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Tischrede von Bundespräsident Horst Köhler beim Mittagessen zu Ehren von Herrn Professor Dr. Hans Tietmeyer in Schloss Bellevue am 7. September 2006

Das Zentrum von „Euroland“ liegt heute nicht in Frankfurt, son- dern in Schloss Bellevue. Ihnen zu Ehren, lieber Herr Professor Tiet- meyer, sind die geistigen Väter, Taufpaten und jetzigen Herren des heute hier versammelt, um Ihren 75. Geburtstag zu feiern. Meine Frau und ich freuen uns von ganzem Herzen darüber. Nochmals herz- lich willkommen!

Wer Sie näher kennt, weiß, dass Sie Geburtstagsfeierlichkeiten keine besondere Bedeutung beimessen. Das hat mit westfälischer Be- scheidenheit zu tun und wohl auch mit Ihrer Herkunft aus einem tief- katholischen Elternhaus. So soll Ihr Vater öfter gesagt haben: „Auch jede Kuh hat einen Geburtstag.“ Aber wie dem auch sei: Wir verstehen dieses Ehrenessen vor allem als ein Zeichen der Dankbarkeit für einen bedeutenden Diener unseres Staates.

Sie, lieber Herr Tietmeyer, gehören zu dem kleinen Kreis derer, die über Jahrzehnte die Wirtschafts- und Währungspolitik Deutschlands mitgestaltet, ja mitgeprägt haben. Ihr Name steht für die prinzipien- treue Verteidigung der Grundwerte der Sozialen Marktwirtschaft und für die erfolgreiche Übertragung des bewährten Modells der Deutschen Bundesbank auf die europäische Wirtschafts- und Währungsunion.

Dieser Weg ist Ihnen nicht an der Wiege gesungen worden. Zwar hatte Ihr Vater als Gemeindebeamter im westfälischen Metelen eben- falls mit Geld und öffentlichen Finanzen zu tun. Im Hause Tietmeyer mit elf Kindern musste sparsam gewirtschaftet werden. Aber trotz die- ser prägenden Erfahrungen kamen Sie gewissermaßen erst im zweiten Anlauf zur Wirtschaftswissenschaft, nachdem Sie zunächst katholische

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Theologie studiert hatten. Beide Sphären, die Religion und die Ökono- mie, bestimmten auch Ihr weiteres Leben. So verglichen Sie in Ihrer Diplomarbeit die Ordnungsvorstellungen der katholischen Soziallehre mit denen der Neoliberalen. Ihre erste berufliche Anstellung fanden Sie als Geschäftsführer der bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk, dem Sie bis heute eng verbunden sind. Sie sind Gründungsmitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften. Und in einem lesens- werten Aufsatz über die „Ethik wirtschaftspolitischen Handelns“ stellten Sie fest, dass „ökonomische Gesetzmäßigkeiten und ethische Postula- te“ … „keine sich ausschließenden, sondern ergänzende Prinzipien“ sind. Das Gemeinwohl – so das wirtschaftspolitische Credo des Chris- ten Tietmeyer – „kann, ja muss … mit Hilfe von und nicht gegen öko- nomische Gesetzmäßigkeiten realisiert werden.“

In der sozialen Marktwirtschaft, wie sie von Ihrem Lehrer Alfred Müller-Armack, von Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Franz Böhm und konzipiert wurde, fanden Sie ein Wirtschaftsmodell, das Ihrer inneren Überzeugung zutiefst entsprach.

Als Sie in jungen Jahren im Bundesministerium für Wirtschaft ihre Karriere begannen, war es erfüllt von dem Geist der sozialen Markt- wirtschaft. Auch in der Tagespolitik waren die Grundprinzipien klar er- kennbar: Private Eigeninitiative, Chancengleichheit, Selbstverantwor- tung, Subsidiarität und Solidarität. Den Bürgern unseres Landes boten sich vielfältige Chancen für Aufstieg durch eigene Leistung. Ludwig Erhards Vision vom „Wohlstand für Alle“ faszinierte auch Sie. Dabei betonten Sie immer wieder zu Recht, dass das „Soziale“ und die Marktwirtschaft nicht als etwas Getrenntes oder Widersprüchliches ge- sehen werden dürfen, sondern als zwei Faktoren, die sich gegenseitig bedingen. Und Sie wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass man nur das verteilen kann, was zuvor erwirtschaftet wurde, und dass nicht nur der sozial handelt, der etwas verteilt, sondern auch derjenige, der dafür sorgt, dass es etwas zu verteilen gibt.

Es ist wohl so: Dieses Bewusstsein ist im Verlauf vieler Jahre schwächer geworden. Ich habe das einmal so ausgedrückt: Deutsch- land ist sich untreu geworden. Vor allem die „Verbreiterung des öffent- lichen Korridors“ mit fatalen Folgen für die öffentlichen Finanzen prägt das Bild bis heute. Umso erfreulicher ist es, dass Sie sich seit Ihrem offiziellen Eintritt in den Ruhestand vor sieben Jahren der Aufklärung über den Sinn und Wert der Sozialen Marktwirtschaft verschrieben ha- ben. Diese Arbeit an der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ist für unser Land sehr wichtig. Es ist gut, dass gerade Männer wie Sie sich in den Dienst dieser Aufgabe stellen.

Wer Ihre Vita kennt, konnte nicht überrascht sein von dieser Ent- scheidung. Sie sind eine Art ordnungspolitisches Gewissen für die Wirt- schafts- und Finanzpolitik unseres Landes. Auf europäischer und inter- nationaler Ebene haben Sie strukturelle Reformen bereits zu einer Zeit

Seite 3 von 5 gefordert, als noch längst nicht alle begriffen hatten, wie dringend die geboten waren und sind. Ich erinnere nur an Ihre Tätigkeit als Vorsit- zender der OECD-Arbeitsgruppe für Strukturanpassungspolitik.

Mehr als 40 Jahre lang dienten Sie unserem Land als Beamter und Staatssekretär, als Beauftragter des Bundeskanzlers für den Welt- wirtschaftsgipfel, als Berater bei der Wiedervereinigung, als Vizepräsi- dent und schließlich als Präsident der Deutschen Bundesbank.

Mehr als 40 Jahre Erfahrung in Wirtschafts- und Währungspolitik, das sagt sich so schnell dahin. Es ist aber immer wieder beeindru- ckend, wenn man sich vergegenwärtigt, an welchen bedeutenden Wei- chenstellungen Sie mitgewirkt haben. Ich nenne nur einige davon:

Der Werner-Plan Anfang der 70er Jahre, an dem Sie mitarbeite- ten. Auch wenn die Zeit dafür noch nicht reif war – in diesem kühnen Entwurf für eine europäische Währungsunion wurden wichtige Elemen- te des heutigen Eurosystems bereits vorgezeichnet.

Anfang der 80er Jahre waren Sie Mitverfasser des geradezu le- gendär gewordenen Lambsdorff-Papiers. Darin wurde eine Rückbesin- nung auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gefordert.

In den Jahren danach gelang es, die Neuverschuldung des Staa- tes wieder ein Stück zurückzuführen, und die von initiierte große dreistufige Steuerreform wurde auf den Weg gebracht. Das war gut für die alte Bundesrepublik, und es war erst recht ein Se- gen, als es dann galt, die Lasten der deutschen Einheit zu schultern.

Als Sonderberater des Bundeskanzlers hatten Sie entscheidenden Anteil, den Weg für die Verwirklichung der deutsch-deutschen Wäh- rungsunion zu bereiten. Die rasche Einführung der D-Mark in der DDR machte den Prozess der Vereinigung unumkehrbar. Dabei haben Sie mit Ihren Bedenken hinsichtlich des Umtauschsatzes und der Übertra- gung des überbordenden Rechts- und Regulierungssystems der alten Bundesrepublik 1 zu 1 auf die neuen Länder nicht hinter dem Berg gehalten.

Ihre nächste große Aufgabe wartete auf Sie, nachdem Sie in die zurückgekehrt waren: Die Mitwirkung an der Architektur der europäischen Währungsunion. Es war für das Gelingen dieses einzigartigen ökonomischen und politischen Projekts von we- sentlicher Bedeutung, dass Sie als eine Art Außenminister der Deut- schen Bundesbank an den Verhandlungen über den Maastrichter Ver- trag und an seiner getreulichen Umsetzung maßgeblich beteiligt waren.

Dass die deutsche Bevölkerung den Euro mehr und mehr als Ex- port der Stabilitätskultur der Deutschen Bundesbank und nicht als Ver- lust der D-Mark erlebt und verstanden hat, das, lieber Herr Tietmeyer, ist nicht zuletzt auch Ihrem Einsatz und Ihrer Fachkompetenz zu ver- danken. Sie haben führend an der Schaffung der modernsten Wäh-

Seite 4 von 5 rungsverfassung der Welt mitgewirkt, wie es der erste Präsident der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, treffend ausdrückte.

Sie waren sich immer bewusst, dass der Erfolg aus dem Bohren dicker Bretter erwächst. Ihre Arbeitsmoral, Ihre sprichwörtliche preußi- sche Disziplin und Ihre Bereitschaft, sich in neue Sachverhalte einzuar- beiten, gelten an den früheren Stätten Ihres Wirkens noch heute als legendär. Sie genossen hohen Respekt, aber Ihre präzisen Fragen wa- ren auch gefürchtet.

Neben ihrer Fachkompetenz ist auch Ihre Verbundenheit zu den Mitarbeitern vielerorts noch in angenehmer Erinnerung. So werden Ihre persönlichen Zeilen auf den von Ihrer Frau so liebevoll gestalteten Blumenkarten von den Empfängern als Zeichen besonderer Wertschät- zung gehütet.

Ich erinnere mich gerne an eine unserer ersten bewussten Be- gegnungen im Jahre 1976: Eines Nachts saß ich als junger, frisch ge- backener Beamter in meinem Büro im Wirtschaftsministerium und brü- tete über einem Text für das Zukunftsinvestitionsprogramm von Bun- deskanzler . Plötzlich – es mag so gegen zwei Uhr nachts gewesen sein – öffnete sich die Tür. Herein kam ein Mann, der mich fragte, wer ich sei und was ich um diese Zeit hier treibe. Ich stell- te mich vor und fragte nun meinerseits, wer mich zu so später Stunde mit einem Besuch beehrte. Die Antwort: „Tietmeyer“. Ich war natürlich beeindruckt und es folgte eine lange Zeit guter, manchmal auch stür- mischer Zusammenarbeit. Ich habe von Hans Tietmeyer viel gelernt und bin dankbar dafür.

In Ihrem Leben haben Sie auch die Schattenseiten des erfolgrei- chen öffentlichen Amtes kennen gelernt. Im September 1988 entgin- gen Sie, lieber Herr Tietmeyer, nur knapp einem terroristischen Mord- anschlag. Sie haben nie viel Aufhebens um dieses Attentat gemacht und sind danach sehr rasch wieder zu Ihrer Arbeit zurückgekehrt. Ich glaube, dass es vor allem Ihr christlicher Glaube war, der Ihnen die Kraft gab, die Folgen dieses brutalen und sinnlosen Angriffs zu bewälti- gen.

Auf Ihrem beeindruckenden Lebensweg hatten Sie Förderer, Freunde und Ratgeber. Ich freue mich, dass viele davon heute mit am Tisch sitzen. Vor allem, dass Bundeskanzler , Bundesfi- nanzminister und der Präsident der Europäischen Zentral- bank, Jean-Claude Trichet, unter uns sind, spricht für sich. Es war die Zusammenarbeit mit ihnen, die so große Werke hervorgebracht hat.

Jeder der Sie kennt, weiß auch um Ihre Heimatverbundenheit. Sie selber beschreiben sich als „westfälische Eiche“, die einiges aushal- ten kann. Die von Mitbürgern Ihrer Heimatstadt Metelen gepflanzte Eiche vor der Deutschen Bundesbank hat schon einige trockene Som-

Seite 5 von 5 mer überstanden und erfreut sich jüngsten Presseberichten zu Folge eines kräftigen Wuchses.

Dass auch die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie Ihnen ein besonderes Anliegen ist, bewiesen Sie mit Ihrem Engagement für die Bundesstiftung Umwelt, zu deren Gründungsvätern Sie gehören und deren Kuratoriumsvorsitzender Sie lange Zeit waren.

Mit Ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch „Herausforderung Euro“ haben Sie viele Leser beeindruckt. „Mehr davon!“ bat die Frank- furter Allgemeine Sonntagszeitung und verglich die Lektüre mit einem Glas guten Weines. Da kann ich nur hoffen, dass die Weine, die unser Kellermeister für den heutigen Tag ausgesucht hat, den Vergleich aus- halten. Und nun bitte ich Sie, mit mir das Glas zu erheben: Hans Tiet- meyer - ad multos annos!