti findet man hauptsächlich in Städten, wobei bezüglich der jeweiligen Anzahl ein Ost-West-Gefälle besteht. Auch die ab Ende der 1980er-Jahre gekommenen Roma halten sich vorwiegend im Großraum Wien auf. Einzig die Burgenland-Roma leben in der überwiegenden Mehrzahl im ländlichen Raum oder in Kleinstädten. Unter den Bur- genland-Roma ist jedoch zwischen denen, die sich als Roma bekennen, und denen mit bloßer Roma-Herkunft zu unterscheiden. Die Mitglieder der zweiten Gruppe sind ab den 1950er-Jahren aus dem Burgenland in ostösterreichische Städte, vornehmlich in den Großraum Wien, abgewandert und sind heute weitestgehend an die Mehrheitsbevölke- rung assimiliert.

2.2 Soziokulturelle Prägung und Religionsbekenntnis

In Bezug auf die soziokulturelle Prägung der einzelnen Gruppen ist beobachtbar, dass sich diese stark an dem Kulturkreis orientiert, in dem sich die jeweilige Gruppe am längs- ten aufgehalten hat. Während die kulturelle Prägung jeder sozialen Gruppe immer auch von Kontakt mit anderen Gruppen gekennzeichnet ist, ist das im Fall der Roma beson- ders einleuchtend: als Gruppe, die z. T. bis heute soziopolitisch marginalisiert und auf

162 Roma und Romani in Österreich

ökonomische Dienstleistungsnischen reduziert wird, waren Roma immer massiv von der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung abhängig. Daraus resultieren wiederum intensiver Sozi- al- und folglich auch Kulturkontakt, die sich in der Übernahme kultureller Merkmale und Werte der Mehrheitsbevölkerung, wie z. B. deren Religionsbekenntnis niederschlagen. Die Sinti als Ersteinwanderer in den deutschsprachigen Kulturkreis sind von diesem am stärksten geprägt. Entsprechend findet man unter den Sinti sowohl Katholiken als auch Protestanten. Die Burgenland-Roma, als Ersteinwanderer in den ungarischen Kul- turkreis, und die Lovara, die im Übergangsgebiet zwischen der Walachei und dem von Magyaren besiedeltem und ab dem 18. Jahrhundert von Österreich-Ungarn beherrschtem Transsilvanien/Siebenbürgen/Erdély gelebt haben dürften, stehen in der österreichisch- ungarischen Kulturtradition. Burgenland-Roma und Lovara sind in der Regel katholisch, was sowohl der ungarischen Herkunft als auch dem österreichischen Umfeld entspricht. Alle Roma-Gruppen aus Ex-Jugoslawien sind bis zu einem gewissen Grad balkan- slawisch geprägt, weisen aber je nach Herkunftsregion auch Merkmale anderer Kultur- traditionen auf. So sind Roma aus dem Banat auch ungarisch geprägt, während Arlije, Bugurdži und andere muslimische Gruppen aus dem Kosovo und Mazedonien vorwie- gend von der balkanmuslimischen Tradition geprägt sind, die auch ein albanisches Ele- ment aufweist. Die Religionszugehörigkeit der Einwanderer vom Balkan entspricht eben- so wie die der späteren Immigranten dem Mehrheitsbekenntnis der Herkunftsländer. Die aus Zentralserbien eingewanderten Kalderaš und z. T auch die Gurbet sind orthodox, Gurbet aus Südserbien und Bosnien sind z. T. ebenso muslimisch wie Arlije und andere vom Süd-Balkan und aus der Türkei gekommene Roma.

2.3 Soziopolitischer Status der Gruppen in Österreich und Zugehörigkeitsgefühl

Die österreichischen Roma sind seit 1993 als österreichische Volksgruppe anerkannt. Laut österreichischer Gesetzgebung ist eine Volksgruppe u. a. durch die gemeinsame Sprache, ein geschlossenes Siedlungsgebiet und das Kriterium der Bodenständigkeit defi- niert. Im Bezug auf die österreichischen Roma sind jene Gruppen als bodenständig bzw. autochthon anzusehen, die bereits über Generationen auf österreichischem Staatsgebiet leben; das sind Burgenland-Roma, Sinti und die um 1900 eingewanderten Lovara, die zu- sammen mit den 1956 aus Ungarn gekommenen Roma bezüglich der oben angegebenen Anzahl von 50.000 maximal zehn Prozent der österreichischen Roma ausmachen. Die 1956 aus Ungarn geflohenen Lovara, die heute in der Regel die österreichische Staats-

163 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

bürgerschaft haben, werden bei strenger Auslegung des Volksgruppengesetzes als alloch- thon eingestuft. Gleiches gilt für die als Gastarbeiter gekommenen Kalderaš, Gurbet, Arlije, etc., sofern sie die österreichische Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltsgeneh- migung haben. In der Praxis wird diese Trennung nicht konsequent durchgeführt. Aufgrund kulturel- ler Gemeinsamkeiten und gleicher bzw. ähnlicher Romani-Varietäten ist es möglich, den Allochthonstatus sowohl der später gekommenen Lovara als auch der Vlach-Roma vom Balkan in Frage zu stellen. Deshalb werden diese Gruppen von liberalen Behördenvertre- tern stillschweigend den autochthonen Roma gleichgestellt und kommen z. T. ebenfalls in den Genuss der Volksgruppenrechte. In diesen Graubereich zwischen autochthon und allochthon sind z. T. auch die bereits länger in Österreich ansässigen muslimischen Roma einbezogen. Die Situation der Migranten der späten 80er-Jahre und der 90er-Jahre des 20. Jahr- hunderts aus den ehemaligen Ostblockstaaten und aus Ex-Jugoslawien ist ebenso unter- schiedlich wie die der im vergangenen Jahrzehnt nach Österreich gekommenen Roma. Einige haben als Flüchtlinge die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten, andere verfügen über eine unbefristete, manche nur über eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Einige haben ein Touristenvisum oder nützen die Reisefreiheit innerhalb der EU. Viele der in den vergangenen 25 Jahren nach Österreich gekommenen Roma sind aus Sicht der Behörden geduldete Ausländer oder halten sich illegal in Österreich auf und haben demnach auch keinerlei sich aus dem Volksgruppenstatus ergebende Rechte. Was die Zugehörigkeit anbelangt, ist bei den Roma die gleiche Bruchlinie wie in der Restbevölkerung zu beobachten: Es wird zwischen Österreichern und Nicht-Österrei- chern unterschieden. Diese Trennung in einheimisch und fremd entspricht nur z. T. der soziopolitischen Unterscheidung in autochthon und allochthon, da die 1956 gekomme- nen Lovara heute ebenfalls als einheimisch betrachtet werden. Abgesehen von ihrer re- lativ langen Anwesenheit in Österreich resultiert diese positive Einstellung höchstwahr- scheinlich aus der früheren Zusammengehörigkeit von Österreich und Ungarn und da- mit im Zusammenhang mit der positiven Aufnahme von Flüchtlingen des sogenannten „Ungarnaufstands“ gegen das kommunistische Regime von 1956. Die Romazuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien werden trotz ihrer zumeist formalen Integration, der österreichischen Staatsbürgerschaft bzw. einer permanenten Aufenthaltsgenehmigung als fremdes Element innerhalb der österreichischen Bevölkerung gesehen; eine Wertung, die auch das Selbstbild bestimmt: Die als Gastarbeiter ab den 1960er-Jahren gekomme-

164 Roma und Romani in Österreich

nen Roma fühlen sich fremd und werden ebenso wie Nicht-Roma-Arbeitsmigranten aus Südosteuropa sowohl von der Mehrheitsbevölkerung als auch von den länger ansässigen Roma als Ausländer gesehen, wobei Roma vom Südbalkan häufig noch mit dem zusätzli- chen Stigma „muslimisch“ konfrontiert sind. Die ab Ende der 1980er-Jahre gekommenen Roma sind – falls sie nicht einer der bereits länger ansässigen Gruppen angehören oder nahe stehen – auch für die im Rahmen der Arbeitsmigration ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts eingewanderten Gruppen in der Regel Fremde bzw. Ausländer. Von den in ihrem Selbstverständnis einheimischen Roma werden sie zumeist als Wirtschaftsflücht- linge und „Sozialschmarotzer“ gesehen; eine Einstellung gleich der der überwiegenden Mehrheit innerhalb der österreichischen Bevölkerung. Fasst man den emotional besetzten Parameter Zugehörigkeit zusammen, so resultiert dieser aus der Herkunft der jeweiligen Roma-Gruppe und steht mit dem Sozialstatus der Mehrheitsbevölkerung des Emigrationslandes im Verständnis der österreichischen Bevölkerung in engem Zusammenhang. Das Kriterium Zugehörigkeit ist zwar nicht de- ckungsgleich mit dem soziopolitischen Status der einzelnen Roma-Gruppen, korreliert aber mit diesem: Von Behörden festgelegte Statusunterschiede zwischen den einzelnen Gruppen entsprechen denen im Verständnis der Mehrheitsbevölkerung und in etwa auch den internen Unterscheidungskriterien zwischen den österreichischen Roma.2

3. Das österreichische Romani

3.1 Romanes und Romani

Romanes und Romani sind die Allgemeinbezeichnungen für die Sprache der Roma, Sinti, Kale und aller anderen europäischen Bevölkerungsgruppen, die eine indische bzw. indo- arische Sprache sprechen oder gesprochen haben und die häufig unter der meist pejorativ verwendeten Bezeichnung „Zigeuner“ zusammengefasst werden:

– Die von einem Adverb abgeleitete Bezeichnung Romanes wird fast nur im deutsch- sprachigen Raum verwendet: Džanes romanes? „Kannst Du roma?“

2 Eine Tatsache, die sich durchaus negativ auf die Emanzipationsbestrebungen auswirkt, da autochthone Roma- Vertreter diese Unterscheidungen als Argument einsetzen, um ihren Anteil an öffentlichen Geldern möglichst hoch zu halten.

165 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

– Bei der Bezeichnung Romani handelt es sich um ein substantiviertes Adjektiv: romani čhib „Roma-Zunge, Roma-Sprache“. Romani, in englischen Texten häufig auch Ro- many geschrieben, wird international verwendet und impliziert bis zu einem gewissen Grad auch die genetische Zugehörigkeit. Die Namen der meisten neu-indo-arischen Sprachen, zu denen das Romani zu rechnen ist, haben den gleichen Auslaut: Assami, Bengali, Gujarati, Hindi, Marathi, Panjabi, etc.

In weiterer Folge wird ausschließlich der Begriff Romani verwendet. Einzelne Varietäten werden als: Burgenland-Romani, Kalderaš-Romani, Lovara-Romani, Sinti-Romani, etc. bezeichnet.

3.2 Charakteristika des Romani

Romani ist die einzige indo-arische Sprache, die seit dem Mittelalter ausschließlich in Europa gesprochen wird. Konservativen Schätzungen zufolge gibt es über 3,5 Millio- nen Romanisprecher in Europa. Es existieren keinerlei verlässliche Zahlen, aber es ist durchaus möglich, dass die tatsächliche Zahl an Sprechern noch weitaus höher ist. Sozio­ linguistisch gesehen ist das Romani eine dominierte Minderheitensprache, linguistisch ein heterogenes Varietätenbündel mit einem homogenen lexikalischen und morphologi- schen Kern, jedoch ohne homogenisierenden Standard. Das Fehlen eines Standards ist Resultat der Marginalisierung der Roma. Nur Gemeinschaften, welche über die nötigen Machtmittel verfügen, um politische, ökonomische oder kulturelle Zentren aufzubau- en, entwickeln einen Standard, der per Gesetz durch das Bildungssystem als sprachli- che Norm im jeweiligen Einflussgebiet etabliert wird. Da den Roma keine derartigen ­Möglichkeiten zur Verfügung stehen, hat sich bisher auch kein allgemein akzeptierter Standard herausbilden können. Die Homogenität des Romani manifestiert sich in erster Linie in der Morphologie, deren Eigenschaften, wie bspw. im Fall der Deklination, denen neu-indo-arischer Spra- chen entsprechen und somit primäres Kriterium für die genetische Zuordnung sind. Die folgende Tabelle der Singularsubstantivdeklination von Varietäten unterschiedlicher ­Dialektgruppen demonstriert diese Homogenität:

166 Roma und Romani in Österreich

Tabelle 2: Homogenität des Romani in der Nominalmorphologie

Arlije Kalderaš Burgenland Littauisch Sinti Fall

manuš manuš manuš manuš manuš nom/acc jag jag jag jag jag

manuš-e manuš-es manuš-e manuš-es manuš-es obl/acc jag-a jag-a jag-a jag-a jag-a

manuš-es-(k)e manuš-es-ke manuš-es-ke manuš-es-ke manuš-es-ke dat jag-a-ke/-ce jag-a-ke jag-a-ke jag-a-te jag-a-ke

manuš-es-tar manuš-tar manuš-es-tar manuš-es-tar manuš-es-ter abl jag-a-tar jag-a-tar jag-a-tar jag-a-tar jag-a-ter

manuš-es-te manuš-es-te manuš-es-te manuš-es-te manuš-es-te loc jag-a-te jag-a-te jag-a-te jag-a-te jag-a-te

manuš-eja manuš-es-sa manuš-eha manuš-es-(s)a manuš-eha inst/soc jag-a-je jag-a-sa jag-a-ha jag-a-sa jag-a-ha

manuš-es-(k)oro manuš-es-ko manuš-es-kero manuš-es-k(r)o manuš-es-kro gen jag-a-koro jag-a-ko jag-a-kero jag-a-k(r)o- jag-a-kro

manuš-a manuš-eja manuš(-a) manuš-a manuš(-a) voc jag-ija jag-ije jag(-e) jag-e jag(-a)

Des Weiteren enthalten alle Varietäten eine Auswahl an Lexemen aus einem gemeinsa- men, aus zirka 1.000 Elementen bestehenden Basisvokabular, das sich fast ausschließ- lich auf voreuropäische Wurzeln aus dem Indo-Arischen, Persischen, Armenischen und Byzantinisch-Griechischen zurückführen lässt und ebenfalls zur Homogenität beiträgt. Sämtliche der in der folgenden Tabelle aufgelisteten Lexeme lassen sich auf das Indo- Arische zurückführen:

167 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

Tabelle 3: Indo-Arische Lexeme in ausgewählten Romani-Varietäten

Arlije Kalderaš Burgenland Litauisch Finnisch Sinti Walisisch

buti bući buti buťi butti buti(n) buti ‚Arbeit‘

dela del del dêl dela del del ‚er/sie gibt‘

džala źal džal džal džal džal džal ‚er/sie geht‘

kalo kalo kalo kalo kaalo kalo kalo ‚schwarz‘

jevend ivend jevend ven vend vend ‚Winter‘

šukar šukar šukar šukar šukar šukar ‚schön‘

In der überwiegenden Mehrzahl setzt sich das Vokabular einer Romani-Varietät jedoch aus Entlehnungen aus europäischen Sprachen zusammen, wobei jedes Lexem der aktuel- len Kontaktsprache ein potenzielles Romani-Lexem ist. Auch Syntax und Phonetik bzw. Phonologie sind oft den Strukturen der Kontaktsprachen angepasst oder zumindest von diesen beeinflusst. Dieser starke Kontaktspracheneinfluss ist Folge der Marginalisierung und Stigmatisierung der Romanisprecher, die in der Regel plurilingual sind. So gesehen ist das Romani eine dominierte Sprache, was aber keineswegs seinen Status als vollwertige Sprache in Frage stellt. Die meisten Roma verwenden das Romani nur im gruppeninternen Kontakt. Auf- grund dieser Reduktion auf private Domänen des sozialen Mikrokosmos ist das Romani funktional gesehen eine Intimvarietät oder „Gruppensprache“. Erwachsene Romani- sprecher sind deshalb auch immer plurilingual und verwenden in öffentlichen Domä- nen und auch in alltäglichen Gesprächssituationen in der Regel die dominante Sprache bzw. die dominanten Sprachen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung. Folglich kann man Romani-Sprecher als non-monolingual charakterisieren. Romani ist eine mündlich tradierte Sprache mit einer relativ kurzen, nur einige Jahr- zehnte zurückreichenden Schrifttradition. Kodifizierungs- und Standardisierungsbestre- bungen und die damit einhergehende Verwendung des Romani in öffentlichen Domänen wie Bildung, Politik und Medien sind Phänomene der jüngeren Vergangenheit und als ein

168 Roma und Romani in Österreich

Aspekt der Selbstorganisation und Emanzipation der Roma als europäischer Minderheit zu sehen.

3.3 In Österreich gesprochene Romani-Varietäten

Die folgende Tabelle 4 bietet einen Überblick über die linguistische Pluralität der öster- reichischen Roma.

Gruppe Zweig Varietät Kontaktsprachen

NordWestlich Sinti-Manuš Sinti-Romani Deutsch

Slowakisch / Tschechisch Nördlich Servika-Romani Deutsch Zentral Ungarisch (Kroatisch) Südlich Burgenland-Romani Deutsch Ungarisch Lovara-Romani Deutsch Ungarisch Nördlich Banatoske-Romani Serbo-Kroatisch / Serbisch Deutsch Vlax Serbo-Kroatisch / Serbisch Kalderaš-Romani Deutsch Serbo-Kroatisch / Serbisch / Südlich Gurbet-Romani Makedonisch Deutsch Türkisch Albanisch / Makedonisch / Serbo- Arlije-Romani Kroatisch Deutsch

Balkan I Türkisch Prizren-Romani Albanisch / Serbo-Kroatisch Deutsch Balkan Türkisch Prilep-Romani Makedonisch / Serbo-Kroatisch Deutsch Türkisch Albanisch / Makedonisch / Serbo- Balkan II Bugurdži-Romani Kroatisch Deutsch

169 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

Aus der nordwestlichen Dialektgruppe sind in Österreich Varietäten der Sinti-Manuš- Subgruppe anzutreffen. Rómanes oder Sintitikes, wie Sinti ihr Romani bezeichnen, sind als Varietäten-Cluster der am längsten im deutschen Einflussbereich lebenden Ersteinwan- derer stark vom Deutschen geprägt. Das Burgenland-Romani ist eine der südzentralen Varietäten. Wie alle südzentralen Va- rietäten ist auch das Burgenland-Romani stark vom Ungarischen geprägt. Einzelne Sub- varietäten sind zusätzlich vom Kroatischen beeinflusst. Anzunehmen ist, dass heute auch Sprecher des südslowakischen Romungro und des ostslowakischen oder Servika-Romani, einer nordzentralen Varietät, im Großraum Wien leben. Aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft aus der Walachei weisen alle Vlax-Dialekte rumänischen Einfluss auf. Die Varietäten der Lovara sind zusätzlich vom Ungarischen geprägt. Gleiches gilt für die Varietät der ebenfalls aus dem ehemaligen ungarischen Großraum gekommenen Banatoske Roma. Ihr Nord-Vlax-Dialekt ist zudem ebenso vom Serbischen geprägt wie die Varietäten der Kalderaš und Gurbet. Anzunehmen ist, dass neben serbischen Gurbet auch Sprecher bosnischer und kroatischer Varietäten so- wie des mazedonischen Džambazi-Romani, einer weiteren Varietät des Gurbet-Clusters, in Österreich leben. Die Varietäten der Arlije bilden eines der umfangreichsten Dialekt-Kontinua des Balkans. Im heutigen Österreich leben Sprecher mazedonischer, kosovarischer und ser- bischer Arlije-Dialekte. Von der Balkan-II-Subgruppe des Romani leben Sprecher des Bugurdži- bzw. Kovački-Romani in Österreich. Als Teil des ehemaligen westrumelisch-osma- nischen Kulturraums sind all diese Dialekte vom Türkischen geprägt und weisen zudem auch mehr Merkmale des Griechischen auf als die Dialekte der anderen Gruppen. Wei- tere gemeinsame Kontaktsprachen sind Albanisch, Bosnisch, Kroatisch, Makedonisch, Serbisch etc. Die vertikale Anordnung der Kontaktsprachen in Tabelle 4 entspricht der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Sprachkontaktsituationen und beschreibt die chronologische Schichtung der jüngeren Entlehnstrata. Des Weiteren zeigt diese Auflistung auch die potenzielle Mehrsprachigkeit der einzelnen Sprechergruppen; potenziell deshalb, da das vollständige Kompetenzspektrum, wenn überhaupt, nur individuell vorhanden ist. Gemeinsam ist allen österreichischen Romani-Varietäten der deutsche Einfluss, der sich jedoch aufgrund der verschieden langen Aufenthaltsdauer unterschiedlich auswirkt: Am stärksten vom Deutschen geprägt ist das Sinti-Romani, gefolgt vom Burgenland-Romani und dem Lovara-Romani.

170 Roma und Romani in Österreich

Neben den hier aufgelisteten leben möglicherweise noch Sprechergruppen anderer Dialekte des Romani in Österreich, die von der Forschung nicht erfasst sind und viel- leicht auch nie erfasst werden, da sich ihre Sprecher u. a. nicht als Roma deklarieren.

3.4 Sprachkompetenz und Spracheinstellung

Die Sprachkompetenz im Romani betreffend, kann man folgende Tendenz feststellen: je kürzer eine Roma-Gruppe in Österreich lebt und/oder je älter die jeweiligen Spreche- rInnen sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mehrere Sprachen – Roma- ni, Deutsch und die Sprache(n) des Emigrationslandes – sprechen. Je länger sich eine Gruppe jedoch bereits in Österreich aufhält und je jünger die jeweiligen SprecherInnen sind, desto eher besteht die Wahrscheinlichkeit, dass diese monolingual deutsch sind. Sprechen Gruppenangehörige noch Romani, ist die Sprachkompetenz heterogen. Die Romani-Kompetenz unter den SprecherInnen reicht von der bloßen Kenntnis einiger Romani-Wörter bis hin zu voller Sprachkompetenz, wenn Romani als Sozialisationsspra- che erworben wurde. Die Heterogenität in der Romani-Kompetenz und die unterschiedlichen Sprachen, in denen die Sprecher sozialisiert werden, haben großen Einfluss auf die Spracheinstellung. Bei Kalderaš und Gurbet, den beiden Gruppen mit Kontinuität in der Sprachtradierung, ist das Romani selbstverständlicher Teil der Identität, ohne dabei ein bewusster Identitäts- marker zu sein. Ihre Sprache ist vielmehr nur ein Faktor unter mehreren gleichwertigen, die in Summe das ethnische Selbstbewusstsein ausmachen. In der Gruppe der Lovara stellt sich die Situation etwas anders dar. Einerseits wird – vor allem von Angehörigen der älteren Generationen – immer wieder betont, wie wichtig die eigene Sprache für das Selbstverständnis und die Gruppenidentität sei, andererseits wird das Romani aber meist nicht an die jüngere Generation weitergegeben. Ein Teil der Jungen ist bereits sprachlich assimiliert und hat – wenn überhaupt – nur noch passive Kompetenz im Romani. Ähn- lich ist die Situation bei den Sinti. Auch bei ihnen ist ein Teil der jüngeren Generationen de facto monolingual deutschsprachig. Im Gegensatz zu den jungen Lovara ist das Ro- manés bzw. Sintitikes aber auch für diese sprachlich assimilierten Jugendlichen in der Regel Identitätsfaktor. Das hängt höchstwahrscheinlich mit der unter den österreichischen Sinti vorherrschenden Spracheinstellung zusammen: Für sie ist Romanés ein tabuisierter In- Group-Marker, der vor der Mehrheitsbevölkerung „geheim gehalten“ werden muss. Da- her ist das Romanés sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Bildungsbereich nahezu „un-

171 Barbara Schrammel-Leber / Dieter W. Halwachs

sichtbar“. Zwar findet man diese aus dem Holocaust-Trauma resultierende Einstellung z. T. auch bei älteren Lovara und Burgenland-Roma, aber nicht in dieser Konsequenz und mit den gleichen Auswirkungen wie bei den Sinti. Kalderaš, Gurbet und Arlije hinge- gen haben keinerlei Ressentiments gegenüber Gadsche, die Interesse an ihrer Sprache zeigen und diese lernen wollen. Für die Burgenland-Roma ist ihre Sprache Roman primärer Identitätsmarker – auch für Gruppenangehörige, die nach eigener Einschätzung über geringe oder nur passive Sprachkompetenz verfügen. Diese positive Spracheinstellung ist Resultat der Selbstorganisation, wodurch Repräsentanten der Burgenland-Roma mit Angehörigen anderer Roma-Gruppen in Kontakt gekommen sind. Spracherhaltende Ak- tivitäten, wie der Roman-Unterricht in Schulen und im außerschulischen Bereich, wurden zum Hauptanliegen in der Kulturarbeit. Auffällig ist, dass die Bedeutung des Romani als Identitätsfaktor parallel dem Rückgang in der Sprachverwendung steigt. Ausgenommen von dieser Tendenz sind Gruppen, bei denen ein Sprachwechsel stattgefunden hat und Romani in seiner identitätsstiftenden Funktion von der Mehrheitssprache des jeweiligen Herkunftslands abgelöst wurde, wie bspw. bei den in Wien lebenden Arlije aus Prilep/ Mazedonien.

3.5 Zusammenfassung

Bezüglich seiner linguistischen und soziolinguistischen Parameter zeigt das österreichi- sche Romani die gleiche Vielfalt wie seine Sprecher bzw. Sprechergruppen bezüglich ihres jeweiligen soziokulturellen, soziohistorischen und soziopolitischen Hintergrunds. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Beschreibung der österreichischen Roma und des österreichischen Romani nur bedingte Momentaufnahme ist, da sich die Darstellung auf keinerlei haltbare empirische Basis stützen kann. Da marginalisierte und stigmatisierte Randgruppen statistisch und demographisch kaum bis gar nicht fassbar sind, basieren derartige Beschreibungen immer auf Erfahrungen und Beobachtungen einzelner inte- ressierter bzw. involvierter Personen. Im österreichischen Fall sind das die Mitarbeiter des Romani-Projekts und der weit über die Grenzen hinaus bekannte Forscher Mozes F. Heinschink. Dass sich das auf dieser Basis skizzierte Bild permanent wandelt, braucht vor dem Hintergrund der Sozialdynamik in Europa und darüber hinaus wohl kaum be- sonders betont werden. Trotz aller Bedingtheiten dürfte diese Darstellung jedoch einen brauchbaren Eindruck von der Vielfalt der österreichischen Roma und des österreichi- schen Romani liefern.

172 Ursula Hemetek

Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

Die folgenden Ausführungen stellen einen kritischen Rückblick auf 24 Jahre meiner ei- genen ethnomusikologischen Forschung bei Roma in Österreich dar. Ich möchte anhand dieses Beispiels beleuchten, was Ethnomusikologie/Volksmusikforschung leisten kann, wozu unser Fach gut ist, aber ich möchte auch die Grenzen aufzeigen. Es ist das Privileg des Älterwerdens, das eigene Tun aus einer zeitlichen Distanz heraus kritisch reflektieren zu können, ein Prozess, der durchaus auch schmerzhaft sein kann. Andererseits unter- streicht er aber auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung. Am Anfang meiner Annäherung stand ein Dokumentarfilm, ausgestrahlt vom Öster- reichischen Rundfunk (ORF) 1988, der den programmatischen Titel trug „Ihr werdet uns nie verstehen“.1 Es war insgesamt eine sehr einfühlsame Dokumentation, die mir einen Blick auf eine Welt gestattete, von der ich vorher nichts gewusst hatte. Und zwar in eine Welt, die quasi vor meiner Haustüre lag und trotzdem verborgen war. Nicht umsonst hieß das Buch, das auch in diesem Jahr, nämlich 1988 erschienen war, „Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“, von Ceija Stojka. Es war das erste Mal gewesen, dass eine Romni in Österreich schreibend an die Öffentlichkeit trat und es war die Aufarbeitung ihrer KZ-Geschichte.2

Inwieweit ist Verstehen möglich?

Herr Weinrich, ein Sinto, sagt in der Schlussszene des Films mehrmals und sehr ein- dringlich „Ihr werdet uns nie verstehen“. Es wird die Welt der Roma und Sinti der Welt

1 Ihr werdet uns nie verstehen. Dokumentarfilm von Bert Breit und Xaver Schwarzenberger, ORF 1988. 2 Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien 1988.

173 Ursula Hemetek

der Gadsche gegenübergestellt und es wird vermittelt, dass eine Verständigung nicht möglich ist. In einem Film, der dazu gemacht ist, so eine Verständigung zu ermöglichen, werden auch die Grenzen des Verstehens aufgezeigt. Mich hat das damals sehr bewegt. Das hatte sicher auch mit dem Fach zu tun, in dem ich ein Jahr zuvor meine Dissertation abgeschlossen hatte – nämlich in Musikwissenschaft mit Schwerpunkt „vergleichende Musikwissenschaft“, und zwar auch über eine Minderheit, nämlich die Burgenlandkroa- ten.3 Dafür hatte ich Kroatisch gelernt und mich viele Jahre intensiv mit der Musik ausei- nandergesetzt. Ich war der Meinung, zumindest zu verstehen, was diese Musik bedeutet. Die Ethnomusikologie hat sich aus der Vergleichenden Musikwissenschaft entwickelt und ist – wie ihr Name sagt – eine komparatistische Disziplin. Sie betreibt Musikwissen- schaft im Vergleich der Kulturen und beschäftigt sich mit Musik im sozialen Zusammen- hang. Regine Allgayer-Kaufmann, die Ordinaria für Ethnomusikologie an der Universität Wien, stellt zum Themenkomplex Verstehen und Interkulturalität folgende Überlegun- gen an, woraus ich zitiere:

Wenn ich meine Studentinnen und Studenten frage, warum sie sich für die Musik fremder Kulturen interessieren, antworten sie, sie seien fasziniert von der Vielfalt der musikalischen Kulturen und sie wollten verstehen, wie es dazu kommt. Ich kann mich nicht erinnern, dass je einmal jemand dieses Interesse in Frage gestellt hätte, d.h. dass jemand gefragt hätte, ob wir das überhaupt dürfen und wenn ja, mit welchem Recht? Die Frage ist: Ist Verstehen Wollen legitim? Müssen wir es legitimieren? Wie begründen wir es?4

Regine Allgayer-Kaufmann geht von der „Fremdheit“ von Kulturen aus und sie spricht ­davon, dass Studierende z. B. in andere Kontinente reisen, um dort ihre Feldforschungen zu machen. Das war in dem Fach, das heute Ethnomusikologie heißt, auch lange Zeit ­üblich. Nicht so in der Volksmusikforschung. Diese betrieb ihre Forschungen meist im eigenen Land, bei einer Kultur, die als die „eigene“ betrachtet wurde. Für meine Disser-

3 Ursula Hemetek, Hochzeitslieder aus Stinatz. Zum Liedgut einer kroatischen Gemeinde des Burgenlandes, Disserta- tion, Wien 1987. 4 Regine Allgayer-Kaufmann, „Mit welchem Recht überschreitest du die Grenze?“ Interkulturalität heißt, Differenzen zuzulassen, in: Franz Niermann/Constanze Wimmer (Hg.), Musiklernen – ein Leben lang, Wien 2004, S. 182–185, hier S. 183.

174 Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

tation traf beides zu, die „fremde“ Kultur im „eigenen“ Land. Und das Beispiel von den Roma stammte auch aus Österreich. Trotzdem war es fremd.

Regine Allgayer-Kaufmann führt weiter aus, in Hinblick auf Interkulturalität:

Mit dem Wunsch, verstehen zu wollen, geht oft ein totalitärer Anspruch einher, wir machen uns das andere zu eigen, vereinnahmen es mit unseren Begriffen und persönlichen Erfahrungen. Es fällt uns schwer, hier Raum zu lassen für ande- re mögliche Verständnisse oder auch zuzugeben, dass wir sehr oft einfach nicht verstehen (…) Genau dies ist aber die Geisteshaltung, in der Interkulturalität sich verwirklicht. (…)schließlich gehören Verstehen-Wollen und Verstanden-Werden- Wollen untrennbar zusammen.5

Ich glaube, aus dem zitierten Interview geht klar hervor, dass die Roma und Sinti sich damals gegen eine solche Vereinnahmung wehrten und von den Gadsche eben nicht ver- standen werden wollten. Allerdings war ich damals zu naiv und die kritischen Reflexionen im Fach noch nicht so fortgeschritten, als dass ich solche Überlegungen angestellt hätte. Ich glaubte an die Möglichkeiten des Verstehens mit den Mitteln der Ethnomusikologie und die Motivation war Faszination.

Faszination als Motivation

Das größte Faszinosum für mich damals war das Lied, das in dem erwähnten Film eine Frau auf einer Brücke singt. Die Brücke ist die Reichsbrücke, das ist erkennbar. Die Frau selbst ist so gekleidet, dass sie einen Gegensatz zur Umgebung darstellt, es ist eine tradi- tionelle Kleidung, inmitten der modernen Welt des Autoverkehrs. Und sie verwendet in ihrem Lied eine Sprache und einen Singstil, die ich beide noch nie gehört hatte. Das Lied wird auch nicht erklärt, es gibt keine Textübersetzung. Die Wirkung funktioniert über andere Parameter als jene des intellektuellen Verstehens. Und das ist natürlich eine Quali- tät, die Musik generell haben kann. Was mich auch fasziniert hat, war die offensichtliche räumliche Nähe. Dass hier eine Gruppe von Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft

5 Ebd. S. 184.

175 Ursula Hemetek

von mir lebt, von der ich – außer den üblichen Vorurteilen – noch nichts gehört hatte. Erinnerungen aus der Kindheit am Land in Niederösterreich wurden wach: als die Sche- renschleifer gekommen waren und mit ihren Wagen auf dem Rübenplatz beim Bahnhof gelagert hatten und man uns Kindern verbot, auch nur in die Nähe zu kommen, weil diese Menschen gefährlich seien. 1988 war der Informationsstand über „Zigeuner“ in der Öffentlichkeit sehr gering. Selma Steinmetz6 (1966) und Erika Thurner7 (1983) hatten zwar bereits über die Ver- folgungsgeschichte publiziert und Claudia Mayerhofer eine volkskundliche Dissertation über die Burgenlandroma vorgelegt,8 aber diese Erkenntnisse verblieben weitgehend im wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Das „Bedenkjahr“ 1988 (50 Jahre Anschluss) war je- doch eine relativ gute Ausgangsbasis, denn es wurde auch politisch die Verfolgungsge- schichte von Roma und Sinti im Nationalsozialismus thematisiert. Ich begann mich zu informieren. Zunächst in der Fachliteratur und der Schallplattensammlung des Instituts. Da war einiges aus Ungarn, aber nichts aus Österreich. Ich fragte verschiedene Menschen und kam zunächst nicht wirklich weiter. Das änderte sich, als der erste Rom das Institut betrat: es war Eduard Karoly. Er hatte auch in dem Film mitgewirkt, als einer, der die verrückte Idee hatte, einen Zigeunerverein zu gründen und damit noch ziemlich allein stand. Eduard Karoly hatte von meinem Interesse gehört und wollte mich kennenlernen und auch einschätzen. Ich bestand den Test so weit, als er mir die wohl wichtigste Adres- se und Telefonnummer vermittelte, die es zu diesem Thema gab: jene von Mozes Hein- schink, der im 3. Wiener Gemeindebezirk lebte. Mozes Heinschink war und ist in der Romabewegung vielfältig aktiv und es gäbe viel über ihn zu sagen, was an anderer Stelle bereits geschehen ist.9 Für mich war damals jedenfalls seine riesige Tonträgersammlung an Feldforschungsaufnahmen zur Romakultur, Sprache und Musik ein Argument und eine wirkliche Motivation, das Thema weiter zu verfolgen. Mozes war auch einer, der vermitteln und erklären konnte. Einer, der eine Annäherung durch sein Wissen möglich machte und der auch bereit war, dieses weiterzugeben. Und er konnte mir sagen, wer die Frau in dem Film war, nämlich Ruža Nikolić-Lakatos, wohnhaft im 22. Wiener Gemein-

6 Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat (Monographien zur Zeitgeschichte), Wien/Frankfurt/Zürich 1966. 7 Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich (Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte, Bd. 2), Wien/Salzburg 1983, S. 31–49. 8 Claudia Mayerhofer, Dorfzigeuner. Kultur und Geschichte der Burgenland-Roma von der Ersten Republik bis zur Gegenwart, Wien 1987. 9 Ursula Hemetek, 70 Jahre Mozes Heinschink. Grußadresse, in: Romano Centro, 65/66 (2009), S. 8–11.

176 Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

debezirk, – und er war der Taufpate aller ihrer fünf Kinder. Er war bereit, mir Kontakte zu ihr und anderen RomamusikerInnen zu vermitteln. So begann ich mit meiner Feld- forschung bei Roma.

Feldforschung bei Roma

Mein erster Kontakt war Ceija Stojka, die durch ihr Buch bereits öffentlich bekannt war und die sich auch als wunderbare Sängerin herausstellte. Bei ihr machte ich meine ersten Tonaufnahmen zur Romamusik im Rahmen von Feldforschungen, der wichtigsten Me- thode der Ethnomusikologie. Eine der vielen möglichen Definitionen lautet:

Die Ethnomusikologie in ihrem empirischen Bereich verwendet als Grundlage für wissenschaftliche Ergebnisse das Tondokument oder die Videoaufzeichnung. Diese Dokumente werden in der Feldforschung erstellt, die entweder dokumenta- risch oder explorativ ausgerichtet ist (vgl. Schüller 1992, 1994).10 Beide sind unver- zichtbare und einander ergänzende Teile einer umfassenden Dokumentation bzw. Betrachtung von Kulturen im Allgemeinen und Musikkulturen im Besonderen. Ich sehe Feldforschung als das Erfahren von Zusammenhängen, in denen Musik eine Rolle spielt, als die Erhebung der Voraussetzungen, Bedingungen und Be- deutungen der Musik selbst und auch deren Bedeutung für die Menschen, die sie produzieren. Durch Ton- oder Videodokumentation werden diese Erfahrungen wiederholbar, belegbar und analysierbar gemacht.11

Explorativ heißt, dass es sich um eine Gesprächssituation handelt, in der Fragen gestellt werden, die Gewährsperson erzählt und singt oder musiziert auch. Viele meiner ersten Aufnahmen zur Romamusik waren solch explorative Feldforschungen.

10 Hemetek bezieht sich hier auf Dietrich Schüller, Phonographische Dokumentationsmethoden in der Ethnomusiko- logie, in: Sociologica Internationalis, Gesellschaft und Musik, hg. von Wolfgang Lipp, Berlin 1992, S. 505–517 sowie auf Dietrich Schüller, Mikrophonverfahren für ethnomusikologische Schallaufnahmen, in: Vergleichend-systemati- sche Musikwissenschaft. Beiträge zu Methode und Problematik der systematischen, ethnologischen und historischen Musikwissenschaft, hg. von Elisabeth Th. Hilscher/Theophil Antonicek, Wiener Veröffentlichungen zur Musikwis- senschaft Bd. 31, Tutzing 1994, S. 119–143. 11 Ursula Hemetek, Mosaik der Klänge. Die Musik ethnischer und religiöser Minderheiten in Österreich, Wien 2001, S. 20.

177 Ursula Hemetek

Hier ein Beispiel von Ceija Stojka, die als erste bereit war, mit mir zu sprechen und mir auch Lieder der Lovara vorzusingen. Z. B. dieses, das sie auch im KZ gesungen hatte. Ceija erzählte, dass Lieder ihr halfen, schwere­ Zeiten im Leben zu bewältigen.

Ceija Stojka Bildnachweis: Gerhard Maurer 1991

Mamo, mamo, mamo Bildnachweis: Aufnahme und Transkription: Ursula Hemetek 1990

Text und Übersetzung:

1. Mamo, mamo, mamo soste barardan man soste barardan man pe kadi de bari luma

178 Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

2. Mamo, mamo, mamo soste barardan man e bare čorimaske thaj bare gindonge Übersetzung:

1. Mutter, liebe Mutter, wozu hast du mich großgezogen wofür hast du mich großgezogen auf dieser großen Welt?

2. Mutter, liebe Mutter wofür hast du mich großgezogen für die große Armut und für dieses große Elend?

Auch im KZ hatten die Lieder, besonders die loke ģila, das sind die langsamen Lieder, eine wesentliche Bedeutung. Die Texte wurden teilweise der Situation angepasst, aber auch die melodische Freiheit ließ Ausdrucksmöglichkeiten zu. Dies ist nun eine ganz besondere Eigenschaft, dass der improvisatorische Charakter so viel an Gefühlsausdruck ermöglicht. Ceija formuliert das so: „In der Melodie, hinauf, hinunter, das Brechen, das ist dann der Ausdruck des Leids; Entsetzen, Angst liegt in der Art, wie ich die Melodie wiedergebe, wie sie rauf und runter geht.“12 Der Text war nicht eigens für Auschwitz entstanden, denn eine Tochter klagt auch im normalen Leben der Mutter ihr Leid. Aber, so Ceija: „Für Auschwitz hat’s dann original passt“.13 Die weitere Bearbeitung der Aufnahmen folgte der ethnomusikologischen Metho- dik. Die Aufnahme wird protokolliert und einzelne Teile daraus werden transkribiert und analysiert, in unserem Fach meist die musikalischen. Wir versuchen, Musik zu ver- schriftlichen, um Schlüsse daraus ziehen zu können, aber auch, um Lieder nachsingbar zu machen. Sie lösen sich dadurch von der Person, die sie vorgesungen hat und können

12 Interview vom 18.12.1990. 13 Ebd.

179 Ursula Hemetek

von anderen gesungen werden. Es ist eine Transformation in ein anderes Medium, das auch einen Ablösungsprozess mit sich bringt. Und außerdem ist das Aufschreiben na- türlich ein Vorgang, der stark vom eigenen wissenschaftlichen Zugang geprägt ist. Es ist eine wissenschaftliche Technik, mit der wir versuchen zu verstehen. Neben der persönli- chen Kommunikation war auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Musik selbst eine Möglichkeit, dem Verstehen näher zu kommen.

Ruža Nikolić-Lakatos (im Hintergrund Fatma Heinschink) Bildnachweis: Birgit Karner 1993

Ruža traf ich erst 1989 zum ersten Mal. Diese Begegnung gestaltete sich folgenderma- ßen: Zusammen mit Mozes Heinschink war ich bei der Familie eingeladen und sehr ner- vös. Wir betraten jene Küche im Haus der Familie im 22. Wiener Gemeindebezirk, die als Kommunikationszentrum der Familie diente und in der ich später noch so oft – liebevoll bewirtet – sitzen sollte. Wir wurden begrüßt. Ruža war freundlich, Mišo, der Hausherr, reserviert, aus verständlichen Gründen: Da kommt eine fremde Person daher und möch- te die Romamusik erforschen, indem sie Lieder aufnimmt; dringt in die Privatsphäre ein, baut ihre Aufnahmegeräte in der Küche auf, will alles mögliche wissen, eine Person, die eine Gadschi ist. All dies gab er mir gleich damals zu verstehen. Und es dauerte lange und ich kam oft auf Besuch, bis ich die ersten Aufnahmen machen durfte, bis Ruža mir so weit vertraute, dass sie für mich singen wollte. Ich verstand dann auch warum, denn bei den Lovara werden Lieder den Zuhörern gewidmet, man wird durch ein Lied geehrt und damit be- schenkt. Es ist ein intimer Kommunikationsprozess zwischen Sängerin und Zuhörern und dafür braucht es Vertrauen.

180 Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

Ich lernte und lernte – nebenbei auch weniger erfolgreich die Sprache Romanes bei Mozes Heinschink –, aber vor allem von den vielen Gesprächen und durch die Lieder. Ich protokollierte und transkribierte. Und bei diesen Liedern, mit denen mich Ruža be- schenkte, war auch jenes von der Brücke aus dem Film. Ich erfuhr, was es heißt, was es für eine Bedeutung hat, was Ruža damit ausdrücken möchte.

Jaj de kana e loli mol pav Bildnachweis: Aufnahme und Transkription: Ursula Hemetek 1993

Text und Übersetzung:

1. Jaj de kana e loli mol pav sa bajura kerav sa bajura kerav jaj de terne šejen kamav.

2. Jaj de kana e parni mol pav pale bajo kerav pale bajo kerav jaj de šingalen malavav.

Apal phendas: 3. Ande pelem mamo ando vesedelmo ando vesedelmo jaj de maškar le falura.

181 Ursula Hemetek

4. Jaj de le ma avri šeje po Del me mangav tu na muk čore, na muk jaj de terno te xasajvav.

5. Jaj de mamo, mamo, mamo de la šel koroni te šaj ćinel peske jaj de o lolo de panri.

6. Jaj de te šaj žukarel pe jaj de e terne šavenge e terne šavenge jaj de le mate gaženge.

7. Jaj de žutisar ma Devla naj de na muk te xasajvav te šaj žav me khere jaj de maškar muro nipo.

8. Ke phari mamo phari phari e robija bešlem ande šeje jaj de but le beršora.

Apal phendas: 9. Šinģol tele šeje jaj de le Bečesko podo te na phires pra les jaj de pala e mate gaže.

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Freie Übersetzung:

1. Wenn ich roten Wein trinke, mache ich Dummheiten und liebe junge Mädchen.

2. Wenn ich weißen Wein trinke, beginne ich Streit und raufe mit Polizisten.

3. Ich bin ins Gefängnis gekommen, Mutter, umgeben von hohen Mauern.

4. Hol mich heraus, Mädchen, ich bitte dich in Gottes Namen, Mädchen, verlass mich nicht, lass mich in meiner Jugend nicht zugrunde gehen.

5. Mutter, gib ihr hundert Kronen, dass sie sich rote Seide kauft.

6. Sie soll sich schön machen für die jungen Burschen und die betrunkenen Gadsche.

7. Hilf mir, Gott, lass mich nicht zugrunde gehen, dass ich nach Hause gehen kann zu ­meiner Familie.

8. Schwer ist es, schwer, Mutter, im Gefängnis, denn ich war schon so viele Jahre drinnen.

9. Mädchen, einstürzen soll sie, die Wiener Brücke, dass du, Mädchen, nicht immer über sie zu den betrunkenen Gadsche gehen kannst.14

Es ist eines von den sogenannten loke ģila, den langsamen Liedern. Diese haben bei den Lovara die Funktion, Ereignisse festzuhalten, zu beschreiben und zu überliefern. Dies geschieht mit ganz bestimmten Textformeln, es ist aber auch viel Improvisation invol- viert. Der melodische Bau ist charakteristisch, so wie der verhauchte Schlusston. Es geht hier um einen Burschen, der im Gefängnis ist, darüber klagt und meint, dass seine Frau ihn betrügt. Und deswegen soll auch die Brücke einstürzen, über die seine Frau immer zu den betrunkenen Gadsche geht. Statt Bečesko podo (Wiener Brücke) kann natürlich auch eine andere Brücke eingesetzt werden. Ruža lebt in Wien und sang deshalb immer

14 Ursula Hemetek, Amare ģila – Unserer Lieder. Ruža Nikolić-Lakatos. Eine Dokumentation der Lovaraliedkultur am Beispiel der Familie Nikolić-Lakatos. Tondokumente zur Volksmusik in Österreich, Vol. 4, hg. Rudolf Pietsch, CD mit Beiheft, Wien 1994, zweite Auflage Wien 1998.

183 Ursula Hemetek

von der Wiener Brücke. Bekanntlich stürzte im Jahre 1976 die Reichsbrücke wirklich ein. Seither heißt es bei den Roma scherzhaft, dass Ruža mit ihrem Lied die Brücke zum Einstürzen gebracht hat. Ich lernte, dass hinter einem solchen Text eine Lebensphilosophie, die Geschichte eines Volkes, ein ganzes Universum stehen kann. Ich begann zu verstehen, warum mich das Lied beim erstmaligen Hören im Film nicht mehr losgelassen hat. Diesem Stil ist eine große Expressivität eigen und manchmal vermitteln sich auch Inhalte über Melodie und Singstil, ohne dass man den Text versteht; ich habe das öfter erlebt. Aber insbesondere liegt es an Ružas individueller Art zu singen. Ich lernte auch viel über die Gesamtzusammenhänge. Die Lovara sind eine jener ver- schiedenen Roma-Gruppen, die in Österreich leben, und sie waren ursprünglich Pferde- händler. Ich lernte, dass jede dieser Gruppen eine andere Variante des Romanes spricht, sich mit anderen Musikstilen identifiziert, andere Traditionen hat und dass die Vielfalt und Heterogenität ein Merkmal des Volkes der Roma ist. In Österreich leben Angehörige verschiedener Gruppen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten zugewandert sind. Dieter W. Halwachs15 gibt in Form einer Tabelle einen Überblick über Zuwanderungszeit, Auswanderungsland und Lebensraum von fünf der wichtigsten Gruppen im Jahre 1999.

SINTI BGLD.-ROMA LOVARA KALDERAŠ ARLIJE

S-Deutschland Ungarn Mazedonien Emigrationsland Ungarn Serbien Tschechien Slowakei Kosovo 2. Hälfte 19. ab 1960er- ab 1960er- Immigrationsland um 1900 ab 15. Jhdt. Jhdt./ 1956 Jahre Jahre Burgenland primär Raum Siedlungsraum primär Städte Raum Wien Raum Wien oöst. Städte Wien

Die Sinti kamen aus Süddeutschland und Tschechien nach Österreich, und zwar um 1900. Ihre traditionellen Berufe waren das Schaustellergewerbe (Zirkus), die Musik, aber auch die Steinbearbeitung. Sie sind eine sehr abgegrenzte und eigenständige Gruppe, die besonders auf Einhaltung bestimmter Tabuvorschriften Wert legt. Ihre Romanes-

15 Dieter W. Halwachs, Romani in Österreich, in: Dieter W. Halwachs/Florian Menz (Hg.), Die Sprache der Roma, Klagenfurt 1999, S. 112–147, Tabelle S. 115.

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Variante weist durch den langen Aufenthalt (länger als 600 Jahre) im deutschsprachigen Raum viele deutsche Lehnworte auf. Der Sinti- oder Zigeuner-Jazz ist, neben Liedern in Romanes, die identitätstragende Musik dieser Gruppe. Die Burgenlandroma kamen ab dem 15. Jahrhundert vorwiegend aus Zentralungarn (ab 1921 Burgenland) in ihr heutiges Siedlungsgebiet. Ihre traditionellen Berufe waren Metallarbeiter (Schmiede), Scherenschleifer sowie Musiker. Ihre Romanes-Variante ist das Burgenlandroman, der prägende Musikstil die sogenannte ungarische Zigeunermusik. Für die Zuwanderung der Lovara finden sich erste Belege aus den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Vor der NS-Zeit lebten viele Lovara-Familien im Burgenland, die Über- lebenden und ihre Nachkommen ließen sich vor allem im Großraum Wien nieder. Sie waren vorwiegend als Pferdehändler tätig, jedoch konnten sie während und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr von diesem Gewerbe leben. Eine zweite Gruppe Lovara kam 1956 während des sogenannten „Ungarnaufstandes“ nach Österreich. Die Kalderaš immigrierten ab den 1960er-Jahren im Zuge der „Gastarbeiterbewe- gung“ aus Serbien nach Österreich; eine Mehrheit lebt heute in Wien. Sie arbeiteten vor allem in der Metallbearbeitung, insbesondere als Kupferschmiede. Deren Romanes- Variante ist die am besten dokumentierte, weil noch viele kompetente Sprecher zur Ver- fügung stehen. Musik und Bräuche dieser Gruppe sind stark vom serbischen Einfluss geprägt, woran auch der gemeinsame serbisch-orthodoxe Glaube einen Anteil hat. Die Arlije kamen aus Mazedonien, ebenfalls im Zuge der „Gastarbeiterbewegung“, und haben ein muslimisches Glaubensbekenntnis. Ihre Romanes-Variante ist vom Türki- schen geprägt, auch die Musik weist diesen Einfluss auf. Sie leben im Raum Wien. Ich lernte diese verschiedenen musikalischen Welten mit der Zeit kennen und doku- mentierte Hochzeiten der Kalderaš, arbeitete mit Zipflo Weinrich, einem Vertreter des Sinti-Jazz und mit Adolf Papai aus dem Burgenland, der mit seinem Ensemble die unga- rische Zigeunermusik spielte. Ich begegnete auch RomamusikerInnen, die keine Romamusik spielten, sondern z. B. Jazz, Soul oder deutsche Schlager. Bei einer burgenländischen Romahochzeit, die ich dokumentierte, war z. B. der volkstümliche Schlager „Herzilein, du sollst nicht traurig sein“ das meist gesungene Lied. Ich lernte auch Romedius Mungenast kennen, den Tiroler Jenischen, der damals viel in Romakreisen verkehrte. Später durfte ich auch seine Lieder aufnehmen. Ich lernte über die Geschichte, über die Verfolgung und Vernichtung im „Dritten Reich“, und mir wurden die Augen geöffnet über die Vorurteile und die massive Diskri-

185 Ursula Hemetek

minierung bis heute, unter denen Roma und Jenische gemeinsam leiden. Ich erlebte die Vorurteile und die Diskriminierung auch durch Reaktionen meines beruflichen Umfel- des. Wenn ich begeistert von meinem neuen Forschungsfeld berichtete, begegnete ich oft zweifelnden Blicken und es ging so weit, dass ich gefragt wurde, ob ich nicht Angst hätte, mit „solchen Leuten“ zu kommunizieren, schließlich wüsste jeder, dass Zigeuner stehlen und kriminell sind. Dies forderte mein Gerechtigkeitsempfinden heraus und ich begann, mir Strategien zurechtzulegen, um die Ethnomusikologie im Sinne der Betroffenen einzusetzen. Wir nennen diese Richtung im Fach heute „Angewandte Ethnomusikologie”.

Angewandte Ethnomusikologie

Maureen Loughran sieht angewandte Ethnomusikologie „as a philosophical approach to the study of music in culture with social responsibility and social justice as guiding principles”.16 Es geht also um soziale Verantwortung und soziale Gerechtigkeit. Weder diese De- finition noch die Bezeichnung an sich existierten damals in der ethnomusikologischen Literatur. Was nicht heißt, dass es nicht anwendungsorientierte Zugänge im Fach gab. 1989 war mit der Gründung des ersten Romavereins in Oberwart auch eine politische Bewegung der Roma entstanden. Und das Heraustreten aus dem Verborgenen war damit vorprogrammiert sowie auch das Verstanden-werden-wollen, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Die Roma strebten die Anerkennung als österreichische Volksgruppe an. Allerdings war dafür – laut Volksgruppengesetz von 1976 – u. a. der Nachweis eines eigenen „Volkstums“ notwendig. Der Wissensstand über die Romakultur in der Öffent- lichkeit war äußerst gering, deshalb schien es angebracht, in diese Richtung zu arbeiten. Und die musikalische Welt, die sich mir soeben eröffnet hatte, schien dafür sehr geeignet. Ich begann, gemeinsam mit Mozes Heinschink und Ilija Jovanović17 an öffentlichen Präsentationen von Romakultur zu arbeiten. Die großen Events, die wir veranstalteten,

16 Maureen Loughran, „But what if they call the police?” Applied Ethnomusicology and Urban Activism in the United States, in: Applied Ethnomusicology. Musicological Annual, hg. von Svanibor Pettan, 44, 1 (2008), S. 51–66, hier S. 52. 17 Mehr Information zu dieser großen Persönlichkeit der Romabewegung im Nachruf auf Ilija Jovanović: Ursula Heme- tek, „Meine Heimat ist dort wo ich bin“ Ilija Jovanović 1950–2010, in: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderhei- ten, 78 (2011), S. 24.

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­hießen: „Ausnahmsweise Zigeuner“ 1990, „Volk ohne Rechte“ 1991 und „Roma Mythos und Wirklichkeit“ 1994. Ich wurde zur Roma-Aktivistin und es ging mir und den ande- ren darum, durch die öffentliche Wahrnehmung von Romakultur Vorurteile und Dis- kriminierung abzubauen, also soziale Verantwortung wahrzunehmen und gegen soziale Ungerechtigkeit aufzutreten. Wir wollten die Romabewegung unterstützen, kooperier- ten zunächst mit dem ersten Romaverein in Oberwart und gründeten dann den Wiener ­Romaverein Romano Centro. Ich kann nicht im Einzelnen darauf eingehen, was die Inhalte der Veranstaltungen waren, jedenfalls war Musik immer ein wichtiger Bestandteil. Sie waren gut besucht und bekamen große öffentliche und mediale Aufmerksamkeit. Insofern haben sie sicher et- was bewirkt. Wenn man sich heute die damals verwendeten Plakate anschaut, kann man allerdings nicht anders als kritisch dazu stehen, besonders das erste ist von Klischees geprägt.

Plakat zur ersten Roma-Kulturpräsen­ tation in Wien 1990 Bildnachweis: Plakatentwurf: Herman Hemetek, Photomotiv: Eva Davidová

187 Ursula Hemetek

Es zeigt ein tanzendes Zigeunermädchen, die Grundlage war die Photographie einer Ethnologin. Aus heutiger Sicht ist dies politisch völlig unkorrekt, außerdem eine klare Ethnisierung. Für mich waren diese Veranstaltungen Möglichkeiten, mit vielen MusikerInnen zu arbeiten und zu diskutieren, was sie als „ihre“ Musik betrachten und was auf der Bühne präsentiert werden sollte. Außerdem war es eine Möglichkeit, den MusikerInnen eine Ko- operation anzubieten, die für beide Seiten fruchtbringend sein konnte, denn es handelte sich um bezahlte Auftritte. Unsere Auswahl der Musikstile basierte auf den sogenannten „traditionellen Stilen“, auf ethnischer Musik. Ich suchte nicht jene Sänger auf, die „Her- zilein“ als ihre Musik betrachteten oder die Soul spielten, sondern SängerInnen wie Ruža, die noch die „alten“ Lieder sangen. Es war die Differenz, die im Vordergrund stand, die ethnische Besonderheit. Ich würde das heute als Ethnisierung und Kulturalisierung einer Minderheit betrachten und wahrscheinlich vieles anders machen. In der damaligen politischen Situation war diese Vorgangsweise vielleicht notwendig und wurde von den Roma selbst mitgetragen, weil die Gesellschaft und die Politik ethnische Marker für die Anerkennung als Volksgruppe erwartete. Ruža Nikolić-Lakatos ist heute eine bekannte Romasängerin, die bei vielen Festivals auftritt und auch schon mehrfach in Innsbruck gastiert hat. Bis Ende der 1980er-Jahre hatte sie allerdings immer nur für Roma gesungen, meist bei Familienfesten. Der Film war eine Ausnahme gewesen. Als ich sie 1989 bat, bei einer öffentlichen Veranstaltung, die ich kuratierte und moderierte, mit ihren traditionellen Lovara-Liedern aufzutreten, lehnte sie ab. Ceija Stojka sang damals im offiziellen Programm und Ruža und Mišo waren im Publikum. Mišo beschreibt in einem seiner Bücher die folgenden Szenen so:

Die Veranstaltung begann, Ceija sang mehrere Lieder, einige mit, einige ohne Be- gleitung. Da ich zwei oder drei Krügel Bier getrunken hatte, bekam ich Mut und sagte zu Ruža, dass sie noch besser singen kann und deswegen soll sie auch singen heute, nur zwei Lieder, ein langsames und ein schnelles, zu dem ihr Bruder und ihre Cousine tanzen könnten. Ruža lehnte noch immer ab, aber ich bestand darauf und schließlich ging sie doch zur Frau Uschi und sagte ihr, dass sie bereit sei, etwas zu singen. Diese war froh darüber (…)18

18 Mišo Nikolić, Landfahrer. Auf den Wegen eines Rom, Klagenfurt 2000, S. 132.

188 Musik der Roma und angewandte Ethnomusikologie: Stufen einer Annäherung

Der Auftritt wurde ein großer Erfolg und damit begann die öffentliche musikalische Karriere Ružas.

Fazit

Ich sehe diese Aktivitäten heute zum Teil kritisch. Wir ForscherInnen haben einen An- teil daran, wie sich Communities musikalisch identifizieren, wir beeinflussen das „Feld“ durch unsere Fragen, Aufnahmen und Publikationen und die Frage, ob wir nicht damals gewissermaßen Tradition und Ethnizität der Roma „miterfunden“19 haben, ist offen. Was ich inzwischen gelernt habe, ist, den individuellen musikalischen Ausdruck als solchen wahrzunehmen und mir nicht kollektive Interpretationen anzumaßen. Ich arbeite nach wie vor mit Ruža zusammen, verschaffe ihr Auftritte und bitte sie, meinen Studierenden etwas zu vermitteln. Diese Begegnungen sind meist sehr eindrucksvoll für die Studie- renden und oft auch der erste persönliche Kontakt mit Roma. Außerdem ist es eine Freundschaft geworden. Begonnen hat das alles mit dem Film „Ihr werdet uns nie verstehen“. Ich lerne im- mer noch von Ruža, und sie vielleicht von mir. Wir kommunizieren schon lange nicht mehr ausschließlich in den Rollen von Forscherin und Gewährsperson. Und auf dieser menschlichen Ebene verstehe ich Ruža. Was sie mit ihren Liedern ausdrücken möchte, habe ich inzwischen auch verstanden, weil ich den gesamten Entwicklungsprozess haut- nah miterlebt habe. Ich glaube auch, ihre Lieder zu kennen, und ich habe versucht, mit den Mitteln der Ethnomusikologie zu verstehen, wie diese Musik gebaut und gemeint ist, was ihre Funktion ist. Aber mein Verstehen verbleibt in einem begrenzten Rahmen und ich maße mir nicht mehr an, „die Roma“ verstehen zu wollen. Also hat Herr Weinrich zum Teil recht behalten, aber die persönliche Beziehung zu Ruža und zu anderen Roma hat es mir ermöglicht, in einen Prozess des Lernens einzutreten, der bis heute andauert und der nach wie vor spannend ist.

19 „erfunden“ bezieht sich auf Eric Hobsbawms und Terence Rangers Buch „The Invention of Tradition“, insbesondere auf die Einleitung: Eric Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, in: The Invention of Tradition, hg. von Eric Hobsbawm/Terence Ranger, o. O. 1983, S. 1–14. Außerdem hat der Ethnomusikologe Timothy Cooley in seinem Buch „Making Music in the Polish Tatras“ sehr eindrucksvoll die „Erfindung“ der Ethnizität der Goralen in der Ho- hen Tatra beschrieben: Timothy J. Cooley, Making Music in the Polish Tatras. Tourists, Ethnographers, and Moun- tain Musicians, Bloomington 2005.

189

Helena Sadílková

Romani teaching in the Czech Republic

The purpose of this text is to describe the situation in the Czech Republic (CR) with regards to teaching Romani. The text is concentrated on the northern-central dialect of Romani, whose (former) speakers compose up to 75 percent of the current Romani population in the CR. Following a description of the current sociolinguistic situation of the dialect and the overview of the history of Romani teaching in the CR, the text concentrates on the current situation in the teaching of the language and summarizes the experience with the introduction of a course on northern-central Romani into a few Czech elementary schools, an experiment that was conducted in 2009 in the framework of a series of sociolinguistic researches (2007–2010) into the situation of Romani in the CR by the Seminar of Romani Studies (Department of Southern and Central Asia, Fac- ulty of Arts, Charles University, Prague). The author of the article has taken part in the research as a member of the coordinating team as well as a researcher.

I. Introduction: Roma in the CR

The current population of Roma in the CR is estimated to be about 200.000 people.1 Like in all other European states, the Roma in the CR represent a heterogeneous minority group from the historic, anthropologic as well as linguistic point of view. The autochtho- nous Romani population of the historic Czech Lands (comprising Bohemia, Moravia and Silesia) has been almost completely annihilated during the Second World War: out of the 6.500 Roma (we can expect composed mostly of the so called Czech/Moravian Roma and a certain number of Sinti) that have lived in the Protectorate Bohemia and Moravia, only about 1.000 individuals have survived the Nazi prosecution.2 It is estimated that

1 Květa Kalibová, Romové z pohledu demografie, in: Romové v České republice, Praha 1999, p. 107. 2 Ctibor Nečas, Holocaust českých Romů, Praha 1999, p. 173.

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these people now compose only up to five percent of the current Romani population in the CR, having been totally out-numbered by post-war Romani migrants from Slovakia.3 The major part of the post-war migration from Slovakia included members of seden- tary Romani communities that have lived a settled life in Slovakia for centuries. Sharing a large part of the centuries’ long history of sedentarization in mostly rural Slovakia as well as some cultural and linguistic features, but coming from different regions of Slovakia, the sedentary Roma from Slovakia are members of two similar but distinct sub-ethnic groups, for whom the name Slovak and Hungarian Roma is used in the ethnographic sense. Linguistically they belong to the group of northern- and southern-central Romani speakers.4 The northern-central Romani speakers represent the dominant part of the current Czech (as well as Slovak) Romani population (up to 75 percent in the CR), while southern-central Romani speakers are estimated to represent only up to 20 percent.5 Members of a traditionally travelling Romani group in Slovakia, the Lovara, have also joined in the post-war migration into the Czech lands. They represent a rather closed and conservative group and still keep a socio-cultural distance from the sedentarized Slovak and Hungarian Roma (as well as from the non-Roma), despite the fact that the Lovara themselves have been forced to settle down in Czechoslovakia in 1958/59. They speak the Lovara dialect, one of the northern-Vlax dialects of Romani. Their proportion is estimated to be up to 15 percent of the total Romani population in the CR.6 Important socio-cultural changes have taken place especially in the community of the Slovak and Hungarian Roma, traditionally more open to the influence of non-Roma viewed as the prestigious social group (in sharp contrast to the attitude of the Vlax Roma to the majority population). The (mutually interconnected) effects of the postwar migra- tion and post-war developments in the whole of the country on the communities of the Roma included: urbanization, changes in work patterns and daily life, gradual weakening of social networks with the communities of origin and the increase in contacts with local non-Romani population as well as with other Roma from different regions of Slovakia

3 Milena Hübschmannová, Můžeme se domluvit / Šaj pes dovakeras, Olomouc 2002, p. 27. 4 Even though the terms Slovak Rom/northern-central Romani speaker and Hungarian Rom/southern-central Romani speaker have been used until recently interchangeably, the self-identification of northern-central Romani speakers as Slovak Roma and southern-central Romani speakers as Hungarian Roma is not a straightforward rule (even though it is common). For detailed discussion of this terminological problem see Viktor Elšík, Interdialect contact of Czech (and Slovak) Romani varieties, in: International Journal of the Sociology of Language 162 (2003), p. 41–62. 5 Milena Hübschmannová, Můžeme se domluvit / Šaj pes dovakeras, p. 27. 6 Op.cit., p. 27.

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that have (been) moved into the locality. Last but not least, the gradual process of cul- tural and language assimilation/disintegration has been strengthened by the policy of assimilation, implemented by the communist government since late 1950’s aimed at the dissolution of the “citizens of gypsy origin” into the mass of the citizens of socialist Czechoslovakia. It was expected that as the material conditions of the arriving Romani families would improve in the new socialist state that was just being built, the Romani cultural heritage would be laid aside and forgotten. Strengthening this momentum, the assimilation ideology labeled Romani culture and tradition as backward and presented different elements of the Romani culture, including the language, as a barrier to their so- cial mobility. As a result of the diverse social pressures and changes, many of the Slovak and Hungarian Roma have internalized to a different extent the contemptuous attitude towards (certain elements of) the Romani cultural heritage, including the language.7

II. Romani in the CR – sociolinguistic situation

It can be assumed that most of the Roma coming into the Czech lands after the Second World War spoke Romani and that Romani was the language of their primary socializa- tion. Hübschmannová has described the general practice of the use of Romani and non- Romani code in the Slovakian source localities of the migration using the term diglossia: while Romani would be used in internal communication among the Roma, local majority non-Romani language (e.g. local dialects of Slovak, Hungarian, Ruthenian etc., depending on the locality) would be used for the communication with non-Roma.8 Since Roma in Slovakia lived for the most part in settlements often spatially separated from their major- ity neighbors, children would be brought up in Romani and start learning and using the non-Romani code only at the time when their contacts with non-Roma would increase. During late 1960’s and early 1970’s, changes in the use of Romani were already docu- mented among the group of the speakers of the central dialects (Slovak and Hungarian

7 For detailed discussion of the effects of the assimilation policy and general socio-cultural changes in the community of the Slovak Roma, see Milena Hübschmannová, Několik poznámek k hodnotám Romů, in: Romové v České republice (1945–1998), Praha 1999, p. 16–67. For an outline of the history of Roma in Czechoslovakia after 1945 see, for example Will Guy, Ways of Looking at Roma (The Case of Czechoslovakia, 1975), in: Diane Tong (ed.), Gypsies. An Interdisciplinary Reader, New York/London 1998, p. 13–68. 8 Milena Hübschmannová, Bilingualism among the Slovak Roms, in: International Journal of the Sociology of Language 19 (1979), p. 33–49.

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Roma) residing in Czech lands. Hübschmannová has observed that the use of Czech even in the internal communication in Romani environment is increasing in the group of northern-central speakers, among younger speakers in particular.9 Almost twenty years later Šebková uses a simplified three generations’ model to describe the progress of lan- guage shift in the communities of northern-central speakers: according to her the first generation of migrants in the Czech lands as a general rule speaks Romani, the second generation largely only understands it, while the third generation no longer knows the language at all.10 Even though the process of gradual language shift towards Czech has been described among the communities of northern-central speakers, it is expected to apply to the communities of southern-central speakers as well. The Vlax Roma, on the contrary seem to have so far resisted it. Vlax Romani () is still the primary com- munication code inside Vlax Romani community in the Czech Republic and the language of the primary socialization of the children. During 2007–2010 a series of sociolinguistic researches has been conducted by the Seminar of Romani Studies (Department of Southern and Central Asia, Faculty of Arts, Charles University, Prague) into the situation of Romani in the Czech Republic. The research was primarily concentrated on the issues of current competence in Romani among school-aged children, the acquisition and intergenerational transmission of the language, language use and language attitudes. The research allowed for the first time to base the estimate on the competence in Romani among the youngest generation of possible users on extensive data. For the purpose of this part of the research, we organized a “Romani language contest” in 64 schools in 44 Czech and Moravian municipalities, targeting more than 1.100 pupils.11 The contest was designed to fit in one school lesson (45 minutes) during which the par- ticipants (groups of 10–15 pupils) were asked to compete in different language tasks (to choose appropriate antonyms for different words, to complete Romani sentences and to fill in a listening comprehension test). The whole session was moderated in Romani – if possible, given the general competence in Romani in the group – and framed by intro- ductory and close-up interviews with the participants. The participants could choose the

9 Op.cit., p. 44. 10 Hana Šebková, Jazyková situace Romů a její vývoj, Praha 1995, p. 8. 11 For a detailed discussion of the methodology of the contest and its limits, see Pavel Kubaník/Helena Sadílková/ Jan Červenka, Romani language competence and intergenerational transmission in the Czech Republic, in: Barbara Schrammel-Leber/Barbara Tiefenbacher, Romani V. Papers from the Annual Meeting of the Gypsy Lore Society, Graz 2011, Graz 2013, pp. 61–80.

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language of their communication with the moderators/researchers (Romani or Czech), which allowed for the participation of children with passive knowledge of Romani. Two researchers were present during the session, dividing amongst themselves the task of moderating the session, monitoring language behavior of the pupils, and recording the results and observations. After the end of each of the session, the researchers were asked to evaluate the competence in Romani of the participants based on the observation of their language behavior during the whole of the session. The evaluation was later cor- related with the pupils’ scores in the competition as well as with the audio recording of the whole session to arrive at the final estimate of the competence in Romani of the individual pupils. The level of competence was indicated using a four-point scale: 1– fully competent speakers; 2 – partially competent speakers (i.e. understand Romani but have difficulties with speaking); 3 – speakers with limited competence (i.e. have problems with understanding and rather limited speaking competencies); 4 – pupils with no or very basic competence in Romani (i.e. understand some basic words/phrases for example). The contest was prepared in two dialect versions (northern-central Romani and Lovari) as we hoped to target the children from all three dominant sub-ethnic/dialect Romani groups (children of the speakers of northern- and southern-central dialect of Romani, and Lovara dialect). However, the participants from the group of northern- central speakers dominated the sample: only three percent, i.e. 35 pupils in the sample, were from Vlax Romani families, and only one girl identified herself as southern-central Romani speaker. We therefore relate our findings exclusively to the northern-central dia- lect of Romani but point out that they are most probably relevant to the situation of southern-central Romani in the CR as well since it is largely supposed that (the changes in) the vitality of the two central dialects are comparable.

Graph no. 1.: Competence in Romani related to dialect group

195 Helena Sadílková

While the results for the Vlax Romani speakers prove the assumption of high com- petence in Romani, the results for the group of children from northern-central Romani background show considerable loss of the language. Bearing in mind certain limits of the methodology used, the relative representative- ness of the sample allows for the statement that in the Czech Republic among the pre- sent-day Romani children of school age from northern-central dialect group, we can ex- pect a maximum of approximately one-third to be fully competent speakers of Romani. There is also a considerably high proportion of children with only passive knowledge of Romani (participants with limited or partial competence) – a feature that is characteristic not only for the children but of the (especially younger) adult northern-central Romani speakers in the CR.

III. Romani teaching in the Czech Republic: history, contemporary situation

In March 2007, the Charter for regional or minority languages has entered into force in the Czech Republic. By ratifying the document, the Czech Republic has agreed to sup- port, under the Charter, four minority languages – Polish, Slovak, German, and Romani. While the state has bound itself to apply specific selected provisions of Part III of the Charter to Polish and Slovak languages, to German and Romani languages only the more general provisions of Part II of the Charter are to be applied.12 The Romani teach- ing is subsumed under one of these provisions (Charter, Part II, Article 7, Par. 1f)13 and ­Romani education in particular has become an issue in the Committee of Experts’ evaluation report after the first monitoring cycle in December 2009, with the Commit- tee of Experts encouraging the Czech Republic “to take immediate interim measures to improve the situation”.14

12 See the List of declarations made with respect to treaty No. 148 (European Charter for Regional or Minority Languages), available at http://www.coe.int/t/dg4/education/minlang/ngos/default_en.asp (accessed Aug. 30, 2012). 13 Charter for the Regional or Minority Languages, English version of the text of the Charter, available at http://www. coe.int/t/dg4/education/minlang/textcharter/default_en.asp (The Charter), (accessed Aug. 30, 2012). 14 See the Report of the Committee of Experts on the Charter, in: Application of the Charter in Czech Republic, first monitoring cycle, Strasbourg 2009, p. 15, available at http://www.coe.int/t/dg4/education/minlang/Report/ default_en.asp (State reports), (accessed Aug. 30, 2012).

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Romani has been used on the territory of Czechoslovakia until quite recently almost exclusively as a language of internal oral communication between the members of a socially underestimated minority. We can speculate that Romani might have been used (as an auxiliary language of education) in a handful of elementary schools established in the 1920’s in the eastern part of the then Czechoslovakia (famously in Uzhgorod, the former capital of Subcarpathian Ukraine, a Romani school, i.e. school for Romani chil- dren from the local Romani settlement has been founded in close cooperation with the local Roma;15 a few similar schools were also established in eastern Slovakia in the same time, following the example).16 Similarly, in the early 1950’s, before the communist regime has adopted the policy of assimilation towards its Romani inhabitants, the idea of using Romani in early school education was contemplated and perhaps even implemented in some of the few schools/classes for Romani children that came into existence at that time. The information on the real situation in the schools in both of the two mentioned periods is however very fragmentary. After more than a decade of a strong assimilation pressure, the idea of using Romani in early school education has been revived in late 1960’s, during the existence of a repub- lic-wide Romani organization Union of Gypsies-Roma (established in 1969 in the after- math of the Prague Spring) that has attempted to step into and become a partner of the state administration in the process of the development of state policy towards the Roma and its implementation.17 However, the suggestions to use Romani as auxiliary language in the elementary school education of Romani children until they would become fully competent in Czech published in the organization’s program and policy outline in 197018 never materialized as the Union of Gypsies-Roma was forcibly dissolved in 1973. Since then, the presence of Romani (or rather, its absence) in the elementary and secondary school system has not been discussed until recently. The only possibility to learn or develop Romani inside the state educational frame- work was enabled in courses of Romani for the general public that were taught at the

15 Karel Sommer, Cikánská škola v Užhorodě, in: Slezský sborník 92, 2 (1994), p. 106–112. 16 Anna Jurová/Eva Zupková, Rómovia v Košiciach v 1. ČSR v kontexte doby i regionu (1918–1938), in: Bulletin Muzea romské kultury 16 (2007), p. 105–111. 17 Petr Lhotka, Svaz Cikánů-Romů 1969–1973, in: Milada Závodská/Michal Schuster (eds.), Svaz Cikánů-Romů 1969–1973, Doprovodná publikace k výstavě Muzea romské kultury „Svaz Cikánů-Romů (1969–1973) – z historie první romské organizace v českých zemích“, Brno 2009, p. 5–23. 18 Memorandum k základním otázkám romské (cikánské) problematiky a vymezení společenského postavení Romů (Cikánů), in: Románo ľil 2 (1970), p. 11–13.

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Prague State Language School since early 1980’s. The courses were organized and lead by Milena Hübschmannová, one of the founders of Czech Romani studies (as the discipline has developed since early 1950’s). The courses were attended by Roma (mostly Romani activists and/or beginning writers, friends of M. Hübschmannová) as well as non-Roma (mostly people who felt the need to use Romani in their work, including a group of Prague social workers).19 After the fall of the communist regime in 1989, Romani – exclusively as a teaching subject – was gradually introduced into a couple of schools at the secondary and tertiary education level, quite often as a part of a distant learning curriculum for adults working in the field of social work. Until today, only one secondary school has included Romani into its daily study curriculum20 – a secondary vocational school founded by a well known Romani politician, Emil Ščuka. The school, originally founded in Kolín as a school for social work and law, has developed over the years into a network of secondary vocational schools and continues to be attended predominantly by Romani youth. With the exception of the Kolín school network, Romani is today taught only in adult learning courses, mostly at university level and/or as distant learning courses at secondary vocational schools for students/practitioners in the field of social work and pedagogy (Pedagogical faculties at the Universities of Brno, Ostrava, and Prague), or stu- dents of anthropology/ethnography (University in Pardubice). The Charles University in Prague offers also a university degree in Romani language at the Faculty of Arts (Seminar of Romani Studies, Department of Southern and Central Asia, established in 1991 by Milena Hübschmannová). The only courses of Romani available for general public are offered by Museum of Romani Culture in Brno. So far, no teacher training courses have been developed, the current teachers of Romani are mostly recruited from the alumni of the Seminar of Romani Studies at Charles University, Prague, or native speakers of the language (or both, ideally, unfortunately only in a few cases). It should be underlined that in all of the so far mentioned courses the northern-central dialect of Romani exclusively is taught. The only courses on Vlax Romani are part of the MA degree study at the Semi- nar of Romani Studies at Charles University.

19 For a more detailed information on the courses of Romani in Prague State Language School, see Helena Sadílková, La littérature romani en République tchèque: sources et état actuel, in: Études Tsiganes 37, 2 (2009), p. 189–190. 20 It should be pointed out that in the Czech educational system elementary schools traditionally offer primary (five years) and lower secondary education (four years), while secondary schools cover the upper secondary education (four years).

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IV. Experimental courses of Romani

The Czech legislation allows for the introduction of (national) minority languages into the regular educational network (as languages of instruction or as school subjects) at the primary as well as secondary level, under certain conditions.21 The first preliminary condition is the presence of ten percent minority population (i.e. including all minorities’ members) in the given municipality, according to the self-declaration in the census, which allows for the establishment of a local committee for national minorities.22 The exist- ence of the committee in turn is the first condition for the introduction of the minority language into education at the municipal level.23 The limits for opening a class with the instruction in a minority language are then eight, ten and twelve pupils in the class at the level of preschool, primary and secondary education respectively (these limits can be lowered in the case of introducing the minority language as a teaching subject). So far, it have been the members of the German, Polish, and Slovak minority that have pressed the administration of the introduction of their minority language in the local schools or have even already established schools with minority language as the language of instruc- tion. Apart from different reasons, the current sociolinguistic situation of the central dialects of Romani in particular and the fact that Romani for historic reasons has its functional limits as a language of predominantly oral and internal communication practi- cally rules out the introduction of Romani as a language of instruction. The introduction of Romani as a school subject is however a step that can be considered, and that has been actually announced by the Czech Ministry of Education, Youth and Sport in March 2010 with regards to the support of the language.24 The fact that there is no experience with the instruction of Romani at the level of primary or lower secondary education as well as the absence of age-appropriate teaching materials and teacher training programs makes such a move a rather problematic one.

21 National Minorities Act No. 273/2001. 22 Act on Municipalities No. 128/2000 Coll. 23 Education Act No. 561/2004 Coll. 24 In the reaction to the announcement a Facebook campaign “We oppose the introduction of Romani into Czech schools“ has been created, gathering almost 40.000 supporters in five days, see Romea: Desítky tisíc lidí odmítají na internetu romštinu ve školách, www.romea.cz, 23.3.2010, available at http://www.romea.cz/cz/zpravy/desitky-tisic- lidi-odmitaji-na-internetu-romstinu-ve-skolach (accessed Aug. 30, 2012), and featuring rather xenophobic or racist remarks – see the information and commentary on the campaign in The Times (Adam Lebor, Facebook campaign to stop plans for Romani lessons in Czech Republic, in: Times, 2.4.2010, available at http://www.thetimes.co.uk). The issue was in the center of Czech media interest for a few days and then disappeared from the public debate.

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In 2009, in the framework of a series of sociolinguistic researches into the situation of Romani in the CR (2007–2010) by the Seminar of Romani Studies (Department of Southern and Central Asia, Faculty of Arts, Charles University, Prague), we have de- signed a short experimental course on Romani language25 and piloted it at five elementary schools in the CR in order to test the conditions of establishing such a course on the ground and possible teaching materials to be used as well as in order to gather general experience with the introduction of such a course. The experience with the sociolinguistic situation of northern-central Romani in the diverse localities across the Czech Republic as well as with the different local school environments gathered during the sociolinguistic research conducted by the Seminar of Romani Studies during the two preceding years was used in the targeting and preparation of the course. We have decided to target pupils with full or partial competence in Romani (see at the scale introduced in part II of the text: Romani in the CR – sociolinguistic situ- ation). The decision followed the most realistic logic of the use of Romani teaching as a support of the language as an endangered one: it seems to us that the use of such an in- strument has the largest potential in localities were Romani is still used in the generation of the current pupils or only starts to retreat from the position of language in use. The aim of the course thus was not to teach Romani to beginners, but to develop certain lan- guage skills and areas of language knowledge that are in general underdeveloped among native speakers of Romani (such as reading and writing, or the general knowledge of the grammatical structure of the language). Given the goals of the course, we have decided to concentrate on pupils at the lower secondary level (which is part of the so called ­elementary school as an institution – see footnote no. 20) who – we would expect – were already familiar with reading and writing in Czech even though to a considerably limited extent in the case of pupils from the so-called practical schools.26 The choice of the local- ity and school was based upon our knowledge of the situation of Romani in the given municipality as well as the existence of an atmosphere favorable to such an experiment, on the side of the headmaster and teachers as well as on the side of Romani parents.

25 The course was designed as an eight lesson course. We are aware of the fact that the course was rather short to enable a deeper insight into the possibilities of Romani teaching at schools. In fact, after the eight lessons, the participating pupils only started to understand the logic and content of such a Romani course. We however believe even the short term observations and experience are valuable for possible future development and organization of Romani courses. 26 I.e. former „special schools“ educating pupils with learning and mental disabilities, into which a large percentage of Romani children has been sidelined from the mainstream education. The practical schools follow an educational program adjusted to incorporate pupils with the above mentioned handicaps. Out of the five schools that have participated at the experiment, only one represented a regular mainstream elementary school.

200 Romani teaching in the Czech Republic

Finally, five schools have been chosen to participate at the experiment in different parts of Bohemia and Moravia. In four of them the course was organized as an after- school activity, demanding an extra effort from the pupils, in one of them, the agreement was made to incorporate the course into the weekly teaching program. This was possible given the content and aim of the course (Romani class substituted once a week a lesson dedicated to the practice of reading) and relatively short time needed for the implemen- tation of the whole course (eight weeks). Such an arrangement was extremely favorable since the drop-out rate in the after school courses was considerable.27 In fact, two of the four afterschool courses had to be cancelled all together due to drop-out as well as due to high level of fluctuation of the pupils (new pupils arriving at each of the sessions) which made continuous work impossible. On the other hand, the pupils who stayed especially in the two remaining afterschool courses represented the most motivated ones – three of them have not missed a lesson, and two of them missed just once. Three pupils among them were evaluated as problematic by their headmaster: one of them was said to have frequent problems with his behavior in class (in fact, the headmaster warned us not to include him in the course in fear he would spoil all of the lessons – such problems were never encountered during the course) and two of them were described as rather careless in their work at school as well as with their homework preparation (both of them came to Romani classes regularly with their homework ready). As far as the content of the course is concerned, the course was composed so as to incorporate different language tasks (reading, writing, translation) as well as different topics, including those frequented in the existing (northern central) Romani textbooks (such as themes relating to the oral culture and history of Slovak Roma, for example) but also topics related to the given municipality, or the pupils’ language background and ­attitudes. Some parts of the lessons were designed so as to develop the pupils’ knowledge of Romani as well (writing rules, some parts of the grammar structure, expansion of vocabulary). The pupils’ tolerance as native speakers of Romani to neologisms and words from different Romani dialects was also tested.28

27 The Romani course was visited at least once by 60 pupils altogether, but only about 1/3 of them have attended more than four lessons (i.e. half of the course). 28 For detailed analysis of the course and for the materials used see the final report from the project Výzkum a ověření možností práce s romštinou na školách, and its attachments, available at http://www.romistika.eu/?c_id=382&pre=1 (Projects from 2009).

201 Helena Sadílková

Concluding remarks

The above mentioned Romani course has been implemented in 2009 in the framework of a sociolinguistic research concentrated on the one hand on determining the current competence of children of school-age in Romani and on the other hand on the investiga- tion of the actual sociolinguistic situation of Romani with regards to language use and language attitudes in several chosen localities (including those the course has taken place in). The experience gathered allows for the drawing of several conclusions on the level of the course preparation as well as with regards to the current context of Romani teaching. It seems that the issue of introducing Romani into Czech schools is a challenge not only because of the lack of available infrastructure (i.e. design of teaching materials, teacher training courses, etc.) but also because of the mental set up of all players involved. The preparation of the content and aims of a Romani language course should be based on the information on the competence of the targeted pupils in Romani (while it should be borne in mind that the situation varies from locality to locality) as well as on the general language skills of pupils (even basic language skills such as reading and writ- ing might vary depending on the type of the school the pupils have attended). During the process of rising support for a Romani course among the parents, one might encounter rather mixed attitudes to Romani as a minority language. Possible ­reservations might also stem from the fact that i) the speakers of Romani have been until rather recently discouraged from using Romani in the public as well as at home, often by school teachers themselves; ii) certain part of the speakers has internalized the idea of Romani as useless language that is in itself a barrier to their children’s successful educational trajectory; iii) there is in general almost no experience, on the side of the speakers of Romani, with institutional study of their language, its writing rules and gram- matical structure, and the absence of any user-defined experience with a Romani course might make it rather difficult to imagine the content and aim of a Romani course. Quite frequently, the school environment is regarded as an ultimately Czech-language environ- ment. Moreover, some of the respondents fear a negative response from the majority society in case of opening the discussion on the introduction of Romani into schools or in the case of insisting on the implementation of such a move. The absence of sufficient information on the language repertoire of thepu- pils on the side of the teachers has been repeatedly observed in the different schools visited. Some teachers tend to underestimate or even downplay the competence

202 Romani teaching in the Czech Republic

in Romani of their pupils (for example supposing the pupils can express in Rom- ani only vulgarities). There is also a considerable lack of information on the specific ­issues of bilingual competence and the influence of Romani language on the struc- ture of the Czech language as it is used by the pupils (and their parents). Romani courses, especially if organized in such a way that Romani becomes part of the lan- guage landscape of the schools, have the potential of changing the stereotypical atti- tudes towards Romani or at least open up new ways of thinking about the language.

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Peter Stöger

Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus päda­- gogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

1. Verortungen und eine Leiter aus Geduld

Heimat ist eine Suche nach einem Ort, um „zuhause zu sein“. Heimat ist wohl ein „Et- was“, wo Menschen Vertrautes finden oder sich ein „Etwas“ vertraut machen, in einer Gemeinschaft wie der der Roma, Sinti, Jenischen etc., in einer Familie, in einer (Seelen-) Landschaft (das kann auch eine er-fahrene Landschaft sein, ganz ohne Romantisierungen). Heimat heißt auch Vertrautsein in einem Wortklang (z. B. dem der Romasprache), in Farben oder Tönen, in Sitte und Brauchtum, in dem von den Vorfahren Ererbten. Sie berührt die Kultur des Erinnerns und der Gastfreundschaft und damit Innerstes. Manchmal wird Heimat auch „auf Kosten von anderen“ definiert (die Geschichte der Roma, Sinti, Jenischen zeigt es und wird zu einer Geschichte von Ausgrenzung). Auch die Missbrauchsgeschichte von Heimat ist alt. Sollen wir das Wort nicht mehr gebrauchen? Jenes Wort, das wie Gott und die Liebe zu den am meisten traktierten gehört. Aber, wenn wir all die Worte nicht mehr gebrauchen, die schon einmal missbraucht worden sind, dann stehen wir schnell einmal sprachlos da. Über Fremde und Heimat nachzudenken bedeutet auch Trauerarbeit. Geschieht dies nicht, wird „Heimat“ zu einem starren, aus- beuterischen Begriff. Dazu braucht es dann das Konstrukt der „Fremden“ und die müssen nicht von „aus- wärts“ kommen. Fremdes und Fremde liegen nur zu oft im „eigenen“ Land (im „Inland“, dort, wo „Ausland“, eli-lanti [= Elend], wo ali-lanti [= Ausland], so scheint es, „nicht mehr da ist“). Zentral zu rücken gilt es ein Herzstück der Wertepädagogik: die Kultur des Erinnerns. „Begegnung-Vergegnung“ (im Buber’schen Sinne) öffnet Türen, um über Authentizität versus Entfremdung, auch in Bezug auf Roma und Jenische, nachzudenken. In der Tiefe

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sind wir eigen-fremd und fremd-eigen, sind wir „eigentlich fremd“. Das Eigene und das Fremde treffen sich in Jedem und sind die Webe menschlicher Existenz. Das Fremde muss nicht in der Fremde sein, es kann allernächst sein. Hier und an- derswo. Auch der Fremde muss nur fern genug sein, dann kann auch der Rom Nachbar oder die Jenische Nachbarin sein. Fremd in der Heimat zu sein, in der Fremde Heimat zu suchen, das begegnet uns als ein uraltes Thema von Erinnerungs-Not und Erinnerungs- Not-Wende. Allemal haben wir es mit Verhüllungen, mit Verschleierung der Memoria zu tun. Das Fremde, (kulturell) Differente ist besonders oft und gern verhüllt worden. Man- che Techniken grell-schein-werfender Beleuchtung tragen zur Verhüllung der Thematik bei. Die „Fremde“ der Roma bzw. der Jenischen hat viele Gesichter. Zum einen ist sie Bild für Ersehntes („Wie schön doch die Romageigen weinen!“) und/oder für gefürchtet Unbekanntes. Kartographien sind auch eine Memoria der Abmessung von Entfernungen einschließ- lich aller Vermessenheiten, Sehnsüchte und Ängste nach Rändern hin auszuweiten, um eben diese Ränder als unbekannte Gebiete einheimisch zu machen, sie zu be-fremden bzw. sie, eine Variante davon, zu exotisieren, wo keine „kulturelle Differenz“ übergestülpt wird bzw. sympathisch gemacht wird. So begegnen sie uns, die von einer selbsternannten Mehrheit zu Anderen-, zu Außen- seitigen-Gemachten, die different-bestimmten Roma und Jenischen. Zwischen Außenseitern und Außenseitigen ist eine Differenz. Denn ein Außenseitiger könnte nach dem Innenseitigen zu fragen beginnen, also nach den eigenen Marginali- sierungen, etwa im eigenen Land (die Geschichte der Jenischen ist eben ein Stück Wirt- schaftsgeschichte), aber auch in der eigenen Person. Es gibt sie, die weiß-schwarzen schnee-blinden Flecken in der Tiroler Landesgeschich- te wie eine „terra incognita“, flirrig, blendend-verblendet-schön und gleißend-hässlich. Weißer Fleck und blinder Fleck scheinen auf Wahlverwandtschaft, jedenfalls auf Berüh- rungsflächen zu deuten. Bohleber spricht von Vermischungsängsten, das Fremde im Eigenen wahrzunehmen.1 Nicht nur fremde Andere, auch (ja fast mehr noch) die „eigenen Fremden“ scheinen Angst zu machen. Vorurteilsrasterungen gegenüber Roma und Jenischen illustrieren es.

1 Werner Bohleber, Nationalismus, Fremdenhaß und Antisemitismus. Psychoanalytische Überlegungen, in: Psyche, XLVI (1992), S. 689–709, hier S. 705.

206 Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

Sie lösen bei manchen Vermischungs-, ja Vernichtungsängste aus. Das trifft je nach kon- junkturellen Vorurteilungsschwankungen mal die, mal jene. „Die rassistische Spielart die- ser Vermischungsängste hat im nationalsozialistischen Deutschland mit der Vorstellung der ‚Reinheit des Blutes‘“ (…), so Bohleber, „Tod und Vernichtung gebracht.“2 Die Verfolgungsgeschichte gegenüber Roma und Sinti zeigt es. Blindheit regiert eine seelische Schneeblindheit, spricht „fremden“ Roma, Jenischen einen miteinander geteil- ten heimatlichen Boden ab, dem Gegenüber, was in mir selbst fremd ist. Julia Kristeva gibt zu bedenken: „Fremde sind wir uns selbst.“ Ziegler und Konnonier-Finster schrei- ben vom österreichischen Gedächtnis (2000) und so spricht denn Peter Gstettner von der Notwendigkeit der „Rückholung des österreichischen Gedächtnisses“3, zu dem kon- stitutionell und selbst verstanden Roma und Jenische gehören. Das Eingedenksein hat mit besagter Trauer zu tun. Und wer trauert schon gerne und noch dazu freiwillig, wenn es um Rückholen von Verlorenem, von Innerlichem (von Er-Innerlichtem) geht. Da mag sein, dass die „fremdesten Fremden“ noch urvertraut sind. Der eigene Randständige ist oft schlechter dran als der ferne Fremde, eben weil er dem Gedächtnis näher ferne ist. Die Ausspiegelungen von sehnsuchtsvollem oder ab- scheulichem Eigenen zu Fremdem hin ist ein altes Thema. Wir bewegen uns an Fragen von Definitionsmächtigkeiten, Diskursen der Macht, an Redesorten, an all dem, was zu schrill, einem zu lähmenden Schweigen abdrängt. Als besonderes Thema taucht hierbei die Sündenbockdiskussion auf. Ich verweise auf das Werk von René Girard und die Rezipierung bei Raymund Schwager, der an Inns- brucks Theologischer Fakultät gelehrt hat. Es sind gerade jene Ängste, die als „schlum- mernde Ängste“ bezeichnet werden können, Ängste, die ob ihrer Irrlichtigkeit besonders gefährlich sind. Einerseits sind die Ängste geweckt, anderseits werden sie auch wieder beruhigt und durch (oft „oberflächlichste“) Ablenkungen gedämpft. Menschen, die Kinder stehlen bzw. massakrieren, gehören zur Topposition an Feind- bildgenerierung und so überrascht es nicht, wenn dieses Sujet als Diapositiv bei Roma (wie auch bei Juden) auftaucht(e). Hier und an vielen anderen Beispielen zeigt sich: Es gibt Menschen, die geradezu ein Bedürfnis nach Bedrohung haben, so als wäre das ihr

2 Ebd. 3 Peter Gstettner, Lernort Mauthausen? Oder: Gelingt am Ort der Täter und Opfer die Rückholung des österreichi- schen Gedächtnisses?, in: Elke Renner/Josef Seiter/Johannes Zuber (Hg.), Erinnerungskultur. Zur Rückholung des österreichischen Gedächtnisses, Schulheft, 86 (1996), S. 9–25, hier S. 9.

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Lebenselixier. Larcher: „Je schwieriger es wird, Identität und Solidarität zu entwickeln, desto notwendiger werden Feinde.“4 Das ist auch einer der wichtigsten Gründe für die Stabilität von Vorurteilen Roma und Jenischen gegenüber. Vorurteile sind robust und äußerst widerstandsfähig. Je öfter sie gebraucht werden, desto brutal-behaglicher nisten sie sich ein. Völlig resistent sind sie gegenüber Fakten.5 Schon Allport, der Vater der Vorurteilsforschung, verwies auf das Bonmot, dass es leich- ter sei ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil.6 Zudem gilt noch immer das geflügelte Wort von Karl Kraus: „Meine Vorurteile sind gefasst, verwirren Sie mich nicht durch Tatsachen!“ Die Fiktion eines Mehr-wert-Seins gegenüber Roma, Jenischen und ande- ren verschafft solchen, die unter Minderwertigkeitskomplexen (Alfred Adler) leiden, eine gewisse „Höherstellung“ ihrer Person. Ja, Feindbilder scheinen Nährstoff zu sein, der lebendig erhält, dem Leben „Sinn“ und „Aufschwung“ verleiht. Die Vorurteile haben den „Vorteil“, dass die Angst ausgerichtet wird, sodass die Aggression weiß, auf wen sie abzielen kann. Der Feind bekommt in dieser Weise seine Passform, er wird „passend“ gemacht. Die Angst weiß nun, wo sie möglichst günstig „parken“ kann. So paradox es ist, fast scheint es so, als gäben Vorurteile einen heimatlichen Boden gerade dadurch, dass anderen Heimat entrissen ist. Ob die Angst vor dem Fremden eine Variante der Todes- angst ist, wenn das Fremdeste vom Fremden eintritt? Aber sagt dann der Volksmund nicht: Jetzt ist sie/ist er „heimgegangen“? Quasi – diese Todesangstnähe verleiht eine Adhäsionskraft, am Vorurteil zu bleiben, wie an dem berühmten lebensrettenden Strohhalm. Oder, wie Metzger es ausdrückt: „Ein Mensch, der einem Vorurteil verfallen ist, verteidigt es wie ein Vogel sein Junges. Es verhält sich, als ob er in Gefahr wäre, etwas Unentbehrliches zu verlieren.“7 Und das kann nur das Leben sein. Dem Leben zum Leben zu verhelfen, durch Abbau von Vorurteilen anderen gegenüber kann lebensgefährlich sein. Die selektive Auf- bzw. Un- aufmerksamkeit Jenischen, kurzum Anderen gegenüber (warum immer sie anders sind als die Anderen scheinbar nicht anders sind) ist Part, um änderungsresistent zu bleiben, denn alles andere könnte ja bedrohlich werden. Am Rande: Es waren auch die Hebam- men, die in der Zeit der Hexenverfolgung besonders gefährdet waren.

4 Dietmar Larcher, Fremde in der Nähe. Interkulturelle Bildung und Erziehung im zweisprachigen Kärnten, im drei- sprachigen Südtirol, im vielsprachigen Österreich, Klagenfurt/Celovec 1991, S. 52. 5 Lars-Eric Petersen/Bernd Six, Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interven- tionen, Weinheim/Basel 2008, S. 271. 6 Gordon Willard Allport, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971, S. 11. 7 Wolfgang Metzger, Vom Vorurteil zur Toleranz, Darmstadt ²1976, S. 31.

208 Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

Engstens mit alledem verknüpft ist das Thema der Stigmatisierungen von Roma, Sin- ti und Jenischen. Wertvolles hat auch Dietmar Larcher beigetragen. (Für die Jenischen tat es z. B. in besonderer Weise Romed Mungenast.) Tatsächlich gibt es konjunkturelle Vorurteilsschwankungen (je nach politischer Großwetterlage), und Jean Paul ­Sartres Be- merkung: „Gäbe es keine Juden, müsste man sie erfinden“, ließe sich auch auf Roma abwandeln. Vorurteilsbeharrung ist eine Variante extremer Lieblosigkeit, aber sie scheint für lieblos gewordene Menschen, die ihre Liebe nur mehr parzelliert oder überhaupt nicht mehr weitergeben können, elementare Lebens-, ja Überlebensbedürfnisse zu be- friedigen. Eingeschliffene Wahrnehmungsmusterungen verhindern das Ankommen sachlicher, das Leben befreiender Informationen über Roma und Jenische. Diese Mus- terungen sind uralt und können oft darauf verweisen, wo ein Kind einmal innerseelisch im Exil war. Allemal sind die drei Stränge gebündelt: Sündenbock, Stigmatisierung und Vorurteil. Dichten tun ja nicht nur die Dichter, sondern auch die Klempner. Besonders gut dichten, dicht-machen können die Vorurteilsträger, denn sie dichten sich selbst ab von einer ernannten fremden Umgebung von Roma und Jenischen. Sie machen dicht, um ihre eigene Heimat „auf Kosten von“ zu retten. Das Bewusstsein ist solcherart „für neue Erfahrungen ‚abgedichtet‘“.8 Dies alles nun gemahnt, die Erinnerungskultur als einen Kern pädagogisch sinnvollen Handelns zu erachten. Notwendig ist es auch, niederschwellige Angebote zu schaffen, Nachbarn einzuladen, Hilfe zu leisten, im Arztzimmer zu reden, den Dialog von unten her, freilich auch mit einem Höchstmaß an Frustrationstoleranz bauen zu helfen, niemals die „Leitern aus Geduld“ (Rumi) zu vergessen. In dem Maße als es gelingt, dass ein Vor- urteilsträger lernt, eigene Wünsche, Sorgen, Ängste, Verlassenheiten zu buchstabieren, ist ein Funke Hoffnung gegeben, „die Blindheit aufzuhellen, die nur zu oft die Grundlage unserer Selbstsicherheit ist“.9 Tiefstliegende Ohnmachtserfahrungen werden gerne mit Allmachtsphantasien kom- pensiert, allmächtig zu sein, die „bösen Roma, Jenischen etc.“ hinauszujagen. Tiefstliegen- de Kränkungen kompensieren sich durch den Groll, ja durch den Vernichtungswunsch diesen Anderen gegenüber (was immer, wie erwähnt, das heißen mag, dass ein Anderer, ein Rom, ein Jenischer nun anders sei). Offen liegt: Frühe und früheste Erfahrungen an

8 Hans Nicklas/Änne Ostermann, Vorurteile und Feindbilder, München/Wien 1976, S. 39. 9 Ebd. S. 41.

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Erziehungsmustern sind oft vorurteilsgenerierend. Ahlheim fasst es zusammen: „Vorur- teile kommen nicht von allein.“10 Selbstbesinnung und auch Trauerarbeit wären angesagt, erst dann kann so etwas wie Frohsein am Leben durchbrechen, kann dem Leben zum Leben verholfen sein. Jemand, der dies tat, war Professor Karl Stojka, Österreichs bekannter Romakünstler, der vor einigen Jahren uns zugesagt hatte, bei seiner Ausstellungseröffnung an der Universität Innsbruck dabei zu sein. Er starb wenige Wochen vor der Eröffnung. Es wurde eine Ge- denkausstellung. Mit vierzehn Jahren hatte er bereits drei Konzentrationslager überlebt (er war als Elfjähriger aus dem Klassenraum heraus verhaftet worden), und doch strahlte er einen unbändigen Willen aus, dieses unser gemeinsames Leben durch Farbe, durch Zuspruch und durch Solidarität gedeihlicher und bunter werden zu lassen.

2. Die Jenischen

Wer sind sie, die Jenischen (in Tirol), despektierlich oft, ja meist „Karrner“ oder T(D)örcher oder auch (besonders im Raum Telfs) Lani(n)ger (die Lahn, gut genug, um gerade noch in „lanige“, d. h. lawinengefährdete Striche hineinbauen zu dürfen) genannt. Es waren und sind verarmte Landsleute, die, temporär oder auch für immer in erster Linie aus dem armutsgefährdeten Vinschgau kommend, sich in Nordtirol angesiedelt haben. Auf dem Karren war alles Hab und Gut. Der Karren wurde von den Ärmeren unter den Armen selbst gezogen. „Wohlhabendere“ hatten ein Pferd vorgespannt. Die Wanderschaft innerhalb Tirols begann meist im Frühjahr. Die Routen gingen von Telfs, Mötz, Haiming nach Nassereith und Reutte. Dort zweigten die Wege nach Oberbayern, nach Württemberg und ins Schwabenland ab. Eine weitere Route ging über den Arlberg nach Bludenz Richtung Bodensee. Dort trafen sie sich. Fremd waren sie nicht nur im fremden Land, fremd waren sie vor allem im eigenen Land. Im Ausland verdingten sie sich saisonal als Holzfäller, Flößer, Käsezieher, Kupferschmiede, Glasarbeiter usw. In Tirol zog man vor allem in den bevölkerungsdichteren Gegenden, in der Inntalfur- che umher, dort herrschte freilich auch Armut. Manche hatten nur ein „Loatawagele“, manchmal einen Hund vorgespannt. Spannungen waren vorprogrammiert, Vorurteile ta-

10 Klaus Ahlheim/Bardo Heger, Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit, Handreichung für die politische Bildung. Schwalbach 1999, S. 8.

210 Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

ten ihr Übriges. „Streiten wie die Karrner“, ein Ausdruck, der zum Standardrepertoire manches „gestandenen Tirolers“ gehört. Sie flickten Pfannen und Regenschirme, betätig- ten sich als Taglöhner und Hausierer ... Sie blieben zwei, drei Tage und fuhren ab. Taten sie es nicht schnell genug, „fuhr“ man „mit ihnen ab“. Manch einer bettelte. Gelagert wurde in ganz Tirol an verstreuten Plätzen – oft auch in Höhlen. Gerald Nitsches Atelier im „Karrnerwaldele“ (Landeck) erinnert daran. Die meist frequentierten Lagerplätze waren das Inzinger Moos, die Mötzer Klamm, die Schli(e)renzau in Haiming und Brennbichl bei Imst. Mit viel Glück fanden die Jenischen auch Arbeit – oft bei Bauern. Dann kam es – selten genug – vor, dass sie im Stall übernachten durften. Mit der Gründung einer neuen Familie galt es, selbstständig zu werden und einen neuen Karren zu beziehen. Der Groß- teil der Arbeitsfähigen verließ im Frühjahr den Winterplatz und zog als Saisonarbeiter weg. Die Rückkehr war zu Herbstende. Beliebt war der Tauschhandel. Gerne wurden bspw. Flechtarbeiten und Körbe gegen Fett oder Schmalz eingetauscht. Auch Dienstleistungen wie Äpfelpflücken waren im Angebot. D. h., so manche taten dies, was in Südtirol die verballhornten „Marocchini“ oder polnische Saisonarbeiter tun. Die Jenischen waren überwiegend aus den Dörfern Stilfs, Prad, Tartsch und Laatsch nach Nordtirol gekommen. Das überbevölkerte Stilfs war das klassische Fuhrmänner- dorf. Umstände der Verarmung waren die Auflassung der Bergwerke, der Franzosen- einfall (1799), später der Verkauf des Schmelzwerkes in Prad durch die Bayern (1805). Ein Übriges tat der Dorfbrand 1862. Wichtige Kontakte blieben bestehen und so kamen viele im Winter zurück nach Hause. Die sesshaft Gebliebenen, die „Einheimischen der Einheimischen“ betrachteten sie meist scheel. „Draußen“ waren sie nicht zuhause und „drinnen“ auch nicht. Manches erinnert an die nicht unbedingt freundlich ­„Almanci“ (die Deutschen) genannten Migranten, wenn sie auf Heimaturlaub in der Türkei sind. Über die Herkunft der verarmten Landsleute gibt es verschiedene, z. T. sehr unglaub- würdige Theorien (z. B. sie wären ein Unterstamm der Roma).11 Sie sind im Gesamten gesehen, denn Verarmte gab es auch anderswo, mitteleuropäischer Herkunft. Zu ihrem Schutz entwickelten sie eine konstitutiv eigene Sprache, das „Jenische“. So konnten sie sich mit ihresgleichen in Mitteldeutschland, in Tirol oder in Niederösterreich und an- derswo verständigen. Z. B. kennen wir die Wörter Hegel (Männer), Pille (Heustadel),

11 Waltraud Kreidl, Karrner, in: Erziehung heute, 4 (1990), S. 8–12, hier S. 10f.

211 Peter Stöger

Gosch’n (Mund), Frotz’n (Kinder), Wix (Schläge), Grindt (Kopf), neathn (schwer arbei- ten), Kohldampf (Hunger).12 In der Sprache der NS-Zeit wurden Jenische – wie die Bettler, die sogenannten Land- streicher, Landfahrer und die „Zigeuner“ – als „Volksschädlinge“ bezeichnet. So wie viele Roma und Sinti wurden auch Jenische zur „vorbeugenden Verbrechensbekämp- fung“ verhaftet oder kamen „auf Transport“.13 „Mit verbrecherischer Akribie wurde ein sogenanntes ‚rassenbiologisches Material’ Zug um Zug überprüft.“14 In der Erforschung dieser Umstände hat Elisabeth Grosinger wichtige Arbeit geleistet.15 Ansässig wurden Jenische erst im Zuge der allgemeinen wirtschaftlichen Entwick- lung.16 Repressionen taten ein Übriges. In der Schweiz sind Jenische in einem Dach- verband zusammengeschlossen, ihre Zeitung heißt „Scharotl“ (Wohnwagen). Die Men- schenrechtsverletzungen an ihnen sind unübersehbar. Eine unrühmliche Rolle spielte da- bei die Schweizer „Pro Juventute“. Sie stand dahinter, dass zwischen 1926 und 1972 mehr als 700 Kinder den Eltern entrissen und in Heime gebracht wurden (aufschlussreich ist die Verfilmung „Kinder der Landstraße“). Auch hier gilt der viel zitierte Satz: „Eine Gesellschaft ist immer nur so gut, wie sie sich ihren Minderheiten gegenüber verhält.“17 In den Vorurteilskategorien der „Eingesessenen“ (der auf ihre Vorurteile Versessenen und von ihnen nur zu oft Besessene) galten sie als arbeitsscheue Landstreicher. Das Wis- sen um sie – auch das historische und wirtschaftssoziologische Wissen über Ursachen, sich den Lebensunterhalt so und nicht anders verdienen zu können – ist gering. Zu- dem: So manche(r) verwendet das Schimpfwort „Karrner“ und weiß gar nicht, welches Wort er/sie gebraucht. Verhängnisvoll ist eine bald nach dem Krieg erschienene, dem Sprachgebrauch in der NS-Zeit verwandte Schrift von Armand Mergen: „Die Tiroler Karrner“. Der Untertitel ist verräterisch: „Kriminologische und kriminalbiologische

12 An dieser Stelle sei auf die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen von Heidi Schleich in ihrem Standardwerk ver- wiesen: Heidi Schleich, Das Jenische in Tirol. Sprache und Geschichte der Karrner, Laninger, Dörcher, Landeck ²2003. 13 Kreidl, Karrner, S. 9. 14 Ebd. 15 Elisabeth Maria Grosinger, Rassenhygiene – eine „politisierte Wissenschaft“ – mit HauptAUGENmerk auf die bur- genländischen ROMA. Frankfurt a. M. u. a. 1998; dieselbe, ROMA und JENISCHE im SPIEGEL ihrer Zeit – eine vergleichende Studie, Dissertation, Innsbruck 2003; dieselbe, Erfahrungen und Erlebnisse einer Nichtromni mit Roma im Burgenland, in: Kontakte, XIV, 2 (1996), S. 32–53. 16 Gerald Kurdoğlu Nitsche (Hg.), Brücken. Ein interkulturelles Lesebuch. 1. bis 4. Klasse Hauptschule und allgemein- bildende höhere Schule, Wien 1995, S. 42. 17 Paul Rösch, zitiert in: Annamaria Grüner, Heimat – unter besonderer Berücksichtigung der Bergbauern- und Berg- bäuerinnensituation im Vinschgau (Überlegungen zu Identität und Tradition), Diplomarbeit, Innsbruck 1995, S. 98.

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Studien an Landfahrern (Jenischen)“, 1949 in der Reihe „Studien zur Soziologie“ in Mainz erschienen. Nennenswert sind einige Ansätze – vor allem auf literarischem Gebiet, so bei Romed Mungenast aus Zams – die Kultur der Jenischen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Zeitschrift „Erziehung heute“ (Innsbruck) widmete 1990/4 ein Heft diesem The- menschwerpunkt. Man glaubte, durch die weitgehende Erschwernis von Ehen unter den so betitelten „Karrnersleuten“ Kultur und Lebensweise zum Verschwinden bringen zu können. So konnte z. B. der trauende Priester ohne behördliche Bewilligung das Eheversprechen nicht abnehmen. So mancher zog es vor, mit seiner Braut nach Rom „auszureißen“, um dort zu heiraten, weil diese Eheschließung außerhalb der Bewilligungsverpflichtung stand. Mit dem Erwerb von Grund und Boden wurden Jenische sesshaft. Einige (wenige) blieben Fahrende ohne festen Wohnsitz. Sie waren es dann auch, die an den eigenen Gebräuchen in besonderer Weise festhielten. Nach dem Ersten Weltkrieg sind viele ausgewandert. Die im Land Tirol Verbliebenen sahen sich ab 1938 mehr und mehr gezwungen, ihre bisherigen Wandertätigkeiten aufge- ben zu müssen, etwas, was sie – nicht nur in Tirol – mit den Roma teilten. Nun mussten sie meist in abgewohnten Quartieren Wohnung nehmen. Die ursprünglichen „Karrner“ wurden schnell mit anderen Mitbewohnern der sozialen Unterschicht in einen Topf ge- worfen. Sie waren allesamt „Karrner“ oder „Rattler“ – (ein schimpfliches Innsbrucker Wort). Schon früh wusste ein Innsbrucker oder ein Telfer Kind, dass es sich mit diesen aus dem Pradler Saggen, aus der Reichenau oder aus Moos vor Telfs nicht anfreunden dürfe. Sein Lebenscredo fasste Romed Mungenast in dem Gedicht „An Dich, mein Leben“ zusammen, das er anlässlich der Verleihungsfeier zu seinem Professorentitel vorlas. In einem Passus heißt es:

Das Loch im Grenzzaun entdeckte ich zufällig, und meine Neugier – war grenzenlos. Auf allen vieren kroch ich durch und meine Seele schaute gelobtes Land.

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3. Von Roma und Sinti

Noch einige Bemerkungen zu Roma und Sinti – skizzenhaft und atmosphärisch. Eine Südtirolerin schrieb mir von der Schulzeit:

In der Mittelschule besuchten wir Kinder mit einer Lehrerin das Zigeunerla- ger bei Brixen, wir unterhielten uns mit den Leuten. Es nahm mir einen Teil der Angst, und gleichzeitig verloren sie auch etwas von ihrer Faszination, die sie für mich gehabt hatten. (I. P.)

Hier steht ein Mehr an Information dem wohligen Gefühl an Exotismus entgegen. Das Verhältnis der Tiroler zu den Sinti und Roma zeigt die ganze Vorurteilspalette, jemanden fremd zu machen und auf das Fremde hin ein- bzw. auszugrenzen. Noch 1978 konnte in der „Tiroler Tageszeitung“ unter dem Titel „Gegen Zigeuner und Schmutz“ folgende Notiz erscheinen:

Über 100 Geschäftsleute, Hoteliers, Gastwirte und andere Meraner Bürger haben an den Bürgermeister ihrer Stadt eine Petition gerichtet, damit er Maß- nahmen gegen Zigeuner, Hundeschmutz und andere Vorkommnisse ergreife, die die Meraner Innenstadt verunzieren.18

Die Geschichte der Roma ist eine sich durch Jahrhunderte heraufziehende Geschichte des Bemühens, die Identität und Eigenständigkeit zu bewahren. Es ist aber auch eine Geschichte der Verfolgung, des Nicht-Verstehens und des absichtlichen Miss-Verstehens seitens derer, die die Definitionsmacht in Anspruch nehmen zu bestimmen, wer zu einer Mehrheit und wer zu einer Minderheit gehörig ist. Immer wieder gab und gibt es Versu- che, Roma und Sinti in die „Zivilisation“ – was eben diese Mehrheit darunter versteht – einzubinden. Ihre Kultur wurde/wird als primitiv erachtet. „Vertreibung und Verfolgung wurden vom Zwang zur Seßhaftigkeit und Assimilation abgelöst.“19 Alle Maßnahmen waren Regulative, um ihre persönliche Souveränität im Keim zu ersticken. Am Beispiel der Minderheiten lässt sich gut ablesen, dass der koloniale Mechanismus nicht nur in

18 Tiroler Tageszeitung, 23.2.1978, S. 3. 19 Martha Verdorfer, „Wehren hast du dich nicht können ...“. Der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma, in: Skolast – Zeitschrift der Südtiroler HochschülerInnenschaft, XXXIX, 3–4 (1995), S. 16–22, hier S. 17.

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die Ferne ging, sondern auch intern – innerhalb der Machtbereiche der Herrscher und Landesfürsten – Geltung und Wirkung hatte. Kolonialismus ist somit nicht exportiert worden. Er ist vielmehr ein strukturelles Prinzip von Mehrheiten gegenüber Minderhei- ten (geblieben) – einschließlich der damals wie heute gültigen und auch die Roma berüh- renden Globalisierungstendenzen. Es gibt einen traurigen Innsbruck-spezifischen Aspekt: Die „Rassenhygienische und Erbbiologische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes“ Tiergartenstraße 4 in Ber- lin unter der Leitung des Psychiaters Robert Ritter hatte in der Müllerstraße in Innsbruck eine Dependance. „Forscher“ leisteten dort kooperative Arbeit für die späteren Sterilisa- tionspläne und Einweisungen für die Sonderbehandlung als „Volksschädlinge“. Im Folgenden die Einschränkung auf einige wenige Spezifika: Der „Zigeunererlass“ vom 8. Dezember 1938 ordnete die Registrierung der Roma und Sinti für den weiteren Erkennungsdienst an. Sie hatten sich einer „rassenbiologischen Untersuchung“ zu stel- len. Ein 1939 gegebener „Umsiedlungserlass“ (zirka 30.000 Roma und Sinti sollten nach Polen deportiert werden) wurde vorerst durch den Krieg durchkreuzt. Tatsächlich kamen sie dann, die Transporte in die KZ’s. 1938 lebten rund 11.000 Roma und Sinti (Sinte) – zirka 8.000 Roma und 3.000 Sinti – in Österreich.20 Mit dem „Anschluss“ wurden alle Regelungen auch für die österreichi- schen Roma und Sinti wirksam. Viele wurden im Juni 1939 im Rahmen einer konzen- trierten Aktion in die Konzentrationslager Dachau und Ravensbrück deportiert, aber auch in den eigens für „Zigeuner“ errichteten Sammellagern inhaftiert, z. B. in Hopfgar- ten im Brixental. Im Frühjahr 1943 begannen die Transporte nach Auschwitz. Dort, im Birkenauer Zigeunerlager, waren zwischen dem 31. März 1943 und dem 2. August 1944 2.900 österreichische Roma und Sinti inhaftiert (42 Prozent davon waren Kinder). Eini- ge wenige wurden vor Auflösung dieses Lagerabschnittes für Arbeitseinsätze selektiert. Insgesamt haben maximal 1.000 bis 1.500 österreichische Roma/Sinti die NS-Verfolgung überlebt.21 Nach der Einrichtung eines polizeilichen Durchgangslagers in Bozen wurden dort – ab Sommer 1944 – auch Roma und Sinti interniert. Dieses Lager war praktisch ein

20 Erika Thurner, Sinti und Roma wollen heute in Österreich leben, in: Sturzflüge, 5, Beiheft zu 18 (1987), Themenheft: Vorurteile in Tirol, S. 53–60, hier S. 54. 21 Mirella Karpati, Der Völkermord an den Zigeunern, in: Mirella Karpati (Hg.), Sinti und Roma. Gestern und heute. Rom/Bozen 1993, S. 38–70, hier S. 46. Durch spätere Forschungen wurden Deportations- und Todesziffern nach oben korrigiert. Vgl.: Historikerkommission der Republik Österreich (Hg.): Florian Freund/Gerhard Baumgartner/ Harald Greifeneder, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, Wien 2002, S. 49–54.

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Sammellager, es war nur für kurzfristige Anhaltungen geplant. Die, die hierher gebracht wurden, Juden, Roma und Sinti, wurden sehr bald in die Vernichtungslager abgeschoben. Ganze Familien warteten in diesem Vorhof der Vernichtung. Nicht nur Südtiroler betraf dies. Auch Romafamilien aus den übrigen Teilen Italiens und spanische Roma waren in Bozen eingesperrt. Thurner schreibt, dass viele Südtiroler Sinti im Grenzgebiet zu Österreich verhaftet worden sind:

Für sie begann der Holocaust auf österreichischem Gebiet. Sie wurden zu- nächst ins Zigeunerlager Lackenbach/Burgenland verschleppt und später von dort in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten deportiert. Viele haben nicht überlebt.22

Die meisten Roma und Sinti kamen in Chełmno (Kulmhof) und in Auschwitz, wo das „Zigeuner-Familienlager“ berühmt-berüchtigt war, um. In diesem Familienlager war die Todesrate wegen der hygienischen Bedingungen besonders hoch. Roma und Sinti wur- den separat untergebracht. Im wissenschaftlichen Diskurs, auch im literarischen Bereich, befassen sich mit Tirol- bezug zu den Roma bzw. Jenischen u. a.: Beate Eder-Jordan, Erika Thurner, Elisabeth Grosinger, Roman Spiss, Heidi Schleich, Oliver Seifert, Horst Schreiber, Martha Ver- dorfer, Mirella Karpati, Claudia Pergher, Romedius Mungenast, Paul Rösch, Luis Zagler, Luis Stefan Stecher und Gerald Kurdoğlu Nitsche mit seinem „EYE Literaturverlag – Literatur der Wenigerheiten“. Nach 1945 blieb die Geisteshaltung den vernichteten Minderheiten gegenüber bei vie- len gleich. Der Schoß blieb fruchtbar. Die „Anderen“ als Sündenböcke taxiert, um nicht zu sagen hofiert, jagen Angst ein – so wollen es manche (schäbig genug Politiker und Medien) glaubhaft machen. „Nur sehr widerwillig und mit großer Verspätung wurden sie als Opfer des Faschismus anerkannt, einigen wurde diese Anerkennung auch total verweigert.“23 Die Opferanerkennung nach dem Krieg war sehr schwierig. KZ-HeimkehrerInnen wurde viel Misstrauen entgegengebracht. Bewusstseinsbildungsprozesse dem gegen-

22 Erika Thurner, Die nationalsozialistische „Zigeunerlösung“ in der sogenannten „Ostmark“, in: Mirella Karpati, Sinti und Roma. Gestern und heute, S. 71–89, hier S. 71. 23 Martha Verdorfer, „Wehren hast du dich nicht können…“, S. 20.

216 Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

über, was geschehen war, blieben weitgehend aus. Manche meinten da, die Roma seien präventiv eingesperrt worden, damit sie nichts anstellen. Erst in den 1960er-Jahren wurden Wiedergutmachungs(!)renten in Österreich – und Deutschland – eingeräumt. Viele hatten Scheu vor der Bürokratie und suchten gar nicht an oder sie waren bereits gestorben. Damit hatte man natürlich kalkuliert. Langsam schlossen sich Roma und Sinti zusammen, um gemeinsam für Wiedergutmachung zu kämpfen. Manche sogenannte NS-Fachleute für Roma und Sinti konnten nach 1945 (z.B. als Ärzte) weiterarbeiten. Das Unrechtsbewusstsein scheint erst heute – mit der Enkelkindergeneration – größer zu werden. Dass es zugleich ein Anwachsen an Neonazi- Aktivitäten gibt, ist kein Widerspruch. Es bestätigt lediglich die Zunahme von an sich widersprüchlichen Bewegungen. Unsere Zeit ist vielfach durch die Beschleunigung von Gegensätzlichkeiten gekennzeichnet. Die Enkelkindergeneration von Roma und Sinti ist zunehmend an der Wahrheitsfindung dessen, was zur Zeit ihrer Großeltern passierte, interessiert. Nach 1945 war das neue Dogma ein wirtschaftliches: „Wiederaufbau“. Da blieb für das pädagogische Anliegen „Bewusstseinsbildung“ kein Platz. Claudia Pergher hat sich eingehend mit der Situation der Sinti und Roma in Südti- rol beschäftigt. Die meisten leben im Talkessel von Bozen, kleinere Gruppen in Meran, Brixen und Eppan. Insgesamt dürfte es, schreibt Pergher 1996, 360 Sinti in Südtirol geben („Einheimische“, haben sie die italienische Staatsbürgerschaft). Dazu kommen, haupt- sächlich im Raum Bozen, rund 400 Roma aus Mazedonien und Bosnien-Herzegowina.24 Bei den Aufteilungsplänen 1995 war wieder einmal Meran um seinen Ruf als Kurstadt besorgt. „Beim ‚Aufteilungsplan‘ werden nicht auf einem Reißbrett Figuren verstellt, sondern Kinder weggezerrt, Mütter und Väter in Polizeiautos geschoben, armselige Hüt- ten, die doch ein Stück Heimat waren, niedergerissen, kleine Welten zerstört.“25 1993, die Anerkennung der Roma in Österreich als Volksgruppe. In Südtirol pas- sierte Skandalöses: Stadtrat Atz schaffte „nicht trotz, sondern dank seines Satzes vom ‚Derschlagen und Vergasen‘ der Zigeuner den Sprung in den Landtag (…)“26, er fährt zugleich den zweithöchsten Vorzugsstimmenanteil seiner Partei ein.

24 Claudia Pergher, An den Rand gedrängt. Die Kontinuität der Verfolgung und Diskriminierung der Sinti und Roma in ihrer Geschichte im allgemeinen und in ihrer Gegenwart in Südtirol im besonderen. Von Ängsten, Vorurteilen und möglicher Begegnung, Diplomarbeit, Innsbruck 1996. 25 Hans Karl Peterlini, zitiert in: Pergher, An den Rand gedrängt, S. 38. 26 Verdorfer, „Wehren hast du dich nicht können ...“, S. 21.

217 Peter Stöger

Die Ortsgruppe Bruneck der „Freiheitlichen“ schreibt zur Bürgermeisterwahl 1995 „Wollt ihr (…) kein Zigeunerlager (…) – die Lösung der Parkprobleme (...) – keinen ständigen Verkehrsstau – einen besseren Skibus (...), dann wählt (...)“.27 Sinti tauchen auf als „Gemeindeproblem“ in einer Reihe mit Skibus, Parkproblemen und Verkehrsstau ... Es erinnert so sehr an die eingangs erwähnte Notiz aus der Tiroler Tageszeitung. Gerne und immer wieder wird von Tirol als künftiger Europaregion ge- sprochen. Dieses „Europa im Kleinen“ scheint aber intern dichte Grenzen zu haben. Ein Romaschicksal, mit Tirol verbunden, ist Sidonie Adlersburg. Ihr hat Erich Hackl „Abschied von Sidonie“ gewidmet. Er schildert das kurze Glück bei „arischen“ Pflegeel- tern. Sidonie kam, den Eltern geraubt, in das Barackenlager „Kühle Luft“ nach Hopfgar- ten. Dort war Sidonies Mutter Maria Berger, staatenlos, ledig, ohne Beruf. Beide kamen über Innsbruck nach Auschwitz. Die Pflegemutter meinte: „Das ist so ein Herzweh. So ein Herzweh ist das.“28 Pflegevater Hans Breirather starb 1989. Auschwitz: Ein Beispiel für die Wahrnehmung des Fremden durch die Brille einge- schliffener Vorurteile (symptomatisch für grenzenlosen Zynismus), aber auch ein Doku- ment für vernichtenden Paternalismus – der selbst das grellste Entsetzen noch freundlich umschreibt – lieferte Rudolf Höß. In seinen „Erinnerungen“ heißt es:

Ich habe bei den Zigeunern nie finstere, haßerfüllte Blicke beobachtet. Kam man ins Lager, so kamen sie sofort aus ihren Baracken, spielten ihre ­Instrumente, ließen ihre Kinder tanzen, machten ihre üblichen Kunst­ stückchen. Auch Krankheit und die hohe Sterblichkeit nahmen sie nicht so tragisch. (...) Sie spielten gerne, auch bei der Arbeit, die sie nie ganz ernst nah- men. Trotz der widrigen Verhältnisse hat das Gros der Zigeuner, so viel ich beobachten konnte, psychisch nicht besonders unter der Haft gelitten, wenn man von dem nun gefesselten Wandertrieb absieht.29

Höß blickt zurück – kein Grauen, nur „Wehmut“ ... Fast bekommt das Grauen eine Romantik, fast kommt Nostalgie auf. Wie konnten nur die Russen diese liebe Welt von Höß und Mengele durcheinander bringen und „die lieben Nachbarn“ auch noch befrei-

27 Bügermeisterwahl 1995, ungezeichnete Wahlschrift der Ortsgruppe Bruneck „Der Freiheitlichen“, fotomechanisch vervielfältigt 1995, ohne Paginierung. 28 Erich Hackl, Abschied von Sidonie, Zürich 1989, S. 120. 29 Rudolf Höß, zitiert in: Verdorfer, „Wehren hast du dich nicht können ...“, S. 19.

218 Fremde – Heimat und der Wert des Erinnerns aus pädagogischer Sicht in Bezug auf Roma, Sinti und Jenische

en! Auch nach dem Zusammenbruch blieb Höß bei seinen Vorurteilen, waren es doch so „liebe Leute“, die er in den Tod schickte. „Der Zynismus dieser Sichtweise hat eine Kontinuität, die über 1945 hinausreicht, ja geradezu bestimmend ist.“30

4. Die leise Stimme

Wir haben von all dem nichts gewusst. So heißt es oft. Das wird – an der Oberfläche betrachtet – auch stimmen. Denn etwas wissen heißt, sich für etwas interessieren. In- teressierte sich die Mehrheit, über Roma und Sinti, über Jenische, verschwundene Be- hinderte oder über Juden etwas in Erfahrung zu bringen? Das Nicht-Wissen hat mit Nicht-Wissen-Wollen zu tun. Es gibt eine selektive Aufmerksamkeit, gesuchtes Wissen in Erfahrung zu bringen. Und es gibt eine selektive Unaufmerksamkeit, ungewolltes Wissen nicht in Erfahrung bringen zu müssen. Wir wissen heute, dass es sehr wohl Informa­ tionskanäle gab. Eine tagespolitisch aktuelle Situation soll noch zur Sprache kommen: Es gibt ein Feindbildszenarium, das Roma, insbesondere aus Rumänien, in ein schiefes Licht rückt, in der Art, es seien Bettlerbanden, die die Innsbrucker Notschlafstelle belagern. Roma würden ihre Kinder zum organisierten Betteln einschleusen und dubiose Gewinne ein- streichen … Bei allem, was auch, aber eben nur auch, schiefläuft, ist Jussuf Windischer beizupflichten, wenn er sagt, dass Rassismus keine Antwort auf Notstände und „Hetze gegen Roma kein Problemlösungsansatz“ ist.31 Wie stellt sich die Situation, die sich auch in Tirol widerspiegelt, dar? Roma aus Frank- reich, der Slowakei, aus Italien werden drangsaliert und vertrieben. Besonders arg ist die Feindseligkeit der im ungarischen Parlament vertretenen Jobbik-Partei (Jobbik heißt „die Besseren“), auch die Mehrheitspartei „Fidesz-Partei“ fährt eine offen romafeindli- che Linie. Eine triste Arbeitssituation und eine Vertreibungspolitik gegen Roma sind die dunklen Farben in einem Europa, das sich selbst entwürdigt. Und dieses ausgehöhlte, mit Materialismus vollgestopfte, zugleich aber auf hohem Niveau armutsängstlich geworde- ne, vielfach seiner Werte entkernte Europa spiegelt sich auch in Tirol. Ja, Roma kommen nach Innsbruck, sie mieten sich Autos oder Busse und verkaufen

30 Verdorfer, ebd. 31 Aussendung der Initiative Minderheiten vom 30.11.2010.

219 Peter Stöger

den „20er“ (eine Obdachlosenzeitung), damit können sie über Wochen ihre Familien in der Slowakei und in anderen Orten ernähren. Eine Delegation des Integrationshauses in Innsbruck hat sie bereits in ihren Heimatdörfern besucht. Die Chancen, in den Her- kunftsländern bestehen und überleben zu können, sind vielerorts, nicht nur in der Slowa- kei, rapid gesunken. Die Hemmschwelle des Rassismus gegenüber den Roma ist niedrig geworden. Leserforen sind voll davon. Aber nur Jammern? Das Integrationshaus hat den Roma einen Wohncontainer zur Verfügung gestellt, weil es um all die Verelendungen weiß. Ich zitiere noch einmal Windi- scher, den früheren Leiter: „Primitive verurteilende Verallgemeinerungen und Vorurteile sind der Anfang des Rassismus. Rassismus ist ein schreckliches Gift für unsere Gesell- schaft. Im Namen der Rasse wurden Roma, Sinti und Juden schon einmal ermordet.“32 So gibt es sie, die Stimmen der Vernunft, der Mitmenschlichkeit und der Solidarität. Eine dieser Stimmen dürfen wir weiter tragen. Sie stammt von dem 2010 verstorbenen Lyriker Ilija Jovanović. Er hat sie in der „Initiative Minderheiten“ und im „Verein Roma- no Centro“ und weit darüber hinaus eingesetzt. Viele Stimmen sind in ihrer Tonart leise wie der beginnende Advent. Sie weben sich in die Flocken dieser Tage, weben sich als Silbersternchen hinein. Es sind Stimmen, die wis- sen, woher sie kommen. Denn, wie nannte es der spanische Roma-Dichter José Heredia Maya? „Yo nací hace milenios“ / „Geboren bin ich vor Jahrtausenden.“33

32 Ebd. 33 Beate Eder wählte diesen Vers als Titel für ihre Publikation: Geboren bin ich vor Jahrtausenden ... Bilderwelten in der Literatur der Roma und Sinti. Mit einem Vorwort von Erich Hackl, Klagenfurt/Celovec 1993. Das Gedicht Heredia Mayas wurde von Erich Hackl ins Deutsche übertragen: Erich Hackl, Zugvögel seit jeher. Freude und Not spanischer Zigeuner, Wien/Freiburg/Basel 1987, S. 12–14. Das spanische Original des Gedichts erschien in José Heredia Maya, Camelamos naquerar, Granada 1976, S. 14f.

220 Gerald Kurdoğlu Nitsche

Wir sind Fahrende

Dem Thema „Romani and Traveller Studies, Identitäten im Wandel“, Titel der Lehrver- anstaltung im Wintersemester 2010/2011, versuchte ich mich wissenschaftlich zu nähern, aber auch jetzt überwiegt das Emotionale. Wir leben im „Karrnerwaldele“ in Graf bei Landeck am Grünbach neben dem ­„Zigeunerwaldele“, alte Flurnamen – nur außerhalb der Ortschaften durften Fahrende ­lagern – der genius loci ist weiterhin wirksam – mein Fahrrad ist ein KTM traveller …! Unser Wortschatz, wenn nicht mit all seinen Bedeutungsgrundlagen irgendwo unauffind­bar gestrandet, ließe darauf schließen, dass unsere Vorfahren einst Fahrende waren, mit ihren Gefährten trotz Gefährdung gefahren sind, an Erfahrenheit gewannen, erfahrener wurden. Nur ist die Fährte, die Genealogie, die wichtige Erkenntnis bei der Spurensuche, der Stammbaum offenbar verloren gegangen, wenn wir, ihre Nachfahren, inzwischen sesshaft geworden, auf unseren Sesseln klebend fahrig werden, Gefahr darin sehen, einer anderen Lebensweise zu begegnen und am liebsten Verfahren gegen alles Fremde einleiten wollen, dann „österreich-t“ es mir. Der Karren scheint ziemlich verfahren, Verfolgungswahn wird zu implantieren versucht. So sind Karrner, Törcher, Laninger, Fahrende, Zigeuner, Travellers, … zu „Minder“heiten, gefährlichen Landstreichern, als „Tschiggarretierer“1 und „Mülltonnen-Schtrialer“2 dis- kreditiert, zu übelst beleumundeten, verabscheuungswürdigen Vagabunden, wildfremden Menschen, arbeitsscheuem Gesindel (eine ebenfalls zu hinterfragende Etymologie!), zu von und aus der Gesellschaft Verstoßenen geworden – Parianismus! Im Gedicht „Die Korrnr kemmen, hollawind …“, aus „Korrnrliadr“ vom Südtiroler Malerpoeten Luis ­Stefan Stecher kommt der Volksmund, kritisch beleuchtet, deutlich zu Wort: Karrner, Tör- cher, Zigeuner (für die Nazis: Ziehgauner) … sind zu Schimpfwörtern gewortet, gewor- den. Gauner geht etymologisch auf Jonier, Griechen zurück.

1 Kippensammler 2 Eine Person, die in Mülltonnen nach Brauchbarem sucht.

221 Gerald Kurdoğlu Nitsche

Xenophobie sei laut Österreichischem Wörterbuch Fremdenfeindlichkeit – nicht nur falsche Etymologie, auch grobschlächtige Bedeutungsverschlechterung, vor allem ein be- denklicher Mangel an Einfühlsamkeit – ist es ja auch ein Schulbuch! Es ist Fremdenangst: Man kann, darf sich fürchten, daraus muss aber nicht automatisch Feindschaft entstehen. Xenophilie ist laut einer neuen Statistik der „Presse“ im Minus; minus, mathema- tisch interpretiert: weniger – auf Alltags-Österreichisch: minder, minderwertig, also „Minder“heit. Die Forderung nach Assimilation mutiert immer mehr in Richtung RAssi- milation, völlige, geradezu kniefällige Anpassung – oder: „Haut ab! Verschwindet!“ Da- bei gab es bereits im 19. Jahrhundert in Europa Migrationsbewegungen von vielen Mil- lionen, die, um zu überleben, ihre Heimat in alle Windrichtungen verließen, nach Nord-, Süd-Amerika, Australien, … Tiroler zog es nach Pozuzo, Dreizehn Linden, Südamerika,3 bzw. in die Schweiz, ins Schwabenland, nach Ungarn, Frankreich, … Viele Burgenländer zog es in die USA; in Chicago soll es mehr Burgenländer geben als in ihrer alten Heimat – die Burgenland-Kroaten (Krowotn), dort seit mehr als 500 Jahren ansässig, und Ungarn, Roma und Sinti mitgezählt. Die Vertreibung der Protestanten aus dem Zillertal in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts (trotz des Toleranzpatents von Kaiser Josef II. aus dem Jahr 1781) zeigt einen anderen Aspekt, einen weiteren die Fluchtbewegung vor und zur Zeit der NS-Diktatur – und vice versa die „Heim ins Reich“-Option. Blättert man in alten Telefonbüchern, erkennt man, woher viele der Österreicher kom- men, ein Zuwanderungsland von alters her; in Wörterbüchern wird einem mit den vielen Lehn- und Fremdwörtern dasselbe bestätigt, z. B. unser Vater mit böhmischen Wurzeln ist als Sohn eines österreichischen Offiziers in Rumänien geboren, die Mutter in Berlin als Tochter eines Wiener Architekten auf Arbeitssuche, die ihn schließlich in Brasilien landen ließ. In meiner Vorlesung „Literatur der Wenigerheiten in Österreich“, 1993, 2000/2001 am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, eingeladen von Johann Holzner, belegte ich, dass österreichische Literatur nicht nur ein Teilbereich der Germanistik ist – 2008 noch deutlicher: in der Neuauflage „Neue österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch“4.

3 Bleiben oder Gehen. Die bewegte Geschichte des Tiroler Oberlandes, Dokumentation und Begleitbuch zur Ausstel- lung im Schloss Landeck, Texte: Michael Huter, Eva Lunger, Kurt Höretzeder, Bezirksmuseumsverein Landeck 2011. 4 Gerald Kurdoğlu Nitsche, Bruno Gitterle (Hg.), Neue österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch, Innsbruck/ Wien 2008, Gedichte in 32 Sprachen (mit Übersetzung) der autochthonen und neuen Minoritäten, von A bis Z, albanisch bis zimbrisch.

222 Wir sind Fahrende

In einer Vorarlberger Mittelschule wollte man einführen, dass Migranten-Kinder aus der Türkei in den Pausen und auf dem Schulhof nicht türkisch sprechen dürfen, bei Verstoß strafbar, was schließlich doch noch verhindert werden konnte. Dabei ist für den Erwerb einer Fremdsprache eine gefestigte muttersprachliche Basis eine gute Vorausset- zung, was ich in meinen Deutsch-Integrationskursen auch festgestellt habe. Die Begriffe haymat, haymatlos wurden zu neuen Fremdwörtern im Türkischen – woher sie kommen, leicht zu erraten! Weil es bei uns inzwischen außer Fremden-Verkehr (auch keine ausgesprochen sen- sible Wortwahl!) kaum noch Fahrende gibt, müssen, einst euphemistisch „Gast“Arbeiter genannt, vor allem und allen MigrantInnen aus islamischen Ländern, das nicht mehr ganz neue Feindbild, übel verallgemeinernd als „Islamisten“ (mit Reim-Assoziation zu Ter- roristen) abgestempelt, es ausbaden, die Suppe auslöffeln. Boulevard (frz. ursprünglich: Festungswerk)-Blätter und gewisse(nlose) Politiker wollen Wälle, Bollwerke errichten, siehe „Daham und nicht Islam!“, „Glockenklang, nicht Muezzin-Gesang!“, „Heimatliebe statt Marokkanerdiebe“, versuchen, daraus Kapital zu schlagen.5 Das ist kein Neofaschis- mus, es ist der alte! „A Zigeina mecht i sein mit rote Federn …“, eins meiner Lieblingslieder von André Heller, nicht nur aus musikalischen Gründen: Als Schüler der 1. Klasse Volksschule wurde ich gewarnt: „Pass auf, dort im Wald sind Zigeuner!“, was mich, durch den frühen Tod der Eltern selbst zum Zieh- und Wander- kind geworden, neugierig machte. Einige Jahre später, im mir noch unbekannten Tiroler Oberland glücklich sesshaft geworden, begann ich, Mundart-Wörter zu sammeln, eine Leidenschaft bis zum heutigen Tag. Ein großes Vorbild wurde mir an der Wiener Universität der Dialektforscher Eber- hard Kranzmayer (1897-1975). Ergebnis ist die Publikation: Miar Óuberländr ... Mundart aus dem Tiroler Oberland, hg. von Gerald Kurdoğlu Nitsche und Hannes Weinberger, Landeck: EYE-Verlag 2012. Spezielle Wortfunde reizen, die weitverzweigten Wurzeln freizulegen: vorgermanisch: keltisch, illyrisch, viele romanisch, aber auch jenisch, jiddisch, … ebenfalls bei Ortsna- men, z. B. Galtür (von rom. coltura, siehe: Coltura, Bergell im Kanton Graubünden, von lat. agricultura, Rodung, Landwirtschaft), was unsere Geschichte widerspiegelt. So viel zu Eigenem, jetzt zum Eigentlichen, wobei sich beides schwer trennen lässt!

5 Wahlwerbung der FPÖ.

223 Gerald Kurdoğlu Nitsche

Ende der 1980er-Jahre fragte ich Romedius Mungenast (1953–2006) aus Zams, der aus einer Familie stammte, deren Mitglieder als „Kårrner“ bezeichnet wurden, ob es aus dem Beruf seines Vaters, Besenbinder, Korbflechter, Pfannenflicker, … eigene Dialektaus­ drücke gäbe. Romed antwortete: „Mir håmm an eigene Språch, das Jenische!“ Jenisch heißt kundig, es ist bzw. war bis fast in die Gegenwart nicht verschriftlicht, eine Geheimsprache mit Leihgaben aus dem Jiddischen, Romanes und genialen eigenen Wortschöpfungen. Bald darauf bekam ich von Romed großartige Gedichte in Jenisch und Deutsch, die ich in die Minoritäten-Anthologie „Österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch“, Haymon-Verlag 1990, aufnahm – wohl die erste Veröffentlichung jenischer Lyrik in Ös- terreich, für mich die große literarische Entdeckung – so anscheinend auch vom S. Fi- scher-Verlag, Frankfurt, eingeschätzt, der Romeds Gedicht „Jenische Reminiszenzen“ in „Die schönsten Gedichte aus 25 Jahren“6, 2007, jenisch und deutsch als einziges Gedicht der Sammlung zweisprachig aufgenommen hat, ein Erfolg, den Romed Mungenast leider nicht mehr erleben konnte.

Romed Mungenast

A biberischer Ein kalter biberlingschein7 wintertag

I nasch Ich geh mit der maingg mit der mutter pfliagln betteln a grandiger kohldåmpf weil der hunger groß ist die rånggerlen die kinder glawinerisch noch klein der pari gstibt und der vater novus lowi vom schinaglkanti nicht stempeln kann weil er im hitzling weil er im sommer

6 Christoph Buchwald (Hg.), 25. Jahrbuch der Lyrik. Die schönsten Gedichte aus 25 Jahren, Frankfurt a. M., 2007, S. 148ff. 7 Romed Mungenast, A biberischer biberlingschein/Ein kalter Wintertag, in: Gerald K. Nitsche (Hg.), Neue österrei- chische Lyrik – und kein Wort Deutsch, Innsbruck/Wien 2008, S. 76.

224 Wir sind Fahrende

koan buggl gstibt håt keine arbeit bekommen hat weil er pegerisch wår … weil er krank war … a gatschi stolft wir begegnen einem mann in am schuggern mali in einem schönen anzug und i fraggl und ich bitte ihn um a lowi um etwas geld er spånnt er schaut auf mein schuntigen wallmisch auf meine schmutzige jacke die trittling mulo meine kaputten schuhe långt mir driwes schugg zählt mir drei schilling in die griffling in die hand schmalt: bettelvagant und sagt bettelvagant i schumml mi ich schäme mich mir naschn wir gehen in a schrenz zu einem haus a mosch stolft aus der windn eine frau kommt aus der tür mama fragglt um a buttn mama fragt um essen sie schmalt novus wortlos winkt sie uns herein mir naschn in die sicherhitz wir gehen in die küche lengt ins an sitzling sie deutet auf einen stuhl sie lengt an maro gibt brot auf an schuntign brettling auf den nicht ganz sauberen tisch und an härtling und ein messer vom kuchlinger vom herd nimmt sie böllerlen eine pfanne mit erbsen und mass und fleisch dazu zwis schåln bräunling dazu zwei schalen kaffee novus süssling ohne zucker s buttn isch gwant das essen ist gut der paradebl pfreimts gott wird’s Ihnen lohnen schmalt die maingg sagt mama ban niggl beim teufel wenn i auf d negert wenn ich in der nacht ins scharotl nasch in den wohnwagen gehe

225 Gerald Kurdoğlu Nitsche

und im ånder schein linsn und an morgen denke turm i novus gwant kann ich nicht mehr gut schlafen i kneis die tipperei ich begreife und mei scharotl meine heimat isch mei schrenz ist mein wohnwagen (jenisch) sonst nirgendwo

Romedius Mungenasts umfangreiches Jenisch-Glossar wurde zur Grundlage einer wissenschaftlichen Arbeit von Heidi Schleich.8 Romed wurde 2004 für seine literarische und ­wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel Professor ausgezeichnet.

Travellers in Irland

Stets auf der Suche nach Nischen der Gesellschaft, nach Wenigerheiten (eine geniale Wortschöpfung der Romni Ceija Stojka), nach ihrer Lebensweise, Sprache, Literatur zog es mich bereits vor Jahrzehnten und 2002 wieder, begleitet von Herbert Barta, einem al- ten Freund und Anglisten, nach Irland. Als ich einem Tankwart von meinem Travellers-Projekt erzählte, um vielleicht einiges zu erfahren, bekam ich zur Antwort: „It’s a damned people!“, was mich sehr schockierte. In Dublin gibt es „Pavee-Point“, ein Zentrum für Travellers, Roma und Sinti. Dort bekam ich die nötigen Informationen, wie und wo wir Fahrende treffen können. So er- gab sich die Gelegenheit zu Interviews9 an einem Sammelplatz von zehn Wohnwägen (mit nur zwei Zugmaschinen) am Straßenrand bei Dublin. Straßenränder sind häufig mit gewaltigen Steinbrocken verbarrikadiert, damit Fahrende dort nicht lagern können.

Erzählen Sie mir bitte etwas über die Lage der Travellers und Ihre eigenen Erfahrungen! Travellers lebten immer in ländlichen Gebieten Irlands. Ich glaube, es war deshalb, weil sie mit ihren Zinnwaren handelten, deshalb tinkers genannt – eine Bezeichnung, die wir nicht mögen. Sie hatten ihre eigene Kultur, Tradition und Sprache. Wie heißt die Sprache?

8 Heidi Schleich, Das Jenische in Tirol. Sprache und Geschichte der Karrner, Laninger, Dörcher, Landeck: EYE-Verlag 2003 (=Am Herzen Europas. Lyrik der Wenigerheiten 4). 9 Übersetzt von Imelda Blassnig.

226 Wir sind Fahrende

Cant, Gammon ist der neue Name. Sie trugen traditionelle Kleidung, die sie selbst machten. Frauen liebten bunte Farben, trugen Kopftücher. Sie hatten Zöpfe, jung wie alt, hatten Schürzen in vielen Farben und eine kleine schwarze Tasche in den Schürzen, ­„beady pocket“ genannt, an der viele Knöpfe oder auch Orden und Aufnäher waren. Wenn eine Familie das Lager verließ, gab man sich gegenseitig ein Andenken. Damals hatte man nicht so viel, also nahm die Frau z. B. einen Knopf von ihrer Jacke, den die andere als Andenken an ihre Tasche nähte. Die Männer arbeiteten bei Bauern, Kartoffel-, Kornernte, Torfschneiden, mit den Tieren, ... Die Frauen handelten mit Zinnwaren, die die Männer gefertigt hatten. Sie verkauften auch aus dem Korb, Haushalts-Gegenstände, Heiligenbilder, Wäscheklammern, Topfreiniger, … In den 1950er-Jahren änderte sich mit der Erfindung von Plastik viel für die Travellers. Kesselflicker wurden überflüssig. Die Bauern kauften neue Geräte, die ihnen viel Arbeit abnahmen, kauften Autos und konnten ihre Einkäufe in den Städten erledigen, also wur- den die Travellers auch hier überflüssig. Deshalb hatten sie keine andere Wahl, als sich arbeitslos zu melden. Dazu brauchte man einen festen Wohnsitz; was bedeutet, dass sie alles aufgeben mussten, was sie bisher getan hatten. Zu dieser Zeit hatten sie keine Wahl, da die meisten bis zu fünfzehn Kinder hatten und das Geld brauchten. Obwohl sie jetzt einen festen Wohnsitz hatten, hatten sie nie ein Zuhause. Wie ist die Situation heute? Wie sind die Chancen? Damals reisten einige von ihnen noch für ein paar Monate im Jahr durchs Land, aber heute ist es verboten. Deshalb können Wohnwägen beschlagnahmt und die Leute einge- sperrt werden, wenn sie nicht sesshaft leben. Heute haben viele Travellers in den Lagern kein heißes Wasser, nicht einmal kaltes, und keine Toiletten. Und keine angemessenen Orte für die Lager, meist neben Autobahnen? Wie können Kinder dort leben? Wie leben die Travellers jetzt und wie verdienen sie ihr Geld? Sie bekommen Arbeitslosengeld, aber das reicht nicht. Die Menschen werden diskri- miniert, die Lager an Orten errichtet, wo Travellers nicht hinwollen, neben Müllplätzen, Kläranlagen, alten Friedhöfen und Autobahnen, wo die Gefahr besteht, dass ein Kind auf die Straße läuft oder ein Auto in sie hineindonnert. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie euch an eurer Sprache erkennen und ihr nicht in Geschäfte oder in die Bank dürft. Stimmt das? Wenn ein Traveller in ein Geschäft geht, folgt ihm der Hausdetektiv.

227 Gerald Kurdoğlu Nitsche

Woran erkennen die Menschen, dass sie Travellers sind? Am Akzent oder wenn sie Cant sprechen. Und die Menschen sind misstrauisch, sie werfen sie aus Geschäften, aus dem Pub hinaus oder lassen sie gar nicht hinein. In den Schulen verändert es sich jetzt ein bisschen, aber nicht wirklich. Wenn Traveller-Kinder in die Schule gehen, werden sie in der Klasse ganz nach hinten gesetzt. Sie denken, wenn du ein Traveller bist, brauchst du keine Ausbildung, du wirst sowieso keine Arbeit be- kommen, also ignorieren sie dich einfach. Sie haben gesagt, Sie mögen das Leben als Traveller. Gibt es eine Zukunft? Nein. Wir müssen nur versuchen, an unserer Kultur festzuhalten so gut es geht, aber das Leben als Traveller ist vorbei.

Fragen an weitere Gesprächspartner:

Wer lebt in einem Wohnwagen und wie ist die Situation dort? Ich lebe in einem Wohnwagen. Ich hoffe aber, dass ich ein Haus bekomme. Ich glaube, der Unterschied zwischen einem Wohnwagen und einem Haus ist riesig. Ein Haus wäre ­besser. Und wo leben Sie? Als ich noch klein war, lebte ich in einem Wohnwagen, aber später in einem Haus. Wir fuhren von Haus zu Haus. Im Sommer waren wir in einem Wohnwagen. Haben Sie jetzt damit aufgehört? Ja, schlussendlich wurden wir sesshaft. Aber meine Eltern sind ihr ganzes Leben lang gereist. Leben sie noch und fahren sie noch durchs Land? Ja, sie leben noch, aber sie dürfen nicht mehr fahren. 99 Prozent aller Travellers wür- den noch gern so leben. Sie werden gezwungen, sesshaft zu werden, aber es ist nicht richtig sesshaft. Sie werden in Lager, Orte gesteckt, wo keiner leben sollte, gefährlich, mit Ratten und Müll. Sie werden wie Dreck behandelt. Ja, ich habe die Lager gesehen. Können Sie mir etwas über Ihre Sprache, das Cant, sagen, einige Worte, z. B. Schule? Für Schule gibt es kein Wort. Travellers haben ihre Kinder nie zur Schule geschickt, sie haben sie selbst unterrichtet. Die Kinder folgten den Fußstapfen der Eltern. Also haben sie zugesehen und gelernt, die Buben dem Vater beim Arbeiten mit Zinnwaren und die

228 Wir sind Fahrende

Mädchen der Mutter bei der Pflege der Kinder, beim Blumenbinden, beim Handlesen und Wahrsagen. Wer hatte in der Familie das Sagen? Meistens der Vater. Die Mutter spielte auch eine große Rolle, aber der Vater war der Boss. Wenn er sagte, er fährt in eine andere Gegend, dann fuhren alle mit, auch wenn sie nicht wollten. Aber wenn es noch jemand Älteren gab, wie die Großeltern, dann hatten sie das Sagen. Sie gaben ihm gute Ratschläge und er musste sie dann auch befolgen. Aber im täglichen Leben und im Umgang mit den Kindern hatte die Frau das Sagen? Ja, das war die Aufgabe der Frau. Sie hat sich um die Kinder zu kümmern. Der Vater übernahm eigentlich gar keine Verantwortung für die Kinder. Wenn der Mann die Kinder badete, wurde über ihn geredet. Wenn er sie fütterte, ein Kind am Arm hatte oder mit ihm spielte, nannten die Leute ihn ein Weichei. Ist das noch immer so? Nein, es verändert sich, aber die Älteren denken noch immer so; sie wurden so erzo- gen und glaubten daran. Die Männer haben schon auch geholfen, sie wurden aber ausge- lacht, verspottet, wer in der Familie wohl die Hosen anhätte.

Mein Name ist Michael Mullen. Ich möchte über einen Artikel im „Daily Mirror“ spre- chen. Da ist zu lesen, wie die Travellers am Straßenrand leben, über Autowracks, die die Straße blockieren. Wir blockieren niemanden. Wir wollen nicht dort leben und nieman- dem Probleme bereiten. Wir waren schon oft beim Sozialamt, um eine Unterkunft zu bekommen. Sie hätten Wohnungen, aber sie geben uns keine. Deshalb leben und leiden die Leute jetzt am Straßenrand. Das hat die Regierung uns angetan, und dann schreibt man in der Zeitung solche Sachen. Ich bin sehr aufgebracht und mache mir Sorgen. Wir haben das Lager verlassen, weil wir keine Wahl hatten. Und jetzt macht man auch noch in der Zeitung gegen uns Stimmung. Diese Verleumdung im „Daily Mirror“ bringt alle gegen uns auf, die Leute und auch die Polizei. Sie haben noch nie so gegen uns gehetzt. Wir hatten früher schon Prob­leme mit der Regierung. 1977 und 1988 haben sie unsere Wohnwägen abgeschleppt und kaputt­ gemacht; wir haben dafür nie eine Entschädigung bekommen. Wir lebten sechs Monate­ lang in Feldern ohne Wasser oder Toiletten und konnten nichts dagegen machen, sie nicht verklagen. Das ist nicht fair. Wenn sie meinen Wohnwagen abschleppen, müssen sie mir eine Ersatzunterkunft bieten. Die Gemeinden bekommen viel Geld, um die Travellers sesshaft zu machen, um Wohnungen zu bauen. Sie haben uns gezwungen, sesshaft zu werden, aber sie geben uns keine Rechte. Es gibt

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noch viele, die lieber weiterfahren wollen, man könnte in jedem County für uns Lager mit Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen errichten, wo man für ein paar Monate blei- ben kann und Miete zahlt. So könnten wir un­sere Kultur erhalten.­ Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie so behandelt werden? Um ehrlich zu sein, scheren sich die meisten Leute einen Dreck um uns. Nicht alle natürlich, es gibt auch in der Gemeinde, der Regierung gute Leute, aber sehr viele, deren Aufgabe es ist, sich darum zu kümmern, ist es egal, wie es anderen geht. Denen geht es nur um ihr Geld. Haben Sie Irland jemals verlassen? Ich war eine Zeit lang in England; dort haben sie mich anders behandelt. Ich hatte Arbeit, ein Dach über dem Kopf. Ich bin auch schon in Irland anständig behandelt wor- den, aber zum größten Teil wird man hier behandelt, als wäre man nichts. In England gab es keine Diskriminierung. Wenn man in ein Pub ging, wurde man bedient. Sie hatten kein Problem mit uns. Die lokalen Behörden bringen die Leute gegen die Travellers auf, und es wird verallgemeinert: Wenn ein paar Travellers drogensüchtig sind, sind es alle. Wenn eure Kinder in die Schule gehen, verlieren sie dann nicht das Interesse daran, so zu leben wie ihre Eltern? Sie lernen in der Schule natürlich nichts über ihre Kultur. Unsere Kinder gehen hier in Kildare zur Schule. Es ist eine gute Schule mit guten Lehrern und sie behandeln die Kin- der anständig. Aber sie können ihnen nichts über unsere Kultur vermitteln. Es müsste eigenen Unterricht für unsere Kinder geben, in dem sie etwas über ihre Kultur lernen. Gibt es in dieser Schule eine Trennung zwischen Ihren Kindern und den sesshaften? Nein, meine Kinder gehen in dieselbe Klasse mit den Einheimischen und sind auch voll integriert. Glauben Sie nicht, dass die zwei Kulturen zu Konflikten führen? Entweder man passt sich an oder man behält seine eigene Kultur bei? Für unsere Kinder gibt es keinen Konflikt, sie kennen unsere Kultur nicht. Was sie wissen, kommt von Fotos, Erzählungen und Filmen. Es gab einen sehr guten Film, „Back into the West“(Anm. GKN: Into the West) über die Travellers. Er war gut gemacht, sehr lehrreich, hat verschiedene Seiten unserer Kultur und Lebensweise gezeigt. Er lief auch im Fernsehen. Es haben einige große Stars mitgespielt. Aber zurück zu den Kindern von heute: Sie machen alles gemeinsam mit den anderen Kindern, sie gehen zusammen zur Schule, in die gleichen Sportvereine, die gleichen Clubs. Es gibt keinen Unterschied in ihrer Kultur.

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Aber sie vergessen ihre eigene Kultur? Ja, im nächsten Jahrhundert wird sie vergessen sein. Sie verschwindet langsam. In ei- nigen Jahren wird unsere Kultur nur noch Geschichte sein, und ich kann mir nicht vor- stellen, dass man in Geschichtsbüchern darüber schreiben wird, also wird sie komplett verschwinden. Wir haben gestern Abend im Avilla Park mit ein paar jungen Buben gesprochen. Die haben keine Ahnung! Aber als wir sie gefragt haben, ob sie gerne fahren möchten, haben sie ja gesagt. Sie sagen natürlich ja, weil es eine Herzensangelegenheit für sie ist, aber sie wissen nicht, was es bedeutet. Ich erinnere mich, vor zirka 45 Jahren, als ich ein Teenager war, wuchsen wir noch ganz anders auf. Ich bin auf der Straße geboren, meine Eltern sind auf der Straße geboren, die ganze Familie kam unterwegs zur Welt. Wenn jemand krank war, rief man niemanden zu Hilfe, man hatte seine eigene Medizin. Die Frauen haben ihre Kinder nie im Krankenhaus zur Welt gebracht. Sie haben das Kind zuhause bekommen, ohne Hebamme, ganz alleine. Gibt es heute noch Leute, die so etwas machen? Nein, es waren die Menschen, die unterwegs waren, die medizinische Kenntnisse hat- ten. Und sie haben immer dazu gelernt. Der achte Sohn in der Familie wusste z. B. mehr als der siebte, der neunte mehr als der achte usw. Wie viele Enkel haben Sie? Wir haben zwölf Kinder und vierzehn Enkel, von denen sieben verheiratet sind. Heiraten manche Travellers außerhalb der Gemeinde oder wollen sie lieber unter sich bleiben? Zu meiner Zeit war alles arrangiert; es gab Kuppler. War das für alle in Ordnung, jemanden zu heiraten, den man nicht liebt? Man machte, was das Familienoberhaupt bestimmte. Wenn beschlossen wurde, dass man dieses Mädchen heiraten soll, heiratete man, egal, ob man sich gegenseitig mochte oder nicht. Und wie sind die Ehen gelaufen? Zu der Zeit waren alle dieser Ehen erstklassige Ehen. Falls es nicht funktionierte, konnte man sich scheiden lassen? Wenn man Katholik war, konnte man sich nicht scheiden lassen, war man Protestant, dann schon.

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Sie sind katholisch? Ja, die meisten Travellers sind katholisch. Für mich ist die Religion nicht alles, sie ist nur etwas, woran wir glauben. Jeder hat ein Recht auf seinen eigenen Glauben. Ich würde niemals jemanden wegen seines Glaubens diskriminieren. Ich respektiere Menschen, egal ob katholisch oder nicht. Es gab eine Redensart unter den Travellers: Für den Mann geht es vorüber, aber nie- mals für die Frau. Das wirft die Frage auf, ob Frauen und Männer in Ihrer Gesellschaft gleichberechtigt sind bzw. waren? In unserer Gesellschaft ist jeder gleich. Etliche irische Travellers sind mit Engländern oder Deutschen verheiratet. Bei vielen hat es gut funktioniert; sie haben ihre Identität und Kultur deshalb nicht aufgegeben. Oft wussten die „buffer“, so nennen wir sie auf Cant, nicht, dass sie als Travellers diskriminiert werden würden, wenn sie einen von uns heiraten. Was bedeutet „buffer“? Ein Nicht-Traveller. Sie hat einen „buffer“ geheiratet, hieß es dann. Es war kein Pro- blem, wenn man sesshaft wurde und in eine Familie einheiratete, man musste dann das Beste daraus machen. Wohin gehören sie dann? Die Einheimischen reisen mit den Travellers und die Travellers leben das sesshafte Leben der Einheimischen. Manche sind mit Verkäufern verheiratet, manche mit reichen Geschäftsleuten und sie leben das Leben, in das sie hineingeheiratet haben. Warum glauben Sie, hat sich das verändert? Die Zeiten haben sich geändert. Es gibt zu viel Wissenschaft, zu viele Computerspie- le, die die Menschen vereinnahmen. Manche Menschen haben zu viel Geld, und die Ar- men haben gar nichts. Was wird jetzt passieren? Können Sie hier bleiben? Ich hoffe, dass ich eine Wohnung bekomme. Ich weiß nicht wo, aber ich weiß, dass ich nicht dorthin zurückkehre. Es war die Hölle auf Erden, drei Jahre lang. Ich weiß nicht, was die Regierung für mich plant, aber es scheint nicht, als würden sie das Problem lösen. Ich weiß nicht, was der nächste Schritt sein wird. Die Einheimischen sind gute Men- schen, sie sind sehr geduldig, sehr hilfsbereit. Aber jetzt, mit diesem Zeitungsartikel weiß ich nicht, wie die Dinge für mich und meine Familie ausgehen werden. Ich sehe nicht viel Zukunft für uns. Was auch immer kommen mag, ich bin bereit.

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Erzählen Sie uns, woher Sie stammen! Mein Name ist John McCarthy und ich bin ein irischer Traveller. Ich bezeichne mich deshalb so, obwohl ich in England geboren und aufgewachsen bin. Ich hatte immer mehr Kontakt zu irischen Travellers als zu anderen Iren, die in England leben. Ich bin im Nordosten Englands aufgewachsen, Newcastle. Aber unsere Route ging von der schotti- schen Grenze im Norden bis in den Süden nach Sheffield in Yorkshire. Dafür gab es zwei Gründe: Mein Vater war Bauarbeiter und Schrotthändler; im Nordosten Englands gab es sehr viel Industrie, also viel Arbeit für einen Schrotthändler. War es hart, als Traveller dort zu leben? Wie ich gehört habe, haben Michael und Leute wie er sehr unterschiedliche Arbeiten gemacht. Ich glaube, in Irland war es etwas anders. In England wurden die Männer nicht ange- stellt, sie verkauften ihre Dienste an Bauunternehmer, haben also für niemanden offiziell gearbeitet, sondern waren selbständig. Das war sehr wichtig. Aber der Grund, warum wir im Nordosten unterwegs waren, war eigentlich meine Mutter. Die ist eine Romni und Wahr­sagerin. Hier gibt es vielleicht Ähnlichkeiten mit Irland: Meine Mutter folgte den Jahrmärkten und meinem Vater. Im Nordosten Englands gibt es viel Tourismus, und meine Mutter verkaufte entlang der Strände und Promenaden Glücksbringer und bot ihre Dienste als Wahrsagerin an, von Schottland bis zu den Doncaster Races. Wie viele waren Sie, wenn Sie auf der Reise waren? Nur Ihre Familie? Meine Familie, meine Mutter, mein Vater und meine Geschwister. Wir waren zwölf Kinder, also insgesamt 14.

Danke für die Bereitschaft, uns von Ihrem Leben zu erzählen!

Unter den irischen Travellers gibt es sogar Dichterinnen, die wir im „Pavee Point“ in Dublin und bei „Travellers Support Group“ in Galway kennenlernten. Sie beschreiben ihre Erinnerungen als einen wunderschönen Traum, als sie noch übers Land zogen – heute sieht das anders aus; auch das klingt an.

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Winnie Kerrigan

My Memories Erinnerungen

My memories of my childhood Erinnerungen meiner Kindheit Of days of long ago Von längst vergangenen Tagen Travelling through the hills and dales Auf der Reise durch Hügel und Täler My life was like a dream Mein Leben war ein Traum

Sitting by the old camp fire Ich saß am Lagerfeuer And tea can on the boil Hörte den Kessel pfeifen Not a care in the world would bother me Ich hatte keine Sorgen Because I was just a child Denn ich war nur ein Kind

I can still hear voices in my head Ich höre noch die Stimmen Of people that are long gone Von längst verlorenen Menschen And see places and the camps Ich sehe Orte und auch Lager Of days so long ago Von längst vergangenen Tagen But those are all memories Aber das sind alles Erinnerungen Of times that passed away.10 Längst vergangener Zeiten. (Englisch)

Julia Sweeney

Breaking the Silence Das Schweigen brechen

In silence we stand Still stehen wir da No one to turn to Niemand, der uns hilft In bitterness and pain In Bitterkeit und Schmerz We cry alone. Weinen wir allein.

10 Winnie Kerrigan, My Memories/Erinnerungen, GTSG NEWS 1999, Galway Traveller Movement. Übersetzt von Imelda Blassnig.

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Punishment and hardship Bestrafungen und Not Are all that we have known. Sind alles, was wir kennen Is there anyone out there Gibt es irgendjemand Who will listen, Der uns zuhört Give us a chance Gebt uns eine Chance To speak out Unsere Stimme zu erheben And explain our views Unseren Standpunkt zu erklären With no doubt, Und ohne Zweifel Then the silence will break Wird dann das Schweigen brechen And we’ll fit into place. Und wir finden unseren Platz

Together we’ll be Gemeinsam sind wir dann A happy human race.11 Eine glückliche Menschheit. (Englisch)

Bernie Reilly´s Gammon Song

I mislayed to a grippa and the gloak he got so Ich ging in ein Pub, der Barmann wurde gammy frech I was solaking and lush as I seen Als ich trank, so viel ich wollte But the beor send for the shadeóg, Rief seine Frau die Polizei She annoyed me, I got crazy, Sie ärgerte mich, ich wurde wütend But I corribed in her grinjy as I leaved. Und schlug ein Fenster ein, als ich ging.

But the shades they had a torry to me then Dann verhörte mich die Polizei And they says, “Sure the grineóg you have Und sie sagten: „Natürlich hast du die Scheibe corribed in!” eingeschlagen!“ I corribed up his pee and the beor then Ich knallte ihm eine, da sagte die Frau says to me: zu mir: “You´ll be mislayed to the nick. „Jetzt bist du dran, hau ab, Junge, Now you´re corribed, sublia, misli, Lass das Bier stehen

11 Julia Sweeney, Das Schweigen brechen. Gedicht von Julia Sweeney persönlich per E-Mail an Verfasser übermittelt. Übersetzt von Imelda Blassnig.

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Leave the lurk behind you Oder du kommst ins Gefängnis für das Or you go to the rispon for the grineóg Fenster, That you corribed in the grippa Das du kaputt gemacht hast. Will you misli, sublia, now?” Wirst du gehen, Junge?“

I says, “Crawd ye, lackeen, Ich sagte: „Still, Mädchen, Just crawd ye as you misli. Sei still, wenn du gehst, Crawd ye and don´t trinnick my jeal Sei still und verrat mich nicht Or the gloak could skeegs ye.” Oder der Mann könnte dich holen kommen.“ – “Who is your gloak?”- – „Wer ist dein Mann?“ “Don´t miss my mideóg „Ich lass kein Geld hier. We´re mislaying now.”12 Wir gehen jetzt.“ (Cant, Gammon)

Roma und Sinti

Seit meiner Kindheit auf der Suche nach Roma, endlich Ende der 1980er-Jahre in Ober- wart, Burgenland. Ich hatte erfahren, dass es außerhalb des Ortes eine Roma-Siedlung gibt. So beinahe, um für die Minoritäten-Anthologie Beiträge zu sammeln, fündig gewor- den, jedoch wagte ich nicht zu fragen: „Sind Sie ein(e) Zigeuner(in) (die Bezeichnung Roma kannte ich noch nicht), schreiben Sie Gedichte?“ Glücklicherweise bekam ich von Gerhard Baumgartner, den ich auf meiner „tour de poésie“ kennen gelernt und ihm von meinem Vorhaben berichtet hatte, den beglücken- den Tipp: Ceija Stojka. Wir trafen uns in Wien im Cafe Clou, nomen est omen. Ich war aufgeregt, und wir fanden uns, so dass wir all die Jahre einander nahe waren, zu Brüderchen und Schwester- lein geworden. Damals war es, dass sie den Begriff Wenigerheit, diese treffende, kostbare Wortschöpfung, prägte.

12 Anonym, Bernie Reilly´s Gammon Song. Übersetzt und aufgenommen 1995 von Stephen Bonnlander.

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Ceija Stojka, geboren am 13.5.1933 als Margarethe Rigo in einem Gasthaus in Kraubath, Steiermark. Sie stammt aus einer Familie fahrender Lovara, Pferdehändler. Als 10-jähri- ges Kind wurde sie mit ihrer Mutter und den fünf Geschwistern ins Vernichtungslager Auschwitz verbracht – Tätowierung am linken Unterarm: Z (= Zigeuner) 6399 – und in weitere Konzentrationslager, auch nach Bergen-Belsen. Der Vater war bereits in Hart- heim umgebracht worden. Von der Großfamilie, mehr als 200 Personen, überlebten nur die Mutter, Ceija selbst und vier Geschwister. Ossi, der jüngste Bruder Ceijas, war acht- jährig 1943 in Auschwitz an Typhus gestorben. Ceija Stojka, eine bewundernswert liebenswürdige Frau, Schriftstellerin, Dichterin, Zeitzeugin, Malerin, Grafikerin, hat uns nach langer, leidvoller Krankheit am 28. Jänner 2013 verlassen. Ihr zu Ehren wurde vom Österreichischen PEN 2013 ein Literaturpreis eingerichtet, der folgenden Namen trägt: „Roma-Literaturpreis des Österreichischen PEN“ im Gedenken an Ceija Stojka (1933–2013).

Ceija Stojka. Bildnachweis: Gerald K. Nitsche/privat

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Ceija Stojka

Ich Ceija sage Auschwitz lebt und atmet noch heute in mir ich spüre noch heute das Leid Jeder Grashalm jede Blume dort ist die Seele eines Toten Ich habe gesehen alles ist wieder da alles ist wieder nah Überall spürt man dass die Seelen mit einem mitgehen Es ist unbegreiflich dass es Menschen gab die solch eine Stätte des Grauens errichten konnten Auschwitz war viel schlimmer als die heutigen Kriege Auschwitz und seine gleich schlimmen Geschwister wo sie auch alle sind und waren Sie brachten mit ihren menschenvernichtenden Gasfabriken Asche Rauch Urnen Brennen Asche Asche in der Urne

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Wer ist wirklich in der Dose Ist es mein Vater?13

Obwohl Ceija Stojka wegen der geschilderten Schrecknisse kaum zwei Jahre die Schule besuchen konnte, wurde sie als Schriftstellerin autobiografischer Bücher, „Wir leben im Verborgenen“14, „Reisende auf dieser Welt“15, „Träume ich, dass ich lebe“16, erfolgreich. „Ich als Analphabetin habe zwei Bücher geschrieben ...“ ist in ihren Tag- und Nachthef- ten zu lesen, inzwischen sind es einige mehr. Sie schrieb spontan, „aus dem Bauch heraus“, wie sie es nannte, um sich von den Schrecken der Vergangenheit zu lösen. Bis zu ihrer Pensionierung lebte sie als Marktfahrerin vom Teppichhandel. Dass sie eine en- gagierte Roma-Aktivistin und Zeitzeugin war, dazu noch eine großartige Musikerin, Sängerin, ist inzwischen weltweit bekannt. 2009 wurde Ceija Stojka für ihr Gesamtwerk mit dem Berufstitel Professorin ausgezeichnet.

Ausstellungsplakat mit einer Grafik aus dem Zyklus: KZ-Albträume von Ceija Stojka Bildnachweis: Schneidertempel Art Center­ Istanbul

13 Ceija Stojka, Ich Ceija sage, in: Ceija Stojka, Gedichte (Romanes, deutsch) und Bilder. Meine Wahl zu schreiben – Ich kann es nicht. O fallo de isgiri – me tschischanaf les. Hg. von Gerald Kurdoğlu Nitsche, Landeck: EYE-Verlag 2003 (=Am Herzen Europas. Lyrik der Wenigerheiten 7), S. 24. 14 Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, hg. von Karin Berger, Wien 1988. 15 Ceija Stojka, Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, hg. von Karin Berger, Wien 1992. 16 Ceija Stojka, Träume ich, dass ich lebe. Befreit aus Bergen-Belsen, Wien 2005. Vgl. auch den von Christa Stippinger herausgegebenen Kunstdruckband: Ceija Stojka. auschwitz ist mein mantel. bilder und texte, Wien 2008.

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Viele Jahre lang malte, zeichnete Ceija – Autodidaktin in Reinkultur, ursprünglich nur für die Enkelkinder, um ihre Erlebnisse bildhaft anschaulich zu machen. Die Traumata ihrer Kindheit tauchten immer wieder in ihren Träumen auf und rangen in Texten und Zeich- nungen um Verarbeitung und Bewältigung. Ihre Bilder sind in zahlreichen Ausstellungen in Deutschland, Polen, Österreich, der Schweiz, Japan und den USA gezeigt worden. Eine Auswahl aus der Fülle ihrer KZ-Albträume, erschütternde Grafiken, war im Ap- ril 2012 in Istanbul zum Holocaust-Gedenken im jüdischen Kulturzentrum Schneider- tempel zu sehen.

Eine ebenfalls beglückende, Freundschaft stiftende Begegnung wurde mir bei meiner Su- che nach Roma-Literatur mit Ilija Jovanović zuteil, geboren am 25. 2. 1950 in Rumska bei Belgrad als einziges Kind einer armen Roma-Familie. Als Kind arbeitete er als Erntehelfer. Mit 20 Jahren hatte er bereits eine Familie mit drei Kindern.

Roma am Balkan. Bildnachweis: Josef Huber

1971 übersiedelte er nach Wien. Ilija arbeitete zuerst in einer Metallfabrik, anschließend als Apothekengehilfe in den Wiener Spitälern AKH und Rudolfstiftung. Er war Generalsekretär und Kulturreferent des „Romano Centro“, eines Vereins für Roma. 1999 erhielt er den Theodor-Körner-Preis, er erlangte internationale Bekanntheit,

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es folgten Übersetzungen in andere Sprachen und weitere Auszeichnungen. Nach langer, schwerer Krankheit starb er am 26.11.2010. Wir haben einen großen Menschen und Dichter verloren.

Ilija Jovanović

XASARDO THEM VERLORENE WELT

Xasardi si amarai ðilanbadi čhib. Verloren ist unsere singende Sprache. Amen sam bi svatoso them. Verstummt sind wir. Amaro trajo si mudardo. Zerstört ist unsere Welt, Amen sam bi trajoso them. wir sind am Ende.

Te ačhilam pe jek kamlo than Ist uns ein Ort vertraut, traden amen lestar. vertreiben sie uns. E dora si maškar amende čhinðarde, Zerrissen sind die Fäden, e granice phanden jek avreste amaro drom. Grenzen versperren uns den Weg. Amen ni džanas kaj maj dur te džas. Wir wissen nicht mehr, wohin.

E gadženðe naj sam manuša sar von, Den Weißen sind wir nicht Menschen kaj aver čhande sam. ihrer Art, Traden amen pe sa o them. weil wir anders sind. Amen džas thaj džas Sie treiben uns über die ganze Welt. ni džanas kaj thaj dži kaj.17 Wir gehen und gehen, wissen nicht, wie lange und wohin. (Romanivariante: Gurbet)

17 Ilija Jovanović, Xasardo Them/Verlorene Welt, in: Bündel Budžo. Gedichte Đila. Deutsch Romanes, Landeck: EYE Literaturverlag 2000 (=Am Herzen Europas. Lyrik der Wenigerheiten 2), S. 32.

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Budžo BÜNDEL

Sa ćiro čořope ćidan Stets im Bündel gebunden, čořea ando budžo. deine Habseligkeiten, Fremder, E agora e budžese phanglan, die Knoten des Bündels festgezogen, e rovlji maškar lende ispidan. den Stab durch die Knoten geschoben.

Akana ašćares po lačhipe Jetzt wartest du vi bilačhipe e rajengo: auf die Gnade der Behörde, Sar von mothona je nachdem hebt gajda vazdel pe opre oder senkt sich thaj mećel pe tele deine Hand ćiro vas e budžea. mit dem Bündel.

Thaj na te gîndis Und suche dich ja nicht kathe te ačhes čorea, hier zu entfalten, tu naj san manuš Fremder, kale manušendar, du bist kein Mensch, tu naj san manuš kein Bürger kale phuvjatar, des Landes.

Tu naj san khanči Du selbst bist nicht mehr maj but ćire phangle budžestar, als ein lange hier lebendes Bündel, savo khate brešenca trajil das sich nicht öffnen piro trajo biputardo und bimanuškano.18 nicht entfalten darf.

(Romanivariante: Gurbet)

18 Ilija Jovanović, Budžo/Bündel, EYE, Literatur der Wenigerheiten, Bd. 2 der Reihe Am Herzen Europas, Landeck 2000, S. 16f. Übersetzung: Mozes F. Heinschink, gemeinsam mit Peter Paul Wiplinger, der Jovanović als „Vom Land- arbeiter zum Dichter” geworden bezeichnete.

242 Wir sind Fahrende

Im Jahr 2010 bekam ich Kontakt zu einem Roma-Schriftsteller aus Oberwart, Stefan Hor- vath, Sohn von KZ-Überlebenden und Vater eines der Attentat-Opfer von Oberwart. Von ihm stammt u. a. das Buch „Ich war nicht in Auschwitz“, Erzählungen und Gedich- te gegen das Vergessen.19 In sein Buch schrieb er mir: „Ich hoffe, dass dich das Buch zum Nachdenken anregt.“ Ja, das tat es! Stefan Horvath wurde 2013 Mit dem „Roma-Litera- turpreis des Österreichischen PEN“, der, wie erwähnt, in Gedenken an Ceija Stojka ins Leben gerufen wurde, ausgezeichnet.

Nachdenklich wurde auch die Innsbruckerin Karin Faistnauer, seit etlichen Jahren in Lamezia Terme, Kalabrien ansässig, als sie immer wieder bettelnden Roma-Frauen und -kindern in der Stadt begegnete. Seither nimmt sie sich der Probleme der Menschen in der Roma-Exklave an, die durch einen hohen Bahnkörper, allerdings mit Unterführung, von der Stadt abgetrennt ist. Sie begann mit den Kindern und Jugendlichen zu malen, zu basteln, veranstaltet mit diesen Produkten Märkte, auch in Österreich, um so und auch mit anderen Aktionen die Lebensbedingungen der Roma zu verbessern, was ihr offen- sichtlich gelingt, wie ich mich überzeugen konnte. Inzwischen gibt es auch einen Dichter unter ihnen. Bei meiner Vorlesungsreihe gelang es mir auch, den Romanes-Experten Professor Mozes Heinschink und seine Frau Fatma, eine Romni aus der Türkei, zu einer Lesung einzuladen. Fatma Heinschink, geboren 1948 in Izmir als Kind von Roma, Korbflech- tern, traditionell aufgewachsen, autodidaktische Alphabetisierung, ist eine der Letzten der Sepečides und deren Sprache. Sie lebt seit 1980 in Österreich, ist Geschichtenerzäh- lerin und Sängerin. Sie hat einen reichen Schatz an Geschichten und Liedern, die Mozes archiviert und mir zur Verfügung gestellt hat.20

19 Stefan Horvath, Ich war nicht in Auschwitz, Oberwart 2003. Vgl. auch Stefan Horvath, Katzenstreu, Oberwart 2007 und Stefan Horvath, Atsinganos. Die Oberwarter Roma und ihre Siedlungen, Oberwart 2013. 20 Fatma Heinschink, Slg. Heinschink d. Phonogrammarchivs d. ÖAdW, B 38372, in: Petra Cech/Mozes F. Hein- schink, Sepečides-Romani, Balkanologische Veröffentlichungen, Bd. 24, Wiesbaden 1999.

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Fatma Heinschink

Mi daj avel Meine Mutter kommt

Avel, avel, mi daj avel, Sie kommt, sie kommt, meine Mutter kommt, gaval amende mandro anel. aus dem Dorf bringt sie uns Brot.

Mi phenja, mi phrala thavden anglal late, Meine Schwestern, meine Brüder laufen zu ihr ti dikhen, so si lakere sevljate. und schauen, was im Korb ist.

Ah, če dajo čororije, Ach, liebe Mutter, du Arme, but buti keresa tu amenge. so schwer arbeitest du für uns.

To ternipe kernjaresa, Deine Jugend lässt du verkommen, jek kotor mandroreske. für ein Stückchen Brot.

Dajo, dajo, rupanije, Mutter, Mutter, goldene but xurdo isinom tuke! ich bin noch so klein! T‘avavas xani po baro, Wäre ich schon groß, ka parvaravas tut mi kočate!21 auf meinen Knien würde ich dich füttern!

(Romanivariante: Sepečides)

Für die Neuauflage von „Österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch“ bekam ich zwar nur literarischen Kontakt zu Jovan Joja Adamović, einem Rom ebenfalls aus Serbi- en, geboren 1960, seit 1990 in Wien, aber auch das geschriebene Wort, besonders Lyrik kann doch zu einer persönlichen Begegnung werden, wie im konkreten Fall.

21 Fatma Heinschink, Mi daj avel / Meine Mutter kommt, in: Yeliz Dağdevir/Gerald Kurdoğlu Nitsche (Hg.), „heim. at”. Burgaz Projekt / Burgaz Projesi. Anthologie türkischer Migration. Türk göçü üzerine şiirler, Landeck: EYE-Lite- raturverlag 2004 (=Neue österreichische Lyrik, Bd. 3), S. 102f.

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Jovan Joja Adamović

Dosta mi je bilo22 Ich habe genug

Dosta mi je bilo lutanja po svetu Ich habe genug vom Wandern durch die Welt I dugih tužnih noći und von langen traurigen Nächten dosta mi je skrivanja i ponižavanja Ich habe genug von Verstecken und Unter- romskog života u samoći. drückung vom Romaleben in Einsamkeit.

Mnogo mi je život tuge pružio, Das Leben gab mir viel Traurigkeit, a pesnik tužne pesme o meni piše. der Dichter schreibt traurige Geschichten über Ne mogu tako živeti više. mich. So kann ich nicht leben.

Nema plača jer suza nema više Kann nicht weinen, hab‘ keine Tränen mehr Moja duša pošteno i časno diše. Meine Seele atmet ehrlich und aufrichtig. Potrebna joj je pomoć da se kulturno uzdiže. Sie braucht Hilfe, um sich zu erheben.

Bože moj dragi vodi me tamo Lieber Gott, führ mich dorthin gde se ljubav rađa. wo Liebe geboren wird. Vodi me tamo gde ćemo se Führe mich dorthin svi zvati samo braća. wo wir uns alle Brüder nennen.

Vodi me tamo, da ja nešto dobro vidim Führ mich dorthin, wo ich Gutes sehen kann pruži ruku mojoj duši, rom sam tvoj Reich meiner Seele die Hand, ich bin dein Rom i nikog se ne stidim.23 Ich schäme mich nicht dafür.

22 Die Aufteilung der Verse weicht ab von der Version des Gedichts in „Südostwind“. 23 Jovan Joja Adamović, Dosta mi je bilo / Ich habe genug, in: Edin Prnjavorac/Veronika Nitsche (Hg.), Südostwind. Anthologie der Migration aus Südosteuropa, den Balkanländern. Landeck: EYE Verlag 2006 (= Neue österreichische Lyrik 6), S. 30f.

245 Gerald Kurdoğlu Nitsche

Auf eine interessante sprachliche Besonderheit und soziale Nische machte mich Michael Kegler, Kurator der Ehrengastländer bei der Frankfurter Buchmesse aufmerksam, als ich ihm von dem Projekt erzählte, für das ich seit Jahren recherchiere, eine Anthologie der Fahrenden in Europa: Roma und Sinti, Sami, Jenische, Travellers. Dazu übermittelte er mir eine umfangreiche Liste von wissenschaftlichen Arbeiten, darunter „Tschü lowi … Das Manische in Gießen“24. Die Manischen von Gießen wohnen auf der „Gummiinsel“, so nach einer Gummifabrik genannt, in deren Nähe die einst Fahrenden als Arbeitskräfte angesiedelt worden waren. Das Manische ist ursprünglich die Geheimsprache der Manischen, Wandergewerbe- Treibenden, Schrott- und Altwarenhändler, Korbmacher, Schirmflicker, Bürstenmacher, Messer- und Scherenschleifer, Hausierer, die in ihrer Geschichte und auch im Glossar Verwandtschaft mit den Jenischen aufweisen. Jedenfalls eine Bereicherung für unser Projekt einer Anthologie der Fahrenden in Europa.

24 Hans-Günter Lerch, Tschü lowi … / Kein Geld … Das Manische in Gießen, Dissertation, Gießen 1976, 1. Reprint- Auflage 2005.

246 Heidi Schleich

Das Jenische

Rund um den Begriff Jenisch1

Jenisch ist ein Begriff, der mehr und mehr in der deutschen Sprache Verwendung findet – ein glücklicher Umstand, den wir in Österreich vor allem Professor Romed Mungenast2 verdanken. Sein unermüdliches Schreiben, Lesen, Forschen, Mahnen und Lehren hat deutliche Spuren hinterlassen.3 Im deutschsprachigen Raum waren lange Zeit sehr negative Begriffe für diese Volks- gruppe in Verwendung – Karrner, Lahninger, Dörcher, aber auch der Begriff Rotwelsch (übersetzt als Gaunersprache) stand in enger Verbindung. All diese Bezeichnungen leh- nen die Jenischen ab – sie bestehen (zu Recht) auf ihre Eigenbezeichnung. Die Etymologie dieses Begriffes ist umstritten. Im etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge findet sich folgender Eintrag:

jenisch Adj per.fach (Adjektiv, peripherer Wortschatz, fachsprachlich, Anm. Heidi Schleich) „in der Sprache der Fahrenden“ (< 18. Jh.). Zunächst Selbstbezeichnung: Adjektiv-Ableitung zu romani dšan- „wissen“ (urverwandt mit kennen), also eigent- lich „wissend“; gemeint ist „Sprache der Eingeweihten“.4

1 In der Betrachtung des Jenischen gehe ich vom Raum Tirol und Südtirol aus – vieles davon kann jedoch auf das Jenische ganz allgemein ausgedehnt werden. Vgl. Heidi Schleich, Die jenische Sprache in Tirol, Diplomarbeit, Innsbruck 1998 sowie Heidi Schleich, Das Jenische in Tirol, Landeck 2001. 2 Romed Mungenast war jenischer Autor und Lehrender. Für seine herausragenden Leistungen erhielt er 2004 den Professoren-Titel. Er starb 2006 in Innsbruck. 3 Romed Mungenast hat im Laufe vieler Jahre zahlreiches Material zum Thema Jenische (und angrenzende Themen) gesammelt. Sein privates Archiv befindet sich im Schloss Landeck und steht dort der Öffentlichkeit zur Verfügung. 4 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 1999, 23., erweiterte Aufla- ge, bearbeitet von Elmar Seebold, S. 411. Anmerkung der Verfasserin: Die korrekte Schreibweise ist džan, nicht wie bei Kluge dšan.

247 Heidi Schleich

Diese Herleitung gilt als die gängigste, obwohl sie umstritten bleibt. Jedoch ist mir die Herleitung, also die Herkunft der Bezeichnung nicht das primäre Anliegen. Viel wichtiger erscheint mir das Anliegen der Volksgruppe selbst – also wie bezeichnen sich die Jeni- schen und wie wollen sie benannt werden? Hier herrscht große Einigkeit: die Jenischen wollen als Jenische bezeichnet werden – so heißt ihre Kultur, so heißt ihre Sprache. Im Allgemeinen wird der Begriff mit „wissend“ bzw. „klug“ oder „eingeweiht“ übersetzt. In der Sprachwissenschaft wird Jenisch gemeinhin als Sondersprache bezeichnet, dazu ein kleiner Exkurs: Es werden grundsätzlich drei Arten von Sondersprachen unterschieden: 1. sozialge- bundene bzw. gruppenspezifische Sondersprachen (Sondersprachen im engeren Sinne oder auch Gruppensprachen genannt), 2. fachspezifische, sachorientierte Sonderspra- chen (Fachsprachen) und 3. verhüllende Sondersprachen (Geheimsprachen). Das Jenische erfüllt Kriterien aller drei Arten von Sondersprachen, kann also je nach Perspektive als Gruppen-, Fach- oder Geheimsprache betrachtet werden. Die sozialen Umstände, also fahrende Lebensweise, kein Landbesitz, ständiges Erleben von Misstrau- en und Diskriminierung, Leben außerhalb der Gesetzgebung (weil Gesetzen meist die Idee einer sesshaften Lebensform zugrunde liegen) etc. führen zu einer Abgrenzung der Gruppe, eine Abgrenzung, die einerseits von den Sesshaften ausgeht, aber andererseits auch von den Fahrenden. Diese Aus- und Abgrenzung fördert die Entstehung einer Gruppensprache. Jenisch enthält aber auch einige Wörter, die eindeutig als Fachsprache erkennbar sind. Die Fahrenden übten verschiedenste Berufe aus, woraus sich spezielle Bezeichnungen für Dinge und Tätigkeiten ergaben. Jedoch finden diese Spezialbegrif- fe auch im jenischen Alltag Verwendung. Dahinter steht eine Lebensform, die kaum zwischen beruflicher Tätigkeit und sogenannter Freizeit unterscheidet. Friedrich Kluge schrieb dazu bereits 1929: „Es ist die hervorstechendste Geheimsprache, die wir haben, und zugleich die reichste Berufssprache, die wir kennen.“5 Aber auch als Geheimsprache dient das Jenische – Nicht-Eingeweihte, also Nicht- Jenische, verstehen die Inhalte des Gesagten nicht. Die linguistische Kategorisierung wird der jenischen Sprache nicht gerecht, denn sie blendet zwei sehr wichtige Merkmale aus. Erstens ist Jenisch eine Alltagssprache, eine Sprache also, die Menschen, die in jeni- scher Tradition leben, alltäglich verwenden. Eben nicht nur, um sich abzugrenzen, um über bestimmte fachliche Inhalte zu sprechen oder um Inhalte für Nicht-Eingeweihte

5 Friedrich Kluge, Unser Deutsch, Leipzig 1929, S. 65.

248 Das Jenische

im Verborgenen zu halten, nein, es ist ihre Sprache für ihre alltägliche Kommunikation. Zweitens verschweigt die Bezeichnung als Sondersprache, dass das Jenische eine (sehr wichtige) Funktion als Muttersprache erfüllt. Jenisch ist in jenischen Familien die Erst- sprache im Spracherwerb. Menschen, die in jenischer Tradition aufwachsen, leben immer in Zweisprachigkeit. Die Definition einer selbstständigen Sprache (Einzelsprache) ist sehr schwierig und umstritten. Es werden dazu sprachsystemische Kriterien, Kriterien der Verständlichkeit und sprachpolitische Kriterien herangezogen. Sämtliche Formen der Definition kreie- ren Graubereiche, die die Entscheidung, ob eine Sprache eine eigenständige Sprache oder doch nur eine Sprachvariante ist, nicht immer eindeutig ermöglichen. Verbunden ist diese Diskussion mit wichtigen soziolinguistischen Fragen, nämlich der Anerkennung von Sprachen als Amtssprachen bzw. als Minderheitensprachen. Die Anerkennung als Amts- oder Minderheitensprache hat weit reichende Folgen. So finden diese Sprachen bei Ämtern, Behörden und vor Gericht Verwendung.

Sprachpolitische Aspekte

Das Jenische erfüllt einige Kriterien, die eine Anerkennung als Einzelsprache begründen könnten, aber in jedem Fall ist das Jenische als Minderheitensprache zu sehen, nicht zu- letzt deshalb, weil das Jenische als autochthon gilt. Die sprachwissenschaftliche Einord- nung des Jenischen als sondersprachliche Variante wird vielen Fakten nicht gerecht und zementiert dieser Sprache einen Status, dem sie entwachsen sollte. Jedoch können auch Nicht-Einzelsprachen als Minderheitensprachen anerkannt werden, wie das in der Schweiz der Fall ist. Dort hat Jenisch den Status einer Minder­ heitensprache (trotz der sprachwissenschaftlichen Einstufung als Sondersprache). Dies ist sicherlich auf eine sehr rege politische Aktivität der Schweizer Jenischen zurückzufüh- ren, die sich in der Radgenossenschaft seit den 1970er-Jahren gut organisieren. Österreich hat die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen6 un- terzeichnet, völkerrechtlich trat sie für Österreich mit 1. Oktober 2001 in Kraft. Diese

6 Eine sehr brauchbare Beschreibung der Charta ist auf Wikipedia zu finden: http://de.wikipedia.org/wiki/ Europ%C3%A4ische_Charta_der_Regional-_oder_Minderheitensprachen (Zugriff 5.11.2012). Dort gibt es auch einen Link zum Bericht der Österreichischen Bundesregierung betreffend die Umsetzung der Ziele der Charta: http://www.bka.gv.at/site/3517/default.aspx (Zugriff 5.12.2012).

249 Heidi Schleich

Charta ist ein multilaterales Abkommen im Rahmen des Europarates mit den Zielen, die geschichtlich gewachsenen Regional- oder Minderheitensprachen als gemeinsames europäisches Erbe zu schützen und den kulturellen Reichtum Europas damit zu fördern. Darin sind u. a. folgende Aussagen zu finden:

Artikel 1 – Begriffsbestimmung Im Sinne dieser Charta: a. bezeichnet der Ausdruck „Regional- oder Minderheitensprachen“ Sprachen, i. die herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staa- tes, und ii. die sich von der (den) Amtssprache(n) dieses Staates unterscheiden; iii. er umfaßt weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern;

Artikel 7 – Ziele und Grundsätze 1. Hinsichtlich der Regional- oder Minderheitensprachen legen die Vertrags- parteien in den Gebieten, in denen solche Sprachen gebraucht werden, unter Berücksichtigung der Situation jeder Sprache, ihrer Politik, Gesetzgebung und Praxis folgende Ziele und Grundsätze zugrunde: a. die Anerkennung der Regional- oder Minderheitensprachen als Ausdruck des kulturellen Reichtums; (...) c. die Notwendigkeit entschlossenen Vorgehens zur Förderung von Regional- oder Minderheitensprachen, um diese zu schützen; d. die Erleichterung des Gebrauchs von Regional- oder Minderheitensprachen in Wort und Schrift im öffentlichen Leben und im privaten Bereich und/oder die Ermutigung zu einem solchen Gebrauch; (...) f. die Bereitstellung geeigneter Formen und Mittel für das Lehren und Lernen von Regional- und Minderheitensprachen auf allen geeigneten Stufen; (...)

250 Das Jenische

h. die Förderung des Studiums und der Forschung im Bereich der Regional- und Minderheitensprachen an Universitäten oder in gleichwertigen Einrich- tungen; (...) 2. Die Vertragsparteien verpflichten sich, sofern dies noch nicht geschehen ist, jede ungerechtfertigte Unterscheidung, Ausschließung, Einschränkung oder Bevorzugung zu beseitigen, die den Gebrauch einer Regional- oder Minderheitensprache betrifft und darauf ausgerichtet ist, die Erhaltung oder Entwicklung einer Regional- oder Minderheitensprache zu beeinträchtigen oder zu gefährden. Das Ergreifen besonderer Maßnahmen zugunsten der Re- gional- oder Minderheitensprachen, welche die Gleichstellung zwischen den Sprechern dieser Sprachen und der übrigen Bevölkerung fördern sollen oder welche ihre besondere Lage gebührend berücksichtigen, gilt nicht als diskri- minierende Handlung gegenüber den Sprechern weiter verbreiteter Sprachen. 3. Die Vertragsparteien verpflichten sich, durch geeignete Maßnahmen das gegenseitige Verständnis zwischen allen Sprachgruppen des Landes zu för- dern, indem sie insbesondere Achtung, Verständnis und Toleranz gegenüber den Regional- oder Minderheitensprachen in die Ziele der in ihren Ländern vermittelten Bildung und Ausbildung einbeziehen und indem sie die Massen- medien ermutigen, dasselbe Ziel zu verfolgen. 4. Bei der Festlegung ihrer Politik in bezug auf Regional- oder Minderhei- tensprachen berücksichtigen die Vertragsparteien die von den Gruppen, die solche Sprachen gebrauchen, geäußerten Bedürfnisse und Wünsche. Sie wer- den ermutigt, erforderlichenfalls Gremien zur Beratung der Behörden in allen Angelegenheiten der Regional- oder Minderheitensprachen einzusetzen.

Artikel 12 – Kulturelle Tätigkeiten und Einrichtungen 1. In bezug auf kulturelle Einrichtungen und Tätigkeiten – insbesondere Bib- liotheken, Videotheken, Kulturzentren, Museen, Archive, Akademien, Thea- ter und Kinos sowie literarische Werke und Filmproduktionen, volkstümliche Formen des kulturellen Ausdrucks, Festspiele und die Kulturindustrien, ein- schließlich unter anderem des Einsatzes neuer Technologien – verpflichten sich die Vertragsparteien, in dem Gebiet, in dem solche Sprachen gebraucht

251 Heidi Schleich

werden, in dem Ausmaß, in dem die staatlichen Stellen in diesem Bereich Zu- ständigkeit, Befugnisse oder Einfluß haben: a. zu den Regional- oder Minderheitensprachen eigenen Formen des Aus- drucks und der Initiative zu ermutigen sowie die verschiedenen Zugangsmög- lichkeiten zu den in diesen Sprachen geschaffenen Werken zu fördern; (...) f. zur unmittelbaren Mitwirkung von Vertretern der Sprecher einer bestimm- ten Regional- oder Minderheitensprache bei der Bereitstellung von Einrich- tungen und der Planung kultureller Tätigkeiten zu ermutigen; g. zur Schaffung eines oder mehrerer Gremien, die für die Sammlung, Aufbe- wahrung und Aufführung oder Veröffentlichung von in den Regional- oder Minderheitensprachen geschaffenen Werken verantwortlich sind, zu ermuti- gen und/oder sie zu erleichtern.7

Diese europäische Charta könnte sehr weitreichende Möglichkeiten für die jenische Kul- tur und Sprache eröffnen. Bis zur Anerkennung des Jenischen als Minderheitensprache in Österreich ist es aber ein mühevoller Weg, der möglicherweise noch nicht einmal be- gonnen wurde.

Beschreibung der Sprache

Die jenische Sprache zeichnet sich vor allem durch hohe Kreativität aus, die sich sehr schön im Wortschatz zeigt. Als Basis wird das regionale Idiom verwendet, Inhaltswörter werden mit Hilfe verschiedenster Methoden neu geschaffen. Die Sprachstruktur und die Funktionswörter, all jene Wörter, die primär eine grammatische Funktion erfüllen, wer- den hingegen wie in der zugrunde liegenden Sprache verwendet. Diese Tatsache ist ein wichtiger Grund, warum Jenisch häufig als Sondersprache – und nicht als eigenständige Sprache – beschrieben wird. Im jenischen Wortschatz sind keine abstrakten Begriffe zu finden, diese werden umschrieben.

7 http://conventions.coe.int/treaty/ger/Treaties/Html/148.htm (Zugriff 5.11.2012).

252 Das Jenische

Die Neuschaffung von Inhaltswörtern kann in drei Kategorien eingeteilt werden: 1. Neuschöpfungen auf der Basis deutschsprachiger Wortbildungsmittel 2. Wörter werden aus fremden Sprachen geschöpft oder entlehnt 3. Mischungen aus 1 und 2.

Zu 1. Neuschöpfungen auf der Basis deutschsprachiger Wortbildungs­mittel: Die Schaffung von Wörtern unter Verwendung deutscher Elemente lässt sich in zwei Kategorien einteilen. Einerseits werden Wörter mit Hilfe deutscher Wortbildungsmittel, z. B. Suffixen erzeugt, andererseits entstehen neue Wörter durch Bedeutungswandel. Im Jenischen sind die Suffixe -ling, -er, -erei, -hard und Diminutivsuffixe zu finden. Beispiele hierfür sind: Säuerling (Essig), Hitzling (Ofen bzw. Sommer), Stichling (Nadel), Sitzling (Stuhl), Stiftling (Nagel), Stinker (Zwiebel), Klopfer (Hammer), Funker (Ofen), Pegerei (Begräb- nis), Butterei (Essen), Schallerei (Glockenläuten), Stinkert (Stall; verkürzte Form von -hard), Straubert (Haar; ebenfalls verkürzte Form von -hard), Funkerle (Feuerzeug; Di- minutivsuffix), Knackerle (Nuss; ebenfalls Diminutivsuffix). Es finden sich auch Wortbildungen auf der Basis von Halbsuffixen. Hier ist vor allem das Halbsuffix -pflanzer zu erwähnen. Das jenische Wort „pflanzen“ wird mit „machen“ übersetzt. Als Substantiv, also „Pflanzer“ im Sinne von „Macher“, existiert dieses Wort nicht, jedoch wird es als Halbsuffix verwendet. Damit wird aus Schottele (Korb) und „pflanzer“ der Schottelepflanzer, also der Korbmacher. In gleicher Weise sind die -Be griffe Trittlingpflanzer (Schuhmacher) oder Pegererpflanzer (Schreiner, Sargmacher) zu sehen. Die deutsche Sprache gilt als sehr leistungsstark in der Wortbildung. Es werden lau- fend neue Wörter gebildet, vorerst meist umgangssprachlich. Manche der so entstan- denen Wörter finden sehr schnell Eingang in die Standardsprache. So ist der Begriff „googeln“ (abgeleitet von der Suchmaschine Google) seit 2004 im Duden zu finden und wurde somit in die deutsche Standardsprache integriert.8 Die Stärke der deutschen Spra- che in der Wortbildung nützt und nützte das Jenische sehr kreativ. Auch die Schaffung neuer Wörter durch metaphorischen Bedeutungswandel zeigt die hohe Kreativität des Jenischen. Der Bedeutungswandel erfolgt in der Form, dass

8 Eine Aufnahme in den deutschen Duden wird häufig gleichgesetzt mit einer Aufnahme in die deutsche Standard- sprache.

253 Heidi Schleich

Teile des Gegenstandes benannt werden, die Funktion benannt wird oder eine (wichti- ge) Eigen­schaft. Die Benennung dieses Teiles steht für den gesamten Begriff. Beispiele hierfür sind Blattling (Salat), Bräunling (Kaffee), Florian (Wasser), Funk (Feuer), Klop- fer (Hammer), Trittling (Schuh), Stachling (Igel), Buggl (Arbeit; abgeleitet von Buckel), Dachlinger (Regenschirm), Flatterling (Vogel), Flössling oder Glattling (Fisch), Griffling (Finger, Hand) etc.

Zu 2. Entlehnungen aus fremden Sprachen: Um den verhüllenden Charakter der jenischen Sprache zu gewährleisten, bietet sich fremdsprachliches Wortgut an. Für die Entlehnung kommen Sprachen in Frage, mit de- nen jenische Menschen in Kontakt waren. Dies geschieht einerseits durch Begegnungen aufgrund ähnlicher Lebensweisen, andererseits aufgrund von Reisen durch fremdspra- chige Gebiete. Das Jenische im Tiroler Raum hat Wurzeln in den Roma-Sprachen, im Jiddischen, im Latein und in den Romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch). Als Beispiele seien hier erwähnt: tibern (sprechen; von Jiddisch dabbern, dibbern), Schecherer (Händler; von Jiddisch socher), mulo (tot; aus der Roma-Sprache múlo), Maro (Brot, aus der Roma- Sprache máro), patronallen (beten; von Latein pater noster), Patrus (Vater; von Latein pater), Bummerling (Apfel; von Französisch pomme), turmen (schlafen; von Französisch dormir).

Zu 3. Mischungen: Zu dieser Kategorie zählen all jene Wörter, die als hybride Komposita in Erscheinung treten. Sie bestehen aus Wortteilen, die sich aus verschiedenen Sprachen herleiten las- sen. Eine zweite Variante sind Derivationen, deren Wortstamm aus einer Fremdsprache stammt und mit einem deutschen Suffix verbunden wurde. Zu dieser Gruppe gehören z. B. folgende Begriffe: Schuntbohrer (Rettich; schunt aus der Roma-Sprache čhindav für abschneiden, tren- nen), Schuberle (Geist; von Jiddisch schuw für zurückgekehrt und dem deutschen Dimi- nutivsuffix -erle) etc. Die jenische Sprachkultur war eine mündlich tradierte. Es gibt keine (älteren) schrift- lichen Dokumente dieser Sprache. In neuerer Zeit entsteht mehr und mehr jenische Li- teratur, was sehr erfreulich und unterstützenswert ist. Es entstehen auch vermehrt Do- kumentationen (in Buchform, als Ausstellungen oder Filme) über die verschiedensten

254 Das Jenische

jenischen Gruppen in Europa, ebenso wissenschaftliche Arbeiten.9 Im Sinne der von Österreich unterzeichneten Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitenspra- chen müssten all diese positiven Bestrebungen dringend große öffentliche Unterstützung erhalten.

Einfluss auf die Standardsprache

Es gibt einige jenische Begriffe, die in der Standardsprache bzw. in der Umgangsspra- che verwendet werden, wie etwa folgende Beispiele zeigen: bibern (frieren), Buggl bzw. buggln (Arbeit, arbeiten), gschutzt (verrückt), Hegel (Mann, Kerl), kneisn (verstehen, kennen), Kohldampf (Hunger), Putz (ausgesprochen als pu:z; Polizist), Schunt (Dreck, Kot), spannen (schauen), Walz (Wanderschaft) etc. Die Begriffe Walz, Kohldampf, Schunt (in der Schreibweise Schund) sind im Duden verzeichnet. Die Tatsache, dass jenische Begriffe in die Umgangs- bzw. Standardsprache Eingang gefunden haben, erscheint mir als sehr wichtig. Sie zeigt, dass der Kontakt zwischen Jeni- schen und der sesshaften Bevölkerung stattgefunden hat. Schließlich waren die Jenischen in Zeiten, in denen das Transportwesen und die Nahversorgung noch nicht so ausgebaut waren, wichtige LieferantInnen von Waren und von Informationen.

Rückschlüsse auf die Kultur

Die Beschäftigung mit dem jenischen Wortschatz eröffnet einige Rückschlüsse auf die jenische Kultur und Lebensweise. Die Wortgruppe rund um den jenischen Begriff „pe- gern“ (sterben) veranschaulicht dies sehr schön. Der jenische Begriff „pegern“ wird mit sterben übersetzt. Dazu gruppieren sich pe- gert (gestorben, tot), Pegerei (Beerdigung), Pegererpflanzer (Schreiner, der, der den Sarg macht) und Pegererschinaggler (Totengräber). Darüber hinaus finden sich die Begriffe pegerisch (krank), Pegererkanti bzw. Pegerschrenz (Krankenhaus) und Pegerer (Arzt). Kranksein bedeutet also wohl Todkranksein: zum Arzt oder ins Krankenhaus geht, wer

9 Auf der Homepage www.jenisch.info ist sehr viel Information zum Thema Jenische zu finden. Dort gibt es auch Links zu einzelnen Vereinen in europäischen Ländern und Hinweise für Literatur und Veranstaltungen.

255 Heidi Schleich

im Sterben liegt. Hier ist eine große Nähe zwischen Sterben und Kranksein erkennbar. Je- nische haben die allgemeine medizinische Versorgung offenbar nur bei schwerwiegenden Erkrankungen (in Todesnähe) in Anspruch genommen. Es gibt einige Berichte über gute Kenntnisse der Jenischen in Naturheilkunde. Daraus lässt sich schließen, dass die Jeni- schen nur dann ins Krankenhaus bzw. zum Arzt gingen, wenn sie sehr schwer erkrankten – ins Krankenhaus ging man, um zu sterben, nicht, um gesund zu werden.

Herkunft der Jenischen

Die Frage nach der Herkunft der Jenischen ist schwer zu beantworten. Es gibt dazu viele (teils widersprüchliche) Hypothesen, keine jedoch liefert eine zufrieden stellende Antwort. Eine Erklärung geht davon aus, dass die Jenischen aus der ansässigen Bevölkerung her- vorgingen. Sie seien durch soziale Umstände, hier vor allem Armut, zur Wanderschaft gezwungen worden. Hierfür spricht die Tatsache, dass es im historischen Raum Tirol zahl- reiche Berufsgruppen gab, die auf Wanderschaft waren. Die berühmtesten unter ihnen waren wohl die Imster Vogelhändler. Andere Erklärungsversuche sehen Jenische als Über- bleibsel von Flüchtlingen (z. B. aus dem Dreißigjährigen Krieg) oder als Teil der Roma. Hier erscheint es mir wichtig, einen Schritt zurück zu denken. Die Frage nach der Herkunft der Jenischen geht von der Tatsache aus, dass die Sesshaften „immer“ schon da waren und dann irgendwann im Lauf der Geschichte die Jenischen aufgetaucht sind. Diese Betrachtung lässt jedoch eine wichtige historische Tatsache außer Acht. In der Geschichte der Menschheit steht niemals die Sesshaftigkeit an erster Stelle. Die ersten Menschen lebten nomadisch. Josef H. Reichholf schreibt dazu:

Unserer Natur nach sind wir Nomaden. Seit Urzeiten streiften die Menschen als Jäger und Sammler umher. Doch vor etwa 10.000 Jahren ereignete sich etwas Besonderes. Im Vorderen Orient wurde der Ackerbau erfunden. (...) Denn mit der Zahl der Menschen steigt die Produktivität. Aus ihr geht „Be- sitz“ hervor. Menschen und Besitz verbinden sich zur Macht.10

10 Josef H. Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden, Frankfurt a. M. 2008, S. 9.

256 Das Jenische

Es könnte also durchaus sein, dass sich in der jenischen Kultur die älteste Lebensform bis in die heutige Zeit erhalten hat. Damit wäre die Frage nach der Herkunft der Jenischen neu zu stellen.

Abschließend ein jenisches Gedicht von Romed Mungenast:

Kneisesch, Gadsche, d’Jenischen?

D’Scheinling spannen in die Menggl. Novus lingg, gwant. Der Klinglan linsesch Naschesch mit’m Schuberler ins Turmen. Schugger, deine Ranggerlen! Tschorsch die Ranggerlen die Cholom Lengsch ihnen novus s’Pläri zum letzmen. S’Lowi isch dein Paradebl, Gadsche, schinagln ... schinagln bis pegersch. ... naschesch am Sein mulo – Das Sein – dein Dofes. i kneis di, Gadsche, dass’d aus die Scheinling flösslsch.

Verstehst du Sesshafter mich Jenischen?

Meine Augen sehen in dein Gesicht. Ohne Falsch, gütig. Unserer Musik lauschst du und wanderst im Geist zu vergangenen Mythen. Wie schön deine Kinder sind!

Du stiehlst ihnen aber die Träume, gibst ihnen wenig Raum und noch weniger Zeit, zu spielen.

257 Heidi Schleich

Geld, Geld und Besitz sind dein Gott, Sesshafter, und arbeiten ... arbeiten bis zum Tod. ... und gehst am Leben vorbei – du bist in Sesshaft genommen, Sesshafter. Ich versteh dich, Sesshafter, dass du traurig bist.11

11 Romedius Mungenast (Hg.), Jenische Reminiszenzen, Landeck 2001, S. 153.

258 Sieglinde Schauer-Glatz

Fragmente meines Lebens

Mein Bruder und ich wurden 1948, er mit zwei Jahren und ich mit zwei Monaten, von der Fürsorge getrennt und zu verschiedenen Bauernfamilien gebracht. Die Absicht war es, Jenische von der Straße wegzubringen, sie sesshaft – zu „anständigen und rechtschaffe- nen Bürgern“ – zu machen. Ich kam zu einer Witwe mit zwei Töchtern ins Ötztal, deren Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Trotz Vorsichtsmaßnahmen meiner Pflegemut- ter lernte ich ohne Worte den negativen Beigeschmack meiner Herkunft kennen – denn manchmal, wenn gefragt wurde, „Wer ist denn das nette kleine Mädchen?“ kam es zu einem Zuflüstern und das vorher freundliche Gesicht verwandelte sich. Meine Kinder- augen registrierten geringschätzige Blicke, es folgte eine sofortige Verabschiedung. Ich begriff sofort, dass meine Herkunft nichts Gutes zu bedeuten hatte. Nach dem Tod meiner Pflegemutter, als ich die Schule abgeschlossen hatte, begann ich mit 17 meine leibliche Mutter zu suchen. Ich fand sie 1966 im (früheren NS-Ar- beitserziehungs-) Lager Reichenau in Innsbruck. Von ihrer Behausung und den dortigen Lebensumständen, von Sprache, Freizügigkeit und der mir damals unbekannten Lebens- freude erwachsener Menschen, welche mir absolut sündhaft erschien, war ich bestürzt und entsetzt. Damals wusste ich noch nicht, dass hier zwei Kulturen und Lebenseinstellungen auf- einanderprallten. In der Reichenau wurde mir der Stempel, den meine Herkunft aufge- druckt bekam, leibhaft dick bestätigt. Dementsprechend war dieser Besuch bei meiner Mutter eine große Enttäuschung. Ich war der Meinung, dass sie mich ohnehin nicht gewollt hatte – da fiel es mir leicht, ihr den Rücken zu kehren, und ich war heilfroh, mit diesen Menschen nichts zu tun zu haben. Ich besuchte sie noch ab und zu, hatte aber kein Vertrauen zu meiner Mutter, zu meinem Vater oder zu meinen Geschwistern. Von den eigenen Leuten wurde ich auch nie wirklich angenommen und blieb eine Außensei- terin. Es waren nichts anderes als klägliche Versuche einer Annäherung.

259 Sieglinde Schauer-Glatz

Als ich viele Schicksalsschläge, die mein Leben geprägt haben, überwunden hatte, stellte sich durch Zufall die Frage meiner Herkunft. Bei einer Lesung von Mariella Mehr lernte ich mit 49 Jahren Romed Mungenast kennen. Der Name Mungenast war mir be- kannt und ich wusste, das könnte ein Verwandter sein. Romed bestätigte mir unsere Verwandtschaft. Dadurch erfuhr ich auch, wer ich war, konnte mich mit meiner Her- kunft auseinandersetzen und sie aufarbeiten. Aus heutiger Sicht habe ich einen anderen Zugang, spüre und verstehe meine Kultur. Mein Verständnis kommt für meine Eltern zu spät, umso mehr bemühe ich mich und fühle mich verpflichtet, diese angeprangerten Vorurteile richtig zu stellen. Mein Engagement gegen Ausgrenzung spiegelt sich u. a. in meiner 15-jährigen beruf- lichen Tätigkeit im Sozialbereich, als Vorkämpferin und Mitbegründerin der integrativen Volks- und Hauptschule für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Österreich und in meiner Aktivität als Vorstandsmitglied der Initiative Minderheiten Österreich wider. Insofern war es mir auch ein Anliegen, an der Dokumentation „Bocksiedlung – eine fil- mische Spurensuche“ mitzuwirken (Regie: Melanie Hollaus, Österreich 2012). Ich schreibe Lyrik, Mundartgedichte, Theaterstücke und Märchen. Warum ich das mache? Schreiben hilft oder zwingt zum Erinnern, es hilft, das selbsterwählte Exil „Sich- Verschweigen“ zu durchbrechen. Hier kann Schreiben eine Befreiung sein. Der Prozess, sich zur Herkunft zu bekennen, ist sehr schwierig. Uns hat die Wissenschaft als aso- zial, schwachsinnig und arbeitsscheu deklariert. Wie fühlt man sich da? Minderwertig, schwach, als ein Niemand, man möchte sich am liebsten verkriechen. Ich bin in ein Loch oder ins Leere gefallen, in eine Zwischenwelt oder in ein Niemandsland. Menschen, die Angst haben, sich zu bekennen, kann ich gut verstehen. Schreiben ist ein Anker, an dem ich mich festhalten kann. Schreiben kann direkt nichts verändern, aber das Unsichtbare sichtbar machen.

260 Fragmente meines Lebens

ASYLANT

Als Fremdling ausgestoßen ins Heimatlose wo die Sprache der Sprachlosen herrscht und zwischen nicht gesagtem Wortgepinsel und Zeit schlagen sich Tage in Stücke im Ringen des Zweifels hat das schweigsame Land entschieden über dein Schicksal – Fremder.

KONZENTRATIONSLAGER

Ort des Hasses, der Gewalt, wo Hoffnung schwindet, sich keine Sternblume erhebt, holt der Zigeuner seine Geige, fiedelt verzweifelt im Schattenspiel des Todes bis ascherne Luftgräber dem Himmel sich öffnen und morgen schon sind schwarze Wundzeiten weiß gewaschen

261 Sieglinde Schauer-Glatz

FEIND BILD LINGGER SCHURI

Großer Lehrer Grawiser Diftlschaller ich versteh dich und schäme mich i kneis di und schummel mi kein Geld novus Lowi wir sind die schlechten Menschen mir sein novus gwante Ulmen von der Straße von der Strade deine Augen sind auf deine Scheinling spannen auf den Feind gerichtet den linggen Schuri, den Dreck, die betteln und stehlen den Schunt, die pfliagln und tschoren du bist größer als die Wirklichkeit du bisch grawiser als die Wirklichkeit nur du weißt, was gut ist nur du kneist, was gwant isch ohne Reflexion ohne Blender da hilft kein Beten da hilft novus Patronallen der Teufel schläft nicht der Noggl durmt novus das ist der Geist das isch der Schuberler von gestern von letzt Schein heute oder heit Schein oder morgen? ander Schein

262 Alois Lucke

„Die Verbrechen an mir, meiner Familie und meiner Volksgruppe“

Alois Lucke, geb. am 4.3.1956 in Innsbruck als Alois Haslacher.

Vater: Franz Haslacher, Jg. 1911 Mutter: Maria Haslacher, geborene Monz, Jg. 1913

Mit zirka sechs Jahren wurde ich in das Erziehungsheim Westendorf eingewiesen. Be- gründung: „Alois untergräbt die Moral der Schulklasse.“ „Alois ist ärmlich gekleidet.“ (Wir waren eben die Karrner oder Jenischen.) Insgesamt verbrachte ich etwa fünf Jahre in verschiedenen Heimen. In Westendorf wurde ich schwer misshandelt und missbraucht. Diese Zeit war für mich die „Hölle auf Erden“. Kurz nach meiner Einweisung nach Westendorf wurde mein Vater in die psy- chiatrische Klinik Hall verbracht. Dort dauerte sein Sterben zwölf Jahre. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass mein Vater, Franz Haslacher, alles andere als dumm war. Auch viele meiner Geschwister wurden in Erziehungsheime eingewiesen, und somit wurde die ganze Familie zerstört. Ich und auch meine Geschwister waren vom Bildungs- weg abgeschnitten und unsere Zukunft verbaut. Entsprechend gering waren unsere Ent- wicklungschancen. Mit 15 Jahren erlernte ich den Beruf des Schlossers. Später heiratete ich und bekam mit meiner Frau vier Kinder. Nach einigen Jahren änderten wir den Familiennamen auf Lucke, um den anhaltenden Diskriminierungen und Ausgrenzungen aus dem Weg zu gehen. Mit Hilfe einer Therapie versuche ich, die Vergangenheit aufzuarbeiten, um eine bessere Lebensqualität für mich zu erreichen. Wenn der Staat Österreich die Verantwortung für die Verbrechen an mir, meiner ­Familie und an meiner Volksgruppe verantworten müsste, wäre das ein Ding der Un- möglichkeit!

263 Alois Lucke

DAS AHORNBLATT

Sonne strebt zum Wendekreise, wurde müde übers Jahr und auf sonderbare Weise, folgt ihr auch der Vögel Schar. In einer Furch von schwerer Last, liegt ein Ahornblatt verloren. Weit entfernt von seinem Ast, wird das kleine Blatt verdorren.

Manchen Sturm hat es bestanden. Hing so fest an seinem Stamm. Wenn sich Sonnenstrahlen fanden, nahm es diese dankbar an.

Lebe wohl du Licht des Lebens, wirst noch viele Kreise zieh’n. Nicht ein Blatt hing hier vergebens, tausend Neue werden blüh’n.

264 „Die Verbrechen an mir, meiner Familie und meiner Volksgruppe“

VERSTEHEN

Ich möchte verstehen, den Tag und die Nacht. Das Kommen und Gehen, den Sinn einer Schlacht.

Ich möchte gern fragen, die Wolken, den Wind. Sie wagen zu sagen, wie töricht wir sind.

Ich habe vernommen, der Vögel Gesang und sehe verschwommen, die Reiter am Hang.

Wer kann erkennen, die Zeichen der Zeit. Wenn Völker verbrennen, dann ist es so weit.

265 Alois Lucke

JENISCHES LIED

A Sore im Randi Eine Ware (für den Handel) im Rucksack hen novus an Tar. Wir haben keine Angst. De Gotl linst grandi Die Sonne scheint prächtig de Glischti hen rar. Polizei ist keine unterwegs.

Verbiggern an Malli Verkaufen Stoff, an Bedi a Bux. Regenschirme eine Hose. Hen gschuberte Bali Verkaufen auch falsche Haare, quant Schikse und Schuks. beste Qualität meine Damen und Herren.

Der Gallach pflanzt Kari Der Pfarrer sagt nicht die Wahrheit ban sem Patronall. bei seiner Predigt. Sen Schikse hen pari Seine Freundin ist schwanger pfreimt novus der Trall. und er bezahlt nicht dafür.

Oh Meingga, oh Meingga, Oh Mutter, (Frau) oh Mutter, de Rangga sen fort. die Kinder sind fort. De Ruachn, de Niggl Die Fremden, diese Teufel, se hechten se tschort. haben sie uns gestohlen. Oh Meingga, oh Meingga, i fraggl me o, Oh Mutter, oh Mutter, ich frage mich so oft, me hen dene Ruachn do novus je to. Wir haben diesen Fremden doch niemals etwas Böses getan.

266 Elisabeth M. Grosinger-Spiss

Jenische in Tirol

Einleitung

Das jenische Volk: Erzwungene Armut, abwertende Fremdbezeichnungen, mit einer ei- genen Sprache und Kultur, verfolgt und misshandelt, Kindeswegnahmen, Unterbringung in Erziehungsheimen, Pathologisierung, Resozialisierung, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, bis heute in Österreich als Volksgruppe nicht anerkannt. Am 12.11.2008 bekam ich eine Mail mit folgendem Inhalt:

Erst vor kurzem sprach ich offen mit meinem Vater über seine Herkunft, und er bestätigte mir, dass er ein Jenischer ist. Er war von Beruf Messer- und Scheren- schleifer, genau wie sein Vater. (…) Schon als Kind merkte ich, dass mein Vater für gewisse Dinge andere Worte verwendete als gewöhnlich. Für mich war das normal. Er redete nicht viel über seine Herkunft, weil seine Familie es schwer in K. hatte. Sie waren halt die ‚Karrner‘. Auch ich bekam es zu spüren, weil immer wieder über uns gesprochen wurde, obwohl mein Vater immer ordentlich seinem Beruf nachgegangen ist und brav seine Steuern gezahlt hat. Der Familie meines ersten Jugendfreundes wurde nahegelegt, dass eine aus so einer Familie nicht die Richtige sei usw. Mein Vater, heute (…) Jahre, kam zufällig in K. bei der Durchreise auf die Welt und so sind meine Großeltern eben dageblieben. Als Kind konnte ich in den Fe- rien oft mit meinem Vater auf die Reise gehen. Es machte mir riesigen Spaß, in Heustadeln zu schlafen, mit den Bauernkindern zu spielen, und trotzdem spürte ich, dass ich nicht bin wie sie. Man spürte oft die Anfeindungen, dass wir, so wie die Tiroler eben auch sagen, die ‚Hausierer‘ sind (…).

Die nachstehenden Kapitel sollen einen umfangreichen Einblick in die Geschichte des jenischen Volkes in Tirol geben.

267 Elisabeth M. Grosinger-Spiss

Ursprünge

Über den Ursprung des jenischen Volkes gibt es unterschiedliche Theorien:

In der Ausstellung „Les arts des voyageurs“1 über die jenische Kunst und Geschichte wurde 2007 als wahrscheinlichste Theorie eine keltische Herkunft angenommen. Dafür wird die Studie von Björn Uwe Abels „Waberla bei Ehrenbürg – Forchheim“ angeführt.2 Eine andere ist, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg tausende Männer aus dem Oberinntal, dem Lechtal, aber auch aus Vorarlberg und dem Trentino als Bauhandwer- ker nach Deutschland auf Saisonarbeit gegangen sind. Zwecks eines Zusatzverdienstes waren andere im Ausland als Flößer, Trifter, Holzfäller, Kraut- oder Sauschneider, Last- enträger, ErntetagelöhnerInnen, ÄhrenleserInnen, Eisenträger usw. tätig. Um einen Esser weniger zu Hause zu haben, arbeiteten zahlreiche Kinder von März bis November im Schwabenland. Im 17. Jahrhundert gab es vermehrt Berichte, dass Bauern aufgrund der Realtei- lung3 häufig einer Nebenerwerbstätigkeit nachgehen mussten. Durch diese konnte viel- fach eine Abwanderung verhindert werden. Die Güterteilung im Tiroler Oberland, der Schwerpunkt der Tiroler Jenischen lag im Vinschgau, schritt exzessiv fort. Hierfür zeugt beispielhaft ein Haus in Grins, in dem selbst die Küche mit einem Kreidestrich aufgeteilt wurde, auch der Herd und die einzige Kuh wurden von einer solchen Güterteilung nicht ausgenommen.4 Kleinbauern und -bäuerinnen begannen mit einem Tauschhandel. Dass die Wandersip- pen einheimischen Ursprungs waren, zeigt die Tatsache, dass die Namen überwiegend mit jenen der sesshaften Familien ident gewesen sind. Meines Erachtens sind hier die Wurzeln der Jenischen zu suchen. Diese Annahmen gehen davon aus, dass wandernde Gruppen die bäuerliche Bevölke- rung mit den Waren des täglichen Bedarfs versorgten.

1 Die Ausstellung „Les arts des voyageurs“ fand vom 18.10.2007 bis 19.11.2007 in den „Schaugängen am Inn“ des Landesschulratsgebäudes in Innsbruck, Innrain 1, 4. Stock, statt. 2 Ebd., Tafel 2. 3 Realteilung: Eine gleichmäßige Aufteilung des Eigentums auf die Kinder, bis hin zu kleinsten Einheiten. 4 Roman Spiss, Saisonwanderer, Schwabenkinder und Landfahrer, Tiroler Wirtschaftsstudien Bd. 44, Innsbruck 1993, S. 75f.

268 Jenische in Tirol

Eigen- und Fremdbezeichnung

Die Eigenbezeichnung der LandfahrerInnen ist „Jenische“, was nach der Sprachwissen- schafterin Heidi Schleich sinngemäß als „Eingeweihte“ übersetzt werden kann. Norbert Mantl bezeichnet sie in seiner Außensicht als „die Jenseitigen“, die außerhalb der Gesell- schaft lebenden Menschen, deren Namen man nicht aussprechen will.5 „Man spürte oft die Anfeindungen, dass wir, so wie die Tiroler eben auch sagen, die Hausierer sind. Wir waren halt die Karrner!“6 Wenn heute noch über die Jenischen gesprochen wird, werden diese sehr selten so bezeichnet. Häufig sind noch die Sprüche wie: „Von Telfs bis Schönwies ist das Dör- cherparadies“ oder „In Telfs ist die Wiege, in Mötz die Schreibstube, in Nassereith das Kommando der Dörcher“. Der Begriff „Dörcher“ wurde erstmals 1728 in der Zuzugsordnung für die Gemeinde Zams erwähnt. Dieser ist wohl jiddischen Ursprungs („derech“) und bedeutet Bettler, Landgeher oder Weg. 1769 wurde erstmals urkundlich die Bezeichnung „Karrner“ erwähnt. Diese im Tiroler Raum häufigste Bezeichnung leitet sich vom zweirädrigen Karren ab, welchen sie gezogen ha- ben. Die Begriffe „Karrner“ und „Dörcher“ werden vor allem als Schimpfwörter verwendet. Als „Laninger“ oder „Laniger“ werden sie im Raum Telfs und Umgebung bezeichnet. Abgeleitet sind diese Bezeichnungen von den Lagerplätzen auf dem gefährdeten Murke- gel oder Lawinenstrich, der „Lahn“. Im süddeutschen Raum waren sie die „handelnden Tyroler“ oder „Tyroler“, im Vinschgau „Storchen“ oder „Störche“, „Herumziehende von einem Ort zum anderen“.7

Sprache

Für viele gilt Rotwelsch als Oberbegriff für die jenische Sprache. Dabei handelt es sich allerdings um eine negativ besetzte Fremdbezeichnung. Es ist die Sprache der Nichtsess-

5 Heidrun Schleich, Die jenische Sprache in Tirol, Diplomarbeit, Innsbruck 1998, S. 5 u. 39. 6 Mail vom 12.11.2008 (siehe Einleitung). 7 Georg Jäger, Die Landfahrer oder Jenischen. Eine vergessene Tiroler Sprachgruppe, in: Peter Holzer, Cornelia Feyrer (Hg.), Text, Sprache, Kultur: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Instituts für Übersetzer- und Dolmetscheraus- bildung der Universität Innsbruck, Frankfurt a. M. 1998, S. 315–332, hier S. 316f.

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haften sowie deren Nachkommen im deutschen Sprachraum. Jenisch ist eine positive Eigenbezeichnung, ist ein Unterbegriff für dieselbe Sprache im süddeutschen Raum, auch in Tirol und in der Schweiz. Die Entstehung scheint auf die Geheimhaltung des Gesagten zurückzuführen zu sein.8 In der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts wird der Mehrheitsbevölkerung das Bild vermittelt, dass die „Dörcher“ sich nicht nur in einer eigenen Sprache untereinander ver- ständigen können, sondern dass sie eine geheime Zeichensprache für ihre Wanderzüge benützen.9 Die Ausstellung „Les arts des voyageurs“ im Jahr 2007 zeigte auf, dass es auch bezüg- lich der jenischen Sprache verschiedene Theorien gibt. Dort, wo Jenische noch ganzjäh- rig wanderten, war es notwendig, dass sie sich untereinander, auch mit jenen aus anderen Ländern, verständigen konnten. So wurde das Jenische zu Beginn als Handelssprache verwendet. Aufgrund von Assimilierung, Kriminalisierung und Diskriminierung wurde das Jeni- sche als Geheimsprache genutzt, da die Bedeutung des Wortes „Jenisch“ sinngemäß als „eingeweiht“ übersetzt werden kann. Im Laufe der Zeit kam es innerhalb der europäi- schen Jenischen zu regionalen Ausprägungen. In der Folge wurde die jenische Sprache tabuisiert und als Schutzmaßnahme lehrten die Älteren unter den Jenischen den Kindern die Sprache nicht mehr. Für die Wissen- schaft ist es sehr schwierig, die Sprache zu erforschen und niederzuschreiben, da die meisten Jenischen ihre Identität aufgrund der Historie nicht öffentlich machen. Die Spra- che lebt jedoch im Verborgenen.10

Ehe und Familie

Einen „Ehekonsens“, die Erlaubnis zur Eheschließung, stand Heiratswilligen nur zu, wenn diese nachweisen konnten, dass es ihnen möglich ist, eine Familie zu erhalten. Auf- grund ihres Lebens in ärmlichen Verhältnissen wurde den Jenischen zumeist der „Ehe- konsens“ verweigert, sodass sich viele entschieden, eine „Rom-Ehe“ einzugehen.

8 Schleich, Die jenische Sprache, S. 24ff. 9 Elisabeth Grosinger, ROMA und JENISCHE im SPIEGEL ihrer Zeit – eine vergleichende Studie, Dissertation, Innsbruck 2003, S. 27. 10 Ausstellung „Les arts des voyageurs“, Tafel 5.

270 Jenische in Tirol

Im „Tiroler Fremdenblatt“ aus dem Jahr 1887 heißt es, dass ihnen die Gemeinden die Bewilligung zur Heirat verweigerten und diese daraufhin nach Rom zogen, wo sie ein christliches Ehebündnis eingehen konnten. Nach der Rückkehr in ihre Heimatgemeinde wurden sie dann zumeist mit einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe belegt. Und um sie in Zukunft von ihrer Heimatgemeinde fernzuhalten, gab man ihnen 50 Gulden mit der Botschaft, dass ihnen nicht mehr einfallen möge, den heimatlichen Boden zu betreten.11 Für eine legale Trauung war den Jenischen oft kein Weg zu weit und so zogen sie nach Rom. Der Papst als „parochus parochorum“ konnte jeden Katholiken trauen, für ihn stellte Armut kein Hindernis dar. Doch 1870 wurde Rom der weltlichen Herrschaft des Königs einverleibt, was das Ende der „Rom-Ehen“ bedeutete. Seitens der Mehrheitsbevölkerung wurde an der Kindererziehung der Jenischen im- mer wieder massive Kritik geübt, nämlich, dass sie die Erziehung ihrer Kinder ganz ver- nachlässigen würden. Da bereits von den Eltern ein überwiegender Hang zum Bösen, zur Arbeitsscheu und Ungebundenheit auf die Kinder überginge, seien diese Kinder, selbst wenn sie von einer ordentlichen Familie angenommen würden, nur „schwer zu recht zu bringen“. Die Schule besuchten sie zumeist gar nicht und wenn sie in die Schule kämen, dann würde zu Hause wieder „niedergerissen, was in der Schule aufgebaut worden ist“. Z. T. sei es besser, wenn sie die Schule gar nicht besuchten, denn sie würden die anderen Kinder ohnehin nur verderben. Zumeist wüchsen diese mit Haus- und Straßenbettel wild auf, was sie zu gefährlichen Leuten werden lasse.12

Meistens haben die Karrnerkinder von der Gemeinde zugewiesene Plätze gehabt. Die Kinder sind dann noch ausgestattet worden. Die Gemeinde hat Beiträge ge- zahlt. Ausgestattet heißt, dass man die Kinder zu Pflegeeltern gegeben hat. Diese sind dann im Februar auf die Gemeinde gekommen und haben für die Kinder das Geld abgeholt. Ich weiß noch, dass im Ötzerberg drinnen beim ‚Kurulek‘ auch so ein Kind war. Der Pflegevater war ein Kriegshinterbliebener, einer vom Ersten Weltkrieg. (…) Die Leute haben sich freiwillig bereit erklärt, solche Kinder aufzunehmen. Die Gemeinde hat ‚Obsorge leisten‘ müssen und dann hat man sie

11 Tiroler Fremdenblatt, Organ zu Hebung des Fremdenverkehrs in Tirol und Vorarlberg und dem bayr. Hochland, III. Jg., 38 (1887), S. 412, Museum Ferdinandeum W 1572. 12 Volks- und Schützenzeitung für Tirol und Vorarlberg, 11, 16 ( 1856), S. 73, Museum Ferdinandeum W 3812.

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zu dem hingetan, der sie angenommen hat. Der hat dann auch die Unterstützung dafür bekommen.13 Das mit der Nichterziehung oder der schlechten Erziehung, das kann gar nicht stimmen, im Gegenteil. Sie sind sogar strenger erzogen worden. Das ist klar, der Mann hat keine Arbeit gehabt, hat immer auf Reisen gehen müssen, er ist überall ausgestoßen, überall auf die Seite gestellt worden. Dass er ein anderes Gemüt hat als die anderen, das ist nun einmal ganz logisch. Die Kinder haben gehorchen müssen, die haben auch gehorchen lernen müssen gegen die Besseren, die dort erzogen worden sind. Das ist auf keinen Fall die Wahrheit, weil dann müssten meine Kinder – und ich habe zehn lebende Kinder – alles Gauner sein. Die sind nun einmal alle recht erzogen.14

In der Schweiz wurden zwischen 1926 und 1973 hunderte Kinder bereits im Säuglingsal- ter den „SippenwandererInnen“ weggenommen und der privaten Fürsorgeorganisation „Pro Juventute“ zur Aufsicht übergeben. Auch den Jenischen in Tirol wurden die Kinder weggenommen, damit die „schlechten, angeborenen Eigenschaften“ keine Fortsetzung finden würden, womit für viele Kinder ein Martyrium begann. Sie konnten sich weder in der einen noch in der anderen Kultur, der Sesshaften oder Fahrenden, zurechtfinden. Im Kapitel „Heimerziehung – Erziehungsheime“ werde ich darauf noch gesondert ein- gehen.

Berufe und Gefahren der Wanderung

Die typischen Berufe der Jenischen waren KorbflechterInnen, PfannenflickerInnen, KesselflickerInnen, BesenbinderInnen, RegenschirmflickerInnen, MesserschleiferInnen, KupferschmiedInnen, WandermusikerInnen, SchaustellerInnen und viele mehr. Die von ihnen angefertigten Waren brachten sie zu den Bauern und Bäuerinnen, von denen sie dann überwiegend Lebensmittel erhielten. Nicht selten wurde den Jenischen Mundraub vorgeworfen.

13 Interview vom 8.5.1999, Zeitzeuge F. G. aus Haiming, Jahrgang 1919. 14 Interview aus einer Radiosendung von Bert Breit vom 2.7.1984, Jenischer K. M. aus Landeck, Jahrgang 1926.

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Viele Jenische betrieben aber auch einen regen Hausierhandel, wofür sie einen Gewer- beschein oder einen Hausierpass benötigten. Hier haben es die Behörden den Betroffe- nen keinesfalls leicht gemacht und so wurden die meisten Anträge abschlägig behandelt. Die Behörden sahen zahlreiche Gefahrenpotenziale, wie Verbreitung von Krankheiten, Bettelei, Gefährdung der Sicherheit usw. in der Wanderung, und verschärften daher die Gesetze im Laufe der Jahre massiv.15 So begann vielfach der Teufelskreis: Keine Ge- werbeberechtigung, die Selbsterhaltung war nicht mehr möglich, Gesetzesverletzungen, Kriminalität und sehr oft Gefängnis, sodass vielfach Armut, Ausgrenzung und Stigmati- sierung vorprogrammiert waren.

Zeitungsartikel der Zwischenkriegszeit zeichnen „ein“ Bild der Jenischen

Aufgrund der veränderten Strukturen nach dem Ersten Weltkrieg hatte ein Großteil der Bevölkerung kaum bis gar nicht mehr Kontakt mit LandfahrerInnen. Hatten die Sesshaf- ten früher noch ein differenzierteres Bild des nichtsesshaften Volkes, so änderte sich dies zunehmend durch die Medienberichterstattung, die als Informationsquelle über Jenische nun einen bedeutenderen Stellenwert einnahm. Am 11.2.1928 berichtete die sozialdemokratische Volks-Zeitung von einer „blutigen Karrnerrauferei“, die am 27.1.1928 „in großem Stil“ stattgefunden habe. 15 Personen sollen sich in einer Baracke in Schwaz einen Kampf geliefert haben. Es sollen „Karr- ner, Korbflechter und Bauern“ dabei gewesen sein. Als Tatwaffen wurden ein Bajonett, vier Tischmesser, ein Hackenstiel, Schirme, aber auch eine Rebschere und eine Hacke genannt, die als Wurfgeschoße gedient haben sollen. Es gab laut Berichterstattung nicht nur „blutige Schädel“, sondern auch Stiche in Bauch und Gesäß. Dieser Tatbestand wur- de sowohl im Bezirksgericht Schwaz als auch am Gericht in Innsbruck verhandelt. Der Hauptbeteiligte erhielt eine Strafe zu acht Monaten Kerker. Auch weitere Personen wur- den ursprünglich verurteilt, in der Folge aber vom Berufungssenat freigesprochen.16 Dieser Artikel zeigt das „einseitige“ Bild, dass Jenische ein streitsüchtiges, rauflustiges und gewaltbereites Volk seien, das in Baracken „hause“. Das Bild, dass sie nicht nur

15 Grosinger, ROMA und JENISCHE im SPIEGEL ihrer Zeit – eine vergleichende Studie, S. 112ff. 16 Volks-Zeitung, 11.2.1928, S. 6.

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gewalttätig seien, sondern auch Diebe, hat sich in der Bevölkerung bis zum heutigen Zeitpunkt tradiert.

Stumpfl und Mergen

Während der NS-Zeit galt „Erbgesundheit“ als oberstes Gebot. Zur Feststellung dieser Lebensbewährung wurden sogenannte Sippenfragebögen eingefordert, auf denen mehr- fach der Vermerk „Karrnerfamilie“ angebracht war. Der Sippenfragebogen diente oft- mals als Entscheidungsgrundlage für eine Einbürgerung, für die Ausstellung eines Ehe- Tauglichkeitszeugnisses, für ein Ehestandsdarlehen, für verschiedene Beihilfenanträge, sehr oft aber auch für medizinische Maßnahmen, wie Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisationen. Selten gab es eine positive Entscheidung wie bei Frau N. N., die aus einer Korbflechterfamilie stammt und der ein Ehe-Tauglichkeitszeugnis ausgestellt wurde.17 Der in Wien am 13.9.1902 geborene Friedrich Stumpfl wurde am 4.5.1939 auf die neu errichtete Professur für Erb- und Rassenbiologie der Medizinischen Fakultät der Univer- sität Innsbruck vertretungsweise berufen.18 Das Erb- und Rassenbiologische Institut war in der Müllerstraße 44 untergebracht. Noch heute befinden sich in diesem Haus Institute der Medizinischen Universität. Stumpfl betrieb eine rege Zusammenarbeit mit den Behörden. Er ließ sich Strafre- gisterauszüge und Strafakten vorlegen, wobei sich Landessanitätsdirektor Dr. Czermak behilflich zeigte.19 Er fungierte auch als Gutachter, was ein Schreiben der Heil- und Pfle- geanstalt Hall vom 18.5.1942 an den Reichsstatthalter für Tirol und Vorarlberg belegt.20 Armand Mergen, ein Luxemburger mit deutscher Staatsbürgerschaft, wurde eingestellt, um Stumpfl bei den laufenden Untersuchungen an „Karrnern“, die er in Zusammenar- beit mit dem Leiter des Rassenpolitischen Amtes durchführte, zu unterstützen.21 Mergen

17 TLA-Innsbruck, Sippenakt Nr. 561. 18 Personalakt Stumpfl, Universitätsarchiv Innsbruck, Ernennung zum Professor (Nr. 217). 19 TLA-Innsbruck, Schreiben von Prof. Friedrich Stumpfl, Leiter des Erb- und Rassenbiologischen Instituts in Inns- bruck an den Landessanitätsdirektor, Innsbruck, 3.3.1941, Fasz. Nr. 1006. 20 TLA-Innsbruck, Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Solbad Hall des Reichsgaues Tirol und Vorarlberg an den Reichsstatthalter für Tirol und in Innsbruck, Zl. 335/7, Solbad Hall, 18.5.1942, Fasz. Nr. 1013. 21 Universitätsarchiv der LFU-Innsbruck: Personalakt Armand Mergen, Schreiben von Prof. Stumpfl an den Herrn Ku- rator der Universität Innsbruck, Innsbruck, 3.10.1942 (Nr. 13).

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lebte fast drei Monate incognito in Hall in einer „Karrnersippe“ und untersuchte dort 244 „Karrner“.22

Sippenfragebogen „Karrnerfamilie“ (anonymisiert) Bildnachweis: Sippenakt Nr. 434; TLA – Ibk.

22 Universitätsarchiv der LFU-Innsbruck: Schmid Helmut, Über die Kriminalität der Karrner, Dissertation, Innsbruck o. J., S. 5.

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Sowohl Stumpfl als auch Mergen traten nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes als „Retter der Karrner“ auf: Er habe zwar die Untersuchungen im Auftrag der Partei gerne auf sich genommen, „denn es stand zu befürchten, dass man mit diesen zum Teil recht asozialen Menschen ähnliches vorhatte, wie mit den Zigeunern. (…) Der schreckliche Anblick von 90 Zi- geunern im Innsbrucker Polizeigefängnis, von denen ich wusste, dass sie ein ähnliches Schicksal erwartete, ohne dass ich im Stande war etwas für sie zu tun, hat mich veranlasst alles aufzubieten, um von den Karrnern ein ähnliches Schicksal abzuwenden. Eine ähn- liche ,Regelung‘ war nämlich für die Tiroler Karrner geplant“.23

Mergen untermauerte in seiner eidesstattlichen Erklärung die Aussagen von Stumpfl:

(…) Dr. Seeger, der Leiter des rassenpolitischen Amtes in Innsbruck wollte das Ergebnis der Untersuchungen als Vorwand zur Vergasung von einigen tausend Karrnern benützen. Prof. Stumpfl hat dieser Absicht unter Einsatz seiner- Per sönlichkeit Einhalt geboten und von den Karrnern das ihnen drohende Schicksal abgewendet. (…)24

Die Tiroler Jenischen sind nicht wie die Roma als Kollektiv der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer gefallen. Die Vorarbeiten waren aber schon weit gediehen. Hätte die NS-Herrschaft noch einige Jahre angedauert, zeigt meine Recher- chetätigkeit, wäre es nur mehr eine Frage der Zeit gewesen, dass eine flächendeckende Vernichtungswelle eingeleitet worden wäre. Unter dem Titel des „Asozialen“ und/oder „Arbeitsscheuen“ wurden mehrfach Jeni- sche in die Konzentrationslager verbracht, weitere in das Lager Reichenau. In meiner Dissertation im Jahr 2003 schrieb ich, dass ich nicht wüsste, ob Theresia Monz, geboren am 13.7.1916, welche am 22.8.1941 um 12 Uhr in das KZ Ravensbrück überstellt worden ist, dieses auch überlebt hat.25 Am 9.3.2007 erhielt ich eine Mail von einer Person, die sie noch gekannt hat, mit der Mitteilung, dass sie meine Dissertation ge- lesen habe und dass „diese Theresia (Resi) Monz das KZ überlebt hat“, und dazu bekam

23 Universitätsarchiv der LFU-Innsbruck, Personalakt Prof. Stumpfl, Schreiben an die Sonderkommission, Innsbruck, 10.6.1946, S. 6f. 24 Ebd., Eidesstattliche Erklärung von Armand Mergen, Innsbruck, 22.5.1946, S. 4. 25 Grosinger, ROMA und JENISCHE im SPIEGEL ihrer Zeit – eine vergleichende Studie, S. 209.

276 Jenische in Tirol

ich ein Foto mit einer Votivtafel, angebracht in der Theresienkirche auf der Innsbrucker Hungerburg. Die Tafel trägt die Aufschrift:

Votivtafel von Theresia Monz Bildnachweis: privat

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Nach 1945 – Fortsetzung der NS-Terminologie

Nach 1945 war das nationalsozialistische Gedankengut keineswegs aus den Köpfen der Menschen verbannt. In zahlreichen Arbeiten ließen WissenschafterInnen dieses schrift- lich weiterleben. Hildegard Velten promovierte im November 1945, ihrer Arbeit lagen die Unterlagen der bereits in der Arbeit von Schmidt erwähnten 244 „Karrner“ aus Hall in Tirol zu- grunde. Für ihre Forschungsarbeit verblieben 27 als „kriminell“ kategorisierte Frauen aus dem „Material“. Sie beschreibt verschiedene Frauentypen: Die „Karrnerin“ weist „virile Züge“ auf, sie „raucht, trinkt und rauft“, eine andere wieder hat „kümmerliche“ Schulkenntnisse, eine andere wieder sei eine „gerissene Händlerin“; sittlich sei sie „lax“ usw. Die „asozialen Züge“ sehe sie als Folge von deren Lebenshaltung.26 Ein weiteres Beispiel ist die 1963 verfasste Hausarbeit für die Lehramtsprüfung aus dem Fach Geographie von Siegfried Kluibenschedl. Er spricht von „einem bestimm- ten Menschenschlag“, den „Dörchern“, vom „Volkskörper“, durch „Heirat floss neues Blut zu“, von einem „starken Triebleben“, die „Wanderschaft erlaubte ihr keine längere Schonzeit“, „trennte sich das Streu vom Weizen, ein Effekt der der natürlichen Auslese nur förderlich sein konnte“, sie „treiben sich herum“, usw.27 Im selben Jahr verfasste Elke Clemens ihre Dissertation „Lebensschicksal und Le- benserfolg unerziehbarer weiblicher Fürsorgezöglinge“. Auch hier sind wieder die Vor- urteile gegenüber den Jenischen und die bekannten Stereotype zu finden. Sie spricht von „erblicher Belastung“ der „Karnerinnen“, „diebischen Veranlagungen“, „sexuell triebhaftem/r Vater und Mutter“, „vorzeitig einsetzender sexueller Betätigung“, „arbeits- scheuen Karnern“, „unordentlich und schlampig“, „arrogantes, respekt- und furchtloses Auftreten“, „lügen“, „Vollblutkarnerin“ usw.28 Jenisches Verhalten wurde pathologisiert, es gab Diskriminierungen auf allen Ebenen bis hin zu Zwangseinweisungen in Erziehungsheime. Dies waren folgenschwere Aus- wirkungen auf die jenische Bevölkerung bis in die jüngste Zeit. Die meisten Jenischen haben sich nach 1945 der übrigen Durchschnittsbevölkerung angepasst, vielfach sind die

26 Hildegard Velten, Über die Kriminalität der Karrnerinnen, Dissertation, Innsbruck o. J., S. 3ff. Velten promovierte im November 1945 an der Universität Innsbruck zum Dr. rer. nat. 27 Siegfried Kluibenschedl, Der Mieminger Berg, (Eine bevölkerungsgeographische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Wanderung und des Dörcherproblems), geogr. Hausarbeit, Innsbruck 1963, S. 38ff. 28 Elke Clemens, Lebensschicksal und Lebenserfolg unerziehbarer weiblicher Fürsorgezöglinge, Dissertation, Innsbruck 1963, S. 93ff.

278 Jenische in Tirol

Tätigkeitsfelder der Jenischen verschwunden. Die ghettoähnlichen Siedlungen lösten sich auf und viele Jenische versuchten, den Weg in die Anonymität zu gehen.

Heimerziehung – Erziehungsheime

Auch hier hat die NS-Kontinuität ihre Fortsetzung gefunden, sodass erst mit dem Bun- desgesetz von 1954 und dem Tiroler Landesgesetz von 1955 die nationalsozialistische Jugendwohlfahrtsverordnung abgelöst worden ist. Auch im akademischen Denken, schreibt Horst Schreiber in seinem Buch „Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol“ ist „das Weiterleben nationalsozialistischer Erziehungsideen und eines erbbiolo- gisch motivierten Rassismus erkennbar“.29 Im Rahmen der Ausstellungseröffnung „Les arts des voyageurs“ am 18.10.2007 kri- tisierte ich in meiner Rede, dass die Aufarbeitung der Grausamkeiten an den jenischen MitbürgerInnen bis zum heutigen Tag weder in Deutschland noch in Österreich wirklich begonnen worden ist, dass nicht einmal den Betroffenen selbst Akteneinsicht gewährt wird und es für diese Menschen keine 50-Jahr-Archivsperre geben dürfe. Viele sind mit ihrem Leid, ihrer Ungewissheit, ihrer Angst nicht fertig geworden. „Ich richte meinen Appell an die PolitikerInnen dieses Landes, dieses Staates, dass dem jenischen Volk hinsichtlich Akteneinsicht, wissenschaftlicher Aufarbeitung und me- dizinischer Hilfe endlich Gerechtigkeit widerfährt. Der Begriff Wiedergutmachung wäre hier fehl am Platz, weil das, was passiert ist, nicht wieder gut gemacht werden kann.“ Am 5.9.2008 beschrieb der Jenische A. B., geboren 1947, dass er zwar nicht in ein Heim gekommen ist, er musste aber miterleben, wie viele seiner SchulkollegInnen von der Schule verschwunden sind. „Einmal gab es bei uns in der Schule einen Vorfall. Ich kann sagen, dass die ganzen Anschuldigungen nicht gestimmt haben. Die Lehrerin dürfte das aber dem Jugendamt gemeldet haben. Dann kamen Männer in ziviler Kleidung und nahmen einige Kinder mit. Ich war auch schon im Wagen, dann kam aber der Direktor und sagte, dass sie mich sofort herausgeben sollten. Meine Schwester war in Schwaz un- tergebracht. In Schwaz musste sie Kohlen schleppen, eine schwere Arbeit!“30

29 Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck 2010, S. 44ff. 30 Interview mit A. B., Name geändert, Jahrgang 1947, 5.9.2008.

279 Elisabeth M. Grosinger-Spiss

Horst Schreiber hat nunmehr in seinem bereits genannten Buch zahlreiche Lebens- schicksale aufgezeigt und wissenschaftlich aufgearbeitet. Politisch Verantwortliche sahen sich veranlasst, Stellung zu beziehen. Am 15.8.2011 bat Landeshauptmann Günther Plat- ter die Missbrauchsopfer um Verzeihung. Die Landesregierung beschloss Entschädigun- gen und Präventionsmaßnahmen. Kinder und Jugendliche hätten in Heimen seelische und körperliche­ Gewalt erdulden müssen. Ein „dunkles Kapitel“ müsse vollkommen aufgearbeitet werden.­ „Nie mehr wieder!“ sei die Botschaft für die Zukunft.31 Ein weiterer wichtiger Schritt bestünde darin, dass für deren Kinder und Kindeskinder eine sofortige und umfangreiche Bildungsoffensive gestartet wird, und bevor die Jeni- schen im Verborgenen „verschwinden“, sollten sie als Volksgruppe anerkannt werden.

31 Die Presse.com, 15.8.2010; http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/587694/Tirol_Platter-bittet-Miss- brauchsopfer-um-Verzeihung (Zugriff 30.4.2012).

280 Roman Spiss

Das Bezirksmuseum auf Schloss Landeck

Im Besitz der Stadt und betreut vom Bezirksmuseumsverein Landeck, wurde Schloss Landeck in den Jahren 2005 bis 2007 umgebaut und erneuert. Die neue Dauerausstellung auf Schloss Landeck trägt den Titel „Bleiben oder gehen – Die bewegte Geschichte des Tiroler Oberlandes“. Anders als traditionelle Heimat- museen erzählt dieses Museum die Geschichte eines Raumes, in dem die Bewegung ein Hauptmotiv darstellt. Die Spannung zwischen Sesshaftigkeit und verschiedensten For- men von Mobilität ist somit das eigentliche Thema. Es geht also nicht in erster Linie darum, Bekanntes und Vertrautes darzustellen, viel- mehr soll die „Andersartigkeit der Vergangenheit“ gezeigt werden. Interessante und vor allem viele unbekannte Facetten treten zutage, außerdem zeigt die Geschichte der Hei- mat überraschende Parallelen zur Gegenwart in anderen Teilen der Welt: Hunger, bittere Armut, unterschiedlichste Formen von Mobilität, Kinderarbeit, aber auch die Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen und anderswo ganz neu zu beginnen.1 Im Prolograum befindet sich ein „Drahndl“, eine alte Vorrichtung für ein einfaches Glücksspiel, bei dem der Zeiger vom Besucher gedreht werden kann. Dieser Zeiger bleibt bei einem der Protagonisten der Räume des Museums stehen – bei einem berühm- ten Barockbaumeister, einem Dorfgeistlichen, einem Richter, einer als Hexe verbrannten Frau, einem Kleinbauern, einem Jenischen, etc. Im Anschluss erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Religion unter dem Motto „Gott und der Welt“. Die religiösen Menschen wurden mit Hilfe vieler lieb gewordener Kleinigkeiten durch das Kirchenjahr begleitet. Das ganze Leben war durchdrungen vom Glauben, von der Hoffnung auf Wunder, von alten Bräuchen, von denen zahlreiche Exponate im Raum erzählen.

1 Vgl. dazu ausführlich Eva Lunger-Valentini, Schloss Landeck. Alte Mauern und neue Geschichten, in: Tirol, 76 (2010), S. 93–104.

281 Roman Spiss

Auf der Burg, Sitz des Richters und Pflegers, wurde auch über Leben und Tod ent- schieden. Frauen, Außenseiter hatten es schwer in der „unheimlichen Heimat“, wo Ver- leumdung und Hass sie als Hexen oder Hexer brandmarken konnten. Die Ernterück- gänge im Gefolge der „Kleinen Eiszeit“ führten zur Frage nach den „Schuldigen“. Ein Apothekerschrank, Kräuterbüschel und Informationen über die peinliche und gütige Befragung lassen den Besucher an dieser „dunklen Zeit“ teilhaben. Der nächste Raum ist der „Verteidigung der Heimat“ gewidmet. Es erfolgt eine Aus­ einandersetzung mit den Tiroler Schützen, dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Kampf gegen Napoleon. Die Geschichte Tirols ist lange Zeit ein Abwehrkampf gegen äußere Eindringlinge, im Inneren ein Kampf für Einheit und Geschlossenheit in ethnischer, kultureller und religi- öser Hinsicht gewesen. Konsequenz war allzu häufig eine kompromisslose Haltung gegen „Anders- und Fremdartiges“. Der Historiker Horst Schreiber merkt dazu treffend an:

Lange Zeit dominierte eine rückwärtsgerichtete, antiaufklärerische Grundstim- mung, die von Heimat sprach und Ausgrenzung meinte, die sich Demokratie auf die Fahnen heftete, aber auf geistige Gleichschaltung abzielte, die Glaube predigte und Intoleranz verbreitete.2

Propagiert wurden ein kerniges Tirolertum und der Mythos der sesshaften, in Heimat­ liebe an die Scholle gebundenen Bauern. Dieses Bild hat aber mit der Situation im Tiroler Oberland wenig bis nichts zu tun: Denn schon im nächsten Raum werden die Realteilung und deren Auswirkungen thema- tisiert. Im Extremfall waren Küche oder Stube durch Kreidestriche geteilt, bewohnten sieben Familien ein Bauernhaus. Die einzige Kuh mussten manche armen Familien im Winter bei anderen Ortsbewohnern unterstellen, die sie durchfütterten und dafür die Milch behalten konnten.3 Wenn vom Hof nur mehr der Karren übrig blieb und die Straße zur Heimat wurde, war man ein „Fahrender“. Das Schicksal der Jenischen wird in der Ausstellung von Betroffenen selbst erzählt. Also nicht von Vertretern der Sesshaften,

2 Horst Schreiber, Widerstand und Erinnerung in Tirol 1938–1998. Franz Mair. Lehrer, Freigeist, Widerstandskämp- fer, Innsbruck/Wien/München 2000, S. 151. 3 Vgl. dazu ausführlich Roman Spiss, Arm zu sein im Oberland, ohne zu diesem Stande Anlass gegeben zu haben, in: Tiroler Heimatblätter, 3 (2007), S. 74–81.

282 Das Bezirksmuseum auf Schloss Landeck

welche für diese Menschen nur Verachtung übrig hatten und sie abschätzig als „Karrner“, „Dörcher“ oder „Lahninger“ bezeichneten. Bei einem derartigen Blickwinkel ist es interessant, wenn man die Vorurteile gegen- über den Fahrenden einer näheren Analyse unterzieht. Die bürgerlichen Gegner kritisierten die Genusssucht der Landfahrer, womit auf die an- gebliche Ess- und Trinklust angespielt wurde. Aus heutiger Sicht ist es wohl mehr als ver- ständlich, dass die Jenischen nach Phasen des Hungerns und der Entbehrungen kräftig zulangten, wenn einmal genügend Essen zur Verfügung stand. Die Bürgerlichen kritisierten auch ein Leben voll Abwechslung und Spannung, frei von Zwängen des Anstands und der Moral. Ganz offensichtlich handelte es sich dabei um Projektionen eigener Wünsche, Sehnsüchte und Träume nach folgendem Muster:

Ich sitze fest, die aber fahren! Ich spare, die aber geben aus! Ich gehe früh zu Bett, die aber feiern bis spät in die Nacht! Ich arbeite hart, die aber liegen auf der faulen Haut! Ich bin strengen moralisch-religiösen Wertvorstellungen unterworfen, die aber führen ein zügelloses Leben!4

Greifbar ist der Wunsch, auch einmal so zu leben wie die Fahrenden; freilich nicht für im- mer, denn die sogenannte Freiheit hatte ihren Preis. Lustig ist das „Zigeunerleben“ nicht, ein Standardwerk zu den Südtiroler Jenischen trägt den treffenden Untertitel „Grenzgän- ger zwischen Elend und Freiheit“.5 Die Bauern ärgerten sich sicher über so manchen Felddiebstahl oder darüber, dass ab und zu eine Henne oder ein Hund verschwand. Sie hatten aber vor allem das Schicksal vor Augen, das ihnen selbst drohte: Absturz ins ländliche Proletariat, Marginalisierung, Außenseitertum. Denn die Jenischen kommen fast alle aus der verarmten sesshaften Be- völkerung, wie Fallbeispiele eindeutig belegen.6 Auch die junge Arbeiterbewegung hat sich der Sache der Jenischen keineswegs ange- nommen. Die Sozialdemokraten sangen das „Lied der Arbeit“, hielten die Arbeit hoch

4 Diese Muster beschreibt ausführlich Thomas Huonker, Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe, Zürich ²1990. 5 Luis Zagler, Die Korrner. Grenzgänger zwischen Elend und Freiheit, Bozen 1995. 6 Vgl. dazu u. a. Gerd Klaus Pinggera, Stilfs. Geschichte eines Bergdorfes, Schlanders 1997, S. 307–312.

283 Roman Spiss

– die Landfahrer hingegen verstanden es durchaus, in den Tag hinein zu leben. Sensibel reagierte man eigentich nur dann, wenn man selbst als „Karrner“, als „rote Karrner“ angegriffen ­wurde.7 Und eine scheinbare Nebensächlichkeit sollte uns nachdenklich machen: Als die Je- nischen im 19. Jahrhundert in den Dörfern des südlichen Deutschland auftauchten, hat man dort nicht gerufen: „Die Karrner (Dörcher, Lahninger) sind da!“, sondern „Die Ti- roler sind da!“ Für einen Bayern oder Schwaben waren also die Jenischen Repräsentanten des „typischen“ Tirolers! Die Kinderarbeiter, besser bekannt als „Schwabenkinder“, werden in der Ausstellung über den Arlberg zu den Kindermärkten in Süddeutschland begleitet. Viele Oberländer Familien mussten ihre 6 bis14 Jahre alten Kinder für acht Monate in die Ferne schicken, um weniger Esser am Tisch zu haben. Auf dem Höhepunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen bis zu 4.500 Kinderarbeiter aus Vorarlberg, Tirol und Graubünden in die Fremde. Die Tätigkeit im Gastland unterschied sich nicht von jener erwachsener Knechte und Mägde. Wegen ihres Dialekts und der geringen Bildung verspottet, wur- den sie in der Fremde als minderwertige Menschen betrachtet; junge Württemberger hätten zu diesen Bedingungen niemals gearbeitet. Da sich das Gefühl einer konstanten Fremdheit entwickelte, schlossen sich die Kinder untereinander zusammen, wann im- mer dies möglich war. Sie trafen sich in der spärlichen Freizeit mit Leidensgenossen in der Kirche zur Messe und zur religiösen Unterweisung und schöpften so Kraft für die noch abzudienende Zeit. Verachtet und ausgenützt, entwickelte sich einerseits durchaus ein Gruppenbewusstsein, andererseits aber das Gefühl einer konstanten Fremdheit, was auch verhinderte, dass sich eine größere Zahl der Vorarlberger und Tiroler zum Bleiben entschloss und ansässig wurde. Der Aufenthalt der ausländischen Kinder bedeutete die Bildung einer Schul-Exklave inmitten der allgemeinen Schulpflicht. Die „Schwabenkinder“ haben selbst nach dem Ersten Weltkrieg die Schule in Württemberg nicht besucht. Baden dehnte im Jahr 1892 die Schulpflicht per Gesetz zwar auch auf ausländische Kinder aus, die Ortsschulräte dul- deten aber ständige Absenzen der Österreicher nicht nur, sondern begünstigten sie sogar. Ähnlich verhielt es sich in Bayern, wo die Schwabengänger ebenfalls weithin „schulfrei“ hatten. Ein Unrechtsbewusstsein war nicht einmal in Ansätzen vorhanden. Bezeichnen-

7 Elisabeth Grosinger, ROMA und JENISCHE im SPIEGEL ihrer Zeit – eine vergleichende Studie, Dissertation, Innsbruck 2003.

284 Das Bezirksmuseum auf Schloss Landeck

derweise wurde in Friedrichshafen im Jahr 1909, als in den USA die Stadt bereits als Ort des deutschen Sklavenhandels deklariert worden war und man in Österreich immer mehr von einem Unwesen sprach, der Kindermarkt im Fasching ins Lächerliche gezogen und ein paradiesisches Leben der Kinderarbeiter dargestellt.8 Wanderarbeiter aus dem Tiroler Oberland waren sehr geschickte Maurer und Zim- merleute, die in ganz Mitteleuropa beim Bau von Residenzen, Kirchen und Klöstern Arbeit fanden. Diese Tradition hat mit Jakob Prandtauer aus Stanz den größten österrei- chischen Barockbaumeister hervorgebracht. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zogen tausende von Oberländer Kleinbauern auf Saisonarbeit nach Deutschland. Im Ausland mussten sich die Tiroler einfügen und anpas- sen, sie lebten in Unfreiheit und Abhängigkeit, hatten mit dem Spott der Einheimischen zu kämpfen. Daheim erregten sie Argwohn aufgrund mitgebrachter neuer Gewohnhei- ten und Ausdrücke; fehlte es an Geld, wurden sie rasch als Taugenichtse abgestempelt.9 Hunderte Oberländer glaubten vor 150 Jahren den Versprechungen des Freiherrn Damian von Schütz-Holzhausen, der ihnen von einem Paradies im Urwald erzählte. Sie hatten nichts zu verlieren, hofften aber, alles zu gewinnen. Umso größer war dann die Enttäuschung, als sie mit der bitteren Realität in und um Pozuzo (Peru) konfrontiert wurden. Unter den Auswanderern befanden sich zahlreiche Jenische, denen die Heimat- gemeinden „großzügig“ die Überfahrt bezahlten, um sie für immer los zu werden.10 Man sollte sein Augenmerk weniger auf das vor allem von den Nationalsozialisten betonte „deutsche Kolonisationswerk“ richten! In einem zeitgenössischen Bericht kann man über den Abschied von der Heimat fol- gendes lesen:

Ein Mann nahm sein kleines Kind mit auf die Wanderung. Eine Verwandte flehte ihn auf Knien an, ihr den kleinen mittellosen Wurm zurückzugeben, sie würde ihm Mutter sein. Der Mann stieß sie mit den rohesten Ausdrücken zurück und

8 Roman Spiss, Tiroler und Vorarlberger „Schwabenkinder“ in Württemberg, Baden und Bayern von der Frühen Neu- zeit bis zum Ersten Weltkrieg, in: Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 1036–1039. 9 Gerd Klaus Pinggera, Armutswanderungen in Tirol, in: Pässe, Übergänge, Hospize. Südtirol am Schnittpunkt der Alpentransversalen in Geschichte und Gegenwart, hg. von Leo Andergassen u. a., Lana 1999, S. 122. 10 Ausführlich beschrieben bei Bruno Habicher, Pozuzo – Schicksal, Hoffnung, Heimat. Briefe, Berichte, Kommentare, Innsbruck 2003; Elisabeth Habicher-Schwarz, Pozuzo – Tiroler, Rheinländer und Bayern im Urwald Perus, Inns- bruck 2001.

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sagte: Wenn es schon zugrunde gehen sollte, so sei um das Kind nicht schade. Ein anderer Mann verlor, als es zum Abschied kam, plötzlich Lust und Mut, mitzuge- hen, und er war auch nicht durch das Zureden seiner Angehörigen zum Einsteigen in den Waggon zu bewegen.11

Seit 1870 kam es zudem vor allem aus dem Oberen Gericht zu einer Auswanderung nach Nordamerika. Bei 43 Stellungspflichtigen, die sich 1902 im Bezirk Landeck der Stellung entzogen, ist bei nicht weniger als 13 vermerkt, sie seien in Amerika. Von den Amerika- Auswanderern ist etwa ein Viertel wieder zurückgekommen, teils aus Heimweh, teils, weil man sich an die neue Heimat nicht gewöhnen konnte.12 Der Rundgang durch das Museum wird mit einem Blick auf die „Industrie in den Bergen“ abgeschlossen. Mit dem Bahnbau (Eröffnung der Arlbergbahn 1884) befanden sich die Fremden gegenüber den Einheimischen während des Arlbergtunnel-Baus in ei- ner 8:1 -Mehrheit.13 Zahlreiche Arbeiter aus dem Trentino fanden im Oberland eine neue Heimat, wovon das Landecker Telefonbuch heute noch beredt Auskunft gibt. In der um die Jahrhundertwende entstandenen Textil- und Karbidfabrik griff man zunächst bevorzugt auf billige ausländische ArbeiterInnen zurück, was die junge Arbei- terbewegung zu heftigen Attacken auf die französischen und Schweizer „Kapitalisten“ veranlasste:

Oft sind es ganze Familien, die im Betrieb beschäftigt sind, welche auf die Straße geworfen werden. Ersatz ist ja durch einen bezahlten Agenten in Südtirol oder Ita- lien leicht zu finden. Man verspricht diesen armen Menschen schöne Löhne, lockt sie aus ihrer Heimat fort und bringt gleich ganze Waggons italienischer Mädchen nach Landeck. Hier werden sie allerdings gewahr, dass sie auf den Leim gegangen sind. Nur ein paar Tage Beschäftigung in dem Betrieb genügen und gerne möch- ten sie wieder heimwärts, wenn die Mittel dazu vorhanden wären.14

11 Bote für Tirol und Vorarlberg, 16.3.1868. 12 Oliver Seifert, Auswanderung nach Amerika aus dem „Oberen Gericht“, in: Mein fremdes Land – mein Heimatland, hg. vom Bezirksmuseumsverein Landeck 2004, S. 55–61. 13 Hans Thöni, Sie haben den Arlbergtunnel gebaut, in: Mein fremdes Land – mein Heimatland, hg. vom Bezirksmuse- umsverein Landeck 2004, S. 71. 14 Volks-Zeitung, 4 (1913), S. 4.

286 Das Bezirksmuseum auf Schloss Landeck

Mit der Verkehrserschließung begann Ende des 19. Jahrhunderts auch der Tourismus im Tiroler Oberland, das sich schließlich zu einer Hochburg der „Gästenächtigungen“ ent- wickelte. Bei der Volkszählung des Jahres 1981 verfügten die Bezirke Landeck und Imst erstmals über mehr Fremdenbetten als Einwohner. Auch der abgelegenste Hof war nun vom Massentourismus beeinflusst. Im Paznauntal, wo nach dem Zweiten Weltkrieg der Schmuggel von Butter und Nylonstrümpfen nicht wegzudenken war, konnte der „Tou- rismusvisionär“ Günther Aloys nun philosophieren:

Die Beherbergungsbetriebe neuen Stils prägt ein authentisches Design aus heimi- schen Materialien. Gäste relaxen am offenen Kaminfeuer, auf Felldecken, in Nor- weger Pullovern aus Cashmere, in einer Atmosphäre von Glamour und Tiefe.15

Hatte man in der Nachkriegszeit um die kleinste nutzbare Fläche gestritten, so wurden nun immer mehr Wirtschaftsgebäude umgebaut und andererseits Versuche unternom- men, Anreize für die Bewirtschaftung durch die Einführung von Mähprämien zu geben. Bissig, wie er selbst zugibt, merkt Josef Nußbaumer in seiner „Wirtschafts- und Sozial- geschichte Tirols“ an: „Hat man früher die Kühe gemolken, so sind es heutzutage die Fremden.“16 Im Tourismus entstanden jedenfalls zahlreiche Arbeitsplätze, die durch geringen Ver- dienst, familienfeindliche Arbeitszeiten und oft schlechte Behandlung durch die Chef- leute gekennzeichnet sind. Hinzu kommen andere Arbeiten, die heute kein Tiroler mehr verrichten würde. Seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre griff man auf „Gastarbeiter“ zurück, von denen viele – anders als es im Begriff zum Ausdruck kommt – länger oder auch auf Dauer bleiben sollten. Das Blatt hatte sich gewendet. Jenes Blatt, das im Museum ein durchlaufendes Nebenthema darstellt: Schloss Lan- deck besitzt insgesamt neun Spielkarten aus dem 15. Jahrhundert, die zu den ältesten erhalten gebliebenen des deutschsprachigen Raumes zählen. Hauptthema ist letztlich aber eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen Heimat und Fremde. Beim Besucher soll sich die Frage nach einem „anderen“, neuen, modernen Heimatbegriff stellen.

15 „Berg Spirit“ oder: Die neue Lust auf alte Berge, in: Wirtschaft im Alpenraum, 4 (2004), S. 8f. 16 Josef Nußbaumer, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Tirols 1945–1985, Tiroler Wirtschaftsstudien 42, Innsbruck 1992, S. 210.

287 Roman Spiss

Etwa nach dem Muster von Robert Becker, der folgendermaßen nachdenkt:

Mein fremdes Land ist das, welches meine Ahnen „Heimat“ nannten.

Kein Land ist in mir so fremd. Weder in Europa noch in der Welt. Mein fremdestes Land ist dieses, aus dem man auch mich vertreiben kann.17

Die Dauerausstellung auf Schloss Landeck soll klarmachen, dass Migrationen kein aktu- elles oder singuläres Phänomen, keine Ausnahmesituation darstellen. Ebenso nicht die Angst vor dem Fremden, die Angst vor dem Unbekannten. Thomas Geisen schreibt:

Was wäre die Hartnäckigkeit des Wissens wert, wenn sie nur für die Aneignung der Erkenntnisse und nicht auch in gewisser Weise und soweit irgend möglich für die Verunsicherung der Erkennenden sorgte?18

In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein: Lassen Sie sich auf Schloss Landeck verunsichern!

17 Der Standard, 3.4.2004, Beilage „Literatur aus den zehn EU-Beitrittsländern“, S. 17. 18 Thomas Geisen, Antirassistisches Geschichtsbuch. Quellen des Rassismus im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Oldenburger Forschungsbeiträge zur interkulturellen Pädagogik, 4, Frankfurt a. M. 1996, S. 214.

288 Marlene Roner-Trojer

Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir?

aTERRITORIAL ist der Versuch, die Grenzen unserer gewohnten architektonischen Konzepte aufzubrechen und bedient sich des Systems „Learning from Gypsies“, um Räume und Beziehungen neu zu beleuchten bzw. zu hinterfragen. Nach einer maßstäb­ lichen Annäherung an die Orte und an die Geschichte, die von Jenischen, Sinti und Roma geprägt sind, wird die Situation im alpinen Raum genau analysiert. Eine Sinti­familie in Südtirol ermöglicht den detaillierten Einblick in ein Wohn- und Lebenssystem abseits unserer ausgetretenen architektonischen Wege mitten in und trotzdem außerhalb unserer Gesellschaft. Können ArchitektInnen innerhalb solcher Systeme agieren und ist es ihnen möglich, aterritoriale Räume zu konzipieren? im Alpenraum die Fahrenden – Schweiz

In den vergangenen beiden Jahrzehnten verfolgte die Schweiz gegenüber den Fahrenden eine für ganz Europa richtungsweisende Politik. 1997 gründete der Bund die Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“, die sich vor allem auf drei Ebenen engagiert, welche auch von der „Radgenossenschaft“, der Interessengemeinschaft der Fahrenden, als vor- rangig betrachtet werden.1

1 Dokumentation der Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“, Stand Mai 2007, S. 2, http://www.stiftung-fahren- de.ch (Zugriff 20.2.2010).

289 Marlene Roner-Trojer

Die erste Ebene betrifft die Stand- und Durchgangsplätze, die die grundlegende Vo- raussetzung für eine nomadische Lebensweise sind.2 1998 hat das Bundesgericht das Recht der Fahrenden auf angemessene Haltemöglichkeiten in einem Urteil ausdrücklich anerkannt. Die Gemeinden haben demnach dafür zu sorgen, dass es geeignete Zonen und Standorte gibt, die den Fahrenden eine ihrer Tradition entsprechende Lebensweise ermöglichen. Für die Durchsetzung dieser Rechte haben sich vor allem die Jenischen eingesetzt, die in der Schweiz den Großteil der Fahrenden darstellen.3 Die zweite Ebene, auf der man der indirekten Diskriminierung entgegenzuwirken versucht, betrifft die Gewerbescheine. Seit 2003 ist es in der Schweiz möglich, eine Be- willigung für die Ausübung des Reisendengewerbes zu bekommen.4 Diese Bewilligung ermöglicht es vielen Fahrenden, jenen Berufen nachzugehen, die in vielen anderen euro- päischen Ländern verboten sind. Die dritte und letzte Ebene betrifft die schulische Ausbildung. Den Kindern der Fah- renden wird es ermöglicht, während der Reisezeit einen Schuldispens zu bekommen. Außerdem wird der Unterrichtsstoff mit Inhalten über die Kultur der Fahrenden ange- reichert.5 Obwohl die Schweizer Gesetze den Lebensbedingungen der Fahrenden entgegen- kommen, kommt es immer wieder zu Problemen zwischen Sesshaften und Fahrenden. Die Stand- und Durchgangsplätze sind zwar gesetzlich garantiert, in der Praxis fehlen sie aber vielerorts oder sind unzureichend. Trotzdem hat die Schweiz einen Weg beschrit- ten, der konkrete Lösungen für die Eindämmung struktureller Diskriminierung bietet. Zumindest in kleinen Bereichen hat man es geschafft, die Doktrin der kulturellen Anpas- sung durch den Schutz kultureller Identität zu ersetzen. Viele andere europäische Länder, allen voran Italien, Frankreich und Ungarn, sind von solchen Ansätzen noch meilenweit entfernt.

2 Richtplan-Koordinationsblatt IV33 des Amtes für Raumentwicklung und Geoinformation des Kantons St. Gallen: Durchgangs- und Standplätze für Fahrende, (18.12.2007), S. 1, http://www.sg.ch (Zugriff 20.2.2010). 3 Wie Fahrende heute leben, Interview mit Robert Huber, Präsident der Radgenossenschaft, in: BAK-Journal, 4 (2001), S. 27. 4 Dokumentation der Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“, S. 2. 5 Ebd.

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leben im Verborgenen – Österreich

Wie viele Roma und Sinti derzeit in Österreich leben, kann nur geschätzt werden. Viele Angehörige der Minderheit bevorzugen es, nicht als solche erkannt zu werden. Zurück- zuführen ist dieses Misstrauen vor allem auf die traumatischen Erlebnisse während des Holocaust, aber auch die anhaltenden Diskriminierungen in der Zweiten Republik tragen dazu bei.6 Aufgrund dieser Erfahrungen führen viele Roma und Sinti in Österreich bis heute ein „Leben im Verborgenen“, wie Ceija Stojka, eine Holocaust-Überlebende, lako- nisch feststellte.7 Obwohl Roma und Sinti in Österreich keine nomadische Lebensweise pflegen, setzt sich vor allem der 1998 in Linz gegründete Verein Ketani dafür ein, dass es wieder mehr Durchreiseplätze gibt. Seit 2001 existiert in Braunau ein Platz für durchreisende Grup- pen. Im Rahmen der Projekte zur Kulturhauptstadt 2009 wurde in Linz ein weiterer Standort für Fahrende geschaffen.8 Auch in Tirol gibt es Pläne für einen Durchreiseplatz, allerdings steckt das Vorhaben noch in der Projektphase. campi nomadi – Italien

Die „campi nomadi“, also „Nomadenlager“, sind ein Konzept bzw. eine Wortschöpfung aus den 1980er-Jahren. Der italienische Staat reagierte damals auf die immer prekäreren Lebensverhältnisse der Betroffenen mit dem Entwurf eines Maßnahmenbündels zum „Schutz der Kultur der Roma und Sinti“. Die Verordnungen sollten dazu dienen, „das Recht auf Nomadismus und auf Sesshaftigkeit in der Region zu unterstützen“, den Zu- gang der Roma und Sinti zu Bildung und Gesundheitsvorsorge zu verbessern sowie die Integration dieser Bevölkerungsgruppen zu verstärken.9 Faktisch wurden aber nur die „campi nomadi“ umgesetzt. Alle Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern wurden verpflichtet, solche Lager einzurichten. Damit wurde der Grundstein für die heutige Situation in Italien geschaffen: Die einzelnen Regionen wie-

6 Gerhard Baumgartner/Florian Freund, Roma Politik in Österreich, Wien 2007, S. 9, http://www.kv-roma.at/ FRAMES/Romapolitik/Roma%20Deutsch%202007.pdf (Zugriff 21.10.2010). 7 Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien ²1989, S. 5–13. 8 Verein Ketani & die Fabrikanten, Durchreiseplatz. Machbarkeitsstudie im Auftrag von Linz09, Linz 2007. 9 Katrin Lange, Antiziganistische Stimmungsmache in Italien und der Widerstand dagegen, in: Markus End/Kathrin Herold/Yvonnne Robel (Hg.), Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster 2009, S. 233–250, hier S. 244.

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sen zwar – wie verordnet – Raum für die „campi nomadi“ aus, konzipierten diese aber meistens als Übergangslösung. Tatsächlich wurden sie jedoch dauerhaft genutzt, wobei sich den Bewohnern keine Perspektive auf Veränderung bot. Die Lager entstanden an den unmöglichsten Orten, etwa unter Autobahnen, in Industriegebieten oder neben Müllhalden, für sie gelten keinerlei städtebauliche Richtlinien bezüglich Lärmschutz, Ge- ruchsbelästigung, sanitärer Infrastrukturen und dergleichen. Die Standortwahl durch die politischen Verantwortlichen erfolgte meistens nach ökonomischen Prinzipien. Hinzu kam oft noch ein weiterer Gedanke: Die Entscheidungsträger wollten sich nicht dem Vorwurf aussetzen, sie würden „Sozialschmarotzertum“ unterstützen.10 Die Unterbringung der Roma und Sinti in Lagern erfolgte u.a. auch unter dem Vor- wand, man wolle eine nomadische Lebensweise ermöglichen. In Wirklichkeit wurde die Mobilität der Fahrenden damit allerdings stark eingeschränkt. Hier offenbart sich der Unterschied zwischen einem „campo nomadi“ und einem Stand- oder Durchgangsplatz, wie er in der Schweiz üblich ist. Den italienischen Roma und Sinti ist es nicht möglich, in Gruppen von Standplatz zu Standplatz zu ziehen. Deren Mobilitätsmöglichkeiten liegen damit sogar noch hinter jenen der sesshaften Mehrheitsbevölkerung zurück. Die „campi nomadi“ sind nichts anderes als „regelrechte Ghettos, die bewusst fernge- halten werden von der Wahrnehmung der Mehrheitskultur und hervorgebracht worden sind von einer Politik der Ausgrenzung“.11 der Ort – die Menschen

Am südlichsten Punkt der Gemeinde Pfatten wurde 2004 einer Sinti-Großfamilie ein neuer, provisorischer Siedlungsplatz zugewiesen. Die Gemeinde Pfatten liegt im Süd­ tiroler Unterland, zwischen Kalterer See, Mitterberg und Autobahn. Die Fläche unter der Autobahn ist im Besitz der Gemeinde und der A22 Autostra- da del Brennero AG. Im Einverständnis der Landesregierung, der Bezirksgemeinschaft Überetsch – Unterland und der Gemeindeverwaltung Pfatten wurde dieser Punkt für die

10 Gertrud Tauber, Die „campi nomadi“ oder wo beginnt die Planung?, in: Elisabeth Tauber (Hg.), Sinti und Roma. Eine Spurensuche, Arunda 67, Schlanders/Innsbruck 2005, S. 174–191, hier S. 176. 11 Gabrielli Bernini, Guarnieri und Federazione Rom Sinti Insieme, Offener Brief an den Bürgermeister von Venedig vom 11.6.2008, http://sucardrom.blogspot.com/2008/06/lettera-aperta-al-sindaco-cacciari.html (Zugriff 20.2.2010), zit. in: Lange, Antiziganistische Stimmungsmache, S. 245.

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vorübergehende Errichtung eines Platzes für die Familie ausgewählt. Selbstverständlich wurde auch die Familie selbst gefragt und in deren Namen stimmte das Familienober- haupt, der sogenannte „capo famiglia“ der Umsiedlung zu. Ein Ingenieurbüro erhielt den Auftrag zur Planung der provisorischen Infrastruktur, der Befestigung des Platzes und der Errichtung einer Umzäunung. Vor der Umsiedlung war die Großfamilie, die aus insgesamt 10 Kernfamilien besteht, mehrere Jahre zusammen mit anderen Roma und Sinti auf einem Lagerplatz in Firmian untergebracht. Dort herrschten aus mehreren Gründen bedenkliche hygienische und ge- sundheitsschädigende Bedingungen. Das Lager befand sich direkt auf und neben einer alten Müllhalde, weshalb der Boden mit Schadstoffen verseucht ist. Außerdem lebten im Lager viel zu viele Menschen, woraus die bereits erwähnten schwierigen hygienischen Bedingungen resultierten. Aufgrund der Überfüllung und wegen der anstehenden Sa- nierung der Mülldeponie wurde auf Bestreben der politischen Entscheidungsträger die Umsiedlung der Sintifamilie veranlasst. Der „Umzug“ der Familie erfolgte schließlich 2004. Mit „Polizeischutz“ fuhr der Wohnwagentrupp der Sinti zu ihrem neuen, wiederum nur als Provisorium vorgesehenen Siedlungsplatz in Pfatten. Die Polizei sollte vor allem garantieren, dass sich die Familie nicht unterwegs einen „eigenen“ Standplatz aussucht. Das räumliche Resultat dieses erbauten Provisoriums war und ist ein „campo noma- di“. Aus der temporären Lösung wurde ein Dauerzustand.12 Der derzeitige Siedlungsplatz wird vor allem von den vielen Verkehrslinien in der Umgebung bestimmt, die den Ort umschließen und begrenzen:

1. Die Brennerautobahn ist eine der wichtigsten europäischen Verkehrsachsen, sie ver- bindet den Raum südlich und nördlich der Alpen. Ungefähr 30.000 Fahrzeuge pas- sieren täglich die Brennerautobahn im untersuchten Abschnitt. Der Ort befindet sich direkt unter der Autobahn, die Fahrbahn spannt sich wie ein überdimensionales Dach darüber. Die Autobahn dominiert den Platz vor allem optisch, erst in zweiter Linie wird die massive Belastung für die Menschen durch Emissionen bewusst. Schadstoffe, wie z. B. Schwermetalle, gelangen auf direktem Weg durch einfaches Absinken in den Lebensraum der Familie. Es kommt auch immer wieder vor, dass Bestandteile von Fahrzeugen ins Lager fallen und damit zur Gefahr werden. Neben den genannten

12 Die Analyse des Ortes erfolgte 2009. Inzwischen lebt die Familie schon zehn Jahre dort.

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Belastungen leidet die Familie unter dem unbeschreiblichen Schmutz, der von der Verkehrsachse ausgeht. 2. Die Eisenbahnlinie mit einem Verkehrsaufkommen von bis zu 100 Zügen täglich be- grenzt den Standort im Westen und Norden. Die Lärmbelastung durch die vorbeifah- renden Züge ist immens. Vor allem die Güterzüge, die meist nachts verkehren, fahren zum Großteil auf fast „antikem“ Rollmaterial und sind deswegen sehr laut. Immer wieder kommt es auch zu Anfeindungen aus den vorbeifahrenden Personenzügen. 3. In 200 Metern Entfernung liegt der Fahrradweg, der von Bozen bis Trient führt. Dem Standort selbst begegnen die Radfahrer, wenn sie die Landesstraße nutzen, um zum Kalterer See oder ins westliche Unterland zu gelangen. 4. Die Landesstraße Nr. 127 vernetzt die westliche Talhälfte mit der östlichen am süd- lichsten Punkt des Mitterberges. Die Straße verbindet die nahegelegenen Dörfer un- tereinander und nimmt vor allem viele Pendler auf, die zum Bahnhof und weiter mit der Eisenbahn nach Bozen fahren. Die Landesstraße begrenzt den Standort gegen Süden. 5. Ein mit Büschen und kleinen Bäumen bewachsener Damm trennt den Standort vom nahegelegenen Fluss, der Etsch, die in dieser Zone schon im 17. Jahrhundert vom Personen- und Warenverkehr überquert wurde. Das nahe Flussufer ist durch einen dazwischenliegenden Zaun vom Standort aus selbst nicht erreichbar und die Verwal- dung des Dammes ist die Trenn- und Sichtgrenze zum Wasser. 6. Gmund, der kleine Weiler, der westlich vom Standort liegt, formt sich aus einigen Häusern und landwirtschaftlichen Betrieben, einem Munitionslager des Militärs in Richtung Kalterer See und dem vielbesuchten „Viktor’s Imbiss“, einer Grillstation mit Sitzplätzen im Inneren eines Holzhauses und einem angebauten Winterzelt. Der Imbiss ist neben einem Bauernhof auf der gegenüberliegenden Seite der Landes­ straße das dem Standort nahegelegenste Gebäude.

Das Gemeindezentrum, mit dem Hauptort Pfatten, liegt zirka sechs Kilometer nördlich des Ortes. Die Bewohner in Gmund und auch die Sintifamilie erledigen daher ihre tägli- chen Besorgungen im nähergelegenen Auer. Der Standort selbst befindet sich in einem Gewebe von Verkehrsnetzen und Belastungen, ein Muster, das den von der Familie be- wohnten Raum eigentlich unbewohnbar macht. Das Provisorium des Wohnens ist im Bauleitplan als „Zone für öffentliche Einrichtungen“ eingetragen, zu denen einerseits Schulen und Krankenhäuser, andererseits auch Kläranlagen und Müllverbrennungsan-

294 Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir?

lagen zählen. Der Wohnort der Familie ist somit ein Dienstleistungsraum. Gesetzlich betrachtet wohnt die Familie nicht an diesem Ort, sondern nimmt eine Dienstleistung entgegen. Vor diesem Hintergrund wurde der Platz eingerichtet. Sanitärcontainer, ein leerer befestigter Platz und ein Stromaggregat, das mit Kraftstoff betankt werden muss, wurden der Familie zur Verfügung gestellt. Weil es sich um einen provisorischen „Lager-

der Platz. Bildnachweis: Marlene Roner-Trojer

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platz“ handelt, wurde von einem Stromanschluss abgesehen, obwohl sich sowohl Strom- leitung als auch -verteiler in unmittelbarer Nähe des Grundstückes befinden. Die zehn Kernfamilien mit den Kindern und Kleinkindern ertragen die negativen Aspekte dieser Wohnsituation vor allem durch ihr Zusammenstehen als Gemeinschaft und im Wissen, Aspekte ihrer Kultur in dem abgegrenzten Bereich ungestört leben zu können. Leider wird durch diesen Wohnort auch eine Ausgrenzung von der Mehrheitsgesell- schaft gefördert. Als Sintifamilie, wie mir das Familienoberhaupt versicherte, bevorzugen sie „diese Art des Wohnens“. Aber dieser Ort mit seinen Belastungen entspricht in keiner Weise ihren Vorstellungen. Beim „capo famiglia“, dem Familienoberhaupt, merkte man das Bedürfnis des Wohnens „im Grünen“, und er sprach von den von ihm als gelungen angesehenen Projekten von „campi“ in Lana und in Montiggl, wo für die Familien Holz- häuschen mit Grünbereichen geschaffen wurden. Das Wohnen und Leben in Freiheit, darunter verstand das Familienoberhaupt das Wohnen nach „ihrer Art“, das sich von dem der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen darf oder muss, und das gemeinsame Wohnen der Großfamilie. Daraus interpretiere ich das Verlangen nach einem Siedlungsplatz, einem Wohnort, einem Raum von Kubaturen oder Zonen, in denen sie als gesamte Gemeinschaft mit genügend Freibereichen leben können. „Nicht im Zentrum des Dorfes, aber auch nicht vollkommen außerhalb der geschlossenen Siedlungsstrukturen“, überall dort könnte sich dieser Raum befinden, be- komme ich zaghaft Wohnwünsche beschrieben. Eine willkommene Alternative wäre ein Ort inmitten ruhiger Natur, glaube ich sehnsuchtsvoll zwischen den Visionen herauszu- hören.13

Obwohl sie vor der Einrichtung der ‚campi nomadi‘ (1980er-Jahre) oft von einem Ort zum anderen zogen, oft tagelang keinen Lagerplatz fanden, von Gemeinde- behörden oder Bauern weggeschickt wurden, sagen die Sinti, dass die Wohnwa- genplätze (die ‚campi‘) zu einer Verschlechterung ihrer Lebensqualität beigetragen haben. Die Gage sind für die Infrastruktur wie Duschcontainer, Trinkwasser und Elektrizität zuständig und die Sinti sind gezwungen, mit den Gage, für die die Sinti ‚Menschen zweiter Klasse‘ sind, immer wieder zu verhandeln. (…) Die Erfahrung des Wohnens in Wohnungen war für diese Sintifamilien (die in Sozialwohnungen

13 Das Familienoberhaupt ist im Jahr 2011 verstorben.

296 Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir?

untergebracht wurden) die erste dieser Art, und viele erzählen vom Druck der vier Wände, von dem Gefühl des Erstickens, von der Unruhe, die sie im geschlossenen Raum befällt. Die Wohnungen der Sinti liegen bevorzugt im Erdgeschoss und haben direkte Ausgänge ins Freie. Diejenigen Familien, die schon seit langem in den Wohnungen leben, haben in der Garage oder auf dem Wohnwagenplatz den Camper oder Wohnwagen stehen.14

der Ort. Bildnachweis: Günter Richard Wett

Als sesshaftes Nomadentum könnte man diese Wohnform bezeichnen. Jederzeit bereit, diesen Platz sofort verlassen zu können, nicht gebunden an Boden oder Besitz, sondern an Familie und Kultur. Arbeitslosigkeit ist ein tiefgreifendes Problem bei den meisten Familienmitgliedern. Analphabetismus bei den Erwachsenen, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und ein gewohntes selbstbestimmtes Arbeiten mit freier Zeiteinteilung erschweren eine Arbeits- suche und ein geregeltes Einkommen. Die „geerbte“ Arbeit des Handelns mit Alteisen ist die Arbeit der Männer, der sie mit Enthusiasmus nachgehen. Beim „lavoro con il ferro“15, wie das Familienoberhaupt es nannte, fahren die Männer mit ihrem Lieferwagen in benachbarte Gebiete und Dörfer und sammeln Eisen, das nicht mehr gebraucht wird. Dieses wird wiederum an den Altei- sengroßhandel „Santini“ in Bozen weiterverkauft. Mittlerweile bringen manche Personen

14 Elisabeth Tauber, Du wirst keinen Ehemann nehmen! Respekt, die Bedeutung der Toten und Fluchtheirat bei den Sinti Estraixaria, Berlin 2006, S. 9. 15 „die Arbeit mit dem Metall“, eigene Übersetzung.

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auch ihr Alteisen zu der Familie, denn sie wissen, dass am Wohnplatz ein kleines Altme- talllager eingerichtet ist. Für den Altmetallhandel ist der derzeitige Platz gut geeignet, weil er verkehrstechnisch günstig liegt. Der Verdienst aus dem Altstoffhandel, der neben dem „sussidio“, also den sozialen Unterstützungsgeldern und Renten den Hauptverdienst der Familien darstellt, befindet sich in einem rechtlichen Graubereich. Für das Sammeln von und Handeln mit Altstof- fen bedürfte es einer Konzession, doch der finanzielle und bürokratische Aufwand dafür kann von der Familie nicht bewältigt werden. In Italien gibt es ebenso wie in den meisten anderen europäischen Ländern keine speziellen Bewilligungen für Wander- und Altstoff- handel im Kleinstformat. Das Problem der einerseits kriminalisierten und andererseits fehlenden Einkommens- möglichkeiten bildet im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von finanzieller Unter- stützung aus der Mehrheitsbevölkerung einen Teufelskreis. Die traditionell weitergege- benen Wirtschaftsstrategien der Sinti zur Selbstversorgung finden im modernen westli- chen Wirtschafts- und Verwaltungssystem scheinbar keinen Platz. Die Abhängigkeit von finanzieller Unterstützung durch die Gadsche tut das Übrige dazu. Das Selbstvertrauen sinkt, Eigenverantwortung wird nicht mehr übernommen. Es folgt eine abhängige und abwartende Tatenlosigkeit wie man sie aus den ehemaligen kommunistischen Diktaturen in Osteuropa kennt. Die Südtiroler Sinti haben seit Generationen Nischen in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht innerhalb der Mehrheitsgesellschaft belegt. In den vergangenen Jahr- zehnten wurden diese Nischen bewusst oder unbewusst immer mehr eingeschränkt, sie scheinen in einer vereinheitlichten westlichen Gesellschaft keinen Platz zu finden. Es sind aber genau solche Nischen, die gehegt und gepflegt werden sollten, Sinti und die Mehrheitsbevölkerung würden davon profitieren.

Die Frauen dieser Familien (…) gehen ‚managern‘ (manghel), das heisst sie bet- teln, verkaufen und sagen die Zukunft der Gage in den umliegenden Dörfern und Tälern voraus. Ihre Männer bleiben zu Hause bei den noch nicht schulpflichtigen Kindern.16

16 Tauber, Du wirst keinen Ehemann nehmen, S. 9.

298 Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir?

Die Frauen halten sich im Hintergrund. Erst bei den nächsten Besuchen kann ich mit ihnen einige Worte wechseln. Ich bekomme einen Kaffee angeboten, der am Herd im Freien zubereitet wird und den ich beim Gespräch am offenen Platz genieße. Im Sommer wie im Winter wird im Freien gekocht und an warmen Tagen halten sich die Bewohner am Platz auf. Die Kinder spielen zwischen den Containern und Wohnwägen, halten sich aber im Winter hauptsächlich im Inneren der Wohnwägen auf. Der Schulbesuch der Kinder wird von den öffentlichen Einrichtungen strengstens gefordert, um dem scheinbar kulturbedingten Analphabetismus entgegenzuwirken. Die Schulkarriere, die für viele Sinti nicht denselben Stellenwert hat, den ihr die Mehrheits- gesellschaft beimisst, und die Angst, den Kindern zu wenig von der eigenen Sprache und Kultur vermitteln zu können, beeinflussen die schulischen Leistungen vieler Sintikinder. Leider werden in den Lehrplänen Tradition und Kultur der Sinti nicht berücksichtigt, weshalb sich viele der Kinder im Unterricht nicht wiederfinden. In einem PVC-Zelt am Platz wurde von der Bezirksgemeinschaft, dem Sozialspren- gel Überetsch-Unterland eine Vorschule eingerichtet. Zweimal wöchentlich werden die Kinder dort auf die Schule vorbereitet, um ihnen den Einstieg in das Schulsystem der Mehrheitsgesellschaft zu erleichtern. Die Kinder, die in die zwei Kilometer entfernte italienischsprachige Schule gehen, werden von ihren Eltern mit dem Pkw gefahren und abgeholt. Die Kinder vor der Mehrheitsgesellschaft zu schützen und die Abgrenzung gegen- über dem Leben der Anderen sind ein wichtiger Faktor, über den sich „eine Gruppe nach Innen und nach Außen definiert. (...) Die Eigenen und die Anderen repräsentieren ­Binnenmoral und Außenmoral, die grundsätzlich gegensätzlich zueinander stehen“.17 Abgrenzung als Eigendefinition ist somit ein wichtiger Aspekt im Leben der Sinti. Jede Kernfamilie verfügt über bis zu zwei Wohnwägen oder Wohnmobile und einen Pkw, der für berufliche und private Besorgungen in Verwendung ist. Am Platz gibt es öffentliche und private Plätze, die von der Topographie, den Wohn- wägen, den Sanitärcontainern und den von den Bewohnern selbst eingerichteten Zo- nen definiert werden. Die Eisenbahnunterführung der ehemaligen Landesstraße dient

17 Tauber, Sinti und Roma, S. 212.

299 Marlene Roner-Trojer

heute als Eingang zum Platz. Dieser wirkt wie ein Tor und ermöglicht eine kontrollierte Übersicht über die Ankunft von Bewohnern und Gästen. Das Tor ist wie ein Über- gang zwischen zwei Welten oder ein Überschreiten einer Grenze. Die mittelbare Umge- bung, im Radius von einigen hundert Metern, wird von der Großfamilie kaum genutzt. Wahrscheinlich bevorzugen sie „ihre Plätze“ und den Schutz des eigenen „campo Sinti“. Der beschriebene Platz ist für die Sinti alles in einem: Wohn- und Gemeinschaftsraum, ­Arbeits- und Abstellplatz. Bei einem der nächsten Besuche fällt mir auf, dass sich zwei Wohnwägen vom „cam- po“ entfernt haben und zwischen dem Branzoller Entwässerungsgraben und der Bahn- hofstraße stehen. Ein Sohn der Sintifamilie mit seinen Angehörigen darf mit Zustim- mung der Gemeinde Auer am Uferplatz wohnen, weil einem der Kinder chronisches Asthma attestiert wurde. Die Krankheit ist auf die bisherige Wohnsituation zurückzufüh- ren, denn der fünfjährige Junge ist wie alle anderen noch nicht schulpflichtigen Kinder am Wohnwagenplatz unter der Autobahn aufgewachsen. Die Luftverhältnisse am neuen ruhigeren und sonnigeren Ort, zirka einen Kilometer nordöstlich des „campo nomadi“ sind viel besser als am Gemeinschaftsplatz. Der neue Standplatz zeigt ein scheinbar „ro- mantisches Bild vom Zigeuner“, der dort in der Natur neben dem Wasser lagert. Das neue ausgelagerte Wohnprovisorium ohne Sanitär- und sonstiger Infrastruktur zeichnet allerdings ein weiteres Bild unreflektierter Planung des Wohnraums für Sintifamilien. Im Prinzip wollen Sinti zum Wohnen nichts anderes als der Großteil der Gesellschaft: „Ein Häuschen im Grünen“ in unmittelbarer Nähe zum urbanen Raum. Ende 2009 beschlossen die politischen Entscheidungsträger, die Sintifamilie in einem neuen, diesmal scheinbar definitiven Areal unterzubringen.

30. Dezember 2009 – Lokal-Pfatten: Nomadenlager wird verlegt – 47 Nomaden, die derzeit in der Gemeinde Pfatten unter der Autobahn wohnen und leben, sol- len auf einem neuen Gelände untergebracht werden. „Sowohl die staatliche Ge- sundheitsbehörde, als auch die Autobahngesellschaft haben sich an die Gemeinde und ans Land gewandt, da die derzeitige Situation der Nomaden nicht tragbar ist“, so Landeshauptmann Luis Durnwalder am heutigen Mittwoch. Deshalb habe sich das Land, zusammen mit der Gemeinde Pfatten nach einer Alternative um- gesehen. „Wir werden unweit der Laimburg ein Grundstück enteignen. Das wird

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1 Autobahn 6 Zelt für Vorschule 11 Zufahrt 2 Eisenbahn 7„Santuario“ – Sanktuar 12 Eisenwarensammelstelle 3 Landesstraße 8 Stromaggregat 13 Müllcontainer 4 Fluss 9 Vegetation – Sträucher 5 Sanitärcontainer 10 Winterraum

Zone. Bildnachweis: Marlene Roner-Trojer

301 Marlene Roner-Trojer

380.000 Euro kosten. Für weitere 764.000 Euro werden Wohnstrukturen für die 47 Nomaden, 26 davon sind minderjährig, errichtet“, so Durnwalder. Das Land finanziert die Ausgaben von 1,1 Millionen Euro zu 80 Prozent mit. Für den Rest muss die Gemeinde aufkommen.18

Liest man diesen Artikel aus dem Jahr 2009, so scheint es, als ob die Politik die gravieren- den Mängel des bisherigen Wohnraums der Familie erkannt und eine Lösung gefunden hätte. Die Finanzierung ist gesichert und auch ein Einreichprojekt zum neu geplanten Platz für die Sintifamilie ist bereits ausgearbeitet. Gemeinsam mit den öffentlichen Insti- tutionen und dem „capo famiglia“ wurde der Platz für geeignet befunden. Bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass auch bei diesem Projekt bestehende Probleme nur verlagert werden: 1. Der neue Platz ist die einzige Variante, die in Erwägung gezogen und der Familie an- geboten wurde. Es gab für sie keine Entscheidungsalternative. 2. Der Platz befindet sich nicht wie im Artikel beschrieben „unweit der Laimburg“, son- dern 400 Meter nördlich vom heutigen Platz. D. h., der neue Platz ist 400 Meter näher am Landesversuchszentrum Laimburg, das drei Kilometer weiter im Norden liegt. 3. Der neue Platz hat die typischen Strukturen der „campi nomadi“, die sich als eindeutig falsches Konzept für Sintiwohnplätze erwiesen haben. Die antiurbane Lage verstärkt eine Ghettoisierung und schiebt die Familie noch weiter ins Abseits. Eine teilweise Integration in das Leben der Mehrheitsgesellschaft, wie sie z. B. durch den Schulbe- such der Kinder schon stattfindet, wird durch diese bauliche Abschiebung wieder ins Gegenteil verkehrt. 4. Eine 1,1 Mio. Euro teure Spitzendecke wird über eine Großfamilie gestülpt. Diese „Aus den Augen aus dem Sinn“-Mentalität schiebt die Sinti aus Pfatten in einen neuen Raum, der wiederum direkt neben der Autobahn liegt (40 Meter Abstand) und nur mehr von den Behörden und den Sozialarbeitern gesehen wird. 5. Der Großteil der Baukosten muss für die Sicherung des neuen Platzes (Hangsicherun- gen und Aufschüttung wegen des hohen Grundwasserspiegels) und die Anbindung zum Infrastrukturnetz investiert werden.

18 Stol. Südtirol online, http://www.stol.it/Artikel/Chronik/Lokal/Pfatten-Nomadenlager-wird-verlegt (Zugriff 04.10.2010).

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6. Der neue „Sanitärcontainerplatz“ bietet zwar ausreichende m2-Flächen für Wohn­ wägen und Holzhäuser, liegt aber hinter einem Nordhang des Mitterberges. Somit ist während der Wintermonate eine Sonneneinstrahlung in diesem Bereich nicht gewähr- leistet.19

Programme

Es gibt den Ausspruch „Die Natur ist die Terrasse der ‚Zigeuner‘.“ So wird der Außen- raum zum Teil des Wohnraumes. Die Funktionen zwischen Innen und Außen ändern sich ständig, nicht nur nach Jahreszeiten und nach den täglichen Witterungsverhältnissen, sondern auch nach Abstellpositionen der Wohnmobile und der anderen Fahrzeuge. Der gesamte Platz ist ein Drinnen und ein Draußen zur selben Zeit. Die Zwischenräume sind Gemeinschaftsräume. Die genutzten Außenräume ändern sich mit den Sonnenständen und werden durch das „Flugdach“ Autobahn mitbestimmt. Die Räume außerhalb der Wohnwägen und Container sind eigentlich Natur, die hier wie in den meisten „campi nomadi“ jedoch selten Ähnlichkeiten mit naturnahen Zonen aufweisen.

Man stelle sich vor, in der Zeit so weit zurück zu gehen, bevor Architektur zu ­Architektur wurde und exakt an dem Punkt stehen zu bleiben, als Architektur begann. (...) Wenn ich das weiter zurückverfolge, stelle ich mir Architektur als eine Höhle vor, unmittelbar bevor sie ein Nest wird. Sie ist nicht im Namen der Funk- tionalität organisiert, sondern im Platz-Machen, das Menschen dazu animiert, ein Spektrum von Möglichkeiten zu suchen. Anstatt Funktionalität zu unterdrücken, ist eine Höhle ein provokatives und uneingeschränktes Milieu. (...) Man stelle sich die Diversität der Orte vor, die Menschen bewohnen können und die Möglichkei- ten, was Architektur werden kann. Die ‚Primitive Zukunft‘ ist voller viel verspre- chender Möglichkeiten und Perspektiven.20

Einen Teil dieser Möglichkeiten, wie sie Sou Fujimoto beschreibt, findet man auch beim Wohnplatz der Sintifamilie wieder.

19 Zur Umsetzung des geplanten Projekts kam es nicht. 20 Sou Fujimoto, Primitive Future, Tokyo 2008, S. 21–24, eigene Übersetzung.

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Raumprogramm. Bildnachweis: Marlene Roner-Trojer

304 Aterritorial – learning from gypsies – oder wie viele Arten des Wohnens kennen wir?

Als funktioneller Archetyp ist das Nest entsprechend den Vorstellungen von Komfort und Funktionalität der Bewohner errichtet worden, während eine Höhle existiert, unabhängig davon, ob sie für den Bewohner angenehm ist. Beim Eintre- ten in eine Höhle passte die Menschheit den Raum geschickt an die Landschaft an, indem sie die verschiedenen Andeutungen konvex-konkaver Oberflächen und Maßstäbe interpretierte.21

Wohn – Raum. Bildnachweis: Marlene Roner-Trojer

So wie der Nicht-Ort, an dem die Familiengemeinschaft lebt, einer Höhle gleicht, werden gewisse Elemente angenommen und als Raum oder Möbel umfunktioniert. Fragen wie: Wo ist der Eingang? Wo befinden sich die Freibereiche? Wo der Gemein- schaftsbereich? Was ist der Keller? Was ist Parkplatz? Was und wo ist Küche? Was ist das Dach? Wo sind die Wege? werden immer wieder neu definiert. Fließende Übergänge zwi- schen den Funktionen, wechselnde Funktionen im selben Raum. – Austausch und Ver-

21 Ebd., S. 24.

305 Marlene Roner-Trojer

änderung. – Alles scheint möglich. Der konventionelle Wohnbau wird somit hinterfragt. Elemente und Systeme aus diesem Raum können somit für künftige Raumanwendungen übernommen werden. Der Parkplatz ist Wohnzimmer oder ist das Wohnzimmer Park- platz? Balkon, Spiel- und Speisezimmer, Küche sind überall und nirgends. Im Winter die Holzablage, im Sommer der Platz für die Anrichte. Die Mauer wird zu Bank, Regal, Kel- ler und zum Fundament für das Santuario (Gebetsort). Ein transluzentes Netz als Sicht- schutz, die Umzäunung befriedet den Platz. Der Zaun ist eine Mauer, eine Grenze, eine unsichtbare massive Wand. Der Platz ist wie ein Gebäude. Der Platz ist das Gebäude.

306 Ricarda Kössl

... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

Rückblickend auf meine Diplomarbeit unter dem Titel „… Wege zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum“ holt mich meine eigene Wahrnehmung immer wieder von Neuem ein. Diese veränderte meine Einstellung. Die Situation der Roma, Sinti und Jenischen und anderer (ehemaliger) Nomaden der Erde eröffnete für mich eine neue, eine andere Betrachtungsweise unseres Lebens – auf die auch Bruce Chatwin eingeht, der schrieb: „Je mehr ich las, umso stärker wurde meine Überzeugung, dass Nomaden der Angel- punkt der Geschichte gewesen waren.“1 Dies bestärkte meine Arbeit und schärfte meine Sicht im Alltag. Mit „Sicht“ meine ich das Hinsehen, das Wahrnehmen von Menschen, die täglich an den Rand der Gesellschaft, an den Stadtrand gedrängt werden, Menschen, die gezwungen sind, unterwegs zu sein. Das Fahren gilt hier oft als letzte Hoffnung.

Das Leben der Gitanos in Spanien2

Über Jahrhunderte erließen die spanischen Machthaber immer wieder sogenannte ­„Regulationen“, nach denen Roma innerhalb von zwei Monaten das Land verlassen mussten, andernfalls drohten Sanktionen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einer pragmatischen Haltung gegenüber Roma. Trotzdem zwang man sie, sesshaft zu werden und verbot ihnen, ihre Sprache zu sprechen. Es war der Beginn einer langfristi- gen Assimilierung der spanischen Romakultur. Seit 1986 sind Gitanos in Spanien eine anerkannte Minderheit. Leider gehören rassis- tisch motivierte Diskriminierungen durch die spanische Bevölkerung immer noch zum Alltag.

1 Bruce Chatwin, Traumpfade (The Songlines), München/Wien 1990, S. 31, zitiert nach: Thomas H. Macho, Flucht- gedanken, in: Horst Gerhard Haberl/Peter Strasser (Hg.), Nomadologie der Neunziger. steirischer herbst. Graz 1990-1995. Graz 1995, S. 93–107, hier S. 93. 2 Ricarda Kössl, … Wege zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, Diplomarbeit, Innsbruck 2007, S. 42f.

307 Ricarda Kössl

Die Angehörigen der Volksgruppe leben meist am Stadtrand in heruntergekommenen Siedlungen mit wenig Infrastruktur. Mitte der 1980er-Jahre wurde in Madrid eine Roma- siedlung abgerissen, welche direkt neben einer der größten Müllhalden der Stadt lag. Die Romafamilien demonstrierten und konnten die Politik davon überzeugen, Neubauten für sie zu errichten.

Torre Agbar-Poble Nou, Barcelona – im Spannungsverhältnis der Modernisierung Bildnachweis: Ricarda Kössl

1998 forderten 7.000 Roma Maßnahmen gegen den Rassismus und verlangten von der Madrider Regionalregierung Sozialprogramme. In den vergangenen Jahren gab es stän- dige Verhandlungen zwischen Romaorganisationen und der spanischen Regierung. Einer der wichtigsten Punkte war die Gleichstellung der Sprache. Erst durch den sogenannten „Brief von Barcelona“3 setzte man die Gleichheit der Sprachen fest.

3 Vgl. Rolf Bauerdick, Die Roma in der OSZE Region, in: Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (Hg.): Die Roma: eine transnationale europäische Bevölkerung, Berlin 2000, S. 24–28, hier S. 26.

308 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

Die Wohnverhältnisse der Gitanos in Spanien liegen nach wie vor weit unter dem Standard: geringe Wohnfläche, schlechte Belüftung, Mangel an Grundversorgung (Sani- tär, Heizung, Elektrizität) und schlechte bauliche Qualität. 70 Prozent der Romafamilien leben in Baracken und heruntergekommenen Wohnungen, die am Rande der großstädti- schen Gebiete situiert sind. Maßnahmen und Regulierungsversuche dieser Art finden wir nicht nur in Spanien, sondern erleben wir gegenwärtig in einigen europäischen Städten und Metropolen. Ein aktuelles Beispiel ist Sulukule, ein Stadtteil in Istanbul, das älteste Romaviertel der Welt. Hier siedelte man zirka 3.500 Menschen um. Sie wurden in Apartmentblocks an den Stadtrand verbannt. Stadtpolitisch gesteuerte Grundstückspekulationen und die daraus resultierenden Gentrifizierungsprozesse sind hier die Ursache, dass ärmere Menschen aus ihren Stadtvierteln vertrieben werden. Ein Stück Romageschichte wurde hier für im- mer ausgelöscht.

Größte Roma-Population in La Mina Barcelona Bildnachweis: Ricarda Kössl

309 Ricarda Kössl

La Mina – ein Stadtteil aus städtebaulicher und soziographischer Sicht

Blick auf die „Mina Nueva“; Barcelona Spanien Bildnachweis: Plataforma de Vecinos de La Mina

Ausgangspunkt meiner Arbeit war La Mina – ein Stadtteil am nördlichen Rand Barcelo- nas. Verdichteter Wohnbau (Dichte 5,6 EW/Wohnung), erbaut zwischen 1968 und 1973 unter dem frankistischen Herrschaftsregime – konzipiert als hermetisch abgeriegelter Stadtteil. Insgesamt wurden 2.681 Wohnungen erbaut. Der Anteil der Gitanos betrug anfänglich nur 25 Prozent, dennoch entstand hier eine der größten Romaansiedlungen Europas. Wegen der spanischen Wirtschaftskrise in den 1980er-Jahren stieg die Arbeitslosigkeit in La Mina auf mehr als 55 Prozent an. Die Folgen waren Kriminalität und Ausgren- zung, welche sich immer mehr zuspitzten. Vom katalanischen Parlament gingen einige Beschlüsse aus, die eine Verbesserung der unhaltbaren Situation bringen sollten. Die damals beschlossenen Vorhaben wurden aber großteils nicht umgesetzt. 1983 stellte die Regierung wiederum einen Spezialplan für La Mina auf, jedoch ohne Rücksicht auf so- ziale Belange und Mitbestimmungsrechte der BewohnerInnen zu nehmen. Es wurden ausschließlich städtebauliche Maßnahmen getroffen, wie der Bau des Parc del Besòs und der südlich gelegenen Straße bis zur Eisenbahnbrücke. Die Olympischen Spiele 1992 bzw. die Errichtung der vier olympischen Zonen veränderten Barcelona maßgeblich und halfen, viele positive städtebauliche Neuerungen zu ermöglichen. Die positiven Impulse reichten jedoch nicht bis La Mina. Dort spürte man nur die sozialen Einschnitte, das

310 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

Geld floss woanders hin. Es wurden zwar auch in La Mina etliche städtebauliche und soziale Studien erstellt, jedoch die Bevölkerung wurde nicht einbezogen. Die heute dort lebenden Gitanos stellen eine ausgegrenzte Minderheit dar. Ihr Leben ist bestimmt von sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, schlechte Ausbildung, An- alphabetismus und Drogenkriminalität.4

Nachbarschaftsvereinigung – Zentrum eines Netzwerkes

Nachbarschaftshilfe hat in Spanien lange Tradition. In jeder noch so kleinen Stadt gibt es Vereine oder Plattformen, die sich der AnrainerInnen im Viertel annehmen. In Barcelona gibt es zehn Distrikte, in denen es jeweils mindestens eine BürgerInnenvereinigung gibt. In La Mina gab es schon in den 1970er-Jahren eine Nachbarschaftsvereinigung, wel- che aber an den Konflikten zwischen den beiden im Viertel dominierenden kommunisti- schen Sektionen (PSUC und PCC) zerbrach. Als 1987 bekannt wurde, dass die Regierung Pläne ausarbeiten ließ, die Einwohner- schaft von La Mina abzusiedeln und auf ganz Katalonien zu verteilen und das Viertel zu schleifen, setzten sich die BewohnerInnen zur Wehr. Sie gründeten die Nachbarschafts- bewegung „La Permanente“. Durch Streiks und Demonstrationen wurde das Vorhaben der Zwangsumsiedlung zwar verhindert, die kritische Lage im Viertel änderte sich jedoch nicht. In den 1990er-Jahren herrschten in La Mina bürgerkriegsähnliche Zustände. Der Aus- gangspunkt war eine Zusage, Geld für neue Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Durch unklare Besitzverhältnisse und falsche Versprechungen eskalierte die Situation im Viertel. Es kam zu Straßenschlachten zwischen EinwohnerInnen und der Polizei. Aufgrund der Nichteinhaltung von Versprechungen gegenüber der BürgerInnenbewegung folgte eine Demonstration der anderen. La Permanente forderte von der Regierung 60 Wohnungen zur Weitergabe an bedürftige Familien. Die Versprechungen wurden nicht eingehalten und so wurden 1992 60 Wohnungen besetzt. Nach der Zersplitterung von La Permanente gründete sich eine neue BürgerInnenbewegung, die auch heute noch besteht: „Plataforma de vecinos de La Mina“. Innerhalb der Plattform waren sowohl Gitanos als

4 Interview mit Gerald del Vaixell, Plataforma de vecinos de La Mina, 2005, transkribiert von Ricarda Kössl, in: Kössl, … Wege zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, S. 56ff.

311 Ricarda Kössl

auch „payos“ (Nicht-Gitanos) aktiv beteiligt. Jedoch gestaltete sich die Zusammenarbeit oft schwierig, da einzelne Familien der Roma mit anderen verfeindet sind. So wurden viele Familien und ihre Wünsche nicht gehört. Schlussendlich wurde in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und mit Hilfe eines Stadtplaners gemeinsam mit der Plattform Ende der 1990er-Jahre ein zehnjähriger Ent- wicklungsplan für das Viertel vorgelegt.

Städtebauliche Maßnahmen des Entwicklungsplans: Umsetzung bis 20065

Straßen und Wege:

Um den ghettoartigen, streng gerasterten Charakter des Viertels aufzulösen, wurde der zentral angelegte Schulkomplex zum Abbruch frei gegeben. Dadurch wurde es möglich, den vertikal angelegten Straßenraster zu durchbrechen. Durch neu angelegte Querstra- ßen sollte die hermetische, kontrollierbare Struktur des Stadtteils aufgebrochen werden. Neue Verbindungen und Wege innerhalb des Viertels und Sichtbeziehungen sowie Plätze sollen dem Stadtteil ein neues Image geben. Erst durch die Verlängerung der Avenida Diagonal bis zum Meer und die städtebauli- che Erweiterung der Stadt mit dem Bau des Forum Barcelona wurde La Mina wieder the- matisiert. Die Nachbarschaftsvereinigung konnte sich in einigen städtebaulichen Punkten gegen die Stadt durchsetzen. Zwei Beispiele: Um eine Achse zum Forum der Kulturen zu schaffen und das Viertel an den öffentlichen Verkehr anzubinden, wurde eine Rambla, also eine breite Promena- denstraße, durch La Mina errichtet, die zwischenzeitlich bis zum Meer verlängert wurde. Im Zuge des Baus der Diagonal del Mar wurde die sogenannte „grüne Tram“ entlang der Rambla bis zum Forum der Kulturen neu angelegt. Hier erreichte die Plataforma die Verlängerung der Straßenbahnlinie bis La Mina.

5 Ebd., S. 60ff.

312 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

Städtebaulicher Grundriss mit ehemaligem, mittlerweile abgebrochenem Schulkomplex Bildnachweis: Ricarda Kössl

Sanierungsplan für die bestehenden Wohnungen:

Die Wohnungen in La Mina unterliegen der staatlichen Verwaltung. Die Mieten bzw. Kaufpreise werden je nach Regierung verändert. Aufgrund eines Dekret wurden 2010 die Mieten und der Realwert einer Wohnung an den freien Marktwert angepasst. Dadurch sind die Wohnungen für BenutzerInnen zu teuer geworden. Dringend notwendige Maß- nahmen sind: • Sofortige Schalldämmung der Blocks in der Nähe von Stadtautobahn und Eisenbahn • In der Folge Schalldämmung aller bestehenden Wohnungen • Einbau von Liften und Nottreppen • Sanierung der Rauchfänge

313 Ricarda Kössl

Um die Einwohnerdichte der zehngeschossigen Blocks der Mina Nueva zu reduzieren, schlug die Plattform vor, die 200 Meter langen Gebäude zu halbieren. Module werden he- rausgeschnitten und Eingänge separiert, denn momentan werden 80 Wohnungen durch einen Eingang erschlossen. Man rechnet fünf Personen pro Wohnung, so kommt ein Eingang auf zirka 400 Personen. Zusätzlich zu den Erschließungen werden Lifte gebaut. Durch die herausgeschnittenen Module entstehen neue Querstraßen, welche die Ver- bindungen innerhalb des Viertels erleichtern. Alle Straßen werden kontinuierlich weiter- geführt, um keine Sackgassen zu erzeugen. Ein wichtiger Aspekt ist hier die Transparenz und Übersichtlichkeit im Viertel. Nischen und unübersichtliche Bereiche fördern Krimi- nalität und tätliche Übergriffe. Die desaströse Situation der Blocks „Mina Nueva“ hat sich zwischen 2006 und 2013 nicht verändert. Es wird spekuliert, dass diese Wohnungen abgerissen werden und neue entstehen. In diesen Wohnungen leben drei Viertel der dortigen Gitanos.

Neue Aufzüge in La Mina Vieja, Barcelona Spanien Bildnachweis: Plataforma de Vecinos de La Mina

314 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

Die Plataforma de la Mina und das Centro Cultural Gitano haben bei ihrem Maßnah- menkatalog ein neues Zentrum der Gitanos gefordert. Schon im Jahr 2006 argumentierte die Stadtplanung, dass die Roma-Gruppierungen Räumlichkeiten der neuen Bibliothek nutzen sollten.

La Mina Nueva, Barcelona Spanien 2010 Bildnachweis: Ricarda Kössl

Schwächen des Entwicklungsplans6

Trotz des urbanen Entwicklungsplans der Plataforma de La Mina gibt es aus städtebauli- cher und soziologischer Sicht Schwachpunkte: 40 Prozent der Bevölkerung von La Mina gehören der Minderheit der Roma an. Die meisten von ihnen leben schon seit Generationen in Spanien. Auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit und der schlechten Schulbildung sind viele von ihnen gezwungen, einer illegalen Arbeit nachzugehen. Bemühungen seitens der Plattform, im Viertel lebende Gitanos zu integrieren, sind zwar groß, aber reichen nicht aus. Deshalb sollte ihre brö-

6 Kössl, … Wege zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, S. 66.

315 Ricarda Kössl

ckelnde Identität mit dem neuen, zukünftigen Image La Minas gekoppelt und gleichzeitig gestärkt werden. Schon die geographische Lage des geplanten Kulturzentrums der Roma am nördlichen Rand von La Mina beweist die neuerliche örtliche und soziale Ausgren- zung der Volksgruppe. Eine Durchmischung und Annäherung zwischen Gitanos und Nicht-Gitanos wird von vornherein erschwert. Der Park de Besòs sollte für La Mina ein Freizeitbereich für Jung und Alt sein, aber durch die stark befahrene Via Cristobal wird das Viertel vom Park regelrecht abgetrennt. Dadurch kann keine räumliche Beziehung zwischen Wohnen und Erholen entstehen. Übergänge und Strukturen zwischen dem Park und dem Viertel fehlen. Die Absicht, den Park als Treffpunkt zu konzipieren, schlug damit fehl. Darüber hi- naus fehlen auch andere urbane Plätze, an denen eine soziale Interaktion stattfinden kann. Vor jedem Block gibt es Vorplätze und Grünbereiche, diese laden aber nicht zum Verweilen ein.

Stadtteildiagnose als Methode

Am Anfang meiner Auseinandersetzung mit der Thematik standen die unübersehbaren Ungleichheiten im städtischen und sozialen Kontext in diesem Viertel Barcelonas im Mittelpunkt meines Interesses. Die Missstände, die ich fand, waren ein diskriminierendes Geflecht aus den Bereichen Städtebau, Soziologie und Architektur. Um städtebauliche bzw. architektonische Lösungsansätze auszuarbeiten, mussten zuerst die komplexen Zu- sammenhänge analysiert werden. Aus diesem Grund möchte ich im Vorfeld den Bereich der Stadtpsychologie genauer erläutern. Das Verweben von Disziplinen wie Architektur, Umwelt- und Gemeindepsy- chologie nimmt hier eine Schlüsselrolle ein. Gegenwärtig versucht man im Zuge der Agenda 21, Forschungs- und Beteiligungsverfahren der verschiedenen Disziplinen und Länder zusammenzuführen, um daraus gemeinsame Methoden für die Stadtpsychologie zu entwickeln.7 Die Grundidee dabei ist, verschiedene Bevölkerungsgruppen eines Stadt- teiles oder einer Stadt zu befragen, um ihr Lebensgefühl und damit ihre Identifikation mit ihrer Umgebung zu ermitteln. Aus den durch Interviews und Umfragen gewonnenen Daten werden fördernde und hemmende Potenziale im Hinblick auf eine zukunftsorien-

7 Ebd., S. 66ff.

316 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

tierte Entwicklung ausgearbeitet. Voraussetzung für eine funktionierende Gemeinwesen- arbeit ist, dass die Bevölkerung einerseits die Politik und andererseits ihr Lebensumfeld kritisch hinterfragt. Gemeinwesenarbeit ist in Österreich eine sehr junge Disziplin und findet nur in größeren Ballungszentren oder in sozial problematischen Vierteln Anwen- dung. Die Agenda 21 ist ein entwicklungs- und umweltpolitisches Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert, ein Leitpapier zur nachhaltigen Entwicklung, beschlossen von 179 Staaten auf der „Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen“ (UNCED) in Rio de Janeiro (1992). An dieser Konferenz nahmen neben Regierungsvertretern auch viele nichtstaatliche Organisationen teil. Nachhaltige Entwicklung – und damit die Agenda 21 – ist vielerorts zur Leitlinie öffentlichen Handelns geworden. Gemeinwesenarbeit (GWA) ist neben sozialer Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe eine der grundlegenden Arbeitsprinzipien der sozialen Arbeit. Sie nimmt Sozialräume (Nach- barschaften, Stadtteile und Gemeinden) zum Gegenstand sozialer Intervention und ist – im Gegensatz zu Bürgerinitiativen – eine Tätigkeit von professionellen, dafür bezahlten Fachkräften. Als historische Ausgangspunkte der heutigen Gemeinwesenarbeit gelten die von Samuel Barnett im späten 19. Jahrhundert gegründete Toynbee Hall in London und das von Jane Addams initiierte Hull House – ein Nachbarschaftszentrum in Chicago. Grundgedanke dieser Einrichtungen war, dass die Ursachen von Armut und sozialer Ungerechtigkeit nur gemeinsam mit den Betroffenen bekämpft werden können.

Identität und Selbstverantwortung im Kontext mit dem umgebenden Raum

Architekturtheoretische Überlegungen:

Um Entwicklungsprozesse in einem Ghetto bzw. einem problembehafteten Stadtviertel zu verstehen, genügt es nicht, nur entstehungsgeschichtliche, bevölkerungsstrukturelle oder soziokulturelle Aspekte zu analysieren und auszuwerten, sondern man muss diese mit den umgebenden Räumen (wie öffentlicher – halböffentlicher – privater Raum) und deren Urbanität in Beziehung setzen. Fehlt dieser Kontext, spricht man von Nicht-Orten oder Zwischenorten. Marc Augé beschreibt seine Nicht-Orte als verbleibende Lücken oder Restflächen zwischen den Wucherungen des Zusammenwachsens und Überlagerns

317 Ricarda Kössl

von Vororten mit Wohnvierteln und Industriekomplexen, die sich voneinander nicht mehr unterscheiden lassen. „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“8 Orte, welche sich zwar auf ihre Geschichte oder auf Ereignisse und Mythen stützen können, aber in den städtischen Kontext nicht integriert werden, werden zu „Unorten“.9 Diese Orte bleiben undefiniert, sie werden zwar benützt, aber gleichzeitig in ihrer Funk- tion missbraucht. Mutiert ein öffentlicher Raum zu einem privaten Raum, wird ein Ghet- toisierungsprozess in Gang gesetzt, der nur mehr schwer aufzuhalten ist. Gerade die Vor- fälle der Pariser Banlieues zeigten im Jahr 2005 und zeigen noch heute, wie ausgegrenzte Jugendliche ihren Stadtteil zur privaten Zone erklären.

Interview mit Sozialarbeiter Gerald del Vaixell im Büro der Plataforma de La Mina Bildnachweis: Ricarda Kössl

8 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte – Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 92. 9 Michael Mönninger, Geld ist nichts, Respekt ist alles, in: Wochenzeitschrift Die Zeit, 46, 3 (2005), S. 3.

318 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

La Mina – ein ausgegrenzter Stadtteil am Rande Barcelonas

Rem Koolhaas beschreibt in seinem Text „Generic City – Die eigenschaftslose Stadt“ die zunehmende Homogenisierung und Standardisierung der modernen Stadt, ausge- löst durch die Dominanz des Wirtschaftsraums, welcher den physischen Raum formt. Diese Unterdrückung lässt den öffentlichen Raum in neuen Stadtlandschaften regelrecht verschwinden. Er degradiert zu Ansammlungen von Resträumen. Freiraum unterliegt schon lange nicht mehr den Vorstellungen des zentralen Platzes oder des Treffpunkts. So schreibt Rem Koolhaas: „Die Gelassenheit der eigenschaftslosen Stadt wird durch Evakuierung der öffentlichen Sphäre erreicht, wie bei einer Feuerwehrübung.“10 La Mina stellt einen „Unort“, zusammengesetzt aus vielen Nicht-Orten, dar. Die- sen Räumen fehlt es zwar nicht an Geschichte, aber Ereignisse und Identitäten werden ständig überdeckt und missachtet. Vergleichbar sind Nicht-Orte mit den weißen Flecken unseres Gedächtnisses, welche wir im Laufe unseres Lebens immer wieder heranziehen, um die schwarzen Flecken der Vergangenheit zu überdecken. Will man Inhalte des Ver- gessenen neu aufspüren und entwirren, bedarf es einer ehrlichen und kritischen Ausei- nandersetzung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Es ist ein Sichtbarmachen und Aufdecken von Erlebtem. Durch das Überdecken der eigenen Identität und durch die Sterilität des öffentlichen Raumes kommt es zu einer Verringerung der menschlichen Wahrnehmung. La Mina entspricht zwar der Definition eines Wohnviertels, aber städtischer Raum und Hülle wirken steril und gleichförmig. Eigenschaften des Menschen wie Neugierde und Interesse können hier nicht geweckt werden. Die einzige urbane Eigenschaft, die La Mina aufzuweisen hat, ist Homogenität.11

Bedürfnisgerechte Stadtentwicklung

Um sich als Stadt oder Viertel zu emanzipieren, benötigt man nicht nur Geschichte und Identität, sondern auch Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein der ansässigen Be- völkerung. Man sollte sich die Frage stellen: Was für ein Image hat unsere Stadt bzw.

10 Rem Koolhaas, Projekte und Texte 1993–1996. Die Stadt ohne Eigenschaften, übersetzt von S, M, L, XL, in: Arch+, 132, 1996, S. 18–27, hier S. 22. 11 Kössl, … Wege zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum, S. 73.

319 Ricarda Kössl

unser Viertel? Wie schon Umberto Eco einen Freund, der ihn besuchte, fragte: „Wie denken Sie über unsere Stadt?“12 Allein die Beantwortung dieser Fragestellungen gibt genügend Aufschluss über Stärken und Schwächen einer Stadt oder eines Viertels.

Grundvoraussetzungen sind: • Selbstreflexion und Verantwortungsbewusstsein der BewohnerInnen und • der VertreterInnen des Stadtteils. • Alle Gesellschaftsschichten sollten an der Entwicklung des Stadtteils teilnehmen ­können. • Schaffung von Rahmenbedingungen, um die Bevölkerung zu integrieren bzw. zu Wort kommen zu lassen.

Vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit – eine Philosophie

Verlangt die Gegenwart die Nomadisierung, um den neuen gesellschaftlichen Entwick- lungen standzuhalten?

Unserer heutigen Gesellschaft wird vorgeworfen, eine Gesellschaft ohne Werte zu sein. Das stimmt keineswegs. Werte sind nach wie vor gefordert, nur die Dauerhaftigkeit, also die Beständigkeit, hat sich verschoben. Werte sind nicht mehr im Leben verankert, son- dern im Kopf. Der Wertewandel vollzieht sich nicht nur im Kopf, sondern auch im Alltag. „Der Kopf ist hochmoralisch, aber im Handeln ist er egozentrisch.“13 Nehmen wir die Situation von osteuropäischen Armutsbetroffenen, welche nach Österreich kommen, um für sich und ihre Familien zu betteln. Zunehmend versuchen politische Vertreter der einzelnen Bundesländer, Städte und Gemeinden Bettelverbote zu erlassen oder zu verschärfen. Diese Verbote werden meist mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet. Auch auf Grund mangelnder Information der Öffentlichkeit sind der österreichischen Bevölkerung die Folgen und Konsequenzen eines solchen Gesetzes nicht bewusst. Hier klaffen Moral und Handeln weit auseinander. Denn wird Bettlern das Recht auf ­Betteln

12 „Die Stadt auf der Couch“, Radiosendung Dimensionen, Ö1, 11.4.2006. 13 Hans Peter Duerr, Vom Nomaden zur Monade, Wien 2002, S. 10f.

320 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

verboten, verbietet man ihnen gleichzeitig, für ihre Existenz zu kämpfen. Gerade in sehr sicheren Gesellschaften führen kleine Abweichungen von Alltäg­lichem, wie etwa das Bet- teln, zu extremen Irritationen. Nomadismus (auch: eine Philosophie der Minderheit …) stellt keine statistische ­Größe dar, sondern verkörpert das Prinzip des Werdens.14

Der Nomade lebt außerhalb von geordneten Räumen und auch außerhalb kon- ventioneller Gesellschaftsformen. Er führt ein Leben im Außen zugunsten einer kleinen Gruppe, die sich gegen staatlich kodierte Ordnungen stellt. Staaten und Imperien sind nicht denkbar ohne ein Außen, das nicht integriert werden kann. Nomadismus bedeutet, neue Fährten zu suchen, neue Wege einzuschlagen, um sich neu zu begegnen und neue Bündnisse zu schließen.15

Flüchtlinge leben auch im Außen. Sie werden gezwungen, nomadisch zu leben. Ihr Auf- enthaltsstatus in einem fremden Land lässt sie zu Wartenden oder auch zu Nomaden werden. Sie sind Fremde in einem fremden Land.

(…) sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen – sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde16

Flüchtlingsbewegungen lösen in festen Gesellschaften immer Angst und Schrecken aus. Schlagzeilen wie: „Mit der Osterweiterung werden Millionen Roma zu Bürgern der EU – ein verarmtes Volk ohne Staat kämpft“ schüren die Angst zusätzlich. Schon 1985 schrieb Christoph Bertram einen Essay mit dem Titel: „Kein Raum in der Herberge?“ Er be- schrieb das Flüchten als ein Anklopfen bei den Reichen. Für Gesellschaft und Politik sind Asylwerber Horden, die über uns herfallen und in unser Land drängen.17 Die Ängste, die hier erzeugt werden, sind seit langem Nährboden für rechtslastige Gesinnungen und Parteien. Der Bau von Flüchtlingsheimen, verteilt über die österreichischen Bundeslän-

14 Aurel Schmidt, Nomadismus. Ein Begriff und viele Bedeutungen, in: Haberl/Strasser, Nomadologie der Neunziger, S. 61–72, S. 68f. 15 Anonym 2. Jahrhundert n. Ch., zitiert nach: Macho, Fluchtgedanken, in: Nomadologie der Neunziger, S. 93. 16 Ebd. 17 Christian Schmidt-Häuser, Die Kellerkinder kommen, in: Wochenzeitschrift Die Zeit, 14 (2004), S. 10.

321 Ricarda Kössl

der, löst bei den Anwohnern Argwohn und Protest aus. Österreich hat mittlerweile eines der strengsten Ausländer- und Asylgesetze in der EU erlassen. Aber: Nicht einmal zehn Prozent der weltweiten Fluchtbewegungen betreffen Europa. Die Gründe sind vielfältig: Verfolgung, Krieg, Armut und Katastrophen. Im UN-Klimabericht 2001 sprach man von einer Zunahme der Umweltflüchtlinge, welche aufgrund von ökologischen Katas- trophen ihr Land verlassen müssen. Ursachen wie Treibhauseffekt und Temperaturan- stieg werden zukünftig neue Flüchtlingsbewegungen auslösen. Roma, die meist aus den osteuropäischen Staaten nach Europa flüchten, werden zu den Wirtschaftsflüchtlingen gezählt. In der Zeit, als die Länder noch kommunistisch regiert wurden, konnten Roma sich durch staatliche Unterstützung oder durch verschiedene Tätigkeiten über Wasser halten. Mittlerweile haben sich ihre Einkünfte so verringert, dass sie gezwungen sind, aus ihrem Land zu flüchten oder betteln zu gehen. Durch den EU-Beitritt der Länder Bulgarien und Rumänien kamen ca. vier Millionen Roma in die EU. Insgesamt leben 10 bis 15 Millionen Roma in Europa – die größte und verletzlichste ethnische Minderheit der Europäischen Union. Die Geschichte der Flucht begann erst zu jener Zeit, als Menschen ihr Leben an ein bestimmtes Territorium, an ein abgegrenztes Land, an Böden, Äcker und Weiden fixierten. Erst durch sesshafte Lebensführung entwickelte sich der Teufelskreis von Ver- treibung, Emigration und Asylansuchen, denn jede Flucht setzt Grenzen voraus, verding- lichte, beschreibbare, objektive Zäune.18 Elias Canetti schrieb in „Masse und Macht“: „Nomaden und Jäger, als sie Spuren und Abdrücke am Boden untersuchten, waren die ersten, die eine Schrift begründeten. Sie waren in der Lage, die Zeichen zu lesen, ihre Bedeutung zu verstehen und auf diese Wei- se den Raum zusammenzusetzen.“19 Ab dem Zeitpunkt, als der Versuch unternommen wurde, die Zeichen in ein System zu bringen, ist unser Denken von Linearität geprägt. Ob es in der Mathematik oder auch in der Philosophie ist, wir sind gezwungen zu syste- matisieren.20 Heute jedoch gibt es schon längst den Übergang zur Fläche, zum Bild, vom Buch- staben zur Schrift zum Text, von der Ordnung zur Unordnung, zur Auflösung, von der Sesshaftigkeit zum Nomadentum. Ordnung heißt Stillstand, Implosion und Wieder­

18 Macho, Fluchtgedanken, S. 96f. 19 Schmidt, Nomadismus, S. 63. 20 Ebd.

322 ... am Stadtrand – eine sozio-architektonische Studie

holung. Die Unordnung jedoch ist die Voraussetzung für die Entstehung von kreativen Prozessen, neuen Bewegungen und Lebendigkeit.

Wege der Nomaden sind niemals linear

Die Symbolkraft der Wege und ihre Vernetzung charakterisieren einerseits Lebensum- stände der Nomaden, andererseits eine Aufbruchsstimmung in eine neue Zukunft. Wege und Vernetzungen werden zu Schnittstellen der Kommunikation. Wie auch Karl-Markus Gauß in einem Interview sagte: „Roma sind die Avantgarde Europas, ihre Zeit wird erst noch kommen.“21 Trotz der tristen Realität stehen Roma mehr als alle anderen Völker für das Zusam- menwachsen Europas und das Niederreißen von Grenzen. So wurden die vernetzten Wege das Grundmotiv meines Projektes.

21 „Zigeuner“, Radiosendung Ö1 Diagonal, 6.4.2006.

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Milena Hübschmannová †

Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Costa1

Die Worte „šukar laviben“ sind nicht ganz leicht zu übersetzen. Man kann sie mit „eine Reihe schöner Worte“ oder mit „die Kunst der schönen Rede“ umschreiben. Die Frau, von der ich sie 1992 im Dorf Kecerovce, Bezirk Košice, Ostslowakei, hörte – Frau Gá- borová – bezeichnete damit jede Art von mündlicher Erzähltradition, Überlieferung und Literatur. Sie sagte: „Goďaver lav tut ľidžal andro dživipen, lačho lav anel o jilo pro than, šukar lav žužarel e čhib. Šukar laviben hazdel o voďi upre. Manuš našťi dživel bijo šukar laviben – Ein weises Wort leitet dich in deinem Leben, ein gutes Wort bringt dein Herz auf den rechten Fleck, ein schönes Wort reinigt deine Sprache. Die schöne Rede erfreut deine Seele. Ein Mensch kann ohne die Kunst der schönen Rede – ohne die mündliche Erzähltradition – nicht leben.“ In diesem Artikel möchte ich von meinen Erfahrungen mit šukar laviben erzählen, von meiner Begegnung mit der mündlichen Kultur der Roma. Mein Bericht bezieht sich auf die sogenannten Servika-Roma, die zahlenmäßig größte Untergruppe in der Slowakischen und der Tschechischen Republik. Die Zitate auf Romanes sind in diesem Dialekt.

1 Den Aufsatz verfasste Milena Hübschmannová 1998/99 auf Englisch im Rahmen eines Projektes beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zum Thema „Literatur der Roma und Sinti“ (Projektleitung: Fridrun Rinner, ProjektmitarbeiterInnen: Beate Eder-Jordan, Mozes F. Heinschink). Er wurde 2006 auf Tschechisch: Moje setkání s romano šukar laviben, in: Romano džaniben, ňilaj, S. 27–60 und 2009 auf Französisch publiziert: Mes rencontres avec le romano šukar laviben, in: études tsiganes 36, Vol. 1 (2009), S. 98–135. Die Herausgeberinnen danken Helena Sadílková für Informationen und Hilfestellungen bei der redaktionellen Bearbeitung des Aufsatzes.

325 Milena Hübschmannová

Collage von Nachrufen auf Milena Hübschmannová (1933–2005) in der Zeitschrift Romano džaniben, ňilaj (Sommer) 2006. Diese Ausgabe der Zeitschrift ist Milena Hübschmannová gewidmet. Bildnachweis: Romano džaniben, ňilaj 2006, S. 1

326 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Paramisa denas Romenge zor te dživel Geschichten gaben den Roma Kraft zum Leben

In meinem Vorwort zum ersten Band von Zigeunermärchen aus aller Welt (Mode 1982, 4) habe ich meine wunderbaren Erlebnisse bei einer traditionellen pro paramisa (Erzähl- Zusammenkunft) beschrieben, die 1970 in einer Arbeiterunterkunft der Roma stattfand. Ungefähr 30 Roma, die aus allen Teilen der Slowakei nach Prag gekommen waren, um dort vorübergehend als Bauarbeiter zu arbeiten, versammelten sich in einem Zimmer, um Volksmärchen zu hören. Nur ein junger Bursche sah sich lieber im Nebenzimmer ein Fußballmatch im Fernsehen an. Dieses kulturelle Ereignis dauerte bis in die frühen Mor- genstunden, so dass die Arbeiter nur mehr zwei Stunden Schlaf hatten, bevor sie wieder zur Arbeit gingen. Die drei langen vitezika paramisa (Heldengeschichten), die ich bei dieser Zusammenkunft aufnahm, sind in meinem Buch Romské pohádky (1974)2 enthalten. Im Jahr 1976 fanden gleichzeitig drei pro paramisa (Erzähl-Zusammenkünfte) in drei Hütten einer Romasiedlung im Dorf Rakúsy (Bezirk Poprad, Slowakei) statt, und es fiel mir äußerst schwer, mich zu entscheiden, wo ich nun hingehen und aufnehmen sollte. Ungefähr 700 Menschen lebten in der damaligen Zeit in Rakúsy, und es gab keine Hütte, die groß genug gewesen wäre für alle Leute, die an dem spannenden Ereignis teilnehmen wollten. Die pro-paramisa-Zusammenkünfte liefen nach strengen Regeln ab. Jozef Slivka hat das prägnant ausgedrückt: „Avka sar o gadže phiren andro ďivadlos, o Roma phiren pro paramisa. Ko pes na džanel te ľikerel, čhiven les avri. (So wie die Gadže ins Theater gehen, gehen die Roma zu Paramisa-Zusammenkünften. Wer sich nicht zu benehmen weiß, wird hinaus- geworfen.)“ Die Regeln bezogen sich auf das Publikum, den/die Erzähler sowie auf die Person, die ihr Haus für die Zusammenkunft zur Verfügung stellte. Die „offiziellen“ Erzähler bei „offiziellen“ pro-paramisa-Zusammenkünften waren Männer; sie richteten sich bei ihren Auftritten an die männlichen Zuhörer (die am mei- sten respektierten Männer), obwohl auch Frauen anwesend waren. Ein čačo paramisaris (echter Erzähler) musste imstande sein, eine viteziko paramisi (Hel- dengeschichte) von einer Länge von fünf bis sechs Stunden skladnones, kaj te pasinel (zu- sammenhängend, sodass sie logisch zusammenpasst) zu erzählen. Er musste šukar lava

2 In ihrem Manuskript gibt Hübschmannová 1974 als Erscheinungsdatum an. In bibliographischen Angaben wird das Jahr 1973 genannt. 1999 wurde das Buch bei Fortuna in Prag wiederaufgelegt.

327 Milena Hübschmannová

(die Verwendung schöner Worte/Sprache) und fogaša (Standardformulierungen) beherr- schen. Außerdem musste er natürlich ein guter Schauspieler sein. Er wurde gelobt für die improvisierte Verwendung moderner Versatzstücke, wie z. B. Sozialarbeiter, die mit einem König zu tun haben, eine Hexe, die telefoniert, Fotos einer vermissten Prinzes- sin, die in der Zeitung abgedruckt werden usw. Doch diese Improvisation durfte gewis- se subtile Grenzen des Akzeptablen nicht überschreiten. Ein guter Erzähler, paramisaris Devlestar (ein Erzähler nach Gottes Wille), war in pal savore okresa (in allen Bezirken) be- rühmt. Manchmal mieteten die Roma einen Wagen von einem Dorfbewohner, um einen berühmten Erzähler aus dem trito štarto gav („dritten, vierten Dorf“) zu bringen. Der Erzähler wurde normalerweise für seinen Auftritt mit Tabak entlohnt, manchmal auch mit Geld. Auch wer sein Haus zur Verfügung stellte, wurde entweder mit Geld oder mit Brenn- holz entlohnt. In čore vatri (armen Siedlungen) hackten die Zuhörer für ihn Holz oder erledigten andere Arbeiten für ihn. Den Zuhörern war es nicht erlaubt, den Vortrag des Erzählers zu unterbrechen. Es durfte nicht geredet und nichts gefragt werden. Deshalb waren „offiziell“ keine Kinder bei diesen Zusammenkünften zugelassen. Dennoch waren immer Kinder anwesend, die sich la dake le dadeske paš o pindre (zu Füßen von Vater und Mutter) versteckten. Aller- dings wurde von den Zuhörern erwartet, dass sie mit Lachen, Seufzen oder Ausrufen des Schreckens reagierten, um den Erzähler zu einer noch lebhafteren Erzählweise an- zuregen. Es ist bereits viel über die Volksmärchen der Roma geschrieben worden. Ich möchte hier zitieren, was die Roma selbst darüber sagen:

Jozef Mirga (1998): „Čirla has romaňi paramisi Baro Barvaľipen dino le Romenge le Devlestar. Kas o Del rado dikhelas, oleske thovelas andro muj šukar lava, goďaver lava paramisengere. Ola lava phundravenas o drom andro trin sveti, kaj o čore Roma balagine- nas le kraľenca, somnakune princezňanca, marnas pes le šarkaňenca, džungale bosorkenca. O Del len ľidžalas, vašoda mindik khelenas avri. Na khelenas avri jon, romane vitejza, čore romane čhave, khelelas avri o Lačhipen. Romane paramisa denas le Romenge zor te paťal, hoj o Lačhipen – mi avel mardo, čhindo, tašľardo, labardo – našťi avel našado pal o svetos. Mindik les o Del džiďarla opre, avka sar le čore čhas – le somnakune vitejzis andre romaňi paramisi ...“

328 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Eine Romani-Erzählung war ein großer Reichtum, den die Roma von Gott erhalten haben. Gott legte in den Mund eines Menschen, den er liebte, die schönen Worte, die weisen Worte der Romani-Erzählungen. Diese Worte öff- neten die Türe zu den „drei Welten“, in denen arme Roma mit Königen dis- kutierten, mit goldenen Prinzessinnen, in denen sie mit Drachen und bösen­ Hexen kämpften. Gott führte sie, und deshalb waren sie immer siegreich. Nicht die Romani-Helden siegten, es siegte das „Gute“. Die Erzählungen ga- ben den Roma die Kraft zu glauben, dass das „Gute/Rechte“ nie zerstört wer- den kann, obwohl sie geschlagen, gefoltert, ertränkt und verbrannt wurden. Gott wird es immer wieder zum Leben erwecken, so wie er immer den armen Roma-Jungen – den goldenen Helden der Romani-Erzählungen – zum Leben erweckt. ... (S. 52)

Weitere wichtige Informationen über den hohen Wert der Romani-Erzählungen gibt die Roma-Dichterin Margita Reiznerová (Hübschmannová 1995):

Zu Hause erzählten wir jeden Abend Geschichten bis spät in die Nacht. Alle unsere Verwandten kamen zu uns. Die Leute saßen wo immer möglich, auf Bänken, auf dem Bett, auf dem Boden. Manchmal ging mein Vater nach ­draußen, um zu sehen, ob vielleicht Roma, die wir nicht kannten, vorbeigin- gen. Er lud immer gerne fremde Roma ein, denn wir waren begierig, von ihnen zu erfahren, was sonst in der Welt passierte. Zuerst redeten wir über das Leben, wie die Menschen in den alten Zeiten lebten und wie die Roma heute leben. Danach wurden Geschichten erzählt. Eine Romani-Erzählung enthält alles! Schönes, Geistreiches, Humor, Anre- gungen, wie man leben sollte. Erst heute wird mir bewusst, dass wir durch und über die Romani-Erzählungen unsere Bildung und Erziehung bekamen. Das war eine schöne, gewaltfreie Art der Erziehung. Kein Drill, keine langweiligen Vorträge. Beim Zuhören erschauerte man manchmal vor Entsetzen, und manchmal brüllte man vor Lachen, doch immer nahmen wir Beispiele des Guten und Schönen in unsere Seele auf. Der Held der Erzählungen war immer ein Roma-Junge. Die Erzählungen glichen die Feindseligkeit der ‘weißen’ Umgebung aus, die uns mit ‘O, ihr

329 Milena Hübschmannová

stinkenden Zigeuner!’ lächerlich machte. Unsere Erzählungen schützten uns gegen ihre verächtlichen Blicke, gegen den bösen Blick, der die Zigeuner ver- folgt, wo immer sie hinkommen. Sie waren ein Schutz gegen die Zeitungsbe- richte, die – warum nur? – nie die Nationalität eines „tschechischen“ Mörders erwähnen, aber die, wenn ein Rom etwas stiehlt, nie vergessen zu betonen, dass ‘ein Zigeuner/eine Person mit dunkler Hautfarbe’ dieses oder jenes ge- stohlen hat. Wenn wir aus den ‘weißen’ Straßen, wo uns nur Haß und Mißtrau- en entgegenschlug, zurückkehrten, reinigten unsere Erzählungen unser Herz und unsere Seele und retteten uns vor den selbstzerstörerischen Gefühlen der Minderwertigkeit, der Schuld und der Unsicherheit. Die Romani-Erzählungen gaben uns unsere Menschenwürde zurück ... (S. 46–47).

O Romora na vakeren so čačipen nane ... Unsere lieben Roma sprechen nicht über Dinge, die nicht wahr und richtig sind

Auch wenn die pro-paramisa-Zusammenkünfte relativ häufig veranstaltet wurden, fand noch jeden Tag das normale vakeriben (Sprechen, Erzählen) statt – wie Margita Reiz- nerová erzählt. Die pro-paramisa-Zusammenkünfte gingen über die Grenzen einer fameľija (Großfamilie, Sippe) hinaus; an ihnen nahmen – wie bereits erwähnt – Dutzende, ja so- gar Hunderte Menschen teil, sofern genügend Platz vorhanden war. Im Gegensatz dazu war das alltägliche vakeriben auf die fameľija beschränkt, die vier oder fünf in derselben Gemeinde lebende Generationen umfasste und die mit all deren sonstigen Angehörigen ebenfalls aus Dutzenden Leuten bestehen konnte. Die vakeriben-Zusammenkünfte verliefen in jeder Hinsicht weniger förmlich als die pro paramisa, doch war ihre soziale, kulturelle, ethische und psychologische Rolle enorm wichtig. Es wurden nicht nur halbformelle Genres dargeboten wie vakeriben pal o mule (Er- zählungen über die Geister der Toten), vakeriben pal o dada (über die Geschichte von Fami- lien) usw., sondern auch Alltagsereignisse besprochen. Bei traditionelleren Untergruppen von Roma, wie z. B. den Kalderaš, heißen solche Diskussionen und Erzählungen divano. Das Vorhandensein eines eigenen Ausdrucks ist ein Hinweis darauf, dass divano ein spe- zifisches Genre der mündlichen Kultur mit einer bestimmten Rolle war. Das vakeriben (divano) über ein bestimmtes Ereignis war praktisch die Bewertung dieses Ereignisses

330 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

sowie die Bewertung der daran Beteiligten und ihrer Handlungen. Die Kriterien für diese Beurteilung waren natürlich die Normen des romipen (Romatum, Roma-Kultur, Roma- Ethik). Diejenigen, die gelobt wurden, wurden zu einem Beispiel für paťiv (Anständigkeit, Respekt, gutes Benehmen, Ehre), diejenigen, die kritisiert wurden, waren pre ladž (wörtl. „der Schande ausgesetzt“). Ladž war ein starkes und mächtiges Korrektiv sozialen Ver- haltens – und wer das Gefühl von ladž nie erfahren hat, kann sich nicht vorstellen, wie schwer diese Strafe wiegt. Während bei den pro-paramisa-Zusammenkünften die Rolle des Erzählers und die Rol- le des Publikums klar bestimmt war – der paramisaris (Erzähler) spricht, während die Zu- hörer ausschließlich zuhören – hat bei den vakeriben-Versammlungen jeder die Möglich- keit zu sprechen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und seine Meinung zu sagen, Dinge und Ereignisse zu diskutieren und zu bewerten. Die mündliche Überlieferung wurde bei Versammlungen/Zusammenkünften mit persönlich anwesenden Teilnehmern weitergegeben. Die persönliche Anwesenheit von Erzählern und Zuhörern war eine unabdingbare Voraussetzung für die Weitergabe aller Genres des šukar laviben. Und diese persönliche Anwesenheit wurde durch die traditionel- le Lebensweise in Gemeinschaften ermöglicht (bzw. erleichtert), also durch das Leben in den Romasiedlungen in der Slowakei, die bereits im 17. und 18. Jahrhundert entstanden waren. Wenn wir das bisher Gesagte zusammenfassen, können wir die vielschichtige Bedeu- tung des šukar laviben – der mündlichen Kultur – erkennen. Allein die Tatsache, dass Leute zusammenkamen, um zusammen etwas Gemeinsames zu tun, war wichtig. Sie gewannen dadurch ein Gefühl der Identität, der gegenseitigen Unterstützung und der Sicherheit. Man sprach dieselbe Sprache, konnte die anderen verstehen und wusste, dass die anderen die Worte verstehen würden, mit denen er oder sie seine/ihre Gefühle und Ideen ausdrücken wollte. Diese traditionellen Zusammenkünfte und die dabei angespro- chene Thematik wurden als Unterhaltung gesehen, als Entspannung, als angenehmer Zeitvertreib, aber auch als Unterweisung in romipen, als Regulativ und Korrektiv sozialen Verhaltens, als Untermauerung der ethischen, kulturellen und sozialen Werte. Sie waren eine reinigende ästhetische und spirituelle Erfahrung. Sie waren auch eine Quelle für neue Informationen: „Was sonst in der Welt passiert“. Der Wert der mündlichen Überlieferung und der Zusammenkünfte, in denen die Ge- schichten von „Mund zu Ohr“ weitergegeben wurden, lag in ihrer Einzigartigkeit. Sie waren einzigartig in dem Sinne, dass es nichts gab, was eine so leicht verständliche und

331 Milena Hübschmannová

zugängliche Unterhaltung geboten hätte, wie diese kherutne (familiären, gemeinschaftli- chen) kulturellen Ereignisse. Fernsehen, Film, Literatur oder Zeitschriften hätten nie eine ähnliche Funktion haben können. Noch 1970 waren 69 Prozent der Roma über sechzig Analphabeten (laut Volkszäh- lung). Das Fernsehen kam in den 60er Jahren in die meisten Familien, doch war es nur eine zusätzliche Quelle der Unterhaltung. Es gab keine Literatur auf Romanes. Die Roma, die eine höhere Bildung hatten (und das waren nicht so wenige, wie wir denken!), hatten sie in slowakischen oder tschechischen Bildungseinrichtungen in der Sprache der Gadže erhalten. Romanes wurde von den Nicht-Roma als Kauderwelsch betrachtet, das sich nicht zur Schriftsprache eignete, und war unter der kommunistischen Regierung größtem Assimilationsdruck ausgesetzt. Am 8. April 1958 entschied das Zentralkomitee der KP, dass „wir den Bestrebungen einiger Aktivisten entgegentreten müssen, die ver- suchen, auf der Grundlage von Zigeunerdialekten eine schriftlich fixierte Zigeunerspra- che zu schaffen, und die Schulklassen einrichten wollen, in denen diese Zigeunersprache verwendet würde... Durch solche Bestrebungen würde der Prozess der Umerziehung der Zigeuner verlangsamt, die Kluft zur übrigen Arbeiterschaft noch vergrößert und die alte primitive Lebensweise der Zigeuner erhalten.“ (Jurová 1993: 52) Diese Politik und die unerbittlichen Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung hatten ka- tastrophale Auswirkungen auf die Kultur der Roma. In den ersten zehn oder zwanzig Jahren waren allerdings die „Zigeunersiedlungen“ (oder „die unerwünschten Zigeuner- ansammlungen“, wie das in der damaligen Terminologie lautete) noch nicht davon betrof- fen. Betroffen waren zuerst die gebildeten, des Lesens und Schreibens mächtigen Roma, die in ihrem verzweifelten Versuch, von der angeseheneren „höher stehenden“ Gadžo- Gesellschaft akzeptiert zu werden, dem Assimilationsdruck nachgaben. Diejenigen von ihnen, die den Drang verspürten zu schreiben und Schriftsteller werden wollten, verwen- deten eine „fremde“ Sprache. Ich kenne einige von ihnen und habe auch ihre Werke in der slowakischen oder tschechischen Sprache gelesen. Man könnte sie als „unabsichtlich schön“ bezeichnen, aber sie drücken nicht aus, was die Autoren wirklich sagen wollten. Durch ihre unzulängliche Verwendung der Sprache und des literarischen Stils der Gadže wurde Tragisches amüsant, klangen ethische Forderungen wie klischeehafte Slogans usw. Nur einem Rom, dem Lehrer und späteren Verleger Dezider Banga (24.8.1939, Hradište, Bezirk Lučenec, Süd-Slowakei), dessen Muttersprache eigentlich der Ungriko-Romani-Dia- lekt ist, ist es gelungen, die slowakische Sprache in einem Ausmaß zu meistern, dass sie ein hervorragendes Mittel zur Umsetzung seiner diffizilen Lyrik wurde. Zwischen 1964

332 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Ilona Lacková und Milena Hübschmannová in Ilona Lacková und Milena Hübschmannová, Ilona Lackovás Wohnung, Prešov 1984 Slowakei 1984 Bildnachweis: Iren Stehli Bildnachweis: Iren Stehli

Ilona Lacková (zweite von links), Milena Hübsch- Ilona Lacková mannová (vierte von links), Slowakei 1984 Bildnachweis: Iren Stehli Bildnachweis: Iren Stehli und 1989 veröffentlichte er sieben Gedichtbände. Ein weiteres Beispiel für die Situati- on der fremdsprachigen Roma-Literatur ist ein Theaterstück von Ilona Lacková Horiací cigánský tábor (Die brennende Zigeunersiedlung), das in slowakischer Sprache geschrieben wurde und von den Verfolgungen handelt, die die Roma während des Zweiten Weltkrie- ges erleben mussten. Es gewann deutlich an Qualität, als es von Roma-Laiendarstellern aufgeführt wurde, die wirklich mit großem Einsatz an die Sache herangingen. Der Großteil der Roma war mit den traditionellen kulturellen Zusammenkünften zu- frieden, bei denen die verschiedenen Arten der mündlichen Überlieferung gepflegt wur- den. Da ihnen die mündlich tradierten Erzählungen alles gaben „so o jilo, e goďi the o voďi mangel“ (was das Herz, das Hirn/die Vernunft und die Seele brauchen), war die „Konkur- renz“ des „Gadžo“-Fernsehens und der in der Gadžo-Sprache geschriebenen Literatur nicht stark genug, um die Tradition zu gefährden.

333 Milena Hübschmannová

Sar dživaha te na giľavaha Wie könnten wir leben, würden wir nicht singen Andre giľi šaj phenes savoro Mit einem Lied kannst du alles sagen Te na džanes či te dživel či te merel, giľav Weißt du nicht, sollst du leben oder sterben, so singe

Die einzige „Konkurrenz“ zum Geschichtenerzählen waren bašaviben oder mulatšagos: ge- sellige Zusammenkünfte mit Musik, Gesang und Tanz und häufig auch mit Essen und Trinken. Diese „Konkurrenz“ war natürlich nur komplementär zur sonstigen kulturellen Tradition. Die Liedtexte, die genauso wichtig waren wie die Melodie, stellten das lyrische Genre der mündlichen Erzähltradition dar. Die Funktion der Lieder der Roma war ebenfalls vielschichtig. Während fast alle Erzählgenres die Anwesenheit von mehreren (in Ausnahmefällen zwei) Personen vor- aussetzten, also immer ein „Dialog“ waren, konnte ein Lied als „Selbstgespräch“, als „Monolog“, gesungen werden. Aufgrund ihrer äußerst wichtigen psychotherapeutischen Funktion entstand ein spezifisches Liedgenre, die sogenannten čorikane giľa (Lieder über das „Verwaistsein“, d. h. alleine, niedergeschlagen, arm sein). Menschen, die sich aus dem einen oder anderen Grund traurig und einsam fühlten, heilten dieses Gefühl des Verlas- senseins durch Singen. Es wurden jedoch auch Lieder gesungen, die beim bašaviben als soziales Korrektiv, als öffentliches Schuldbekenntnis oder als öffentliche Rüge fungierten. Öffentliche Rügen und Schuldbekenntnisse waren ebenfalls genau reglementiert. Wenn z. B. eine Frau, die unter dem übermäßigen Trinken ihres Ehemannes zu leiden hatte, die Situation nicht mehr ertragen konnte, setzte sie ihn auf äußerst raffinierte Art und Weise der öffentli- chen ladž (Schande) aus: Sie verpflichtete die beste Sängerin der Gemeinde und bat sie, bei einem öffentlichen bašaviben eine Beschwerde zu singen. Ich war selbst Zeugin einiger solcher Vorfälle. Das Lied, das bei einem bašaviben in Velká Lomnica (Bez. Poprad, Slowa- kei) Ende der 60er Jahre gesungen wurde, ging so: „Gejzo, Gejzo, so tu keres/ raťi ďives mato phires/ so zarodes, savoro prepijes/ aves khere la romňa mares/ (Gejzo, Gejzo/ was machst du / Tag und Nacht bist du betrunken/ du versäufst alles, was du verdienst/ du kommst nach Hause und schlägst deine Frau.)“ Der Säufer verließ die Versammlung gesenkten Kopfes, noch bevor das Lied zu Ende war.

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Als Beispiel für ein öffentliches Schuldbekenntnis soll das folgende Lied dienen: „Dev- la, Devla so me kerďom/mra romňake e ladž kerďom/the la dake the la čhake/hoj lubňake lačhes kerďom (O Gott, was habe ich getan/ich habe Schande über mein Weib gebracht/über meine Mutter und meine Tochter/weil ich einer Hure gut war.)“ Öffentliche Kritik und/oder Schuldbekenntnisse wurden normalerweise im Halgato- Stil vorgebracht (langsame Lieder mit einer traurigen, klagenden Melodie). Halgato war auch die Form, in der die Klage über das „Verwaistsein“ vorgebracht wurde – über den Tod der Mutter, Einsamkeit, über Hunger, Elend, Ungerechtigkeit, Verfolgung durch die Gendarmen, Gefängnis etc. Mit Halgato wurde auch zu Gott gebetet. Kurze, normalerweise humorvolle Texte waren den Čardaš-Melodien unterlegt, die als Tanzmusik dienten. Beide Genres der Volksmusik, die Halgati ebenso wie die Čardaša, bestanden sowohl aus festgelegten „Standard“-Strophen und -zeilen als auch aus improvisierten Teilen. Wenn die Improvisation „wirklich und schön“ war, wurde sie in das Korpus der Stan- dard-Lieder integriert. Ich habe versucht, hier kurz die wichtigsten Informationen über das traditionelle šukar laviben, die mündliche Kultur der Roma, zu geben. Natürlich kann theoretisches Wissen nie das faszinierende Erlebnis einer persönlichen Teilnahme an einer pro-paramisa-Zusam- menkunft oder bei einem bašaviben ersetzen. Aber es kann dazu beitragen, die Geburt der Roma-Literatur und diese neu entstandene Literatur selbst besser zu verstehen.

O gadže andre demade andre amaro romipen Die Gadže sind in unser Romatum eingedrungen Te kereha, so kereha, gadžeske tut na kereha Du kannst versuchen, was du willst, du kannst doch kein Gadžo werden

Nach dem Zweiten Weltkrieg, während der 40 Jahre dauernden Herrschaft der Kom- munisten, wurde die gesamte Lebensweise der Roma einer gewaltsamen, vollkommenen Veränderung unterzogen. Zuallererst wurden Roma-Gemeinden und Roma-Großfami- lien aufgelöst. Das geschah gewaltsam (auf der Grundlage des Erlasses 502/1965 über die „organisierte Zerstreuung der Zigeunerpopulation“), aber auch spontan. Nach 1945 migrierte ein Drittel der Roma aus der Slowakei in die Gebiete in Tschechien, die nach

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der Vertreibung von drei Millionen Deutschen frei geworden waren. Ein Teil der Roma wurde in einer organisierten Umsiedlungsaktion angeworben und dorthin gebracht. Ihre Familien und Freunde folgten den ersten Migranten spontan auf der Suche nach besse- ren Lebensbedingungen. Während die Roma in der Slowakei in Siedlungen am Rand der Dörfer lebten, zogen sie in Böhmen und Mähren in die Industriestädte, wo sie sich mit der Zeit auf verschiedene Stadtviertel verteilten. Durch die neue Wohnsituation ging die Grundlage für die alltäglichen Zusammenkünfte und die gemeinsamen Versammlungen verloren. Es wurde zumindestens sehr viel schwieriger, sich zu treffen. Die neuen Arbeitsbedingungen veränderten den Tagesablauf völlig. Die traditionelle Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen – als Musikanten, Schmiede, Korbflechter, Hausierer oder Taglöhner auf slowakischen Bauernhöfen – gab den Roma die Mög- lichkeit, sich ihre Zeit frei einzuteilen: Sie konnten bis fünf Uhr früh einer Geschichte zuhören, ohne Angst haben zu müssen, dass sie genau um sechs Uhr wieder auf einer Baustelle arbeiten oder in einer Fabrik an einer Maschine stehen mussten. In der Vergangenheit hatten sich die Gadže nicht in die inneren Angelegenheiten der Roma-Familien oder der Gemeinschaft eingemischt: „O gadže pes andre amende thovenas ča akor, kana vareko čorďa – inšak amen denas smirom. O gadžo na thoďa pindro andre romaňi vatra. Khere, pre vatra, šaj kerahas, so kamahas. Samas amare. (Die Gadže behelligten uns nur, wenn jemand etwas gestohlen hatte. Ansonsten ließen sie uns in Ruhe. Ein Gadžo ‚stellte‘ nie ‚seinen Fuß in‘ – betrat nie – eine Romasiedlung. Zu Hause, in unserer Siedlung, konn- ten wir tun, was immer wir wollten. Wir ‚gehörten uns‘ – wir konnten wir selbst sein.“ Marynda Kešelová, geb. 1933, aufgenommen 1982 in Litomĕřice.3) Unter dem Kommu- nismus begannen die Gadže alles im Leben der Roma zu manipulieren. Alle Kinder mus- sten zur Schule gehen, die jungen Männer wurden zur Armee eingezogen, und Männer und Frauen wurden gezwungen, zur Arbeit zu gehen – zur gadžikaňi buťi (als Hilfsarbeiter zur „Gadžo-Arbeit“). Wer versuchte, diesen Gesetzen zu „entkommen“, wurde gewalt- sam in „Umerziehungsanstalten“ gebracht, wie z. B. „Kinderheime“ und Gefängnisse. (Die „Umerziehung“ in den Gefängnissen wurde so häufig angeordnet, dass ein neues Liedgenre entstand, die sogenannten hareštantska giľa – die Gefängnislieder.) Selbst wenn die Roma auch in den alten Zeiten verspottet wurden, weil sie ein „ko- misches“ Slowakisch sprachen und ihren „Kauderwelsch“ verwendeten, wurden sie – zumindestens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht gezwungen, ihre eigene

3 Marynda Kešelová starb 1991 (Anm. der Hg.).

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Sprache aufzugeben. Ganz im Gegenteil – in vielen Orten mit einem großen Roma-An- teil lernten die Gadže spontan Romanes. Unter dem kommunistischen Regime hingegen waren die Roma größtem Assimilationsdruck ausgesetzt: Die Kinder wurden bestraft, wenn sie in der Schule „Zigeunerisch“ sprachen, und Sozialarbeiter machten Roma-El- tern Vorwürfe, wenn sie ihren Kindern den „unzivilisierten Dialekt“ beibrachten. Auch wenn Romanes nur auf der Straße gesprochen wurde, reagierten die Gadže darauf mit negativen Kommentaren. In der Vergangenheit waren die Roma von der übrigen Gesellschaft durch eine Mauer der sozialen Distanz getrennt, die nur in ganz bestimmten Bereichen zum Austausch von Gütern und Dienstleistungen durchlässig war. Diese Barriere wurde durch das hierarchi- sche Denken noch verstärkt, was dazu führte, dass das Beispiel eines Gadžo für die Roma irrelevant war. Es hieß: Soske džaha andre škola, raj tutar th’avka na ela (Warum gehst du zur Schule, ein gebildeter Herr wird aus dir ohnehin nicht werden). Rom Romeha – gadžo gadžeha (ein Rom gehört zu einem Rom, ein Gadžo zu einem Gadžo). Die Roma hatten nicht das Bedürfnis und auch keine Chance, die Gadže zu „imitieren“, sie hatten keine Ambitio- nen, sich mühsam die Werte der Gadže anzueignen, und hatten auch keine Möglichkeit, deren Lebensweise zu übernehmen. Unter dem Kommunismus mit seinen lauten Slogans von der Gleichheit der „Bürger mit zigeunerischer Abstammung“ und seinen brutalen, gewaltsamen Methoden, die schließlich dazu führten, dass die Roma unter Gadže in die Schule, zum Militärdienst, in Gadžo-Viertel, in die Fabriken und auf die Baustellen ka- men, entstand jedoch eine neue, heftige und hoffnungslose Sehnsucht, so zu werden wie die Gadže, Wohnungen wie die Gadže zu haben, fernzusehen wie die Gadže, so gekleidet zu sein wie die Gadže. Dabei nahmen sich die Roma allerdings die Gadže zum Vorbild, die bereit waren, mit ihnen zu kommunizieren, sowie diejenigen, mit denen sie am häu- figsten Kontakt hatten, und das waren Leute aus der untersten Gesellschaftsschicht oder gar „sozial nicht angepasste Individuen“, die bei der gesellschaftlich am weitesten an den Rand gedrängten Gruppe – den Zigeunern – nach Identifikationsmöglichkeiten suchten. So geschah das Schlimmste, was einem Menschen oder einer ethnischen Gruppierung passieren kann: Viele Roma begannen ihr eigenes romipen, ihre Sprache und die Lebens- weise ihrer Vorfahren zu hassen, weil sie glaubten, dass diese sie daran hinderten, inner- halb der Gadžo-Gesellschaft Prestige zu erlangen. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass es zu einem Niedergang der mündlichen Erzähltradition, insbesondere der pro-paramisa-Zusammenkünfte kam. Als ich vor zwei oder drei Jahren meinen Studierenden aus dem Fach Romani-Studien an der Karls-Uni-

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versität das wunderbare Kulturereignis pro paramisa vorstellen wollte, bekamen wir eine stereotype Antwort: O phure merkerde, o terne pes pal o paramisa na zaujiminen (die alten Leute sind gestorben, und die Jungen interessieren sich nicht mehr für die Geschichten). Wir konnten zwar noch zwei oder drei Erzähler finden, die in der Lage waren, einige Stunden ohne Unterbrechung zu reden, doch ihre Zuhörerschaft bestand aus vier oder fünf Mit- gliedern ihrer Familie und den Studierenden der Romistik. Was halten die Roma selbst von diesen Veränderungen? Ich zitiere in der Folge einige Antworten aus einer Umfrage, die die Herausgeber der Monatszeitschrift Amaro lav (Un- ser Wort) 1993 gemacht hatten.

O gadže andre demade andre amaro ROMIPEN. Ada has lengero „baro lav“: kames te avel civilizimen, „občane cikánského původu?“ Ta mušines te avel sar amen, sar gadže! Bister pre tiri daj, bister pre tire zaostala phure dada! Bister tiri „hantýrka“! Te aveha sar gadžo, ta imar tuke odmukaha the kadi tiri kaľi morčhi. (Ladislav G., 56 Jahre, Absolvent einer höheren Schule) Die Gadže sind in unser Romipen eingedrungen. Ihr Slogan – „großes Wort“ – war: wollt ihr zivilisiert werden, „Bürger zigeunerischer Abstammung“? Wenn ja, dann müsst ihr gleich werden wie wir, wir die Gadže! Vergesst eure Mütter, vergesst eure rückständigen Vorfahren! Vergesst euer Kauderwelsch. Wenn ihr werdet wie die Gadže, vergeben wir euch sogar eure schwarze Haut.

O gadže čhivkerkerde Romen pal savore seri. Te dikhenas buter Romen jekhetane, imar phenenas „nežádoucí cikánské soustředĕní!“ Daranas amendar? Hoj avaha buter sar jon. Ile amendar oda, so amen ezera berša ľikerelas jekhetane – oda, hoj džanahas jekhetane te ľikerel! (Katarina Ž. Arbeiterin, ca. 50) Die Gadže verteilten uns Roma auf alle Teile des Landes. Wenn sie mehre- re Roma zusammen sahen, dann sagten sie: „Eine unerwünschte Zigeuner­ ansammlung“! Hatten sie Angst vor uns? Dass wir mehr werden könnten als sie? Sie nahmen uns, was uns tausend Jahre lang zusammengehalten hat – nämlich, dass wir verstanden zusammenzuhalten.

O komunisti amen dine pherde goja, aľe čučarde amaro romano voďi. (Anonymer ­Sprecher, 46 Jahre) Die Kommunisten machten unsere Bäuche voll, aber unsere Roma-Seele leer.

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Zwei der Befragten antworteten mit einem Lied:

Amen Roma sam, Wir sind Roma, bisteras so sam, aber wir vergessen, wer wir sind, gadžikenes, barikenas wir sprechen stolz amen duma das. die Gadžo-Sprache. Vaker romanes, Sprich die Romani-Sprache, na gadžikenes, nicht die Gadžo-Sprache, ma ladža tut schäm dich nicht vaš amari duma romaňi. für deine Romani-Sprache.

Katka und Štefan Miko, Rokycany, West-Tschechien (das Lied wurde von Štefans Fol­kloreband „Čercheň/der Stern“ gesungen)

Te kereha, so kereha, Du kannst dich anstrengen, so sehr du kannst, gadžeske tut na kereha, dennoch kannst du kein Gadžo werden, bo sal kalo Rom sar koda drom. denn du bist ein schwarzer Rom, schwarz wie eine asphaltierte Straße. Šaj aves urdo sar filmovo star, Du kannst angezogen sein wie ein Filmstar, th’avka ma užar paťiv gadžestar, dennoch solltest du dir keinen Respekt von einem Gadžo erwarten, bo sal kalo Rom sar koda drom. denn du bist ein schwarzer Rom, schwarz wie eine asphaltierte Straße.

Emil Girga, Slaný, Mittel-Tschechien

Diese Antworten zeigen zwei Dinge: Zum einen haben nicht alle Roma der Indoktrinati- on nachgegeben und die ihnen eingeimpften falschen Bestrebungen, Gadže zu „werden“, übernommen. Zwar hat vielleicht jeder mit einem Teil seiner Persönlichkeit versucht, den Weg zu gehen, der Prestige, eine Position, Reichtum und Anerkennung versprach – doch der andere Teil (der größere? echtere?) wollte eine Identität als Rom in der vollkommen veränderten gesellschaftlichen Situation finden. Zum anderen zeigen die beiden letzten Antworten auch, auf welche Weise nach Identität gesucht wird: mit Hilfe von Liedern, Gedichten, durch eine neue Art des šukar laviben.

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Jekh merel, aver uľol – oda hin dživipen Eines stirbt, das andere wird geboren – so ist das Leben Kamav the vakerel Ich möchte sprechen

Alle Faktoren, die den Niedergang der traditionellen mündlichen Überlieferung direkt verursacht haben, gaben indirekt den Anstoß zur Entstehung einer neuen Art des šukar laviben – zur Geburt der Roma-Literatur. Das geschriebene Wort wurde zum Ersatz für das mündliche Erzählen, da die Voraus- setzungen dafür verloren gegangen waren – die Möglichkeiten, zusammenzukommen, die Anwesenheit der Gesprächspartner, die zuhörten und die Gedanken und Gefühle, die zum Ausdruck gebracht werden sollten, verstanden. Margita Reiznerová hat diesen Verlust symbolisch in ihrem Gedicht Andro lazňi som (Ich bin auf Kur) beschrieben. In der Zeit, in der das Gedicht geschrieben wurde (1986), stellte sie auch fest, dass ein ge- schriebenes šukar laviben langsam das gesprochene zu ersetzen begann. Dieses Gedicht ist Margitas drittes Gedicht überhaupt.

Andro lazňi som, ich wandere allein dahin, korkori phirav, schön ist es hier, šukares adaj, aber ich sehe es nicht. aľe me ňič na dikhav. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Na džanav, so mande, Warum bin ich dem Weinen nahe? te rovel pes mange kamel, Weil ich allein bin? či vašoda, že som korkori? Weil ich unter lauter Gadže bin? Že som maškar o gadže? Nur weiße Gesichter! Ča gadžikane parne muja! Jetzt weiß ich: Akana džanav: Ich kann nicht leben, nahodno som te dživel, wo keine Roma sind! kaj nane Roma! Jetzt weiß ich, Akana džanav, dass ich mit ganzem Herzen Romni bin! že som Romňi calone jileha! Die Roma liebe ich, Le Romen rado dikhav, wie auch immer sie sein mögen ... kaj save hine ... Ich bin auf Kur,

340 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Das zweite Gedicht, das Margita in ihrem Leben geschrieben hat, spricht noch deutlicher von ihrem Bedürfnis – und dem Bedürfnis der Roma – zu sprechen und vakeriben als Mittel zur Identitätsfindung zu verwenden.

Kamav te vakerel, Ich will sprechen, nane kaha, es ist niemand da, mit dem ich sprechen könnte, kamav te dikhel, ich will sehen, nane pre soste. es ist niemand hier, den ich ansehen könnte. Avela dareko, Wird jemand kommen, ko o droma phuterela? den Weg zu öffnen? Jena manuša, Wird es Menschen geben, so pes rado dikhena? die sich lieben? Jela phuv, Wird es ein Land geben, so pes dela pre late te dživel? wo man leben kann?

Margita Reiznerovás allererstes Gedicht Vičinav (Ich rufe) wurde aus der Erkenntnis her- aus geschrieben, dass Romani als Literatursprache verwendet werden kann, und gibt auf beeindruckende Weise Zeugnis von der Suche und der Sehnsucht nach romipen – nach der verlorengegangenen Identität.

Vičinav Romale, Ich rufe euch Roma, ňiko man na šunel, aber niemand hört zu, savore soven. alle schlafen. Vičinav, Ich rufe, Devla, ušťav len! Gott, weck sie auf! Phen lenge, Sage ihnen, hoj avľa lengero ďives, dass ihr Tag schon gekommen ist, kaj te roden jekhes avres, sie sollen einander suchen, Rom Romes, ein Rom den anderen Rom, kaj o vasta te sthoven sie sollen sich jekhetane, die Hände geben, e goďi te ušťaven. sie sollen ihre Vernunft wecken.

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Te avaha jekhetane, Wenn wir wieder zusammenkommen, keraha ajso drom, werden wir uns auf den Weg machen, pal calo svetos, in die ganze Welt, hoj amare čhave und unsere Kinder werden pal leste džana auf diesem Weg bachtale jileha. glücklichen Herzens voranschreiten.

„E Tera vakerel“ „Reserviert für Tera“

Die Roma-Literatur entwickelte sich rasant, sobald sich auch nur die geringste Mög- lichkeit dazu ergab. Im Jahr 1969, nach dem sogenannten „Prager Frühling“, wurde die Assimilationspolitik nicht mehr so streng umgesetzt. Den Roma wurde erlaubt, ihre ei- gene kulturelle Vereinigung zu gründen, die Svaz Cikánů-Romů (Vereinigung der Roma- Zigeuner, gegründet im August 1969), und ein Mitteilungsblatt – Romano ľil – heraus- zugeben. Pavel Steiner, ein erfahrener jüdischer Journalist, war der erste Chefredakteur. Bald darauf begann der sehr talentierte Schmied Andrej Pešta, ein Rom, eine in Romani geschriebene Kolumne zu betreuen. In jeder neuen Nummer nahm Romani mehr und mehr Platz ein. Eine Linguistik-Kommission arbeitete die Orthographie für den Serviko- Romani-Dialekt aus (auch „slowakisches“ Romani genannt). Romano ľil bereitete den Bo- den, aus dem dann die Roma-Literatur zu sprießen begann. Eine der ersten Autorinnen überhaupt, deren Feuilletons und Gedichte veröffentlicht wurden, war Tera Fabiánová. Seither hat sie viele andere Roma inspiriert, die im Schrei- ben einen Weg zur Identitätsfindung sehen. Tera und ihre Werke sind ein Beispiel, das stellvertretend für alles stehen kann, was über die soziale Wirkung der neu entstehenden Roma-Literatur gesagt worden ist. Tera wurde am 15. Oktober 1930 in Žiharec, im Bezirk Šala, Südslowakei geboren.4 In dieser Gegend lebt die ungarische Minderheit. Teras Eltern, die beide Analphabeten waren, arbeiteten als Taglöhner. Die Familie lebte in der Romasiedlung Vlčany (Bezirk Šala). Teras erste Sprache war das Ungriko-Romani, ihre zweite Sprache Ungarisch und ihre dritte Slowakisch. Während des Zweiten Weltkriegs war dieser Teil der Slowakei von den

4 Tera Fabiánonvá starb am 22. März 2007 in Prag (Anm. der Hg.).

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Tera Fabiánová, Prag 2005 Bildnachweis: Beate Eder-Jordan

Ungarn besetzt. Tera besuchte zwei Klassen der Volksschule, bevor die Schulen aufgrund der Kämpfe in diesem Territorium geschlossen wurden. Ab einem Alter von sechs Jahren trug Tera – wie auch andere Roma-Kinder – zum Lebensunterhalt der Familie bei, indem sie bei ungarischen Bauernfamilien und – bevor diese in Konzentrationslager kamen – auch bei jüdischen Familien allerlei Dienste verrichtete. Sie hatte das Glück, einen „Her- ren“ zu bekommen, der ihr Bücher zu lesen gab. Im Jahr 1946 zog Teras Familie auf der Suche nach Arbeit nach Prag. In Prag heiratete Tera mit sechzehn den Serviko-Rom Vojta Fabián. Ihr Vater und ihre Mutter kehrten in die Slowakei zurück und sie blieb „alleine“ in der fremden tschechischen Umgebung und in der fremden Gemeinschaft der Serviko-Roma zurück. Obwohl Serviko-Romani und Ungriko- Romani von einigen Linguisten als „eine“ Sprache eingestuft wird, halten die Sprecher beider Gruppen den anderen Dialekt für „fremd“. Sie können sich natürlich miteinan- der verständigen, doch ist die jeweils andere Sprache nicht ihre kherutňi čhib (zu Hause gesprochene Sprache). Tera musste also zwei neue Sprachen lernen: Serviko-Romani und Tschechisch. Noch schwieriger war es für sie, sich an zwei neue „Kulturen“ anzupassen, an die Kultur einer tschechischen Stadt (im Gegensatz zu einem ungarischen Dorf) und die andere Lebensweise der Serviko-Roma (die unter den Ungriko-Roma als „kulturlose Fle- gel“ galten). Umgekehrt wurde sie von der Serviko-Gemeinschaft als „diliňi Ungriňa“ – als dumme oder närrische Ungarin – bezeichnet. Als ich Tera 1954 kennenlernte, benahm

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sie sich wirklich manchmal in einer Art und Weise, die man als seltsam bezeichnen könn- te. Sie lachte und weinte ohne erkennbaren Grund. Doch mit der Zeit begann ich sie zu verstehen. „Ich bin einsam! Ich bin eine Fremde hier!“ Doch sie sagte das nicht direkt – sondern rief mit schriller Stimme: „Me som sar diliňi balvaj tel o veš! Khatar avľom? Kaj džava? (Ich bin wie ein närrischer Wind im Wald. Woher bin ich gekommen? Wohin gehe ich?)“ Ein anderes Mal brach es aus ihr heraus: „Sar pajtrin salinav, na džanav, pal savo kašt man čhingerďa diliňi balvaj! (Ich schwebe in der Luft wie ein verlorenes Blatt. Ich weiß nicht, von welchem Baum mich der närrische Wind abgerissen hat!)“ Als sie später begann, ihre Ge- dichte niederzuschreiben, tritt die Metapher vom närrischen Wind, der ziellos dahinweht, oder vom abgerissenen Blatt immer wieder in unterschiedlichen Kontexten auf – und wird oft auf alle Roma bezogen. Jedesmal wenn wir uns trafen, erinnerte sie sich an ihre Kindheit und frühe Jugend zurück, die sie in ihrem pero (der Ungrike-Roma-Siedlung) verbracht hatte, khere (zu Hause) im Dorf Vlčany. In der damaligen Zeit glaubte ich, dass ihre Erinnerungen, ihre „Meta- phernausbrüche“ nur Ausdruck der Einsamkeit und der fehlenden Kommunikation mit „ihren Leuten“ war. Ich war fasziniert von diesen Metaphern, doch erst später, als wir einmal im Auto fuhren, um Teras ältesten Sohn im Gefängnis zu besuchen, und Tera ein ganzes Gedicht „herausschrie“, wurde mir klar, wie groß ihr Talent war und aus welchem Nährboden heraus es entstand. Bevor ich die Geschichte ihres – vermutlich ersten – Gedichts erzähle, möchte ich das Gedicht selbst zitieren, da ich der Ansicht bin, dass es einen besonderen Platz in der Geschichte der Roma-Literatur einnimmt.

Av manca

Av manca čhajori, odoj kaj miri daj bešel, k‘amende o Roma sako rat paramisa phenen. Av manca, ma dara, me tut na mukava, bibacht aňi ladž tuke na kerava. Sar o Roma dikhena, hoj me tut anav, takoj o lavuti lačharena. Amen na sam čore, te nane kaj te sovel, pre dvora hin phuri pendech – o prajta želene, odoj tuke than kerav, sar avla rupuňi rat, tel tute lačharava miro jekhfeder gad.

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A te tut ela šil, vičinav o ňebos, kaj tut te zaučharel. Ko rašaj na džaha – jekhetane amen dela amaro gulo Del. Te manca aveha, te manca dživeha, kamaha pes amen sar odi kaľi phuv le kale mareha.

Komm mit mir, čhajori (= Roma-Mädchen), dorthin wo meine Mutter lebt, bei uns zu Hause erzählen die Roma jeden Tag Geschichten. Komm mit mir, hab keine Angst, ich werde dich nie verlassen, ich werde dich nicht unglücklich machen, keine Schande über dich bringen. Wenn die Roma sehen, dass ich dich mit mir bringe, werden sie sofort ihre Geigen stimmen. Wir sind nicht arm, wenn wir keinen Platz zum Schlafen haben, es steht ein alter Nussbaum in unserem Hof, mit grünen Blättern, dort werde ich dein Bett bereiten, sobald die silberne Nacht hereinbricht, ich werde mein bestes Hemd unter dich legen. Und wenn du frierst, werde ich den Himmel herabrufen, dich zuzudecken. Wir werden nicht zum Pfarrer gehen, unser süßer Gott wird uns verheiraten. Wenn du mit mir gehst, wenn du mit mir lebst, werden wir einander lieben wie die schwarze Erde das schwarze Brot.

Das ist die letzte Fassung des Gedichts, doch die erste improvisierte Version unterschied sich nicht sehr davon. Als Tera fertig gesprochen hatte, blieb ich stehen und versuchte, sie zu überreden, es sofort niederzuschreiben. Sie hatte kein Papier, keine Feder mit und sah keinen Grund, warum sie das tun sollte. Ich ließ mir das Gedicht diktieren. Sie sagte, das sei kein Gedicht, das sei ein Traum von ihr. Später bezeichnete sie ihre „Gedichte“ oft als čačipen (Wahrheit, Wirklichkeit, echte Erfahrung), kamáhi nek avka te ovel (Ich hätte gern, dass es so wäre), mro pharipe (mein Kummer). Ich sagte ihr, dass sie ihr „Gedicht“ oder wie auch immer sie es bezeichnen wollte, veröffentlichen musste, doch sie war der Ansicht, dass es niemand veröffentlichen würde, oder – sollte es doch veröffentlicht wer- den – es niemand auf Romani lesen würde. Schließlich diktierte sie mir Av manca čhajori, natürlich nicht genau so wie bei der improvisierten Fassung, doch ich fügte hinzu, woran

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ich mich erinnerte, und wir nahmen dann zusammen die letzten Korrekturen vor – und Tera war sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Der erste Zuhörer war ihr Sohn im Gefängnis. Ich las es ihm vor, da er meine Hand- schrift nicht lesen konnte. Als ich fertig war, hatte er Tränen in den Augen. Und dieser junge Mann war auch der erste, der durch Teras Gedicht inspiriert wurde. Nach ungefähr einem Monat sandte er mir mehrere Gedichte, die er auf Romani geschrieben hatte. Ich möchte hier wenigstens eines zitieren.

O graja džan te pijel paňi Die Pferde gehen zur Tränke taj o čhon pre čar dikhel, und der Mond blickt auf das Gras, chuťkerel peske o khuroro, ein kleines Fohlen springt hin und her, verdan mek na cirdel. es ist noch nicht gezwungen, den Wagen zu ziehen. Terno hino – so jov džanel, Es ist noch jung – was weiß es, so grajen užarel? vom Schicksal der Pferde? Džanel ča peskra dajora, Es kennt nur seine Mutter, aver na prindžarel. und sonst nichts.

Ich muss noch auf Teras Sprache eingehen. Sie hat den Dialekt ihres Mannes über- nommen und vermischt ihn mit Worten aus ihrem eigenen Dialekt. Die verschiedenen Herausgeber ihrer späteren Feuilletons, die (zwischen 1969–1973) in Romano ľil veröf- fentlicht wurden, korrigierten ihre Sprache gemäß ihrem eigenen Dialekt: Der Historiker Dr. Bartolomĕj Daniel (geb. 1924 in Šaštín, Westslowakei)5 adaptierte Teras Sprache an das westslowakische Romani, Ondřej Pešta aus der Ostslowakei an das ostslowakische Romani, ich selbst auch an das ostslowakische. Allerdings wurde nicht sehr viel geän- dert und korrigiert, es handelte sich vielmehr um die üblichen redaktionellen Eingriffe und um eine Korrektur der Rechtschreibung. Tera hatte eine ungarische Schule besucht und die ungarische Rechtschreibung gelernt, die sie auch verwendete, wenn sie Romani schrieb. Die tschechische Orthographie hatte sie sich durch das Lesen tschechischer Bü- cher selbst beigebracht, und manchmal vermischte sie auch beide Rechtschreibsysteme, wenn sie auf Romani schrieb. Doch das tat der herausragenden Qualität ihres literari- schen Schaffens keinen Abbruch.

5 Bartolomĕj Daniel starb am 10. Oktober 2001 in Brünn (Anm. der Hg.).

346 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Wie bereits erwähnt ist Tera Fabiánovás Drang zu schreiben ein typisches Beispiel für „literarischen Ausdruck als Ausgleich für die verlorengegangenen Kommunikations- möglichkeiten mit dem eigenen Volk“. Die Literatur ist ein Versuch, mit den verlorenen Gesprächspartnern zu kommunizieren, in einen Dialog zu treten, der in Wirklichkeit ein Monolog ist. Doch dieser Monolog wird letztendlich zu einem Dialog mit den Lesern. Tera hatte bereits in den 1970er-Jahren Leser, als ihre Feuilletons in Romano ľil in ei- ner Kolumne, die „Reserviert für Tera“ hieß, abgedruckt wurden. Das Mitteilungsblatt der „Vereinigung der Roma-Zigeuner“ wurde nicht öffentlich am Kiosk verkauft. Es wurde in Ortschaften verteilt, wo die Vereinigung Zentren unterhielt. Ich erinnere mich, dass ich einmal in Náchod (Nordtschechien) ein vierzehnjähriges Mädchen namens Olga Balážová aufnahm, das sagte, dass Tera ein Vorbild für sein Leben sei und dass es einmal wie Tera sein möchte, wenn es erwachsen würde. Olga hatte Tera nie persönlich getrof- fen, Teras Werke hatten das junge Mädchen inspiriert. Olgas Vorsatz wurde Wirklichkeit. In der Mitte der 80er Jahre, als die sowjetische Perestroika auch in den Satellitenstaaten der UdSSR Veränderungen mit sich brachte und die Roma erneut mehr Möglichkeiten bekamen, ihre eigene Kultur zu präsentieren, begann Olga zusammen mit ihrem Vater Elemír Baláž unter ihrem verheirateten Namen Vnadová zu schreiben. Sie half ihrem Vater, der nie eine Schule besucht und erst mit 22 Jahren lesen und schreiben gelernt hat- te, seine Lebensgeschichte (veröffentlicht in Kale ruži 1990) und Romani-Geschichten (in Romano džaniben 1–2/1996) niederzuschreiben. Sie leitet ein Folkloreensemble, das neben traditionellen Liedern auch Lieder mit Texten von Olga und ihren Brüdern zur Auffüh- rung bringt. Olga vergisst nie zu betonen, dass ihre erste Inspiration Tera Fabiánová war. Wenn ich sage, dass Teras schriftstellerische Tätigkeit ein Ausgleich für die verloren- gegangenen Kommunikationsmöglichkeiten mit ihrem Volk und für das traditionelle, kollektive Leben der Roma-Gemeinschaft ist, so sage ich das nicht, weil wir seit 1954 befreundet sind und ich ihr Schicksal kenne. Die Themen und der Ton der meisten ihrer Werke sind ein Beweis dafür. Teras autobiographische Erzählung Sar me phiravas andre škola (Als ich in die Schule ging, 1992) ist eine Erinnerung an ihre Familie, an die Roma- Gemeinde in Vlčany und ist eine lebendige, humorvolle Beschreibung verschiedener Menschen, von Roma ebenso wie von Gadže. Die entsetzliche Armut und die tragi- schen Kriegstage werden in Teras Erzählung als ein abenteuerlicher Überlebenskampf dargestellt. Trotz allen Elends, das Tera mit einzigartigem Humor beschreibt, kann man spüren, wie glücklich sie khere (zu Hause) war.

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Die Suche nach der verlorenen Identität ist das Thema einer Kurzgeschichte von Tera, Ačhiľom Romňi (Ich wurde Romni, erschienen in Romano džaniben 1–2/2000, S. 107–111). Die Heldin der Geschichte ist eine Kombination aus ihr selbst und ihrer Schwester, die einen wohlhabenden Tschechen geheiratet hatte. Das erste, was ihre Schwester tat, war, sich die schwarzen Haare blond zu färben. Und in der Familie ihres Mannes versuchte sie, ihre Sprache „blond“ zu färben, ihr Benehmen, ja alles. Doch: O bala šaj farbines, o jilo na (Du kannst dein Haar färben, aber nicht dein Herz). Die Heldin leidet, obwohl sie von jedem möglichen materiellen Komfort umgeben ist. Schließlich kann sie ihre falsche Identität nicht mehr ertragen und läuft weg, zurück in die Romasiedlung ihrer Eltern. Teras Sehnsucht nach der „verlorengegangenen“ traditionellen Kommunikation ist keineswegs sentimental. Ihr Zugang kann symbolisch durch einen Spruch ausgedrückt werden, wie er häufig in denRomani paramisa, den Romani-Erzählungen, vorkommt: jekha jakhaha rovel, jekha jakhaha asal (sie/normalerweise die Prinzessin/weint mit einem Auge und lacht mit dem anderen). Nichts ist nur traurig oder nur fröhlich. Diese Lebensein- stellung kommt auch in einer besonderen Art der traditionellen Musik zum Ausdruck: die tragische Melodie eines halgato mit čorikane lava (mit Worten, die das Elend, die Armut und die Einsamkeit beschreiben) geht abrupt in einen čardaš über. Tera bringt uns gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen. Daneben steht sie aber auch noch einigen Aspekten des traditionellen Roma-Lebens kritisch gegenüber, besonders der Position der Ehefrau, die ihrem Mann völlig unterge- ordnet ist. Sie selbst hat ihr ganzes Leben unter dem diktatorischen Verhalten ihres sehr traditionellen Ehemannes gelitten. In ihrem Feuilleton, das in Romano ľil (Nr. 2, 1972, S. 28) unter dem Titel Zor nane savoro (Stärke/Kraft ist nicht alles) erschienen ist, schreibt sie: „Te le muršes hin zor ča pre koda, kaj te marel peskera romňa, ta nane murš. Te o rom na ľikerel peskera romňa manušňake, nane manuš“. (Wenn ein Mann nur dazu stark ist, um seine Frau zu schlagen, dann ist seine Stärke für nichts gut. Wenn ein Mann seine Frau nicht als menschliches Wesen betrachtet, dann ist er selbst kein Mensch.) Die schreckliche Lage einer jung verheirateten Frau wird in ihrer schönen Kurzgeschichte Eržika (in Lačho lav Nr. 10, 1990, S. 10–11, 14–15) beschrieben. Eržika ist eigentlich Tera selbst. Sie leidet unter der strengen (traditionellen) Behandlung durch ihre Schwiegermutter und unter der Vernachlässigung durch ihren Ehemann, der sich schämt, ihr zärtlich und liebevoll zu begegnen, weil das „unmännlich“ wäre. Schließlich verlässt Eržika ihren Mann zur Empörung der gesamten Gemeinschaft. Sogar die weisen und einfühlsamen Roma, die sie bemitleidet hatten, verdammen sie wegen ihrer Entscheidung. Eržika wagte nach un-

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gefähr fünf Jahren Ehe, das zu tun, was Tera erst zu tun wagte, als alle ihre vier Kin- der erwachsen waren. (Ich muss ihrem verstorbenen Mann, durch den ich Tera und die Romani-Kultur kennengelernt habe, jedoch zugute halten, dass er Tera sehr wohl liebte, aber auf eine „traditionelle Weise“, die sie nicht ertragen konnte.) Das letzte immer wiederkehrende Thema in Teras Werken ist die Diskriminierung der Roma in der heutigen Gadžo-Gesellschaft, die zwar lautstark ihre „Gleichheit“ er- klärt und sie zur „Integration“ auffordert, jedoch in Wirklichkeit nicht bereit ist, sie zu akzeptieren. Mit ihrer erstaunlichen Vorstellungsgabe behandelte Tera dieses Thema auf allegorische Art und Weise in der Geschichte „So džalas o Miškas sune“ (Romano džaniben, 3/2000, S. 79–87). Miška, ein Fabriksarbeiter, erleidet einen Unfall und sieht sich, als er im Koma liegt, selbst, wie er in den Himmel kommt. Er freut sich darauf, dass es we- nigstens im Himmel für die Roma Gleichheit geben wird. Doch zu seiner Überraschung sieht er, dass es eine eigene Wiese gibt, auf der nur Roma sitzen, singen, spielen und tan- zen, und eine andere Wiese für die Gadže. Es gibt einen eigenen Eingang für die Roma und einen für die Gadže. Die Roma werden wie immer mit „du Zigeuner“ angesprochen und nicht mit ihrem Namen. Die Geschichte hat ein „kommunistisches“ Happy-End: Miška wird wieder ins Leben zurückgeholt und ist glücklich, seine Frau und Kinder wie- derzusehen; er erkennt, dass vielleicht das Leben der Roma „auf dieser Erde“ und in dieser (sozialistischen) Gesellschaft besser werden wird als im Himmel. Die tschechische Übersetzung wurde im Radio unter dem Titel Sen Cikána (Der Traum des Zigeuners) im Jahr 1960 gesendet. Warum habe ich soviel Platz einer einzigen Autorin, Tera Fabiánová gewidmet? Aus mehreren Gründen. Sie ist die allererste unter den Roma, die anfing, auf Romanes zu schreiben. Ilona Lacková (1921)6 schrieb schon vorher, aber auf Slowakisch. Ilona ist auch eine sehr gute Freundin von mir, aber ich glaube nicht, dass sie auf Romanes schrieb und publizierte, bevor Tera Fabiánová das tat. Tatsächlich ist Teras Feuilleton (ohne Ti- tel, publiziert in der ersten Nummer von Romano ľil, 1970, S. 33, in der Kolumne Zadáno pro Teru – Reserviert für Tera) das erste literarische Werk überhaupt, das während der ganzen Geschichte der Roma in der Tschechischen und der Slowakischen Republik auf Romanes veröffentlicht wurde. (1936 wurde ein Teil des Neuen Testaments in den west- slowakischen Romani-Dialekt übersetzt, doch handelte es sich dabei um eine Überset- zung, nicht um eine echte literarische Schöpfung.) Teras Drang zu schreiben entstand –

6 Geb. am 22. März 1921, gestorben am 1. Januar 2003 (Anm. der Hg.)

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außer aus ihrer ungewöhnlichen Begabung und ihren persönlichen Qualitäten – aus ei- nem soziokulturellen Hintergrund heraus, den ich bereits mehrmals erwähnt habe: Es galt einen Ausgleich zu finden für die verlorengegangenen Kontakt- und Kommunikati- onsmöglichkeiten (mit all ihren wichtigen Funktionen, die im ersten Teil dieser Abhand- lung beschrieben sind). Bis zum heutigen Tag ist Tera eine der besten und talentiertesten unter den vielen Roma, die die echte Notwendigkeit verspüren, ihre Gefühle und Ide- en durch Schreiben auszudrücken. Und last, but not least sind Teras literarische Werke, insbesondere ihre Gedichte, eine Quelle der Inspiration für viele andere. Ihre Werke haben den anderen Roma gezeigt, dass Romanes kein „unzivilisiertes Kauderwelsch“ ist, sondern eine schöne Sprache, in der šukar laviben geschaffen werden kann. Margita Reiznerovás Kreativität brach durch, nachdem sie Teras Gedicht Av manca čhajori gelesen hatte, und sie begann selbst, Gedichte zu schreiben. Auch für Jan Horváth war Tera die erste Quelle der Inspiration ebenso wie für Olga Balážová-Vnadová, deren Geschichte ich vorher erzählt habe, und für viele andere.

Jekhvar upre, jekhvar tele mukel man o Del Gott hebt mich einmal hoch, das andere Mal lässt er mich tief nach unten fallen

Diese Worte stammen aus einem Lied, das von der sehr populären, modernen Roma- Gruppe Točkolotoč (Karussell) komponiert wurde. Es handelt sich dabei um ein ad- aptiertes Romani-Sprichwort, das Anfang 1973 in Bezug auf die Roma und die Veröf- fentlichungen in Romanes Wirklichkeit wurde. Nach dem „Hoch“, der Euphorie in der kurzen Zeit des Bestehens der Svaz Cikánů-Romů (Vereinigung der Roma-Zigeuner), folg- te ein „Tief“. Mit dem sogenannten „Normalisierungsprozess“ – also der Restauration des totalitären kommunistischen Regimes – kehrte die Assimilierungspolitik zurück. Im März 1973 wurde die Svaz Cikánů-Romů nach dreieinhalb Jahren des Bestehens verboten. Gerade in dieser Zeit bekamen die Herausgeber von Romano ľil so viele in Romanes ge- schriebene Beiträge, dass sie sich entschlossen, eine Sammlung ausgewählter Gedichte zu veröffentlichen. Romani-Gedichte und Erzählungen nahmen mehr und mehr Platz im Mitteilungsblatt ein. In den letzten zwei Nummern, bevor Romano ľil verboten wurde, finden wir Gedich-

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te von František Demeter (28.12.1948, Prag)7, einem LKW-Fahrer; von Vojta Fabián, dem ältesten Sohn von Tera Fabiánová (25.5.1949, Prag)8, einem Sänger; von Jožka Fečo (29.4.1940, Lúčky, Bezirk Bardejov, Slowakei)9, einem Berufsmusiker und von Ondřej Pešta (geboren in der Ostslowakei, damals etwa 50 Jahre alt)10, einem Schmied und Her- ausgeber von Romano ľil. Ebenfalls darin enthalten ist die erste Kurzprosa von Andrej Giňa (1.1.1936, Šarišské Sokolovce, Bez. Prešov, Slowakei), der zwanzig Jahre später mit seinen Kurzgeschichten berühmt werden sollte (Nr. 3, 1972, S. 28). Seine vakeriben (Er- zählung) eines „wahren Vorfalls“ beschreibt, wie ein alter Rom, ein Musiker, betrunken von einer Hochzeitsfeier nach Hause geht. Als er beim Friedhof vorbeigeht, verstellen ihm zwei in weiße Gewänder gekleidete rakle (junge Gadžo-Burschen) den Weg und tun so, als wären sie mule (Geister der Toten). Voller Grauen läuft der Musiker nach Hause und stirbt kurz darauf, da er sich nicht von seinem Schock erholen kann. Das ist eine ­typische Volkserzählung, wie sie bei den traditionellen Zusammenkünften erzählt wur- den. Dieses vakeriben ist sehr schön und einfach geschrieben, obwohl der Titel Ajse pherasa pes na kerel (Man sollte nicht solche Witze machen) „didaktisch“ ist und Giňa ganz am Ende versucht, die Roma dazu zu überreden, nicht an die Existenz von mule zu glauben.

„Romské písně“ Die erste zweisprachige Ausgabe: Romani-Lieder

Der erste unauffällige kleine Schritt nach „oben“ kam mit dem Band Romské písně, der ersten Publikation von Lyrik in Romanes mit tschechischer Übersetzung. Nachdem die Vereinigung der Roma verboten worden war, bemühten sich die Her- ausgeber von Romano ľil, obwohl sie wieder in ihre früheren Berufe zurückkehren mus- sten, einen Verleger für die Sammlung von Romani-Lyrik zu finden. Das gelang ihnen erst sechs Jahre später, 1979, dank der Kulturarbeiter des lokalen Kulturhauses im 8. Bezirk von Prag. Die zweisprachige Sammlung enthält Gedichte von sechs Roma: Bartoloměj Daniel, František Demeter, Vojtěch Fabián, Tera Fabiánová, Elena Lacková, Ondřej Pešta. Es durften nur 200 Stück gedruckt werden. Das Büchlein hatte den Status

7 Gest. am 28.8.2003 in Belgien (Anm. der Hg.) 8 Gest. 2009 in Prag (Anm. der Hg.) 9 Gest. 2013 in Prag (Anm. der Hg.) 10 Ondřej Pešta (geb. am 25.1.1921, gest. am 24.11. 2009 in Brünn, Anm. der Hg.)

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„methodisches Material für Kulturarbeiter, die mit der Zigeunerbevölkerung arbeiten“. Es durfte nicht öffentlich verkauft werden, sondern wurde an die Kulturhäuser in der früheren Tsche- choslowakei verteilt. Nur sehr wenige Roma bekamen die Möglichkeit, diese allererste kleine Lyriksammlung zu kaufen. Das Vorwort wurde vom Dichter František Demeter geschrieben, und es ist wert, teilweise hier zitiert zu werden, da es die Einstellung eines Rom zu Roma-Literatur darlegt und auch einen kleinen Einblick in diese Zeit gewähren kann:

Liebe Freunde, wir präsentieren Euch eine Sammlung von Romani-Lyrik. Dieses Werk ist wirklich einzigartig. Bis vor kurzem hatte die Öffentlichkeit keine Ahnung davon, dass es unter den Roma Leute gibt, die imstande sind, Gedichte oder Kurzgeschichten zu schreiben. Niemand glaubte, dass die Roma ihre eigene Literatur schaffen können. In den alten Zeiten, als die Roma in Armut und Elend lebten und Roma- Kinder nicht in die Schule gehen konnten, hatten die Roma das Bedürfnis, ihren Schmerz und ihre Sorgen in Liedern und in Geschichten auszudrücken, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Heute, da unsere sozialistische Regierung unseren Kindern die Möglichkeit gibt, in die Schule zu gehen, können auch wir unsere eigene Literatur schaffen. Viele Verse, die wir Euch heute in dieser kleinen Sammlung vorstellen, sind aus der Erinnerung an die Härten unseres früheren Lebens heraus ent- standen. Doch gleichzeitig drücken diese Verse ein starkes Gefühl der Liebe zwischen Mensch und Mensch aus. Ich hoffe, dass diese Sammlung, die die Öffentlichkeit mit Romani-Lyrik vertraut machen soll, nicht die einzige bleiben wird. Daher, Mädchen und Burschen, appelliere ich an Euch: Schreibt! Schreibt! Schreibt! Über alles, was Euch am Herzen liegt, das Euch nicht ruhig schlafen lässt, worüber ihr träumt. Alle Leute – nicht nur Roma – werden mit großem Interesse lesen, was Ihr geschrieben habt, denn es ist wichtig, dass wir einander besser kennenlernen.

Wie viele Roma hatten die Möglichkeit, Demeters Vorwort zu lesen? Wie viele Roma hatten die Möglichkeit, die erste zweisprachige Ausgabe von Romani-Lyrik zu lesen? Ich kenne drei. Vor kurzem hat mir der Journalist, Dichter und politische Aktivist Jan Hor- váth erzählt, dass er Romské písně bereits mehrere Jahre vor der „samtenen Revolution“

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Romské písně (Romani-Lieder), Prag 1979 Bildnachweis: Romano džaniben, ňilaj (Sommer) 2006, S. 48

(November 1989) erhalten hatte und dass es ihn inspirierte, mit jugendlichen Roma eine Folkloregruppe zu gründen und zu versuchen, selbst Gedichte zu schreiben. (In dieser Zeit lebte Jan Horváth in der nordmährischen Stadt Bílovec und arbeitete dort als Fa- briksarbeiter.) Nachdem er mir das erzählt hatte, rezitierte er das Gedicht Av manca von Tera Fabiánová, das er auswendig konnte. Eine andere Person, die das Büchlein bekam, war Margita Reiznerová. Ich gab es ihr 1986 oder 1987, als ich eine fantastische Veran- staltung ihrer Folkloregruppe Perumos (Donner/Blitz) besuchte. Margitas erste Reaktion auf den Text in Romanes ist sehr bedeutsam. Ich wählte Teras Gedicht Av manca (da ich wusste, welche Wirkung es auf die Menschen hatte) und gab es Margita zu lesen. Sie versuchte es und sagte dann, dass es in einer fremden Sprache geschrieben sei, die sie nicht verstehe. Ich muss gestehen, dass ich sehr enttäuscht war. Nach einer Weile kam ich auf die Idee, Margita Teras Gedicht selbst vorzulesen. Als ich fertig war, weinte Margita und drückte größte Bewunderung und Zuneigung für Tera aus. Was war passiert? Warum diese unterschiedliche Reaktion auf ein und denselben Text? Das liegt auf der Hand. Die Roma hatten nie die Möglichkeit, ihre Sprache in der Schule zu lernen – und in jeder Sprache gibt es einen Unterschied zwischen gesproche- ner und geschriebener Variante. Deshalb erschien Margita ihr eigener Dialekt, als sie ihn geschrieben sah, fremd. Doch Margita gewöhnte sich in unglaublich kurzer Zeit an das geschriebene Romanes. Wieder einmal war Teras Gedicht zu einer Quelle der Inspiration geworden. Das Schreiben brach förmlich aus Margita heraus. In zwei Tagen schrieb sie im Alter von 42 Jahren (geb. am 5. Mai 1945 in Malý Bukovec, Bez. Bardejov, Ostslo- wakei) ihr erstes Gedicht Vičinav (Ich rufe), das ich oben zitiert habe. Sie brachte mir

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das Gedicht mit der Bemerkung: „Ko Roma hin avka: so kerel jekh, keren the o aver. O Roma sikhľon jekh avrestar. (Mit den Roma ist das so: Was einer von ihnen tut, machen alle. Die Roma lernen voneinander.)“ Ich bin davon überzeugt, dass sie mit dieser Aussage einen wichtigen Faktor angesprochen hat, der die unglaubliche Fülle von Roma-Literatur, die plötzlich entstand, zu erklären vermag. Ich glaube, dass die kollektive Empathie, die im ersten Teil des Artikels besprochen wurde, nie aufgehört hatte zu funktionieren und dass das eine Rolle für den Entstehungsprozess der Roma-Literatur spielte. Margita Reiznerová ist sicher eine der größten Persönlichkeiten der Roma-Literatur. Zuerst einmal als Lyrikerin, doch nach 1989 auch als Herausgeberin. Ich werde noch einmal auf Margita zurückkommen, wenn ich in meinem kurzen Überblick über die Ge- schichte der Roma-Literatur den richtigen Punkt erreicht habe. Der dritte Mensch, der in seinem Vorsatz, sich für die Roma-Kultur einzusetzen, durch den zweisprachigen Lyrikband bestärkt wurde, war Dr. jur. Emil Ščuka, der am 5. Kongress der Internationalen Romani-Union im Juli 2000 in Prag zu deren Präsident gewählt wurde. Emil Ščuka (9.9.1957, Svit, Bezirk Poprad, Ostslowakei) kam 1983 als junger Staatsanwalt nach Sokolov, eine Stadt in Nordwest-Tschechien. Bevor er in der mährischen Hauptstadt Brünn die Universität besuchte, überlegte er, ob er Jus oder Theaterregie studieren sollte. Er entschied sich für das Jusstudium, doch seine Leidenschaft für das Theater blieb beste- hen. 1983 gründete er eine Amateurtheatergruppe mit dem Namen Romen, dem Moskauer Theater Romen zu Ehren, das Emil in seiner Studienzeit in der ehemaligen UdSSR stark inspiriert hatte. Als mit Beginn der 1980er-Jahre die Perestroika die Politik in der Tsche- choslowakei zu beeinflussen begann, verlor die Assimilationspolitik an Vehemenz. Ein weiteres „Hoch“ in der Entwicklung der Roma-Literatur zeichnete sich immer deutlicher ab. Die Roma, die nach dem Verbot der Vereinigung der Roma aufgehört hatten zu schrei- ben oder sich in unzulänglichem Tschechisch ausdrückten, kehrten wieder zum Romanes zurück. Neue Namen kamen auf. 1982 wurden regelmäßige Kurse an der Jazyková Škola (Sprachschule) in Prag eingerichtet, und die Roma-Autoren sandten mir als der Lehrerin für Romanes ihre Lyrik und ihre Prosa. Während wir zwei neue zweisprachige Ausgaben vorbereiteten – diesmal nicht nur von Lyrik, sondern auch von Prosa – brachte Emil Ščuka sein erstes, von ihm verfasstes Theaterstück mit dem Titel Amaro drom heraus. Amaro drom ist auf Tschechisch geschrieben mit einigen Dialogen und Liedern auf Romanes. Es war zwar kein „Meilenstein“ in der Entwicklung der Roma-Literatur, aber sein kultureller, politischer und sozialer Einfluss war enorm. Zuerst einmal wurde das Ensemble mit circa dreißig bis vierzig Amateurschauspielern (ihre Zahl wechselte) zu

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einer neuen Art von „kollektiver Zusammenkunft“, einer Abwandlung der traditionellen gemeinschaftlichen und familiären Treffen. In den Folkloreensembles, die sogar während der Zeit der Assimilationspolitik toleriert wurden, fanden die Roma langsam wieder eine Möglichkeit, ihre kulturelle und ethnische Identität zu stärken. Die Mitglieder des En- sembles probten nicht nur für die Aufführungen, sie diskutierten und besprachen auch alltägliche Angelegenheiten, ihre individuelle Situation und die politische Situation der Roma insgesamt. Das war zwar nicht das alte vakeriben: die paramisa wurden nicht mehr zum Leben erweckt, doch die Folkloregruppen entwickelten sich definitiv zu einem wich- tigen Mittel, um die Kultur und Sprache der Roma und das šukar laviben zu bewahren. Das nächste Stück im Repertoire des Romen-Theaters in Sokolov wurde auf Romanes geschrieben und aufgeführt. Es handelte sich dabei um eine dramatisierte, traditionelle Geschichte über einen klugen Rom, der einen dummen Teufel überlistet. Die Auswirkun- gen auf das Roma-Publikum waren enorm. Emil Ščuka erzählte mir von der Reaktion einer alten Dame, die selbst nicht lesen und schreiben konnte: Sie umarmte ihn nach der Vorstellung und dankte ihm dafür, dass er das Romanes „hoch“ auf eine öffentliche Bühne gebracht habe. Andererseits versuchte eine Kulturarbeiterin, ein Gadži, wenige Wochen vor der „samtenen Revolution“ im November 1989, die Arbeit des Theaters mit den Worten zu verbieten: „Vierzig Jahre lang haben wir versucht, euch die schlechte Gewohnheit, eure Zigeunersprache zu verwenden, auszutreiben, und jetzt etabliert ihr sie auch noch auf einer öffentlichen Bühne!“ Romen stellte seine Aktivitäten ein, allerdings nicht aufgrund eines offiziellen Verbots. Im November 1989 kam es zur „baršoňiko revolucija“ („samtenen Revolution“) und Emil Ščuka widmete sich jetzt voll und ganz der von ihm gegründeten ersten politischen Partei der Roma: der ROI (Roma-Bürgerinitiative).

Baršoňiko revolucija – phundrado drom Die samtene Revolution – ein offener Weg

Die „samtene Revolution“ ist ein euphemistischer, symbolischer Ausdruck für den Zu- sammenbruch des Kommunismus und den Beginn der Demokratie. Wenn wir auf die Jahre, die seither vergangen sind, zurückblicken, dann sehen und empfinden wir mehr Unglück und Sorge als Freude: Hilflosigkeit, Kriminalität, Armut, Arbeitslosigkeit, Kon- kurse. Für die Roma ist die Situation noch sehr viel schlimmer. Es heißt: Te o gadžo mardo,

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o Rom mardo duvar (Wird ein Gadžo verprügelt, wird ein Rom doppelt verprügelt). Offene Diskriminierung, zigeunerfeindliche Haltungen, Attacken von Skinheads, Emigration, wachsende Armut. Doch die „baršoňiko revolucija“ brachte eine Veränderung mit sich, de- ren Wert den Roma vielleicht heute noch nicht ganz bewusst ist, und das ist phundrado drom – eine offene Straße. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben die Roma die Chan- ce, als politische Subjekte über ihr Schicksal zu entscheiden, während sie bis dahin reine Objekte der Manipulation waren. Phundrado drom zeigt sich besonders in der Kultur und Literatur. Im November 1990 wurde die Vereinigung der Roma-Schriftsteller gegründet. Margita Reiznerová wurde zur Vorsitzenden gewählt. Zwischen 1990 und 1992 wurde mehr Roma-Literatur veröffent- licht als in der ganzen 600-jährigen Geschichte der Roma auf dem Gebiet der Slowaki- schen und Tschechischen Republik. Margita selbst gab als Chefin des kleinen Verlages Romaňi čhib acht Prosabändchen heraus: vier nur auf Romanes und vier zweisprachige (Romanes mit tschechischer Übersetzung). Leider musste sie ihre verlegerische Tätig- keit drei Jahre, nachdem sie damit begonnen hatte, wegen einer schweren Krankheit einstellen. Ein weiteres Unglück für sie war, dass ihre gesamte fameľija aus Angst vor den Skinheads nach Belgien ausgewandert ist. (Alle ihre Verwandten sind aufgrund ihres Aussehens sehr leicht als Roma zu erkennen.) Doch auch nachdem Margita ihre wertvolle Tätigkeit einstellen musste, geht die Ver- öffentlichung von Roma-Literatur weiter. Von großer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass die Bücher immer mehr und mehr Leser finden. Ich möchte hier ein sehr berüh- rendes Beispiel dafür anführen, eine Geschichte, die mir von der Roma-Aktivistin Frau Dudy-Koťová aus der nord-tschechischen Stadt Ostrava über ihre Tochter erzählt wor- den ist. Ihre neunjährige Tochter wollte eines Tages aus dem Haus schleichen und barfuß in die Schule gehen. Ihre Mutter bemerkte das und forderte sie auf, Schuhe anzuziehen, und fragte, was ihr denn eingefallen sei. Das Mädchen erwiderte, dass es Tera Fabiánovás autobiographische Skizze Sar me phiravas andre škola (Als ich in die Schule ging) gele- sen hatte und sehr traurig darüber war, dass Tera keine Schuhe hatte und barfuß gehen ­musste! Und deshalb wollte das kleine Mädchen aus Mitleid ebenfalls so in die Schule gehen.

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Na vakerav me – mro jilo vakerel. Nicht ich bin es, der spricht – mein Herz spricht. Vakerav ko Roma? Vakerav ko gadže? Ko kamel te achaľol, achaľola. Spreche ich zu den Roma? Spreche ich zu den Gadže? Wer verstehen will, wird verstehen.

Kann die Roma-Literatur (in der Tschechischen und der Slowakischen Republik) als Ein- heit gesehen werden? Die Antwort ist: Ja und Nein. Jeder Autor ist eine Einzelpersönlich- keit, die Arbeiten eines jeden sind ganz spezifisch und unterscheiden sich voneinander. Doch es gibt ein paar allgemeine Charakteristika, die allen gemeinsam sind. Zuerst ist da einmal das Tief-Empfundene des Ausdrucks. Na vakerav me – mro jilo vakerel – heißt es in einem Gedicht von Angela Žigová. Es ist sehr schwer, dieses Phäno- men rational zu beschreiben oder es zu quantifizieren und zu spezifizieren. Ein Romani- Sprichwort besagt: Na savoro šaj prindžares goďaha – o jilo varekana dikhel o čačipen feder sar e goďi (Man kann nicht alles nur mit dem Verstand verstehen – das Herz sieht die Wahrheit/ die Wirklichkeit oft besser als das Hirn). Beim Lesen der meisten literarischen Werke der Roma, insbesondere bei Prosatexten, „spürt das Herz“, dass nicht einfach ein klug vorge- fertigtes literarisches Muster mit Worten gefüllt wurde, sondern dass die Worte wirklich den Fluss der Gefühle, Empfindungen und Gedanken verkörpern. Der Leser hat den Eindruck, dass die Autoren sagen, was sie unbedingt sagen müssen. Manchmal ist der „Fluss der Empfindungen und Gedanken“ so stark, dass er durch keine Regeln eingeschränkt scheint. Die meisten Roma-Schriftsteller sind literarisch un- erfahren, nicht nur im Schreiben, sondern auch im Lesen. Dieser „Nachteil“ wird zum Vorteil in dem Sinne, dass sie sich nicht durch formale Konventionen einengen lassen. Für einen Gadžo-Leser, dessen literarische Wahrnehmung durch eine Schulausbildung auf der Grundlage der Aristotelischen Poetik geprägt ist und somit von konventionellen Vorstellungen, wie die „literarische Form“ aussehen sollte, ist es manchmal schwer, die nicht kategorisierbaren Genres der Roma-Literatur zu „verarbeiten“. Lese ich Prosa? Lese ich Lyrik? Ist das eine Kurzgeschichte? Ein Essay? Ein Feuilleton? Es ist in der Tat schwierig, viele der literarischen „Produkte“ mit einem Etikett eines traditionellen Gen- res zu versehen. Doch ist gerade die unkonventionelle Form der Roma-Literatur für Leu- te, die Abenteuer lieben und sich gerne auf völlig Neues einlassen, von großem Interesse.

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Ich möchte als Beispiel wenigstens ein Werk von Helena Demeterová, der älteren Schwester von Margita Reiznerová, anführen (geb. 24.6.1940, Malý Bukovec, Bez. Bar- dejov, Ostslowakei). Es heißt Jandre (Eier) und wurde in einer Sammlung mit dem Titel Rom ke Romeste drom arakhel (Ein Rom findet seinen Weg zu einem anderen Rom) veröf- fentlicht. Die zweisprachige Ausgabe (Romanes – Tschechisch) wurde 1994 von Margita herausgegeben.

Paťan, ma paťan, sas amen ajsi rikoňi, hoj bešelas pro jandre. Jekhvar somas andro veš kaštenge, sas baro šil, rodás andro jiv o kašta – dikhav, duj bare jandre. Iľom o jandre, khere len thoďom pro bov tel e rikoňi, kaj te bešel pre lende. E rikoňi pre lende bešel jekh kurko, aver kurko, a o jandre furt cala. Imar duminavas, hoj lendar na jela ňič. Až jekhvar raťi khatar jepaš rat, šunav sar vareso pro bov praskinel. Ušťiľom u džav te dikhel. So na dikhav! E rikoňi murdarďi the pro bov hine duj... dži adaďives na džanav, s‘oda sas. O celos lende sas kachňengero a o šere manušane. Mek pašoda pen paruvkernas pre savori džvirina, ča o šere lende sas manušengere. So te kerel lenca? Chuťile pre mande, arade man pre phuv a ile man te danderel. Avľa mange pre goďi o Devloro, iľom man te modľinel. A so dikhav? Ola bižuže cikňonas, cikňonas až ačhile pale jandrenge, kajča has somnakune. Aver ďives len bikenďom čhindeske. Chudňom vaše but love. Kajča sar avľom khere, dikhav, hoj miro kher labol. A mange sas odoj duj čhave. Chudňom te rovel, te vičinel... až man prechudňom andal o soviben a paľikerás le Devleske, hoj mange savoro ča suno džalas.

Ihr könnt mir glauben, ihr könnt mir nicht glauben, wir hatten eine Hündin, die Eier ausbrütete. Einmal ging ich in den Wald, um Brennholz zu holen, es war sehr kalt, ich holte das Holz aus dem Schnee, plötzlich bemerkte ich zwei große Eier. Ich nahm die Eier mit heim und legte sie hinter den Backofen unter unsere Hündin. Die Hündin brütete sie zwei Wochen aus, doch nichts passierte. Ich dachte, es war alles umsonst, doch eines Nachts hörte ich einen Lärm. Ich stand auf und was sah ich? Die Hündin war tot und auf dem Herd waren zwei... Bis heute weiß ich nicht, was es war. Die Kreaturen hatten den Körper einer Henne und einen Menschenkopf. Ihr Körper nahm die Form aller möglichen Tiere an, nur der Kopf blieb immer menschlich. Was sollte ich mit ihnen tun? Sie töten! Sobald mir dieser Gedanke durch den Kopf ging,

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sprangen sie mich an, warfen mich zu Boden und begannen, mich zu beißen. Ich dachte an Gott und begann zu beten. Und was sah ich? Die unreinen Wesen wurden kleiner und kleiner, bis sie wieder zu Eiern wurden. Doch die Eier waren aus Gold. Am nächsten Tag verkaufte ich sie einem Juden. Ich bekam viel Geld dafür. Doch als ich heim kam, stand mein Haus in Flammen. Ich hatte doch zwei Kinder dort. Ich begann zu schreien, zu weinen ... doch dann wachte ich auf und dankte Gott, dass alles nur ein Traum gewesen war.

Die meisten Arbeiten von Helena Demeterová sind fantastische „Träume“ wie dieser hier. Einige sind kürzer, einige länger. Als ich sie fragte, wie sie ihre Werke benennen würde, zuckte sie nur mit den Achseln: „Pisinav, so džav sune... Mire sune.“ (Ich schreibe, was ich träume... Meine Träume). Oda jekh, na? (Es ist unwichtig, wie man meine Werke nennt, nicht wahr?) Ich möchte noch ein Beispiel zitieren. Eine Arbeit von Dr. Vlado Oláh (22.5.1947, Stropkov, Bez. Svidník, Ost-Slowakei)11, die in der zweisprachigen Ausgabe Kale ruži (1990) veröffentlicht wurde.

O Jankel čhavo barikano, lačhe dadeskero. Kamelas igen o dživipen, kerades, bokhales. Rado peske khelelas, romane giľora pre lavuta bašavelas. Jekhvar paš o kheľiben čuno peske piľa, pro vaďos pašľiľa, la cikňa čhajora ke peste iľa. Imar čoro pal o va ďos na ušťiľa, imar e lavuta pal e fala andro vast na iľa. Sar muľa – pre lavuta e hura čhinďiľa. Le Jankeliskeri lavuta figinel pre fala dži adaďives.

Jankel war ein stolzer Bursche, der Sohn eines guten Vaters. Er liebte das Leben mit heißer und unersättlicher Liebe. Er tanzte gerne und spielte Ro- mani-Lieder auf seiner Geige. Einmal als er tanzte, trank er ein bisschen, dann legte er sich aufs Bett und nahm sein kleines Mädchen in den Arm.

11 Gest. im Januar 2012 in Prag (Anm. der Hg.).

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Der arme Mann stand nie mehr auf, er nahm nie mehr seine Geige in die Hand. Als er starb, zerbrach die Saite seiner Geige. Jankels Geige hängt bis heute an der Wand.

Welchem Genre soll man diese „Arbeit“ zuordnen? (Ist das wichtig?) Ein weiteres Kennzeichen vieler Romani-Texte ist das Fehlen einer Pointe. Der Fluss des vakeriben fließt einige Zeit dahin und endet plötzlich, sozusagen „mitten drin“. Der Gadžo-Leser, der dazu erzogen worden ist, sich eine „Pointe, eine Schlussfolgerung“ zu erwarten, fragt vielleicht: „Was will er/sie sagen? Warum hat sie das geschrieben? Warum wurde es veröffentlicht?“ Dieses Fehlen einer Pointe ist besonders auffällig in den „geschriebenen Erzählungen“ von Olga Fečová (1942) und Olga Giňová (1.11.1947, Kojatice, Bez. Prešov, Ost-Slowa- kei). Ich werde ein Beispiel anführen, das von Olga Fečová stammt.

Kada hin čačipen, šaj man košav. Sar mek bešahas khere pre Slovensko, sas pre vatra cikňi chaňigori. Opral pal o heďos čuľalas paňori, žužo sar Devleskeri aps. Našťi pherďalas vedroha, bo e chaňig sas cikňori, ča kučoraha. Ko ušťelas duje trine or- endar pal jepašrat, ta peske pherelas kučoraha žužo paňi. Ko sas khadino, sovlas dži andro baro ďives, avelas kije chaňig a imar o paňi sas žuži čik. Mušinďa te džal paňeske kije Laborca duj kilometri a zakľa avelas khere, čhorelas jepaš vedros avri.

Das ist wahr, ich kann es schwören. Als wir noch zu Hause in der Slowa- kei lebten, hatten wir eine kleine Quelle in unserer Siedlung. Vom Hügel herunter floss klares Wasser, rein wie eine Träne Gottes. Man konnte das Wasser nicht in einen Kübel füllen, nur in eine kleine Tasse, denn die Quelle war sehr, sehr klein. Wer um zwei oder drei Uhr in der Nacht aufstand, konnte seine Tasse mit klarem Wasser füllen. Doch wer „stink- faul“ war und bis spät in den Tag hinein schlief, kam zur Quelle, und sie war ganz schlammig. Er musste zum Laborca-Fluss gehen, der zwei Kilometer weit weg war, um Wasser zu holen. Bevor er wieder nach Hau- se kam, war der halbe Kübel bereits leer, das Wasser war ausgeschüttet.

Die Reaktion auf dieses „geschriebene vakeriben“ seitens meiner tschechischen Studenten und seitens einiger meiner Roma-Freunde war in bedeutsamer Weise unterschiedlich.

360 Meine Begegnungen mit dem Šukar Laviben der Roma

Die Mehrheit der Tschechen zuckte nur mit den Achseln – sie waren verwirrt. „Nicht der Rede wert.“ „Warum hat sie das geschrieben?“ „Wir brauchen nicht alles zu veröffentli- chen, was ein Rom geschrieben hat.“ Nur zwei konnten Olgas Erinnerungen schätzen. Meine Roma-Freunde, die es gelesen hatten (Ilona Ferková, Margita Reiznerová, Tera Fabiánová, Vlado Oláh usw.), kommentierten es so: Oda čačipen kada (Das ist wahr/Wirk- lichkeit/wirkliche Erfahrung), Avka Roma dživenas (So lebten die Roma). Olgas kurzer Text löste sowohl bei Tera als auch bei Ilona Erinnerungen aus. (Obwohl Ilona in einer tschechischen Stadt geboren worden war und nie in einer Romasiedlung gelebt hatte!) Eine Diskussion entstand anschließend und es kam zu einem Erfahrungsaustausch zwi- schen der Autorin und den Lesern. Werke, die – ohne eine klare „Pointe“ – romano čačipen (die Wahrheit/die Realität/die Erfahrung der Roma) beschreiben, zeugen von der Kontinuität des traditionellen ge- sprochenen šukar laviben im neuen geschriebenen šukar laviben. Dieses romano čačipen wird natürlich von den Gadže nicht geteilt, da ihre Lebenserfahrung – sowohl die individuelle als auch die kollektive – und ihre Erfahrung mit gesprochener und geschriebener münd- licher Kultur ganz anders ist. Aus diesem Grund sprechen Texte wie die oben zitierten, die Bartoloměj Daniel leperibena (Erinnerungen) nennt, mehr die Roma-Leser an als die Gadže. Noch ein Merkmal ist vielen Autoren gemeinsam: das „Geheimnisvolle“. Alle Werke von Helena Demeterová sind kleine „Mysterien“, doch auch bei vielen anderen Autoren enthalten die Geschichten etwas Geheimnisvolles. Wenn ich „Geheimnisvolles“ sage, verwende ich einen Terminus der Gadže, der auf der Vorstellung beruht, es gäbe eine klare Grenze zwischen der Realität, die berührt, gesehen, gehört und gerochen werden kann, und dem, was nicht mit den Sinnen wahrnehmbar ist. In der Vorstellung der Roma (in ihrem Glauben) sind die Grenzen zwischen den „drei Welten“ (indische Vorstellung der TRILÓKA) nicht klar definiert, und man kann immer die Präsenz von Dingen spü- ren, die nicht im eigentlichen Sinne berührt werden können. „Wunder“ sind integraler Teil der Realität, des romano čačipen. Ein sehr ausdrucksstarker Autor, Gejza Demeter (11.5.1947, Ústí nad Laben, Nord-Tschechien) hat alle seine Werke dem Teil der Realität gewidmet, den die Gadže „irreal“ nennen würden – den mule (den Geistern der Toten): „Mule maškar amende“ (Mule unter uns) ist der Titel eines kleinen Buches, das Margita Reiznerová 1992 in ihrem Verlag „Romaňi čhib“ veröffentlicht hat.

361 Milena Hübschmannová

Diese Lebenseinstellung, die – wie bereits erwähnt – mit dem traditionellen Spruch „jekha jakhaha asal, jekha jakhaha rovel“ (mit einem Auge lachen, mit einem Auge weinen) beschrieben werden kann, findet in vielen Werken Ausdruck. Sie ist typisch für die Prosa von Andre Giňa, die in dem zweisprachigen Büchlein Bijav – Hochzeit (1991) veröffent- licht wurde. Er beschreibt Vorfälle, über die o phure vakerenas (die alten Leute redeten) und die „wirklich passierten“, als die Roma noch in khere pre Slovensko (zu Hause, in der Slowakei) lebten. In der Geschichte Phuro (Der Alte) findet ein kleiner, hässlicher Trunkenbold, der weder musizieren kann noch die Schmiedearbeit beherrscht und keine Arbeit findet, um seine Familie zu erhalten, einmal in einem Haufen Abfall eine Schachtel voll mit Tausenderscheinen. Da er noch nie eine Banknote im Wert von Tausend gesehen hat, hält er sie einfach für Papierstücke und gibt alle „Papiere“ einer Gadži, die gerade vorbeigeht. Eine Banknote nimmt er mit und zeigt sie seiner Frau, die fast in Ohnmacht fällt, als ihr ihr dummer Mann erzählt, was sich ereignet hat. Doch das ist nicht das Ende. Am nächsten Tag kommen die Gendarmen und beschuldigen Phuro des Raubes. Nach einer Woche der Verhöre und der Schläge lassen sie ihn gehen, weil sie einsehen, dass er ein armer, unglückseliger, dummer Kerl ist. Das Leben geht weiter wie zuvor, und alle sind glücklich, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Wenn man Giňas Geschichten liest, muss man wirklich mit einem Auge weinen und mit einem lachen. In Giňas Geschichten zeigt sich die Kontinuität des traditionellen vakeriben (Geschich- tenerzählens) deutlich (1) in der Themenwahl und (2) in der Art und Weise, wie „tragi- sche“ Ereignisse auf unterhaltsame, humorvolle Art beschrieben werden. In den Werken von Ilona Ferková zeigt sich die Kontinuität der Tradition in ihrem divano-artigen Stil. Ilona Ferková (25.6.1955, Rokycany, West-Tschechien) begann Ende der 80er-Jahre zu schreiben, nachdem sie Teras Gedichte gelesen hatte und ihr klar wurde, dass Roma- nes eine Sprache ist, die sich zum Schreiben eignet. Wer auch immer Ilona erzählen gehört hat und dann die Möglichkeit hatte, ihre niedergeschriebenen Erzählungen zu lesen, bemerkt keinen Unterschied zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Form. Sie schreibt so, wie sie spricht, und ihre Geschichten werden von prominenten tschechischen Literaturkritikern ebenso geschätzt wie von ganz einfachen Roma-Lesern. In ihrer Sammlung Čorde čhave (Gestohlene Kinder) beschreibt Ilona wirkliche Ereignis- se, die sich vor kurzem zugetragen haben und bei denen sie entweder Augenzeugin war oder von denen sie von anderen Roma gehört hat. Ilona vakerel (spricht, erzählt) in ihren Geschichten von der Brutalität und Ignoranz, mit der z. B. Kinder Roma-Eltern „gestoh- len“ wurden, um sie mit Gewalt in „Kinderheime“ zur „Umerziehung“ zu bringen. Sie

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drückt ihre Kritik nicht direkt aus: Ihr „reiner Bericht“ über die Ereignisse ist kraftvoller und wirksamer als jeder empörte Slogan. Doch in ihrem divano kritisiert sie nicht nur die Ignoranz der Gadžo-Behörden, in einem größeren Teil ihrer Geschichten führt sie le Romenge anglo jakha (den Roma vor Augen), wie schlecht ihr Benehmen sein kann. Sie legt Fälle von Brutalität eines Stiefvaters gegenüber seiner kleinen Stieftochter offen; in ihrer Geschichte Trastune benga stellt sie die destruktive Spielleidenschaft einer schlech- ten Mutter dar; in ihrer ausgezeichneten Geschichte Muľa vaš o romipen (Sie starb für ihr Romatum) beschreibt sie den Aufeinanderprall zweier Welten – der Welt der paťivale, der ehrenhaften Roma in einer traditionellen Gemeinschaft und der modernen Welt, die die Roma zwar nicht glücklich macht, ihnen aber auch nicht erlaubt, in das „Elend und die Rückständigkeit“ der Roma-Siedlungen zurückzukehren. Die divano-artige Schreibweise ist auch für Helena Červeňáková typisch (1964, Roštár, Bez. Rožňava, Slowakei). Sie ist in einer Romasiedlung aufgewachsen und hat an Ver- sammlungen teilgenommen, bei denen „Gutes und Böses“ besprochen wurde. Das Gute wurde als Beispiel für paťiv und das Böse als Beispiel für ladž dargestellt. Helena möchte diese „wohltuende“ Tradition weiterführen, die „dabei helfen kann, dass die Roma die positiven Werte ihres romipen erkennen“; ihr bringen sie „liebgewonnene Erinnerungen und Trost in den Neubauvierteln einer anonymen Stadt.“ Helena hat eine höhere Schule abgeschlossen; während ihrer Schulzeit hat sie an mehreren Literaturwettbewerben mit Arbeiten in slowakischer Sprache teilgenommen. Sie kann sich in beiden Sprachen ausge- zeichnet ausdrücken. Im Gegensatz zu Ilona Ferkovás Erzählungen sind Helenas Werke strukturell ausgewogener und zeugen von größerer literarischer Routine. Das macht sie jedoch weder „besser“ noch „schlechter“. Schlussendlich gibt es noch ein Merkmal, das in mehr oder weniger großem Ausmaß den Werken aller Autoren eigen ist, und das ist bei aller Unterschiedlichkeit in der Um- setzung die Glorifizierung desromipen, also der patriotische Aufruf „Upre Roma! (Auf, ihr Roma!)“ und ein Appell an die Gadže, die Roma als menschliche Wesen zu behandeln. Die Lyrik eignet sich besser als die Prosa für einen solchen Appell. Unter den mystischen Gedichten von František Demeter finden wir im Gedicht Romane verdana džan (Die Zi- geunerautos fahren) Verse wie: „Endlich hat uns auch die Sonne gelacht / sie scheint auf einen weißen Menschen ebenso wie auf einen gelben oder schwarzen...“ In der intellek- tuellen Lyrik der Universitätsabsolventin Anna Koptová (7.11.1953, Stará Lesná, Slowa- kei), einer Journalistin und ehemaligen Regisseurin des Romathan-Theaters in Košice, ist der Appell subtiler: „Du weißes Gesicht / gehe deines Weges / und schau nicht um dich

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/ du willst nicht sehen / wie ich meinen Wagen ziehe / voller Tränen / ... Du mein Kind / mein kleines Vöglein / öffne deine schönen schwarzen Augen / du wirst sehen / dass deine Träume wahr werden / du wirst leben.../“. Am direktesten sind diese Appelle an die Roma und an die „Bewussten unter den Gadže“ in der Lyrik von Ilona Lacková, Jan Horváth und einigen anderen. Als typisches Beispiel möchte ich wenigstens einen Teil von Jan Horváths (1.11.1959, Bílovec, Nord- Tschechien) Gedicht Soske? (Warum?) anführen.

Phučav tumendar, kedvešne manuša / soske? Telepheniben, nakamiben / abo jekhetani- ben? Korkore - či savore? Jekh phuv, jekh kham/ pre parňi sarna / the pre kaľi ruža labol / Den tumenge o vast / phuteren tumaro jilo / Manuš manušeske ruv? / Na! Phraloro! / Sem phrala sam! / Imar buter na kalo – parno / Ezer berš rodas amari phuv / ezer berš rodas amaro than / arakhľam les imar? / Ha, imar les arakhľam! / Adaj khere sam! / Akor soske tumen san tumen – amen sam amen? / Na! / Savore jekhetane ča amen!

Warum? Ich frage euch, liebe Leute / warum? / Verachtung, Hass / oder Ein- heit? Allein – oder alle zusammen? / Ein Land, eine Sonne / gibt Licht einer weißen Taube genauso wie einer schwarzen Rose / Reicht euch die Hände / öffnet eure Herzen / Soll der Mensch des Menschen Wolf sein? / Nein! Lieber Bruder! / Wir sind Brüder / Nie mehr: schwarz – weiß! / Tausend Jahre haben wir unser Land gesucht / Tausend Jahre haben wir unsere Hei- mat gesucht / Haben wir sie bereits gefunden? / Ja, wir haben sie gefunden! / Wir sind zu Hause hier!/ Warum seid ihr dann ihr und wir sind wir? / Alle zusammen nur „wir“!

Ein „raffinierter“ tschechischer Leser – ein junger Student, der selbst versucht, avantgar- distische Lyrik zu schreiben – sagte über Horváths Gedicht, es wäre interessanter, wenn man es auf ein Rufzeichen mit Fragezeichen reduzieren würde. Im Gegensatz dazu gera- ten Romani-Leser in einen Zustand der Ekstase, wenn sie Horváths Gedichte lesen (und besonders wenn sie die Möglichkeit haben, sie bei einem der „literarischen Abende“ zu hören, die in den letzten Jahren ab und zu in Prag, Brünn und vielleicht auch in anderen Städten organisiert wurden). Es sind zwei Dinge, die sie ansprechen, oder zwei Aspek- te desselben Dings: zuerst die „magischen Wörter“ wie jilo (Herz) / phuterel o jilo (das Herz öffnen), jekhetane (zusammen), phrala (Brüder), manuš (Mensch), kale jakha (schwarze

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­Augen – Koptová) etc. Die Kraft eines Wortes wird in der traditionellen Roma-Gemein- schaft viel mehr geschätzt – ein Wort kann als guter oder böser Zauber wirken – und die Wörter, die ich angeführt habe, gehören zu den guten. Manchmal genügt es, ein Wort wie jilo, daj (Mutter), Del (Gott), sem Roma sam! (Wir sind Roma) auszusprechen – und die „Atmosphäre wird gereinigt“. Während der Rom-Leser sehr offen ist für die „magische Kraft der Worte“, ist der Gadžo-Leser ihnen gegenüber „taub“, oder zumindestens taub für viele bare romane lava (große / wichtige Worte der Roma). Und natürlich kann der Gadžo-Leser den dringenden Appell des Gedichtes nicht verstehen, den Wunsch nach gegenseitigem Verständnis, nach Einheit, ein Wunsch, der aus dem verzweifelten Bedürf- nis einer Minderheit entsteht, akzeptiert zu werden. Ein Vertreter der Mehrheit „braucht dieses Bedürfnis nicht zu spüren“. Die Roma durchlaufen eine historische Phase in ihrer politischen und ethnischen Emanzipation. Besonders in einem solchen Entwicklungsstadium finden sich bei jeder Nation politische und kulturelle Aktivisten, die die anderen „aufwecken“ und ihnen ihre kollektive Identität bewusst machen. Und es ist ganz natürlich und vollkommen legitim, dass Lieder, Gedichte, Literatur für diesen Zweck verwendet werden. Patriotische Aus- sprüche sind ein sehr wirksamer „Wecker“. (Wenn wir die patriotische tschechische Lyrik aus dem letzten Jahrhundert lesen, stoßen wir auf ähnliche Klischees und Slogans, die sich natürlich auf andere Symbole und patriotische „Zauberworte“ beziehen.) Es könnte noch viel über die Roma-Literatur gesagt werden. Doch wie die Roma sagen: na del pes te kerel savoro tel jekh thuv (Man kann nicht alles „unter einem Rauch“ machen, d. h. während der Rauch eines einzigen Feuers aufsteigt). So na del o ďives, del o berš, so na del o berš, del o Del (Was nicht an einem Tage gegeben wird, wird in einem Jahr gegeben, was nicht in einem Jahr gegeben wird, wird von Gott gegeben – wobei das Wort Del manchmal für „Himmel“ und manchmal für „Zeit/Ewigkeit“ verwendet wird.) Es wäre angemessen, eine kurze Zusammenfassung zu schreiben, doch darf ich mich an den romano vakeriben (den Erzählungen der Roma) orientieren und ohne einen Schluss enden. Mi del amen o Del phundrado drom – Möge uns Gott einen offenen Weg geben.

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Literatur

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Kurth, Gérald: Identitäten zwischen Ethnos und Kosmos: Studien zur Literatur der Roma in Makedonien, Wiesbaden 2008. Lacková, Ilona: A false dawn. My life as a Gypsy woman in Slovakia. Recorded, translated from Romani and edited by Milena Hübschmannová. Translated from Czech by Car- leton Bulkin, Hertfordshire 1999. Laher, Ludwig: Herzfleischentartung, Innsbruck 2001. Laher, Ludwig (Hg.): Uns hat es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen, Grünbach 2004. Laher, Ludwig: Und nehmen was kommt, Innsbruck 2007. Lerch, Hans-Günter: Tschü lowi …/Kein Geld … Das Manische in Gießen, Dissertation, Gießen 1976, 1. Reprint-Auflage 2005. Mappes-Niediek, Norbert: Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt, Berlin 2012. Marushiakova, Elena/Popov, Vesselin: Gypsies (Roma) in Bulgaria, Frankfurt a. M. 1997. Matras, Yaron: Romani: A linguistic introduction, Cambridge 2002. Matras, Yaron: “I met lucky people”. The story of the Romani Gypsies, London 2014. Maximoff, Matéo: Les Ursitory, Paris 1946 (Deutschsprachige Ausgabe: Die Ursitory. Übersetzt von Walter Fabian, Zürich 1954). Mehr, Mariella: steinzeit, Bern 1981. Mehr, Mariella: Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen, Bern 1987. Mehr, Mariella: Nachrichten aus dem Exil. Nevipe andar o exilo. Übersetzung ins Romanes von Rajko Djurić, Klagenfurt/Celovec 1998. Mehr, Mariella: Das Sternbild des Wolfes, Klagenfurt/Celovec 2003. Mitterer, Felix: Der Boxer. Theaterstück. Frei nach dem Schicksal des Sinto-Boxers Johann „Rukeli“ Trollmann. Mit einem Nachwort von Marie-Luise Ramos-Farina, Innsbruck/ Wien 2015. Mungenast, Romedius (Hg.): Jenische Reminiszenzen. Geschichte(n), Gedichte, Landeck 2001 (Band 3 der Reihe Am Herzen Europas). Nikolić, Jovan: Weißer Rabe schwarzes Lamm. „Ein Buch für die Stadt“. Kurzprosa. Aus dem Serbokroatischen von Bärbel Schulte. Vorwort von Martin Oehlen und Insa Wil- ke, Klagenfurt/Celovec 2011 (Sonderausgabe im Rahmen der Aktion Ein Buch für die Stadt, Initiatoren: Literaturhaus Köln, Tageszeitung Kölner Stadtanzeiger).

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Nikolić, Mišo: ... und dann zogen wir weiter. Lebenslinien einer Roma-Familie. Mit einem Vorwort von Mariella Mehr, Klagenfurt/Celovec 1997. Nitsche, Gerald (Hg.): Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch, Innsbruck 1990. Nitsche, Gerald K./Gitterle, Bruno (Hg.): Neue österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch, Innsbruck/Wien 2008. Österreichisches Volksgruppenzentrum (Hg.): Roma & Sinti. Österreichische Volksgrup- penhandbücher, Bd. 3, Klagenfurt/Celovec o. J. Pettan, Svanibor: Rom Musicians in Kosovo. Interaction and Creativity (= Gypsy Folk Mu- sic of Europe 5), Budapest 2002. Phonogrammarchiv, Österreichische Akademie der Wissenschaften: Online-Katalog, http://catalog.pha.oeaw.ac.at/. Reichhold, Josef H.: Warum die Menschen sesshaft wurden, Frankfurt a. M. 2008. Remmel, Franz: Botschaft und Illusion. Zeugnisse der Literatur der rumänischen Roma, Reşiţa 2007. Reuter, Frank: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“, Göttingen 2014. Rieger, Barbara: Roma und Sinti in Österreich nach 1945. Die Ausgrenzung einer Minder- heit als gesellschaftlicher Prozeß, Frankfurt a. M./Wien/New York 2003. Roma-Service (Hg.): Mri Historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma. Eine Zeitzeugen-Dokumentation von Roma-Service. Gesamtedition (15 Broschüren mit DVDs), dROMa Sonderreihe SR 01-SR15, Kleinbachselten 2009. Roma-Service (Hg.): Amari Historija. Burgenländer erzählen. Eine Zeitzeugen-Dokumen- tation von Roma-Service (Buch und DVD), Kleinbachselten 2011. Romani-Projekt:­ http://romaniprojekt.unigraz.at/autroma­ index.de.html.­ Romano Centro (Hg.): Antiziganismus in Österreich. Dokumentation rassistischer Vorfäl- le gegen Roma/Romnja und Sinti/Sintize. Information für Opfer und ZeugInnen von Rassismus. Romano Centro, Sonderheft Nr. 78, Dezember 2013. Rombase. Didactically edited information on Roma, http://romani.uni-graz.at/rombase/. Roner, Marlene: aTerritorial. Learning from Gypsies, Diplomarbeit, Universität Innsbruck 2010. Sadílková, Helena: La littérature romani en République Tchèque: sources et état actuel, in: études tsiganes, 36 (2009), S. 180–203.

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Sadílková, Helena: Slovo úvodem (Foreword), in: Jana Kramářová/Helena Sadílková (eds.): Čalo voďi – Sytá duše. Antologie prozaických textů romských autorů z ČR (Full soul. Anthology of prosaic texts by Romani authors from CR), Brno 2007, p. 11–16. Sarközi, Rudolf: Roma. Österreichische Volksgruppe. Von der Verfolgung bis zur Anerken- nung, Klagenfurt/Celovec 2008. Sarközi, Rudolf: Vom Rand in die Mitte. 20 Jahre Kulturverein österreichischer Roma, Wien 2012. Schauer-Glatz, Sieglinde (vgl. in dieser Bibliographie auch Glatz, Sieglinde): Im Lager der Reichenau, in: Horst Schreiber: „Aus zwei Leben wird ein Leben sozusagen“. Die je- nische Dichterin Sieglinde Schauer-Glatz, in: Monika Jarosch u. a. (Hg.): Gaismair- Jahrbuch 2015. Gegenstimmen, Innsbruck 2014, S. 183; Behindert, ebd. S. 187; Novus tibern, ebd. S. 191. Schleich, Heidi: Das Jenische in Tirol, Landeck 2001. Schneller, Erich: Zigeuner, Roma, Menschen. Lebensberichte burgenländischer Roma, Oberwart 2006. Schneller, Erich/Klinger, Annemarie (Hg.): Das Attentat von Oberwart – Terror, Schock und Wendepunkt, Oberwart 2015. Schönett, Simone: Im Moos, Weitra (o. J.) Schönett, Simone: re:mondo, Klagenfurt 2010. Schönett, Simone/Schwinger, Harald: Zala. Drama in sieben Bildern. Drama v sedmih sli- kah, Klagenfurt/Celovec 2011. Schrammel-Leber, Barbara/Tiefenbacher, Barbara (ed.): Romani V. Papers from the Annual Meeting of the Gypsy Lore Society. Grazer Romani Publikationen 2, Graz 2013. Schrammel-Leber, Barbara: Romani, in: M. Krifka u. a. (Hg.): Das mehrsprachige Klassen- zimmer, Wiesbaden 2014, S. 307–320. Schreiber, Horst: Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck 2010. Schreiber, Horst: „Aus zwei Leben wird ein Leben sozusagen“. Die jenische Dichterin ­Sieglinde Schauer-Glatz, in: Monika Jarosch u. a. (Hg.): Gaismair-Jahrbuch 2015. Ge- genstimmen, Innsbruck 2014, S. 182–192. Schreiber, Horst u. a. (Hg.): Gaismair-Jahrbuch 2016. Zwischentöne (Schwerpunkt: ­BarackenbewohnerInnen, Lagerinsassen und Jenische), Innsbruck 2015, S. 98–127. Schreiber, Horst: Restitution von Würde. Kindheit und Gewalt in Heimen der Stadt Inns- bruck, Innsbruck 2015.

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376 Literaturhinweise

dated and expanded Edition. Edited and translated by Gilya Gerda Schmidt. Foreword by Michael Berenbaum, Survivor of the Shoah Visual History Foundation Washington, Tuscaloosa/London 1998). Thurner, Erika: Sinti- und Romafrauen: Die Ambivalenz des Ethnischen. Ethnizität als Konstituierungs- und Abgrenzungspotential, in: WIDEE/Wissenschafterinnen in der Europäischen Ethnologie (Hg.): Nahe Fremde, fremde Nähe. Frauen forschen zu Eth- nos, Kultur, Geschlecht, Wien 1993, S. 317–345. Thurner, Erika: Der NS-Holocaust und die Folgewirkungen auf die Roma-Community, in: Johann Egger/Georg Kabbe (Hg.): Aspekte der Rechtsgeschichte und der Gesellschafts- politik in Tirol, Österreich und weltweit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Kurt Eb- ert, Veliko Tậrnovo 2013, S. 397–412. Tiefenbacher, Barbara: „Es springt so hin und her“. Verhandlungen um ethnische Zuge- hörigkeiten in post-/migrantischen Romani Communitys in Österreich. Dissertation, Universität Wien 2014. Toninato, Paola: Romani Writing: Literacy, Literature and Identity Politics, New York/ London 2014. Wilhelm, Deike: Wir wollen sprechen: Selbstdarstellungen in der Literatur der Sinti und Roma, Saarbrücken 2008. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeuenerfrage“, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 33, Hamburg 1996. Zwicker, Marianne: Journeys into Memory: Romani Identity and the Holocaust in Auto- biographical Writing by German and Austrian Romanies, The University of Edinburgh 2009, https://www.era.lib.ed.ac.uk/bitstream/1842/6201/1/Zwicker2010.pdf.

377

AutorInnen und Herausgeberinnen

Eder-Jordan, Beate: Universitätsassistentin für Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Sprachen und Literaturen der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Studium Vergleichende Literaturwissenschaft und Spanisch in Innsbruck und Granada. Forschungsschwerpunkte: Literatur, Kunst und Kultur von Minderheiten, Romani und Traveller Studies, Eigen- und Fremdbilder, kulturelles Gedächtnis, Minderheiten im ­Nationalsozialismus.

Fennesz-Juhasz, Christiane: Dr. phil., Ethnomusikologin und Kustodin für Musik- und Romani-Bestände am Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wis- senschaften. Diverse Publikationen unter anderem im Bereich des audiovisuellen Archiv- wesens sowie insbesondere zur Musik und Oraltradition von Roma und Sinti.

Gauß, Karl-Markus: geb. 1954 in Salzburg, Schriftsteller, Herausgeber und Kritiker der Zeitschrift Literatur und Kritik. In seinen Essays, Reportagen und Reisebüchern setzt er sich vielfach mit kleinen Nationen Europas, Ethnien und Minderheiten auseinander. Seine literarischen Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mitteleuropa-Preis, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur.

Grosinger-Spiss, Elisabeth Maria: Mag. Dr., geb. 1959; Studium der Pädagogik und Doktoratsstudium Politikwissenschaft; MSc in Psychotherapie an der Donau-Univer­ sität-Krems; tätig als Referentin im Dekanat der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck und Psychotherapeutin in freier Praxis sowie dipl. Kinder-, Jugend- und Erziehungsberaterin. Diverse Forschungsarbeiten in Ungarn, Polen, Deutsch­ land und Österreich. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Würdi- gungspreis des BfWVK. Sie ist Trägerin des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissen- schaft und Kunst.

379 AutorInnen und Herausgeberinnen

Halwachs, Dieter W.: Soziolinguist mit Schwerpunkt Sprachpolitik und Minderheiten; Leiter des Forschungsbereichs Plurilingualismus am treffpunkt sprachen der Universität Graz; Koordinator diverser Projekte zu Sprache und Kultur der Roma; AT-Vertreter im Expertenko­mi­tee der Charta für Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats.

Heinschink, Mozes F.: Prof., beschäftigt sich seit 1960 mit Sprache und Kultur von Roma und Sinti und hat diesbezüglich zahlreiche Feldforschungen in vielen europä- ischen Ländern durchgeführt. Seit 1990 hat er sich an einschlägigen österreichischen Forschungsprojekten beteiligt. Er arbeitet außerdem als Romani-Übersetzer und war als solcher und als politischer Beobachter auch für internationale Vereinigungen und NGOs tätig. Diverse Publikationen zur Sprache und Kultur von Roma und Sinti.

Hemetek, Ursula: Ao. Univ. Prof. Dr., Leiterin des Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 1987 Dr. phil. Musikwissenschaft, 2001 Habilitation an der Universität Wien (Ethnomusikologie). Forschungsschwerpunkte: Musik von Minderheiten in Österreich, insbesondere Roma, burgenländische Kroaten und Bosnier sowie MigrantInnen in Wien. Kulturarbeit im Minderheitenbereich, zahlreiche Publikationen im Bereich Ethnomusikologie.

Hilpold, Peter: Prof. Dr., lehrt Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffent- liches Recht an der Universität Innsbruck. Er lehrt außerdem an der Universität Padua. Er ist Autor von über 200 Publikationen in den erwähnten Fachbereichen und ständiger Mitarbeiter verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften sowie Herausgeber von Fach- buchreihen. Er ist Mitherausgeber der Europa Ethnica und Träger zahlreicher wissen- schaftlicher Auszeichnungen.

Hübschmannová, Milena: (1933 Prag – 2005 Kameeldrift bei Pretoria, Südafrika), tschechische Indologin und Romistin, eine der international angesehensten ExpertInnen ihres Faches. 1991 gründete sie am Institut für Indologie der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag das Fach Romistik. Sie führte Feldforschungen in mehreren Ländern durch, hinterließ ein umfangreiches Audioarchiv und war 1994 Mitbegründerin und leitende Redakteurin der Zeitschrift Romano džaniben. Hübschmannová setzte sich Zeit ihres Lebens für eine Verbesserung der Situation der Roma ein. Hübschmannová ist

380 AutorInnen und Herausgeberinnen

Autorin einer großen Zahl bahnbrechender Publikationen auf dem Gebiet der Romistik. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Würdigungen.

Hussl, Elisabeth: Studium der Politikwissenschaft in Innsbruck und Warschau, Dip- lomarbeit zu Roma-Politiken in Polen, Ausbildung zur DaF/DaZ-Trainerin, Mitheraus- geberin des Michael-Gaismair-Jahrbuchs, Mitinitiatorin der Bettellobby Tirol, Mitarbeit bei kultur- und sozialpolitischen sowie rassismuskritischen Projekten.

Kössl, Ricarda: DI, geb. 1971 in Zell am Ziller, absolvierte nach der Matura das Kol- leg für Bautechnik, Restaurierung und Ortsbildpflege in Krems, anschließend Studium der Architektur an der Universität Innsbruck. Diplomprüfung mit Auszeichnung bei DI Reinhardt Honold, Dr. Beate Eder-Jordan und Prof. Bart Lotsma zum Thema: „Roma und Sinti in Barcelona – zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum“. Im Rahmen der Recherchen längerer Aufenthalt in Barcelona, Zusammenarbeit mit Roma und Sinti, So- zialarbeitern und Städteplanern. Mitinitiatorin der Bettellobby Tirol.

Kovácsházy, Cécile: Dozentin für Komparatistik (Maître de conférences Universität Limoges, Frankreich). Hat die erste Tagung zu Roma-Literaturen organisiert (Études Tsiganes Nr. 36, 37 und 43). Publikationen (auf Deutsch, Englisch und Französisch) zu Roma-Literaturen, zum Doppelgänger im Roman des 20. Jahrhunderts, zur mitteleuro- päischen Literatur, zur Prekarität in der zeitgenössischen Literatur und im Film sowie zur Figur der Dienstbotin in der modernen Fiktion.

Lucke, Alois: geb. 1956 in Innsbruck als Kind jenischer Eltern. Verbrachte als Kind ca. fünf Jahre in verschiedenen Heimen und wurde Opfer von Misshandlungen. Ehe- schließung, vier Kinder. Namensänderung zum Schutz der Kinder. Schlosserlehre, Kraft- werkstechniker, Hausmeister, Schulwart, Toningenieur bei Al Brisco Montreal, Abend- gymnasium Adolf-Pichler-Platz Innsbruck, Musiker, Komponist, Autor. Gründung und Vorstandsmitglied des Jenischen Kulturverbandes Österreich.

Nitsche, Gerald Kurdoğlu: geb. 1941, Wien; Gymnasium: Paulinum/Schwaz; Uni- versitäten: Innsbruck, Wien, Akademie für bildende Kunst, Wien, Den Haag (Stipendi- um), 1967 Diplom für Malerei, Lehramtsprüfung: Maler, Zeichner, Schreiber, Verleger:

381 AutorInnen und Herausgeberinnen

EYE, Literatur der Wenigerheiten; Auszeichnungen: Ehrenzeichen der Stadt Landeck für Kunst u. Kultur, Dr. Reinhold Stecher – Preis, 2007 Bundes-Ehrenzeichen für Kultur.

Roner-Trojer, Marlene: geb. 1974 in Bozen; Architekturstudium in Innsbruck und Wien. Mitarbeit in diversen Architekturbüros in Nord- und Südtirol 2000–2010. Diplom am Studio 1 der Technischen Universität Innsbruck bei Prof. Stefano de Martino 2010. 2011 Staatsprüfung in Venedig; seit 2010 als Architektin in Bozen tätig.

Sadílková, Helena: arbeitet am Seminar für Romani Studies an der Karls-Universität in Prag; seit 2011 Chefredakteurin (gemeinsam mit Pavel Kubaník) von Romano džaniben, des tschechischen Romani Studies Journals; als Mitglied des Koordinations- und For- schungsteams in soziolinguistischen Projekten zur Situation des Romani tätig.

Sarközi, Rudolf: Prof., 1944 im nationalsozialistischen „Zigeunerlager Lackenbach“ als Sohn einer burgenländischen Romni und eines Wiener Sinto geboren. Seit 1995 Vorsit- zender des Volksgruppenbeirates der Gruppe der Roma im Bundeskanzleramt sowie Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma. 2001 zum Bezirksrat im 19. Wiener Gemeindebezirk gewählt und damit erster in Österreich in ein politisches Amt gewählter Rom. Erfolgreiches Engagement für die Anerkennung der österreichischen Roma als Volksgruppe 1993. 2002 Verleihung des Berufstitels Professor durch den Bundespräsi- denten.

Schauer-Glatz, Sieglinde: geb. 1948 in Tirol als Kind jenischer Eltern. Kam im Auftrag der Fürsorge mit zwei Monaten zu Pflegeeltern. Ausbildung zur Stationsgehilfin im LKH Innsbruck. 15 Jahre in der Alten- und Familienhilfe tätig. Theaterdarstellerin. Mitbegrün- derin der integrativen Volks- und Hauptschule für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Österreich. Vorstandsmitglied der Initiative Minderheiten. Schreibt Lyrik, Mundart­ gedichte, Theaterstücke und Märchen. Trägerin der Verdienstmedaille des Landes Tirol.

Schleich, Heidi: geb. 1965; Logopädieausbildung mit Diplom in Innsbruck, Studium (Sprachwissenschaft und gewählte Fächer) an der Universität Innsbruck, Diplomarbeit: „Die jenische Sprache in Tirol“. Berufstätigkeiten als Tutorin, Lehrbeauftragte (zu logo- pädischen Themen) an der Universität Innsbruck, Kellnerin, Almhirtin (Kielebergalm im Pitztal), Mitarbeiterin in Kunst-, Kultur- und Frauenprojekten und in Projekten, die

382 AutorInnen und Herausgeberinnen

sich für Minderheiten und Flüchtlinge engagieren. Sozialpädagogische Mitarbeiterin im Ho&Ruck in Innsbruck. Publikationen u. a. in der Tiroler Straßenzeitung 20er, „Das Jenische in Tirol“, EYE-Verlag Landeck, 2001 (2003).

Schrammel-Leber, Barbara: Studium der Sprachwissenschaft in Graz und Manches- ter (England); langjährige Mitarbeit an Forschungsprojekten zur Sprache und Kultur der Roma. Seit 2009 Obfrau des Vereins [spi:k] – Sprache, Identität, Kultur. Verein zur ­Dokumentation von Sprache und Kultur regionaler Minderheiten. Besonderes Interes- se an Mehrsprachigkeit und gesellschaftlichen Herausforderungen in Bezug auf Mehr­ sprachigkeit.

Spiss, Roman: Mag. DDr., MSc, geb. 1964; Studium der Geschichte, Geographie und Politik in Innsbruck und Klagenfurt; Lehrer am BRG Innsbruck, Adolf-Pichler-Platz für Geographie und Wirtschaftskunde, Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung, In- formatik, Ethik und Maschinschreiben; Akademischer Politischer Bildner; umfangreiche Publikations-, Ausstellungs- und Vortragstätigkeit vor allem zur Wirtschafts- und Sozial- geschichte des Tiroler Oberlands.

Stöger, Peter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., lehrt Erziehungswissenschaften an der Uni- versität Innsbruck, Ehrenmitglied des Arbeitskreises für Psychoanalyse von Buenos Aires und Ehrendoktor der Universität Drohobytsch; Konsul von Burkina Faso in Tirol. Buchpublikationen (u.a.) über Martin Buber, Tirol und das Fremde („Eingegrenzt und ausgegrenzt“), „Wo liegt Afrika“. Gastvorlesungen u. a. in Mexiko, Faro, Porto, Buda- pest, Bangor, Klagenfurt, Bahir Dar, Bobo Dioulaso.

Thurner, Erika: Ao. Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, seit 1980 zeithistorische und politikwissenschaftliche Forschung zu Roma und anderen Minderheiten im 20. Jh. sowie Parteien-, Nations- und Feministische Forschung; seit 1987 Lehre an den Universitäten Linz, Wien, Innsbruck und Salzburg. Zahlreiche Publikationen wurden mit wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet (z. B. Bruno-Kreisky-Preise für das Politische Buch 2000: „Nationale Identität und Ge- schlecht“; 2008 gemeinsam mit Alexandra Weiss: „Johanna Dohnal. Innensichten öster- reichischer Frauenpolitiken“; American Library Award 2000 für: „Nationalsocialism and Gypsies in Austria“). Ab den 1980er-Jahren ehrenamtliche Aktivitäten zur Opferaner-

383 AutorInnen und Herausgeberinnen

kennung der Roma/Sinti – als Privatperson bzw. als Mitglied der Österreichischen Liga für Menschenrechte bzw. der Gesellschaft für Politische Aufklärung, Innsbruck/Wien.

384 „… in den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit so vielen ­Aspekten der Geschichte, Kultur, Sprache der Roma ein Niveau erreicht, das vor zwei, drei Jahrzehnten noch kaum vorstellbar war. … den akademischen Elfenbeinturm hat es, was die Roma-Studien betrifft, nie gegeben, denn wer immer über Roma forscht, tut es auch, um auf seine Weise das fatale und gefährliche Bild, das sich die Öffentlichkeit von den Roma so lange gemacht hat, zu korrigieren, und Wissen zu verbreiten, das in die Gesellschaft hinauswirkt.“ (Karl-Markus Gauß, Vorwort) Die Herausgeberinnen bieten einen breiten Überblick über die gesellschaftliche Po- sition von Roma, Jenischen und Travellers in Österreich und in einigen anderen eu- ropäischen Staaten. Lebensverhältnisse und Lebenszusammenhänge, Sprachen und kulturelle Produktionen sind ebenso Thema wie engagiertes Aufbegehren und orga- nisiertes Sichtbarwerden dieser Minderheiten („Wenigerheiten“ mit den Worten von Ceija Stojka). Namhafte WissenschafterInnen aus unterschiedlichen Disziplinen und AktivistInnen haben sich zu diesem Zweck vernetzt, beteiligten sich an Workshops, Lehrveranstaltungen und Tagungen an der Universität Innsbruck und stellen ihre zum Teil jahrzehntelangen Erfahrungen und Forschungsergebnisse für diesen Sammelband zur Verfügung.