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Zum 80. Geburtstag von Ein Westfale im Dienst Hans Tietmeyer von Politik, Wirtschaft, Finanz und Kirche

Andreas Sohn

Wer von Münster aus gen Nordwesten, 2011 steht der achtzigste Geburtstag von also Richtung Gronau, mit dem Auto oder Hans Tietmeyer an. Eine umfassende dem dort so beliebten Fahrrad fährt, Würdigung seines breiten Wirkens in erreicht den beschaulichen Ort Metelen Staat und Gesellschaft ist indes nicht an- mit einigen Tausend Einwohnern. Die- gestrebt. Hier sollen vielmehr einige ser liegt nur zwanzig Kilometer von wichtige Lebensstationen und Wirkungs- der deutsch-niederländischen Grenze ent- kreise, Grundlagen und Leitlinien seines fernt, hinter der sich gleich auf der ande- Handelns in Erinnerung gerufen werden ren Seite die Stadt Enschede befindet. Das (siehe auch meinen Beitrag in Laien ge- Ackerbürgerhaus im vom roten Back- stalten Kirche. Diskurse – Entwicklungen – steinbau geprägten Metelen ist nach Profile, herausgegeben von Michaela einem berühmten Sohn des Ortes be- Sohn-Kronthaler und Rudolf K. Höfer, nannt: nach Hans Tietmeyer. Noch immer Innsbruck 2009, S. 423–433; Zitate sind in ist man im tiefen Münsterland mächtig den nachfolgenden Zeilen belegt, wenn stolz auf ihn, der es weit gebracht hat: sie nicht schon in diesem Beitrag ange- bis zum Bundesbankpräsidenten und zu führt sind). einem der führenden Finanzexperten in der Welt. Es gleicht einer Selbstverständ- Frühe Stationen lichkeit, dass er Ehrenbürger von Metelen Aus einer kinderreichen Familie in be- wurde. scheidenen Verhältnissen stammt Hans Die Beziehung ist keinesfalls einseitig. Tietmeyer. Sein Vater Bernhard, ein Auch Hans Tietmeyer selbst hält viel auf Gemeinderentmann, und seine Mutter seine westfälische Herkunft. Seine Fami- Helene hatten elf Kinder, acht Jungen lie ist in Metelen und im Münsterland und drei Mädchen. Im nahen Münster stark verwurzelt. Mehr noch: Er ist in besuchte der aufgeweckte, eifrige Schü- seinem politischen und gesellschaftlichen ler das traditionsreiche Gymnasium Pau- Wirken nicht begreifbar, wenn seine linum und legte dort das Abitur ab. westfälische Bodenständigkeit und Hei- Angesichts dessen, dass im damaligen matverbundenheit ausgeklammert wer- Münsterland Christsein gewissermaßen den. Wer Hans Tietmeyer, der sich selbst mit der Muttermilch aufgesogen wurde, immer wieder als „westfälische Eiche“ und des in der Familie gelebten Glaubens bezeichnet hat, verstehen will, muss ihn (zwei Pfarrer sollten aus ihr hervorgehen) von hier, von Metelen und dem Münster- überrascht es nicht, dass Hans Tietmeyer land aus, in den Blick nehmen – und zunächst drei Semester katholische Theo- nicht von Bonn oder Berlin, Frankfurt logie studierte (1952 und 1953). Ein Leben am Main oder Brüssel. lang sollte er dieser zwar verbunden blei- Dies soll im Folgenden geschehen: aus ben, doch zog es ihn dann zu den Wirt- gebotenem Anlass, denn am 18. August schafts- und Sozialwissenschaften. Müns-

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ter, Bonn und besonders Köln waren das Leder ins Netz kanoniert.“ Aber der seine Studienorte. Der Titel seiner Arbeit „Goalgetter“ blieb liegen. Der Kommen- „Der Ordo-Begriff in der katholischen tator fuhr fort: „Offenbar ist dieser heftig Soziallehre“, mit der er 1958 den akade- mit dem Kopf gegen die hintere Netz- mischen Grad des Diplom-Volkswirtes stange geschlagen.“ Alles verlief glück- an der Universität erlangte, weist bereits licherweise glimpflich; die Mannschaft darauf hin, dass in seinem Denken Theo- des wackeren Westfalen siegte dank logie und Wirtschafts- und Sozialwis- seines Tores mit 3:2. Der Sport verhalf senschaften eng miteinander verbunden ihm mit zu eiserner Disziplin und einem sind. Die 1960 abgeschlossene Disser- ausstrahlenden Teamgeist. tation legte „Die soziale Lage der Studie- renden an den Ingenieurschulen in der Politik und Bundesbank Bundesrepublik und Berlin-West und die Als Hans Tietmeyer 1959 zum ersten Förderungsmaßnahmen der öffentlichen hauptamtlichen Geschäftsführer des Hand“ dar. Cusanuswerkes berufen wurde, trat er Wegweisend für seinen Lebensweg an die Seite des Leiters Bernhard Hanss- wurde die 1956 errichtete Studienstiftung ler, der als charismatischer Priester aus Cusanuswerk, mit welcher die deutschen der Diözese Rottenburg (damals noch Bischöfe dazu beitragen wollten, eine ka- ohne den Zusatz Stuttgart) den Stu- tholische Funktionselite für verantwor- dentennachwuchs zu begeistern wusste tungsvolle Aufgaben und Herausforde- und später als Geistlicher Direktor und rungen in der Gesellschaft heranzubil- Bischöflicher Assistent des Zentralkomi- den. Er wurde in den Kreis der Stipendia- tees der deutschen Katholiken noch eine ten aufgenommen. Später sagte er über größere gesellschaftliche Ausstrahlung die Förderung im Cusanuswerk: „Der Ge- gewinnen sollte. Von der Hochbegab- winn bestand und besteht für mich eher tenförderung wechselte Tietmeyer 1962 darin, dass ich auf den Ferienakademien ins Wirtschaftsministerium und erlebte und in der Hochschulgruppe in vielen den Ausklang der Kanzlerschaft von Gesprächen und auch Auseinanderset- Konrad Adenauer, zu dessen Lebens- zungen dazugelernt und eine über den werk er bewundernd aufschaute. Als Fachbereich hinausgehende Sicht der sich ein Umbruch im Cusanuswerk (ab Dinge und Probleme gewonnen habe. 1966 Aufnahme von Frauen, neue Mit- Durchaus auch die Einsicht: Ich weiß, wirkungsmöglichkeiten für die Geför- dass ich nichts weiß.“ Sportlich konnte derten) vollzog und die Ära Hanssler sich der begeisterte Tischtennisspieler ihr Ende fand, sprang er hilfsbereit ein (in der Mannschaft des erstklassigen und und leitete kommissarisch vom 1. April ruhmreichen TSV Metelen) im Cusanus- 1970 bis zum 31. Januar 1971 die bischöf- werk weiter entfalten. Stipendiaten der liche Stiftung. Im Wirtschaftsministe- damaligen Zeit wussten zu berichten, rium arbeitete der westfälische Beamte dass er halb rechts in der Fußballmann- hingebungsvoll und verlässlich – und schaft spielte. Auf einer Ferienakademie lange, zuweilen sogar bis nach Mitter- in der Nähe von Regensburg kam es ein- nacht. mal zu einem Fußballspiel, das der Nach- Eine Zäsur in seinem Leben ergab welt dank der Schilderung eines Korres- sich 1982. Als Abteilungsleiter schrieb er pondenten überliefert ist: „… Tor, Tor, eine Stellungnahme zur Wirtschaftslage Tor, Tooor! Tietmeyer hat den Ball mit mit Massenarbeitslosigkeit und steigen- dem Kopf noch einmal erwischt und mit der Verschuldung. Daraus wurde in den einem fantastischen Torpedokopfstoß … Medien das „Lambsdorff-Papier“ (nach

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Ein Westfale im Dienst von Politik, Wirtschaft, Finanz und Kirche

dem seinerzeitigen Wirtschaftsminister ) und bald die Der ehemalige Präsident der Deutschen „Scheidungsurkunde“ der Regierungs- Bundesbank und Staatssekretär koalition aus SPD und FDP. Mit dem Hans Tietmeyer feiert am 18. August 2011 seinen 80. Geburtstag. politischen Ende der Bundesregierung © picture-alliance/picture-alliance, Foto: ohne Angabe unter Kanzler kam eine neue Aufgabe auf Tietmeyer zu. Er wurde Staatssekretär im Finanzministerium und gewann das Vertrauen des christdemo- kratischen Bundeskanzlers . Dieser suchte immer stärker seinen Rat und berief ihn zu seinem „“, wel- chem die Vorbereitung der Weltwirt- schaftsgipfel oblag. Die Herausforderung bewältigte Tietmeyer diskret, mit Ge- schick und Effektivität. Im Jahre 1988 schlug ein Terroranschlag auf ihn fehl, wohl von der „Roten-Armee-Fraktion“ verübt. Als 1989 vor der staunenden Weltöffentlichkeit die Mauer fiel und das Ende der SED-Zwangsherrschaft in der DDR näher rückte, stützte sich Helmut Kohl auf ihn als seinen persönlichen Beauftragten für die Verhandlungen mit der DDR, welche der Währungs-, Wirt- schafts- und Sozialunion galten. Die staat- und die Europäische Zentralbank erblick- liche Einheit kam dann rasch mit dem ten das Licht der Welt. Damit begann eine 3. Oktober 1990. neue, einschneidende Phase der - Es bahnte sich in dem Jahre 1990 päischen Einigung. Im gemeinhin soge- zugleich der größte Sprung auf der nannten „Ruhestand“ verfolgt er seither Karriereleiter des in Führungspositionen aufmerksam und kritisch die weitere bestens bewährten Finanz- und Wäh- Entwicklung und gibt seinen Rat, wenn rungsexperten an. Er wurde ins Direkto- er darum ersucht wird. rium der Deutschen Bundesbank berufen und stieg drei Jahre später zu ihrem Wertefundament und Präsidenten auf. Der Heimatverein seines gesellschaftliche Leitvorstellungen Geburtsortes Metelen ließ den Kontakt zu Basis und Antriebskraft für sein vielfäl- ihm nicht abreißen und überbrachte ihm tiges Handeln fand Hans Tietmeyer im 1999 eine echte westfälische Eiche. Er half christlichen Glauben. So gewann er ein selbst mit, sie vor seinem Frankfurter festes Wertefundament und machte sich Amtssitz einzupflanzen. Als 1999 aus die zentralen Prinzipien der katholischen Altersgründen das Ende seiner Präsi- Soziallehre zu eigen, die für ihn zugleich dentschaft kam, schied mit ihm der letzte ein ständiger Referenzrahmen war. Licht- in der Reihe der Amtsträger mit einer so gestalten des christlichen Lebens bestärk- großen Machtfülle. ten ihn dabei, den Weg weiterzugehen – Herkulesaufgaben waren in diesen wie Nikolaus von Kues (1401 bis 1464), Jahren zu meistern gewesen. Die euro- der Namensgeber der bischöflichen Stu- päische Währungsunion mit dem Euro dienstiftung, der als Bischof und Kar-

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dinal, Kirchenreformer und Gelehrter wirtschaft sieht er am besten „einen Weg in schwieriger Zeit wirkte. Unkritische zur Versöhnung von primär am Eigen- kirchliche Autoritätsergebenheit war und nutz orientiertem wirtschaftlichem Ver- ist jedoch nicht im Sinne von Hans Tiet- halten und gemeinwohlorientierten Er- meyer, schon gar nicht in Fragen von gebnissen“. Kirche und Wirtschaft ha- christlicher Bildung und Stiftungspraxis. ben in seiner Sicht die gemeinsame Auf- So bezog er 1984 in einem Interview klar gabe, „zur Sicherung des Gemeinwohls Stellung: „Förderung darf aber natürlich entsprechend den Forderungen der Men- nicht zu einer Prämie für Bravheit und schenwürde, der Eigenverantwortung Wohlverhalten im Sinne enger Frömmig- und der solidarischen Hilfe für die keits- und Moralvorstellungen denaturie- Schwachen sowie die Bewahrung der ren.“ (Cusaner Correspondenz 1984-1, Schöpfung“ beizutragen. Einflüsse auf Seite 3–7, hier Seite 6). die konzeptuellen Vorstellungen und das Ein wichtiger, anregender Lehrer, der gesellschaftliche Agieren Tietmeyers üb- Hans Tietmeyer über seine Studienzeit ten unter anderen der Jesuit Oswald von hinaus nachhaltig geprägt hat, war Nell-Breuning (1890 bis 1991), der „Nes- Joseph Höffner (1906 bis 1987), der 1951 tor der katholischen Soziallehre“, der zum Professor für Christliche Gesell- Ökonom Walter Eucken (1891 bis 1950) schaftslehre an der Universität Münster und Alfred Müller-Armack (1901 bis ernannt worden war und das Institut für 1978) aus, der als Nationalökonom und Christliche Sozialwissenschaften an der Kultursoziologe hervortrat. Auf diesen Katholisch-Theologischen Fakultät grün- geht bekanntlich der Begriff der „Sozialen dete. Dieser wurde 1962 Bischof von Marktwirtschaft“ zurück. Münster und 1969 Erzbischof von Köln und Kardinal; er übernahm 1976 den Vor- Europäische Zentralbank und Euro sitz der Deutschen Bischofskonferenz. Der Name von Hans Tietmeyer bleibt Wie Hans Tietmeyer in einem öffent- wohl für immer mit dem europäischen lichen Vortrag des Jahres 2001 hervorhob, Einigungswerk in Finanz- und Wäh- erkannte er Höffners Stellungnahmen rungsfragen verbunden. Er war einer der- „einen hervorragenden Maßstab“ zu, jenigen, die im Zentrum der politisch dessen Publikationen „waren und sind Mächtigen agierten und mit Rat und Ent- für mich immer noch besonders heraus- schlusskraft den hauptsächlichen Ent- ragende Beiträge zur ethischen Orientie- scheidungsträgern zur Seite standen. So rung der Wirtschafts- und Sozialpolitik“. gehört er mit zu den „Architekten“ der Grundlegende Prinzipien stellen für Europäischen Zentralbank und erlangte Tietmeyer in der Tradition der katholi- mehr Einfluss auf diese und die Einfüh- schen Soziallehre Personalität, Subsidia- rung der neuen Währung Euro, als es rität und Solidarität dar. Die Gemein- in Zeitungsartikeln oder in Geschichts- wohlorientierung im Wirtschaftsprozess büchern zum Ausdruck kommen mag. soll ihm zufolge „mit Hilfe von, nicht Im Rückblick schrieb er ein 2005 ver- aber gegen ökonomische Gesetzmäßig- öffentlichtes Buch über die Herausforde- keiten“ verwirklicht werden (Hans Tiet- rung Euro, dessen Genese und Bedeutung meyer, Kirche und Wirtschaft – Felder der für die Zukunft Deutschlands er anschau- Kooperation und des Konfliktes im Zeit- lich darlegt. Der Band mit mehr als alter der Globalisierung, in: Karl Gabriel dreihundert Seiten gewährt Einblick in [Hg.], Kirche – Staat – Wirtschaft auf dem ein wichtiges Kapitel der europäischen Weg ins 21. Jahrhundert, Münster 2002, Nachkriegsgeschichte und auch in seine S. 17–31, hier S. 20). In der Sozialen Markt- eigene Ideenwelt.

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Wie schwierig es war, das monetäre den Staatspräsidenten François Mitter- Einigungswerk herbeizuführen, welche rand (1981 bis 1995) und Jacques Chirac Hürden zu überwinden waren, zeigt die (1995 bis 2007). Jacques Delors trieb als Lektüre. Der Weg von der Gründung der Präsident der EG-Kommission (1985 bis Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1995) von Brüssel aus den Einigungs- (EWG) 1958 über die erste Direktwahl des prozess voran. Europäischen Parlaments 1979 und den In Frankreich musste man sich damit „Maastricht-Vertrag“ 1992, nach wel- vertraut machen, dass ihnen mit Hans chem die Wirtschafts- und Währungs- Tietmeyer „ein zäher Verhandlungs- union spätestens im Jahre 1999 verwirk- partner“ und „ein harter Brocken“ in Sit- licht werden sollte, erwies sich bis zu die- zungen und Konsultationen gegenüber- ser Endstufe hin als recht „dornenvoll“. saß, wie es der ehemalige Premierminis- Dass hieran Tietmeyer mit der ihm eige- ter Raymond Barre formuliert hat. Wie nen Beharrlichkeit und Konzentration auf groß auch immer Gemeinsamkeiten und das Wesentliche mitwirkte und letztlich – Differenzen waren, der Präsident der aufs Ganze gesehen – zu einem erfolg- Deutschen Bundesbank genoss über poli- reichen Abschluss beitragen konnte, er- tische Parteigrenzen hinweg Wertschät- füllte ihn mit Freude und auch Stolz. Im zung und Anerkennung in den führen- vielstimmigen Konzert der Notenbank- den Kreisen Frankreichs. Seine Sach- präsidenten spielte er zweifellos die ge- kompetenz und Verlässlichkeit, auch in wichtigste Rolle. Seinem Rat und seiner schwierigen Situationen, waren bekannt, Sachkompetenz vertrauten Bundeskanz- ebenso sein Einsatz für eine starke und ler Helmut Kohl und Finanzminister enge Partnerschaft zwischen Deutsch- . land und Frankreich. Im Buch werden die Einigungsbemü- Der Premierminister Edouard Balla- hungen und Verhandlungsrunden, Kon- dur berichtete einmal in einem lange flikte und Kompromisse mit den jeweili- zurückliegenden Gespräch davon, eine gen Zwischenstufen beschrieben – zu- Ähnlichkeit des Gesichts von Hans Tiet- rückhaltend im Ton, zuweilen diploma- meyer mit Bildnissen von Martin Luther tisch verklausuliert, präzise in Zugriff feststellen zu können. Jean-Claude Tri- und Bewertung. Die größte Aufmerksam- chet, der jetzige Präsident der Europä- keit schenkt Tietmeyer dabei Frankreich ischen Zentralbank in Frankfurt am Main, und lässt erahnen, wie mühevoll mitunter antwortete ihm darauf: „Das ist mir noch gemeinsame Positionen mit der fran- nie aufgefallen. Aber jetzt, wo Sie es zösischen Regierung (und den anderen) ansprechen, ja, da könnte es einige Ähn- zu erreichen waren. Es galt, auf Befind- lichkeiten geben. Dabei ist eine der wich- lichkeiten und Stimmungen Rücksicht tigsten Eigenschaften von Hans, einer der zu nehmen, die aus politischem und kul- Schlüssel zum Verstehen seiner Person, turellem Selbstverständnis der „Grande die Tatsache, dass er gläubiger Katholik Nation“ herrührten, und gegebenenfalls ist!“ Zwischen Trichet und Tietmeyer, der cohabitation Rechnung zu tragen, den beiden Präsidenten der nationalen wenn der „linke“ Präsident mit einem Zentralbanken, sollte sich im Übrigen „rechten“ Premierminister und einer eine Freundschaft entwickeln. „rechten“ Parlamentsmehrheit zusam- Tietmeyer warnte 2005 davor, dass menarbeiten musste. Der Leser begegnet „unzureichende Wirtschaftsdynamik und bei dem Gang durch die einzelnen Jahre mangelnde Fiskaldisziplin“ die Stabilität den wichtigsten Akteuren auf der politi- der gemeinsamen Währung und letztlich schen Bühne Frankreichs, an ihrer Spitze Wohlstand und Beschäftigung gefährden

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könnten (vgl. Herausforderung Euro, und sein Mitwirken: Päpste, Kardinäle, S. V). Die Jahre danach – bis hin zu Bischöfe, Universitäten, Akademien, In- den gegenwärtigen Krisensituationen in stitute, Stiftungen, darunter als Vorsit- einigen europäischen Ländern – haben zender des Rechtsträgervereins und Bei- gezeigt, wie begründet seine Warnung ist. ratsmitglied des Cusanuswerkes, und Wenn der Euro-Zug ungefährdet im wei- Verbände. Seitdem ihn Papst Johannes ten Streckennetz fahren soll, braucht es fä- Paul II. am 19. Januar 1994 zum Grün- hige Fahrplaner(innen), verantwortungs- dungsmitglied der Päpstlichen Akade- volle Lokomotivführer(innen), regelmä- mie für Sozialwissenschaften berief, ßige Wartungen, sichere Weichenstellun- bereichert er die dortigen Sitzungen mit gen und stabile Gleise. seinem scharfen Intellekt und seinen brillanten Ausführungen. Auszeichnungen und Engagement Persönlich ist Hans Tietmeyer im Auf- Wenn Hans Tietmeyer mit dem Amt des tritt zurückhaltend, aber selbstbewusst, in Präsidenten der Deutschen Bundesbank Mimik und Gestik eher dezent, doch deut- seine berufliche Laufbahn gekrönt hat, lich. Er mag keine unzureichend vorberei- dann hat er dies ganz wesentlich sei- teten Sitzungen; belangloses Plaudern an- nen Charaktereigenschaften und außer- stelle von zielorientiertem Ringen um die gewöhnlichen Befähigungen zu verdan- Sache ist ihm zuwider. Er verlangt viel ken. Als Bundesbankpräsident – ihm von sich und erwartet dieses auch von an- wurde zu seinem 65. Geburtstag 1996 deren. Das soll sie nicht überfordern, son- das Große Verdienstkreuz mit Stern und dern sie anregen, die Grenzen der eigenen Schulterband des Verdienstordens der Leistungsmöglichkeiten auszuloten. Bundesrepublik Deutschland verliehen – Seit dem Eintritt in den „Ruhestand“ ist agierte er in eigener Souveränität, ver- die Liste seiner gesellschaftlichen Engage- folgte pflichtbewusst seinen Kurs und ments lang, in denen sich auch seine Ver- ließ sich „weder durch Lobsprüche noch bundenheit mit Geschichte und Kultur durch Furcht“ (nach dem bekannten niederschlägt. Weniges sei hier noch ge- lateinischen Motto „Nec laudibus nec nannt: sein Wirken in Kuratorien und timore“) beirren. Persönlich ist er sich Gremien von Stiftungen, die nach Konrad dabei treu geblieben. Die westfälische Adenauer, , Hannelore Eiche ist ja dafür bekannt, dass sie feste Kohl und Friedrich von Hayek benannt Wurzeln hat und Stürmen trotzt. sind, seine Beiträge und Impulse im Rah- Auszeichnungen im In- und Ausland men der Initiative „Neue Soziale Markt- blieben natürlich nicht aus. Ehrendoktor- wirtschaft“. Im Jahre 2000 wurde er Mit- würden verliehen ihm die Westfälische glied der von der CDU-Parteiführung Wilhelms-Universität Münster (1994) beauftragten Kommission, die sich um und die Katholische Universität Eichstätt eine Erhöhung der Transparenz der CDU- (2003), die University of Maryland in den Finanzen kümmern sollte. Von 1999 bis USA (1997) und die Universität Paris IX 2008 nahm er das Amt des Präsidenten der (2001). Die Wirtschaftswissenschaftliche Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft wahr. Fakultät der Martin-Luther-Universität Zum 80. Geburtstag von Bundesbank- Halle-Wittenberg trug ihm eine Honorar- präsident i. R. Professor Dr. Dr. h. c. mult. professur für Volkswirtschaftslehre an. Hans Tietmeyer wird die Gratulanten- Der katholischen Kirche stand er uner- schar groß sein. Herzliche Glück- und müdlich mit seinen Kräften und seiner Segenswünsche werden ihn zu seinem vielfältigen Kompetenz zur Verfügung. Festtag von vielen Seiten im In- und Aus- Orts- und Weltkirche suchten seinen Rat land erreichen. Ad multos annos!

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