Plenarprotokoll 15/10

Deutscher

Stenografischer Bericht

10. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Inhalt:

Begrüßung der Präsidenten der Nationalver- Dr. FDP ...... 541 D sammlung der Republik Korea,Herr Park Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ Kwan Yong ...... 531 A DIE GRÜNEN ...... 543 C Verabschiedung des Abgeordneten Dr. Ingo Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 544 D Wolf ...... 531 B Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 545 D Begrüßung der neuen Abgeordneten Gisela Pilz ...... 531 B Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 547 C Wahl der AbgeordnetenEckhardt Barthel Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU 549 C (), , Michael Roth BÜNDNIS 90/ (Heringen), Karl-Theodor Freiherr von und DIE GRÜNEN ...... 551 A zu Guttenberg, Günter Nooke, Annette Widmann-Mauz, und Hans- Monika Heubaum SPD ...... 552 B Joachim Otto (Frankfurt) als Mitglieder des fraktionslos ...... 553 C Kuratoriums der „Stiftung Denkmal für die er- mordeten Juden Europas“ ...... 531 B Tagesordnungspunkt 4: Erweiterung der Tagesordnung ...... 531 C a) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten , Dr. Norbert Tagesordnungspunkt 3: Röttgen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrach- a) Abgabe einer Regierungserklärung: ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- NATO-Gipfel am 21./22. November besserung des Schutzes der Bevölke- 2002 in Prag ...... 532 B rung vor Sexualverbrechen und b) Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert anderen schweren Straftaten Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, weite- (Drucksache 15/29) ...... 554 C rer Abgeordneter und der Fraktion der b) Antrag der Abgeordneten Wolfgang CDU/CSU: Die NATO auf die neuen Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, weiterer Gefahren ausrichten Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 15/44) ...... 532 B CDU/CSU: Sozialtherapeutische Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 532 C Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den Prüfstand stellen Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 535 C (Drucksache 15/31) ...... 554 C SPD ...... 539 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 554 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . 540 B , Bundesministerin BMJ . . . . 556 D CDU/CSU ...... 540 D FDP ...... 559 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ 5b) Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des DIE GRÜNEN ...... 560 B Grundgesetzes (Vermittlungsaus- schuss) Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 561 B (Drucksachen 15/51, 15/52, 15/53, SPD ...... 564 B 15/54) ...... 573 B Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 565 D CDU/CSU ...... 573 C Christine Lambrecht SPD ...... 566 A Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD ...... 574 B Jörg van Essen FDP ...... 566 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 567 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 568 B Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung Joachim Stünker SPD ...... 570 B zur Situation der öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung der zu erwar- tenden aktuellen Steuerschätzung und Zusatztagesordnungspunkt 2: der damit möglichen Notwendigkeit ei- Überweisung im vereinfachten Verfah- nes Haushaltssicherungsgesetzes ...... 575 A ren Dr. Günter Rexrodt FDP ...... 575 A Antrag der Abgeordneten Eckhardt Barthel , Parl. Staatssekretär BMF ...... 576 C (Berlin), (Neuruppin), weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD sowie CDU/CSU ...... 578 A der Abgeordneten Dr. , Christine Scheel BÜNDNIS 90/ Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN ...... der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE 579 B GRÜNEN: Den Deutschen Musikrat Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 580 B stärken (Drucksache 15/48) ...... 572 D Joachim Poß SPD ...... 581 D Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 583 A

Zusatztagesordnungspunkt 8: Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 584 A Abschließende Beratung ohne Aus- sprache CDU/CSU ...... 585 C Beschlussempfehlung und Bericht des SPD ...... 586 D Rechtsausschusses zu der Streitsa- CDU/CSU ...... 588 A che vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BVerfGE 3/02 Walter Schöler SPD ...... 588 D (Drucksache 15/69) ...... 573 A Norbert Schindler CDU/CSU ...... 590 B Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 591 C Tagesordnungspunkt 5: Dr. SPD ...... 592 B Wahlen zu Gremien 5a) Schriftführer gemäß § 3 der Ge- Tagesordnungspunkt 6: schäftsordnung Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksache 15/50) ...... 573 B Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- in Verbindung mit wurfs eines Gesetzes zur Fortentwick- lung der ökologischen Steuerreform (Drucksachen 15/21, 15/71, 15/72) . . . . . 593 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD ...... 593 D Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Be- stimmung des Verfahrens für die Be- Dr. CDU/CSU ...... 595 B rechnung der Stellenanteile der Fraktio- Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... nen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des 597 A Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 598 A (Drucksache 15/47) ...... 573 B Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 599 A in Verbindung mit Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 601 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 III

Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ rechts in der Informationsgesell- DIE GRÜNEN ...... 603 A schaft (Drucksache 15/38) ...... 625 A Dr. Christian Eberl FDP ...... 603 D CDU/CSU ...... 604 B b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 605 D Gesetzes zu den WIPO-Verträgen Rolf Hempelmann SPD ...... 606 B vom 20. Dezember 1996 über Urhe- berrecht sowie über Darbietungen Namentliche Abstimmung ...... 607 D und Tonträger (Drucksache 15/15) ...... 625 B Ergebnis ...... 612 C Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 625 B Günter Krings CDU/CSU ...... 626 C Tagesordnungspunkt 7: Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 629 A Erste Beratung des von den Abgeordneten FDP ...... 629 D Peter Götz, Dr. Michael Meister, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Dirk Manzewski SPD ...... 630 C CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen Tagesordnungspunkt 9: (Gemeindefinanzreformgesetz) Antrag der Abgeordneten Dr. Werner (Drucksache 15/30) ...... 608 A Hoyer, Jörg van Essen, weiterer Abgeord- Peter Götz CDU/CSU ...... 608 B neter und der Fraktion der FDP: Rechtssi- cherheit für die bewaffneten Einsätze Jörg Tauss SPD ...... 609 B deutscher Streitkräfte schaffen – ein Ge- Horst Schild SPD ...... 610 C setz zur Mitwirkung des Deutschen Bun- destages bei Auslandseinsätzen der Bun- Dr. FDP ...... 614 B deswehr einbringen Christine Scheel BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/36) ...... 632 C DIE GRÜNEN ...... 615 D Jörg van Essen FDP ...... 632 D Peter Götz CDU/CSU ...... 616 B Christine Lambrecht SPD ...... 634 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . 617 B Thomas Kossendey CDU/CSU ...... 635 B Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ BMF ...... 618 D DIE GRÜNEN ...... 636 D Dr. Andreas Pinkwart FDP ...... 619 D Dr. CDU/CSU . . . . . 638 B CDU/CSU ...... 620 C Ulrike Merten SPD ...... 639 B Bernd Scheelen SPD ...... 622 D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 640 A Peter Götz CDU/CSU ...... 623 D Dr. Christoph Zöpel SPD ...... 641 C

Nächste Sitzung ...... 643 D Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von der Bundesre- Anlage 1 gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Urheber- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 645 A

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(A) (C)

10. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Mauz, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Abgeordneten Volker Beck und die Fraktion der FDP den Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt). Sind Sie Sitzung ist eröffnet. mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der National- Widerspruch. Damit werden die genannten Kolleginnen versammlung der Republik Korea, Herr Park Kwan und Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der „Stif- Yong, mit einer Abgeordnetendelegation Platz genom- tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ent- men. Ich darf Sie von hier aus im Namen des ganzen sandt. Hauses herzlich begrüßen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene (Beifall) Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Unsere beiden Länder verbindet die Erfahrung der Tei- lung von Staat und Nation. Uns Deutschen war es ver- 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und (B) gönnt, sie glücklich zu überwinden – in Ihrem Land dau- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Aktuelle Vorwürfe (D) von Verstößen gegen das Parteiengesetz durch mögliche il- ert sie an. Mit umso mehr Interesse und Sympathie legale Finanzzuflüsse bei der FDP verfolgen und unterstützen wir Ihre Bestrebungen, die Lasten der Teilung zu lindern und die Chance zu wahren, 2 Überweisung im vereinfachten Verfahren die nationale Einheit in Frieden und Freiheit wiederzuge- Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel winnen. Ich hoffe, dass Sie diese Anteilnahme bei Ihren Ge- (Berlin), Ernst Bahr (Neuruppin), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- sprächen und Begegnungen hier in Berlin spüren werden. ten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar Göring- Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen Eckardt, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land. DIE GRÜNEN: Den Deutschen Musikrat stärken – Drucksache 15/48 – (Beifall) Überweisungsvorschlag: Der Kollege Dr. Ingo Wolf hat am 8. November 2002 Ausschuss für Kultur und Medien (f) auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zichtet. Als Nachfolgerin hat die AbgeordneteGisela Haushaltsausschuss Piltz am 11. November 2002 die Mitgliedschaft im Deut- 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Bestim-: schen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kolle- mung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des gin herzlich. Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) (Beifall) – Drucksache 15/47 – Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. März 2000 ent- 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung sendet der Deutsche Bundestag in das Kuratorium der der Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haus- „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ halte unter Berücksichtigung der zu erwartenden aktuellen Steuerschätzung und der damit möglichen Notwendigkeit seinen Präsidenten sowie je ein Mitglied des Deutschen eines Haushaltssicherungsgesetzes Bundestags pro angefangene 100 Mitglieder der im Deut- schen Bundestag vertretenen Fraktionen. 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Die Fraktion der SPD benennt die Abgeordneten Hartmut Koschyk, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten Eckardt Barthel (Berlin), Monika Griefahn und und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Michael Roth (Heringen), die Fraktion der CDU/CSU Ersten Gesetzes zur Korrektur des Versorgungsänderungs- die Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr von und zu gesetzes 2001 Guttenberg, Günter Nooke und Annette Widmann- – Drucksache 15/45 – 532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Präsident Wolfgang Thierse (A) Überweisungsvorschlag: Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: (C) Innenausschuss (f) Finanzausschuss Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwölf Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt für Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO uns ein anderes Gesicht bekommen. Wo sich früher zwei 6 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge-Blöcke in militärischer Konfrontation erstarrt gegenüber- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern standen, sehen wir uns heute mit einer wesentlich kom- in der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe plexeren weltpolitischen Lage konfrontiert. Auf der einen – Drucksache 15/46 – Seite können wir vor allem in Europa enorme Fortschritte bei Frieden, Stabilität und Freiheit feststellen. Auf der an- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) deren Seite erfahren wir täglich von neuen regionalen Sportausschuss Konflikten, sozialen Unruhen oder terroristischen An- Rechtsausschuss schlägen. Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Spätestens die Schrecken des 11. September 2001 ha- Landwirtschaft ben uns verdeutlicht, dass wir von diesen Bedrohungen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend direkt betroffen sind. Besonders der Terrorismus richtet Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sich direkt gegen uns alle, die wir in offenen Gesellschaf- Ausschuss für Bildung, Forschung und ten leben. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Aber auch regionale Konflikte und soziale Probleme Haushaltsausschuss mitberatend und gemäßt § 96 GO werden in einer zunehmend globalisierten Welt für uns 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten , Rainer zur immer größeren Gefahr. Unsere Landesgrenzen schüt- Brüderle, Gudrun Kopp, weiteren Abgeordneten und der Frak- zen uns vor diesen asymmetrischen Bedrohungen nur sehr tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- unzureichend. form der Arbeitnehmerüberlassung Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Sicherheit und – Drucksache 15/55 – Freiheit leben können. Terrorismus muss militärisch ent- Überweisungsvorschlag: schlossen bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wir Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) uns nicht darauf beschränken; sonst droht ein Scheitern. Rechtsausschuss Finanzausschuss Wir müssen politische und soziale Konflikte lösen, die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung den Nährboden für die Entstehung der Gewalt und des Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Terrorismus darstellen. (B) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) erforderlich – abgewichen werden. Sind Sie damit ein- und bei der SPD) verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so Krisenprävention ist genauso wichtig wie Krisenreak- beschlossen. tion. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr denn je ein System globaler kooperativer Sicherheit. Nur über die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: Zusammenarbeit von Nationen kann dies umfassend ge- leistet werden. Nur in multilateralem Rahmen können wir a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- auf allen relevanten Ebenen entschlossen gegen das Ge- rung fährdungspotenzial unserer Zeit angehen. Wir müssen NATO-Gipfel am 21./22. November 2002 in Prag weg von einer rein militärisch angelegten Reaktion auf Konflikte und hin zu einem umfassenden Sicherheitsbe- b) Beratung des Antrags der Abgeordnetengriff. Europa und Amerika stehen vor einer neuen, weit Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,über unsere Kontinente hinausreichenden und politisch Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter entscheidenden Ordnungsaufgabe. und der Fraktion der CDU/CSU Vor diesem Hintergrund treffen sich die 19 NATO-Mit- Die NATO auf die neuen Gefahren ausrichten gliedstaaten am kommenden Donnerstag in Prag. Für das transatlantische Bündnis und seine Rolle in einem System – Drucksache 15/44 – globaler kooperativer Sicherheit beginnt in der tschechi- Überweisungsvorschlag: schen Hauptstadt eine neue Ära. In Prag werden sich die Auswärtiger Ausschuss (f) Fähigkeiten des Bündnisses zeigen, sich an eine wan- Verteidigungsausschuss delnde Welt anzupassen. Die Allianz wird dort einen wei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss teren Schritt auf dem Weg zur Lösung der großen europä- ischen Sicherheitsfragen vollziehen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung Der Gipfel wird uns nochmals verdeutlichen, dass die eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- NATO weit mehr als ein reines Verteidigungsbündnis ist. Sie ist eine über den Atlantik reichende Wertegemein- spruch. Dann ist so beschlossen. schaft, die entscheidend zur Sicherheit und Stabilität in Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärungder Welt und zur Stärkung von Demokratie und Rechts- hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer. staatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 533

Bundesminister Joseph Fischer (A) Im Mittelpunkt der Diskussionen werden drei zentrale großer Bedeutung und darüber besteht auch innerhalb der (C) Aufgaben stehen: Es geht um die Öffnung der NATO für Mitgliedstaaten Konsens. neue Mitgliedstaaten, die Beziehungen der NATO zu Die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Die Perspektive ihren Partnern und die Anpassung der NATO an neue He- eines NATO-Beitritts hat – dies ist eines der wichtigsten rausforderungen. Alle drei Themen sind für die Zukunft politischen Ergebnisse; das ist sehr schnell und unmittel- der Organisation von großer Bedeutung und damit auch bar schon im Beitrittsverfahren deutlich geworden – zu für die deutsche Außenpolitik entscheidend. Konfliktabbau und Konfliktprävention beitragen können. Zum zweiten Mal nach Ende des Kalten Krieges öffnet Diese Aussicht fördert und dynamisiert den Reformkurs sich die NATO für neue Mitglieder. Der Konsens der Bünd- der Kandidaten. Sie trägt zur Stabilisierung von Ländern nisstaaten, sieben weitere Staaten zum Beitritt in die Alli- und Regionen bei. Eine Erweiterung der Allianz bedeutet anz einzuladen, wird immer wahrscheinlicher. 13 Jahre immer auch eine Erweiterung und Festigung der trans- nach dem Fall der Mauer wird die NATO somit wichtige atlantischen Wertegemeinschaft. Zusammen mit der Er- Länder in Süd- und Osteuropa sowie das Baltikum in das weiterung der Europäischen Union ist sie daher eindeutig Bündnis integrieren. Diese anstehende Erweiterung ist so- in unserem Interesse. wohl für die Allianz als auch für die Beitrittskandidaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst ein Erfolg. Sie leistet einen Beitrag zur europäischen und bei der SPD) Stabilität, sie festigt die transatlantischen Beziehungen und sie beschleunigt notwendige Reformen in den Mit- Es ist offensichtlich, dass die Frage nach den Bezie- gliedstaaten. hungen der NATO zu ihren Partnern außerhalb des Bündnisses in direktem Zusammenhang zu ihrer Erweite- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung steht. Wir müssen neben der Öffnung des Bündnis- und bei der SPD) ses auch die Kooperation mit den Staaten in der Nachbar- Die nächste Erweiterungsrunde liegt auch in unserem schaft der NATO weiterentwickeln. Zunächst ist hierbei Interesse. Daher hat der Bundestag im April dieses Jahres unsere Zusammenarbeit mit Russland zu nennen. In Prag dieser Einladung mit überwältigender und fraktionsüber- wollen sich die Außenminister im Rahmen desNATO- greifender Mehrheit zugestimmt. Diese Einladung erfolgt Russland-Rats mit ihrem russischen Kollegen treffen, nach gründlicher Evaluierung der Bereitschaft und Fähig- um die Ziele künftiger Zusammenarbeit festzulegen und keit der Kandidaten, dem Bündnis beitreten zu können. das bislang Erreichte zu bewerten. Ihr gingen Jahre intensiver Vorbereitung voraus. Deutsch- Insgesamt ist die Bilanz erfreulich. Seit dem Gipfel in land hat dabei aktiv mitgearbeitet. Mit der Entsendung Rom am 28. Mai hat sich unsere Kooperation mit Russ- militärischer und ziviler Berater, mit Materialhilfe und land deutlich verbessert. Vieles beurteilen die Partner (B) (D) Ausbildungsunterstützung haben wir dazu einen wichti- mittlerweile einheitlich. Besonders bei der Bewertung der gen und anerkannten Beitrag leisten können. Zahlreiche Lage auf dem Balkan herrscht zunehmend Übereinstim- Experten halten viele der heutigen Beitrittsländer für bes- mung mit unseren russischen Partnern. Für gemeinsame ser vorbereitet als die drei Kandidaten der ersten Erweite- friedenserhaltende Operationen haben wir ein realisierba- rungsrunde 1997. res Konzept entwickelt. Diese Schritte zu einer engen Ko- Alle Aspiranten haben in den vergangenen drei Jahren operation, für die wir uns immer eingesetzt haben, sind Reformen durchgeführt und erhebliche Fortschritte ge- – wer die Vergangenheit kennt, weiß das – eine beacht- macht. Ihre Anstrengungen beschränkten sich nicht nur liche Leistung beider Seiten. auf Strukturreformen im militärischen Bereich. Auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beilegung interner und externer Konflikte, die Durchset- und bei der SPD) zung von Menschenrechten und die demokratische Kon- trolle der Streitkräfte gehörten dazu. Sie sollten uns auch in die Lage versetzen, über Mittel und Wege zur gemeinsamen Lösung von Sicherheitsproble- All diese Vorhaben sind noch nicht ganz abgeschlos- men zu reden. Unser Ziel ist dabei, zu übereinstimmenden sen. Es ist klar, dass auch die Kandidaten, die in Prag ein- Beurteilungen zu kommen. Beim Tschetschenien-Kon- geladen werden, diese Anstrengungen fortsetzen müssen. flikt beispielsweise sind wir unverändert der Auffassung, Die NATO ist keine statische Organisation. Alle ihre Mit- dass auf der Basis territorialer Integrität, des Kampfes ge- gliedstaaten müssen sich fortlaufend neuen Herausforde- gen den Terrorismus und der Wahrung der Menschen- rungen anpassen. Die Beitrittsstaaten werden sich in einem rechte nur eine politische Lösung zum Erfolg führen kann. Schreiben an den NATO-Generalsekretär verpflichten, ihre Anstrengungen zur Beseitigung noch vorhandener (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Defizite auch nach der Einladung fortzusetzen. und bei der SPD) Aber nicht alle Staaten, die Mitglied der NATO werden Die engen Beziehungen zwischen der NATO und Russ- wollen, können in Prag eingeladen werden. Wir müssen land sind für Stabilität und Sicherheit im euroatlantischen daher mit den Ländern, die dieses Mal noch nicht dabei Raum von großer Bedeutung. Ihre Intensivierung hat letztlich dazu geführt, dass die NATO-Erweiterung für sind, in intensivem Kontakt bleiben. Wir werden sie in der Russland kein ernsthaftes Problem mehr darstellt. Dies Erklärung des Prager Gipfels ausdrücklich ermutigen, war vor ein paar Jahren noch völlig anders. ihre Anstrengungen fortzusetzen. Die NATO muss auch in Zukunft weitere Mitglieder aufnehmen können; ihre Tür Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger muss offen bleiben. Dies ist für die deutsche Politik von NATO-Anrainer und -Partner ist die Ukraine. Auch mit 534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) ihrem Kiewer Kollegen wollen sich die Außenminister – Das freut mich, dass Sie hier mit spitzen Ohren weiter (C) der Mitgliedstaaten in Prag treffen, um zu diskutieren, wie lauschen wollen. die Ukraine stärker in die euroatlantischen Strukturen ein- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebunden werden kann. Wir wollen dabei einen Aktions- und bei der SPD – Eckart von Klaeden plan verabschieden, der die Ziele unserer Zusammenar- [CDU/CSU]: Wir wollen es schnell hinter uns beit klar definiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die haben!) Intensivierung des politischen Dialogs und die Unterstüt- zung der Ukraine bei ihrer Verteidigungsreform. Verehrter Kollege, ich komme nun auf das Thema Mit- telmeerländer zu sprechen. Das ist ein wichtiges Thema, Dabei werden allerdings auch kritische Punkte in den wie mir bei meinem Besuch in Spanien gerade wieder ver- Beziehungen zwischen der NATO und der Regierung in mittelt wurde, wo es bezogen auf EU und NATO die große Kiew auf dem Programm stehen. Unsere Zusammenar- Sorge gibt, dass die regionale Erweiterungsausrichtung beit wird gegenwärtig von dem Vorwurf an Kiew über- nach Osten und Südosten wirklich zu einer Abwendung schattet, Waffen in Krisengebiete exportiert und Tech- von den Mittelmeerländern führt. In der EU spielt das eine nologie illegal an den Irak geliefert zu haben. Wirnoch größere Rolle; es ist aber auch im NATO-Zusam- fordern von unseren Partnern die Einhaltung des inter- menhang wichtig. Deswegen hören Sie gut zu! nationalen Rechts und der Beschlüsse der Vereinten Na- tionen ohne Wenn und Aber. Daran darf es keinen Zwei- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ fel geben. DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schließlich wollen wir, verehrter Kollege, auch un- und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Werner seren Dialog mit den Mittelmeerländern aufwerten. In Hoyer [FDP]) Prag sollen Vorschläge hierzu vorgelegt werden. Die- sem Austausch messen wir aus den Gründen, die ich ge- In Prag wird auch evaluiert, wie die Beziehungen mit rade schon genannt habe, große Bedeutung bei; denn er den anderen Partnern in Nachbarschaft zur NATO prak- kann zur Verbesserung der regionalen Stabilität beitra- tischer ausgestaltet werden können. In den letzten Mona- gen und gegenseitiges Verständnis fördern. Allerdings ten haben wir gerade mit unseren Partnerländern in Zen- ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in diesem Rah- tralasien intensiv zusammengearbeitet. Wie wichtigmen unmittelbar von der Lage imNahostkonflikt be- deren Rolle als Bindeglied in Bezug auf Asien ist, hat uns stimmt. die Kooperation bei der Krisenbewältigung in Afghanis- tan gezeigt. Ähnliches gilt für europäische Partnerländer, In einem dritten großen Themenfeld wollen sich die mit denen wir beispielsweise im Rahmen der SFOR und NATO-Mitglieder in Prag damit beschäftigen, dass die (B) der KFOR ausgezeichnet zusammenarbeiten. heutigen Herausforderungen neue Anpassungen notwen- (D) dig machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges mit Russ- Schließlich wollen wir auch unseren Dialog mit den land tritt die klassische Territorialverteidigung in den Hin- Mittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschläge tergrund. Wir werden uns zunehmend fragen müssen: Wie hierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir reagieren wir in der NATO auf die neuen Bedrohungen? große Bedeutung bei; denn er kann zur Verbesserung der Wie können wir zu ihrer Bekämpfung, zu ihrer Eindäm- regionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges – – mung und zur Prävention von Krisen und Konflikten (Mikrofonausfall – Ute Kumpf [SPD]: Sie sind nachhaltig beitragen? nicht zu verstehen! – Volker Kauder [CDU/ Seit dem 11. September 2001, seit den brutalenTer- CSU]: Sollen wir ein Megafon bringen? Das roranschlägen in Djerba und Bali haben diese Fragen kennen Sie doch auch!) eine bedrückende Aktualität. Der Albtraum eines großen – Ich kenne das auch mit Megafon, Herr Kauder. Ich kann terroristischen Anschlages ist für uns alle erschreckende aber auch ohne Mikrofon oder Megafon reden. Wirklichkeit geworden. Diesen neuen Herausforderungen muss sich das Bündnis stellen. In Prag muss die NATO da- (Bundesminister Joseph Fischer testet das Mi- her die notwendigen Prioritäten setzen, um in den krofon an der Regierungsbank – Heiterkeit – Dimensionen eines umfassenden Sicherheitsbegriffs pla- Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und nen und agieren zu können. bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das hatte bisher am meisten Substanz!) Zum einen wird es in Prag um Möglichkeiten zur Ver- besserung der militärischen Fähigkeiten gehen. Neue Ge- – Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Also, substanz- fahren erfordern angemessene Reaktionen der NATO- reich war die Rede. Das können Sie ja wohl nicht be- Mitglieder. Auf dem Gipfel steht die Initiative des Prague streiten. Capabilities Commitment zum Beschluss an. Sie setzt klare Prioritäten auf den Ausbau der militärischen Fähig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keiten der NATO-Mitgliedstaaten, etwa die Stärkung der und bei der SPD) Verteidigungsfähigkeit gegen Angriffe mit Massenver- Ich lasse es mir gern gefallen, wenn Sie ein bisschennichtungswaffen oder die Bereitstellung von sicherer mo- Recht haben; aber da haben Sie wirklich überhaupt nicht derner Führungstechnologie, von strategischem Luft- Recht. transport und von Aufklärungstechnik. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Machen Sie In diesem Zusammenhang halten wir die amerikanische doch mal weiter!) Initiative zur Schaffung einer NATO-Response-Force für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 535

Bundesminister Joseph Fischer (A) einen konstruktiven Vorschlag. Dieser multinationale An- Ich danke Ihnen. (C) satz kann dazu beitragen, die heutigen Sicherheitsheraus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN forderungen zu bewältigen und gleichzeitig die integrier- und bei der SPD) ten NATO-Strukturen zu stärken. Daher unterstützen wir den Plan, in Prag einen Auftrag zur Ausarbeitung eines Konzeptes für diese NATO-Response-Force zu erteilen. Präsident Wolfgang Thierse: Wir sind allerdings der Auffassung, dass dafür drei Vor- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tonregie be- aussetzungen erfüllt sein müssen: Die Entscheidungen hauptet – ich sage das ganz vorsichtig –, dass das Mikro- über Einsätze dieser Truppe müssen dem NATO-Rat vor- fon wieder geht. Lieber Kollege Schäuble, wollen Sie es behalten bleiben; eine deutsche Beteiligung ist aufgrund probieren? Wir können nur durch Probieren herausfinden, der geltenden Rechtslage nur mit vorheriger Zustimmung ob diese Behauptung stimmt. des Bundestages möglich; (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber ka- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN puttgegangen ist das Mikrofon bei Herrn und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Werner Fischer! – Joseph Fischer, Bundesminister: Da Hoyer [FDP]) weiß man wenigstens, wer es war!) das Vorhaben – das ist ein sehr wichtiger Punkt – muss mit Ich erteile Ihnen also hiermit das Wort. dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte im Rah- men der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspo- litik vereinbar sein, Doppelungen sollten ausgeschlossen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): werden. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren! Es hallt ein wenig nach; aber das Mikrofon scheint zu und bei der SPD) funktionieren. In Prag wird es aber nicht nur um militärische Fähig- Die Regierungserklärung, die wir soeben vom Bun- keiten gehen. Wenn die Staats- und Regierungschefs die desaußenminister vorgetragen bekommen haben, hat we- internationale Lage erörtern, wird es auch darum gehen, nig Falsches enthalten. wie Konflikte besser eingedämmt und Krisen verhütet (Lachen bei der SPD – Ute Kumpf [SPD]: Das werden können. Eine kluge Verzahnung von Politik und ist ein schwäbisches Kompliment!) Militär – das hat die Erfahrung gerade auch auf dem Bal- kan gezeigt – kann hier zum Erfolg führen. Der NATO- All dem, was Sie zum Thema Erweiterung gesagt haben, (B) Einsatz in Mazedonien hat uns bewiesen, dass der recht- das in der Planung für Prag ursprünglich das Hauptanlie- (D) zeitige, präventive Einsatz von Streitkräften in engergen des NATO-Gipfels gewesen ist, stimmen wir zu, auch Abstimmung mit politischen und diplomatischen Initia- was die Beziehungen zu Russland anbetrifft; ebenso fin- tiven helfen kann, Konflikte auf friedliche Art und Weise det das, was Sie zu Tschetschenien gesagt haben, im zu lösen, bevor sie gewaltsam eskalieren. Grundsätzlichen unsere Zustimmung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der SPD: Warum haben Sie denn und bei der SPD) dann nicht geklatscht?) Wir messen der Weiterentwicklung solcher Strategien Unsere Zustimmung findet, Herr Bundesaußenminis- große Bedeutung bei. Vor allem im Rahmen eines umfas- ter, auch Ihr Satz, dass der Prager Gipfel angesichts neuer senden und effizienten Kampfes gegen den Terrorismus Bedrohungen für Frieden und Sicherheitdie angemes- halten wir diese enge Verzahnung, gründend auf einem senen Prioritäten setzen muss. Aber Ihre Regierungs- umfassenden Sicherheitsbegriff, für unerlässlich für den erklärung hat die angemessenen Prioritäten unter diesem Erfolg. Gesichtspunkt in keiner Weise gesetzt. Meine Damen und Herren, mit der anstehenden Erwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- terung, mit der Intensivierung des Dialogs mit unseren neten der FDP) Partnern, mit der Anpassung unserer Mittel und Strategien Die eigentliche Frage ist – deswegen wird der Prager an die aktuelle Lage und schließlich mit der Vertiefung Gipfel wirklich eine entscheidende Bedeutung für die multilateralen, gemeinsamen Handelns stellt die NATO weitere Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft ha- ihre Dynamik, ihre Flexibilität und auch ihren umfassen- ben –, ob wir in der Lage sind, das transatlantische Ver- den Anspruch unter Beweis, eine transatlantische Werte- hältnis so auszubauen und weiterzuentwickeln, dass es gemeinschaft zu bilden. Die NATO ist das wichtigste Bin- Frieden und Sicherheit für uns alle in der Zukunft schüt- deglied für die Beziehungen im nordatlantischen Raum. zen kann. Gegen dieses Ziel ist in den vergangenen Mo- Sie ist Ausdruck der historischen Verbundenheit und des naten schwer verstoßen worden. Deswegen wird sich auf gemeinsamen Engagements von Europa und Amerika. Sie dem Prager Gipfel zeigen, ob es gelingt, die Störungen im ist wichtiger Pfeiler in einem System globaler koopera- transatlantischen Verhältnis, für die niemand mehr Ver- tiver Sicherheit, wie es die Welt heute mehr denn je antwortung trägt als diese Bundesregierung, zu beseiti- benötigt. Die Bundesregierung wird daher die Vorhaben gen, oder nicht. des Gipfels in Prag nachhaltig unterstützen und an ihrer Umsetzung engagiert arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Das Wort Irak, Herr Bundesaußenminister, ist in Ihrer rismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnolo- (C) Regierungserklärung nicht vorgekommen. Ich sage Ihnen gien ergeben, bei uns keine ernsthafte und substanzielle voraus: Sie werden in Prag auf dem NATO-Gipfel nicht Debatte geführt wird. Sie müssen sich auf dem NATO- darum herumkommen, sich mit der Problematik des Irak Gipfel in Prag mit diesen Fragen beschäftigen. Das sind zu beschäftigen. Deshalb hätten Sie dem Deutschen Bun- die eigentlich entscheidenden Fragen für die Zukunft hin- destag dazu etwas sagen müssen. sichtlich Frieden, Freiheit und Sicherheit für die Men- schen in Deutschland und in Europa. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben in den letzten Monaten in einer unverant- Ich lese heute in einem Interview des Bundeskanzlers wortlichen Weise Kriegsangst und Antiamerikanismus – darüber muss gesprochen werden –, dass er auf diegeschürt und ausgebeutet. Frage, ob die Deutlichkeit, mit der Ihre Position zu Irak artikuliert wurde, eine symbolische Bedeutung gewonnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – habe und ob das nicht als eine Zäsur im Verhältnis zu den Widerspruch bei der SPD) USA verstanden worden sei, geantwortet hat: Nein, denn – Ich habe eine Mappe von entsprechenden Zitaten vor das lag in der Konsequenz unserer neuen Außenpolitik. mir liegen. Ich kann sie Ihnen vorlesen, wenn Sie sie Was, bitte, ist diese neue Außenpolitik? hören wollen. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass es so gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Indem Sie so gehandelt haben – das will ich Ihnen jetzt Ist diese neue Außenpolitik, dass wir den Menschen in vorhalten –, haben Sie etwas viel Schlimmeres gemacht: Deutschland einreden, Frieden und Sicherheit wären für Sie haben nämlich verhindert – Sie leisten mit dieser Art uns in Deutschland nicht mehr bedroht, wenn wir uns nur Regierungserklärung auch einen Beitrag dazu –, dass in so verhalten, als wären wir in einer Nische und als wür- Deutschland ernsthaft darüber diskutiert wird, worin die den die Gefahren nur irgendwo anders eintreten? Dann Gefahren für uns liegen und was wir tun müssen, damit müssen Sie aber den Präsidenten des Bundesnachrichten- wir auf die bestmögliche Weise Vorsorge zur Vermeidung dienstes, Hanning, stoppen, damit er nicht mehr jeden Tag dieser Gefahren treffen. Das ist das eigentliche Problem. neue Meldungen lanciert, dass der nächste terroristische Anschlag bei uns in Deutschland drohen kann. Es kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nur das eine oder das andere die Wahrheit sein. Sie tun so, als wäre das Handeln der Verantwortlichen Ich fürchte, Herr Hanning hat mit seiner Lageanalyse in den Vereinigten Staaten von Amerika, die sehr viel Recht. Ich fürchte, dass das Tonband, das wir gerade über mehr Verantwortungsbereitschaft gezeigt und Vorsorge getroffen haben, als Sie es in den letzten Monaten getan (B) al-Dschasira wahrscheinlich von Bin Laden gehört ha- (D) ben, auch bestätigt, dass die Gefahr des internationalen haben und in Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruck Terrorismus viel größer ist, dass wir davon betroffen sind gebracht haben, die eigentliche Gefahr für den Frieden in und dass wir uns nur durch eine Stärkung der NATO so- der Zukunft. wie der europäischen und der transatlantischen Zusam- (Zuruf von der SPD) menarbeit dagegen schützen können. Dann darf man diese Bindungen aber nicht mit „neuer Außenpolitik“– Natürlich, damit wird doch an den Antiamerikanismus schwächen. Das ist der falsche Weg. appelliert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn man den Artikel liest, den der frühere Staatsmi- nister im Kanzleramt, Herr Naumann, dieser Tage in der Das sagen wir nicht aus Solidarität mit unseren ameri- „Zeit“ veröffentlicht hat, dann erkennt man, dass die po- kanischen Partnern, sondern aus Eigenverantwortung und litische Linke einen Generalangriff gegen die Grundlagen Eigeninteresse im Blick auf die Zukunft unseres Landes des Bündnisses zwischen Amerika und Europa führt. Das und die Sicherheit der Menschen, die uns als Politiker ins- ist offenbar die neue Außenpolitik. gesamt und Ihnen als Regierung in besonderer Weise an- vertraut sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- rufe von der SPD: Oh! – Volker Kauder Das eigentlich Problematische ist Folgendes: Auf- [CDU/CSU]: Das ist nicht zum Lachen, Herr grund der Auflösung von staatlichen Strukturen, der viel- Bundeskanzler!) fältigen Ursachen für Spannungen, die es in der Ge- schichte der Menschheit immer gegeben hat und die mit Sie haben nicht ein einziges Wort zu der Frage gesagt, den neuen technischen Möglichkeiten noch verstärkt wer- die für eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik ent- scheidend ist: Wie können wir angesichts der Bedrohun- den, aufgrund der Tatsache, dassMassenvernichtungs- gen durch Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und waffen immer mehr verbreitet werden, dass Trägertech- Trägertechnologien in der Zukunft Sicherheit gewährleis- nologien in der Lage sind, die Gefahren von jedem Punkt ten? Die alte Form der Abschreckung kann dies nicht der Erde an jeden anderen Punkt zu transportieren, und mehr leisten. In Amerika wird über die neue Sicherheits- dass die alten Formen von Sicherheit nicht mehr funktio- strategie diskutiert. Sie aber weisen das von sich, indem nieren, wird in Amerika über die Frage der nationalen Sie davon sprechen, dass jemand Präventivschläge durch- Sicherheitsstrategie eine intensive Debatte geführt. führen wolle. Man kann diese Gefahren aber nur vermei- Sie lassen zu, dass über diese Gefahren, die sich auch den, indem man Anschläge und den Einsatz von Massen- für uns aus der Kombination von internationalem Terro- vernichtungswaffen verhindert. Mit Vergeltung, also Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 537

Dr. Wolfgang Schäuble (A) einem Zweitschlag, schützen Sie unsere Bevölkerung Ich habe öffentlich darauf hingewiesen – ich habe mich (C) nicht. Deswegen muss eine entsprechende Debatte in Prag dafür eingesetzt; Sie sind ja schließlich die Regierung un- und in Deutschland geführt werden. Dazu haben Sie kein seres Landes –, dass Sie mit unserem wichtigsten Ver- Wort gesagt. Das ist das eigentliche Problem. bündeten vernünftige Beziehungen haben müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf ( [SPD]: Das ist aber nett!) des Bundesministers Joseph Fischer) Nur, welche Pressearbeitmachen Sie im Hinblick auf – Damit es alle hören – eigentlich darf er von der Regie- Ihre Hofschranzen! rungsbank keine Zurufe machen –, wiederhole ich den (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Zuruf des Außenministers. Er hat mich gefragt, ob ich für NIS 90/DIE GRÜNEN) Präventivschläge sei. Ich frage zurück: Ist das die ganze Antwort der Bundesregierung? Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Fernsehen war zu se- hen, dass der Außenminister bei Colin Powell war. Colin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – [CDU/CSU]: Powell hat ihn mit dem seltenen amerikanischen Gruß be- Genau so ist der Fischer! Er hat präventiv mit grüßt: „Good to see you!“ Bereits daraus ist die Meldung Pflastersteinen geworfen!) gemacht worden: Das war eine Liebeserklärung zwischen zwei Außenministern. Ich frage Sie: Was unternehmen Sie gegen die Bedrohung, dass biologische Kampfstoffe demnächst vielleicht einge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – setzt werden? Wir haben in Deutschland beispielsweise Joseph Fischer, Bundesminister: Er hat noch et- noch nicht einmal ausreichend Impfmittel gegen Pocken. was ganz anderes gesagt! Das könnte ich Ihnen Was unternehmen Sie gegen die Gefahr, dass schmutzige sagen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder Atomwaffen eingesetzt werden? Was unternehmen Sie [CDU/CSU]: Seien Sie von der Regierungs- gegen die Gefahr, dass demnächst mit neuen Raketen, die bank einmal ruhig! – Weitere Zurufe von der es überall gibt, von irgendeinem Ort Anschläge verübt CDU/CSU) werden? Bin Laden – ich gehe davon aus, dass er auf dem – Herr Bundesaußenminister, es wäre schön gewesen, Tonband zu hören ist – hat angedroht, dass Deutschland wenn Sie uns in Ihrer Regierungserklärung, die Sie zu demnächst von einem Anschlag betroffen sein könnte. Beginn der heutigen Bundestagssitzung abgegeben ha- Wie wollen Sie im Hinblick darauf Vorsorge treffen? Sie ben, ein paar substanzielle Auskünfte gegeben hätten, an- aber antworten auf diese Fragen nur mit dem Zuruf, ob ich statt hier ein so nichtssagendes und allgemeines Larifari für Präventivschläge bin. zu verlesen, dass sogar das Mikrofon verzweifelt. (B) ( [CDU/CSU]: Sehr ober- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (D) flächlich!) Abgeordneten der FDP) Das ist zu wenig und reicht hinten und vorne nicht. Der Verteidigungsminister war jetzt bei Herrn Rumsfeld. (Michael Glos [CDU/CSU]: Zu dünn und zu Es ist in Ordnung, dass die miteinander gesprochen haben. dumm!) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Das ist Ausdruck Ihrer Politik. NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage es noch einmal: Das Schüren von Antiameri- Wenn aber der amerikanische Verteidigungsminister auf kanismus hat in Wahrheit zur Folge, dass wir eine realis- die Frage, wie die deutsch-amerikanischen Beziehungen tische Bedrohungsanalyse in Deutschland nicht vorneh- jetzt seien, mit sarkastischem Lachen sagt: „Unpoisoned!“, men. Damit werden wir unserer Verantwortung für die dann sollten Sie daraus keine großen Erfolgsmeldungen Sicherheit unseres Landes nicht gerecht. Über diese Fra- machen, sondern begreifen, welchen Substanzverlust Sie gen muss in Prag gesprochen werden. den deutsch-amerikanischen Beziehungen, der europä- ischen Handlungsfähigkeit und damit den Zukunftsinte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei ressen unseres Landes zugefügt haben. Abgeordneten der FDP) Ich sage noch einmal: Ich wünsche mir, dass es or- Sie haben kein Wort zum Thema Irak gesagt, obwohl dentliche Beziehungen gibt. Sie sind die Regierung unse- sich in diesen Tagen erweist, dass diejenigen Recht gehabt res Landes. Sie sollten sich nicht lächerlich machen. Die haben, die in einer Kombination aus Druck und Handeln Art, wie Sie sich jetzt in Amerika aufführen, macht Sie der Vereinten Nationen am ehesten die Chance gesehen lächerlich. Ich möchte nicht, dass unser Land eine lächer- haben, eine militärische Eskalation zu vermeiden. Des- liche Regierung hat. Sie ist schlecht genug und die Zeiten wegen muss man einen Tag, nachdem der Irak die Reso- sind sehr ernst. lution des UN-Sicherheitsrates akzeptiert hat – wir wis- sen natürlich, dass Saddam Hussein in den nächsten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wochen und Monaten sein Spiel weitertreiben wird –, ein- Sie werden auf dem Gipfel in Prag nicht darum he- mal seinen Dank sagen und Respekt dafür zeigen, dass un- rumkommen, auf die neuen politischen Bedrohungen ter amerikanischer Führung dieser große Erfolg erreicht Antworten zu geben. Der Verteidigungsminister hat die- worden ist, anstatt kein Wort dazu zu sagen. Darauf wer- ser Tage in einer Fernsehsendung – das ist mir berichtet den Sie in Prag eine Antwort geben müssen. worden; ich selber habe sie nicht gesehen – gesagt, er habe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es satt und er wolle jetzt keine Fragen mehr dahin gehend 538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Wolfgang Schäuble (A) beantworten, was wäre, wenn. Sie haben einen ganzen Bundesregierung der Anteil des Verteidigungshaushalts(C) Wahlkampf damit geführt, dass Sie Fragen beantwortet am Bruttoinlandsprodukt weiter. Man wird Sie in Prag da- haben, die niemand gestellt hat. Sie haben sich dabeinach fragen und wenn Sie keine befriedigende Antwort ziemlich lächerlich gemacht. geben können, schwächen Sie die NATO. Das ist der falsche Weg; denn wir brauchen die NATO, um auch in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zukunft Frieden und Sicherheit zu bewahren. der FDP) Wir müssen mit unseren technologischen Fähigkeiten Es geht um die politische Unterstützung der Politik einsteigen. Dazu brauchen wir auch eine Bundeswehr- der Vereinigten Staaten und des Atlantischen Bündnis- reform. Das Entscheidende aber ist, dass wir den politi- ses. Dazu muss in Prag eine klare Auskunft gegeben schen Willen haben, die Wahrung der Sicherheit auch in werden. Ansonsten wird der Gipfel in Prag in Bezug auf Zukunft als prioritäre Aufgabe zu begreifen und die wirk- die Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft zwar lichen Bedrohungen nicht zu verharmlosen oder wegzu- eine Weichenstellung darstellen, aber eine zum Schlech- reden. Wir müssen sie ernst nehmen und ihnen ins Auge teren. schauen, um dann auch das Menschenmögliche an Vor- Wenn Sie jetzt die Entschließung des UNO-Sicher- sorge zu treffen. Das ist die Weichenstellung, das ist der heitsrats begrüßen – das tun Sie ja –, dann müssen Sie fol- Auftrag für den NATO-Gipfel in Prag. gende Frage beantworten, und zwar jetzt – das ist keine Sie haben dazu kein Wort gesagt und das macht mich Was-wäre-wenn-Frage, aber das ist eine Frage an die besorgt. Ich bin während Ihrer Regierungserklärung ganz Bundesregierung, die weder im Ausschuss noch im Ple- unglücklich geworden. Ich habe Ihnen vor ein paar Wo- num beantwortet worden ist –: Wird die Bundesregierung, chen gesagt, dass wir Ihnen nicht den Weg verstellen wer- die den Beschluss des Weltsicherheitsrats unterstützt, den, wenn Sie nach dem unverantwortlichen Wahlkampf, auch die ernsten Konsequenzen, die der Weltsicherheits- den Sie geführt haben, zu den Grundlinien derAußen- rat formuliert hat, unterstützen und mittragen, ja oder und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, nein? Sie wollen Ihre eigenen Wähler täuschen; das ist der die wir über Jahrzehnte gemeinsam formuliert haben, Punkt. Sie müssen diese Frage beantworten. zurückkehren wollen. Das können wir gar nicht und das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollen wir auch gar nicht, weil uns die Zukunft unseres Landes wichtiger ist als kleinliche parteipolitische Aus- Dann müssen Sie in Prag noch etwas tun. Sie dürfen einandersetzungen. nicht nur sagen: Wir werden den Auftrag erteilen, eine Konzeption für dieNATO-Reaction-Force zu entwi- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ckeln. Wenn – und weil – die technologische Lücke zwi- DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Volker Beck (B) schen beiden Seiten des Atlantiks immer größer wird, be- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) steht die Gefahr, dass die NATO in Zukunft nicht mehr die – Wenn Sie sich so echauffieren, dann legen Sie doch ein- Schutzfunktion für uns leisten kann, wie dies bisher der fach einmal die Zeitung weg, dann können wir uns ein Fall gewesen ist. Dabei gibt es zwei Gefahren: bisschen auseinander setzen. Es gibt doch ein paar Min- Erstens. Die militärischen Fähigkeiten und die techno- destvoraussetzungen. logische Entwicklung sind so unterschiedlich, dass die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zusammenarbeit immer schwerer wird. Dass Sie Zeitung lesen, ist egal, aber dann machen Sie Zweitens. Das größere Problem ist – davon habe ich auch keine Zwischenrufe. Lassen Sie sich doch beim Zei- gesprochen –, dass wir zu keiner gemeinsamen Bedro- tunglesen nicht stören! hungsanalyse und zu keiner Klärung der politischen Grundlagen dessen, was für die zukünftige Sicherheit not- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wendig ist, mehr fähig sind. Ich will Ihnen sagen, was mich wirklich besorgt Wenn Sie die Lücke in den technologischen Fähigkei- macht: Unser Land befindet sich in einer ungewöhnlich ten schließen wollen, dann ist die NATO-Reaction-Force schwierigen Lage. Das Problem ist übrigens nicht das ein guter Ansatz. Dann darf man aber nicht sagen: Das verantwortungslose Gerede von Bundeskanzler und prüfen wir einmal und dann werden wir sehen, wie wir es führenden Mitgliedern der Bundesregierung in den letz- mit den ESVP-Strukturen kompatibel machen können. ten Monaten. Das bekommen Sie mit der Art, in der Sie zurzeit Ihre Si- (Franz Müntefering [SPD]: Das ist doch Phrasen- cherheitspolitik betreiben, nicht hin. Beides steht nur auf drescherei! Das reicht jetzt aber wirklich!) dem Papier, dann ist es natürlich auch kompatibel. Beides muss aber in die Wirklichkeit umgesetzt werden. DieDas Problem, Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering, Helsinki-Komponente müsste schon längst umgesetztist, dass die Bundesrepublik Deutschland in Amerika und worden sein. in vielen anderen Ländern der Welt als ein Absteigerland angesehen wird. Die Kombination von der wirtschaft- Demnächst führen wir die Haushaltsdebatte. Unsere lichen Lage und den wirtschaftlichen Perspektiven und wichtigsten europäischen Verbündeten erhöhen ihren oh- dieser außenpolitischen Unzuverlässigkeit ist das eigent- nehin höheren Anteil derVerteidigungsausgaben am liche Problem für Deutschland. Dabei wird einem angst Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren. Frankreich und bange. steigert ihn wesentlich, Großbritannien noch mehr. In Deutschland aber sinkt nach dem Stand der Planungen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 539

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Glauben Sie doch nicht, dass wir Freude daran haben, Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht verkraften, dass(C) dass diese Regierung von Tag zu Tag immer mehr taumelt die Bevölkerung unseres Landes gerade in außenpoliti- und nicht die geringste Idee entwickelt! schen Fragen zu 80 Prozent hinter der Bundesregierung (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steht. DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Schadenfreude! – Zurufe von DIE GRÜNEN) der SPD) Sie verkennen deutlich, was die Bundesrepublik Deutsch- Auch wir lesen gelegentlich Zeitung, allerdings nichtland an internationaler Verantwortung in den letzten Jah- dann, wenn wir Zwischenrufe im Bundestag machen. Ma- ren wahrgenommen hat, zurzeit wahrnimmt und was sie chen Sie sich doch nicht lächerlich! demnächst in Afghanistan im Rahmen der ISAF mit der (Zuruf von der SPD: Zur Sache!) Fortsetzung von Enduring Freedom an Verantwortung übernehmen wird. 10 000 deutsche Soldaten befinden – Ich sage doch etwas zur Sache. Dieses Land braucht sich auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen in ver- eine Regierung, die wirklich weiß, was sie will, und die schiedenen NATO-Einsätzen. Sie nehmen diese Aufgabe, verstanden hat, was die Stunde geschlagen hat. die mit großen Risiken verbunden ist, aufgrund eines Be- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schlusses und unter Führung dieser Bundesregierung Sie kriegen nicht einmal Ihre Mehrheit zusam- wahr. Ich glaube, das haben Sie völlig aus dem Blick ver- men, wenn Sie Wahlen in Ihrer Partei machen!) loren. – Sie haben die Wahl gewonnen, deswegen bilden Sie ja (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch die Regierung. Ich möchte nur nicht, dass sich die DIE GRÜNEN) Regierung so lächerlich macht, wie sie es in den letzten Wochen getan hat. Sie sprachen über Stimmungen im transatlantischen Verhältnis. Darüber können wir auch in der „Bild“-Zei- Ich möchte, dass die Regierung endlich die eigent-tung lesen, das ist dieser Frage allerdings keineswegs an- lichen Aufgaben in diesem Land annimmt. Deswegengemessen. Hier geht es um strategische Interessen und da- sage ich: Ein noch größeres Problem als die außenpoli- rum, wie wir auf der Grundlage unserer gemeinsamen tische Unzuverlässigkeit der Regierung ist, dass Deutsch- Werte im transatlantischen Verhältnis und im Westen ge- land in den Augen anderer in seinen wirtschaftlichenmeinsam den Schwierigkeiten der sicherheitspolitischen Fähigkeiten immer schwächer beurteilt wird. Wir werden Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Es ist einen hohen Preis bezahlen; das können wir jeden Tag an keine Frage: Das ist für uns alle nicht einfach. jedem Punkt sehen. Deswegen ist meine Bitte: Wenn Sie (B) schon finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch unfähig Sie haben hauptsächlich über den Irak und wenig über (D) sind, die Probleme zu lösen, dann kehren Sie doch we- den NATO-Gipfel gesprochen. Gerade hier wird aber nigstens auf dem Prager Gipfel zu den Minimalia einer deutlich, wie wichtig die Diskussionen der vergangenen den Zukunftsinteressen unseres Landes entsprechenden Wochen und Monate waren und gerade sie der Hinter- Außen- und Sicherheitspolitik zurück! grund der UN-Resolution sind. Die Resolution entspricht Die Wahlentscheidung ist getroffen. Wir akzeptieren mit Sicherheit nicht der Linie von Herrn Cheney; denn er sie: Wir sind in der Opposition, Sie sind an der Regierung. hat in seiner Rede von ganz anderen Kategorien gespro- Wir möchten aber, dass Sie ein bisschen besser regieren. chen. Er sprach von einem Regimewechsel im Irak als Eine so perspektivlose, konzeptionslose und substanzlose Ziel und nicht von der Vernichtung von Massenvernich- Politik hat dieses Land nicht verdient. tungsmitteln. Dies ist aber die Bedrohung, auf die die UN-Resolution eingeht, und zwar multilateral und nicht (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und unilateral. der FDP) (Beifall des Abg. [SPD]) Präsident Wolfgang Thierse: Diese Diskussion hat übrigens die Reaktion der Bundes- regierung hervorgebracht. Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass wir in der Frage der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen Markus Meckel (SPD): differenzierter miteinander reden. Es ist gar keine Frage, dass der Irak eine ganz zentrale Bedrohung darstellt, auf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- die der UN-Sicherheitsrat jetzt – ich denke, in angemes- leginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäuble, was Sie sener und erstaunlich geschlossener Weise – reagiert hat. eben hier dargestellt haben, ist in meinen Augen wirklich Wir können nur hoffen, dass dies zum Erfolg führt. Das ist zutiefst erschütternd, aber nicht das Einzige, was mit dem internationalen Ter- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) rorismus zu verbinden ist. Natürlich haben wir alle die Schreckensvorstellung, dass Terroristen Massenvernich- weil Sie das transatlantische Verhältnis auf „Bild“-Zei- tungswaffen in die Hand bekommen. Im Augenblick gibt tungs-Niveau dargestellt haben. Das ist den Fragen, vor es aber kaum Belege dafür. Die Verbindung zwischen denen wir stehen, in keiner Weise angemessen. al-Qaida und dem Irak ist bisher nicht in der Weise, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ manche es glauben, nachgewiesen. Gleichzeitig aber DIE GRÜNEN) muss man deutlich sagen, dass die Möglichkeit eines 540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Markus Meckel (A) Militärschlags gegen den Irak die Gefahren des inter-Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungs-(C) nationalen Terrorismus erhöht. waffen und Trägertechnologien zu treffen? Bevor wir diese Fragen beantwortet haben, sollten wir nicht danach (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ fragen, was alles nicht geht. Ich kenne in Deutschland DIE GRÜNEN]) viele Debatten darüber, was alles nicht geht. Mir fehlen Dies birgt die Gefahr, dass die internationale Koalition ge- aber die Antworten, was geht. Meine Frage ist: Was kann gen den Terrorismus zerbricht. zum Schutz gegen die neuen Gefahren getan werden? Das alles müssen wir uns deutlich machen. Es gibt ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Spannungsverhältnis und keine einfache Linie, aufgrund deren man sagen kann: Führer – USA– geh voran, wir fol- (SPD): gen dir. Markus Meckel Herr Kollege Schäuble, dazu kann man eine ganze (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wie bitte?) Menge sagen. Übrigens ist auch eine ganze Menge getan Das geht nicht. Wir brauchen eine eigene Bedrohungs- worden. Dem Terrorismus kann eben nicht nur militärisch analyse und diese ist die Grundlage der Position der Bun- begegnet werden. Sowohl die Europäische Union als auch desregierung. die USA haben sehr viel getan: in Fragen der Geheim- dienstkooperation und in Fragen der inneren Sicherheit, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die von der äußeren Sicherheit nicht zu trennen ist. Dazu haben wir in den letzten Wochen durchaus eineGleichzeitig geht es um Proliferationsfragen. ganze Menge sehr Klares gehört. Hier aber geht es zuallererst um die Stärkung des in- Wenn es um Massenvernichtungswaffen geht, geht es ternationalen Rechtes und hier sind viele Fragen offen. eben nicht zuerst um einen Militärschlag, sondern umÜbrigens sind auch auf internationaler Ebene manche Nonproliferation, die Stärkung internationalen RechtsDialoge offen, die wir intensiv miteinander führen müs- und Rüstungsbegrenzung. Dies sind die Instrumente, die sen. Das betrifft dann auch manche Großmacht. wir stärken müssen. Wir müssen versuchen, alle Beteilig- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten dazu zu gewinnen, daran möglichst entschlossen und geschlossen teilzunehmen. Es muss ganz klar gefragt werden: Inwieweit stärken wir gemeinsam dieses internationale Recht? Ich bin der festen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Überzeugung, dass wir gerade auch in der NATO zu einer BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Debatte darüber kommen müssen. Natürlich stehen wir gerade angesichts derMilitär- (B) (D) strategie der USA vor einer strategischen Diskussion im Rahmen der NATO. Es ist schon die Frage, wie wir als Präsident Wolfgang Thierse: NATO auf diese US-Militärstrategie reagieren und ob Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des man auf Gefahren mit präventiven Schlägen reagiert. Herr Kollegen von Klaeden? Schäuble, diese Frage ist legitim. Darüber müssen wir miteinander sprechen. Wir müssen auch darüber reden, (SPD): wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Ich sehe je- Markus Meckel denfalls nicht, dass die NATO sich darauf einigen könnte, Ja. dieser amerikanischen Strategie einfach zu folgen. Sagen doch auch Sie das ehrlich oder sagen Sie, dass Sie das (CDU/CSU): wollen! Lassen Sie uns eine ernsthafte Debatte führen, in Eckart von Klaeden der nicht einfach nur der Bundesregierung unverantwort- Herr Kollege Meckel, Sie sprechen von der Stärkung des liches Handeln vorgeworfen wird! Dies kann ich in keiner internationalen Rechts. Sind Sie auch bereit, sich an der Weise akzeptieren, weil es der Sache nicht gerecht wird. Durchsetzung des internationalen Rechts zu beteiligen? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Markus Meckel (SPD): Verehrter Kollege, die deutschen Soldaten tun dies in Präsident Wolfgang Thierse: wichtigen Zusammenhängen der internationalen Sicherheit Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es geht jetzt Kollegen Schäuble? um die letzte Resolution des UN-Sicherheits- rates!) Markus Meckel (SPD): mit 10 000 Soldaten. Diese Zahl übersteigt bisherige Vor- stellungen weit. Jetzt übernehmen wir gemeinsam mit den Ja. Niederländern die Führung von ISAF in Afghanistan. Dies ist wahrhaftig ein Beweis dafür, dass wir genau dazu Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): bereit sind. Herr Kollege Meckel, könnten wir nicht einfach danach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fragen, was wir tun können, um Vorkehrungen gegen die DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 541

Markus Meckel (A) Meine Damen und Herren, ich will in der mir verblei- miteinander führen, zu würdigen gilt. Darüber hinaus(C) benden Redezeit auch noch auf Prag zu sprechen kom- müssen wir aber auch sehen, wie wir gemeinsam mit die- men. Eines ist klar: Wir werden die Debatte zu den Fra- sen Ländern dieser neuen Rolle und diesen neuen He- gen, die wir eben angesprochen haben, in Prag beginnen rausforderungen begegnen. müssen; sie wird dort nicht abgeschlossen werden. Es er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scheint mir aber wichtig, den Rahmen der NATO zu nut- DIE GRÜNEN) zen, um diese Debatte auch im Rahmen des Rates zu führen. Hier sehe ich übrigens große Defizite. Bisher ist Angesichts der neuen Herausforderungen, über die wir es so, dass die Behandlung solcher Fragen im NATO-Rat gesprochen haben, halte ich es für ausgesprochen wichtig, eher abgewürgt als dass wirklich debattiert wird. dass wir die alten und gewissermaßen traditionellen Kern- funktionen der NATO nicht aus dem Blick verlieren. Da- Ich halte es auch für wichtig, dass die europäischen mit meine ich nicht nur die Frage der Verteidigung; dazu Länder, die natürlich ihre eigene Tradition und ihren ei- ist das Nötige gesagt worden. Diese bleibt natürlich eine genen Zusammenhalt haben und im Rahmen der europä- wesentliche Grundlage. Gerade in den Umbruchzeiten ischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre eigenen 1989/90 war es wichtig, dass die neuen Demokratien Ost- Strukturen entwickeln, versuchen, gemeinsame Positio- und Mitteleuropas nicht allein eine nationale Sicherheits- nen zu finden, und diese auch in der NATO miteinander politik betrieben haben, sondern dass sie sich in inte- vertreten. Dies ist bis heute leider nicht der Fall. Hier brau- grierte Streitkräftestrukturen und in ein europäisches ge- chen wir neue Strukturen, einen stärkeren europäischen meinsames Sicherheitsdenken hineinbegeben haben. Das Zusammenhalt und einen stärkeren gemeinsamen europä- internationale Krisenmanagement, das in den 90er-Jah- ischen Willen, diesen Herausforderungen zu begegnen. ren so ungeheuer wichtig war, um Friedensprozesse über- Zu den anderen Fragen – es gibt viele Fragen, die den haupt erst in Gang zu setzen und auch heute noch zu si- Terrorismus betreffen, also gar nicht zuallererst militä- chern, wird eine bleibende Aufgabe der NATO sein. Wie rische Fragen sind – wird es übrigens einen europäisch- schon vom Bundesaußenminister dargestellt, wird es in amerikanischen Dialog auf ganz anderen Ebenen als der Prag ebenfalls wichtig sein, die partnerschaftlichen Be- NATO-Ebene geben müssen. ziehungen zu Russland, zur Ukraine, zum Kaukasus und dem Mittelmeerraum zu pflegen. Auf Prag zurückkommend möchte ich doch noch auf etwas hinweisen, was der Herr Bundesaußenminister be- Ich denke, dass diese Aufgaben nun unsere Aufmerk- reits zu Beginn dieser Debatte gesagt hat, nämlich auf den samkeit brauchen. Dann wird es auch wichtig sein, die wirklich historischen Schritt, den wir als NATO bei der neuen Kapazitäten – dazu werden andere Redner meiner Gestaltung Europas miteinander gehen. Anders als 1997 Fraktion sprechen – so zu gestalten, dass wir unseren Bei- (B) in Madrid, als es während des NATO-Gipfels viele Dis- trag dazu sowohl im Rahmen der NATO als auch im Rah- (D) kussionen über die Frage der Erweiterung gab, darüber, men der Europäischen Union leisten können. Dies muss welche Staaten aufgenommen werden können oder nicht, kompatibel sein. gibt es jetzt schon im Vorfeld einen breiten Konsens, so- Auch muss klar bleiben: Die Bundeswehr, die diese dass es dazu in Prag selber wohl keine große Debatte mehr Aufgaben für uns erfüllt, ist ein Heer dieses Parlaments geben wird. Es geht aber um eine gewaltige Erweiterung und dieses Parlament hat über seine Einsätze zu entschei- um sieben Staaten Ost- und Mitteleuropas, die früher dem den. kommunistischen Block angehörten. Damit wird eine völ- lig neue Gestaltung Europas vollendet. Dies ist etwas, was Ich danke Ihnen. man sich vor zwölf oder 13 Jahren kaum hätte vorstellen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können. Damit vollendet sich, was 1989/90 mit der Ver- DIE GRÜNEN) änderung Europas begonnen hat, nämlich die Gestaltwer- dung einer europäischen Demokratie und Freiheit. Dies gilt auch für die Frage, wie wir als gemeinsames Europa Präsident Wolfgang Thierse: künftig unser Verhältnis zu den Nachbarregionen und Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Hoyer, FDP- überhaupt in der ganzen Welt gestalten wollen. Fraktion. Wir haben – ich spreche hier als Ostdeutscher – schon 1989/90 diese Perspektive klar beschrieben, indem wir (FDP): gesagt haben: Wir als Ostdeutsche, die mit der deutschen Dr. Werner Hoyer Vereinigung unmittelbar Mitglied von EU und NATO Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr wurden, wollen, dass unsere östlichen und südöstlichen Kollege Meckel, Sie haben dem Kollegen Schäuble vor- Nachbarn auch die Chance bekommen, Teil dieser Struk- geworfen, er habe auf „Bild“-Zeitungs-Niveau argumen- turen zu werden. Uns war klar, dass dies ein längerer Weg tiert, als er vom deutschen Abstiegsplatz gesprochen hat. werden würde. In diesen Wochen werden wir auf diesem Ich glaube, Sie tun nicht nur ihm Unrecht, sondern sich Weg auch im Rahmen der Europäischen Union weitere selbst, weil ich weiß, dass Sie auch andere Gazetten die- wesentliche Fortschritte machen, werden wir zu Ent-ser Welt lesen. Beim Lesen der Weltpresse werden Sie scheidungen kommen, sodass in zwei Jahren sowohl die feststellen, dass die Weltöffentlichkeit fassungslos vor der EU als auch die NATO um weitgehend die gleichen Län- Tatsache steht, dass Deutschland seine Führungsposition der erweitert sein werden. Dies ist ein wahrhaft histori- in der Weltwirtschaft aufgrund eigener Reformunfähig- scher Schritt, den es trotz aller Debatten, die wir hier sonst keit aufs Spiel setzt oder bereits verspielt hat und darüber 542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Werner Hoyer (A) hinaus sich noch der Möglichkeit begibt, große weltpoli- Umgekehrt müssen wir sehen: Wer über so viel Macht (C) tische Entscheidungen mit zu beeinflussen, wie wir das und militärische Überlegenheit verfügt wie die Amerika- bei der Irak-Resolution der Vereinten Nationen gesehen ner, der ist natürlich ständig versucht, dem Unilateralis- haben. Bei dieser Irak-Resolution ist festzustellen, dass mus das Wort zu reden. Wir spüren das seit dem Ende des der Weltsicherheitsrat und die dort Tätigen ein Meister- Kalten Krieges immer wieder. Dennoch haben sich die stück diplomatischer Kunst abgeliefert haben und das Er- Amerikaner letztendlich doch als bereit und bemüht er- gebnis nicht zuletzt dem beharrlichen Verhandlungsge- wiesen, sich den neuen Bedrohungen multilateral zu stel- schick sowohl unserer amerikanischen, aber vor allenlen. Das ist ihnen auch aufgrund der innenpolitischen De- Dingen auch einiger unserer europäischen Freunde, ins- batte nicht immer leicht gefallen, aber wir sollten besondere in Frankreich und auch in Russland, zu ver- anerkennen, dass sie es am Ende getan haben, übrigens danken ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von auch nach dem 11. September, als viele in diesem Hause vornherein jeder Möglichkeit begeben, hierzu einen Bei- der Meinung gewesen sind, die Amerikaner würden ohne trag zu leisten. Dieses hätte eine Sternstunde europäischer Rückkoppelung blindwütig draufschlagen. Hinterher wa- Diplomatie sein können; ren sie erstaunt, wie sehr sie sich rückgekoppelt haben, wie sehr sie Allianzen geschmiedet und eine weltweite (Beifall bei der FDP) Aktion ermöglicht haben. Das haben am Anfang manche es ist eine Sternstunde französischer Diplomatie gewor- hier nicht für möglich gehalten. den, weil Deutschland darauf verzichtet hat mitzuwirken. Die Amerikaner sagen aber auch: In unserer neuen Der NATO-Gipfel ist sicherlich viel mehr als ein Er- Strategie spielt die NATO eine wichtige Rolle. Die Ame- weiterungsgipfel. Es ist gut, dass die Entscheidungen über rikaner sind also durchaus bereit, der NATO eine Rolle die weiteren Beitritte jetzt in trockene Tücher kommen. zuzuweisen. Wir Europäer müssen hingegen sehr viel Das ist eine große Entscheidung für Europa. Ich würde, mehr tun, als uns eine Nische zuweisen zu lassen. Wir sel- Herr Meckel, von Vollendung aber erst sprechen, wenn ber müssen die europäische Rolle in der NATO definieren auch die Dimension der Europäischen Union dazukommt. und die eigene Handlungsfähigkeit im Rahmen der euro- Wir sollten das immer zusammen sehen und den Schluss- päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik herstellen. strich erst ziehen, wenn Kopenhagen ebenfalls unter Dach Wir müssen uns auf der Basis eines fundierten, gewisser- und Fach ist. Wichtig ist auch, dass die NATO Wort ge- maßen mit konzeptioneller Klarheit und militärischer halten hat. Die Tür ist nach der ersten Erweiterungsrunde, Hardware unterlegten europäischen Selbstbewusstseins als die ersten drei Staaten beitreten konnten, nicht zuge- der Strategiedebatte mit unseren amerikanischen Freun- schlagen worden, wie es viele Partner in Europa befürch- den stellen. Wie weit sind wir davon eigentlich entfernt? teten. Damit sind wir nach der wachsenden militärtechnolo- (B) (D) Prag ist viel mehr als nur Erweiterung. Die öffentliche gischen bei der zweiten, möglicherweise noch gefährli- Diskussion in Deutschland wird natürlich von der Irak- cheren transatlantischen Kluft. Das sicherheitspolitische Frage geprägt. Gleichzeitig erwarten viele fasziniert,und das militärstrategische Denken in den USA hat sich in wie die Verbiegungen aussehen werden, die die Herren den letzten Monaten entscheidend weiterentwickelt. Die Schröder, Struck und Fischer auf sich nehmen, wenn sie Bush-Doktrin enthält neben Bekenntnissen zur friedli- ihre Versuche der Wiederannäherung an die Vereinigten chen Krisenprävention und Krisenbeilegung, zur Allianz Staaten, an unsere amerikanischen Freunde, unterneh- und zum Völkerrecht das Prinzip der militärischen men. Wir drohen dabei die wirkliche Substanz des NATO- Präemption als eine zwingende Handlungsalternative. Gipfels zu verschlafen. Amerika will sich angesichts der neuen Bedrohungen nicht mehr ausschließlich auf die Wirksamkeit militäri- Die Amerikaner gehen mit klaren Vorstellungen nach scher Abschreckung verlassen. Es will sich dann, wenn Prag. Sie wollen zwölf Jahre nach Ende des Kalten Krie- diese zu versagen droht, militärische Präventiveinsätze ges eine neue NATO aus der Taufe heben, eine NATO, in vorbehalten. Verglichen damit sind wir Europäer, speziell der die europäischen Partner bereit sind, mehr Lasten zu wir Deutschen, noch in der militärstrategischen Diskus- tragen, vor allen Dingen aber eine NATO, in der die Eu- sion der 50er-Jahre gebunden. Die Amerikaner dürften ropäer für ihre amerikanischen Freunde auch militärisch mit ihren Analysen so Unrecht nicht haben. Nukleare und relevant sind. Das ist für die Amerikaner sicherlich ein konventionelle Abschreckung, komplizierte konsensuale wichtiger Punkt. Die Tatsache, dass die militärisch-tech- Entscheidungsprozesse und eine Beschränkung auf den nologische Kluft in den letzten Jahren immer breiter ge- Wendekreis des Krebses mögen beim Umgang mit inter- worden ist, muss endlich Konsequenzen haben. Genau national agierenden Terroristen, mit Problemen der Proli- davon ist bei dieser Bundesregierung nichts zu spüren. feration von Massenvernichtungswaffen und mit Regio- nalkonflikten an ganz fernen Enden der Welt, die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd gleichwohl zu uns herüberschwappen können, nicht mehr Müller [CDU/CSU]) ausreichen. Dennoch dürfen wir das Kind nicht mit dem Wir Europäer sind von den neuen Sicherheitsbedrohun- Bade ausschütten. gen – sie sind ja schon von zwei Rednern dargestellt wor- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst den – mindestens so stark betroffen wie unsere Freunde Hinsken [CDU/CSU]) jenseits des Atlantiks, wenn nicht deutlich stärker. Wir Europäer brauchen als Antwort auf diese neuen Bedro- Das Beharren auf der Herrschaft des Völkerrechts, auf hungen die NATO dringender als die Amerikaner; das dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, auf dem muss uns stets bewusst sein. Vorrang friedlicher Konfliktlösung und Prävention ist et- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 543

Dr. Werner Hoyer (A) was anderes als das Verharren in schönen europäischen ben, wenn die neuen Vorstellungen der NATO über ihre (C) Illusionen. Das ist der epochale Fortschritt vor allem in der eigene Zukunft Wirklichkeit werden. zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der aus unserer Herzlichen Dank. Kultur und vor allen Dingen aus unseren historischen Lernprozessen gespeist wurde. Man mag dies nicht 1 : 1 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf den Rest der Welt übertragen können. Aber man darf diesen Fortschritt auch nicht leichtfertig über Bord gehen Präsident Wolfgang Thierse: lassen. Das bedeutet auch, dass dann, wenn Präemption oder Prävention erforderlich sein sollten, die völker- Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer, rechtliche Einbindung wichtiger denn je und die Rolle Bündnis 90/Die Grünen. der Vereinten Nationen von größerer Bedeutung als je zu- vor sind. Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Markus Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Meckel [SPD]) ren! In der Rede von Herrn Schäuble war genau eine Er- Noch ein Wort zur NATO-Response-Force: Natürlich kenntnis richtig, nämlich dass alles mit allem irgendwie ist eine solche Truppe im Prinzip zu begrüßen. Aber ent- zusammenhängt. scheidende Fragen sind noch unbeantwortet. Es ist zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beispiel nicht klar, welche Rolle die NATO-Response- Force im strategischen Konzept der Vereinigten Staaten Das hat er bestens ausgedrückt. Aber es haperte schon an spielen soll. Die „New York Times“ schreibt von einer der Analyse, wie genau die Zusammenhänge aussehen. „Fremdenlegion des Pentagon“. Das kann es ja wohl nicht (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sein. Wir stellen uns darunter mehr vor. Die Frage, wie die Das ist richtig!) NATO-Response-Force zu den geplanten europäischen Krisenreaktionskräften passt, ist ebenfalls unbeantwortet. Herr Schäuble, Sie haben richtig erkannt: Die Außen- Es darf ja wohl nicht sein, dass mit dem einen Projekt das politik ist ein äußerst komplexes Gebiet. Sie haben aber andere unterlaufen wird. nicht erkannt, dass man deshalb einzelne Bereiche be- trachten muss. Der Bundestag hat sich eine Tagesordnung (Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) gegeben, in der einzelne Aspekte behandelt werden. Wir Wir müssen unsere eigenen Vorstellungen klar definieren. behandeln heute den NATO-Gipfel und nicht alle Aspekte Wir müssen deutlich machen, dass wir uns hier nicht ab- der Sicherheitspolitik. Das haben wir am letzten Mitt- koppeln lassen, und aufpassen, dass sich die amerikani- woch in der Debatte um Enduring Freedom getan und (B) (D) sche Lokomotive nicht von dem abkoppelt, was in Europa werden es auch morgen tun. Ich bin mir sicher, dass der geschieht. Wenn wir aber einen Platz im Führerhäuschen Außenminister morgen eine umfassende Grundlinie zur der Lokomotive beanspruchen, dann müssen wir auch Bekämpfung des internationalen Terrorismusvorstel- starke Beiträge leisten. len wird. Das hat er im Auswärtigen Ausschuss übrigens schon getan. Wir haben auch gestern im Ausschuss, dem Wenn sich die NATO – damit komme ich zumSie ja angehören, darüber diskutiert. Als Herr Hanning da- Schluss – wirklich zu einer neuen NATO entwickelt, wer- vor warnte, Gerüchte über eine angebliche Bedrohung in den viele Partner, sicherlich auch wir, anverfassungs- Deutschland in die Welt zu setzen, rechtliche Grenzen stoßen. Wir werden uns bald fragen müssen, ob der NATO-Vertrag wirklich all das hergibt, (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das was die NATO tut und tun muss. Ich kenne das Argument, war geheim und Sie haben es gesagt!) dass man einen besseren NATO-Vertrag so leicht nicht be- haben Sie gefehlt. Sie tun heute genau das, wovor der kommen werde. Auch ich sehe, dass Rot-Grün aus gutem Auswärtige Ausschuss gestern gewarnt hat. Deshalb fällt Grunde eine Debatte über eine möglicherweise notwen- die Kritik, die Sie an der Bundesregierung geäußert ha- dige Anpassung des Grundgesetzes an die neuen Heraus- ben, auf Sie zurück. forderungen scheut wie der Teufel das Weihwasser; denn sonst würden alte Konflikte sehr schnell wieder aufbre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen. Aber die Rechtsgrundlagen unseres Handelns sind und bei der SPD) nicht unbegrenzt dehnbar. Denken Sie nur an die verfas- Jeder ist sich darüber im Klaren, dass der Kampf gegen sungsrechtliche Rolle des Bundestages bei jedem Mili- den Terrorismus eine militärische Dimension braucht. Das täreinsatz! Sie gilt auch für eine NATO-Response-Force sagen auch diejenigen, die in der Vergangenheit militäri- oder eine EU-Truppe. schen Optionen außerordentlich zurückhaltend gegenüber- (Beifall der Abg. Sabine Leutheusser- gestanden haben. Wir wissen aber auch, dass die Hauptele- Schnarrenberger [FDP]) mente des Kampfes gegen den Terrorismus politische sein müssen und dass sich schon bei der Fragestellung entschei- Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen sehr, sich mit det, wie die dazugehörige Strategie aussehen wird. Auch in dem Antrag, den die Fraktion der FDP zu der Frage der diesem Punkt hat es in Ihrer Rede ganz erheblich gehapert. Beteiligung des Deutschen Bundestages bei Entscheidun- Wenn wir – darin sind wir uns völlig einig – den internatio- gen über Einsätze der Bundeswehr eingebracht hat, zu be- nalen Terrorismus als die Bedrohung Nummer eins ansehen schäftigen. Wir werden die Rechte des Parlaments, das für und wenn wir festhalten, dass der Irak in den letzten Jahren eine Parlamentsarmee verantwortlich ist, zu wahren ha- eine massive Sicherheitsbedrohung dargestellt hat, dann 544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Ludger Volmer (A) müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Zusammen- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Diese (C) hang die Bedrohung, die vom Irak ausgeht, mit dem inter- Geschichtsklitterung ist unerträglich! Seien Sie nationalen Terrorismus steht. Gedanken hierzu haben in doch ruhig und denken Sie doch einmal nach! – Ihrer Rede völlig gefehlt. Dr. Werner Hoyer [FDP]: Der Mann ist nicht von dieser Welt!) Wenn man diese Frage stellt, dann ergibt sich notwen- digerweise die Antwort, dass es im Moment alles andere Im Moment gibt es einen sehr begrenzten Disput, der das als sinnvoll wäre, die Gefährdung, die vom Irak ausgeht, grundlegend gute Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ins Zentrum der internationalen Politik zu stellen. Das war nicht berührt und nicht nachhaltig beeinträchtigt, wie wir die Analyse, die die Bundesregierung – wie ich finde: völ- bei den Besuchen des Außenministers und des Verteidi- lig zu Recht – dazu gebracht hat, vor einem militärischen gungsministers in Washington jetzt erleben konnten. Angriff auf den Irak zu warnen. Wie richtig diese Politik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist, hat sich spätestens gestern herausgestellt, als der Dik- und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] tator Saddam Hussein den Brief bei der UNO hinterlegt [CDU/CSU]: Das trifft auf Sie selbst! Sie sind hat, in dem er zugesteht, dass die Inspekteure nun endlich das Problem!) ins Land kommen können. Herr Schäuble, wenn Sie Präventivschläge für möglich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- halten, frage ich Sie: Wo führen diese eigentlich hin? SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Werner Hoyer Wem wollen Sie denn präventiv begegnen? Wer sind ei- [FDP]: Aber Herr Volmer, das hat Sie aber be- gentlich die Länder oder Regionen, in denen die Gefähr- eindruckt! – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: dungen, die Sie per Präventivschlag ausschalten wollen, Das hat er doch wegen des Drucks gemacht!) am stärksten sind? Führt Sie Ihre Präventivschlagoption Es waren unsere Politik, die Politik der Bundesregie- tatsächlich gegen den Irak oder gibt es nicht ganz andere rung, die völlig klaren Äußerungen des Bundeskanzlers Kandidaten, die ebenfalls auf der Liste stehen müssten? und des Außenministers, die dazu geführt haben, dass die vor einigen Monaten anschwellende Diskussion darüber, ob man nicht militärisch eingreifen sollte, um Saddam Präsident Wolfgang Thierse: Hussein zu stürzen, nicht etwa um Inspektoren ins Land zu Kollege Volmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des bringen, abgeflaut ist und dass der multilaterale Weg, ver- Kollegen Pflüger? mittelt über die UNO, eingeschlagen wurde, der vorsieht, die Inspekteure ins Land zu bringen, damit die Waffenar- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): senale von Saddam Hussein vernichtet werden können. Dr. Ludger Volmer (B) Das ist ein Erfolg, den auch die deutsche Politik zusammen Bitte. (D) mit den Franzosen erzielt hat, die ständig konsultiert wur- den, die im Gegensatz zu uns Mitglied des Sicherheitsrates Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): sind und deswegen an der Resolution mitarbeiten konnten. Ich meine, der Bundestag sollte der Bundesregierung für Herr Kollege Volmer, Sie haben eben, wie wir alle, be- die klare Haltung zur Irakpolitik Respekt zollen. grüßt, dass Saddam Hussein einlenkt und die Waffen- inspekteure ins Land kommen lässt. Stimmen Sie zu, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN er sie weniger wegen der freundlichen Appelle der Bun- und bei der SPD) desregierung, sondern eher wegen des internationalen Herr Schäuble, Sie lassen, um es wohlwollend auszu- Drucks, der mögliche Militärschläge der internationalen drücken, im Unklaren, ob Sie für Präventivschläge sind. Staatengemeinschaft – leider unter Ausschluss der Bun- Ich denke, dies impliziert, dass Sie Präventivschläge im desrepublik Deutschland – einschließt, ins Land kommen Prinzip für möglich halten. Sie haben – genauso wie Ihr lässt? Kanzlerkandidat während des Wahlkampfs – eine Nicht- Position bezogen. Herr Stoiber hat nie klar gesagt, ob er Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): militärische Optionen gegen den Irak für nötig hält. Statt- dessen hat er alles dazu gesagt: Anfangs fand er sie nötig, Herr Pflüger, ich stelle vor allen Dingen fest, dass dann blies ihm die öffentliche Meinung ins Gesicht und er sich – vermittelt durch die UNO und nach sehr intensivem war dagegen. Dann wurde er fischig und schlängelte sich Einsatz zahlreicher Staaten, unter anderem auch der Bun- durch, indem er sagte: Eigentlich sind wir dagegen, wenn desrepublik – jetzt die Linie durchsetzt, die wir im Wahl- aber alle anderen dafür sind, machen wir irgendwie mit. – kampf als wünschenswert vertreten haben, dass nämlich Das war auch Ihre Position heute. UNO-Inspekteure ins Land kommen, um die biologischen und chemischen Potenziale von Saddam Hussein zu be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seitigen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wofür sind Sie denn nun? Sind Sie für eine militärische und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] Option gegenüber dem Irak oder nicht? [CDU/CSU]: Das ist doch eine Lüge! Sie Lüg- Wenn Sie dagegen sind und das aussprechen, haben Sie ner! Sie sind ein politischer Lügner und Ge- ein Diskussionsproblem mit unseren wichtigsten Freun- schichtsklitterer! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: den und Partnern. Comedy pur!) 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Dr. Ludger Volmer (A) Wir freuen uns, dass wir diese UNO-Resolution mit den Das wäre für die Regionalpolitik im Nahen Osten sicher- (C) Amerikanern und allen anderen verabschiedet haben und lich ein Segen und würde die Rahmenbedingungen er- auf dieser Basis gemeinsam wieder handlungsfähig wer- heblich verbessern, um sowohl konstruktiv auf den Nah- den. ostkonflikt einzuwirken als auch dem internationalen Terrorismus beizukommen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Pflüger? Lassen Sie mich noch einen Satz zur NATO-Erweite- rung sagen. Ich erinnere mich an die Diskussion vor fünf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Ludger Volmer Jahren im Plenum, als sehr viel Skepsis zum Ausdruck ge- Bitte nicht. Im Ausschuss und kürzlich in öffentlichen bracht wurde. Ich nehme mich selbst nicht davon aus; ich Fernsehdiskussionen gab es so viele Gelegenheiten dazu. gehörte damals eher zu den Kritikern, die ihre Befürch- Es soll kein Dialog werden. tungen vorgebracht haben. Heute kann ich feststellen, dass sich zum Glück alle Befürchtungen nicht erfüllt ha- In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, ben. Das hängt damit zusammen, dass die NATO-Erwei- dass in Prag auch über die Mittelmeerdimensionder terung damals durch begleitende Strategien, wie den NATO-Politik gesprochen wird. Dieser Aspekt wurde von NATO-Russland-Pakt, den NATO-Ukraine-Pakt und die einem Ihrer Redner in einer der letzten Debatten abgetan, transatlantische Partnerschaft flankiert wurde. All diese und zwar in dem Sinne: Mittelmeer, mein Gott, welches Maßnahmen stehen nicht nur auf dem Papier, wie da- Nebenthema. – Wir meinen, dass die Mittelmeerdimen- mals befürchtet wurde, sondern sie wurden mit Leben sion der Sicherheitspolitik immer bedeutsamer wird. Un- erfüllt. sere Nachbarn südlich des Mittelmeers sind nun einmal arabisch-islamische Staaten. Wir haben völlig richtig ana- Wir sehen heute mit großer Genugtuung, dass diese Si- lysiert, dass das Hauptproblem, nämlich der internatio- cherheitspartnerschaft mit Russland bei allen Streitpunk- nale Terrorismus, aus dieser gesamten Region stammt und ten – Tschetschenien ist der wichtigste – gewachsen ist. dort seinen Ursprung hat. Deshalb muss es in unserem un- Von daher beurteilen wir es nicht mehr mit Skepsis, son- mittelbaren Interesse liegen, unsere sicherheitspolitische dern begrüßen es, dass weitere mittel- und osteuropäische Zusammenarbeit mit den arabisch-islamischen Staaten zu Staaten in die NATO aufgenommen werden. Dabei han- verbessern. delt es sich um einen wichtigen Schritt, um den Transfor- mationsstaaten Stabilität zu verschaffen und Sicherheit in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den mittel- und osteuropäischen Raum zu exportieren. (B) und bei der SPD) Wir meinen, dass eine in diesem Sinne erweiterte NATO, (D) Wir sehen, dass sich diese Zusammenarbeit unter an- die eng mit der OSZE und dem Europarat zusammenar- derem deshalb nicht richtig entfalten kann, weil der un- beitet, einen wichtigen Schritt zu einem System koopera- gelöste Nahostkonflikt noch im Raum steht. Nun frage tiver Sicherheit darstellt, das sich unter Anerkennung der ich Sie: Werden die Chancen, den Nahostkonflikt zu lö- Zuständigkeiten der UNO für die globalen Fragen um die sen, durch militärische Optionen gegenüber dem Irak ver- Sicherheit im gesamten Raum zwischen Vancouver und schlechtert oder verbessert? Unsere Analyse war völlig Wladiwostok bemühen wird. Dabei handelt es sich um eindeutig: Die Bedingungen für eine Lösung des Nahost- eine sehr positive Entwicklung. Wir ermuntern die Bun- konflikts würden durch einen militärischen Angriff auf desregierung, in Prag mit demselben Selbstbewusstsein, den Irak verschlechtert. mit dem sie in den vergangenen Monaten Außenpolitik betrieben hat, zu verhandeln. Der Nahostkonflikt ist nicht nur irgendein Konflikt, sondern an ihm macht sich viel Frustration in der ara- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bisch-islamischen Welt fest. Über die Frage, ob dies zu und bei der SPD) Recht oder zu Unrecht der Fall ist, kann diskutiert werden. Wenn aber die Frustration, die mit den Nährboden für den Präsident Wolfgang Thierse: Terrorismus bildet, abgebaut werden soll, dann muss sich die Strategie der internationalen Politik darauf richten, Nun hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Frak- den Nahostkonflikt energisch anzupacken und zu lösen, tion, das Wort. statt einen weiteren in der Tat vorhandenen Konflikt über die Schwelle der militärischen Eskalation zu führen. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sowie bei Abgeordneten der SPD) ren! Die Rede von Herrn Volmer zur NATO kann man nur Deshalb waren wir dagegen, dass der Konflikt mit dem verstehen, wenn man einige Jahre zurückblickt. Vor acht Jahren waren die Grünen noch für die Auflösung der Irak militärisch eskaliert. Deshalb waren wir für die NATO und einige Jahre davor wurden bei öffentlichen UNO-Lösung bzw. für die Entsendung von Waffenin- Gelöbnissen noch „Mörder, Mörder!“-Rufe skandiert. – spektoren und deshalb sind wir mit der UNO-Resolution Das ist der Hintergrund. einverstanden. Wir hoffen, dass die internationale Ge- meinschaft die Kraft hat, Saddam Hussein zu nötigen, alle (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bedingungen zu erfüllen, die ihm gestellt worden sind. Jörg van Essen [FDP]) 546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Gerd Müller (A) Die NATO ist kein Aggressionsbündnis, Herr Volmer, Für uns, die mittlere Generation – ich bin 1955 gebo- (C) sondern ein Friedensbündnis. ren –, war und ist es ein Traum: Europa in Frieden und in Freiheit. Aber leider ist dieser Traum nicht Realität ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) worden. Wir erleben die Bedrohung durch den internatio- Ich würde sogar sagen, die NATO ist die größte Friedens- nalen Terrorismus: die Anschläge vom 11. September 2001, und Freiheitsbewegung in Europa. In Prag findet in der in Bali und in Moskau. Saddam Hussein ist der gefährlichs- Tat ein historischer Gipfel statt. te Diktator der Welt und fordert uns heraus. Er droht mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Der Gipfel von Ich habe in der Vorbereitung auf diese Debatte die Pro- Prag muss ein Signal der Entschlossenheit und Solidarität tokolle der großen NATO-Debatte gelesen, die 1955 im nach Bagdad geben. Wir in der NATO stehen an der Seite Deutschen Bundestag stattfand. Mit Blick auf die Einheit der Amerikaner bei der Durchsetzung der UN-Resolution. Europas und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland Es darf keinen deutschen Sonderweg geben. zur NATO – schließlich muss heute besonders den jungen Leuten das Bild der NATO nach innen und außen erklärt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden – hat BundeskanzlerKonrad Adenauer am neten der FDP) 15. Dezember 1954 in dieser Debatte erklärt: Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, nach Mit dem Abschluss der Pariser Verträge wird diedem 11. September 2001 haben Sie den Amerikanern das Bundesrepublik eine sichere Basis gewinnen, von Versprechen der „uneingeschränkten Solidarität“ gege- der sie die Politik der Wiedervereinigung mit Be- ben. Dann war Wahlkampf und es kam die Kehrtwende: dacht führen kann. ... Die Verwirklichung der Ver- Sie stempelten Bush zum Aggressor dieser Welt. Jetzt träge gewährleistet der Bundesrepublik Wohlfahrt, stellt sich die Frage: Wie kommen Sie aus dieser Situation Freiheit und Sicherheit. wieder heraus? Mit ein paar Fernsehbildern und kurzen Adenauer hatte Recht und er bekam von der Geschichte Smalltalks in Washington gelingt Ihnen das nicht. Wie Recht. kommen Sie aus der Ecke der internationalen Isolation im Bündnis und in der Weltvölkergemeinschaft heraus? Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, der Preis neten der FDP) dafür kann nicht der Beitritt der Türkei zur Europäischen Wenn ich aus der Debatte von damals weiter zitieren Union sein. würde, dann würde ersichtlich – das wissen Sie sehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wohl –, dass Sie von der SPD damals gegen den Beitritt neten der FDP) Deutschlands zur NATO gestimmt haben. Die NATO als Für dieses Kompensationsgeschäft auf dem Gipfel in (B) Verteidigungs- und Wertebündnis, die Freundschaft zu (D) Amerika und den NATO-Partnern waren für uns Kopenhagen in haben Sie kein Votum, keine Mehrheit im Deutschland und in Europa der Garant der Sicherheit, des Volk. Dies ist im Übrigen nicht der richtige Weg. Friedens, der Freiheit und der Demokratie. Die Türkei ist in Europa und in der NATO ein heraus- Zum historischen Gipfel in Prag.In der Debatte am gehobener Partner. Ich betone das, damit es nicht zu Miss- 27. Februar 1955 hat von Brentano ausgeführt – daran verständnissen kommt. Wir wollen Sonderbeziehungen wird deutlich, welche Entwicklung wir die letztenund einen ehrlichen, offenen Weg der Kooperation und 50 Jahre genommen haben –: Zusammenarbeit mit der Türkei. Volker Rühe hat einen Weg dazu angedacht. Es gibt weitere Möglichkeiten der Immer stärker empfinden wir, dass der Zweite Welt- Entwicklung von Sonderbeziehungen. Aber der Preis krieg im Jahre 1945 keinen Abschluss gefunden hat dafür, aus der internationalen Isolation herauszukommen, und dass die Waffenruhe, die vor nunmehr zehn Jah- kann nicht die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Euro- ren eingetreten ist, nur scheinbar einen Friedenszu- päischen Union sein. stand geschaffen hat. ... So ist es nicht gelungen, die Länder am östlichen Rande des europäischen Konti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nents zu befrieden. Sie wurden nicht befreit, sondern neten der FDP) erobert und mit den Mitteln des Terrors und der Un- Noch nie seit 1949 hat ein deutscher Bundeskanzler, terdrückung in den sowjetischen Machtbereich ein- innenpolitisch motiviert, außenpolitisch einen solchen gegliedert. Schaden angerichtet. Saddam Hussein bedroht mit einem Mit dem Gipfel von Prag ist auch für diese Länder die Arsenal von biologischen und chemischen Kampfwaffen, Spaltung Europas überwunden. Das ist die große histo- mit Terrorkommandos und Trägerraketen, mit Milz- rische Bedeutung dieses Gipfels. branderregern, Nervengas und Pockenviren auch Berlin, Düsseldorf, Frankfurt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Joseph Fischer, Bundesminister: Auch Nach Polen, Ungarn und Tschechien – dafür haben München!) und Volker Rühe die Voraussetzungen ge- schaffen – werden jetzt die baltischen Staaten, Slowenien, – Natürlich auch die Menschen in München. Herr Bun- die Slowakei, Bulgarien und Rumänien dem westlichen desaußenminister, es ist nicht Ihre Pflicht, auf der Regie- Friedensbündnis beitreten können. Die Tür bleibt auch rungsbank zu gähnen, ein gelangweiltes Gesicht zu ma- für eine noch engere Zusammenarbeit mit Russlandchen und dann wieder fröhlich dreinzublicken. Sie offen. erinnern mich an den Violinisten auf der „Titanic“: La- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 547

Dr. Gerd Müller (A) chen bis zum Untergang. – Sie werden dem Ernst der Lage welchem Risiko deutsche Soldaten in einen Einsatz in Ka- (C) nicht gerecht. bul, in Afghanistan geschickt werden, Stellung beziehen. Herr Verteidigungsminister, wo sind Ihre Vorschläge für (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Dagmar eine gemeinsame Streitkräfteplanung in Europa und für Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Koordinierung der Verteidigungshaushalte? Wo sind NEN]: Sie sind der Untergang, das stimmt!) die Vorschläge zur Vergemeinschaftung der Sicherheits- Es ist die Pflicht der Bundesregierung, der Öffentlich- politik in Europa? Das ist ein eigenes Thema. keit die Wahrheit über den Ernst der Gefährdung mitzu- In der derzeitigen Bedrohungslage brauchen wir den teilen. Herr Bundesverteidigungsminister, Sie werden im Schulterschluss mit Amerika. Wir brauchen den Schulter- Anschluss reden. Ich frage Sie: Warum warnen die Ge- schluss im Bündnis. Unsere Bürger erwarten in diesen heimdienste vor Anschlägen in Deutschland? Wie schüt- Kernfragen auch den Konsens in diesem Haus. Die Union zen Sie die Bevölkerung in Deutschland und in Europa? stellt sich ihrer Verantwortung. Die Kernfrage: Welchen Beitrag wird Deutschland leis- ten, wenn Saddam die Forderungen der UN nicht erfüllt? Danke schön. Sie drücken sich um die Beantwortung genau dieser Kern- (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: frage: Welchen Beitrag ist Deutschland in der Weltvöl- Für Ihre Verhältnisse war das brillant!) kergemeinschaft zu leisten bereit, wenn Saddam diese Forderung der UN nicht erfüllt? Taten sind gefragt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es geht darum, Präsident Wolfgang Thierse: Saddam zu entwaffnen. Ich erteile Bundesminister Peter Struck das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Heinrich [FDP]) Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Die Entwaffnung von Saddamist nur mit unseren Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Partnern und nur mithilfe unserer amerikanischenren! Nach den Beiträgen der Oppositionsredner zum Prager Freunde möglich, nicht durch einen deutschen Sonder- Gipfel fragt man sich: In welcher Welt leben Sie eigentlich? weg, nicht durch einen Alleingang. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, deshalb (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dazu auf: Korrigieren Sie Ihre antiamerikanischen Äuße- DIE GRÜNEN) rungen und korrigieren Sie Ihre politische Fehleinschät- Was glauben Sie denn, was wir in den Ausschusssitzun- zung! Fehler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind gen über die internationale Bedrohung vorgetragen ha- für jeden Bürger messbar. Wir erleben es dieser Tage. Es (B) ben? Ich kann mir Ihren Beitrag, Herr Schäuble, nur da- (D) ist eine katastrophale Bilanz: blauer Brief, 4,2 Millionen durch erklären, dass Sie bei den Ausschusssitzungen nicht Arbeitslose usw. Es ist eine lange Reihe. Fehler in der anwesend gewesen sind. Außenpolitik sind unermesslich und Sie haben auf diesem Gebiet unermessliche Fehler gemacht. (Franz Müntefering [SPD]: Der weiß schon alles vorher!) Machen Sie auch gegenüber der deutschen Bevölke- rung klar, dass Saddam der Feind ist, der unsere innere Si- Wir informieren die Abgeordneten in den Ausschüssen cherheit und unser Leben bedroht! Machen Sie deutlich, über die Bedrohungslage und wir diskutieren sogar hier dass die Durchsetzung der UN-Resolution der Weg zu im Parlament darüber. Angesichts dessen lasse ich mir Frieden und Sicherheit ist! Wir können hierbei nicht ab- von Ihnen nicht den Vorwurf gefallen, wir ließen die seits stehen. Prag muss dazu ein Signal setzen. Wir müs- Deutschen in Unsicherheit. Das ist ein unredlicher Vor- sen dabei aktiv mitwirken. wurf, aber bei Ihnen nicht neu. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Eine Schlussbemerkung. Herr Struck, in Prag geht es natürlich auch um die Frage der NATO-Weiterentwick- Nun will ich etwas zu dem Prager Gipfel sagen. lung. Wir sagen ein klares Ja zur NATO-Eingreiftruppe Erstens. Es muss völlig klar sein, dass wir in einer his- im Sinne von Art. 5. Natürlich sind die Fragen der euro- torischen Situation sind und dass neue Aufgaben auf uns päischen Eingreiftruppe und der NATO-Response-Force zukommen, übrigens auch auf diejenigen Länder, die wir offen. Beide Organisationen stehen auf dem Papier, sind zu Beitrittsverhandlungen auffordern. Das ist nicht ein- Papiertiger. Wie finanzieren Sie diese Projekte? Wir brau- fach. Ich habe darüber in der letzten Woche mit dem bul- chen Investitionen beim strategischen Transport – Trans- garischen Präsidenten gesprochen. Was die Verbesserung portflugzeug –, bei der Kommunikation, bei der Auf- ihrer militärischen Fähigkeiten und ihrer Infrastrukturein- klärung usw. Herr Bundesverteidigungsminister, neue richtungen angeht, kommt einiges auf diese Länder zu. Es Schwerpunkte im Sicherheitsbereich bedeuten auch, dass wird ein langer Weg für diese Länder sein. Trotzdem sind dem im Verteidigungshaushalt Rechnung getragen wer- wir froh, dass dieser Schritt gelingt. Es ist eine konse- den muss. Wir brauchen eine moderne und mobile Bun- quente Fortsetzung des begonnenen Weges und ich hoffe, deswehr. Deshalb ist Ihr Kurs, die Bundeswehr jetzt ka- dass noch weitere Länder Mitglieder der NATO werden. puttzusparen, unsere Soldaten ohne modernstes Gerät und ohne beste Ausrüstung in Auslandseinsätze zu schicken, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ falsch und unverantwortlich. Sie müssen zu der Frage, mit DIE GRÜNEN) 548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Auf dem Prager Gipfel geht es natürlich auch um die NATO-Response-Force; die europäische Sicherheits- und (C) Verbesserung unserer militärischen Fähigkeiten.Die Verteidigungspolitik vergessen wir“ folgt. Wir setzen zu- Bundesregierung klärt im Moment mit ihren NATO-Part- sammen mit Javier Solana auf die Weiterentwicklung der nern ganz intensiv ab, an welcher Stelle die militärischen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Fähigkeiten verbessert werden können. Deutschland hat in vielen Bereichen sogar die Federführung bei der Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ besserung dieser Fähigkeiten übernommen, zum Beispiel DIE GRÜNEN) – um nur einen Fall zu nennen – bei Medical Care. Wir Das ist unsere Aufgabe. Ich denke, darüber besteht zwi- diskutieren zurzeit darüber, ob wir zwischenzeitlich über schen der Opposition und uns Konsens. Es ist gut, dass Interimslösungen eine Lufttransportkapazität schaffen wir diesen Konsens haben. Man muss die weiteren Ent- können, bevor die A400M geliefert werden, was auch un- wicklungen dann im Einzelnen abklären. ter Federführung der Bundesregierung geschieht. Das heißt, in vielen einzelnen Panels – so werden diese Berei- Es gibt Vorschläge der Amerikaner, die von einer che in NATO-Kreisen genannt – gibt es eine Verbesserung Truppe von 21 000 Soldaten ausgehen. Wir haben in den der militärischen Fähigkeiten. internen Vorbesprechungen dazu erklärt, dass wir uns vor- stellen können, Einheiten der Marine, der Luftwaffe und Wir müssen natürlich auch bündeln und Konzentratio- des Heeres für eine solche Truppe bereitzustellen. Aber nen vornehmen. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, der Sie vor das muss noch abgeklärt werden. Mir sind in diesem Zu- mir gesprochen haben: Ich handele natürlich auch im Hin- sammenhang zwei Dinge wichtig. blick auf die Haushaltssituation in der Bundesrepublik Deutschland. Ich mache das, was wir dort angemeldet ha- Erstens. Auch wenn es zu einer NATO-Response- ben und was nachher umgesetzt wird, selbstverständlich Force kommt, gilt das Konsensprinzip. Das heißt nicht: auch von meinen finanziellen Möglichkeiten abhängig. Einer bestimmt und die anderen müssen mitmachen. Viel- Ich verspreche der NATO in Prag keinerlei Luftschlösser. mehr müssen alle 19 NATO-Mitglieder – später werden es Diese kann und will ich nicht verantworten. 26 sein – entscheiden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich verstehe allerdings überhaupt nicht, wie Sie zu dem Zweitens. In diesem Zusammenhang muss man die be- Schluss kommen, ich sorgte nicht dafür, dass unsere Sol- sondere verfassungsrechtliche Situation in unserem Land daten ordentlich ausgestattet sind. Ich will Ihnen hier noch bedenken. Das heißt, es wird vor jedem Einsatz einer sol- einmal sagen – wir werden morgen im Zusammenhang chen NATO-Response-Force mit deutscher Beteiligung mit Enduring Freedom und vor allen Dingen im Dezem- einen Bundestagsbeschluss geben müssen. Das muss man (B) ber, wenn es um die Fortsetzung des ISAF-Mandats geht, wissen. Wir lassen den Parlamentsvorbehaltnicht ein- (D) darüber reden –: Unsere 9 500 Soldaten, die im Ausland, fach fallen; das dürfen und wollen wir nicht. auf dem Balkan und vor allen Dingen in Afghanistan, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind, sind so ausgestattet, wie es erforderlich ist. Sie ha- DIE GRÜNEN – Dr. Werner Hoyer [FDP]: ben den Schutz, auf den sie zur Erfüllung dieses schwie- rigen Mandats einen Anspruch haben. Die Bundeswehr Dann müsst ihr das ordentlich organisieren!) verfügt dafür über eine gute Ausstattung. Was diese Aus- – Darüber kann man dann reden, wenn es so weit ist. – Bei sage angeht, machen wir keine Abstriche, Herr Kollege. der NATO-Response-Force sind wir noch gar nicht so Ich will gar nicht bestreiten, dass wir im Zusammen- weit. Nehmen wir einmal an, diese würde tatsächlich in hang mit den Finanzproblemen, die sich aufgrund derdie Tat umgesetzt: Nach den bisherigen Planungen ist wirtschaftlichen Entwicklung ergeben haben, natürlich dann davon auszugehen, dass diese Truppe nicht vor dem auch über den Verteidigungshaushalt nachdenken. Wer Jahr 2004 bereit wäre, die entsprechenden Aufgaben zu wäre ich denn, wenn ich bestreiten würde, dass auch das übernehmen. Wir werden uns das alles genau und in Ruhe Verteidigungsministerium einen Beitrag zum Konsolidie- überlegen und darüber auch in den Ausschüssen diskutie- rungskurs leisten muss. Aber tun Sie doch nicht so, als ren. Aber dass unser Verfassungsrecht gilt, daran will stellten wir unser Land damit schutzlos! Diesen Eindruck wohl keiner rütteln, auch Sie nicht. hat Herr Schäuble zu erwecken versucht. Das ist typisch Lassen Sie mich noch etwas zum Verhältnis zwischen Schäuble und das ist typisch falsch. den Vereinigten Staaten von Amerika und unserem Land (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagen: Sie haben hier ein Zerrbild gezeichnet. Ich kann ab- DIE GRÜNEN) solut nicht bestätigen, dass alles ganz katastrophal sei. Ich habe ein angenehmes und freundliches Gespräch mit mei- Ich komme auf die NATO-Response-Force zu spre- nem Kollegen Donald Rumsfeld geführt. Ich habe aller- chen. Die Vorschläge, die die Amerikaner zunächst indings den Eindruck, dass es Ihnen von der CDU lieber ge- Warschau unterbreitet haben und die vor kurzem konkre- wesen wäre, wenn wir uns geprügelt hätten. Diesen Gefallen tisiert worden sind, begrüßen wir. Es gibt natürlich die wollte ich Ihnen aber nicht tun, meine Damen und Herren. Gefahr – das haben die Redner der Opposition und der Kollege Markus Meckel völlig zu Recht angesprochen –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass es Kollisionen mit der EU-Truppe – wir sind dabei, DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: sie aufzubauen – gibt. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir wer- Weil Sie den Kürzeren gezogen hätten! – Volker den kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus er- Kauder [CDU/CSU]: Dafür sind andere zustän- wächst, dass man dem Motto „Es gibt jetzt nur noch die dig auf der Regierungsbank!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 549

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) – Nein, ich hätte nicht den Kürzeren gezogen. – Wir ar- Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): (C) beiten eng zusammen und diese enge Zusammenarbeit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- wird natürlich fortgesetzt werden. Rumsfeld und ich ha- ren! Herr Minister Struck, wenn überhaupt jemand in die- ben vereinbart, dass wir uns auch am Rande des Gipfels sem Haus in einer Traum- und Scheinwelt lebt, dann ist es von Prag noch über verschiedene bilaterale Fragen unter- die rot-grüne Bundesregierung und insbesondere deren halten. Verteidigungsminister, der hier den Eindruck zu erwecken Der Kollege Donald Rumsfeld hat gesagt – lassen Sie versucht, als befinde sich die Bundeswehr in einem Top- mich das hier auch noch darstellen –, dass er dankbar für zustand, als sei sie top ausgerüstet, finanziell gut ausge- den Beitrag ist, den Deutschland im Kampf gegen den in- stattet und in der Lage, glaubwürdig ihren Beitrag in der ternationalen Terrorismus leistet. Zu Recht ist er dafür NATO zu leisten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie, meine dankbar. Damen und Herren, tragen für diesen Zustand die Verant- wortung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind nach den Vereinigten Staaten von Amerika das Der NATO-Gipfel in Prag stellt eine historische Weg- Land, das das größte Kontingent stellt. Andere, die Sie marke dar. Wir freuen uns, dass nach der ersten Öffnung hier lobend erwähnen, stehlen sich langsam aber sicher im Jahre 1999 nun weitere Länder die Chance bekommen, schon wieder durch die Hintertür heraus: So reduzieren Mitglied der NATO zu werden. Dies stärkt die Stabilität einerseits Staaten bei ISAF in Afghanistan oder auf dem in Europa. Balkan ihre Kontingente, beschwören aber andererseits in Aber eines muss an diesem Tag auch gesagt werden: mächtigen Worten die internationale Solidarität. Wir Das Tor der Allianz muss auch in Zukunft für neue Mit- brauchen uns nichts vorwerfen zu lassen. Es ist gut, dass glieder offen bleiben. Der Wappenspruch der NATO, die amerikanische Administration das auch im Rahmen „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“, ist unverändert meiner Gespräche mit Donald Rumsfeld anerkannt hat. gültig. Verändert aber hat sich die Welt, in der wir leben. Unsere Zusammenarbeit wird sich weiterhin gut ent- Grundlegend verändert haben sich die Gefahren, denen wickeln. wir uns heute, 53 Jahre nach Gründung der NATO, aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesetzt sehen. Bedroht sind wir von der unheiligen Alli- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anz des internationalen Terrorismus und von Massenver- nichtungswaffen. Nun haben sich gestern die Amerika-Experten, Herr Pflüger und andere, darüber aufgeregt, dass Herr Deshalb stellt sich für mich die zentrale Frage so: Ist (B) Rumsfeld auf die Frage, wie er heute die Beziehungen be- die NATO heute ausgerichtet auf die neuen Gefahren? Ist (D) urteile, gesagt hat, sie seien „unpoisoned“. Ich habe ihm sie in der Lage, unsere Bürger so zu schützen, wie sie das gesagt, er habe eine sehr gute Antwort gegeben. Das Wort zu Zeiten des Kalten Krieges über viele Jahrzehnte erfolg- von den vergifteten Beziehungen traf nämlich nicht die reich getan hat? Haben wir gegenüber diesen globalen Be- Realität der deutsch-amerikanischen Beziehungen und drohungen eine gemeinsame Strategie im Bündnis? Und, stammte nicht von Rumsfeld, sondern, wie wir wissen, Herr Minister Struck, haben wir wirklich die notwendigen anderswoher. modernen militärischen Fähigkeiten? (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: (Lothar Mark [SPD]: Jawohl!) Sie machen sich doch lächerlich!) Was tut eigentlich diese Bundesregierung, um als Wir Verteidigungsminister untereinander haben gute Ar- zweitgrößtes NATO-Land einen wesentlichen Beitrag zur beitsbeziehungen. Manche sagen, dass die Persönlich- Sicherheit in Europa und in der Welt zu leisten? keitsstrukturen von Rumsfeld und mir in etwa gleich (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nichts! – gelagert seien und uns das helfen würde. Das gilt für Gernot Erler [SPD]: Sie arbeitet!) die Arbeitsebene ohnehin. Es hat zwischen Deutschland und Amerika bei der Vorbereitung der „Prague Capabili- Diese Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Außen- ties Commitment“-Gespräche nie Probleme gegeben.minister und weite Teile von Rot-Grün haben im Wahl- Das haben Sie allerdings nicht mitbekommen, weil Sie kampf unserem Land und der NATO schwersten Schaden an solchen Gesprächen als Opposition nicht beteiligtzugefügt. sind; Sie können kritisieren, die Regierung muss arbei- (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark ten. [SPD]: Das stimmt doch nicht!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. In einer Art spontaner Wahlkampfeinlage mit Ihrer Total- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verweigerung, die quasi in dem Spruch gipfelte: „Nur wer DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schröder wählt, wählt den Frieden“, haben Sie Deutsch- Sie sind eine Memme!) land als Bündnispartner isoliert und so einen dramati- schen Vertrauensverlust heraufbeschworen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU) Ich erteile das Wort Kollegen , CDU/CSU- Das Gewicht unseres Landes als zuverlässiger Bünd- Fraktion. nispartner wurde minimalisiert. Das war Ihnen egal. Die 550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) Drohkulisse gegenüber dem Irak wurde durch die Haltung unsere militärischen Fähigkeiten um. Sie übernehmen (C) der deutschen Regierung geschwächt. Auch das hat Sie seit Jahren immer wieder neue Verpflichtungen in der nicht gestört. In der deutschen Öffentlichkeit entstand gar NATO, in der Europäischen Union und in den Vereinten der Eindruck, die USA seien gefährlicher als die Massen- Nationen. Sie verpflichten sich, im Rahmen der Defense vernichtungswaffen des irakischen Diktators SaddamCapability Initiative der NATO wichtige Beiträge zu leis- Hussein. Wundern Sie sich da, dass die Medien im Irak über ten. Sie geben Erklärungen ab und Ihre Pläne füllen Tau- diese unvermutete Schützenhilfe aus Deutschland jubelten? sende von Seiten. Nur eines haben Sie vergessen, nämlich Ihren Erklärungen auch Taten folgen zu lassen. Die lange Geschichte der NATO zeigt eines deutlich: Die Stärke unseres transatlantischen Bündnisses lag und (Gernot Erler [SPD]: Wieso? Wir machen es liegt in der Solidarität seiner Mitglieder, im Konsens und doch! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Papier- in der Geschlossenheit des Handelns. tiger!) (Beifall bei der CDU/CSU) Seit Jahren ist die Misere im Bereich des Verteidi- gungshaushaltes offensichtlich. Es gibt nicht mehr, son- Darum haben Sie sich keinen Deut geschert, ganz nach dern immer weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Um dem Motto: Lieber ohne Skrupel wieder ins Amt als se- schöne Worte sind Sie nie verlegen. Reales Minus heißt riös in die Opposition. bei Ihnen „Verstetigung“. Aber die Bundeswehr braucht (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder keine Lyrik, sondern sie braucht Zuwendung und mehr [CDU/CSU]: Das kann man auch anders for- Geld mulieren: Lieber mit der Lüge ins Amt! – (Beifall bei der CDU/CSU) Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie sind nicht einmal seriös in die Op- sowie eine bessere Ausrüstung und eine bessere Ausstat- position gekommen!) tung. Nach der Wahl folgt nun die Krönung des Ganzen: nochmals eine halbe Milliarde Euro weniger für den Ver- – Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, da können Sie noch teidigungshaushalt. etwas lernen! Ich frage Rot-Grün und den Minister: Wo sind denn die Ihnen ging es um Wahlkampf pur. Für die Operation Haushaltsmittel, mit denen die Bundeswehr modernisiert „Wiederwahl“ waren Sie bereit, jeden Preis zu zahlen. werden soll und Fähigkeiten wie strategische Aufklärung Jetzt muss Schluss sein mit einem deutschen Sonderweg! und Lufttransport ausgebaut und gesteigert werden sol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) len? Wie wollen Sie, Herr Minister Struck, sicherstellen, dass Europa technologisch nicht noch weiter von Amerika Gehen Sie heraus aus Ihrer selbst verursachten Isolierung! (B) abgehängt wird? (D) Beseitigen Sie durch glaubwürdiges Handeln allen Zweifel an der bündnispolitischen Verlässlichkeit Deutschlands! Eine dritte Anmerkung. Auf der Tagesordnung in Prag steht das Projekt einer schnellen Eingreiftruppe, NATO- Um es hier einmal auf den Punkt zu bringen: Die Ver- Response-Force, mit der das Bündnis auf Bedrohungen einigten Staaten von Amerika sind nicht nur unsere Ver- durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen rea- bündeten, sie sind auch unsere Freunde. gieren soll. Alle spüren, dass wir bedroht sind. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU) müssen wir etwas tun. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir unterstützen dieses Vorhaben; es dient unserer Seit bis hin zu Helmut Kohl sind wir Sicherheit. stets vertrauensvolle Freunde Amerikas gewesen. Das muss wieder so werden. Jeder weiß, was wir Amerika ver- (Gernot Erler [SPD]: Schön, dass Sie dabei danken. Jeder weiß aber auch, dass dies im ureigensten sind!) deutschen Sicherheitsinteresse liegt. Allein sind wir auf Aber auch hier gilt das, was ich zuvor gesagt habe: Es verlorenem Posten. reicht nicht aus, dass die Bundesregierung auf Gipfelkon- (Beifall bei der CDU/CSU) ferenzen den „strammen Max“ spielt, aber anschließend in Deutschland den Geldhahn zudreht. So kann es in der Nur so gewinnt Deutschland Einfluss und die Chance, Po- Sicherheitspolitik nicht weitergehen. litik auf internationaler Ebene wieder entscheidend mit- zugestalten, zurück. Frankreich und Großbritannien ha- (Beifall bei der CDU/CSU) ben Ihnen gezeigt, wie man es macht. Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Geschlossen- Im Bundesrat hat der Bundeskanzler den netten Satz heit und mehr Geld für Verteidigung ist der Preis für un- gesagt: Erst das Land, dann die Partei.– Ja, Herr Bundes- sere Sicherheit. Deshalb unsere Forderung an Sie: Stellen kanzler, das gilt auch international: Erst das Land und das Sie sicher, dass Deutschland tatsächlich einen substan- Bündnis, dann lange gar nichts und dann, wenn über-ziellen Beitrag leisten kann und achten Sie darauf, dass es haupt, die Partei. Halten Sie sich daran im Interesse unse- zu sinnvollen Ergänzungen und nicht zu doppelten Struk- res Landes und des Bündnisses! turen und zu Konkurrenz zu den ebenfalls wichtigen und dringend erforderlichen europäischen Krisenreaktions- (Beifall bei der CDU/CSU) kräften kommt! Unsere Sicherheit kann heute an jedem Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, HerrPunkt der Erde herausgefordert werden. Dieser Heraus- Minister Struck. Als Verteidigungspolitiker treiben mich forderung muss sich die NATO als Ganzes stellen. Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 551

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) NATO-Response-Force wird auch für uns Deutsche in Bei den Balkankrisen und -kriegen in den 90er-Jahren (C) Zukunft ein wesentlicher Garant unserer Sicherheit sein. gehörte die NATO zunächst mit zu den vielen, die zu spät kamen. Inzwischen hat sie sich bei den von ihr geführten Die Botschaft lautet: Deutschland muss wieder ein be- Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Maze- rechenbarer Partner im Bündnis werden, auf den man sich donien bestens bewährt. Diese Einsätze dienen der Frie- auch in Krisenzeiten verlassen kann. Dazu wollen und densunterstützung im Auftrag der Vereinten Nationen und müssen wir alle einen glaubwürdigen Beitrag leisten, ins- im Rahmen der UN-Charta und finden in enger Koopera- besondere aber die Damen und Herren der Bundesregie- tion mit den anderen internationalen Organisationen, mit rung und von Rot-Grün. den Vereinten Nationen, der OSZE usw., mit staatlichen Ich danke Ihnen. und nicht staatlichen Akteuren statt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gernot Mit dem 11. September 2001 ist der Wandel hin zu Erler [SPD]: Das machen wir doch!) asymmetrischen Bedrohungen und Konfliktmustern of- fensichtlich geworden. Die Bedrohung durch den interna- tionalen Terrorismus, durch privatisierte Gewalt und Re- Präsident Wolfgang Thierse: gionalkonflikte sowie durch die Weiterverbreitung von Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Massenvernichtungswaffen steht nun im Vordergrund. Bündnis 90/Die Grünen. Darauf muss sich die NATO selbstverständlich konzep- tionell und in ihren Fähigkeiten einstellen. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Antrag der CDU/CSU werden darauf leider sehr einfache, verkürzte und gefährliche Antworten gegeben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Prag steht im Mit- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das telpunkt des öffentlichen Interesses, wie auf die neuen Wesentliche steht da drin!) Herausforderungen des internationalen Terrorismus ge- – Lesen Sie sich Ihren Antrag noch einmal durch! – Sie antwortet werden soll. Darüber scheint mir aber das an- reden in diesem Zusammenhang von der NATO als einzi- dere Thema, nämlich die zweite NATO-Osterweiterung, gem Akteur. zu sehr in den Hintergrund zu treten, als sei es nur ein Routinevorgang. Das ist es aber ganz und gar nicht. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wir Tatsächlich ist die bevorstehende Einladung an sieben reden über die NATO!) Staaten in Mittelost- und Südosteuropa ein historischer Sie fordern den weltweiten Einsatz gegen den Terroris- Schritt mit erheblich stabilisierender Wirkung für Europa. mus und Massenvernichtungswaffen und schweigen da- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei darüber, was in diesem Zusammenhang ein zuallererst und bei der SPD) bewährtes Mittel ist – Kollege Meckel hat zum Beispiel darauf hingewiesen –: Rüstungskontrolle, Nichtverbrei- Das wird besonders deutlich, wenn wir uns die Situation tung, Abrüstungszusammenarbeit, wobei wir gerade mit aus der Perspektive der beteiligten Staaten ansehen. Russland erhebliche Erfolge erzielen. Ich nenne zunächst das Baltikum. Vor 62 Jahren wurde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Baltikum von der Sowjetmacht und vor 60 Jahren von und bei der SPD) der deutschen Wehrmacht besetzt. Ein großer Teil der bal- tischen Juden war zu diesem Zeitpunkt schon ermordet Wenn Sie hier schweigen und nur von der militärischen worden. Vor 58 Jahren wurde das Baltikum von den Na- Bekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungs- zis befreit und dann wieder der sowjetischen Herrschaft waffen sprechen, dann ist die eindeutige Schlussfolge- unterworfen. Man kann sich vorstellen, dass diese Ver- rung, dass man gegen Besitzer von Massenvernichtungs- gangenheit, die darin bestand, zwischen den großenwaffen militärisch vorgehen will. So wie ich Sie von der Mächten zu liegen und ihnen dadurch immer ausgeliefert CDU/CSU kenne, können Sie das nicht ernst meinen. zu sein, eine traumatische Erfahrung für diese Staaten, für (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- diese Völker war. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Vor diesem Hintergrund ist die Einladung zum NATO- – Jetzt könnten auch Sie von der CDU/CSU ruhig klat- Beitritt ein wirklich historischer Schritt: heraus aus dieser schen. prekären Zwischenlage und hinein in ein System kollek- tiver Sicherheit, wobei das Reißen neuer Gräben verhin- Die Antworten auf dieneuen Herausforderungen dert wurde. müssen demgegenüber folgenden zentralen Anforderun- gen genügen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] Erstens. Den hochkomplexen Bedrohungen kann er- [CDU/CSU]: Deswegen müssen die in die folgreich nur multidimensional, also im Rahmen politi- NATO!) scher Gesamtkonzepte, mit dem ganzen Spektrum ver- schiedenster Instrumente und Maßnahmen begegnet Dieser Erweiterungsprozess ohne Brüche wurde möglich, werden. weil die Erweiterung als ein Prozess gestaltet wurde, der aus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Kon- Zweitens. Der Rahmen dabei muss selbstverständlich fliktbeilegungen bestand. das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen, die 552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Winfried Nachtwei (A) Stärkung des Rechts sein. Willkür darf selbstverständlich senprävention und -bewältigung zugewandt. Das sind(C) nicht mit Willkür begegnet werden; denn Willkür würde starke zivile Dimensionen. – so sind die handgreiflichen Erfahrungen aus sehr vielen Jahrzehnten der Terrorismusbekämpfung – neuen Bedro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hungen Aufschwung geben, anstatt sie einzudämmen. Seit 1949 haben sich die Weltsicherheitslage und die (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann nationalen Gesellschaften erheblich verändert. Das wird Otto Solms) insbesondere am NATO-Beitritt von Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik im Jahre 1999 deutlich. Da- Drittens. Jede internationale Organisation und jeder ran wird doch erkennbar: Aus früherer Konfrontation ist Staat – so mächtig er ist – ist mit der Bewältigung der Kooperation geworden. Das gemeinsame Eintreten für neuen Bedrohungen hoffnungslos überfordert. Entschei- eine demokratische Werteordnung der NATO-Mitglied- dend ist das komplementäre, also sich ergänzende, Zu- staaten ist in den letzten Jahren beeindruckend unter Be- sammenwirken im multilateralen Rahmen. Der Vor-weis gestellt worden. schlag einer NATO-Response-Force kann in diese Richtung wirken. Eine solche neue Fähigkeit darf aber Durch das Engagement der NATO im Rahmen der in- nicht der notwendigen Stärkung der Europäischen Si- ternationalen Gemeinschaft konnte der politische Prozess cherheits- und Verteidigungspolitik zuwiderlaufen, sie der inneren Versöhnung und der Normalisierung der Le- gar unterlaufen. bensbedingungen vor allem auf demBalkan weiter vo- rangebracht werden. Die Intervention der NATO verhin- Viertens. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang derte beispielsweise in Mazedonien einen Bürgerkrieg – richtigerweise – sehr viel über neue Fähigkeiten. Dabei und ermöglichte dort im September dieses Jahres demo- sollten wir aber etwas anderes nicht vergessen: Die NATO kratische Wahlen. erhebt den Anspruch einer Wertegemeinschaft. Das gilt nach innen und außen. Angesichts des Terrorkriegs in Vor einigen Tagen wurde im Kosovo auf kommunaler Tschetschenien und angesichts von Tendenzen, das inter- Ebene gewählt. In den neuen Gemeindegremien werden nationale Gewaltmonopol unter der Überschrift „offen- bedeutend mehr Frauen vertreten sein, sie stellen nun- sive Selbstverteidigung“ zu unterhöhlen, ist eine Werte- mehr immerhin 28 Prozent aller Ratsmitglieder. Diese diskussion in der Sicherheitspolitik und in der NATOneue Sitzverteilung stellt eine deutliche Veränderung und überfällig. einen erheblichen Zuwachs im Vergleich zu den 8 Prozent bei früheren Wahlen dar. In diesem Sinne wünschen wir dem NATO-Gipfel ei- nen erfolgreichen Verlauf und der Bundesregierung dabei Der Aufbau solcher demokratischer Strukturen wird eine sehr wirkungsvolle Rolle. auch durch den Einsatz unserer Soldatinnen und Solda- (B) ten ermöglicht. Ihnen gebührt an dieser Stelle für ihre(D) Danke schön. Leistungen Dank und Anerkennung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU]: Die Rolle ist nicht sichtbar!) Aufgrund der Krisenabwendung und der Entschärfung von Konflikten im Voraus durch den Einsatz der NATO Vizepräsident Dr. : konnten in der Vergangenheit Zivilgesellschaften aufge- Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Heubaum,baut werden, in denen die Rechtsstaatlichkeit, die Wah- SPD-Fraktion. rung der Menschenrechte, die wirtschaftliche Stabilität und die Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen gedeihen.

Monika Heubaum (SPD): Die NATO steht mittlerweile für Krisenmanagement bei präventiven Friedenseinsätzen. Eine der Hauptaufga- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- ben der NATO ist dabei, Verlässlichkeit und Vertrauen zu men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vermitteln. Diese Politik führt zu langfristigen sicher- NATO ist es in den letzten Jahren gelungen, in geradezu heitspolitischen Auswirkungen. Nur dort, wo Vertrauen beispielhafter Weise militärische und zivile Instrumente und Sicherheit herrschen, kann Rechtsstaatlichkeit gedei- mit dem gemeinsamen Ziel der langfristigen Friedens- hen, können wirtschaftliche Beziehungen zu Wohlstand sicherung und Krisenprävention zu vereinen. und Fortentwicklung führen und Stabilität gesichert wer- Entgegen einer landläufigen Meinung ist die NATO den. keineswegs ein reines Verteidigungsbündnis. Der Nord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) atlantikvertrag vom 4. April 1949 bekennt sich zu den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. DieSo heißt es im strategischen Konzept des Nordatlan- Vertragspartner setzen sich für die Grundsätze der Demo- tikpaktes, dass Sicherheit und Stabilität sowohl politische, kratie, für die Freiheit der Person und die Herrschaft des wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Elemente Rechts ein. Sie wollen zu friedlichen, freundschaftlichen als auch die unverzichtbare Verteidigungsdimension ein- internationalen Beziehungen beitragen und sind bestrebt, schließen. Die Erhaltung der natürlichen knapper wer- Gegensätze in ihrer Wirtschaftspolitik zu beseitigen und denden Ressourcen, beispielweise von Trinkwasser und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Diefossilen Energieträgern – auch das ist mit elementarer Si- NATO hat sich über die Kernaufgabe der kollektiven Ver- cherheitspolitik verbunden –, zählt zu den gemeinsamen teidigung hinaus der internationalen Konflikt- und Kri- globalen Zielen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 553

Monika Heubaum (A) Eine solche friedliche Entwicklung ist auch im deut- gliedschaft aktiv unterstützt und wird diese Unterstützung (C) schen Interesse. Dabei können wir nicht außer Acht las- auch weiterhin geben. Die Bedeutung der NATO als sen, dass es aufgrund der immer schwieriger werdenden Fundament einer europäischen Friedensordnung und als Weltlage erforderlich ist, noch bessere Fähigkeiten zur Grundlage für die Sicherheit Deutschlands bleibt dabei Abwehr neuer Bedrohungen zu entwickeln. selbstverständlich bestehen. Die sich abzeichnenden Bei- tritte sind ein Erfolg für beide Seiten: für die Beitritts- Die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten in die NATO länder, aber auch für die NATO. wird ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europa sein. Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle ist für den März kommenden Jahres vorgesehen; die Ratifizierungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) prozesse sollen im Mai 2004 beendet sein. Wir haben uns Eine abgestimmte Aufgabenverteilung und die Zusam- stets für einen zügigen Beitrittsprozess ausgesprochen menarbeit der NATO mit der sich ständig vergrößernden und werden zu dieser Entwicklung unseren Beitrag leis- Europäischen Union werden die zukünftigen europä- ten. Für uns steht aber auch fest: Die Politik der offenen ischen Sicherheitsstrukturen maßgeblich prägen. So müs- Tür muss auch nach Prag fortgesetzt werden. sen zum Beispiel der euro-atlantische Raum gestärkt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Krisen bewältigt und verhütet und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen unterbunden werden. Europa In diesem Sinne wünscht die SPD-Bundestagsfraktion und die NATO haben dazu mehrere Instrumente geschaf- dem NATO-Gipfel in Prag viel Erfolg. fen, zum Beispiel die EU-NATO-Arbeitsgruppen zur Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wicklung formaler Beziehungen zwischen beiden Organi- DIE GRÜNEN) sationen oder den neu geschaffenen NATO-Russland-Rat. Die NATO hat dabei die sich aus dem Ende des Kalten Krieges ergebende Chance zur Verbesserung der Norma- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lisierung der Beziehungen zu Russland genutzt. Zu den im Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. NATO-Russland-Dialog vereinbarten Themen gehören unter anderem die Sicherheit im euro-atlantischen Raum, gemeinsame friedenserhaltende Operationen, nukleare Petra Pau (fraktionslos): Sicherheit, Transparenz und Vertrauensbildung. Die Öf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fentlichkeitsarbeit der NATO konnte seit dem Frühjahr PDS im Bundestag lehnt den von Ihnen vorgelegten An- 2001 durch die Einrichtung eines NATO-Informations- trag ab. Wir teilen aber auch nicht die Intention, die Bun- büros in Moskau verbessert werden. Man kann also mit desaußenminister Fischer zum bevorstehenden NATO- (B) Recht sagen, dass durch diesen Dialog zwischen der (D) Gipfel hier vorgetragen hat. NATO und Russland aus ehemaligen Gegnern Partner ge- worden sind. Grundsätzlich widersprechen wir dem Begehren der Opposition zur Rechten. Der Antrag von CDU/CSU zielt Aber auch die Funktion der Parlamentarischen Ver- unverhohlen auf eine weitere Militarisierung der Außen- sammlung der NATO, der außer den 19 NATO-Mit- politik, auf eine drastische Aufrüstung und auf eine be- gliedstaaten weitere 17 assoziierte Parlamente – zu ihnen dingungslose Solidarität gegenüber der USA-Politik. Ei- zählen auch die nun an der NATO-Erweiterung teil- nem solchen Irrsinn unterliegt die PDS nicht. nehmenden Staaten – angehören, darf nicht unterschätzt werden. Diese Institution hat sich im Laufe der Jahre zu (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch einem euro-atlantischen Parlament entwickelt. Das Gre- [fraktionslos]) mium sieht seine Hauptaufgabe darin, die Zusammenar- 1989/90 fand eine 40 Jahre währende Blockkonfronta- beit der Mitgliedstaaten in allen verteidigungs- und si- tion ihr Ende. Politische Instrumente aus jener Zeit, die cherheitspolitischen Fragen zu fördern, die Vorstellungen auf eine friedliche Konfliktbewältigung zielten, wurden der Atlantischen Allianz bei der Formulierung nationaler seitdem klein gehalten, zum Beispiel die OSZE. Militä- Politiken einzubringen, zur Entwicklung einer atlanti- rische Instrumente, die auf ein Diktat der Stärke setzen, schen Solidarität in den Ländern der Allianz beizutragen wurden ausgebaut, damit auch die NATO. Das illustriert und als Bindeglied zwischen den nationalen Parlamenten die Grundrichtung. Wir finden diese Grundrichtung und der NATO zu dienen. Durch ihre verabschiedeten falsch. Empfehlungen und Entschließungen geben die Parlamen- tarier neue Impulse, unter anderem für die Arbeit des Nord- Unübersehbar ist auch, dass die UNO immer mehr in atlantikrats. den Schatten der NATO gerät und dass die Weltorganisa- tion von den USA ein ums andere Mal vorgeführt wird. Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten, die die hierfür festgelegten Kriterien erfüllen müssen – sie bekommen die (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist die Mitgliedschaft ja nicht geschenkt – und Reformen durch- ehemalige grüne Position!) führen müssen – sie mussten es und sie müssen es weiter- Das ist der Rahmen, aus dem sich unsere begründete hin tun, um noch bestehende Defizite zu beseitigen –, wird Skepsis gegenüber dem NATO-Gipfel speist. ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europa sein. Dadurch wird eine demokratische Einheit in Europa Hinzu kommt die Militärdoktrin der USA. Sie kündi- von der Ostsee bis zum Balkan geschaffen. Deutschland gen Abrüstungs- und Kontrollverträge. Sie reklamieren hat die Vorbereitung der Aspirantenstaaten auf eine Mit- für sich das Recht auf Präventivkriege und drohen gar mit 554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Petra Pau (A) atomaren Erstschlägen. Eine solche Politik ist weltun- ten Ausschuss sowie an den Verteidigungsausschuss, den (C) tauglich. Sie passt nicht ins 21. Jahrhundert. Sie wird auch Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen nicht mit dem Verweis auf terroristische Bedrohungen Union und den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind besser. Deshalb, Kollege Schäuble, hörte ich heute mit Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Schrecken, dass Sie namens der CDU/CSU-Fraktion sag- Überweisung so beschlossen. ten: „Mit ... einem Zweitschlag schützen Sie unsere Be- völkerung nicht.“ Das ist nichts anderes als die unsägliche Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: Parole: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Erhellender konnte Herr Schäuble heute den Schafspelz nicht ablegen. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, [fraktionslos]) weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Folglich steht die rot-grüne Bundesregierung vor der Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung Frage, ob sie als NATO-Mitglied sich dieser Doktrin vor Sexualverbrechen und anderen schweren anschließt, also unterordnet, oder ob die Bundesrepublik Straftaten gemeinsam mit anderen eine selbstbewusste Politik ver- folgt, die mehr denn je auf zivile, demokratische und hu- – Drucksache 15/29 – mane Lösungen setzt. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und in Innenausschuss Deckung geht!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Auf dem Prager Gipfel wird es um die zweite Runde der NATO-Erweiterung gehen. Es geht um die Beziehun- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang gen der NATO zu Russland und zur Ukraine und es geht Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, um die Modernisierung der NATO. So jedenfalls be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ schreibt es die veröffentlichte Tagesordnung. Was darüber CSU hinaus verhandelt wird, entzieht sich wie stets der allge- meinen Beobachtung und Bewertung. Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexual- straftäter auf den Prüfstand stellen Ich verweise auf diesen Aspekt, weil wir demnächst – schon heute Abend – über ein Entsendegesetz befinden. – Drucksache 15/31 – Es soll unter anderem klären, wann und durch wen deut- Überweisungsvorschlag: sche Soldaten in Marsch gesetzt werden dürfen – nicht zur Rechtsausschuss (f) (B) Innenausschuss (D) Übung in der Lüneburger Heide, sondern in militärische Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auseinandersetzungen weltweit. Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Auf dem NATO-Gipfel wird ebenso wie in der EU über Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die schnelle Eingreiftruppen beraten. Ich will jetzt nicht fra- Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre gen, in welchem Verhältnis beide stehen sollen. Ichkeinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. möchte aber das Interesse der Öffentlichkeit auf das kleine Wörtchen „schnell“ richten, denn dahinter verbirgt Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich sich nicht nur die Frage nach militärischen Gefahren, son- dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU- dern auch die Frage: Wer entscheidet über solche Mi-Fraktion das Wort. litäreinsätze? Noch liegt das Votum beim Bundestag, der eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Ihrer Rede, Herr Bundesaußenminister Fischer, und Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! auch Ihrer Rede, Herr Struck, habe ich entnommen, dass Juni 1996: Die erst 13-jährige Ulrike Everts verschwindet dies so bleiben soll. Es gibt aber auch andere unüberseh- nach einem Ausflug mit ihrer Ponykutsche spurlos. Später bare Bestrebungen: Das Parlament soll beispielsweise wird ihre Leiche in der Nähe von Oldenburg gefunden. durch den heute vorliegenden FDP-Antrag zum Entsen- degesetz entmündigt werden. September 1996: Die siebenjährige Natalie Astner wird von einem 29-jährigen Mann entführt, sexuell miss- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ein Blödsinn! braucht und getötet. Der Täter war wegen Vergewaltigung Das Gegenteil ist wahr!) und sexuellen Missbrauchs verurteilt, aber vorzeitig auf Auch dies ist ein Weg, den die PDS nicht mitgehen wird. Bewährung freigekommen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Januar 1997: Die zehnjährige Kim Kerkow wird miss- [fraktionslos]) braucht und ermordet. Die Polizei ermittelt einen Täter, der bereits viele Jahre zuvor schon einmal ein junges Mädchen vergewaltigt hatte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: März 1998: Die elfjährige Christina Nytsch kommt Ich schließe die Aussprache. von einem Ausflug nicht mehr nach Hause. Sie wird nach Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auffünf Tagen aufgefunden, ebenfalls missbraucht und er- Drucksache 15/44 an den in der Tagesordnung aufgeführ- mordet. Bei der Suche nach dem Mörder werden von etwa Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 555

Wolfgang Bosbach (A) 18 000 Männern aus der Heimat des Opfers Speichelpro- Wäre es ihm um die Sache gegangen, hätte er uns (C) in ben für die Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks unserem Anliegen unterstützt. Dann hätte die Bundes- genommen. Darunter war auch eine Probe des Täters, der regierung in der vergangenen Wahlperiode nicht unsere später die Ermordung der Ulrike Everts aus dem Jahre Initiative für einen besseren Schutz der Bevölkerung ver- 1996 gesteht. hindert. September 2002: Ein vielfach wegen Vergewaltigung (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller Vorbestrafter vergewaltigt die 16-jährige Jennifer aus [CDU/CSU]: Das war ein echter Schröder!) Neumünster und bringt sie anschließend um. Der Täter Kriminalität kann man nicht mit Sprüchen, sondern nur war erst im Juni nach Vollverbüßung einer einschlägigen mit entschlossenen Taten bekämpfen. Vorstrafe aus der Haft entlassen worden. Als ich vor 14 Tagen von dieser Stelle aus darauf hin- Dies sind nur wenige Beispiele aus einer ganzen Reihe gewiesen habe, dass und warum dringender Handlungs- von fürchterlichen Verbrechen, die nicht nur für die hilf- bedarf besteht, hat die Kollegin Griefahn von der SPD losen und gequälten Kinder, sondern auch über jede be- dazwischen gerufen: Wieso? Die Zahlen gehen doch troffene Familie, über deren Angehörige und Freunde un- zurück! Die geistige Haltung, die hinter diesem Zwi- endliches Leid gebracht haben. Jedes einzelne Verbrechen schenruf steht, ist unerträglich und ich fürchte, dass sie hat zu Recht große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren leider für viele nicht untypisch ist. und die gesamte Bevölkerung erschüttert. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist die wichtigste Aufgabe, es ist unsere Pflicht, die Pflicht des Staates, die Bürger so gut wie möglich vor Ver- Im vergangenen Jahr wurden 15 117 Fälle des sexuel- brechen und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen len Missbrauchs nur von Kindern registriert. zu schützen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Da hilft Ihr Gesetz überhaupt neten der SPD und der FDP) nichts!) Diesen staatlichen Schutz benötigen insbesondere dieEs ist zu befürchten, dass wir gerade im Bereich dieser Schwächsten in unserer Gesellschaft, unsere Kinder. Delikte eine sehr hohe Dunkelziffer haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen CDU und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE CSU die Bevölkerung wirksamer vor Verbrechen, insbe- GRÜNEN]: Genau!) sondere vor Sexualstraftätern, schützen. Natürlich wis- Das ist der politische Unterschied zwischen uns. Sie sa- sen wir – das wissen wir alle –, dass das Strafrecht und das (B) gen bei 15 117 Fällen: Es sind 464 Fälle weniger als im(D) Strafprozessrecht immer nur fragmentarisch wirken kön- vergangenen Jahr, es besteht kein Handlungsbedarf. Wir nen. Einen vollständigen Schutz vor Kriminalität können sagen: 15 117 Fälle sind 15 117 Fälle zu viel und deswe- weder die Gerichte noch die Polizei noch der Gesetzgeber gen müssen wir etwas tun. versprechen oder gar garantieren, jedenfalls nicht in ei- nem freiheitlichen Rechtsstaat. Aber gerade weil das lei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der so ist, ist es nicht nur unser Recht, sondern unsere neten der FDP – Joachim Stünker [SPD]: Das Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die ist billige Polemik! Ganz billig! – Christine Bevölkerung vor Kriminalität zu schützen. Was mit Lambrecht [SPD]: Was haben Sie denn in Ihrer rechtsstaatlichen Mitteln getan werden kann, muss auch Regierungszeit gemacht?) mit rechtsstaatlichen Mitteln getan werden und ist daher – Sie, Herr Stünker, regen sich schon auf, wenn man Ih- politisch geboten. nen nur den Zwischenruf Ihrer eigenen Kollegin vorhält, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die bei ihrer Bemerkung nämlich unterschlagen hat, dass neten der SPD und der FDP und des Abg. Volker gerade die Zahl der Fälle des schweren sexuellen Miss- Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) brauchs von Kindern im vergangenen Jahr erheblich ge- stiegen ist. Es kann doch keinen ernsthaften Zweifel daran geben, dass unser geltendes Recht eine ganze Reihe von Schutz- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lücken enthält. Die Schutzlücken wollen wir schließen, GRÜNEN]: Obwohl es als Verbrechen bestraft und zwar eher heute als morgen. „Wegschließen für im- wird!) mer“, hat der Bundeskanzler als Konsequenz für Sexual- Deswegen ist es höchste Zeit zum Handeln. Wir wollen, straftäter gefordert. Dabei ging es ihm im Gegensatz zur dass der sexuelle Missbrauch von Kindern im Straf- Union nicht um die Sache, gesetzbuch als genau das bezeichnet wird, was er tatsäch- lich ist, nämlich als Verbrechen und nicht nur als Vergehen. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Einer seiner vielen Sprüche!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) sondern ihm ging es um die Wirkung. Ihm ging es aus- schließlich um den Applaus der Öffentlichkeit. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es! – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Wie Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwi- immer!) schenfrage des Kollegen Ströbele? 556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

(A) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): cherweise davon ausgegangen ist, dass er nach Verbüßung (C) seiner Haft ein straffreies Leben führen wird. Dann hat Nein. – sich aber erst während der Haftzeit herausgestellt, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Täter nicht therapierbar und nicht resozialisierbar ist von der SPD: Feige sind Sie auch noch!) und dass es in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass er nach der Haftentlassung weiterhin schwere und schwerste Durch diese Heraufstufung der Tat zu einem Verbrechen Straftaten begehen wird. Wenn die Lage so ist, dann darf würde endlich auch die Verabredung zum sexuellen Miss- der Täter nicht in die Freiheit entlassen werden. Dann brauch eines Kindes unter Strafe gestellt. muss der Schutz der Bevölkerung Vorrang vor dem Frei- Wir wollen die Überwachung der Telekommunikation heitsinteresse des Täters haben. bei allen Formen des Kindesmissbrauchs und auch bei der (Beifall bei der CDU/CSU) Herstellung und Verbreitung vonKinderpornographie ermöglichen. Gerade die Zahl der Fälle von Besitz und Andere Vorgehensweisen wären im wahrsten Sinne des Verbreitung der Kinderpornographie ist im letzten Jahr Wortes lebensgefährliche Experimente auf Kosten der dramatisch gestiegen. Ein Auszug aus der polizeilichen Bevölkerung. Sollte die Bundesregierung, wie von Ih- Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland ver- nen, Frau Zypries, signalisiert worden ist, auf die Vor- zeichnet bei Besitz und Beschaffung von Kinderpor-schläge der Union tatsächlich eingehen, dann würden wir nographie einen Anstieg um 72 Prozent und bei der Ver- das begrüßen. Besser spät als nie! Aber Sie sollten bei breitung von Kinderpornographie einen Anstieg vonIhren Bemühungen, sich in unsere Richtung zu bewegen, 60,8 Prozent in einem Jahr. Wenn Sie, Herr Ströbele, sa- nicht auf halbem Weg stehen bleiben; denn wenn Sie eine gen, im Grunde müssten wir nichts ändern, dann ist das Schutzlücke nur halb schließen, dann haben Sie die genau der Grund, warum ich von Ihnen weder eine Zwi- Schutzlücke überhaupt nicht geschlossen. Deswegen bitte schenfrage noch einen Zwischenruf akzeptieren kann. Die ich Sie herzlich: Setzen Sie sich insbesondere in den ei- Verharmlosung soll hier im Parlament nicht fortgesetzt genen Reihen durch; denn entscheidend ist nicht das, was werden. Sie sagen, sondern das, was Sie tun. Nicht an ihren Sprüchen, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP – Hans-Christian Ströbele (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Heute vor einer Woche haben die Richter, die Polizis- Wir wollen die Möglichkeit der DNA-Analyse konse- ten und die Bediensteten im Strafvollzug übereinstim- quent nutzen. Warum tun wir uns so schwer beim gene- mend erklärt, dass die nachträgliche Sicherungsverwah- rung dringend notwendig sei. Wenn Sie schon nicht auf uns (B) tischen Fingerabdruck? (D) hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf die Praktiker, (Christine Lambrecht [SPD]: Es gibt doch eine die tagtäglich mit solchen Schwerverbrechern zu tun haben. Verfassung!) (Joachim Stünker [SPD]: Wer sagt das denn?) Es ist ernsthaft behauptet worden – der Kollege ist nicht mehr Mitglied des Deutschen Bundestages –, mit dem ge- Denken Sie bei Ihrer Entscheidungsfindung nicht nur an netischen Fingerabdruck könne man die Erbinformatio- die Koalition, sondern vor allen Dingen auch an die Opfer. nen des Täters oder des Tatverdächtigen offen legen. Das Danke für das Zuhören. ist doch verrückt. Wir können mit dem genetischen Fin- gerabdruck nur feststellen: Stammt die Spur vom Täter (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker oder vom Tatverdächtigen, ja oder nein? Mehr nicht. Es [SPD]: Wer hat das denn gesagt?) ist nichts anderes als ein Fingerabdruck. Bis jetzt kann der genetische Fingerabdruck nur bei ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ner Anlasstat von erheblicher Bedeutung genommen wer- Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Brigitte den. Diese Beschränkung ist zu eng. Wir wollen, dass der Zypries. genetische Fingerabdruck bei jeder Straftat mit einem sexuellen Bezug genommen werden kann, also beispiels- Bundesministerin der Justiz: weise – um hier Klartext zu reden – auch von Spannern Brigitte Zypries, und Exhibitionisten. Mein Mitleid hält sich hier stark in Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Grenzen. men und Herren! Herr Bosbach, Sie haben ja Recht, wenn Sie sagen, wir sollten alles tun, was rechtsstaatlich mög- (Beifall bei der CDU/CSU) lich und rechtspolitisch notwendig ist. Dafür haben Sie Schließlich sind 75 Prozent aller Vergewaltiger vorbe- den Beifall von der rechten Seite dieses Hauses zu Recht straft. 25 Prozent aller Vergewaltiger haben ihre krimi- bekommen. Aber wenn wir beginnen wollen, ernsthaft nelle Karriere als Spanner oder Exhibitionisten begonnen. darüber zu diskutieren, was zu tun ist, dann bedeutet das Deswegen sagen wir auch an dieser Stelle: Wehret den auch, dass wir redlich sein müssen. Zur Redlichkeit Anfängen! gehört, dass man zwischen den gesetzlichen Strafandro- hungen und dem unterscheidet, was im Vollzug geschieht. Wir wollen bundesweit und einheitlich die nachträg- liche Sicherungsverwahrung einführen. Es gibt Fälle, in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denen das Gericht bei der Aburteilung des Täters fälschli- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 557

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Fast alle Fälle, die Sie zu Beginn Ihrer Rede populistisch gierungserklärung des Kanzlers eingegangen bin. Bei der (C) aufgelistet haben, waren ja nicht so gelagert, dass das Neugestaltung von Strafvorschriften, namentlich beim se- Maß der Strafandrohung nicht ausreichend gewesenxuellen Missbrauch von Kindern, stimmen wir mit Ihnen wäre. Das sind doch alles Fälle, in denen es im Vollzug insoweit überein, als die Verwerflichkeit dieser Taten gehapert hat, durch das Strafmaßzum Ausdruck gebracht werden muss. Man muss aber trotzdem zu einer notwendigen Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stufung nach der Schwere der Tat kommen, da sich das DIE GRÜNEN) sonst im Vollzug als kontraproduktiv erweisen könnte, in denen die Täter vorzeitig freigelassen wurden oder sich weil sich keiner mehr traut, diese Taten anzuklagen, weil zum Beispiel selbst befreit haben. Das müssen wir sauber es sich immer gleich um schwere Verbrechen handelt. Ich auseinander halten. bitte Sie ganz herzlich: Lassen Sie uns im Verlauf der Ausschussberatungen gemeinsam darüber reden, wie wir Sie haben dankenswerterweise anerkannt – auch ich das sinnvoll regeln. Die Strafandrohung alleine bringt es möchte das betonen –, dass uns an einer sachlichen De- eben nicht. batte über das zur Diskussion stehende Thema liegt. Das ist in der Tat so; denn dieses Thema ist keines, das sich für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kleinliches politisches Gezänk eignet. Wir müssen hier DIE GRÜNEN) sachlich sein, weil wir sonst nicht weiterkommen. Daneben müssen wir auch prüfen, ob § 140 StGB, also (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Belohnung und die Billigung von Straftaten, um den DIE GRÜNEN) Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern er- weitert werden muss. Ich bin der Auffassung, dass ein Zur Sachlichkeit gehört aber auch, dass Sie anerkennen neuer Tatbestand, nach dem sich strafbar macht, wer auf müssen, dass die jetzige Koalition in der vergangenen ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu Legislaturperiode den Schutz gerade vor gefährlichen bringen, präventiv wirken wird. Sexualstraftätern ganz erheblich verbessert hat (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Im Gegenteil!) Ich möchte einen Bereich aufgreifen, der in Ihrem Ge- setzentwurf nicht zufriedenstellend beachtet wird. Wir – das müssen Sie schon anerkennen – und dass die Bun- müssen adäquat auf die neuen Möglichkeiten desInter- desländer, egal ob sie von der SPD oder der Union regiert net reagieren. werden, in den letzten Jahren im Bereich des Strafvoll- (B) zugs und des Maßregelvollzugs deutliche Verbesserungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) erzielt haben. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstüt- DIE GRÜNEN) zen. Darauf zielt ja auch Ihr weiter gehender Antrag, den Es gibt dort andere Formen, wie man Straftaten begehen Sie gestellt haben. kann. Darauf müssen wir eingehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sind des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Randthemen!) Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir sind der – Das mag für Sie vielleicht ein Randthema sein; für uns Auffassung, dass jedes Opfer einer Gewalttat ein Opfer zu ist es keines. viel ist. Deswegen dürfen wir hier keine halben Sachen machen. Schließlich halte ich es auch für notwendig, die Straf- vorschriften gegen Verbreitung und Besitz kinderporno- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten graphischer Schriften zu verschärfen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In einem Punkt – Herr Bosbach, Sie haben das eben Wir dürfen – das will ich an dieser Stelle betonen – dabei angesprochen – gibt es zwischen uns allerdings keine Ge- allerdings nicht nur den strafrechtlichen Rahmen sehen, meinsamkeit: in der Frage dernachträglichen Siche- sondern es geht auch darum, die Länder mit ins Boot zu rungsverwahrung. Eine isoliert angeordnete Siche- bekommen. Wir haben in der kriminologischen For-rungsverwahrung ist aus unserer Sicht Gefahrenabwehr schung und in der forensischen Psychiatrie erhebliche und damit reine Ländersache. Fortschritte zu verzeichnen. Wir verfügen heute über bes- sere Prognosemethoden, über bessere Behandlungsme- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) thoden und über eine bessere Aus- und Fortbildung der fo- Wir haben in der letzten Legislaturperiode dazu Vor- rensisch-psychiatrischen Gutachter. Auf diesem Wegschläge vorgelegt und haben den Richtern die Möglich- müssen wir weitergehen und die Länder dabei unterstüt- keit gegeben, einen Vorbehalt auszusprechen. Das heißt, zen, dass sie das, was in ihrer Verantwortung liegt, auch alle betreffenden Urteile seit dem letzten Jahr sind abge- tun. deckt, es gibt also kein Regelungsdefizit mehr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich komme nun auf einzelne Punkte zu sprechen, auf Ihr Vorstoß bezüglich der nachträglichen Sicherungs- die ich schon in meiner Rede bei der Aussprache zur Re- verwahrung ist erstaunlich. Gerade die unionsregierten 558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Länder folgen doch unserer Rechtsauffassung und haben ganz besonders prüfen, ob das im Einklang mit dem(C) entsprechende Landesgesetze verabschiedet. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu realisieren ist. Ich glaube, wir gingen über das Ziel hinaus, wenn wir gene- (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer rell sagen würden, dass bei sämtlichen Formen des sexu- [CDU/CSU]: Weil Sie bundesrechtlich nichts ellen Missbrauchs – auch wenn bei Einzeltätern nur ein gemacht haben! – Gegenruf von der SPD: Wo Verdacht besteht – eine entsprechende Überwachung zu- bleibt die Logik?) gelassen werden muss. Die ersten Gerichtsentscheidungen zeigen zwar, dass in Ich denke, eine verantwortliche Kriminalpolitik zeich- dem Bereich in den Ländern noch nachgebessert werden net sich dadurch aus, dass sie den Ermittlungsbehörden muss. Ich denke aber, auch das werden wir schaffen. nur die Instrumente an die Hand gibt, die nötig sind. Wie Ihr Vorschlag würde darüber hinaus neben den Ersttä- Sie aus der Rechtsprechung wissen, ist gerade in diesen tern auch die Mehrfachtäter umfassen und damit echte Fällen ausgesprochen streng zu überprüfen, ob der Grund- Verwerfungen zur eigentlichen Anordnung der Siche-satz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Deshalb ha- rungsverwahrung zur Folge haben. Das müssten Sie ein- ben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode beim mal überprüfen. Max-Planck-Institut eine Untersuchung in Auftrag gege- ben. Wir wollen feststellen, wie das tatsächlich wirkt und All diese Punkte erwähne ich nur am Rande; denn ich was dabei herauskommt. Wenn dieser Bericht des Max- möchte viel lieber die Gemeinsamkeiten in den Vorder- Planck-Instituts vorliegt, werde ich ihn gerne gemeinsam grund stellen und Sie auffordern, da, wo wir uns einig mit Ihnen erörtern. Wir werden dann gemeinsam überle- sind, gemeinsam zu überlegen, wie wir die Situation ver- gen, welche Schlussfolgerungen wir daraus zu ziehen ha- bessern können. ben. (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer (Jörg van Essen [FDP]: Wann kommt er [CDU/CSU]: Wir hören!) denn nun?) Dabei sollten wir den Blick auch auf die Felder richten, – Herr van Essen, ich kann Ihnen nur sagen, dass wir ihn die für den Schutz der Bevölkerung entscheidend sind und schon mehrfach beim Max-Planck-Institut angemahnt ha- wozu das Strafrecht, wie wir meinen, einen wichtigen ben. Ich teile Ihre Auffassung, dass es ein wenig zu lange Beitrag leisten kann. Deswegen halten wir es für richtig, dauert. Wissenschaftler kann man aber nur beschränkt auch die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende drängen. vorzusehen. Es geht darum, dass die Heranwachsenden, die nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, in (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Fristsetzung die Sicherungsverwahrung überführt werden können. Um mit Ablehnungsandrohung! – Dr. Jürgen Gehb (B) (D) es klar zu sagen: Es sind nur ganz wenige Fälle. Es gibt [CDU/CSU]: § 326 BGB!) aber besonders gefährliche frühkriminelle Hangtäter, bei Meine Damen und Herren von der Union, die Vor- denen die Prognose bereits gestellt werden kann. Für schläge, die Sie zur DNA-Analyse machen, entsprechen diese ganz wenigen Fälle sollten wir so etwas vorsehen. weitgehend einem Vorschlag, der im letzten Jahr im Bun- Meine Damen und Herren, im Rahmen meiner An-desrat eingebracht worden und dort stecken geblieben ist. trittsrede habe ich schon darauf hingewiesen, dass wir mit Wir müssen darüber nachdenken, ob nur Straftaten mit er- dem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkei- heblicher Bedeutung Anlasstaten für die DNA-Analyse ten gegen die Verbreitung der Kinderpornographie vor- sein sollen oder ob wir die Schwelle absenken wollen. Es gehen müssen, wobei ich aber nicht glaube, dass jetzt ein gibt Untersuchungen über die Rückfallquote exhibitionis- Galopprennen zur Änderung des § 100 a StPO beginnen tischer Straftäter, die besagen, dass etwa 1 bis 2 Prozent muss. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode dieser Straftäter später wegen eines sexuellen Gewaltde- entscheidende Veränderungen durchgeführt. Seither gibt liktes erneut verurteilt werden. Genau hier würde ich an- es die Möglichkeit, zur Aufklärung des schweren sexuel- setzen. Diese Straftäter müssen verhaftet und vor Gericht len Missbrauchs von Kindern, des Missbrauchs mit To- gestellt werden. Deshalb bin ich dafür, die Möglichkeiten desfolge und vor allen Dingen – das ist ein wichtigerzur Durchführung der DNA-Analyse auszuweiten. Das Aspekt für mich – der gewerbs- oder bandenmäßigen Ver- kann aber nur im Einzelfall geschehen. Wenn der Richter breitung der Kinderpornographie die Telekommunika- die Prognose stellt, dass mit einer Schuld des Betroffenen tionsüberwachung einzusetzen. zu rechnen ist, ordnet er sie an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Bosbach, ich danke Ihnen, dass Sie in Ihrem Re- debeitrag darauf hingewiesen haben, dass Sie das inzwi- Für meine Begriffe ist dieses Instrumentarium insbeson- schen wie wir sehen. Auch Sie halten es für besser, die dere für diese Bereiche besonders gut geeignet. Formulierung „sexueller Bezug“ anstatt „sexueller Hin- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck tergrund“ zu wählen. Damit sind Sie ein wenig konkreter [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) geworden. Es ist sehr gut, dass wir uns insoweit einig sind. Ehe man eine Erweiterung ins Auge fasst, muss man bedenken, welche Fälle man damit einschließt. Bei den Zum Abschluss möchte ich noch einige Worte zur Eva- Abhörmaßnahmen muss man immer auch in Rechnung luation sozialtherapeutischer Maßnahmen sagen. Es gibt stellen, dass man eine erhebliche Anzahl von Unschuldi- einen Antrag von Ihnen. In diesem unterstreichen Sie völ- gen und nicht Betroffenen einbezieht. Deshalb muss man lig zu Recht die Notwendigkeit einer Begleitforschung, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 559

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) was die sozialtherapeutische Behandlung von Sexual-die Anwendung von Gesetzen über die Unterbringung be- (C) straftätern angeht. Auch ich bin der Auffassung, dass wir sonders rückfallgefährdeter Straftäter bisher keine we- diese durchführen müssen. Ich will mit den Länderkolle- sentliche Bedeutung erlangt hat. gen gerne darüber reden. Die Länder müssen diese Auf- (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) gabe übernehmen, da sie in ihrem Verantwortungsbereich liegt; dort gehört sie hin. Sie sind dafür verantwortlich. Rechtsstaatliche Grundsätze wie das Verbot der Dop- pelbestrafung und das Rückwirkungsverbot dürfen nicht Die kriminologische Zentralstelle liefert Daten dazu. leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Das Justizministerium wird die kriminologische Zentral- stelle selbstverständlich darum bitten, diesen Themenbe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten reich weiter zu verfolgen und die Daten auch weiterhin zu der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- liefern, damit wir auf der Basis vernünftiger, empirisch er- NEN) hobener Daten überlegen können, was zu tun und zu än- Hinzu kommt, dass die Gesetzgebungskompetenz im dern ist. Strafrecht beim Bund liegt. Wie Sie sehen, bin ich der Meinung, dass wir bei der Be- Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzent- ratung dieser Gesetzentwürfe in den Ausschüssen zu über- wurfs betrifft die Strafverschärfung für sexuellen Miss- zeugenden gemeinsamen Ergebnissen kommen werden. brauch von Kindernvon sechs Monaten Mindestfrei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heitsstrafe auf ein Jahr. Damit werden diese Delikte vom DIE GRÜNEN) Vergehen zum Verbrechen heraufgestuft. Es steht außer Frage, dass alle Missbrauchshandlungen an Kindern ein Verbrechen an deren Seele darstellen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der SPD und des Abg. Hartwig Fischer [Göttin- der FDP-Fraktion. gen] [CDU/CSU]) Durch die Strafverschärfung nach Ihren Vorstellungen Sibylle Laurischk (FDP): würde zwar die Bevölkerung, aber sicherlich nicht die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Vielzahl betroffener Kinder geschützt. Der Gesetzentwurf Damen und Herren! In meinem Wahlkreis beginnt in zwei lässt die Belange der Opfer nach meinem Dafürhalten so- Wochen der Strafprozess gegen einen Mann, der nachgar außer Acht. Verbüßung einer erstmaligen Freiheitsstrafe wegen ver- Die Straftaten des sexuellen Missbrauchs sind in den (B) (D) schiedener Sexualdelikte aus der Haft entlassen wurde, allermeisten Fällen Beziehungstaten und eben nicht sol- obwohl Grund zu der Annahme bestand, dass eine Siche- che Taten wie Sie, Herr Kollege Bosbach, sie anfangs auf- rungsverwahrung dieses Mannes angezeigt gewesen wäre. geführt haben. In den 15 117 Fällen, von denen Sie ge- Innerhalb weniger Wochen nach seiner Haftentlassung sprochen haben, stammen die allermeisten Täter aus dem hat er mehrere Frauen äußerst brutal vergewaltigt. In Ba- sozialen Umfeld des Kindes; die Fälle sind insofern nicht den-Württemberg herrschte vor gut einem Jahr Angst und mit dem zu vergleichen, was Sie sehr prägnant geschildert Schrecken, bis dieser Mann festgenommen werdenhaben und was sicherlich grauenhafte Folgen für die Kin- konnte. Die Bevölkerung bringt selbstverständlich kein der hat. Verständnis dafür auf, dass in einem solchen Fall seitens (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und was für des Staates nicht präventiv gehandelt wurde und dass die- eine Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?) ser Mann nicht in Sicherungsverwahrung kam. Die Opfer sind oft nur dann zur Aussage und zur Mit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten arbeit bei der Vielzahl von Missbrauchsfällen, die zur An- der CDU/CSU) zeige kommen, bereit, wenn sie davon ausgehen, dass der Die vorliegende Gesetzinitiative wurde in der vergan- Täter, der oft ein naher Verwandter oder ihnen sonst nahe genen Legislaturperiode bereits beraten und abgelehnt. stehender Mensch ist, nicht zu hart bestraft wird. Seit August dieses Jahres ist das Gesetz zur Einführung (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in Kraft, so- dass nur noch ein sehr kleiner Kreis möglicher Straftäter Kinder haben eher ein Interesse daran, die für sie oft von der vorliegenden Gesetzesinitiative erfasst wird.über lange Zeiträume andauernde und gerade auch see- Warum dies nun doch möglich sein soll, muss in den Aus- lisch sehr belastende Situation zu beenden, als dass sie schussberatungen genau geklärt werden. Schließlich ist es eine Bestrafung der Täter wünschen. aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch, ohne vor- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Was wol- herigen richterlichen Vorbehalt mit der nachträglich an- len Sie denn damit sagen?) geordneten Sicherungsverwahrung einen Straftäter ein Ich spreche ausdrücklich aus der Sicht der Kinder. zweites Mal zu bestrafen, zumal die Sicherungsverwah- rung auf eine lebenslange Inhaftierung hinauslaufen kann. Diesen Konflikt des Opfers kann eine Strafverschär- Hierbei sind auch die Erfahrungen mit der entsprechen- fung nicht lösen. Vielmehr werden leichtere Formen des den Ländergesetzgebung in Baden-Württemberg, Bayern Kindesmissbrauchs weniger ernst genommen werden und und Sachsen-Anhalt zu prüfen, wo nach meiner Kenntnis auch für den Täter unbedeutender, da er sich dann, wie es 560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) die Gesetzesvorlage ausführt, auf einen minder schweren Bevölkerung nach solchen Sexualverbrechen, um populis- (C) Fall berufen kann. Der Täter fühlt sich in der Auffassung, tische Maßnahmen vorzuschlagen. es sei ja nicht so schlimm gewesen, eher noch bestätigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Schaffung ei- und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ nes spezifischen Tatbestandes gegen das Anbieten von CSU]: Das ist Unsinn! Was ist daran populis- Kindern für sexuellen Missbrauch. Hiermit werden die tisch?) Möglichkeiten, die die Datennetze bieten, endlich straf- Sie suggerieren, mit einer Erhöhung des Strafmaßes rechtlich berücksichtigt werden. Ich denke, dieser Mangel könne der Schutz der Opfer vor Sexualstraftaten verbes- bedarf dringend der Aufhebung. Es ist höchste Zeit, dass sert werden. Das ist nicht nur undifferenziert, sondern hier etwas geschieht. Da halte ich den Gesetzentwurf für auch kontraproduktiv. sehr richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Über die Möglichkeiten der DNA-Analyse ist in den Ausschüssen nochmals zu beraten. Insbesondere Belange Neben dieser grausamsten Form sexualisierter Gewalt des Datenschutzes müssen gewahrt bleiben. Inwieweit gibt es eine hohe Zahl ansexuellen Übergriffen. Herr der Ausbau sozialtherapeutischer Einrichtungen und die Bosbach hat es gerade gesagt: Jedes Jahr werden circa Erhöhung der Anzahl entsprechender Haftplätze eine Op- 15 000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern an- timierung der Behandlungsmaßnahmen von Straftätern gezeigt. Drei Viertel der Opfer sind Mädchen, ein Viertel nach sich ziehen, sollte nicht zuletzt auch in Anbetracht der Opfer Jungen. Hinzu kommen jährlich ungefähr der Kosten überprüft werden. 7 000 Vergewaltigungen. Dabei kommen die Täter meis- tens aus dem Familien- oder Bekanntenkreis der Opfer. Ich warne davor, den angestrebten Schutz der Bevölke- rung vor Sexualstraftaten durch Strafverschärfungen so zu Sexualisierte Gewalt ist Mord an der Seele der Kinder; polarisieren, dass im Ergebnis eine Bagatellisierung der das wissen alle, die sich mit den Opfern beschäftigen. Vielzahl durchschnittlicher Missbrauchsstraftaten eintritt. Wenn fremde Menschen diese Verbrechen begehen, ist die Traumatisierung der Kinder schon schwer genug zu ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten arbeiten. Wenn aber der Täter zum vertrauten, familiären der SPD) oder sozialen Umfeld gehört, ist die Tat schier unerträg- Damit wäre den Opfern nicht geholfen. Es entspräche si- lich. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die vielen cherlich auch nicht dem Sinn und Zweck der Gesetzes- bekannt gewordenen Missbrauchsfälle von Priestern. vorlage. Die Anzahl der registrierten Fälle von sexuellem Miss- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten brauch hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt abge- (B) (D) der SPD) nommen. Wir wissen aber auch, dass die weit überwie- gende Zahl der Fälle nach wie vor nicht zur Anzeige gebracht wird. Hier hilft Prävention durch Information. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die größere öffentliche Sensibilisierung für das Thema Frau Kollegin Laurischk, ich beglückwünsche Sie zu hat zu einer gestiegenen Anzeigebereitschaft seit Beginn Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. der 90er-Jahre geführt. Hier müssen wir auch weiter an- setzen; denn die Strafanzeige ist nun einmal die Grund- (Beifall) lage, um Täter strafrechtlich verfolgen und auch verurtei- Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-len zu können. Herr Bosbach, Ihre Vorschläge gehen da Gerigk von Bündnis 90/Die Grünen. einfach an der Praxis vorbei. Wenn eine Erhöhung der Mindeststrafe die Opfer tatsächlich schützen würde, dann hätten Sie uns an Ihrer Seite. Sie tut es aber nicht. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr sind vier Kinder einem der schlimmsten Verbrechen Ich habe mir zur Vorbereitung dieser Debatte die zum Opfer gefallen, das wir uns vorstellen können. Sie Rechtsprechungspraxis der letzten Jahre angeschaut. Die wurden sexuell missbraucht und getötet. Auch für die An- Vergleichszahlen von 1984, 1993 und 1998 belegen: Im gehörigen ist es kein Trost, wenn wir feststellen, dass die Fall von sexuellem Kindesmissbrauch sind insgesamt ein Zahl dieser furchtbaren Delikte abnimmt. Vor zehn Jahren Anstieg der Zahl der verhängtenFreiheitsstrafen und waren es sieben Kinder, vor 20 Jahren noch 13 Kinder. eine höhere Ausschöpfung des Strafmaßes zu verzeich- Wir müssen alles dafür tun, um solche Straftaten mög- nen. Aber worauf es hier besonders ankommt, ist: Die An- lichst zu verhindern. Zu Recht fragt sich die Gesellschaft zahl derjenigen, die zu mindestens einem Jahr verurteilt nach jedem dieser schrecklichen Fälle: Tun wir wirklich wurden, hat ebenso zugenommen wie die Zahl der zu alles zum Schutz der Kinder? einer mehr als fünfjährigen Haftstrafe Verurteilten. Das können Sie in dem ersten periodischen Sicherheitsbericht In diesem Kontext steht auch der heutige Gesetzent- von BMI und BMJ aus dem Jahr 2001 nachlesen. wurf der CDU/CSU. Ich nehme Ihnen ab, verehrte Kolle- ginnen und Kollegen, dass Sie es gut meinen, aber gut Bereits heute ist jeder Fall von sexuellem Missbrauch, gemeint ist nicht immer gut. Die Mittel, die Sie vorschla- der die Gefahr einer erheblichen Schädigung der seeli- gen, sind ungeeignet. Sie missbrauchen die Ängste der schen Entwicklung mit sich bringt, mit einer Mindest- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 561

Irmingard Schewe-Gerigk (A) strafe von einem Jahr belegt. Also das, was Sie wollen, die wir in der vergangenen Legislaturperiode über vier(C) meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gibt esJahre geführt haben, verändert. schon. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben immer den Hand- Ihr Vorschlag, den Opferschutz durch eine Erhöhung lungsbedarf auf dem Gebiet des Schutzes von Kindern vor des Strafrahmens für „einfachen“ sexuellen Missbrauch sexueller Gewalt betont und gefordert, dass der Gesetz- zu verbessern, zielt in die falsche Richtung. Wollen Sie geber tätig wird. Sie haben sich dem über Jahre verwei- wirklich, dass die einvernehmliche sexuelle Handlung gert. zwischen einer 13-Jährigen und einem 14-Jährigen zu ei- (Widerspruch bei der SPD) ner Jugendstrafe führt? Heute anerkennt auch die Bundesjustizministerin, dass Und eine andere Folge ist absehbar: Eine Heraufstu- Handlungsbedarf besteht, und zwar – wie sie selbst sagt – fung des Strafmaßes hätte voraussichtlich vor allem für inhaltlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Vor- die Opfer negative Folgen; die Kollegin von der FDP hat schlägen der CDU/CSU-Fraktion. Das begrüßen wir. Un- es gerade ausgeführt. Es käme immer zu einer Hauptver- sere Vorschläge werden nicht dadurch falsch, dass nun- handlung mit den entsprechenden schädlichen Auswir- mehr auch die Justizministerin, die der SPD angehört, sie kungen für die Kinder. Auch in den leichtesten Fällen für richtig hält. wäre eine Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nicht möglich. Gerade unter dem Aspekt des Opferschutzes ist Wir bedauern allerdings – das muss auch ausgespro- dies nur als kontraproduktiv zu bezeichnen, wie es auch chen werden –, dass der Erkenntnisprozess Jahre gedau- der Anwaltverein in seiner Pressemitteilung formuliert ert hat. Wenn Sie heute Handlungsbedarf konzedieren hat. – die Koalition ist ja die gleiche geblieben, wenn auch nicht die Person der Bundesjustizministerin –, dann heißt Mit der von Ihnen vorgeschlagenen nachträglichen Si- das: Über Jahre bestanden, nunmehr anerkannt auch cherungsverwahrung und der DNA-Analyse wird sich durch die Bundesjustizministerin, Lücken im Schutz von gleich mein Kollege Montag intensiv auseinander setzen. Kindern vor sexueller Gewalt. Das ist der traurige Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der ver- fund, der mit dem Fortschritt in Ihrer Erkenntnis einher- gangenen Legislaturperiode deutliche Verbesserungen geht. zum Schutz der Opfer erreicht. Ich nenne nur das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) waltschutzgesetz, die Heraufsetzung des Beginns der Verjährungsfrist für Schmerzensgeldansprüche wegen Frau Bundesjustizministerin, es muss uns auch erlaubt Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung auf dassein, dahin gehend Skepsis zu äußern, ob sich Ihre Ankün- 21. Lebensjahr, die Telefonüberwachung bei schwerem digungen am Ende im Gesetzblatt wiederfinden. Für diese (B) (D) sexuellen Missbrauch und Kinderpornographie. Das sind Skepsis haben wir mehrere Gründe. Die Grünen haben so- nur einige Punkte. wohl in der Debatte heute als auch in Presseerklärungen versucht, das Thema, das wir hier beraten, zu tabuisieren. Wir werden uns weiterhin sowohl für den verbesserten Ihre Strategie bestand immer darin, zu sagen: Wer über Opferschutz als auch für die sozialtherapeutische Be- dieses Thema spricht, der polemisiert, emotionalisiert und handlung der Täter einsetzen. Sich für das Recht von macht kleinkarierte Parteipolitik. Sie haben versucht, die Mädchen und Jungen auf seelische und körperliche Un- wichtigen Themen Opferschutz und Kriminalitätspolitik versehrtheit einzusetzen, das muss unser aller Anliegen zu tabuisieren. sein. Mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf ist das nicht möglich. Lassen Sie uns aber in den Beratungen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ noch einmal schauen, ob es Dinge gibt, die wir gemein- DIE GRÜNEN]: Sie hätten besser zuhören sol- sam auf den Weg bringen können, um diesem Ziel nahe zu len!) kommen. Ich wundere mich nur, dass Sie sich angesichts Ihres Ich danke Ihnen. Vorwurfs der Polemik und der Emotionalisierung nicht über den Bundeskanzler beschweren. Darum müssen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich den Vorwurf des mangelnden politischen Mutes und und bei der SPD) der Scheinheiligkeit gefallen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Oberpolemiker in dieser Frage ist der deutsche Bun- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von deskanzler. Dazu hätte ich von Ihnen gerne einmal ein der CDU/CSU-Fraktion. Wort gehört. Sie brauchen eine Mehrheit. Wir stehen in dieser An- (CDU/CSU): Dr. Norbert Röttgen gelegenheit zur sachlichen Kooperation – wie stets – zur Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Verfügung. Frau Schewe-Gerigk hat mit ihrer Kritik eben ren! Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Mei- Herrn Bosbach angesprochen. Gemeint waren natürlich nungsverschiedenheiten in diesem wichtigen Bereich zu Sie, Frau Bundesjustizministerin. Frau Schewe-Gerigk sprechen komme, möchte ich mit einer positiven Feststel- hat sich gegen Ihre Vorschläge, die Sie etwa in der „Süd- lung beginnen. Die Debatte hat sich gegenüber der De- deutschen Zeitung“ gemacht haben, ausdrücklich und batte, die wir noch vor zwei Wochen geführt haben und frontal gewendet. Sie sind doch dafür, Kindesmissbrauch 562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Norbert Röttgen (A) zum Verbrechen heraufzustufen. Die Grünen haben dies res Verbrechen begehen? Welche Schlussfolgerung zieht (C) gerade explizit abgelehnt. Sie haben in der Koalitionder Staat daraus? keine Einigkeit. Ihre Ankündigungen müssen Sie erst (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE noch realisieren. GRÜNEN]: Nennen Sie einmal ein Beispiel!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Koalition sagt: Wir können nichts tun. Ich sage Ih- Wenn Sie es ernst meinen, dann haben Sie eine gute nen: Sie, die Vertreter der Koalition, wollen in dieser Gelegenheit, dies zu demonstrieren; schließlich sagenFrage nichts tun. Sie: 80 Prozent des Gesetzentwurfs der Union sind in (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das ist der Ordnung. Wir schlagen Ihnen vor, auf der Grundlage un- Punkt!) seres Gesetzentwurfs zu verhandeln. Das geschieht nicht aus Bösartigkeit, sondern weil Sie in (Beifall bei der CDU/CSU) dieser Frage nicht einigungsfähig und darum politisch Der Mehrheit fällt kein Zacken aus der Krone, wenn sie nicht handlungsfähig sind. sagt: 80 Prozent dieses Gesetzentwurfs sind gut; im (Beifall bei der CDU/CSU) Hinblick auf die restlichen 20 Prozent stellen wir Än- derungsanträge. Lassen Sie uns auf der Grundlage un- Das ist der entscheidende Punkt. Ihre verfassungsrecht- seres Entwurfs verhandeln! Auf diese Weise werden Sie liche Argumentation ist das Alibi für Ihre politische Hand- den größten Teil Ihrer Vorstellungen durchsetzen kön- lungsunfähigkeit. Das ist die Wahrheit. Sie können poli- nen. tisch nicht handeln. Bevor ich zu den Einzelheiten komme und bevor wir Ich möchte diese Debatte auch nutzen, um mich mit uns in dem damit verbundenen Dschungel vielleicht ver- Ihren Argumenten auseinander zu setzen. Wir hatten uns irren, liegt mir daran, zu betonen, wie der Maßstab aus- ja vorgenommen, eine argumentative Auseinandersetzung sieht. Der stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktion zu führen. hat ihn bereits beschrieben. Da er entscheidend ist, (Zuruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]) möchte ich es wiederholen. Was ist der Maßstab des po- litisch Gebotenen, des politisch Notwendigen in dieser – Ja, ich gehe auf Ihre Argumente ein. Sie werden sehen, Frage? Das Notwendige und Gebotene ist nicht weniger Herr Stünker, wie Sie nach jedem Argument, mit dem ich als das rechtsstaatlich Mögliche. Alles, was rechtsstaat- mich auseinander setze, ein Stück tiefer im eiskalten Was- lich möglich ist, ist das politisch Gebotene. Das ist der ser stehen. Maßstab. Wir erbitten auch von Ihnen eine Erklärung (Joachim Stünker [SPD]: Sie sind schon (B) dazu, ob Sie diesen Maßstab akzeptieren oder ob Sie un- eingebrochen!) (D) ter dieser Messlatte bleiben wollen, ob Sie also weniger zum Schutz von Opfern tun wollen als das, was rechts- Erstes Argument: Von Ihrer Seite wird immer wieder staatlich möglich ist. gesagt, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich um eine Form der Doppelbestrafung. Dieses Argument ist (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE falsch. Es handelt sich hierbei um eine Maßregel mit dem GRÜNEN]: Wir wollen mehr tun!) Ziel der Besserung und Sicherung, der Resozialisierung Ich glaube, dass Sie die Konstellation nicht wirklich wie der Prävention. Andernfalls müssten Sie alle Maßre- begriffen haben. Sie leben in der Vorstellung, dass es da- geln der Besserung und Sicherung, die im Strafgesetz- rum geht, den Staat, der in die Freiheit des einzelnenbuch stehen, streichen. Das Argument kann nur aus- Straftäters regulierend eingreifen will, abzuwehren. Wir schließlich gelten: entweder immer oder nie. Sie können müssen das Freiheitsrecht des Straftäters – auch dernicht auf der einen Seite, wie gerade geschehen, eine vor- Straftäter ist nicht rechtlos – gegen den Schutzanspruch behaltene Sicherungsverwahrung beschließen, aber zu je- des potenziellen Opfers abwägen. der anderen Form sagen, dabei handele es sich um eine Form von Doppelbestrafung. Ihre Argumentation ist in (Beifall bei der CDU/CSU) diesem Punkt also widersprüchlich. Schieben Sie das Ar- Dass es um diese Abwägung geht, verstehen Sie nicht. Ich gument beiseite; es ist nicht zu halten. habe, ganz offen gesagt, den Eindruck, dass Sie, Herr Ihr entscheidendes Argument lautet: Die Kompetenz Ströbele, und auch Sie, Frau Schewe-Gerigk, noch imfür entsprechende Gesetze liege bei den Ländern und ideologischen Gefängnis der 70er-Jahre hausen. Befreien nicht beim Bund; man könne darum nichts machen. Auch Sie sich von Ihren alten ideologischen Kämpfen! dieses Argument ist aus mehreren Gründen falsch und nicht tragfähig. Ich will das nun ausführen: (Beifall bei der CDU/CSU) Jede Reaktion des Staates auf eine Straftat – das ist un- Ich möchte auf die entscheidende Meinungsverschie- strittig – fällt unter die Kategorie Strafrecht, nicht Poli- denheit, die zwischen uns besteht, zu sprechen kommen. zeirecht, und damit in die Bundeskompetenz. Wir sind der Dabei geht es um die Fragen: Wie geht der Staat mit ge- Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung eine Reak- fährlichen Straftätern um? Was tut der Staat zum Schutz tion auf die Straftat eines Straftäters darstellt, der Bevölkerung vor Straftätern, von denen der Staat selbst aufgrund der Ergebnisse von Gutachtern glaubt, (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian dass sie so gefährlich sind, dass sie, wenn sie entlassen Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein schwe- denke, es ist keine Strafe!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 563

Dr. Norbert Röttgen (A) der seine Gefährlichkeit schon unter Beweis gestellt hat. – Wir wollen keine reine Gefahrenabwehr, wir wollen nicht (C) Darum kommt hier das Strafrecht zur Anwendung. irgendwelche Leute, sondern einen Straftäter in Sicherungs- verwahrung nehmen, der gezeigt hat, dass er gefährlich ist. Die gesetzlichen Maßnahmen von CDU- bzw. CSU-ge- Darum ist hier eine bundesgesetzliche Regelung nötig. führten Ländern, auf die Sie hingewiesen haben – Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt –, sind reine (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Notstandsmaßnahmen, weil der Bund sich weigert, hier Also doch ein Problem der doppelten Bestra- aktiv zu werden. Das ist doch die Wahrheit. fung! – Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Quatsch! Unsinn!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ein weiteres Argument, an dem Ihre Scheinheiligkeit Ihr Verweis auf das Landesrechtführt zu absurden Er- deutlich wird: Sie fordern die Bundesländer auf, hier tätig gebnissen: So sind die Kinder von Herrn Montag und des zu werden. Die CDU-geführten Länder sind hier zum Teil Kollegen Götzer, die in Bayern leben, besser geschützt als tätig geworden. Die Wahrheit ist doch: Rot-Grün wird auf meine Kinder, die in Nordrhein-Westfalen leben. Das Länderebene genauso wenig tätig wie auf Bundesebene. kann doch nicht sein. Wir brauchen eine bundeseinheit- Sie machen doch nichts. liche Regelung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sollen Ich habe gerade mit einem Kollegen gesprochen, der im die in Nordrhein-Westfalen etwas machen!) niedersächsischen Landtag war. Dort hat die CDU-Frak- tion vorgeschlagen, eine landesgesetzliche Regelung zur – In Nordrhein-Westfalen macht man aber nichts, meine Sicherungsverwahrung einzuführen; Rot-Grün lehnte die- Damen und Herren. ses Instrument aber ab. Rot-Grün hat weder auf Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei noch auf Landesebene die politische Kraft dazu. der SPD) Wenn Sie uns schon nicht glauben – das ist mein letz- Es ist doch den Bürgern nicht verständlich zu machen, tes Argument dazu –, dann glauben Sie doch wenigstens dass ein gefährlicher Straftäter in Bayern in Sicherungs- den Praktikern. Heute hat sich erfreulicherweise der stell- verwahrung genommen werden kann, wenn er aber nach vertretende Vorsitzende des Richterbundes, ein praktizie- Niedersachsen verlegt wird – Haftverlegungen kommen render Richter, zu Wort gemeldet. Er fordert als Reprä- ja immer wieder vor –, auf freien Fuß gesetzt wird. sentant der Richter in Deutschland den Deutschen Bundestag auf, die Möglichkeit nachträglicher Siche- Meine Damen und Herren, in einer Frage, in der es für rungsverwahrung vorzusehen. Er sagt, wir bräuchten die- den Straftäter um Freiheit oder Haft geht, in einer Frage, (B) ses Instrument und der Bund sei derjenige, der in der Ver- (D) in der es für Opfer um Leben und Tod geht, präsentieren antwortung stehe, dafür zu sorgen. Hören Sie auf die Sie auf höchster staatlicher Ebene absurdes Theater. Sie Praktiker, die diese Vorschläge machen! stellen auf reine Zufälligkeiten ab. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist das denn für ein Unsinn?) Ich komme kurz noch zu unseren anderen Vorschlägen, zu denen Sie weitgehend Zustimmung signalisiert haben. Die Auffassung, die Sie vertreten, ist auch darum unhalt- Wie gesagt: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unseres bar, weil sie das Vertrauen in die praktische Vernunft des Entwurfes, dann sind Sie in sicheren Gefilden. Staates infrage stellt. Die Leute fragen: Was ist das ei- gentlich für ein Staat, der den Schutz von Opfern vor Wir haben vorgeschlagen, denKindesmissbrauch Mord und schweren Verbrechen von Zufälligkeiten ab- vom Vergehen zum Verbrechen aufzuwerten. Die Grünen hängig macht? widersprechen und sagen, es sei ihr Vorschlag, sie hätten ihn gemacht. Wir sehen natürlich einen minderschweren (Beifall bei der CDU/CSU) Fall vor. Sie sollten unseren Gesetzentwurf erst studieren, Ich will auch ein rein verfassungsrechtliches Argument bevor Sie ihn kritisieren. nennen. Wir bewegen uns hier im Bereich derkonkur- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist es!) rierenden Gesetzgebung. Da es die vorbehaltene Si- cherungsverwahrung schon gibt, hat der Bund – das ist Selbstverständlich muss es auch dafür eine flexible Rege- verfassungsrechtlich zwingend – hier von seiner Gesetz- lung geben. gebungskompetenz Gebrauch gemacht; das heißt, in die- Frau Kollegin von der FDP, Sie haben gleichzeitig vor sem Bereich ist für die Gesetzgebung der Länder über- Verschärfung und vor Verharmlosung gewarnt. Sie müs- haupt kein Raum mehr. sen sich, wie ich finde, erstens entscheiden, in welche (Erika Simm [SPD]: Polizeirecht!) Richtung Sie kritisieren. Zweitens kann Ihr Argument, dass es sich um Beziehungstaten handele, nicht dazu – Es fällt nicht unter das Polizeirecht. Das Polizeirecht hat führen, dass der Staat den staatlichen Strafanspruch den Pferdefuß, dass es gerade nicht an die Straftat an- zurücknimmt. knüpfen kann, weil das Strafrecht in Bundeskompetenz fällt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Christine Lambrecht [SPD]: Und, zur Denn gerade in diesem Bereich müssen wir der Neigung, Gefahrenabwehr nicht möglich?) zu sagen: „Reden wir nicht darüber, es ist unangenehm, es 564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Norbert Röttgen (A) war auch nicht so schlimm“, die zu einem großen Dun- dieser Seite schon den Vorwurf des Populismus gefallen (C) kelfeld führt, entgegenwirken. Damit übt das Strafrecht lassen müssen. eine Signalfunktion aus. Die Regelung muss praktisch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ handhabbar sein, das ist unser Vorschlag auch. Wir sa- DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – gen: Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, son- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sagen Sie dern eines der schwersten Verbrechen, die unsere was zu Schröder!) Rechtsordnung kennt. Darum reagieren wir mit dem schärfsten Instrumentarium, das wir zur Verfügung ha- – Lassen Sie mich über Sie reden! Das finde ich momen- ben. tan viel spannender. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe bewusst noch einmal nachgelesen: Von 1994 bis 1998 gehörten Sie beide schon dem Deutschen Bun- Wir sind übrigens der Auffassung, dass zwar durch das destag an. Angesichts der Tatsache, dass Sie heute davon Strafrecht die Signalfunktion des Staates deutlich werden reden, dass der Staat handeln muss und dass dringender muss, aber dass Strafen nicht alles ist. Darum habe ich Handlungsbedarf besteht, frage ich mich – ich weiß, dass mich gefreut, dass Sie auch auf den Teil unseres Antrages Sie nicht gerne daran erinnert werden –, warum Sie in den eingegangen sind, in dem wir eine Länder übergreifende, letzten vier Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht wissenschaftliche Begleitforschung sozialtherapeuti- schon längst gehandelt haben. Sie hätten vieles von dem, scher Maßnahmen vorschlagen. Wir sind der Auffassung was Sie heute vorschlagen, schon umsetzen können. – ich betone es noch einmal –, dass es auch die Verant- wortung gegenüber dem Verbrecher gibt, ihn in die Ge- (Beifall bei der SPD) sellschaft zurückzuholen, ihn zu therapieren. Dann er- warte ich allerdings von denjenigen, die dies im Bundestag Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fordern, dort, wo sie in den Ländern Verantwortung tragen, etwa in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen – ich Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwi- weiß nicht, wie es in anderen rot-grün-regierten Ländern schenfrage des Kollegen Röttgen? aussieht –, Therapieplätze zur Verfügung zu stellen. The- rapie kostet Geld. Therapie als Lippenbekenntnis ist zu Christine Lambrecht (SPD): wenig. Herr Röttgen hatte schon 15 Minuten Zeit, uns mit sei- Wir haben als Union ein umfassendes Angebot un- nen Vorschlägen, die seine Fraktion damals nicht umge- terbreitet, und zwar – das möchte ich abschließend sa- setzt hat, zu beglücken. gen – aus zwei Gründen: erstens weil es um die große (B) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie haben (D) Verantwortung geht, die wir als Gesetzgeber gegenüber gerade die Unwahrheit gesagt! – Gegenruf des den Opfern und den Angehörigen von Opfern haben, Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ zum Beispiel gegenüber den Eltern von Kindern, die DIE GRÜNEN]: Sie haben ja auch keine Frage Opfer geworden und vielleicht umgebracht worden zugelassen!) sind. Zweitens geht es – das reicht über die einzelnen Schicksale hinaus – nach unserer festen Überzeugung – Ich habe jetzt das Wort, Herr Röttgen. auch darum, die Akzeptanz der Rechtsordnung sicher- (Beifall bei der SPD) zustellen. Weil es immer wieder zu spektakulärem Auf- sehen in der Öffentlichkeit kommt, fragen die Men- Auch mir als Mutter eines zweijährigen Sohnes hat schen: Welches Zutrauen können wir eigentlich in den sich bei der sehr drastischen Darstellung der grauenhaften Staat haben, der immer bedauert und redet, aber amVerbrechen, die Herr Bosbach gegeben hat, im wahrsten Ende nicht handelt? Sinne des Wortes der Magen umgedreht. Das geht wahr- scheinlich allen so, die von solchen Verbrechen hören. Handeln wir, meine Damen und Herren, es ist höchste Gerade weil ich mich persönlich betroffen fühle, möchte Zeit dazu. Wir haben Vorschläge gemacht. Schließen Sie ich allen Eltern in die Augen schauen können, wenn ich sich ihnen an. Der Staat wird an Vertrauen und Akzeptanz ihnen sage: Ja, wir haben in der Politik alles getan, was dadurch zurückgewinnen. wir tun können. – Die Frau Ministerin hat es vorhin schon betont: Die Verantwortung liegt nicht nur bei der Politik, Herzlichen Dank. sondern auch bei Richtern und Therapeuten. Mein Anlie- (Beifall bei der CDU/CSU) gen ist, dafür zu sorgen, dass wir mit Recht sagen können: Ja, wir haben alles getan, um die Menschen vor Sexual- straftaten zu schützen, um Sexualstraftaten zu verhindern Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und um die Täter zu überführen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht Jetzt stellt sich die Frage, was wir in den letzten vier von der SPD-Fraktion. Jahren getan haben. Wir haben die dauerhafte Unterbrin- gung der Täter zum Schutz der Allgemeinheit durchge- setzt. Wir haben die Telefonüberwachung bei Kinderpor- Christine Lambrecht (SPD): nographie verschärft und die Therapiemöglichkeiten für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Union Täter verbessert. Ohne deren Zustimmung ist mittlerweile wärmt ihre Vorhaben aus den letzten vier Jahren wieder eine Verlegung in eine Anstalt möglich, in der sozialthe- auf. Herr Bosbach und Herr Röttgen, Sie werden sich von rapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Ich sage Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 565

Christine Lambrecht (A) im Namen der SPD-Fraktion: Wir müssen alles tun, damit Man muss sich deshalb aufgrund rechtsstaatlicher Gesichts- (C) die Opfer besser geschützt werden. Aber das muss inner- punkte überlegen, ob man das Grundrecht auf informa- halb der rechtsstaatlichen Grenzen geschehen. tionelle Selbstbestimmung einschränkt. Darüber müssen (Beifall bei der SPD) wir diskutieren; das ist ein Abwägungsprozess. Denn die Speicherung des genetischen Materials stellt schon einen Deshalb verschließen wir uns sinnvollen Vorschlägen erheblichen Eingriff in dieses Grundrecht dar. nicht. Aber lassen Sie mich einmal beleuchten, welche Vorschläge von Ihnen kommen. Es wurde wieder die (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Reden wir Strafverschärfung angesprochen. Jeder, der mit der Pra- über Täterschutz oder Opferschutz?) xis zu tun hat, weiß, dass in den seltensten Fällen – ich In Ihrem ursprünglichen Entwurf wurde das alles ziem- würde sagen, dass die Zahl gegen null geht – der Straftä- lich aufgeweicht. Sie hätten nämlich nicht nur den Exhi- ter, insbesondere der Sexualstraftäter, einen Blick in das bitionisten, sondern auch den Täter erfasst, der die Straftat StGB wagt, bevor er sich zu einer Straftat entschließt. einer sexuellen Beleidigung begeht, typischerweise – so (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ein möchte ich sagen – den Grapscher. Ich weiß nicht, ob Sie Quatsch!) die wirklich erfassen wollten. Ich treibe es jetzt einmal auf die Spitze: Mit Ihrer ursprünglichen Definition hätten Sie Deswegen kann man nicht von der Strafverschärfung als all diejenigen erfasst, die ohne Führerschein oder betrun- einer Wunderwaffe leben. ken zu einer Prostituierten fahren und damit schon im Vor- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Dann feld eine Straftat begangen hätten. Es kann doch nicht schaffen wir das StGB doch gleich ab!) wahr sein, dass das Ihr Ansinnen gewesen ist. – Herr Götzer, dieser Zuruf ist Ihrer nicht würdig. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Darüber hinaus haben Sie, Herr Röttgen, davon gespro- – Sie sollten Ihre Entwürfe genau lesen und verstehen. chen, dass eine Unterbringung nicht möglich sei, weil die Dann sehen Sie, wie absurd die sind. Länder keine entsprechenden Möglichkeiten haben. Natür- lich sind die Länder dazu in der Lage. Nach dem Polizei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des recht können sie immer dann eine Unterbringung anordnen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ord- Abg. Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ nung besteht. Es ist die Aufgabe der Länder, zu handeln. CSU]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Das ist der sexuelle Hintergrund. Wenn Sie dies nicht DIE GRÜNEN) verstehen, dann kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie in Ih- rer Fraktion noch einmal in Klausur! (B) Lassen Sie mich auf die Ausweitung derDNA-Ana- (D) lyse eingehen. Ihr Vorschlag scheint mir aus rechtsstaatli- Aber man muss Ihnen zugute halten: Sie haben dazu- chen Gesichtspunkten sehr fragwürdig. Wie ist denn die gelernt. Aus diesem „sexuellen Hintergrund“ ist mittler- derzeitige Gesetzeslage? Wir haben die Situation, dass die weile „sexueller Bezug“ geworden. Von daher sehe ich, Untersuchung und auch die Speicherung genetischendass Sie auf einem guten Wege sind. Vielleicht schaffen Spurenmaterials nach der Strafprozessordnung im laufen- wir es, nach etwas sachlicheren Beratungen im Rechts- den Ermittlungsverfahren immer möglich ist, wenn da- ausschuss dahin zu kommen, wohin wir alle wollen: einen durch für das Verfahren wichtige Tatsachen festgestellt besseren Schutz der Opfer zu ermöglichen. werden können. Auch für zukünftige Strafverfahren kön- nen die gewonnenen Spuren gespeichert werden. Dies ist Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die ein- allerdings nur dann möglich, wenn der Betroffene einer zelnen Vorschläge nicht eingehen. Ich denke, es ist sinn- Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtigt wird und voller, darüber im Rechtsausschuss mit der gebotenen solche Straftaten auch in Zukunft von ihm zu erwarten Sachlichkeit und ohne das Magengrimmen, das man in sind. Das heißt, die gefährlichen Sexualstraftäter werden diesem Zusammenhang als Mutter bzw. als derjenige hat, von dieser Gesetzeslage vollständig erfasst. der Verantwortung für Kinder trägt, zu sprechen. Ich warne davor, dass der Rechtsstaat in einer Form einge- Sie möchten nun diese Voraussetzungen ändern und dafür sorgen, dass jede Straftat – so der ursprüngliche Ent- schränkt wird, die unverhältnismäßig ist. Diesen Abwä- wurf – mit „sexuellem Hintergrund“ zur Speicherung zu- gungsprozess müssen wir wahrlich machen. Unsere Be- gelassen werden soll. Sie wollen damit auch die Exhibi- reitschaft dazu haben Sie. tionisten erfassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) DIE GRÜNEN) Dieses Anliegen mag noch berechtigt sein; da wider- spreche ich Ihnen nicht. Aber man muss sich schon fra- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen, ob man die Richtigen erfasst. Sie argumentieren, dass Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Exhibitionisten später gefährliche Sexualstraftäter wer- Dr. Norbert Röttgen das Wort. den können. Das mag im Einzelfall möglich sein. Die Studie hat aber ergeben, dass lediglich 1 bis 2 Prozent der Exhibitionisten später Gewaltdelikte verüben. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! CSU]: Reicht das denn nicht?) Ich ergreife nur kurz das Wort, weil ich eine Behauptung, 566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Norbert Röttgen (A) die Sie, Frau Kollegin, gemacht haben und die nicht der gekommen sind, die eine breite Zustimmung gefunden(C) Wahrheit entspricht, zurückweisen muss. Sie sind zwar haben. Ich persönlich – wir von der FDP haben damals erst seit 1998 Mitglied des Bundestages. Das gibt Ihnen den Justizminister gestellt – bin heute noch froh über das, aber nicht das Recht, falsche Behauptungen über die Ge- was wir damals insbesondere zur Verbesserung des Op- setzgebungstätigkeit der Regierung Helmut Kohl, derferschutzes getan haben. Wir haben gemeinsam wesentli- CDU/CSU- und FDP-Regierung, in den Jahren von 1994 che Fortschritte im Strafrecht erreicht. bis 1998 aufzustellen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Noch 1998 – das möchte ich dem Haus und Ihnen per- der SPD und der CDU/CSU) sönlich mitteilen – haben wir ein umfassendes Straf- Das Wort „gemeinsam“ möchte ich deswegen betonen, rechtsänderungsgesetz verabschiedet. Es ging um zwei weil ich denke, dass es unsere Verpflichtung bleibt, auch zentrale Punkte: Der eine betraf den Schutz von Behin- jetzt ebenso zu handeln. derten vor Kriminalität, der andere die Einführung und Erweiterung der Sicherungsverwahrung, die gerade ges- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tern durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigt Das gesamte Parlament kann dann Profil erreichen, wenn und bekräftigt worden ist. wir gemeinsam nach guten Lösungen suchen. Ich will für Das ist der Unterschied: Wir waren, als wir noch regiert die FDP signalisieren, dass wir genau dazu bereit sind. haben, kontinuierlich aktiv. In der Opposition haben wir Dass aber manches, was vielleicht im ersten Augen- gemahnt. Sie waren inaktiv. Sie, Frau Kollegin, haben die blick als richtiger Weg erscheinen mag, dann doch be- Wahrheit verdreht; das muss klar gestellt werden. rechtigt hinterfragt werden kann, hat die heutige Debatte (Beifall bei der CDU/CSU) gezeigt. Der Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen, dass wir – ich finde, das ist eine außerordentlich erfreu- liche Tatsache – einen allgemeinen Rückgang der Straf- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: taten haben. Das hat verschiedene Ursachen: Zum Teil ha- Zur Erwiderung, Frau Kollegin Lambrecht. ben die Maßnahmen, die wir gemeinsam verabschiedet haben, gegriffen; zum Teil gibt es eine größere Ermuti- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Die Ent- gung an Kinder, sich zu offenbaren. Das ist ein Aspekt, schuldigung nehmen wir an!) über den wir leider viel zu wenig diskutieren: wie man die Vorbeugung verbessern kann. Dies kann beispielsweise Christine Lambrecht (SPD): dadurch geschehen, dass wir Kinder ausbilden, stärker zu sein, sich zu offenbaren und bereits die ersten Versuche zu Herr Röttgen, es mag zwar zutreffend sein, dass Sie in (B) melden. (D) diesem Bereich tätig gewesen sind. Aber dennoch ver- misse ich, dass Sie während Ihrer Regierungszeit die Vor- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem schläge, die Sie heute einbringen, mit eingebunden haben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Ich wollte das in diese Debatte ganz bewusst einbringen, weil es auch Möglichkeiten außerhalb des Strafrechtes Warum haben Sie das nicht getan? Dann hätten vielleicht gibt, zu einer Verbesserung des Schutzes von Kindern zu manche von diesen Verbrechen verhindert werden kön- kommen. nen. Das wäre es wert gewesen. Von daher war der Hand- lungsbedarf umfassender. Es wäre sinnvoller gewesen, Der Debattenbeitrag des Kollegen Bosbach hat auch nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. aufgezeigt, dass wir in einem Bereich leider eine Zunahme verzeichnen müssen, nämlich beim schweren sexuellen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Missbrauch von Kindern. Das ist bereits ein Verbrechen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Das war ein Eigentor, Herr (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Röttgen!) GRÜNEN]: Genau!) Das zeigt, dass die Tatsache der Heraufstufung zu einem Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verbrechen allein möglicherweise nicht die Konsequen- zen hat, die wir uns alle davon erhoffen. Von daher bitte Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der ich, dieses Thema noch einmal sehr sorgfältig zu disku- FDP-Fraktion. tieren. Ich fand es – ich selbst komme als Oberstaatsan- walt aus der strafrechtlichen Praxis – immer hilfreich, die Jörg van Essen (FDP): Strafbarkeit sehr früh einsetzen zu lassen, weiß aber, dass viele Richter sehr zurückhaltend sein werden, Straftatbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die stände, die jetzt schon strafbar sind, auch in Zukunft so zu Aufarbeitung der Vergangenheit gerade hat mir deutlich werten, wenn ein Verbrechen vorliegt. Auch darüber wer- gemacht, dass wir die Diskussion offensichtlich leider den wir sorgfältig zu diskutieren haben. nicht mit dem Ernst betreiben, den sie eigentlich verlangt. Denn wer die Diskussion zwischen 1994 und 1998 mit- Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der mir bekommen hat, weiß, dass damals zwischen allen Frak- ganz außerordentlich wichtig ist. Das ist die Frage des Op- tionen des Deutschen Bundestages wesentliche Ge-ferschutzes. Der Opferschutz hat heute Gott sei Dank in spräche stattgefunden haben und wir dort zu Lösungen der Debatte eine Rolle gespielt, aber es gibt einen Bereich, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 567

Jörg van Essen (A) über den wir bisher nicht gesprochen haben, über den wir Wir reden heute aber auch – Herr Kollege Dr. Röttgen, (C) aber sprechen müssen. Das sind die Konsequenzen, die ich danke Ihnen dafür, dass Sie das vor zwei Wochen bei beispielsweise die Ermordung eines Mädchens – einige der Debatte über die Regierungserklärung und heute aus- Fälle sind hier angesprochen worden – für die Familie hat. drücklich erwähnt haben – von den Tätern – im Strafver- fahren bis zur Rechtskraft auch von Verdächtigen und Be- Wer einmal eine solche Familie erlebt hat, vielleicht schuldigten –, die keine Milde, aber Gerechtigkeit und sogar die Nachricht über die Tötung eines Kindes über- Rechtsstaatlichkeit erfahren sollen. bringen musste – ich habe es einmal tun müssen –, der weiß, welche Auswirkungen das in der Familie hat. Ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- denke, dass wir den Opferschutz, insbesondere was die SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Bezahlung von psychologischer und psychiatrischer Be- Mit welcher Intention und welchem Zungenschlag prä- treuung anbelangt, verbessern müssen. Wir bringen das sentieren Sie aber Ihren Gesetzentwurf? Sie schreiben dort, als FDP in die Diskussion ein. der Schutz der Allgemeinheit solle verbessert werden. Die- Wir werden konstruktiv mitarbeiten und ich hoffe, dass ser Schutz – so der Wortlaut – „muss wieder den hohen wir zu einem Ergebnis kommen werden, mit dem wirRang einnehmen, der ihm gebührt.“ Herr Dr. Röttgen nicht nur zufrieden sind, sondern vor allen Dingen den schrieb in einer Presseerklärung vom 5. November, dass Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt verbessern. seine Fraktion tätig geworden sei, damit – gestatten Sie auch hier das Zitat – „Straftäter ... nicht länger von rot- Vielen Dank. grünen Versäumnissen profitieren können.“ Darum geht (Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU es aber nicht. Es geht weder um abstrakte Versäumnisse und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch um rot-grüne Versäumnisse in dieser Sache. Diese nämlich gibt es nicht, meine Damen und Herren von der Opposition. Mit solcher Polemik machen Sie den Men- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schen im Lande nur Angst, schüren Stimmungen und Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag, Bünd- zeichnen ein falsches Bild von Deutschland – als ob nis 90/Die Grünen. Deutschland ein Eldorado für Kinderschänder und trieb- gestörte Mörder sei! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- tieren heute über ein wirklich ernstes Thema, bei dem sich Das ist unverantwortlich und geht an den Fakten sowie an einer sachlichen Debatte völlig vorbei. (B) billige Polemik und Missbrauch für parteiegoistische (D) Zwecke verbieten wie bei kaum einem anderen Thema. In der Substanz wollen Sie, meine Damen und Herren Herr Dr. Röttgen, das sage ich in alle Richtungen; bitte von der Opposition, dreierlei erreichen: nehmen Sie das so zur Kenntnis. Erstens. Sie wollen horchen und sammeln, sprich: noch Weil Sie von der Opposition in Bezug auf Bündnis 90/ mehr Telefonabhörungen und noch mehr DNA-Speiche- Die Grünen von angeblicher Tabuisierung bei diesemrungen, und zwar ohne eine Abwägung mit Grundrechten Thema gesprochen haben, bitte ich Sie jetzt, genau zu- von Unschuldigen, mit Grundrechten von Verdächtigen zuhören. Wir reden von ganz schrecklichen Straftaten, wir und mit Grundrechten von Verurteilten mit einem nur ge- reden von kaum vorstellbaren Gewalt- und Unterwer-ringen Strafmakel. Herr Dr. Röttgen, weil Sie gesagt haben, fungsakten gegen Kinder. Wir reden aber auch von einer dass natürlich nur das gemacht werden könne, was rechts- in ihrer konkreten Ausformung schier unüberschaubaren staatlich möglich sei, dies aber gemacht werden müsse Vielfalt von – das setze ich für das Protokoll und für Sie – von unserer Seite kam der Zwischenruf: „Wir wollen ganz bewusst in Anführungszeichen – so genannten „ein- mehr tun!“ –, entgegne ich Ihnen: Die Rechtsstaatsgrenze fachen“ Fällen des sexuellen Missbrauchs. ist aber zu beachten. Es gibt in der Rechtssprechung des Für meine Fraktion ist in diesem Zusammenhang völ- Bundesverfassungsgerichts ganz klare Grenzen für die lig klar: Der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor DNA-Analyse, nämlich die Erheblichkeitsschwelle. Diese sexuellen Übergriffen – gleich welcher Art und Intensität, Erheblichkeitsschwelle werden wir nicht unterschreiten. egal ob von fremden Tätern oder dem sozialen Nahraum – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat oberste Priorität. Zweitens. Sie wollen die Sicherungsverwahrung ohne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Ankopplung an ein richterliches Erkenntnisverfahren sowie bei Abgeordneten der SPD) und ohne eine Verklammerung mit einem strafrechtlichen Am besten beginnt man, diesen Schutz aufzubauen und Vorwurf. Sie wollen die Sicherungsverwahrung zu einem zu stärken, bevor eine mögliche Straftat vorliegt. Dieselbstständigen Instrument der Gefahrenabwehr machen, Straftaten selbst müssen effektiv und, wenn nötig und so- was – so, wie Sie es wollen – vor den Grundrechten der Verfassung keinen Bestand haben kann. Auch hier gilt weit möglich, präventiv bekämpft werden. Den Opfern nämlich die rechtsstaatliche Grenze. Deshalb sagen wir: – es sind Kinder jeden Alters und in der großen Mehrzahl Auch das wollen wir nicht. Mädchen – wollen wir helfen. Sie sollen nach Möglich- keit nicht mehrfach Belastungen ausgesetzt werden, die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sie psychisch und seelisch nicht verkraften können. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) 568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Jerzy Montag (A) Drittens. Sie wollen alle denkbaren Fälle des sexuellen ser Sache populistisch agiert: Bundeskanzler Schröder,(C) Missbrauchs erst einmal grundsätzlich als Verbrechen de- als er beifallsheischend der „Bild am Sonntag“ sagte, wer klarieren. Dabei wollen Sie vergessen machen – ich bin sich an kleinen Mädchen vergehe, müsse weggeschlossen dankbar, dass Sie in Ihrer Kurzintervention genau das an- werden – „und zwar für immer“. gesprochen haben –, dass die Systematik der Sexualtatbe- stände in vielen Reformschritten, gerade des Jahres 1998, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Ihnen in einer grundsätzlich stimmigen, abgestuften Ganz abgesehen davon, dass das auch in der Sache falsch Systematik neu formuliert worden ist. Sie wollen das ein- ist, kann vielleicht bei dieser Gelegenheit ein bisschen fangen. Das ist doch ein Trick: Sie erklären grundsätzlich Nachhilfe zur Unterscheidung zwischen Strafe und Maß- alle Sexualstraftaten an Kindern zu Verbrechen und nor- regel der Sicherung und Besserung gegeben werden, ob- mieren in Abs. 2 die minderschweren Fälle. Das ist von wohl wir das eher im Ausschuss machen sollten. der Sache her bei unjuristischer, globaler Betrachtung das Gleiche wie der jetzige Rechtszustand: Gemäß § 176 Auch derjenige, für den im Urteil die Sicherungsver- StGB werden die so genannten Normalfälle als Vergehen wahrung angeordnet worden ist, ist nicht bis in alle Ewig- und die besonders schweren Fälle in § 176 a StGB als Ver- keit verdammt, eingesperrt zu bleiben. brechen geahndet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!) Vielmehr gibt es eine Anpassungsmöglichkeit, nämlich die Mit Ihren minder schweren Fällen erreichen Sie keine Er- Möglichkeit, sich zu bewähren und freigelassen zu wer- höhung des Strafrahmens, sondern lediglich eine Verkeh- den. Nur im umgekehrten Fall fehlt diese Anpassungs- rung von Regel und Ausnahme. Aber lassen Sie uns darü- möglichkeit: Wenn keine Sicherungsverwahrung ange- ber im Ausschuss im Einzelnen diskutieren. ordnet worden ist, sich aber im Laufe des Vollzugs ergibt, Wir Grünen wollen jedenfalls keine Ausweitung des dass der Täter gefährlich ist, fehlt die Möglichkeit, ihn Horchens und Sammelns. Wir wollen keine selbstständige weiter einzusperren. Das ist, so muss ich sagen, geradezu Sicherungsverwahrung. Wir wollen auch nicht alle denk- auf den Kopf gestellt. baren Fälle des sexuellen Missbrauchs zu einem Verbre- Es wundert mich, dass Juristen pausenlos das Verbot chen hochstilisieren. der Doppelbestrafung in den Mund nehmen: „ne bis in Mir läuft die Zeit davon, sodass ich unsere Vorschläge idem“. Die Unterscheidung muss Ihnen doch klar sein: Es nicht mehr im Einzelnen darstellen kann. Wir sind mit Ih- gibt kriminelles Unrecht, das bestraft wird, wenn jemand nen einig, was die Billigung von Straftaten, die Siche- tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt rungsverwahrung nach § 106 Jugendgerichtgesetz, For- hat; daneben gibt es die Maßregel der Sicherung und Bes- (B) men des nichtkörperlichen Missbrauchs und das Anbieten serung, die gerade keine Strafe ist. Das ist ähnlich wie bei (D) von Kindern im Internet angeht. Das muss geregelt wer- Disziplinarverfahren. Als wir Soldaten waren, einer we- den. Da werden wir zusammenarbeiten. gen Trunkenheit am Steuer verurteilt wurde und dann noch ein Disziplinarverfahren kriegte, wurde aus der Zusammenfassend sage ich Ihnen: Wir werden sehrSicht des juristischen Laien – das waren Nichtjuristen; rasch einen Gesetzentwurf dazu vorlegen. Wir laden Sie zu manchmal habe ich den Eindruck, ich bin auch hier mit einer konstruktiven Debatte über diesen Gesetzentwurf ein. diesen konfrontiert – Allerdings werden wir, verzeihen Sie, nicht Ihren Entwurf zur Grundlage des weiteren Gesetzgebungsgangs machen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Danke. gesagt: Das verstößt aber gegen das Verbot der Doppel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bestrafung. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vielen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dank für die Vorlesung! – Zuruf der Abg. Erika Simm [SPD]) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der CDU/CSU-Fraktion. – Frau Simm, Sie kriegen gleich noch die richtige Ant- wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Lambrecht, Sie wurden eben des ungenauen Um- gangs mit der Wahrheit überführt, und zwar nicht zum ers- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): ten Mal. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vor- (Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja uner- letzter Redner bin ich in der komfortablen Situation, auf hört!) das, was ich hier gehört habe, replizieren zu können. Frau Ministerin, ich befürchte, dass Ihr Angebot, wir könnten Der Einwand, man hätte das schon in den vorangegangen uns zu vielen Punkten einigen, durch einige Wortbeiträge, Legislaturperioden regeln können, ist geradezu abwegig. die ich zuletzt erlebt habe, zunichte gemacht worden ist. Dann hätte man nämlich nach der ersten Legislaturperi- Darauf möchte ich mich kaprizieren. ode aufhören können, Politik zu machen. Herr Montag, Sie machen uns wie viele Ihrer Vorred- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ner den Vorwurf des Populismus. Ein Einziger hat in die- der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 569

Dr. Jürgen Gehb (A) Ein weiteres geradezu abwegig anmutendes Argu- Strafvollzug oder der Vollzug in der Maßregelsicherung (C) ment – ich nenne es, obwohl es in dieser Debatte etwas hat per se präventiven Charakter unpassend wirkt, ein Totschlagsargument – ist: Strafver- (Erika Simm [SPD]: Aber nicht nur!) schärfungen oder Neuregelungen im Strafgesetzbuch schrecken sowieso keinen Täter ab; niemand schaut vor und ist deshalb nicht im Rahmen der Gefahrenabwehrre- Begehung seiner Tat ins Strafgesetzbuch. Wenn man dies gelungen unter Länderhoheit zu stellen. Dies ist der eine konsequent zu Ende denken würde, könnte man sagen: Gesichtspunkt. Man braucht gar kein Strafgesetzbuch. Dann kann man (Beifall bei der CDU/CSU) alle Tatbestände abschaffen. So geht es aber weiß Gott nicht. Der nächste Gesichtspunkt: Gefahr im Sinne des poli- zeirechtlichen Gefahrenbegriffs hat ganz andere Kautelen (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der als die Gefährlichkeitsprognose eines Täters, vor dem CDU/CSU: Das ist rot-grüne Logik!) man die Allgemeinheit schützen möchte. Die unmittel- Im Übrigen haben Sie, Frau Lambrecht, verkannt, dass bare Gefahr, wie sie im Polizei- und Ordnungsrecht der es nur deshalb zu dieser Strafverschärfung kommt, weil Länder steht, ist nicht mit der latent tickenden Zeitbombe man den Deliktscharakter vom Vergehen wie bei einem des Sexualstraftäters zu vergleichen, von dem man im Kaufhausdiebstahl zum Verbrechen hoch setzen wollte. Laufe des Strafvollzugs gemerkt hat, dass er nicht thera- Dies ist der wesentliche Unterschied. Darauf beruht die pie- und sozialisierungsfähig ist. Dies ist ein ganz anderer Strafverschärfung. Ansatzpunkt. Frau Ministerin, wir haben uns vor 20 Jahren auf ganz (Erika Simm [SPD]: Keine Ahnung!) anderem Gebiet rechtsdogmatisch auseinandergesetzt. – Frau Simm, die einzigen geistreichen Zurufe – dies (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) hören sonst die Zuschauer nicht –, die Sie pausenlos ma- chen, sind: „Keine Ahnung“. Wenn Sie damit sich selbst – Ja, das habe ich euch allen voraus. meinen, kann ich Ihnen allerdings nur Recht geben. (Christine Lambrecht [SPD]: Es hat aber (Beifall bei der CDU/CSU – Erika Simm nichts genützt!) [SPD]: Von Strafrecht verstehen Sie wirklich Was mich ein bisschen wundert, ist Ihre Angst, dass die nichts!) Staatsanwaltschaft – – Ein dritter Punkt: Wenn es so wäre, wie Sie es gesagt ha- (Zuruf des Bundesministers ) ben, wäre schon seit jeher die Anordnung der Sicherungs- verwahrung ein Fremdkörper in der Strafrechtsdogmatik. (B) – Doch, Herr Minister Schily, Sie waren ja nicht da. Sie (D) hat es wörtlich gesagt. Das können Sie nachlesen. (Joachim Stünker [SPD]: Ist er auch!) Frau Zypries, Sie haben gesagt: „Ich habe ein bisschen – Herr Stünker, dass Sie die Sicherungsverwahrung mit Angst davor, dass die Staatsanwälte zurückschreckenspitzen Fingern anfassen und sie am liebsten verdammen oder gehemmt sind, in Zukunft Anklage zu erheben, wenn würden, haben Sie in sämtlichen Gesprächen im Rechts- sich der Deliktscharakter vom Vergehen zum Verbrechen ausschuss unter Beweis gestellt, das haben Sie durch meh- erhöht.“ Woher Sie diese Erkenntnis haben, weiß ich nicht. rere Zwischenrufe am 19. Oktober letzten Jahres zum Ausdruck gebracht, als der Kollege Geis hier davon ge- Ich möchte noch einmal auf dieSicherungsverwah- sprochen hat, dass wir einen Mangel an nachträglicher Si- rung zurückkommen, denn dies ist offenbar das Thema, cherungsverwahrung haben. Damals haben Sie gerufen: das hier am streitigsten ist. Wir hören pausenlos den Ein- „Gott sei Dank!“ und „Gut so!“ – nachzulesen im Plenar- wand, dies gehöre zur Gefahrenabwehr und falle deshalb protokoll 14/196, Seite 19166. in die Kompetenz der Länder. Dazu will ich Ihnen einmal etwas sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat um eine (Beifall bei der CDU/CSU) Schnittstelle zwischen repressiven Maßnahmen gegen- Dazu, wie Sie sich wie eine Schnecke an diese Thema- über Straftätern und präventiven Maßnahmen für die Zu- tik herankriechen, jahrelang gar nichts davon wissen wol- kunft. Dies ist aber typisch für das Strafrecht, insbeson- len, sich dann aber unter dem Druck der Länder oder des dere für den Strafvollzug. Bundeskanzlers zumindest zu dieser Vorbehaltslösung Die Strafzwecklehre sagt durchringen, will ich Ihnen auch etwas sagen. Zunächst hatte ich gedacht – und das war auch der Grund, warum (Joachim Stünker [SPD]: Wie bitte?) die Länder so darauf angesprungen sind –: Wenn schon – ich sage es Ihnen einmal auf Lateinisch –: keine nachträgliche isolierte Sicherungsverwahrung, dann wenigstens die Vorbehaltslösung. Das ist nur prima Punitur quia peccatum est ne peccetur. facie eine Verbesserung; bei näherem Hinsehen ist es eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verschlimmbesserung, und zwar aus folgendem Grunde: In den Fällen, in denen das erkennende Gericht bisher eine Das heißt, meine Damen und Herren: Es wird erstens be- Sicherungsverwahrung mit dem Urteil ausgesprochen straft, weil gesündigt worden ist, und zweitens, damithat, ist in Zukunft zu befürchten, dass mancher Richter nicht wieder gesündigt werden kann. Dahinter steckt ein- – das ist das, was Sie, Frau Zypries, vielleicht mit der mal der Sühnecharakter, aber auch der Präventionscha- Ängstlichkeit gemeint haben – sagt, um sich auf der siche- rakter. ren Seite zu bewegen: Ich will die Sicherungsverwahrung 570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Jürgen Gehb (A) nicht jetzt schon verbindlich anordnen, sondern behalte Meine Damen und Herren, noch einmal im Blick auf (C) sie mir vorsichtshalber vor; mag man dann im Strafvoll- die Rede von Frau Lambrecht: Herr Kollege Röttgen, ist zug sehen, wie es wird. – Das ist eine Schwäche Ihrer Vor- es nicht ganz fair, wenn Sie der Kollegin Lambrecht hier behaltslösung. vorwerfen, die Unwahrheit gesagt zu haben. Wir beschäf- Eine zweite Schwäche ist, dass natürlich der Richter tigen uns heute innerhalb von zwei Jahren zum vierten die Anordnung von Sicherungsverwahrung gänzlich ver- Mal mit Ihren Vorschlägen für Änderungen im Sexual- säumen kann, aus welchen Gründen auch immer – Rechts- strafrecht. irrtum, Vergessen. Auch in diesen Fällen besteht eine (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weil Sie Lücke, die man nur durch eine isoliert anzuordnende Si- nicht vernünftig werden!) cherungsverwahrung schließen kann. Ihr Vorschlag enthält die Forderungen, die Sie seit 1997 Ein dritter Fall, meine Damen und Herren. Sie können stellen und die Sie 1998 in der Strafrechtsänderungsdis- die Fälle damit ja nur pro futuro lösen, vielleicht erst am kussion mit Ihrem Koalitionspartner nicht durchsetzen Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist denn mit all den ticken- konnten. Das ist die Wahrheit, Herr Kollege Röttgen. den Zeitbomben, die jetzt schon einsitzen und bei denen man genau sieht, dass man sie eigentlich nicht wieder auf (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist nicht die Gesellschaft loslassen kann, bei denen man aber weiß, die Wahrheit! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: dass man sie nach Verbüßung der Strafhaft herauslassen Das ist Ihre Wahrheit! – Weiterer Zuruf von der muss? Das müssen Sie mal den Eltern der Geschädigten CDU/CSU: Die sozialdemokratische Wahrheit! – und Gedemütigten erklären. Herr Bosbach hat eben eine Zuruf von der SPD: Warum haben Sie es dann kleine Anzahl von Fällen aufgeführt. Ich möchte einmal nicht gemacht?) wissen, wie Sie das in der Öffentlichkeit jemandem ver- Sie haben Ihre Vorstellungen 1998 nicht ins Strafgesetz- kaufen wollen. buch hinein bekommen. Darum haben Sie es in den letz- (Beifall bei der CDU/CSU) ten zwei Jahren viermal versucht. Wir werden es sehen. Herr Stünker, Sie haben jetzt das Meine Damen und Herren, in den Debatten, die wir seit Schlusswort, zwei Jahren führen, haben wir interfraktionell immer darin übereingestimmt – auch die große Mehrheit der Be- (Hermann Bachmaier [SPD]: Gott sei Dank!) völkerung stimmt mit uns darin überein, – dass die – Ich werde mich bemühen, die Contenance zu behalten. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Men- Das ist bei Ihren Reden auch nicht immer leicht. – Ich schen, insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Kin- freue mich dennoch, dass Sie als neuer rechtspolitischer dern, Jugendlichen, Schutzbefohlenen und widerstands- (B) (D) Sprecher der SPD in Zukunft die Gelegenheit haben, im unfähigen Personen, zu den abscheulichsten und Rechtsausschuss zu beweisen, dass auch Sie zu läutern verachtungswürdigsten Straftaten überhaupt gehören. sind. Darin sind wir uns einig. Der Staat hat daher zum Schutz Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. der Bevölkerung gerade in diesem Bereich der körperli- chen und seelischen Selbstbestimmung der Menschen mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nachdruck seiner Justizgewährungspflicht zu genügen. neten der FDP) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Was lesen Sie jetzt eigentlich vor?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das tun wir und das Strafrecht ist hierzu konsequent an- Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker, SPD- zuwenden, denn das Strafrecht gibt das Instrumentarium Fraktion. dafür bereits heute her. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Joachim Stünker (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- Ich hoffe aber auch, dass wir interfraktionell in einer leginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, für eineweiteren Zielbestimmung ebenso übereinstimmen, näm- Strafrechtsprofessur hätte das eben nicht gelangt. lich darin, dass die Sexualdelikte, so ekelhaft und so (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber für einen schwerwiegend sie sind und so schutzbedürftig die Opfer Aufsatz in „Wild und Hund“! Dafür wird man sind, nicht dazu dienen dürfen, den Rechtsstaat aufzurol- in einigen Ländern sogar Professor!) len, weil andere Delikte sonst zwangsläufig folgen wür- den. Ich hätte sogar Schwierigkeiten mit dem kleinen Straf- rechtsschein gehabt, Herr Kollege Gehb, weil Sie ja auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerd hohe Dekorationen großen Wert legen, wie Sie uns ge- Müller [CDU/CSU]: Da bekommen Sie nicht zeigt haben. einmal Beifall von Ihren eigenen Leuten!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie machen mir Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von dem von ja richtig Angst! – Dr. Gerd MüllerIhnen benannten Sachverständigen Professor Krey aus [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht in der Hoch- Trier, mit dem er in der letzten Anhörung zu diesem schule!) Thema genau auf diese Gefahr hingewiesen hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 571

Joachim Stünker (A) Es ist gegenwärtig vor dem Hintergrund vieler spekta- Sie nicht immer so, als ob es keine Instrumente gäbe! Die (C) kulärer Fälle – Herr Bosbach hat heute Morgen eine ent- Instrumente gibt es bereits. Man muss sie nur richtig an- sprechende Aufzählung vorgenommen – und der Bericht- wenden. erstattung in den Medien darüber leicht, im Bereich der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sexualstraftäter vieles durchzuboxen, was man bei ge- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ihre nauer Betrachtung unter rechtsstaatlichen Aspekten ei- Rede muss ich nachlesen! Ich verstehe sie gentlich gar nicht will. Daher ist es sehr wichtig, dass wir nicht!) sehr sachlich und ohne die Emotionen, die teilweise in die heutige Debatte hineingekommen sind, über die hier zur De- Zu dieser Systematik – darüber ist heute Mittag noch batte stehenden Themen im Rechtsausschuss diskutieren. gar nicht gesprochen worden – passt überhaupt nicht mehr Ihr Vorschlag, Sicherungsverwahrung bereits für Ersttäter (Zuruf von der CDU/CSU: Wie viel wollen anordnen zu lassen, Herr Kollege Gehb. Das verstößt nun Sie denn noch diskutieren?) wirklich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfas- Das betrifft insbesondere Ihren Vorschlag zur Ein-sungsgerichts, das über Jahrzehnte in mehreren Entschei- führung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, mit dungen immer wieder auf das dem Strafrecht innewoh- dem Sie im Nachhinein den von uns im August geschaf- nende Gebot der Verhältnismäßigkeit hingewiesen hat. fenen § 66 a wieder in Ihrem Sinne ändern wollen. Herr Wenn Sie schon gegen Ersttäter mit der schwersten Sank- Kollege Röttgen, auch hier muss man richtig zitieren. Sie tion, der Sicherungsverwahrung, vorgehen wollen, dann haben vorhin sozusagen als Kronzeugen für Ihre Meinung kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit den Ultima-Ra- den Deutschen Richterbund genannt. Wenn Sie die ent- tio-Charakter der Sicherungsverwahrung völlig verken- sprechende Pressemitteilung zu Ende gelesen hätten, dann nen und leichtfertig verfassungsrechtliche Grenzen über- hätten Sie festgestellt, dass ein Oberstaatsanwalt und kein schreiten, Herr Kollege. Richter die von Ihnen zitierte Erklärung abgegeben hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Auch die Praktiker sind also in der Beurteilung dieser Frage BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von sehr gespalten. Daher gilt: Die ganze Wahrheit und nicht der CDU/CSU: Man muss also warten, bis er die halbe Wahrheit ist wirklich die endgültige Wahrheit. zum Serientäter wird, bis er zweimal oder drei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf mal vergewaltigt!) des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]) Dies gilt ebenso – damit möchte ich mich gern noch – Ich möchte damit nur sagen, dass jede Seite diese Frage einmal beschäftigen; Sie haben es ja auch von mir erwar- sehr unterschiedlich beurteilt. Deshalb kann man nicht eine tet – für die von Ihnen seit 1997 ständig wiederholte For- einzige Meinung als die richtige darstellen, Herr Kollege. derung – Baden-Württemberg hat damit begonnen –, die (B) (D) Möglichkeit der Anordnung einer nachträglichen, also Lassen Sie mich, wenn wir über dieSicherungsver- isolierten Sicherungsverwahrung in das Gesetz aufzu- wahrung reden, kurz skizzieren, wie sich eigentlich die nehmen. Bereits in der letzten Legislaturperiode habe ich gegenwärtige Rechtslage nach den vielen Änderungen, von dieser Stelle aus mehrfach darauf hingewiesen – Sie die wir vorgenommen haben, darstellt. Nach Abs. 1 der haben das erwähnt –, dass eine derart ausgestaltete Siche- Vorschrift ist die Anordnung der obligatorischen Siche- rungsverwahrung meines Erachtens und auch nach Auf- rungsverwahrung für den mehrfach rückfällig geworde- fassung meiner Fraktion eindeutig verfassungswidrig ist. nen Straftäter möglich. Abs. 2 regelt dann nach der Ziel- setzung die fakultative Sicherungsverwahrung für den Wenn Sie in der Literatur der letzten Wochen und Mo- unentdeckt gebliebenen Serientäter. Abs. 3 enthält sehr nate zu dieser Thematik nachlesen, zum Beispiel in der differenzierte Regelungen für den Sexualtäter, der schon neusten Ausgabe der „JZ“ vom Oktober 2002, dann stel- bei einer einmaligen Vortat in Sicherungsverwahrung ge- len Sie fest, dass in der Fachliteratur diese Auffassung nommen werden kann. mittlerweile durchgehend bestätigt wird. In der Fachlite- ratur wird auch die Argumentation verwendet, die wir Ih- Im Sommer dieses Jahres haben wir § 66 a – die vor- nen hier mehrfach vorgetragen haben, nämlich dass das behaltene Sicherungsverwahrung – neu geschaffen. Da- von Ihnen in Aussicht genommene Verfahren der isolier- nach können die Gerichte die Sicherungsverwahrung vor ten Sicherungsverwahrung die rechtsstaatlichen Garan- der Haftentlassung anordnen, wenn im tatrichterlichen tien der Strafprozessordnung letztlich aushebelt; denn die Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbe- Anordnung der Sicherungsverwahrung – sie ist für einen halten worden ist und wenn während der Haftdauer der Straftäter die schwerste Strafe – bedeutet eigentlich das Hang zur Gefährlichkeit, der bis dahin noch nicht endgül- Urteil „lebenslänglich“. Die lebenslange Freiheitsstrafe tig festgestellt werden konnte, zutage tritt. wird nach 15 Jahren geprüft; bei der Sicherungsverwah- Wenn Sie sich dieses Instrumentarium einmal genau rung wird zwar alle zwei Jahre geprüft, doch wer sich aus- vor Augen führen, dann erkennen Sie, dass wir hier mit kennt, der weiß, dass die Menschen dann tatsächlich 40 fünf Alternativen ein dichtes Netz geknüpft haben, mit oder 50 oder bis zu 60 Jahre einsitzen. dem gefährliche Straftäter, gerade Sexualstraftäter, wirk- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Dann sitzen sie lich sicher erfasst werden können. Dieses Instrumenta- auch zu Recht!) rium muss nur konsequent von den Gerichten angewendet werden. Das ist in der gestern ergangenen BGH-Ent-Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelung mit den scheidung zu dem neuen Abs. 3 nachzulesen, in der noch sehr tief greifenden Sanktionen verstoßen Sie eindeutig einmal sehr deutlich darauf hingewiesen worden ist. Tun gegen die Prozessgrundrechte des Rückwirkungsverbotes 572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Joachim Stünker (A) und des Verbotes der Doppelbestrafung. Das können Sie Ich kann Ihre Argumentation verstehen – ich weiß(C) in allen einschlägigen Aufsätzen nachlesen. nicht, wer das eben gesagt hat –, wir bräuchten einheitli- che Regelungen auf Bundesebene. Das ist ein Gedanke, Bezeichnend ist auch, welches Verfahren von Ihnen der richtig ist und der auch gut nachvollziehbar ist. hierfür vorgeschlagen wird, nämlich nicht ein Verfahren Warum haben wir solche Regelungen bisher nicht? – Wir mit einer öffentlichen Hauptverhandlung, sondern ein Be- haben sie bisher nicht, weil die landesrechtlichen Rege- schlussverfahren einer Strafvollstreckungskammer. Bei lungen, die man dazu in Bayern, in Baden-Württemberg Beschwerden sind in diesem Fall sogar mehrere Oberlan- und meines Wissens in Sachsen-Anhalt hat, verfassungs- desgerichte zuständig. So könnte nicht einmal der Bun- rechtlich höchst prekär sind, um das vorsichtig auszu- desgerichtshof für eine bundesweite Vereinheitlichung drücken. Dort hat man nämlich eine materiell strafrecht- der Rechtsprechung sorgen. liche Regelung getroffen, hat diese aber polizeirechtlich Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Kon- verbrämt, um das deutlich zu sagen. Dieser Weg ist nicht trollüberlegungen anstellen – Herr Gehb, es wäre schön, zulässig. Die Länder müssen sich zusammensetzen und wenn Sie mir zuhören würden –, um zu zeigen, ob wir mit einen gemeinsamen Weg finden, der dem polizeilichen unserer Auffassung zur isolierten Sicherungsverwahrung Gefahrenrecht entspricht, um in Zukunft eine Regelung wirklich so falsch liegen. Gibt es mögliche Erweiterungen für die entsprechenden Täter – es geht um die wenigen, der Anordnung für Sicherungsverwahrung? Warum sollte die wir nach der geltenden Regelung nicht erfassen kön- man, wenn wir den Weg so gehen wollen, wie Sie ihn skiz- nen – zu treffen. ziert haben, die Sicherungsverwahrung nicht auch nach Meine Damen und Herren, in der Hoffnung, dass wir der Entlassung aus der Strafhaft anordnen können? Denk- im Rechtsausschuss über dieses wichtige Thema gemein- bar wäre doch eine Vorschrift darüber, dass die nachträg- sam und differenziert diskutieren werden, habe ich ver- liche Sicherungsverwahrung auch dann noch angeordnet sucht, mich heute noch einmal etwas differenzierter mit werden kann, wenn der Strafgefangene zwar schon ent- dieser Frage zu beschäftigen. lassen ist, sich aber innerhalb der maximal fünfjährigen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Beim Versuch ist Führungszeit zeigt, dass der Hang zur Gefährlichkeit wei- es geblieben! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: terhin vorhanden ist. Was wäre das denn für eine Anord- Es ist wie im Strafrecht! Untaugliche Versuche nung? Wäre das eine nachträgliche oder eine vorbeugende sind nicht strafbar!) Anordnung der Sicherungsverwahrung? Im Ergebnis dürfen wir der Praxis nicht Steine statt Brot Wir können es, Herr Kollege Gehb, noch auf die Spitze geben. treiben und die Frage stellen, wie das mit der Sicherungs- verwahrung ohne Straftat aussieht. Diese kriminalpoliti- Schönen Dank. (B) sche Überlegung ist im Augenblick absurd. Ich habe damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) aber Ihren Gedanken nur zu Ende gedacht; denn wenn Sie DIE GRÜNEN) schon Ersttäter in Sicherungsverwahrung nehmen wollen, könnten Sie auch auf diese Idee kommen. Sie haben hier ja eben immerhin von tickenden Zeitbomben gesprochen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist Ich schließe die Aussprache. absurd!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Das heißt, für gefährliche Personen, die keine Straftat be- den Drucksachen 15/29 und 15/31 an die in der Tages- gangen haben, bei denen ein Gutachter aber zu dem Er- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind gebnis kommt, sie könnten gefährlich sein und schwere Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Straftaten begehen, könnte eine Sicherungsverwahrung in Überweisungen so beschlossen. Betracht kommen. Das wäre mit Sicherheit eine vorbeu- gende Sicherungsverwahrung. Das ist Ihren Gedanke zu Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Ende gedacht. Überweisung im vereinfachten Verfahren Wenn Sie ihn zu Ende denken, dann kommen sie zu Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt dem einzig richtigen Ergebnis, das mittlerweile auch in Barthel (Berlin), Ernst Bahr (Neuruppin), Hans- der Literatur so vertreten wird, dass die Fälle der Werner Bertl, weiterer Abgeordneter der Fraktion nachträglichen isolierten Sicherungsverwahrung und der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje auch die von mir eben genannten Fälle nicht unter das Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar Göring- Strafrecht fallen, sondern Fälle der Gefahrenabwehr sind. Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des Damit fallen sie unter das Polizeirecht und damit nach BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dem Zuständigkeitenkatalog des Grundgesetzes in die Den Deutschen Musikrat stärken Zuständigkeit der Bundesländer. Die Bundesländer müs- – Drucksache 15/48 – sen hier ihre Schulaufgaben machen und müssen für die Überweisungsvorschlag: entsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen. Ausschuss für Kultur und Medien (f) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist Art. 74 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Abs. 1, konkurrierende Gesetzgebung! Wenn der Bund davon Gebrauch macht, ist dieser Be- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf reich den Ländern verschlossen!) Drucksache 15/48 an die in der Tagesordnung aufgeführ- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 573

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einver- Zusatzpunkt 3. Mir wurde mitgeteilt, dass das Wort ge- (C) standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so wünscht wird. Zunächst hat der Kollege Kauder von der beschlossen. CDU/CSU das Wort. Bitte schön. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- nung um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- Volker Kauder (CDU/CSU): ses auf Drucksache 15/69 zu einer Streitsache vor dem Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Bundesverfassungsgericht zu erweitern und jetzt gleich ren! Meine Fraktion beantragt, die Besetzung der 16 vom als Zusatzpunkt 8 – ohne Aussprache – aufzurufen. – Ich Bundestag zu wählenden Mitglieder des Vermittlungs- sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so be- ausschusses nach dem Ergebnis vorzunehmen, zu dem schlossen. alle bekannten mathematischen Verteilsysteme kom- men. Danach sind sieben Mitglieder der SPD-Fraktion, Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf: sieben Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion und je ein Mit- Abschließende Beratung ohne Ausspracheglied der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Beratung der Beschlussempfehlung und desFDP-Fraktion in den Vermittlungsausschuss zu wählen. Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungs- Dies entspricht auch dem Charakter dieses Gremi- gericht 2 BvE 3/02 ums. Der Vermittlungsausschuss unterscheidet sich grundlegend und grundsätzlich von den regulären Aus- – Drucksache 15/69 – schüssen des Deutschen Bundestages. Diese nehmen Berichterstattung: Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestages Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) wahr und bereiten die Plenarentscheidungen vor. Deshalb ist es richtig, dass sich in diesen Ausschüssen die politi- Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem verfassungs- schen Mehrheitsverhältnisse, die im Plenum gegeben gerichtlichen Verfahren 2 BvE 3/02 Stellungnahmen ab- sind, widerspiegeln. zugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozess- bevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für dieDer Vermittlungsausschuss dagegen ist im Grund- Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/69? – Wer stimmt gesetz verankert. Die Mitgliederzahl ist festgelegt und dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung kann nicht verändert werden. Er ist – darin unterscheidet ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal- er sich von allen anderen Ausschüssen – ein gemeinsames tung der Oppositionsfraktionen angenommen. Organ von Bundestag und Bundesrat. Seine Mitglieder sind unabhängig. Er soll verhandeln und Kompromisse Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie erzielen; er ist nicht in erster Linie auf Kampfentschei- (B) Zusatzpunkt 3 auf: (D) dungen angelegt, wie es bei anderen Ausschüssen der Fall ist. Damit ist die Möglichkeit eines Patts bereits im Sys- 5. Wahlen zu Gremien tem des Vermittlungsausschusses angelegt. Es geht bei a) Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsord- der Besetzung des Vermittlungsausschusses nicht aus- nung schließlich darum, eine Mehrheit abzubilden. Wer so ar- – Drucksache 15/50 – gumentiert, verkennt den besonderen Charakter des Ver- mittlungsausschusses. ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Das Bundesverfassungsgericht hat verlangt, dass bei Bestimmung des Verfahrens für die Berech- der Besetzung von Ausschüssen ein nachvollziehbares nung der Stellenanteile der Fraktionen im Aus- mathematisches Zählsystem angewandt wird. Die Regie- schuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes rungskoalition hat mit ihrer Mehrheit beschlossen, dieses (Vermittlungsausschuss) anerkannte System nicht anzuwenden, sondern sie will die Besetzung des Vermittlungsausschusses willkürlich – Drucksache 15/47 – festlegen. 5. b) Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grund- (Vorsitz: Vizepräsidentin Susanne Kastner) gesetzes (Vermittlungsausschuss) Die Koalition hat in ihrem Antrag zur Berechnung der – Drucksachen 15/51, 15/52, 15/53, 15/54 – Zahl der jeweils zu entsendenden Mitglieder die willkür- liche Verteilung festgelegt und mit ihrer Mehrheit durch- Tagesordnungspunkt 5 a. Für die Wahl der Schrift- gesetzt. Nun wollen Sie diesen Verteilungsschlüssel bei führerinnen und Schriftführer liegt ein gemeinsamer der Besetzung des Vermittlungsausschusses anwenden. Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Wir halten dies für eine Verletzung der Verfassung und ha- des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Druck- ben deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen. sache 15/50 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Wahlvor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei schlag ist damit einstimmig angenommen. Ich gratu- Abgeordneten der FDP) liere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Na- Das Bundesverfassungsgericht hat noch keine Ent- men des ganzen Hauses und wünsche eine gute scheidung getroffen. Trotzdem wollen Sie heute die Be- Zusammenarbeit. setzung des Vermittlungsausschusses nach Ihren Vorstel- (Beifall) lungen durchsetzen. Wir halten dies für keinen guten 574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Volker Kauder (A) Umgang mit dem Parlament wie auch mit dem Bundes- Wir sind auf der sicheren Seite und entgegen dem, was (C) verfassungsgericht, auf das damit erneut Druck ausgeübt Sie meinen mitteilen zu müssen, respektieren wir das werden soll. Bundesverfassungsgericht. Was die späteren Folgen an- geht, werden wir das Urteil des Bundesverfassungsge- (Widerspruch des Abg. Volker Beck [Köln] richts abwarten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch wir wünschen, dass der Vermittlungsausschuss Jetzt geht es darum, die Arbeitsfähigkeit des Vermitt- rasch arbeitsfähig wird und in die Lage versetzt wird, zügig lungsausschusses herzustellen, damit wir im Dezember zu arbeiten. Aber wir wollen, dass die Bundestagsbank so die Gesetzgebungsverfahren zu all den Gesetzentwürfen, besetzt wird, wie es Recht und Ordnung verlangen. die wir inzwischen anberaten haben, beenden können. Das ist unser gutes Recht. Das werden wir versuchen um- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei zusetzen. Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass Sie dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) höchsten deutschen Gericht nicht den notwendigen Res- pekt entgegenbringen und die Entscheidung des Bundes- verfassungsgerichts nicht abwarten, werden wir uns nicht Vizepräsidentin Susanne Kastner: verweigern. Ich möchte daher bereits jetzt im Namen mei- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der ner Fraktion erklären, dass wir uns nicht schmollendFraktion der CDU/CSU zur Bestimmung des Verfahrens zurückziehen werden. Vielmehr werden wir das Verfah- für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im ren, wie Sie es betreiben, zwar als Affront gegenüber dem Vermittlungsausschuss auf Drucksache 15/47. Wer stimmt Bundesverfassungsgericht darstellen; aber wir werden für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? uns an der Wahl beteiligen. Sollten Sie also bei Ihrer– Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition ge- Rechtsauffassung bleiben, werden wir heute unsere Mit- gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthal- glieder für die ersten sechs Plätze im Vermittlungsaus- tung der beiden fraktionslosen Mitglieder abgelehnt. schuss zur Abstimmung stellen. Ich bin mir jedoch sicher, dass dieses Thema erneut im Plenum des Deutschen Bun- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b: Wir wählen destags diskutiert werden wird und dass wir nach der Ent- nun die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermitt- scheidung des Bundesverfassungsgerichts das Mitglied lungsausschuss. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktio- für den siebten Platz im Vermittlungsausschuss und sei- nen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grü- nen Stellvertreter wählen werden können. nen und der FDP vor. Wer stimmt für den Vorschlag der Fraktion der SPD auf Drucksache 15/51? – Gegenprobe! – (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Enthaltungen? – Damit ist der Wahlvorschlag mit den(D) Abgeordneten der FDP) Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der Vizepräsidentin Susanne Kastner: CDU/CSU und der FDP angenommen. Herr Kollege Schmidt, bitte. Wir kommen nun zum Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/52. Es sollen heute, wie Kollege Kauder erklärt hat, nur die Vorschläge zu den Zif- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): fern 1 bis 6 zur Abstimmung gestellt werden. Wer stimmt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht in für die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf dieser Debatte darum, dass wir die Umsetzung des Be- Drucksache 15/52 mit der soeben genannten Einschrän- schlusses dieses Hauses vom 30. Oktober 2002 vorneh- kung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Wahl- men, damit im laufenden Gesetzgebungsverfahren und vorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa- damit am Anfang der Wahlperiode eines der wichtigen che 15/52, Ziffer 1 bis 6 sind mit den Stimmen der Verfassungsorgane, nämlich der Vermittlungsausschuss, CDU/CSU, der FDP und der beiden fraktionslosen Mit- arbeitsfähig wird. Um mehr geht es nicht; aber – dasglieder bei Enthaltung der SPD und des Bündnisses 90/ möchte ich betonen – es geht auch nicht um weniger. Die Grünen angenommen. Wir betreiben keine Willkür, wie Herr Pofalla meinte Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion des gegenüber einer Zeitung mitteilen zu müssen, sondern ha- Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/53? – Ge- ben eine Rechtsauffassung, die sich entgegen Ihren wie- genprobe! – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit derholten Behauptungen, Herr Kauder, nicht verändert den Stimmen der Koalition und der beiden fraktionslosen hat. Mitglieder bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen. Alle Zählverfahren sind unbestritten nur Hilfsmittel, um die Besetzung eines Ausschusses bzw. eines Gremi- Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der ums dieses Parlaments herbeizuführen. Auch das ist eine FDP auf Drucksache 15/54? – Gegenprobe! – Enthaltun- klare Rechtsgrundlage. Ich möchte Sie nicht nur an die gen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der FDP, Rede meines Kollegen Beck und meine Rede am 30. Ok- der CDU/CSU und der beiden fraktionslosen Mitglieder tober erinnern, sondern auch an die Tatsache, dass das in bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an- den Verfassungsgerichtsurteilen der vergangenen Jahre genommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stell- immer wieder zum Ausdruck gebracht worden ist. vertreter im Vermittlungsausschuss gewählt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 575

Vizepräsidentin Susanne Kastner (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: warten. Das lässt eine noch höhere Verschuldung und(C) Aktuelle Stunde noch größere Finanzprobleme in unserem Land erwarten, auf Verlangen der Fraktion der FDP (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Haltung der Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung in einem Land, das den Stabilitätspakt in Europa durch- der zu erwartenden aktuellen Steuerschätzung gesetzt hat. Mit einer Defizitquote von 3,8 Prozent in die- und der damit möglichen Notwendigkeit eines sem Jahr verfehlen wir die Kriterien von Maastricht in Haushaltssicherungsgesetzes exorbitantem Maße. Diese Koalition, die sich auf das hohe Ross gesetzt hat und in diesem Hohen Haus vom Le- Wir warten mit der Eröffnung der Aussprache so lange, der gezogen hat, steht vor dem Scherbenhaufen ihrer bis die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal verlassen Finanzpolitik. Sie proklamiert nun ein gesamtwirtschaft- wollen, dies getan haben. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der Aktuellen Stunde nicht teilnehmen liches Ungleichgewicht. Sie tut alles, um dieses Un- wollen, den Saal zügig zu verlassen. gleichgewicht noch zu vergrößern und das ist der eigent- liche Knackpunkt an der Geschichte. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Günter Rexrodt (FDP): Von dem, der ein solches Waterloo in der Finanzpolitik erlebt, sollte man doch erwarten, dass er alles tut, um Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vom Um- diese Fehlentwicklungen abzuwenden und zu überwin- steuern und von der finanzpolitischen Wende war dieden. Aber nein, diese Regierung tut alles, um diese Ent- Rede. „Weg vom Schuldenstaat der Kohl-Ära“ – „Gene- wicklung noch zu beschleunigen. Die Regierung beseitigt rationengerechtigkeit“ waren die neue Devise. Was für ein nicht die Ursachen der konjunkturellen Schwäche, son- Tamtam in den letzten vier Jahren, was die Finanzpolitik dern sie verschärft diese Ursachen. Sie senkt nicht die der rot-grünen Koalition angeht! Steuern, um wieder mehr Steuern einnehmen zu können; (Unruhe) sie erhöht die Steuern, um am Ende dann noch weniger Steuern einzunehmen. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Rexrodt, entschuldigen Sie bitte; ich muss Sie für einen Augenblick unterbrechen. Sie senkt nicht die Sozialabgaben, wie angekündigt, son- (B) dern sie erhöht die Sozialabgaben und damit die Lohn-(D) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Privatge- nebenkosten. Wer aber Lohnnebenkosten erhöht, der setzt spräche jetzt einzustellen und dem Redner in der Aktuel- die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft aufs Spiel und len Stunde zuzuhören. betreibt eine Politik der Beschäftigungsfeindlichkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Friedrich Merz der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Das wird doch ganz bewusst ge- macht! – Dr. [FDP]: Die Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koali- sollen sich setzen!) tion, Sie betreiben Deflationspolitik im wahrsten Sinne des Wortes. Heinrich Brüning lässt grüßen! Dr. Günter Rexrodt (FDP): (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – Dann kamen das Wahlkampfgetöse und das Tamtam in Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: diesem Zusammenhang. Schlichte Falschaussagen, wie Dem haben die Sachverständigen widerspro- sich heute erwiesen hat! chen, Herr Rexrodt!) Im Jahr 2002 sollte die Nettokreditaufnahme aufSie sind nicht einmal in der Lage, den Fortschritt in der 21,1 Milliarden Euro und im Jahr 2003 auf 15,5 Milli- wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen arden Euro zurückgehen. Das sind Zahlen des Bundes- Theorie der letzten 70 Jahre zur Kenntnis zu nehmen. Sie finanzministeriums. Die Realität, noch unter günstigen betreiben Deflationspolitik in reinster Form. Vorzeichen: in diesem Jahr ein Verschuldungsplus von (Lachen des Abg. Wilhelm Schmidt 8 Milliarden Euro und damit eine Steigerung auf insge- [Salzgitter] [SPD]) samt 29 Milliarden Euro und im Jahr 2003 noch einmal 3 Milliarden Euro obendrauf. – Herr Schmidt, ich bezweifle, dass Sie überhaupt wissen, welche Politik Heinrich Brüning gemacht hat. Diese Zahlen basieren auf der Annahme eines Wirt- schaftswachstums von 0,5 Prozent im Jahre 2002 und von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 1,5 Prozent im Jahr 2003. Die Wirtschaftsweisen, die mit der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] ihrem Gutachten gestern in die Öffentlichkeit gegangen [SPD]: Diese Arroganz in dieser Zeit ist schon sind, sagen aber: Wir werden im Jahr 2002 nur ein Wachs- ziemlich heftig! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ tum von 0,2 Prozent und im Jahr 2003 ein Wachstum von DIE GRÜNEN]: Prüfen Sie erst mal Ihre Kas- maximal 1 Prozent erreichen. – Das lässt Schlimmes er- sen!) 576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Günter Rexrodt (A) – Das weiß ich. Was ist daran arrogant? Vizepräsidentin Susanne Kastner: (C) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lösen Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre- Sie erst mal Ihre eigenen Probleme!) tär Karl Diller. Gestern waren die Sachverständigen in der Bundespres- sekonferenz. Sie haben Ihnen das bescheinigt. Sie haben Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Ihnen zusätzlich bescheinigt – furchtbar genug –, dass wir der Finanzen: im nächsten Jahr im Jahresdurchschnitt 117 000 zusätz- liche Arbeitslose zu erwarten haben. Das sind die Fakten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegen- Damit müssen Sie sich einmal auseinander setzen. über der Steuerschätzung von Mai haben Bund, Länder und Gemeinden für dieses Jahr 15,4 Milliarden Euro und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für nächstes Jahr 16 Milliarden Euro weniger Steuerein- der CDU/CSU) nahmen zu erwarten. Wenn uns ein Nachtragshaushalt – Sie haben ihn im- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Reden Sie doch ein mer abgelehnt – nun nicht genug ist, dann hat das einen bisschen lauter, damit es die ganze Bundesre- einfachen finanzpolitischen Grund: Wir sind überzeugt, publik hört!) dass kosmetische Korrekturen – ein bisschen Anpassung hier, ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger dort – Der Bund ist davon in einer Größenordnung von 5,7 Mil- nicht mehr reichen. Das ist wie weiße Salbe. Diese Re- liarden Euro bzw. 5,5 Milliarden Euro betroffen. gierung versäumt es aufgrund ihrer reformfeindlichen Der Grund dafür ist die schlechte konjunkturelle Ent- Haltung, die Flexibilisierung in unserem Land herbeizu- wicklung. Bis in den September hinein, meine sehr ver- führen, die wir aufgrund der Globalisierung brauchen. ehrten Damen und Herren von der Opposition, hatten alle (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fachleute ein kräftiges Anspringen des Konjunkturmotors der CDU/CSU) für die zweite Jahreshälfte vorausgesagt. Ich habe dem Diese Regierung versäumt es, die notwendige Vorsorge Haushaltsausschuss gestern eine Auflistung der monatli- für die demographische Katastrophe, die uns in den Jah- chen Prognosen der Institute übergeben. Die Prognosen ren 2012 ff. ins Haus stehen wird, zu treffen; wir haben des Internationalen Währungsfonds und des Ifo-Instituts keine Zeit mehr. Stattdessen versucht man, die aktuellen lagen noch im August bei 0,7 Prozent. Das entspricht ge- Probleme dadurch zu lösen, dass man eine Umverteilung nau dem Wert, den wir dem Haushaltsplan zugrunde ge- von oben nach unten vornimmt. Das ist ein Rezept aus der legt haben. Würde er Wirklichkeit, stiege das Wachstum sozialistischen Mottenkiste, in den restlichen Monaten dieses Jahres sprunghaft an. (B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wo ist denn der (D) CDU/CSU) Minister?) ein Rezept, das noch nie funktioniert hat. Die Entwicklung war jedoch schlechter als vorherge- sehen. Unsere Projektion sieht für dieses Jahr nur noch eine Steigerung des realen Bruttoinlandsprodukts von Vizepräsidentin Susanne Kastner: 0,5 Prozent und für nächstes Jahr von 1,5 Prozent vor. Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Dies entspricht den konjunkturellen Prognosen der vor- herrschenden Institute und im Übrigen auch der Europä- Dr. Günter Rexrodt (FDP): ischen Kommission für 2003. Der Internationale Währungsfonds hat uns für das nächste Jahr sogar eine – Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin –. Steigerung des Wirtschaftswachstums von 2 Prozent in Denn diejenigen, die das Rad drehen, steigen einfach aus. Aussicht gestellt. In unserem Land müssen alle am Wachstum partizipie- Die Botschaft dieser Projektionen ist klar: Das Wachs- ren, wie es über Jahrzehnte der Fall war. Mit einer solchen tum in 2003 wird in Fahrt kommen, aber leider nicht in Finanzpolitik, mit einer solchen Wirtschaftspolitik, mit ei- dem Tempo, das wir mit Blick auf die Steuereinnahmen ner solchen Steuerpolitik ruinieren Sie nicht nur die Fi- und den Arbeitsmarkt brauchten. nanzen dieses Landes, – (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist eine Kata- Vizepräsidentin Susanne Kastner: strophe!) Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom- Wir müssen daher die Rahmenbedingungen für mehr Be- men. schäftigung schnell verbessern. Wir werden die Vor- schläge der Hartz-Kommission zügig umsetzen und dies wird auch die Schwelle absenken, ab der Wachstum in Dr. Günter Rexrodt (FDP): Deutschland automatisch zu mehr Beschäftigung führt. – sondern Sie setzen es auch der Gefahr aus, in den Ab- Unsere Finanzpolitik stellt sich den Herausforderungen. grund zu stürzen. Schuld ist Ihre sozialistische Umvertei- lungspolitik. (Lachen des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Erstens. Wir begrenzen nicht nur die Ausgaben, son- GRÜNEN) dern wir führen sie in 2003 sogar zurück. Gleichzeitig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 577

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) bauen wir den Umfang der Steuersubventionen ab. Dies Das Entscheidende ist: Trotz dieser begrenzten Er-(C) entspricht unserer Verantwortung für die langfristigehöhung gegenüber dem Regierungsentwurf vom Sommer Tragfähigkeit der Finanzpolitik. wird die Neuverschuldung im nächsten Jahr die geringste seit der Wiedervereinigung sein. Das ist ein wichtiger Wert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zweitens. Wir lassen zugleich die automatischen Stabili- satoren teilweise wirken. Dies entspricht unserer Verant- Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das haben Sie in wortung für die konjunkturelle Entwicklung. diesem Jahr auch gesagt! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Glaube! Hoffnung!) (Dr. [FDP]: Ein Referenten- text! – Jürgen Koppelin [FDP]: Wer hat das auf- Mit dem Bundeshaushalt 2003 werden wir die begonne- geschrieben?) nen Vorhaben verstetigen und neue solide finanzieren. Das gilt insbesondere für die zukunftssichernden Ausga- Beides zusammen ergibt einen klaren Rahmen für eine ben in den Bereichen Familie, Bildung, Forschung und In- an die Situation angepasste Finanzpolitik. Das ist kein frastruktur. einfacher Weg; das bedeutet auch Einschnitte in gewohnte Vergünstigungen. Aber es gibt dazu keine sinnvolle Alter- Auch die Haushalte der Länder sind durch die deutlich native. Diese Zielvorstellungen setzen wir im Nachtrags- geringeren Steuereinnahmen betroffen. Viele haben be- haushalt für 2002 und im Haushalt 2003 um. reits mit Sparmaßnahmen, mit Haushaltssicherungskon- zepten und mit Haushaltssperren gearbeitet. Aber diese 2002 ist ein Nachtragshaushalt geboten. Damit reagie- Maßnahmen haben nicht ausgereicht, den Anstieg des De- ren wir auf die konjunkturell bedingten Steuerminderein- fizits aufgrund der Steuerausfälle aufzufangen. Deswegen nahmen und auf die Mehrausgaben, die wir im Bereich sind weitere Konsolidierungsmaßnahmen für das Jahr der Arbeitsmarktpolitik zu schultern haben. Das viel zu 2003 – insbesondere vor dem Hintergrund unserer Ver- geringe Wachstum im Jahre 2002 und die gestiegene und pflichtungen gegenüber dem europäischen Stabilitäts- zu hohe Arbeitslosigkeit belegen, dass das gesamtwirt- pakt – erforderlich. Im Übrigen werden die steuerlichen schaftliche Gleichgewicht in diesem Jahr gestört ist. Ich Maßnahmen, für die wir die Gesetzgebungsverfahren ein- teile nicht die Mehrheitsmeinung des Sachverständigen- leiten, auch zur nachhaltigen Verbesserung der Einnah- rates, dass eine gesamtwirtschaftliche Störung für dasmesituation von Ländern und Gemeinden beitragen. Jahr 2002 nur dann vorliegt, wenn wesentlich größere Verfehlungen gesamtwirtschaftlicher Ziele gegenüber In Deutschland wird das Staatsdefizit in diesem Jahr den Vorgaben von 2001 festzustellen sind. deutlich über 3 Prozent steigen. Gegenwärtig berechnen wir es auf der Basis der Steuerschätzung für den Finanz- (B) In der aktuellen Situation ist eine einmalige Erhöhung (D) planungsrat, der demnächst tagt, neu. Das Defizit dürfte der Kreditaufnahme der geeignete Weg zur Überwindung sich aber in der Größenordnung bewegen, die auch von der konjunkturellen Schwächephase, der EU-Kommission ermittelt wurde. An einer Fortset- (Jürgen Koppelin [FDP]: Was für eine traurige zung der Politik der Haushaltskonsolidierung führt also Vorstellung!) kein Weg vorbei. 2003 wird durch die Maßnahmen, für weil wir – und das ist das Entscheidende – an unserer die wir jetzt die Gesetze auf den Weg bringen, das Defizit langfristig angelegten Wachstums- und Beschäftigungs- wieder unter 3 Prozent sinken, wenn alle staatlichen Ebe- strategie und am Konsolidierungskurs festhalten. Die Al- nen ihren Beitrag dazu leisten. ternative wäre, kurzfristig ganz massiv auf der Ausgaben- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und die Wirtschaft seite zu kürzen, was die Konjunktur nur weiter schwächen und die Bürger und alle Länder auch!) würde. Deswegen ist das keine machbare Alternative. Unser Ziel ist es, das Defizit des Gesamtstaates – Bund, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Birgit Länder, Gemeinden – im Jahre 2006 nahezu auf null zurück- Homburger [FDP]: Gescheite Wirtschaftspoli- zuführen. Die Bundesregierung wird mit allen Beteiligten tik wäre die Alternative!) zusammenarbeiten, um die Verpflichtungen Deutschlands Die genauen Zahlen des Nachtragshaushalts werden in gegenüber der Europäischen Union zu erfüllen. der kommenden Woche von der Bundesregierung festge- (Jürgen Koppelin [FDP]: Die SPD-Fraktion ist legt; ebenfalls wird der Regierungsentwurf für den Haus- schon eingeschlafen!) halt 2003 beschlossen. – Unser Beitrag dazu besteht erstens im Abbau von Steu- (Jürgen Koppelin [FDP]: Was für ein Trauer- ervergünstigungen bei gleichzeitiger Absenkung der spiel!) Steuersätze in den Jahren 2004 und 2005 – an den Steuer- Insgesamt zeichnet sich gegenüber dem Entwurf vom senkungen halten wir fest –, Sommer eine sehr begrenzte Erhöhung der Nettokredit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aufnahme ab. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Traurige Veran- Koppelin [FDP]: Wie Telefonbuch vorlesen!) staltung!) zweitens in der Begrenzung der Bundesausgaben und Dafür haben wir in den Koalitionsverhandlungen bereits drittens in Reformen in Bezug auf den Arbeitsmarkt und einen Rahmen vorgegeben. die sozialen Sicherungssysteme. 578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) Meine Damen und Herren, wenn uns in diesen Tagen deutlich gemacht, dass der blaue Brief fällig ist? Und ist (C) ein deutlicher Modernisierungsschub in Deutschland ge- der blaue Brief nicht bloß dadurch abgewendet worden, dass lingt, dann haben wir die richtigen Schlussfolgerungen man versucht hat, die Dinge schönzureden? Es war doch aus der Steuerschätzung von gestern gezogen. für jeden klar, dass die Steuereinnahmen zurückgehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Rückgang der Steuereinnahmen hat sich nicht erst DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: im letzten September ergeben. Wenn Sie sich die Steuer- Das war aber ein schlechter Referent, der das einnahmen der letzten Monate anschauen, dann werden aufgeschrieben hat!) Sie feststellen, dass sie im September gestiegen sind. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Susanne Kastner: NEN]: Aber nicht so, wie prognostiziert! Sie Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, sind im September immer besser als im Jahres- CDU/CSU-Fraktion. durchschnitt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Allein auf der Berechnung vom September basiert ja Ihre hoffnungsvolle Kunde, dass uns bis Ende des Jahres nur 8,5 Milliarden Euro beim Bund fehlen. Wenn Sie von der Dietrich Austermann (CDU/CSU): Tendenz zu Beginn des Jahres ausgehen, ist ziemlich klar, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser dass auch diese 8,5 Milliarden Euro wieder schöngeredet Land befindet sich in einer Finanzkrise. Aber anstatt dem sind und dass deutlich erkennbar war, in welche Richtung Parlament Rede und Antwort zu stehen, schickt der knei- die Entwicklung geht. fende Finanzminister Herrn Diller her, um die Lage schön- Nein, es stimmt keine einzige Zahl mehr, die das Fi- zureden. nanzministerium in diesem Jahr genannt hat. Deswegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stimmen auch die Perspektive und die Maßnahmen, die getroffen werden, nicht. Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Das Parla- ment hat Anspruch darauf, dass der Bundesfinanzminister Lassen Sie mich einmal darstellen, was zum 1. Januar Auskunft über die tatsächliche Situation gibt und nicht nächsten Jahres kommen soll – Sie haben ja gesagt, Sie versucht, weiterhin Dinge zu vernebeln. machten eine Regierungspolitik, die dazu beitrage, die Si- Wir haben eine Situation, in der eigentlich jeder der tuation zu verbessern –: Erhöhung der Ökosteuer, Er- Überzeugung ist: Der Finanzminister hat versagt wie kei- höhung der Tabaksteuer, Erhöhung der Körperschaftsteuer, Neueinführung der Maut, Verschiebung der zweiten Stufe (B) ner vor ihm und keiner neben ihm, keiner der anderen (D) zwölf im Regierungsteam, der Steuerreform, Erhöhung der Stromsteuer, Erhöhung der Gassteuer, Erhöhung der Mehrwertsteuer in Teilbereichen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abbau von so genannten Subventionen, Änderungen und er müsste, wenn er dem Land von sich aus etwasbei der Eigenheimzulage, Änderungen bei der Spekula- Gutes tun wollte, sofort seinen Hut nehmen. tionsteuer und Erhöhung der Beiträge zur Renten-, Kran- ken- und Arbeitslosenversicherung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das alles soll der Entwicklung der Wirtschaft im Da es eigentlich keines Beweises mehr bedarf, dass nächsten Jahr nicht schaden? Es ist doch ziemlich klar das, was gestern an Zahlen und Entwicklungen offen ge- und offenkundig, dass diese Fülle von Steuer- und Ab- legt worden ist, im Grunde genommen seit anderthalb gabenerhöhungen geeignet ist, auch noch den letzten Rest Jahren in der Tendenz bekannt ist, Wachstum von 0,2 Prozent totzutreten. Sie machen die (Zurufe von der SPD: Was? – Wilhelm Schmidt falsche Politik in der falschen Zeit. [Salzgitter] [SPD]: Fragen Sie doch mal die Wirtschaftsweisen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) aber mit Vorsatz vernebelt worden ist – fragen Sie Herrn Metzger zu diesem Punkt -, Ich finde, dass man sich auch deutlich darüber unter- halten muss, dass es nun endlich an der Zeit ist, mit der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer ist Mär aufzuhören, Sie machten Konsolidierungspolitik. denn Herr Metzger?) Unter Konsolidierung versteht jeder kundige Thebaner ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken, Ausgabenbegrenzung und den Versuch, die Dinge auch an ob die Regierung wegen dieses Betruges nicht eigentlich anderer Stelle in den Griff zu bekommen. Aber die Aus- vor einen Untersuchungsausschuss gestellt werden müsste. gaben steigen und sie werden auch im nächsten Jahr stei- So viel Betrug vor der Wahl in konkreten Dingen wie jetzt gen, weil Sie das Problem haben, dass es Ihnen bisher hat es noch nicht gegeben. nicht gelungen ist, an dieser Stelle anzusetzen. Sie er- höhen die Einnahmen durch Steuern und Abgaben, aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie senken nicht die Ausgaben. neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann machen Sie es doch!) (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Ich will etwas zu der Frage sagen, ob das nicht abseh- Von Konsolidierung kann, seit Eichel im Amt ist, über- bar war. Hat nicht die EU-Kommission bereits im Januar haupt keine Rede sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 579

Dietrich Austermann (A) Sie können auch nicht vom Sparen reden oder davon, Herr Austermann, ich finde, wir sollten sachlich mitei- (C) dass sich die Dinge in absehbarer Zeit bessern würden. nander reden. Das Wachstum ist eingebrochen, wir haben eine Pleite- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Mit wem?) welle in Rekordhöhe, die Arbeitslosigkeit steigt, die Sozi- alsysteme stehen auf schwankendem Grund, das Staats- Sie sollten nicht immer behaupten, dass wir die Höhe der defizit hat sich mehr als verdoppelt und das Ergebnis ist, Steuereinnahmen des Septembers vorher wissen konnten. dass wir in diesem Jahr einen verfassungswidrigen Haus- Als guter Haushaltspolitiker müssten Sie doch eigentlich halt haben und auch im nächsten Jahr einen verfassungs- wissen, dass der September seit Jahren der Monat mit den widrigen Haushalt haben werden. größten Steuereinnahmen ist. Die Prognosen, die wir im Frühjahr bezüglich der Einnahmen im September bekom- Reden Sie sich nicht damit heraus, dass die wirtschaft- men haben, haben sich aber nicht erfüllt. Deshalb müssen wir liche Entwicklung gestärkt werden müsse, es läge eine als Konsequenz der letzten Steuerschätzung einen Nach- Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor. tragshaushalt einbringen. Dass dies geschieht, liegt aber Dazu passt nicht, dass Sie behaupten, es gebe noch Wachs- nicht daran, dass es falsche Einschätzungen vonseiten der tum; denn in diesem Fall kann das gesamtwirtschaftliche Koalitionsfraktionen oder des Finanzministers gegeben hat. Gleichgewicht nicht gestört sein. Dazu passt ebenfalls nicht die Maßnahme, neue Kredite aufzunehmen; denn (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die wesentlich erhöhte Kreditaufnahme ist nicht geeignet, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Es ist unbestritten, dass die wirtschaftliche Situation zu beseitigen. Sie soll lediglich die vorhandenen und von äußerst schwierig ist und dass wir konsolidieren müssen. Ihnen verursachten Haushaltslöcher stopfen. Wir müssen aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in diesem Ich sage es noch einmal: Dieser Minister hat es nicht Land ausreichend investiert wird und dass wir es schaffen, verdient, länger im Amt zu sein. Er hat die Finanzen, den strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die sozialen Si- Haushalt des Bundes, an den Abgrund geführt. Die Poli- cherungssysteme zukunftsfest zu machen. Ich hoffe, dass tik, die zurzeit gemacht wird, ist nicht geeignet, die wirt- wir uns darin einig sind. schaftliche Situation in Deutschland zu verbessern. Sie Der Unterschied zwischen CDU/CSU und FDP auf der stehen vor einem Scherbenhaufen Ihrer Politik. einen Seite und den Regierungsfraktionen auf der anderen Seite ist jedoch der, dass die Regierungsfraktionen Vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schläge machen, wie wir aus dieser schwierigen Situation herauskommen können. Vizepräsidentin Susanne Kastner: ( [CDU/CSU]: Ihr könnt sogar (B) Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bünd- Gesetze machen, wenn ihr wollt!) (D) nis 90/Die Grünen. Aber Sie mäkeln in allen Debatten, die wir in diesem Hause zu diesem Thema führen, nur herum, ohne zu sagen, was Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie tun wollen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Rexrodt, Sie haben hier wieder einmal gnadenlos und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: übertrieben. Das stimmt nicht!) (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Auf den Punkt Sagen Sie doch bitte einmal, wie man es ohne eine wei- war das!) tere Neuverschuldung schaffen kann, die Steuern, die So- zialversicherungsbeiträge und die Staatsquote zu senken! In meiner vorherigen Rede habe ich gesagt, dass Meckern Sagen Sie den Menschen draußen im Land, was Ihre For- kein Konzept ist. Aber ich muss sagen, dass gnadenlose derungen für die soziale Absicherung bedeuten und wel- Übertreibungen ebenfalls kein Konzept sind, Herr Rexrodt. che Einbußen die Menschen hinzunehmen haben! Dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind Sie zu feige. und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das war eine Beschönigung meinerseits!) und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Die FDP hat sich in der Finanz- und Haushaltspolitik Sie sind zu feige!) nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die 29 Jahre ihrer Die Prognosen sowohl der Wirtschaftsforschungsinsti- Regierungsbeteiligung betrifft. tute als auch des Sachverständigenrates waren schon im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer unsicher. und bei der SPD) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber nicht so viel wie bei Ihnen!) Wenn man die gegenwärtige Situation Ihrer Partei be- trachtet, dann muss man sagen, dass sie das auch in der Das ist leider so; daran kann man nichts ändern. Wir konn- Gegenwart nicht tut. ten immer wieder erleben, dass Institute innerhalb weni- ger Tage ihre Prognosen verändert haben (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist billig! – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das stimmt Kleines Karo! Frau Scheel, das ist doch gar doch gar nicht! – Steffen Kampeter [CDU/ nicht Ihre Art!) CSU]: Sie erzählen doch dummes Zeug!) 580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Christine Scheel (A) und dass wir anpassen mussten. Denn die Forschungsinsti- ... die Koalitionäre (C) tute, die Wirtschaftsinstitute, der Sachverständigenrat und – das sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren – die Wirtschaftsweisen sind die Gremien, die die Grund- daten vorlegen, auf denen die Regierung ihre Perspektiven hätten vor der Bundestagswahl in der Finanz- und Haushaltspolitik aufbaut. Das ging Ih- – so Metzger wörtlich – nen so und das geht uns so. ‚ein desaströses Finanzloch im Bundeshaushalt‘ be- Ich finde, man sollte an dieser Stelle die Kirche im wusst verschwiegen. Dorf lassen. Als der Finanzminister noch hieß, hatten wir dreimal die Situation, dass die Neuver- (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Guter Mann!) schuldung höher war als die Investitionen. Dies hatte ge- Es sei Stillschweigen vereinbart worden, weil sonst nau die gleiche Konsequenz, vor der wir heute stehen. ‚der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition im (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: In dieser Bereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputt Dimension?) gewesen wäre‘. Auch damals ist Gott sei Dank kein Staatsbankrott einge- So weit Ihr ehemaliger finanzpolitischer Sprecher. Es treten. Das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Denn gibt jetzt also auch bei den Grünen welche, die die Wahr- wir haben Vorsorge getroffen, wir werden im Hinblick auf heit sagen. das Jahr 2003 konkrete Vorschläge machen und Sie darum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bitten, dem zuzustimmen. der FDP) Dazu kommt, dass etwa 55 Prozent des Defizits, über Vor diesem Hintergrund möchte ich einen anderen Ex- das wir jetzt sprechen und das wir nach Brüssel melden perten hinzuziehen. In den letzten Tagen hat der SPD- müssen, in der Verantwortung der Bundesländer liegen. Wirtschafts- und Arbeitsminister von Nordrhein-West- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Scheint aber ein falen auf die Frage, ob er nicht schon lange wisse, dass die Einnahmeproblem zu sein! – Manfred Grund wirtschaftliche Lage und die Steuerlage so seien, wie sie [CDU/CSU]: Schleswig-Holstein zum Beispiel!) seien, geantwortet: Ich würde bitten, dass nicht nur oppositionsseitig, also Das war für jemanden, der jeden Tag vor Ort ist und vonseiten der CDU/CSU und der FDP, diesbezügliche im Land die Augen offen hält, überhaupt keine Neu- Vorschläge kommen. Es geht nämlich nicht an, dass bei- igkeit. Dass beispielsweise der Möbelindustrie große spielsweise der bayerische Ministerpräsident oder ein Probleme ins Haus stehen, das war vor der Wahl so Herr Koch sagen: „Liebe Leute, all das, was die Regie- und das ist nach der Wahl so. Wir haben eine Reihe (B) rung macht, wollen wir nicht haben; wir machen das alles von Handwerksbereichen, die aufgrund der schlech- (D) besser“, ohne ehrlich zu sagen, was sie tun wollen. Auch ten Baukonjunktur in erheblichen Schwierigkeiten Herr Koch wird einen nicht verfassungskonformen Haus- sind und Arbeitsplätze abbauen. Das war vor der halt haben. Das bitte ich zu berücksichtigen. Hier müssen Wahl so und das ist nach der Wahl so. alle helfen. Dazu gehören die Länder, aber auch die Op- Auf die Frage: „Sie haben also alles gewusst?“, antwor- position. tete Schartau: Danke schön. Ja, das wusste jeder, der in diesen Bereichen die Au- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen offen hat und sie nicht zumacht. und bei der SPD) Das ist die Wahrheit über die großartige Lüge, die heute Gegenstand Ihrer Redebeiträge ist. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter, Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Guter Mann, der CDU/CSU-Fraktion. Herr Schartau!) Es bleibt Tatsache: Die Steuerausfälle, die die Steuer- Steffen Kampeter (CDU/CSU): schätzer gestern diagnostiziert haben, sind Ausweis einer völlig verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dabei Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und geht es nicht nur um Haushaltslöcher. Sie stehen am Ab- Herren! Die Kollegin Scheel hat wesentliche Teile ihrer grund einer völlig falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Rede darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, als Wer sich heute noch einmal die Rede vornimmt, die der habe die rot-grüne Regierungskoalition gerade in denBundesfinanzminister kurz vor der Wahl am 12. Septem- letzten Minuten, Stunden oder Tagen erfahren, dass die ber hier gehalten hat, und eine unwahre Behauptung nach wirtschaftliche Lage in Deutschland schlecht und dieder anderen liest, der muss die Forderung des Kollegen Steuerbasis erodierend ist, die ZukunftsperspektivenAustermann aufgreifen: Wer so unverschämt, so schamlos schlimm sind und sie regelrecht überrascht worden sei. lügt, der sollte seinen Hut nehmen. Zumindest hätte ich heute aber erwartet, dass er nicht den Motivationskünstler Wer heute Morgen die „Welt“ gelesen hat, der konnte Diller vorschickt, sondern selbst zur Lage der Wirtschaft zur Kenntnis nehmen, dass interessanterweise jemand, und der Finanzen in Deutschland Stellung nimmt. der auch im Deutschen Bundestag immer offen war, näm- lich Oswald Metzger, Ihr langjähriger haushalts- und fi- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und nanzpolitischer Sprecher, festgestellt hat: der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 581

Steffen Kampeter (A) Herr Diller hat vor dem Deutschen Bundestag gesagt, Steffen Kampeter (CDU/CSU): (C) das Wachstum komme in Fahrt. Wenn es so lethargisch in Ich will abschließend auf einen Punkt hinweisen: Die Fahrt kommt, wie der Kollege Diller bei seiner Rede in Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Fahrt kam, dann werden wir sehr große Wachstumspro- Gleichgewichts, wie Sie es hier diagnostiziert haben, ver- bleme haben. setzt Sie nicht in die Lage, unbeschränkt zusätzliche Wir dürfen uns keine Illusionen über die Ursachen ma- Schulden aufzunehmen. Das Verfassungsgericht fordert, chen. Wir haben doch nicht, wie die Redner der Koalition dass eine zusätzliche Kreditaufnahme der Sache und der dauernd behaupten, ausschließlich konjunkturelle Pro- Höhe nach der Senkung der Arbeitslosigkeit dienen soll. bleme. Natürlich haben wir eine miese Konjunktur, aber die hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Lage in Vizepräsidentin Susanne Kastner: unserem Land haben vor allem die Ursache, dass die strukturellen Reformen in Deutschland nicht angegangen Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit reicht für diesen worden sind. abschließenden Punkt nicht mehr. Kollegin Scheel, Sie haben gefragt, was wir dagegen machen. Vielleicht schauen Sie einmal in Ihr Büro. Dort Steffen Kampeter (CDU/CSU): liegt unser Entwurf über ein Minijobgesetz, in dem wir Das, was Sie im Zusammenhang mit Ihrem Nachtrags- wesentliche Vorschläge zur Entriegelung des Arbeits-haushalt vorschlagen, wird keinesfalls dem Ziel „mehr marktes in Deutschland machen, um zu Wirtschafts-Wachstum und Beschäftigung“ dienen. Es wird Deutsch- wachstum zu kommen. Das ist ein ganz zentraler Vor- land schaden. Wir werden diese Schädigung unserer schlag. Es geht nämlich nicht um die Verwaltung desVolkswirtschaft weiterhin kritisieren. Mangels, sondern um die Gestaltung zukunftsfähiger Lö- sungen. Herzlichen Dank. Wir müssen die Sozialversicherung auf neue Füße stel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – len. Das, was Sie machen, ist ein Alternativprogramm, das [Heidelberg] [SPD]: Wollen Sie ausschließlich auf dem Instrument der Steuererhöhungen uns jetzt etwas über Schulden erzählen?) beruht. Der Entwurf des Steuererhöhungsgesetzes, das von Ihnen in der nächsten Woche vorgelegt werden soll, Vizepräsidentin Susanne Kastner: beinhaltet die umfassendste Steuererhöhung – wahr- scheinlich in einem Volumen von 35 Milliarden Euro –, Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD- die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je- Fraktion. (B) mals durch ein Gesetz umgesetzt wurde. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt bekom- (D) Sie werden wesentliche Strukturfragen der deutschen men wir wieder eine Schmerzzulage!) Wirtschaft streitig stellen, beispielsweise durch die von Ihnen beabsichtigte Einführung des Ausgabenabzugsver- Joachim Poß (SPD): bots bei Dividendeneinnahmen für Kapitalgesellschaften. Das ist eine Aufforderung an die Kapitalgesellschaften, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol- aus dem Standort Deutschland zu flüchten. Es fördertlege Kampeter, ich würde Ihnen empfehlen, sich noch ein- Attentismus und die Benachteiligung des Standortsmal die Pressekonferenz der Sachverständigen anzu- Deutschland. Durch diese Maßnahme werden Sie eher schauen. Dort hat sich Professor Siebert zu Ihrem weniger als mehr Steuern erhalten. Minijobkonzept geäußert und es ausdrücklich abgelehnt. So viel möchte ich zu den Ergebnissen des Sachverstän- Es wäre auch fatal, wenn Sie Ihren Vorschlag umsetz- digenrates und der Bewertung Ihrer Vorschläge sagen. ten, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen. Nachdem Sie schon die Gewerbesteuerreform auf die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! lange Bank geschoben haben, würden Sie mit dieser Maß- Hört!) nahme die Finanzen der Gemeinden vollends ruinieren. Wenn Sie die Chuzpe haben, über Gemeindefinanzen Der Finanzminister hat vor wenigen Monaten in einer zu reden, dann muss ich an etwas erinnern: In Ihrer Ver- Rede an der Humboldt-Universität gesagt: Wir müssen, antwortung wurde die Gewerbesteuer permanent aus- um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, die Steuer- gehöhlt; wir sind diejenigen, die das Problem zum ersten und Abgabenlast senken. Meine sehr verehrten Damen Mal seit 30 Jahren grundsätzlich aufgreifen und im nächs- und Herren, tun Sie bitte das, was der Finanzminister noch ten Jahr eine umfassende Gemeindefinanzreform durch- vor wenigen Monaten gefordert hat, anstatt die Steuerlast setzen werden. Das ist der Unterschied zwischen Reden in dieser unverschämten Art und Weise anzuheben. und Handeln. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neten der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zu den Prognosen: Noch im August und September gingen verschiedene Institute davon aus, dass es zu einer Vizepräsidentin Susanne Kastner: kräftigen wirtschaftlichen Erholung im zweiten Halbjahr Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit ist überschrit- kommen würde. Wenn Herr Metzger aus irgendwelchen ten. menschlichen Verletzungen heraus plötzlich all seine 582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Joachim Poß (A) Erkenntnisse, die er am 12. September in einer 20-minüti- ten. Das ist Ihnen misslungen und das haben Sie nicht ver- (C) gen Rede hier im Deutschen Bundestag noch zum Besten schmerzt. gegeben hat – dabei hat er sich der Analyse von Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ finanzminister Eichel voll angeschlossen –, DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen CSU]: Lug und Betrug! – Dr. Günter Rexrodt Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal [FDP]: Nun zur Sache!) was zu Schartau!) Weil, wie jetzt deutlich geworden ist, allen öffentlichen heute vergessen hat, ist das das Problem von HerrnGebietskörperschaften die geplanten Einnahmen wegge- Metzger und nicht das Problem dieser Koalition. brochen sind, werden beim Bund, aber auch bei den Län- dern und Kommunen die Haushaltsdefizite und damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch das gesamtstaatliche Defizit in diesem und im kom- DIE GRÜNEN) menden Jahr größer ausfallen als bisher erwartet. Wenn Die Einzigen, die die Wählerinnen und Wähler ge-diese Entwicklung nicht schnell und aktiv gebremst wird, täuscht haben, sind Sie von der Opposition, und zwar mit und zwar mit kurzfristiger Wirkung, werden eine Reihe unfinanzierbaren Vorschlägen; Stichworte: dreimal 40, von Länderhaushalten 2003 an die Grenze der Verfas- dreimal 35. sungsmäßigkeit stoßen. Das ist die Lage, für die beide Ge- setzgebungsorgane, Bundestag und Bundesrat, in ihrer je- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weiligen Verantwortung eine Lösung finden müssen. DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag würde ihren Einfluss und ihre Bedeutung überschätzen, wenn sie Wo leben Sie denn? Finanzpolitisch leben Sie in Wolken- meinte, die unionsgeführten Bundesländer aus purer Par- kuckucksheim. teitaktik und wohl auch aus der nachhaltigen Wut über die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verlorene Bundestagswahl, die bei ihren Reaktionen im- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ mer zu spüren ist, zu einer kompromisslosen Ablehnung CSU]: Possenspiel! – Friedrich Merz [CDU/ der steuerpolitischen Vorschläge der Regierungskoalition CSU]: Sie unerträglicher Schwätzer! –drängen zu können. Auch die unionsgeführten Bundeslän- Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Setzen Sie der kennen ihre eigenen Interessen sehr genau. Diese wer- sich wieder hin!) den sie natürlich weiterverfolgen und gegen die taktischen Spielchen von Merz, Merkel und anderen durchsetzen. Wir haben keine unfinanzierbaren Vorschläge und Ver- sprechungen gemacht. Herr Merz, das unterscheidet uns. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine (B) Sie schwätzen wirklich und wissen oft nicht, worüber Sie Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) schwätzen. Wir wissen, worüber wir reden, handeln ver- Auch Stoiber und Koch können nicht untätig bleiben. Sie antwortungsbewusst und stellen uns der Situation. müssen dafür Sorge tragen, dass die Einnahmebasis ihrer (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Länder gesichert wird und die Defizite ihrer Haushalte Merz [CDU/CSU]: Ja, ja!) nicht unbegrenzt nach oben schnellen. Sie werden nach der Steuerschätzung nicht mehr darum Deshalb sage ich: Wir haben ein Konzept. herumkommen, sich der Situation zu stellen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es!) DIE GRÜNEN) Unsere Vorschläge zur Verbreiterung der Steuerbemes- Eigentlich müsste jedem in diesem Hause klar gewor- sungsgrundlage und zum Abbau von nicht mehr finan- den sein: Die Lage der öffentlichen Haushalte ist so ernst, zierbaren Steuervorteilen bieten eine Verbesserung der Fi- nanzsituation, und zwar nicht nur des Bundes, sondern (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Aha!) auch der Länder und Kommunen. Daher sind sie eine dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit den ernsthafte Verhandlungsgrundlage für den Bundesrat. Ar- Aufführungen einer Opposition, die ihre Wahlniederlage beiten Sie – auch im Interesse der unionsgeführten Län- immer noch nicht verdaut hat, endlich Schluss seinder und Kommunen – bereits hier im Bundestag kon- muss. struktiv an unserem Politikangebot mit oder legen Sie endlich eine konkrete und detaillierte Alternative vor! So (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Wo ist denn die können Sie nicht weiterwursteln! Im Grunde wissen Sie Botschaft? – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die das auch ganz genau. Opposition ist schuld!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben. DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie sind an der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regierung, nicht mehr in der Opposition! – DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Der Poß, der macht CSU) nur Possen! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß – So ist das! Das gilt auch für einige Medien, die heute [SPD]: Herr Rexrodt, ich war heute sachlich! quasi mit einem schwarzen Rand aufmachen. Sie haben Ich habe keine Lust, auf dieses Niveau ab- die Wahl verloren, weil Sie diese Koalition ablösen woll- zugleiten!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 583

(A) Vizepräsidentin Susanne Kastner: Herr Schäfers von der „FAZ“ brachte es heute auf den (C) Punkt: Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP- Fraktion. Steuerschätzer, Sachverständige und EU-Kommis- sion erinnern mit all ihren Zahlen letztlich an einen einfachen Zusammenhang: Nur eine dynamische (FDP): Carl-Ludwig Thiele Wirtschaft verschafft dem Staat die Einnahmen, die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten er braucht, um über die Runden zu kommen. Doch Kolleginnen und Kollegen! Der gestrige Tag war der Of- nahezu alles, was Rot-Grün tut, schadet diesem Ziel. fenbarungseid einer gescheiterten Politik von vier Jahren Wie will man mit Steuererhöhungen Wachstum er- Rot-Grün: zeugen? Wie will man mit höheren Lohnnebenkosten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Arbeitslosigkeit senken? Die Wirtschaftsweisen gehen von einem noch niedrigeren Wie will man mit täglich neuen Gesetzesvorhaben Bür- Wirtschaftswachstum und einer steigenden Anzahl der gern und Betrieben Planungssicherheit für größere Pro- Arbeitslosen aus. Brüssel leitet ein Defizitverfahren ge- jekte geben? Die Spitzenverbände der Wirtschaft warnen gen die Bundesrepublik Deutschland ein und die Steuer- schon, dass infolge der zusätzlichen Steuerbelastungen schätzung stellt Mindereinnahmen von über 30 Milli- 35 Milliarden Euro Mehrbelastung auf die Unternehmen arden Euro für die nächsten beiden Jahre fest. – Einzukommen. Die Lohnnebenkosten steigen dramatisch an ordentlicher Kaufmann müsste bei dieser Bilanz denund liegen im nächsten Jahr trotz eingenommener 63 Mil- Gang zum Konkursrichter antreten und den Offenba-liarden Euro Ökosteuer auf dem Niveau von 1998, bei rungseid ablegen. Finanzminister Eichel hat aber nicht 42,2 Prozent. Und das soll eine nachhaltige Finanzpolitik einmal den Mumm, bei dieser Debatte hier im Bundestag sein? zu erscheinen und seine Politik zu vertreten. Herr Finanzminister, tun Sie endlich das, was jeder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) normale Bürger tun würde, der aufgrund Ihrer falschen Politik weniger Einnahmen hat: Sie müssen endlich bei Gäbe es ein Delikt „Wahlbetrug“, dann müssten Bun- den Ausgaben ansetzen und sparen. deskanzler Schröder und Finanzminister Eichel heute vor ein Strafgericht treten. Was aber macht der Bundesfinanz- (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt minister? – Er sucht Sündenböcke: Die Weltwirtschaft sei [Salzgitter] [SPD]: Wenn wir es tun, kritisieren schuld, das Wachstum habe sich nicht entwickelt wie er- Sie es! Das ist doch Unsinn, was Sie da er- wartet, die Zahl der Arbeitslosen sei nicht wie erwartet ge- zählen!) sunken. Die Glaubwürdigkeit von Finanzminister Eichel (B) Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen: Halten Sie es mit (D) hat sich, wie die „Börsen-Zeitung“ heute schrieb, von den Empfehlungen der Wirtschaftsweisen und der FDP! Triple A zum Junk Bond entwickelt. Sie ist implodiert. Es Senken Sie die Steuersätze! Führen Sie Staatsaufgaben ist überhaupt keine Glaubwürdigkeit des Finanzministers mehr vorhanden. zugunsten privater Aktivitäten zurück! Senken Sie die Neuverschuldung! Senken Sie die Lohnnebenkosten! Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fristen Sie auch das Arbeitslosengeld! Immer werden die Fehler bei anderen gesucht, statt end- Die Staatsquote liegt bei fast 50 Prozent. Die Abga- lich selbst die Verantwortung für eine gescheiterte Politik benquote liegt bei 42 Prozent. Die Neuverschuldung des zu übernehmen. Bundes wird sich in den vier Jahren Rot-Grün um mehr (Jörg Tauss [SPD]: Tun Sie mal!) als 100 Milliarden Euro erhöht haben. Dies ist keine Po- litik der Konsolidierung, dies ist eine Steuererhöhungs- Die ganze Finanzpolitik von Minister Eichel hat nur eine politik, eine Abgabenerhöhungspolitik, eine Neuver- einzige Konstante: Seine Prognosen lagen immer daneben. schuldungspolitik. Diese Regierung unter Bundeskanzler Durch die Regierung wird den Bürgern ein angebliches Schröder hat vor der Wahl vieles versprochen – nach der Sparpaket vorgelegt, welches im Wesentlichen darin be- Wahl wurde es gebrochen. Deshalb ist es gut, dass nach steht, durch Streichen von steuerlichen Regelungen ohne der Wahl der ehemalige Abgeordnete Metzger erklärt hat, gleichzeitige Entlastung der Bürger die Steuereinnahmen (Lachen bei der SPD) des Staates weiter zu erhöhen. Diese Bundesregierung greift den Bürgern schamlos in die Tasche: Die Sozial- dass das „desaströse Finanzloch im Bundesetat bewusst versicherungsbeiträge werden erhöht, die Ökosteuernverschwiegen“ worden sei, weil ansonsten „der Nimbus werden erhöht, die Beitragsbemessungsgrenze wird er- der Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparen höht, eine Wertzuwachssteuer wird eingeführt und steuer- natürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre“. liche Ausnahmetatbestände werden gestrichen. Diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesregierung belastet die Wirtschaft in unverantwort- der CDU/CSU) licher Weise und setzt steuerliche Regelungen außer Kraft, die systembedingt sind und daher zu Recht seit je- Weiter hat er erklärt: her Bestandteil des Steuerrechts sind. Der Höhepunkt die- In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter re- ser schamlosen Politik besteht darin, dies auch noch als gieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung Sparpaket auszugeben. und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregie- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) ren entschieden und gegen die Ehrlichkeit. 584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Carl-Ludwig Thiele (A) Gegen die Ehrlichkeit, meine Damen und Herren! Alle, die sich gestern zur Steuerschätzung geäußert (C) haben, haben gesagt: Wir müssen die Reform der sozia- len Sicherungssysteme angehen. Sie können schauen, Vizepräsidentin Susanne Kastner: wohin Sie wollen, nach links oder nach rechts: Alle Herr Kollege Thiele, Ihre Redezeit ist überschritten. stimmen dieser Analyse zu. Nur über das Wie wird ge- stritten. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Erst einmal melden sich die üblichen verdächtigen Grabenkämpfer, und zwar Herr Rogowski für den BDI Wenn Sie noch etwas Glaubwürdigkeit hätten, dann und Herr Putzhammer für den DGB. Beide erzählen erst müssten Sie die Wahrheit eingestehen, dann muss der Fi- einmal, was nicht geht. Dies symbolisiert genau das Pro- nanzminister von seinem Posten zurücktreten und dann blem, welches ich beschreibe. Es gibt in dieser Angele- müssen Sie hier einen Haushalt mit einer Finanzplanung genheit nur noch Grabenkämpfe. Es wird nicht wirklich vorlegen, die tatsächlich in der Lage ist, das wirtschaft- darüber nachgedacht, wie man diese Umstrukturierung liche Wachstum in Europa und vor allem in Deutschland erreichen kann. zu befördern, und sie nicht abwürgt. Jetzt kommen wir zu den Mehrheiten: Irgendjemand Herzlichen Dank. hat versucht, intelligent zu sein, und den Zwischenruf ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) macht, wir hätten ein Einnahmeproblem, weil Steueraus- fälle aufgetreten seien. Wenn es aber ein Einnahmepro- blem ist, frage ich Sie: Wie kommen Sie eigentlich im Vizepräsidentin Susanne Kastner: Wahlkampf auf die Idee, von Steuersenkungen zu spre- Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, chen? Können Sie mir das einmal erklären? Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weil wir die Einnahmen erhöhen wollen! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wissen Sie haben es noch nicht begriffen und Sie wer- Sie, Herr Thiele, mir geht es wie Ihnen: Auch ich wünsche den es auch nicht begreifen!) mir einen ehemaligen Abgeordneten zurück, aber nicht Herrn Metzger, sondern Herrn Lambsdorff. Jede Oma kann sich während des Strickens zusammen- puzzeln, dass man, wenn Deutschland ein Einnahmepro- (B) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Den wünsche ich blem hat, wie Sie feststellen, nicht noch die Steuern sen- (D) mir auch zurück!) ken kann. Das wissen Sie so gut wie ich. Dessen Kurzintervention von vor über sechs Jahren habe Wer hat denn im letzten Jahr hier gestanden und An- ich noch gut im Ohr. Damals meinte er, die fetten Jahre träge zur Erhöhung des laufenden Haushalts gestellt, weil seien vorbei, man müsse umsteuern. Dies haben Sie ver- er meinte, wir müssten noch irgendwo etwas drauf- säumt, als Sie noch an der Regierung waren. packen? Die CDU/CSU-Fraktion kam mit einem Wust von Haushaltserhöhungsanträgen an, die niemals finan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zierbar gewesen wären. und bei der SPD) Wie lautet denn die Bilanz der letzten drei oder vier Die Misere, die wir auch hier in Deutschland haben, ist Jahre? – Die Neuverschuldung wurde massiv reduziert; tatsächlich hausgemacht. Deren Geschichte aber ist über das wissen Sie so gut wie wir. Sie machen hier nur ein 30 Jahre alt. Wir haben uns diese sozialen Sicherungs- bisschen Stimmung. systeme mit ihrer Konjunkturanfälligkeit geleistet, die jetzt unter der schwachen Konjunktur leiden. Wer hat (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmung?) denn geahnt, dass die Weltkonjunktur so stark einbrechen Sie haben Angst. Sie haben ein Problem: Sie haben in der würde, wie es nach den Attentaten im September letzten letzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gemerkt, Jahres geschehen ist? dass die Menschen eigentlich ein großes Vertrauen in die (Zurufe von der CDU/CSU und FDP) Finanzpolitik von Finanzminister Eichel und der rot-grü- nen Koalition haben. – Erzählen Sie doch nichts! Das haben Sie nicht geahnt. (Lachen bei der CDU/CSU) Das Problem ist doch, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu behäbig geworden ist und als schwerfäl- Sie versuchen jetzt, dies zu erschüttern, weil auch in liger Tanker nicht mehr in der Lage ist, diese Konjunk- schwieriger Zeit der Kurs gehalten wird. turanfälligkeit wirklich auszugleichen. Das ist das Kern- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: problem, über das wir alle reden. Theoretisch könnten wir Das ist Bewusstseinstrübung!) es auch mit Ehrlichkeit versuchen, aber dazu haben Sie in Wir hätten es uns leicht machen können; das haben wir der Aktuellen Stunde natürlich keine Lust. Dies interes- aber nicht getan. Sie weiden sich mit Häme an der Situa- siert Sie auch überhaupt nicht. tion, weil Sie froh sind, endlich die Gelegenheit zu haben, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie doch nicht!) uns anzugreifen. Die ganzen vier Jahre hat es Sie ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 585

Antje Hermenau (A) wurmt, dass wir eine bessere Finanzpolitik gemacht ha- Lassen Sie sich von den Vertretern der Opposition bloß(C) ben als Sie. nichts erzählen. Die haben es wirklich nicht besser ge- macht. (Lachen bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Das Gegenteil ist der – Natürlich ist das der Fall. Die Zahlen sind eindeutig. Fall!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kriegen das hin. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt nutzen Sie die schwierige Situation – das ist Ihre und bei der SPD) Rolle als Opposition –, um mit Häme darüber hinwegzu- gehen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Karneval hat Vizepräsidentin Susanne Kastner: zwar angefangen, wir brauchen aber keine Büt- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, tenrede zur Finanzpolitik!) CDU/CSU-Fraktion. – Herr Kampeter, ich kenne diese laute Stimme und die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ses Gebrüll. Dr. Günter Rexrodt [FDP]) Der Versuch, das Vertrauen zu erschüttern, das wir er- worben haben, ist jetzt, da wir uns in einer solch schwie- Ilse Aigner (CDU/CSU): rigen Lage befinden, möglicherweise erfolgreich. Aber Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- auch Frankreich bekommt im nächsten Jahr einen blauen nen und Kollegen! Ich habe der Debatte aufmerksam zu- Brief aus Brüssel. gehört. Es war von pastoralen Klängen bis hin zu ziemli- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihr Realitäts- chen Wutausbrüchen ob der Lage alles da, aber bei der verlust ist groß!) Beschreibung der heutigen Situation ist vieles verschönt, vertuscht und vernebelt worden. Frankreich wird übrigens konservativ regiert, wenn ich daran erinnern darf. Auch Frankreich hat die Konjunktur- Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Re- prognosen für das nächste Jahr nach unten korrigiert. gierungsfraktionen, eines habe ich festgestellt: Sie ver- weisen noch heute – wir schreiben 2002 – auf 16 Jahre, Wenn Sie sich das alles auf der Zunge zergehen lassen, die schon weit zurückliegen, und verschweigen immer die werden Sie erkennen, dass Sie sich an die eigentlicheletzten vier Jahre, Kerndiskussion nicht herantrauen. Sie plustern sich auf, (B) erzählen etwas von einem Haushaltssicherungsgesetz und (Walter Schöler [SPD]: Das hätten Sie gern!) (D) denken, damit könnten Sie die Menschen beeindrucken. in denen offensichtlich vieles falsch gemacht wurde, Damit ist aber gemeint, dass Sie in die sozialen Siche- rungssysteme eingreifen wollen, statt sie zu reformieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Alles!) Sie wollen einfach nur Einschneidungen vornehmen. denn sonst wäre die heutige Situation nicht eingetreten. Diese Fraktion macht es sich besonders schwer, ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- soziale Verantwortung wahrzunehmen, und versucht neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wir reden wirklich, dies auszubalancieren. Das heißt: Wir brauchen immer noch von 1990, 1991, 1992!) Zeit. Es muss eine Differenzierung vorgenommen wer- den. Alle großen und wichtigen Bevölkerungsgruppen Es zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ihre Politik, sollen berücksichtigt werden. dass immer alle anderen schuld sind – nur nicht diejeni- gen, die momentan an der Regierung sind. Dieses Muster (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deswegen Eil- kennen wir ja schon von früher; tempo! Deswegen Gesetze im Eilverfahren!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das kennen wir von Der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Wir haben mit den Re- früher!) formen noch nicht begonnen. Es gibt aber eine Kommis- sion und im nächsten Jahr wird es auch Reformen geben. ich kann mich noch gut daran erinnern. Noch vor 1998 gab es einen Ministerpräsidenten; der hieß Schröder. Er (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Kommission ist hat immer darauf verwiesen, es seien die makroökonomi- gut! Wir brauchen eine Kommission!) schen Bedingungen, die ihn so daran hinderten, ein guter Wir müssen durchhalten. Das ist zu schaffen, auch mit Ministerpräsident zu sein, und er werde alles ändern, diesem Haushalt. Sie kennen die Zahlen so gut wie ich. wenn er Bundeskanzler ist. Vier Jahre hatte er jetzt und al- Also denke ich: Wir machen so weiter, les schaut ziemlich neblig und schlecht aus. Die Kon- junktur- und die Wirtschaftsprognosen gehen stark nach (Zuruf von der FDP: Sie machen so weiter? unten. Ich brauche nicht alles zu wiederholen, was schon Um Gottes Willen!) gesagt worden ist. denn das ist die richtige Politik: erst konsolidieren und Ich will Ihnen nur ein Schmankerl aus der Steuerschät- dann modernisieren. Es müssen alle zusammen stehen. zung vortragen, weil die Frau Kollegin Hermenau darauf (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Wir brauchen eine verwiesen hat, wir hätten ein Einnahmeproblem. Ich kann Kommission!) mich noch gut an die Diskussionen zur Steuerreform 2000 586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Ilse Aigner (A) erinnern, als wir gesagt haben, dass die Steuerreform struk- Die Sachverständigen fordern weiter: Die Lohnnebenkos- (C) turell falsch angelegt ist, insbesondere was die Körper-ten müssen gesenkt werden. – Jetzt schaue ich in die Rei- schaftsteuer und die Benachteiligung der mittelständischen hen von Bündnis 90/Die Grünen. Ihre jungen Mitglieder Betriebe betrifft. Die Zahlen der Steuerschätzung muss man haben sich ja nicht durchsetzen können. Sie haben Recht: sich auf der Zunge zergehen lassen. Wir hatten Körper-Es fehlt an einer Strukturreform im Rentenbereich. Für schaftsteuereinnahmen von mehr als 23 Milliarden Euro. diesen Bereich jetzt die Lohnnebenkosten anzuheben ist mit Sicherheit falsch. Es liegt an der Struktur. Wir hatten (Joachim Poß [SPD]: Hoffentlich kennen Sie das Problem schon 1998 angepackt. auch die Zusammenhänge, Frau Kollegin!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heute ist dieser Betrag auf 850 Millionen Euro gesunken. Von Ihnen ist es wieder zurückgenommen worden. (Joachim Poß [SPD]: Erklären Sie doch mal, warum das so ist!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vielleicht sollte man einmal eine andere Einnahmeposi- tionen dagegen stellen, damit die Größenordnungen klar Weitere Punkte sind – ich kann sie nur noch vorle- werden: Die Einnahmen aus der sehr wichtigen Bier-sen –: mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich durch steuer, die in Bayern, wo ich herkomme, sehr beliebt ist, Reform der Sozialhilfe, mehr Flexibilität auf dem Ar- beitsmarkt – Sie tun das genaue Gegenteil –, dezentrale (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Die Steuer nicht! – Lohnfindung ermöglichen, Kündigungsschutz lockern Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das Bier ist und vieles mehr. Alle Punkte, die hier aufgeführt sind, beliebt, die Steuer nicht!) sind das genaue Gegenteil der Politik, die Sie in den letz- sind mittlerweile fast so hoch wie die Einnahmen aus der ten vier Jahren gemacht haben. Das Schlimme ist: Sie Körperschaftsteuer, nämlich 815 Millionen Euro. Ichwerden offensichtlich in den nächsten vier Jahren Ihre Po- könnte noch eines draufsetzen, wenn ich den Anteil des litik fortsetzen. Bundes an der Körperschaftsteuer in Höhe von 425 Mil- (Joachim Poß [SPD]: Das schmerzt!) lionen Euro den Einnahmen des Bundes aus der Schaum- weinsteuer in Höhe von 450 Millionen Euro gegenüber- Sie werden den Karren noch weiter in den Dreck fahren. stelle. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer liegen Ich hoffe, wir werden das ändern können. heute unterhalb der Einnahmen aus der Bier- und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schaumweinsteuer.

Mir ist noch etwas aufgefallen, sehr geehrte Kollegin- Vizepräsidentin Susanne Kastner: (B) nen und Kollegen: Sie verweisen immer darauf, Sie hätten (D) Ihre Planungen auf die Meinungen der Sachverständigen Das Wort hat der Kollege Ortwin Runde, SPD-Frak- gestützt. Eines aber tun Sie nie: Sie hören nicht auf das, tion. was die Sachverständigen in ihren Gutachten schreiben. (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Jetzt kommt das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hanseatische Element!) neten der FDP) Ich will Ihnen einige der 20 Punkte aus dem Sachverstän- Ortwin Runde (SPD): digengutachten der fünf Wirtschaftsweisen einfach vorle- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr sen. Laut „SZ“ werden diese Posten mittlerweile partei- Thiele, wenn man das Wort „Glaubwürdigkeit“ zu oft in politisch besetzt. Das kann ich nicht nachvollziehen, aber den Mund nimmt, dann besteht natürlich die Gefahr, dass die „SZ“ schreibt ja immer richtige Dinge. dieser Maßstab an einen selbst angelegt wird. Wenn man (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Nicht immer!) das bei Ihnen und Ihrer Partei macht, dann muss man sa- gen: Glaubwürdigkeit entsteht aus glaubwürdigem Han- Ich kann nicht alle Punkte vorlesen, dazu wird die Zeit deln. Ökonomisches Handeln beginnt zu Hause. nicht reichen. Diese Sachverständigen schreiben Folgen- des: Bei der derzeitigen Lage ist es wichtig, die Steuer- (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ sätze weiter zu senken. – Sie tun das Gegenteil. Dann DIE GRÜNEN]) heißt es: Die Staatsaufgaben sind zugunsten privater Ak- Schauen Sie sich einmal an, wie sich das bei Ihren tivitäten zurückzuführen. – Sie tun auch hier das Gegen- Parteikassen verhält. teil. Ich will nur ein Beispiel nennen: Sie strangulieren die Zeitarbeitsfirmen und führen auf der anderen Seite mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den PSA, den Personal-Service-Agenturen, eine staatli- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – che Organisation ein. Damit verhindern Sie wirtschaftli- Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wuppertal ches Wachstum auch auf diesem Sektor. Sie tun das ge- lässt grüßen!) naue Gegenteil von dem, was das Gutachten empfiehlt. Ökonomisches Handeln setzt sich natürlich auch auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der gesamtstaatlichen Ebene fort. Sie müssen sich einmal neten der FDP) die Höhe der Verschuldung und insbesondere die der Schuldzinsen anschauen, die Sie uns 1998 hinterlassen Ferner steht dort: Die Verschuldung muss gesenkt werden. haben. Jede vierte D-Mark wurde damals für Schuldzin- – Sie erhöhen sie in diesem Jahr auf 35 Milliarden Euro. sen aufgewandt. Vier Jahre später ist es nur noch jede Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 587

Ortwin Runde (A) fünfte D-Mark. Schauen Sie sich auch einmal die Höhe Was wir brauchen, sind verlässliche Grundlagen für die (C) der Sozialabgaben an, die Sie uns hinterlassen haben. Ihren Besteuerung. höchsten Stand haben die Sozialabgaben wegen der (Beifall bei der SPD) falschen Finanzierung der deutschen Einheit 1998 erreicht. Diesbezüglich haben wir eine Reihe von Maßnahmen ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geleitet; ich nenne nur die Bekämpfung des Missbrauchs DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: bei der Umsatzsteuer oder die Begrenzung der Verrech- Das hat doch schon einen so langen Bart! Das nung von Verlusten mit aktuellen Gewinnen bei der Kör- haben wir schon 20-mal gehört!) perschaftsteuer. Nach den Aussagen von Frau Aigner bin Vorhin habe ich den großen Seher Austermann reden ich sehr gespannt, wie Sie sich verhalten werden. Ich gehe gehört, den eines mit den großen Sehern der Antike ver- davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass das Auf- bindet: In den eigenen Reihen hat er nie Anerkennung ge- kommen aus der Körperschaftsteuer wieder berechenbar funden und ihm wurde nie geglaubt. Denn wenn er vor an- gemacht werden muss und dass Sie konstruktiv daran mit- derthalb Jahren tatsächlich gewusst hat, wie die Situation wirken. heute sein wird, dann verstehe ich das Wahlprogramm und (Beifall bei der SPD) all die Wahlversprechen der CDU/CSU nicht. Wir haben mit dem Abbau von Steuervorteilen auch die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stabilisierung der steuerlichen Grundlagen eingeleitet. DIE GRÜNEN) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Steuererhö- Wenn er sagt, es sei ja schon zu Jahresbeginn erkennbar hungen und nichts anderes!) gewesen, dass die Stabilitätskriterien verfehlt würden, dann frage ich mich: Wieso hat er dann Herrn Stoiber den Die Opposition ist jetzt gefordert, zu den Vorschlägen, die Rat gegeben, den Differenzbetrag, wir gemacht haben, konstruktiv Stellung zu beziehen oder eigene konkrete Vorschläge einzubringen. (Joachim Poß [SPD]: Von 2,7 auf 3!) In den Ländern und Gemeinden wird man Ihre Posi- der zur Einhaltung der 3-Prozent-Marke fehlt, für Wahlver- tion, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht sprechen einzusetzen? Das kann ich nicht nachvollziehen. lange hinnehmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) DIE GRÜNEN) Man wird dort Ihre Position nicht verstehen; denn es geht Auch ich habe mir über viele Jahre angesehen, wie es nicht allein um die Bundesfinanzen, sondern in gleichem sich mit den Steuerschätzungen verhält. Herr Thiele hat (B) Umfang um die Finanzen der Länder und der Kommunen. (D) völlig Recht, wenn er sagt, es gebe eine Konstante, näm- Diese Aufgabe müssen wir gemeinsam angehen und ge- lich dass die Steuerschätzungen nie gestimmt hätten. Das meinsam lösen. gilt für die letzten anderthalb Jahrzehnte. Diese Feststel- lung ist völlig richtig. Man kann auch feststellen, in wel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che Richtung die Steuerprognosen abgewichen sind: Im DIE GRÜNEN) Aufschwung wurden die Steuereinnahmen unterschätzt, Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir auf der während sie im Abschwung überschätzt wurden. Hier einen Seite bei der Festigung der Steuergrundlagen, bei kann man eine richtige Gesetzmäßigkeit erkennen. der Haushaltskonsolidierung Kurs halten müssen, Während der Amtszeit von Herrn Waigel fiel das Gesamt- resultat so schlecht aus, dass es noch nachträglich berech- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind tigt wäre, seinen Rücktritt zu fordern. Steuererhöhungen, Herr Kollege !) (Joachim Poß [SPD]: Aber wir verzichten da- dass wir auf der anderen Seite aber nicht die weltwirt- rauf!) schaftlichen Gegebenheiten übersehen dürfen. Das alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wachstum för- Eichel hatte mehr Glück, weil er von den Prognosen öfter dern wollen. positiv als negativ überrascht wurde. Aber das hängt schlicht und einfach mit dem Konjunkturverlauf zusam- men. Vizepräsidentin Susanne Kastner: Bei der Frage der Steuerlast muss man unter volks- Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. wirtschaftlichen Gesichtspunkten eines berücksichtigen: Die Steuerlastquote, die 2002 bei 20,77 Prozent liegt (SPD): – nach der Steuerschätzung wird sie 2003 voraussichtlich Ortwin Runde bei 20,99 Prozent liegen –, ist die niedrigste in der deut- Hier gilt es, einen geeigneten Mix von Maßnahmen schen Nachkriegsgeschichte. durchzuführen. Vorschläge hierzu haben wir mit dem Ent- wurf des Haushaltsplans unterbreitet. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist doch völlig falsch!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Welchen Haushaltsentwurf denn?) Das ist nach den USA und Japan international die nied- rigste Steuerlastquote. Das muss man feststellen, wenn Hierüber sollten wir uns ernsthaft auseinander setzen; man sich die Gegebenheiten genau anschaut. denn die Situation ist in der Tat dramatisch. 588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Ortwin Runde (A) Schönen Dank. Das basiert auf verlässlichen Zahlen aus dem Jahr 2001. (C) Warum haben Belgien, Dänemark und Großbritannien (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vollbeschäftigung? Warum hatten im letzten Jahr mehr DIE GRÜNEN) als die Hälfte aller EU-Länder einen ausgeglichenen Haushalt? Die Antwort ist klar; sie steht in der „Financial Vizepräsidentin Susanne Kastner: Times Deutschland“ und im Gutachten. Ich zitiere die Herr Kollege Runde, ich gratuliere Ihnen im Namen aller „Financial Times Deutschland“, die heute schreibt: Kolleginnen und Kollegen zu Ihrer ersten Rede in diesem „Eichel fehlt der Blick für die gesamte Ökonomie.“ Hohen Hause und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) (Beifall) Ich könnte es abändern: Der neuen Bundesregierung fehlt Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt,dieser Blick. CDU/CSU-Fraktion. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Auch Schröder- Schröpf!) Otto Bernhardt (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, auf Steuerausfälle reagiert Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! niemand auf der Welt so wie Sie, nämlich mit Steuererhö- Zurück zu den grausamen Tatsachen. hungen. Kein Nationalökonom empfiehlt dieses Konzept. Das ist genau der verkehrte Weg. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland ist Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Ent- wicklung in Europa. Sie sprechen hier von sozial. Dazu kann ich nur sagen: Diese Politik ist nicht sozial, sie hat uns eine steigende Ar- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) beitslosigkeit gebracht. Sozial ist eine Politik, durch die Das haben gestern die fünf Weisen noch einmal mit aller die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Deutlichkeit festgestellt. Was wahrscheinlich genauso schlimm ist: Gemeinsam mit Japan sind wir, so steht es (Joachim Poß [SPD]: Vergleichen Sie mal das in dem Gutachten, bei der wirtschaftlichen Entwicklung Jahr 2003 mit dem Jahr 1998!) aller Industriestaaten der Welt auf den letzten Plätzen. Das Deshalb kann der richtige Weg nur sein, dass Sie das, ist die aktuelle Situation. was wir in unserem Regierungsprogramm geschrieben (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!) haben, aber leider nicht verwirklichen können, umsetzen: Sie müssen den Arbeitsmarkt liberalisieren. Sie müssen (B) (D) Ich stelle fest: Früher haben Sie die Schuld für diese Ausgaben streichen und dürfen keine Steuern erhöhen. Entwicklung immer bei der alten Bundesregierung ge- sucht – das war die berühmte Altlast –, heute hat das nur (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig! – Zurufe noch Herr Runde versucht. Er ist neu in diesem Hause. von der SPD: Welche denn? – Beispiele!) Die anderen Kollegen wissen, dass man hier mit dieser Sie stellen sich hier hin und sagen, dass die Länder Platte keine Chance mehr hat. 55 Prozent der Verschuldung mittragen. Das Problem ist (Joachim Poß [SPD]: Falsche Weichenstellun- aber, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Wesent- gen 1990) lichen in diesem Hause bestimmt wird. Richtig ist, dass Sie regieren seit vier Jahren. Wir diskutieren jetzt über die die CDU-regierten Länder mit der schlechten Politik der Ergebnisse Ihrer vierjährigen Verantwortung. Bundesregierung deutlich besser fertig geworden sind. Das unterstreichen alle Zahlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der zweite beliebte Punkt, auf den Sie immer wieder hinweisen – Kollege Runde und andere haben das auch Meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb eben wieder angesprochen –, ist die Weltwirtschaft.kann ich abschließend nur den Rat geben: Machen Sie Natürlich hat die Weltwirtschaft Einfluss auf die Ent-eine Kehrtwendung, reagieren Sie auf Steuerausfälle rich- wicklung in Deutschland; das bestreitet niemand. Aber tig und reagieren Sie nicht, wie Sie es zurzeit tun, nämlich die entscheidende Frage ist doch: Warum werden andere wie ein ängstlicher Buchhalter, sondern reagieren Sie wie europäische Länder mit den gleichen Rahmenbedingun- ein weitsichtiger Finanzpolitiker. gen deutlich besser fertig als wir? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Gucken Sie mal Vizepräsidentin Susanne Kastner: genauer hin!) Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler, Warum haben Italien, Frankreich und Großbritannien im SPD-Fraktion. letzten Jahr ein dreimal so hohes Wirtschaftswachstum gehabt wie wir? (SPD): (Joachim Poß [SPD]: Dann haben Sie die letz- Walter Schöler ten Zahlen in der Abrechnung nicht zur Kennt- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nis genommen!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es könnte Ih- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 589

Walter Schöler (A) nen so passen, die 16 Jahre Ihrer Regierung einfach in Ver- nahmen und Einschnitten. Das haben auch die Demonstra- (C) gessenheit zu bringen. tion am Brandenburger Tor in den vergangenen Tagen be- stätigt. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Jetzt fängt er auch wieder an!) Wir verbessern auch die Einnahmeseite durch die Ver- breiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen und Das hätte Ihnen auch am 22. September gepasst. Es ist Ih- durch den Abbau unnötiger Steuervorteile. nen aber nicht gelungen; das ist gut so. Das Konzept, das Sie vorher verkündet haben, war nämlich ein reines Kon- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das heißt, Steuer- zept für Schuldenmacherei in den nächsten Jahren und erhöhungen!) nichts anderes. Dieses Konzept kannten die Bürgerinnen – Das ist im Übrigen auch ein Angebot an die Länder und und Bürger und sie haben es Ihnen nicht mehr abgenom- Gemeinden, deren Einnahmebasis damit verbessert wer- men. den kann, Herr Thiele. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und mit welcher DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Zuwachssteuer?) Das trifft nicht den Kern, Herr Kollege!) Die unionsgeführten Bundesländer müssen sich des- Die Grundlagen für den Riesenberg an Arbeitslosen, halb sehr wohl überlegen, ob sie es gegenüber den Bürge- der leider auch heute noch da ist, haben Sie in den 16 Jah- rinnen und Bürgern verantworten können, unser Konsoli- ren geschaffen. dierungskonzept aus kurzsichtigen parteitaktischen (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Wir haben heute Überlegungen abzulehnen. mehr Arbeitslose, als Sie übernommen haben! – Die aktuellen Steuerschätzungen liegen erheblich un- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie wollten sich an ter dem Ergebnis der Mai-Schätzung. Aber zur richtigen der Arbeitslosenzahl messen lassen!) Bewertung muss daran erinnert werden, dass der Arbeits- Auch den Schuldenberg haben Sie geschaffen. Ihnen,kreis „Steuerschätzungen“ kein Gremium der Bundesre- Herr Kollege Bernhardt, der Sie eben einen internationa- gierung ist. Ihm gehören nämlich auch Vertreter der len Vergleich – allerdings nicht mit den neuesten Zahlen – Länderfinanzministerien – darunter auch die der unions- gebracht haben, kann ich nur sagen: Die Weichenstellung, regierten Länder – und der Wirtschaftsforschungsinstitute die Sie 1990 vorgenommen haben, war falsch. Die Folgen an. In diesem Arbeitskreis werden mit Sicherheit keine werden uns noch mindestens die nächsten 15 Jahre be- Gefälligkeitsschätzungen für die Regierung produziert, gleiten. wie bei der Mai-Schätzung von manchen unterschwellig gemutmaßt worden ist. (B) (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir werden diese schultern müssen. Wir müssen aber da- rauf hinweisen, dass wir im Vergleich zu anderen Staaten Der Arbeitskreis kann sicherlich für sich in Anspruch zusätzliche Lasten zu tragen haben. Auch darüber reden nehmen, die Steuerschätzungen im Mai nach bestem Wis- Sie heute nicht mehr. sen und Gewissen vorgenommen zu haben. Seine damali- gen Annahmen sind allerdings nicht eingetroffen; viel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr hat er sich geirrt und sich nun korrigiert. Ich will DIE GRÜNEN Joachim Poß [SPD]: Das steht keine Vergleiche heranziehen, aber das erinnert mich an auch in dem Gutachten!) manche Aussagen der Demoskopen vor Wahlen. Sie von Vor vier Jahren haben wir eine klare Kehrtwendung zu der Opposition haben deren Aussagen wochen- und mo- Ihrer Politik in den 16 Jahren vollzogen und natelang sehr interessiert verfolgt und sahen sich schon hat eine Haushaltskonsolidierung begonnen, die zu sei- auf der Regierungsbank. nem Markenzeichen geworden ist. Konsolidieren und Ge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Haffa- stalten – das ist die Leitlinie unserer Finanzpolitik. Das Brüder sitzen auf der Anklagebank und Sie auf galt für die letzte Legislaturperiode und das gilt genauso der Regierungsbank! Es ist ungerecht im Le- für die vier Jahre, die vor uns liegen. Unser Ziel bleibt im ben! – Joachim Poß [SPD]: Die haben auch Übrigen unverrückbar: 2006 wollen wir einen ausgegli- schon alle Posten verteilt! Das ist das Problem!) chenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung – auch ohne einen Euro Nettokreditneuaufnahme – vorlegen. Dieselben Demoskopen haben Ihnen sicherlich nach dem 22. September erklärt, warum es anders gekommen ist. (Beifall bei der SPD – [Bay- Ich vermute, Sie haben ihnen sogar noch ein Honorar reuth] [FDP]: Das glaubt ihr auch noch!) dafür gezahlt. Wir geben zu, dass es sicherlich schwieriger geworden ist, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das zu erreichen; das zeigt auch die Steuerschätzung. Wir Wenn die Opposition und auch Teile der Medien nun halten dennoch an unserem Ziel fest und wir haben mit behaupten, die rot-grüne Koalition habe die Bürgerinnen unserem Konsolidierungspaket sofort gegengesteuert. und Bürger vor der Wahl getäuscht – Sie haben noch ganz Im Übrigen war es nicht möglich, schneller Konse- andere und meines Erachtens teilweise üble Formulierun- quenzen zu ziehen, als wir es getan haben, um die Min- gen gebraucht; Sie sollten einmal Ihre eigenen Reden im dereinnahmen weitestgehend aufzufangen. Wir senken Protokoll nachlesen –, dann ist das falsch. Dabei handelt die Ausgaben und haben auch Mut zu unpopulären Maß- es sich um billigen Populismus. Wir haben nie behauptet, 590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Walter Schöler (A) dass die November-Schätzung keine Mindereinnahmen Schön, dass Herr Diller noch im Saal ist. Wird er deshalb (C) ergeben werde. geschickt, weil Herr Eichel seit einigen Tagen der Lügen und des Betrugs überführt ist? (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie haben aber gesagt, dass es keine Steuererhöhungen ge- (Widerspruch bei der SPD – Walter Schöler ben wird!) [SPD]: Rexrodt her! Der Aufklärer her!) Wir haben vielmehr gesagt, dass die Schätzung abzuwarten Herr Diller, sind Sie damit beauftragt worden, mitzutei- bleibt und dass wir unabhängig vom Ergebnis auf jeden Fall len, dass Sie an Steuererhöhungen festhalten? an unserem Konsolidierungskurs festhalten werden. Wenn sie an das Vertrauen appelliert, muss ich die Kol- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In welcher legin Hermenau fragen: Was haben Sie der deutschen Be- Welt leben Sie eigentlich?) völkerung vor der Wahl alles versprochen? Genau das machen wir mit dem Paket, das in diesen Ta- (Widerspruch bei der SPD – Dr. Reinhard gen präsentiert und verabschiedet wird. Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ha- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Soll das eine ben das Blaue vom Himmel versprochen! – Drohung sein?) Joachim Poß [SPD]: Sie! Sie haben Versprechun- gen gemacht!) Schließlich waren es nicht wir, die vor der Wahl völlig unfinanzierbare Versprechen gemacht haben, sondern Sie Herr Metzger hat – Herr Thiele hat zu Recht darauf hin- von der Opposition haben das Blaue vom Himmel herun- gewiesen – vorgestern in der Sendung „Frontal 21“ fest- ter versprochen. Allein die von Ihnen vorgesehenen Steu- gestellt: ervergünstigungen hätten doch 70 bis 80 Milliarden Euro In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter re- pro Jahr mehr gekostet. Nun aber rufen Sie: „Haltet den gieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung Dieb!“ und wollen davon ablenken, dass uns Ihre finanz- und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterre- politische Unseriosität an den Abgrund geführt hätte – gieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit. Herr Metzger hat Ihnen selbst gesagt: Sie haben Deutsch- Vizepräsidentin Susanne Kastner: lands Bevölkerung bewusst angelogen. Herr Kollege Schöler, denken Sie bitte an Ihre Rede- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zeit! Joachim Poß [SPD]: Das ist glatt gelogen!) – Herr Poß, wenn es glatt gelogen ist, dann fordern Sie (B) Walter Schöler (SPD): ihn gerichtlich auf, diese Bemerkung zurückzunehmen. (D) – gerne, Frau Präsidentin –, an dem Sie sich heute in meh- Das können Sie innerhalb Ihrer Koalition klären. Brin- reren Reden hin und her bewegt haben. Bewegen Sie sich gen Sie das auf die Reihe! Es steht Aussage gegen Aus- weiter an diesem Abgrund und machen Sie zwischendurch sage. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir das nicht bieten gelegentlich Urlaub! Wir werden handeln und regieren und lassen. wir werden das mit dem Haushalt 2003 auch beweisen. Auch die Kollegin Scheel ist nicht mehr da. In einer Fi- Danke schön ! nanzdebatte hat sie genauso wie der Finanzminister an- wesend zu sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen (Krista Lager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kampeter [CDU/CSU]: Keine Drohungen!) Wo ist denn Ihre Fraktionsvorsitzende?) Das gehört zum guten Ton. Wahrscheinlich verkündet sie Vizepräsidentin Susanne Kastner: gerade draußen – das macht sie öfter –: Wir brauchen doch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Gleiches gilt bei der Das Wort hat der Kollege Norbert Schindler,Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer. CDU/CSU-Fraktion. Vorhin wurde gesagt, es gebe keine Steuererhöhungen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Ich bin gespannt, was Sie in Ihrem Giftschrank für CDU/CSU: Jetzt wird es endlich mal wieder Deutschland noch alles auf Lager haben, Stichwort Öko- sachlich! – Walter Schöler [SPD]: Jetzt kommt steuer. Sie machen Ankündigungen in der Hoffnung, Schindlers Liste!) Deutschlands Wirtschaft anzukurbeln. Man glaubt Ihnen schlicht und ergreifend nicht mehr. Haben Sie denn das Norbert Schindler (CDU/CSU): nicht begriffen? Wenn das so weitergeht, liegen Ihre Um- fragewerte bald bei null. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schöler, glauben Sie das, was Sie heute gesagt haben, ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gentlich selber? neten der FDP) (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Krista Sager Ich komme zur Hartz-Kommission. Wir werden noch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ein darüber reden, wie man versucht, damit eine positive toller Einstieg! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Stimmung zu erzielen. Folgendes Motto ist bei Ihnen an- Oberlehrer, das war bombig!) scheinend Methode geworden: links gewählt, grün ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 591

Norbert Schindler (A) lebt, schwarz gearbeitet und sich dann blau-gelb geär- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): (C) gert. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist etwas durch- Zuschauerinnen und Zuschauer darf ich sagen: Ich bin einander!) Mitglied der PDS. In dieser Verantwortungslosigkeit setzen Sie den Ich bin zwar noch neu im Deutschen Bundestag, aber Standort Deutschland in Europa aufs Spiel und untergra- ich bin schon etwas verwundert, dass es der Finanzminis- ben die Stabilität des Euro. Wir sind die führende Wirt- ter einen Tag nach der Steuerschätzung nicht für nötig be- schaftsnation in Europa. Ich erinnere an die Stabilitätskri- findet, während einer Debatte über die Haushaltssituation terien, die wir damals mit Theo Waigel unter demeine Stunde im Deutschen Bundestag zu verbringen. Das Wortschwall Ihrer Ministerpräsidenten, die heute zum befremdet mich doch sehr. Teil hier sitzen oder sitzen müssten, gefordert haben. Herr Eichel hat für das laufende Jahr eine Neuver- Diese haben wir eingehalten. schuldung des Bundes in Höhe von 35 Milliarden Euro Die damalige CDU/CSU- und FDP-Regierung hat die angekündigt. Das bedeutet: 35 Milliarden Euro Nettokre- deutsche Einheit geschultert und gemeistert. Wir haben ditaufnahme. Geplant war ursprünglich eine Nettokredit- sie gewollt; wir haben sie auch mit Schulden finanziert. aufnahme des Bundes in Höhe von 21,1 Milliarden Euro. Auf diese Schulden bin ich stolz. Da haben Sie sich also locker um 13,9 Milliarden Euro verschätzt, einfach so! Herr Runde, Ihnen kann ich nur sagen: Gehen Sie nicht in Hamburg in der Hafenstraße spazieren. Schauen Sie Sie erklären das Finanzloch – so haben auch die Red- sich die Zahlen der deutschen Entwicklung der letzten ner der Koalitionsfraktionen argumentiert – mit dem viel zehn bis zwölf Jahre an. zu geringen Wachstum, mit dem Anstieg der Arbeits- losigkeit und damit, dass man die konjunkturelle Ent- (Joachim Poß [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen wicklung so nicht habe voraussehen können. Ich denke kennt er sich mit Zahlen aus!) aber, dass man die gigantischen Haushaltslöcher nicht Wir haben in den 16 Jahren unserer Regierung verant- ausschließlich mit der Konjunktur erklären und entschul- wortungsvolle Finanzpolitik gemacht. Hamburg lässtdigen kann. Das stimmt nicht. Das ist selbst verschulde- grüßen. Warum sind Sie dann abgewählt worden? Diese tes Elend. Frage müssen Sie erst einmal beantworten. Die Steuerschätzung ist ein niederschmetterndes Zeug- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nis für den Finanzminister – er ist nicht anwesend – und die gesamte Bundesregierung. Sie ist ein Zeugnis für die Weil ich nur fünf Minuten Redezeit habe, stelle ich ab- (B) verfehlte Steuerpolitik der Bundesregierung in der letzten (D) schließend fest: Sie verhalten sich wie Lemminge, die auf Wahlperiode. Die großen Aktiengesellschaften wurden den Abgrund zusteuern. Sie sind sich dessen bewusst, von Rot-Grün massiv steuerlich entlastet und bekamen aber tun es trotzdem. Anders ausgedrückt: Vor der Wahl – oh Wunder; es wurde beklagt bzw. erstaunt zur Kennt- waren wir in Deutschland vor dem Abgrund. Heute sind nis genommen – von den Finanzämtern sogar Geld zu- wir einen großen Schritt weiter. Deutschland kennt nun rück. Das hätte man vorher berechnen können! den Unterschied zwischen Rot-Grün und einem Telefon- häuschen: Wenn man in ein Telefonhäuschen hineingeht, Ihre Jahrhundertsteuerreform, meine Damen und Her- muss man erst zahlen und darf dann wählen. Das haben ren von Rot-Grün, sollte die Konjunktur ankurbeln. Doch die Leute begriffen. Bei Ihnen wird erst gewählt und dann offensichtlich tun die großen Unternehmen nicht das, was abgezockt. Sie verfahren in einer Art und Weise, dass wir Sie von ihnen erwartet haben. Sie kurbeln nicht an. Sie in- weiterhin das Schlusslicht bleiben werden. Herr Staatsse- vestieren einfach nicht in neue Jobs. Die, die bisher in kretär Diller, wir sind nicht mehr Klassenletzter; wir sind neue Jobs investiert haben, die kleinen und die mittleren sitzen geblieben. Diese Aussage hätten Sie heute machen Unternehmen, können weiter auf Steuererleichterungen sollen. warten. Vielen Dank. (Joachim Poß [SPD]: So ein Quatsch! Sie wurden dreimal steuerlich entlastet!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Walter Schöler [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?) Um es einmal bildlich auszudrücken: Ihre Steuerreform schlachtet die Kuh und versucht, den Bullen zu melken. – Wer ist denn an der Regierung? Sie oder wir? Sie fra- Jetzt wundern Sie sich, dass der Bulle keine Milch gibt. gen vier Wochen nach Regierungsantritt nach Konzep- ten. Ihre kennen wir. Sie bedeuten Deutschlands Unter- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) gang. Die Zeche für die verfehlte Steuerpolitik zahlen jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die Länder und Kommunen, letztlich der normale Steuer- Lachen bei der SPD) zahler. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass Herr Eichel die Länder auffordert, endlich zu sparen. Ange- sichts der Situation finde ich das etwas daneben. Viele der Vizepräsidentin Susanne Kastner: steuerlichen Veränderungen zulasten der Länder und Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Kommunen wurden im Deutschen Bundestag beschlos- fraktionslos. sen, ohne dass eine Kompensation vorgenommen wurde. 592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Gesine Lötzsch (A) Die Bundesregierung kommt nicht länger umhin, eine ner Steuerdebatte, fordert sie auf der einen Seite Milli-(C) Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts of- arden um Milliarden zusätzlicher Ausgaben, fiziell festzustellen. Nach Einschätzung des Arbeitskrei- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Falsch!) ses Steuerschätzung werden die Steuereinnahmen der Gebietskörperschaften in diesem Jahr um insgesamtfordert aber auf der anderen Seite, die Steuern über das hi- 15,4 Milliarden Euro geringer ausfallen, als noch im Mai naus, was wir schon getan haben, noch stärker zu senken. angenommen wurde. Davon entfallen 5,7 Milliarden Euro Wie ist das miteinander in Einklang zu bringen? auf den Bund. Da das Grundgesetz bestimmt, dass in Ein anderes Beispiel. Während des Wahlkampfs gab es normalen Zeiten die Neuverschuldung des Bundes die die schreckliche Flutkatastrophe. Die Union forderte in Summe der Investitionen nicht überschreiten darf, zwingt der Debatte: Macht mehr Schulden, um die Folgen der der notwendige Nachtragshaushalt die Bundesregierung Katastrophe zu beseitigen! – Eine halbe Stunde später, vor dazu, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge- den Fernsehkameras, sagten dieselben Leute: Der Haus- wichts festzustellen. Über das Ausmaß des geplanten halt muss stärker konsolidiert werden; es muss stärker ge- Nachtragshaushalts wissen wir noch nichts, aber schon spart werden. jetzt ist klar: Es wird die hart treffen, die schon jetzt we- nig haben, und es wird die schonen, die schmerzlos auf Reden wir über Ökosteuer, sagt die Union: Die Öko- etwas verzichten könnten. steuer bedeutet die Strangulierung der deutschen Wirt- schaft. – Aber selbst hat sie die Mineralölsteuer in den Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Jahren ihrer Regierungszeit um ein Vielfaches dessen er- höht, was wir mit der Ökosteuer eingeführt haben. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihre Redezeit ist auch zu Ende. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Politik als widersprüchlich zu bezeichnen ist weiß Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Gott geschmeichelt. Was Sie in der Wirtschafts- und Fi- nanzpolitik auszeichnet, ist Konfusion. Das muss einmal Abschließend möchte ich an ein Wahlversprechen der festgehalten werden. SPD von 1998 erinnern, nämlich an die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Es ist höchste Zeit, dieses Verspre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen einzulösen. DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Diese Konfusion wird nur durch das übertroffen, was Herr Schindler eben gesagt hat. (B) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – (D) Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Keine (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Schindler schlechte CDU-Rede!) hat im Gegensatz zu Ihnen nicht gelogen!) Ich staune, dass nicht mehr es so registriert haben, wie es Vizepräsidentin Susanne Kastner: bei mir angekommen ist. Herr Schindler, Sie haben ge- sagt: Die Politik dieser Koalition bedeutet – das haben Sie Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- wörtlich behauptet – „Deutschlands Untergang“. lege Rainer Wend, SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Rainer Wend (SPD): Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Wenn Sie, die Ver- treter einer demokratischen Partei, die Konzepte einer Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und konkurrierenden demokratischen Partei hart kritisieren Herren! Wenn wir uns in einer Debatte über den Verteidi- und beschimpfen, dann ist das in Ordnung. Aber den Un- gungshaushalt befinden, fordert die Union zweistellige tergang Deutschlands an die Wand zu malen, das ist schä- Milliardenbeträge für eine bessere Verteidigung. big. Was Sie sich hier in diesem Parlament leisten, das ist (Zurufe von der CDU/CSU) schamlos. Befinden wir uns in einer Debatte über die Infrastruktur in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland, fordert die Union zweistellige Milliarden- DIE GRÜNEN) beträge für neue Straßen in unserem Land. Dazu möchte ich noch folgende deutliche Bemerkung (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch machen: Als es im letzten Jahrhundert einmal, nämlich falsch!) unter den deutschen Faschisten, den Untergang Deutsch- lands gegeben hat, waren Sozialdemokraten dafür nicht Reden wir über Familienpolitik, fordert die Union zwei- verantwortlich. Sozialdemokraten haben in ihrer Ge- stellige Milliardenbeträge für Familiengeld. schichte niemals beim Untergang Deutschlands mitge- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist macht. richtig!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Befinden wir uns in einer Rentendebatte, beklagt die DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Willsch [CDU/ Union, dass die Renten nicht noch stärker erhöht werden, CSU]: Das ist ja nicht zum Aushalten! – Zurufe als sie schon erhöht werden. Befinden wir uns aber in ei- von der CDU/CSU: Thema!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 593

Dr. Rainer Wend (A) Dieser Finanzminister muss sich heute aus Ihren Rei- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort- (C) hen einiges an Kritik anhören. In einer solchen Situation entwicklung der ökologischen Steuerreform ist es angemessen, über solche Dinge zu streiten. Aber – Drucksache 15/21 – auch dazu muss ich Ihnen eines in aller Klarheit entgeg- nen: Wenn Ihr früherer Finanzminister nur halb so viel (Erste Beratung 8. Sitzung) Konsolidierungspolitik betrieben hätte wie Hans Eichel, a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- dann würde es uns heute um ein Vielfaches besser gehen. ausschusses (7. Ausschuss) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 15/71 – DIE GRÜNEN) Berichterstattung: In einem Punkt muss ich allerdings allen Vorrednern Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) von der Opposition zustimmen: Die schlechte Konjunktur Heinz Seiffert ist nur eine der Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit. Dr. Reinhard Loske Hinzu kommen strukturelle Probleme, die seit vielen Jah- Carl-Ludwig Thiele ren – auch in unserer Regierungszeit – bestehen. Das muss b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- man so deutlich sehen. Wir nehmen mit der Steuerreform schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung und mit der Arbeitsmarktreform deutliche Veränderungen vor. – Drucksache 15/72 – Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Der Sach- Berichterstattung: verständigenrat hat Recht: Wir müssen die Staatsaus- Abgeordnete Steffen Kampeter gaben zugunsten privater Aktivitäten stärker als bisher Walter Schöler zurückführen und gleichzeitig staatliche Ausgaben in Antje Hermenau Richtung öffentlicher Investitionstätigkeit umschichten. Dr. Günter Rexrodt Die Frage ist nur – ich habe auch Sie in diesem Sinne ver- Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der standen –: Wie gelingt es uns, das in diesen schwierigen CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Über den Ge- Zeiten zu finanzieren und gleichzeitig Konsolidierungs- setzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. politik zu machen? Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Stich- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen wort hinweisen, das in der bisherigen Diskussion noch Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. keine Rolle gespielt hat: Public Private Partnership. In der Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol- gegenwärtigen Situation ist sie angemessen; andere Län- (B) lege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion. (D) der, Großbritannien, Holland, Portugal, Spanien, haben sie praktiziert. Wir müssen staatliche Aufgaben einerseits und private Aufgaben andererseits neu justieren. Wir Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): müssen einen neuen Weg der Kooperation finden, und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zwar nicht nur bei der Finanzierung von Projekten, son- Wir haben einen sehr strammen Beratungsfahrplan dern auch bei der anschließenden Durchführung. Ich glaube, dass dabei viele Effizienzgewinne zu erzielen (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Schnell und sind. schlampig!) Ich will Ihnen damit Folgendes sagen: Allein mit der in Bezug auf die Gesetze, die zum 1. Januar 2003 in Kraft Beschreibung des Untergangs Deutschlands – ich komme treten sollen. Ich freue mich, dass wir zumindest dieses darauf zurück – und allein damit, sich hierhin zu stellen Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuer- und unsere Politik herunterzureden, ohne Alternativen reform, für das heute die abschließende Lesung stattfin- aufzuzeigen, werden Sie vier Jahre in der Oppositiondet, trotz dieses strammen Tempos ordentlich beraten nicht überstehen. konnten: (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei der CDU/CSU) Bitte bringen Sie sich in den Wettbewerb um bessere Kon- So wurde eine Anhörung durchgeführt, deren Ergebnisse zepte für unser Land ein! Damit täten Sie unserem Land auch noch Eingang in Form von Veränderungen des Ge- tatsächlich einen Gefallen. setzestextes gefunden haben. Damit konnte bewiesen werden, dass ein schnelles Tempo nicht grundsätzlich zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einer schlechten Politik führen muss, sondern dass man DIE GRÜNEN) auch mit strammen und konzentrierten Beratungen schnell zu Ergebnissen kommen kann. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/ Die Aktuelle Stunde ist beendet. CSU]: Murks war das, sonst nichts!) Ich freue mich auch darüber, dass ein großer Teil der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Sachverständigen diesen Gesetzentwurf bei der Anhörung Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen ausdrücklich begrüßt hat. Es sind viele Gesichtspunkte der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN aufgenommen worden, die gerade auch von Ihnen in der 594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Vergangenheit an der ökologischen Steuerreform kriti- 125 000 Megawattstunden Strom im Jahr verbraucht,(C) siert wurden, nämlich angeblich mangelnde Lenkungs- zahlt 266 000 Euro an Ökosteuer, 31 250 Euro an KWK- wirkung und mangelnde Treffsicherheit im ökologischen Umlage, aber 500 000 Euro aufgrund des EEG. Diesem Bereich. Durch dieses Gesetz erhöhen wir dieökolo- Missverhältnis müssen wir uns aufgrund der Gesamtbelas- gische Treffsicherheit deutlich und sorgen dafür, dass tung solcher Unternehmen dringend zuwenden. Wir Sozi- Schritt für Schritt auf effiziente Energietechniken, auch aldemokraten werden das in der nächsten Zeit tun. Ich im Bereich des produzierenden Gewerbes, umgestellthoffe, dass wir dafür auch Verbündete hier im Parlament wird. finden. Wir erhöhen nicht etwa, wie manchmal dargestellt (Zuruf von der CDU/CSU: Irrtum!) wird, den Steuersatz für produzierendes Gewerbe, son- Bei der Anhörung ist auch darauf hingewiesen worden, dern wir senken den 80-prozentigen Rabatt, den das pro- dass möglicherweise durch den CO-Zertifikatehandel, duzierende Gewerbe gegenüber allen anderen Steuerzah- 2 den die EU-Kommission anregt und wozu ein Richtlinien- lern, insbesondere gegenüber den privaten Haushalten, entwurf vorliegt, der verhandelt wird, eine zusätzliche hatte, nach etwa vier Jahren auf 40 Prozent ab. Belastungskulisse entsteht. Wir sagen deutlich: Die ener- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Haben Sie doch gieintensiven Unternehmen, die jetzt schon am Rande ih- damals eingeführt!) rer Wirtschaftlichkeit arbeiten, dürfen nicht neben dem, was wir jetzt schon haben – Ökosteuer, KWK-Gesetz und Der Rabatt hatte den Sinn, die Unternehmen anzuregen, EEG –, durch den CO -Zertifikatehandel gleichsam dop- rechtzeitig auf Energie sparende und effiziente Systeme 2 pelt belastet werden. Dann müssen wir uns entscheiden, umzustellen. Viele Unternehmen haben die Möglichkei- welchen Weg wir letztendlich gehen: einen Weg zugun- ten genutzt. Das sagen uns Untersuchungen des UBA und sten des Fiskus, zugunsten der Rentenversicherung oder aller wichtigen Institute, die sich damit befassen. Ener- zugunsten eines Handels mit CO-Zertifikaten. Diese giesparinvestitionen waren in den letzten drei bis vier Jah- 2 Frage wird sich in nächster Zeit stellen. ren der Renner. Insofern hat sich das Manöver politisch insgesamt gelohnt – für die Umwelt allemal. Wir freuen uns sehr darüber, dass wir durch die Ver- längerung der Steuerfreiheit für erdgasbetriebene Kraft- Jetzt ziehen wir die Schraube ein wenig weiter an, um fahrzeuge um weitere zehn Jahre, also bis zum Jahr 2020, noch mehr Unternehmen zu bewegen, in Energiespar- eine technologische Weichenstellung vorgenommen ha- technik zu investieren. Das trägt aber auch dazu bei, den ben. So können Industrien natürlich planen. Ich verstehe Vorwurf auszuräumen, wir würden mit der Ökosteuer im diese Maßnahme nicht in erster Linie als eine Maßnahme, Grunde genommen nur die Verbraucher belasten, die die dazu führen soll, dass auf Dauer Erdgas getankt wird, Wirtschaft aber entlasten. Indem wir die Schraube bei der (B) sondern hier geht es um eine Technologie, die als Platz- (D) produzierenden Wirtschaft etwas anziehen, stellen wir halter für mögliche andere Gase dient, die in Fahrzeugen auch etwas soziale Symmetrie und Gerechtigkeit im Be- benutzt werden können, bis hin zu der Markteinführung reich der Ökosteuer zwischen Verbrauchern und Wirt- neuester Technologien auf Wasserstoffbasis. schaft her. Auch das wurde ausdrücklich in der Anhörung gelobt. Mit jährlich 150 Millionen Euro für die Umsetzung der Energieeinsparverordnung im Altbaubestand werden wir Wir haben uns gerade und besonders auch mit den etwa 2 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren. Das energieintensiven Unternehmen befasst, die im inter- ist eine stolze Zahl. Gerade vor dem Hintergrund der hef- nationalen Wettbewerb stehen, nicht ausweichen können tigen Diskussion über das Thema Wohnungsbau und die und sowieso schon alles tun, um Energie einzusparen. Wir Frage der Reaktivierung von Innenstädten ist das eine wissen auch ganz genau, dass in Unternehmen, die Ener- ökologisch und städtebaulich gezielte Maßnahme, die in gie – Strom oder andere Energien – einsetzen, um Stoff- Verbindung mit Maßnahmen zur Eigentumsbildung im umwandlungsprozesse durchzuführen, nicht viel an Pri- Bestand viele Freunde finden wird. märenergie eingespart werden kann. Deswegen haben wir einen Spitzenausgleich geschaffen, der da, wo es möglich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ist, noch einmal anregt, über Effizienzsteigerungen bei BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Neu- oder Ersatzinvestitionen nachzudenken, diese Un- Von der wirtschaftlichen Bedeutung her ist die Anhe- ternehmen aber im Großen und Ganzen ähnlich wie der bung der Gassteuer auf 5,5 Cent pro Kilowattstunde der heute noch geltende Spitzenausgleich schont. dickste Brocken. Auch darüber ist in der Anhörung disku- Ich weise aber auch darauf hin – auch das war eine wich- tiert worden. Dort gab es nicht nur freundlichen Beifall tige Erkenntnis der Anhörung –, dass nicht die Ökosteuer der Mineralölindustrie – den konnte man erwarten –, son- alleine das Problem ist, sondern vielmehr die Kumulation, dern auch viele andere haben deutlich gemacht, dass sie die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Über- den dermaßen großen steuerlich initiierten Abstand zwi- wälzungsprozessen, nämlich Ökosteuer, Kraft-Wärme- schen leichtem Heizöl und Gas nicht mehr für vertretbar Kopplungsgesetz und EEG. Ein Aluminiumwerk zumgehalten haben. Das Abstandsgebot ist auch heute gerade Beispiel, das 2,5 Millionen Megawattstunden Strom im für den Wärmemarkt gegeben. Wir haben durch die Steuer- Jahr verbraucht, wird durch die Ökosteuer mit etwaerhöhung nicht den Vormarsch des Gases auf dem Wär- 1,6 Millionen Euro, durch das KWK-Gesetz mit 0,6 Mil- memarkt gestoppt. Der Abstand ist nach wie vor vorhan- lionen Euro, durch das EEG aber mit sage und schrei- den, aber er ist jetzt maßstabsgerecht und wir haben be 10 Millionen Euro belastet. Eine Papierfabrik, diegleiche Sachverhalte ähnlich besteuert. Auch das ist wich- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 595

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) tig im Sinne der Steuergerechtigkeit und der Vermeidung Das, was Sie hier tun, bedeutet in all diesen Punkten(C) von zu großen politisch initiierten Wettbewerbsverzerrun- das genaue Gegenteil. Wir haben vorhin in der Aktuellen gen. Stunde gehört, dass Ihnen der Mut für solche Strukturre- formen fehlt. Sie fordern den Mut von der Opposition ein. Ich gehe davon aus, dass die Anhebung des Satzes Warum machen Sie sich nicht selbst auf und entwickeln nicht zu einer entsprechenden Anhebung des Erdgasprei- eigenen Mut? ses führen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Doch, natürlich! Wie soll das denn funktionieren?) Sie haben kein Konzept, sondern stochern blind im Nebel, ohne geringste Koordination und Orientierung. Sie irren Die Gasindustrie hat selbst zum Ausdruck gebracht, dass es zahllose Stellschrauben gibt, vom Verhältnis zum leich- orientierungslos durch das Chaos, das Sie selbst verur- ten Heizöl, wo sie den Abstand halten will, bis hin zur sacht haben. Jeden Tag liest man im Ticker von neuen Plä- steuerlichen Kulisse. Sie ist in der Lage, sowohl ihre Vor- nen. Sie betreiben Flickschusterei und verunsichern die produzenten als auch die Verteilerunternehmen in diese Investoren. Deutschland wird miserabel regiert. zusätzliche Belastung einzubeziehen. Beim Verbraucher Herr Schultz, Sie haben vorhin die Beratung dieses Ge- wird nur ein kleiner Teil ankommen. setzes gelobt. Als Neuling, der zum ersten Mal an einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- solchen Beratung des Finanzausschusses teilgenommen Ludwig Thiele [FDP]: Das glauben Sie doch hat, muss ich feststellen, dass es nur eine Änderung im selbst nicht!) Verlauf der Beratung gab, und die stand schon vor der An- hörung fest. Die Anhörung hat also überhaupt keine – Darauf können Sie sich wirklich verlassen; denn die Änderung erbracht. Die Sachverständigen, die Sie einla- Erdgasindustrie muss mit den Preisen unter denen fürden, werden nicht ernst genommen. Die Beratungsunter- leichtes Heizöl bleiben, weil sie sonst keine Wachstums- lagen im federführenden Ausschuss tröpfeln sozusagen möglichkeiten hat. Insofern wird das ökonomische Gesetz während der Sitzung langsam ein. Es gibt also keine Mög- greifen, gerade in einem Bereich, in dem die Preise eher lichkeit, sie sich vorher anzusehen. Damit degradieren Sie gewürfelt werden, als dass sie am Markt zustande kom- das Parlament während der gesamten Beratungsphase zur men. Das gilt für den noch immer nicht liberalisiertenStaffage. Das ist kein ordentlicher Umgang mit dem Par- Gasmarkt leider in besonderem Maße. lament und den Menschen in diesem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vizepräsidentin Susanne Kastner: Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Herr Kollege Schultz, denken Sie bitte an Ihre Rede- (B) Der Bundeskanzler hat am 26. Juli gesagt: (D) zeit. Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel- len Situation ökonomisch unsinnig und deshalb zie- (Everswinkel) (SPD): Reinhard Schultz hen wir sie nicht in Betracht. Ich bin fertig. – Ich glaube, wir haben eine gute Ab- rundung der ökologischen Steuerreform geleistet. Wie hat dies unser früherer Kollege Metzger am Diens- tagabend kommentiert? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Im Wahlkampf sagt die Politik nicht die Wahrheit, – damit hat er vermutlich den Bundeskanzler gemeint – Vizepräsidentin Susanne Kastner: weil ansonsten der Nimbus der Finanzpolitik dieser Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister, Koalition im Bereich Sparen natürlich schon vor der CDU/CSU-Fraktion. Wahl kaputt gewesen wäre. (Beifall bei der CDU/CSU) So der ehemalige haushaltspolitische Sprecher der Grü- nen im Originalton. Man fragt sich natürlich, wie es um die Ehrlichkeit von Bündnis 90/Die Grünen bestellt ist. Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Machen Sie endlich Schluss mit dieser unehrlichen Poli- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tik in Deutschland und sagen Sie den Menschen endlich Herren! Rot-Grün – das haben wir gestern gelernt – be- die Wahrheit, und zwar im Vorhinein und nicht erst dann, deutet höhere Steuern – das diskutieren wir hier –, höhere wenn die Folgen zu ertragen sind! Schulden und höhere Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach der Wahl erleben wir eine Orgie von massiven Die Bilanz, die Sie hier präsentieren, ist für das LandSteuererhöhungen. Es geht nicht nur um die Erhöhung katastrophal. Volkswirtschaftlich gibt es – Entsprechen- der Ökosteuer, die wir hier diskutieren, sondern es geht des wurde gestern von den Weisen vorgelegt – klare Ant- auch um Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, mit dem worten zur Überwindung dieser Situation: Begrenzung Sie weitere Steuererhöhungen planen. Das ist schlecht für der Steuerlast, Deregulierung der Arbeitsmärkte, Struk- das Wachstum, für die Dynamik und für die Flexibilität. turreformen in den Sozialsystemen und verantwortliche Mit diesem Gesetz gehen Sie in eine vollkommen falsche Geldpolitik. Richtung. 596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Michael Meister (A) Sie müssen dafür sorgen, dass es mehr Wachstum gibt. bitte auf Erdgas umstellen, weil dies klimapolitisch ver- (C) 1 Prozent mehr Wachstum würde über 8 Milliarden Euro nünftig sei. Aber drei Monate später schlagen Sie bei die- mehr Einnahmen für die Haushalte bringen. Das wäre der sen Menschen, die Sie noch vor wenigen Wochen ermun- Weg, wie wir unsere Haushalte sanieren können. Das geht tert haben, in die Erdgastechnologie zu gehen, mit der aber nicht durch ständige Steuererhöhungen und durch Erdgassteuer zu. Die Menschen haben jetzt das Gefühl, das Abwürgen von Wachstum. dass sie sich falsch entschieden haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Ich freue mich, dass Herr Bundesminister Trittin zu Schauen wir uns das Ökosteuergesetz einmal im Ein- diesem Thema sprechen wird. Er hat vor wenigen Tagen, zelnen an. Herr Kollege Schultz, ich habe das Gefühl, Sie am 29. Oktober, sehr zutreffend festgestellt: haben an einer ganz anderen Anhörung teilgenommen als Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbeson- ich. dere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heiz- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja!) öls, widerspricht der ökologischen Vernunft. Die sechste Stufe der Ökosteuer wurde dort von den Ex- Herr Schultz, das ist das, was zum Thema „Erhöhung der perten als konjunkturpolitisch verfehlt bezeichnet. EsErdgassteuer“ zu sagen ist: Sie widerspricht der ökologi- wurde darauf hingewiesen, dass sie wettbewerbspolitisch schen Vernunft. bedenklich ist. Sie ist wie die freiwilligen Klimaverein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) barungen EU-rechtlich nicht verzahnt, weil sie nicht mit der künftigen Energiepolitik der EU und auch nicht mit Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen: Die beim dem Zertifikatehandel verbunden ist. Zu all diesen Punk- Heizen benutzte Kohle bleibt steuerfrei. Was hat das mit ten ist Ihnen gesagt worden, dass Sie sich auf demökologischer Vernunft zu tun? Sie bekommen momentan falschen Weg befinden. Die sechste Stufe der Ökosteuer- attestiert, dass das Klimaschutzziel verfehlt wird. Die Ab- reform ist arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv und auch senkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zum umweltpolitisch verfehlt. Auch das haben die Experten Jahre 2005 erreichen Sie nie. Und Sie sprechen davon, festgestellt. dass Sie etwas für die Ökologie tun! Jetzt sprechen Sie, Herr Kollege Schultz, davon, das Meine Damen und Herren, die ermäßigten Ökosteuer- Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das Erneuerbare-Ener- sätze auf den Verbrauch von Strom, Heizöl und Erdgas für gien-Gesetz und die Ökosteuer würden in ihrer Gesamt- das produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft und die wirkung einen negativen Effekt entwickeln. Da frage ich Forstwirtschaft steigen um 200 Prozent. Die Industrie (B) mich: Wer hat die Ökosteuer, das Kraft-Wärme-Kopp- wird dabei an keiner anderen Stelle entlastet. In der An- (D) lungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf hörung hat die chemische Industrie darauf hingewiesen, den Weg gebracht? dass sie mit zwei Drittel ihrer Produktion im internatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nalen Wettbewerb steht und es keine Möglichkeit gibt, höheren Produktionskosten in irgendeiner Form auszu- Waren Sie es oder waren wir es? weichen; es sei denn, man würde die Produktion verlagern (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE oder verringern oder ganz einstellen. Aber die Chance, GRÜNEN]: Wir natürlich!) höheren Produktionskosten in Deutschland auszuwei- chen, gibt es nicht. Sie haben die Verantwortung für den negativen Effekt, den Sie beschreiben. Sie argumentieren, Sie täten etwas für die Gesundung der Sozialsysteme. Schauen Sie sich bitte schön einmal (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war ein an, was bei den Rentenbeiträgentatsächlich geschieht! Eigentor!) Sie werden sie am 1. Januar 2003 auf 19,5 Prozent er- In der Anhörung ist deutlich geworden, dass die Öko- höhen. steuer in ihrer jetzigen Form keine Lenkungssteuer im (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Um 0,4!) Sinne der Ökologie, sondern, so wurde gesagt, eine Steuer allein zum Abkassieren ist. Sie haben jetzt im Rahmen der fünften Ökosteuerstufe, die ab 1. Januar 2003 gilt, und der sechsten, über die wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heute abstimmen, pro Jahr ein Gesamtaufkommen von Durch die sechste Stufe der Ökosteuerreform werden20 Milliarden Euro. Das macht, in Beitragssatzpunkten 1,4 Milliarden Euro zusätzlich abkassiert zulasten von umgerechnet, noch einmal 2,3 Prozent. Das heißt, Sie sind Verbrauchern, die ihren Konsum noch weiter einschrän- dann in Bezug auf die Sozialsysteme bei einer Belastung ken müssen, als es ohnehin schon der Fall ist, und zulas- von 21,8 Prozent. Sie aber sagen den Menschen, Sie hät- ten von Unternehmen, die weniger Investitionen tätigen, ten eine Entlastung herbeigeführt. Das ist keine Entlas- als dies gegenwärtig der Fall ist. tung und auch keine Lösung, sondern eine Täuschung und Ablenkung vom eigentlichen Problem. Wir brauchen in- Mit voller Wucht wird die Bevölkerung in den neuen nerhalb der Sozialversicherungssysteme eine Reform und Bundesländern getroffen. Die Menschen dort werden eine kein Abkassieren bei der Ökosteuer sowie keine Um- über 50 Prozent höhereErdgassteuer zahlen müssen. finanzierung an dieser Stelle. Nach der Flutwelle im August hat man sie ermuntert, sie mögen doch ihre Heizungen in den zerstörten Wohnungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 597

Dr. Michael Meister (A) Die 65 Milliarden Euro, die Sie den Menschen bis jetzt Sie? Sie sagen in dem Moment, in dem man Ihrer Kritik (C) im Zusammenhang mit der Ökosteuer aus der Tasche ge- Rechnung trägt: So war das nicht gemeint, das ist aber zogen haben, sind eine massive Belastung und ein Teil der eine bösartige Steuererhöhung; wir haben es mit der sechs- Ursache dafür, warum Sie gestern eine dreifache Ohrfeige ten Stufe der Ökosteuer zu tun. bekommen haben. Sie hatten Gelegenheit gehabt, darüber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu schlafen. Noch haben Sie Zeit umzukehren. Ziehen Sie und bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: diesen Gesetzentwurf zurück und tun Sie etwas für die Ist es ja auch! Das ist die sechste Stufe!) Menschen in Deutschland, indem Sie diesen Gesetzent- wurf nicht in Kraft setzen! Sie haben ausgeführt, dass Sie für eine ökologische Steuerreform sind, sie solle nur richtig sein. Sie haben kri- Schönen Dank. tisiert, die Ökosteuer orientiere sich nicht am Schadstoff- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gehalt. Was machen wir? Wir passen die Besteuerung von Erdgas und Heizöl an, sodass wir Erdgas heute zur Hälfte

nach dem CO2-Ausstoß und zur Hälfte nach dem Ener- Vizepräsidentin Susanne Kastner: giegehalt bewerten. Wieder tragen wir Ihrer Kritik Rech- Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Natur- nung und entwickeln die Ökosteuer weiter. Was macht die schutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. Opposition? Sie ist schon wieder dagegen, sie ist um des Prinzips willen dagegen. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schutz und Reaktorsicherheit: und bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist im- Ich könnte das weiter fortführen. mer schlecht, wenn Finanzpolitiker meinen, sich zu öko- Am schönsten ist es, dass Sie kritisiert haben, wir wür- logischen Fragen äußern zu müssen. Denn wenn Sie, Herr den das Aufkommen nicht für ökologische Zwecke ver- Meister, an den Debatten der Umweltpolitiker teilgenom- wenden. Das stimmte schon damals nicht, weil wir es im men hätten, hätten Sie wissen können, dass heute niemand Marktanreizprogramm und mittels Steuerermäßigungen mehr ernsthaft daran zweifelt, dass die ökologische Steuer- für den öffentlichen Verkehr und für effiziente Kraftwerke reform eine Wirkung hatte. eingesetzt haben. Jetzt setzen wir es verstärkt für ein Ge- (Widerspruch bei der CDU/CSU) bäudesanierungsprogramm ein und nutzen einen Teil des Aufkommens dafür, die unökologischste Form des Hei- Sie hatte nämlich die Wirkung, dass nunmehr im dritten zens, nämlich mit Nachtspeicheröfen, endlich aus dem (B) Jahr die verkehrsbedingten Emissionen erstmalig weniger Verkehr zu ziehen. (D) werden und der Anstieg der Treibhausgasemissionen der privaten Haushalte, die, solange Sie die Verantwortung Wir haben all das gemacht und dabei die konstruktive hatten, ungehindert mehr wurden, erstmalig rückgängig Kritik der Opposition gern aufgegriffen. Eigentlich müss- gemacht worden ist, sodass wir heute deutlich unter dem ten wir heute einen breiten Konsens darüber haben, dass Niveau von 1990 liegen. diese Regierung auf Ihre Einwände, lieber Herr Paziorek, eingegangen ist, stattdessen schickten Sie Herrn Meister (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor, und bei der SPD) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber er war Vor einigen Wochen haben wir hier eine Debatte über gut!) die Frage geführt: Was ist eigentlich die Ursache für die Überschwemmungen und die Hochwasserkatastrophe? der aber auf jeden Fall dagegen sein musste. Da gab es den Konsens, dass es einen Zusammenhang mit Wenn man reformiert und Subventionen abbaut, er- der globalen Erwärmung und einen Zusammenhang zwi- fährt man gesellschaftlichen Gegenwind. Das erlebt diese schen der globalen Erwärmung und dem Handeln derKoalition gerade. Das ist so, da muss man ein Stück weit Menschen gibt. Es wurde gesagt, es sei notwendig, dies zu durch. Ich habe mir gerade die Ergebnisse einer Umfrage begrenzen, und dabei sollten gerade steuerliche Anreize angesehen. eine Rolle spielen. Auf den Vorhalt von uns, Sie seien ge- gen die Ökosteuer, die Frau Merkel selber mitentwickelt (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Es kommt darauf hat, haben Sie gesagt, Sie seien nicht gegen die Ökosteuer, an, dass ihr bei den Umfragen unten liegt!) sondern gegen diese Ökosteuer. Die Frage lautete: Glauben Sie eigentlich, dass die Kon- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) zepte der Opposition an dieser Stelle besser sind? Dazu gibt es eine ganz interessante Zahl: Selbst 47 Prozent der Nun schauen wir uns einmal an, was Sie an dieser Öko- Unionsanhänger glauben nicht, dass die Konzepte, die Sie steuer kritisiert haben. Sie haben kritisiert, das produzie- als Alternative anzubieten haben, besser sind als das, was rende Gewerbe als eine Einheit, die zu viel emittiere, viele Bürger momentan kritisieren. werde zu stark ausgenommen. Sie haben heute einen Ge- Ich kann Ihnen dazu einen Rat geben – das will ich als setzentwurf vorliegen, der diese Begünstigung, die Sub- erprobter Oppositionspolitiker gerne tun; wir machen ventionierung des produzierenden Gewerbes, gemäß Ih- gern Politikberatung für die Opposition –: rer Kritik im Rahmen der Debatte über das Hochwasser zurückführt, und zwar um 400 Millionen Euro. Was tun (Zuruf von der CDU/CSU: Abgelehnt!) 598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Auch in der Opposition, meine Damen und Herren von Durch die Ökosteuer und die Rücknahme der Renten- (C) Union und FDP, ist das Motto: „Was schert mich mein Ge- strukturreform der alten Koalition hat Rot-Grün vier Jahre schwätz von gestern“, kein Erfolgsrezept; das sollten Sie Zeit verloren, um die absehbare demographische Ent- sich merken. wicklung durch Strukturreformen der Rentenversiche- rung zu ändern. Deshalb hilft auch der Zwergenaufstand, Wir haben hier einen ordentlichen Gesetzentwurf vor- den die Grünen hier gerade veranstaltet haben, überhaupt gelegt und ich weiß genau: Eigentlich möchte der Herr nicht. Paziorek am liebsten zustimmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Die Grünen waren es doch, die den Reformbedarf der Rentenversicherung in den letzten vier Jahren mit der Ökosteuer verschleiert haben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Carl- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion. Das hält niemand für einen Fehler!) Der dritte Grundfehler besteht darin, dass sich eine ökologische Lenkungswirkung bisher nicht feststellen Carl-Ludwig Thiele (FDP): lässt. Dieses Gesetz dient einzig und allein dem Abkas- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten sieren. Anders lässt es sich doch nicht erklären, warum die Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz zur Fort- Bürger aus ökologischen Gründen zunächst zum Heizen führung einer ökologischen Steuerreform soll einzig und mit Gas aufgefordert werden, und dann, kaum dass sie allein unter dem Deckmantel der Ökologie beim Bürger ihren Gasanschluss gelegt oder die Heizungsanlage mo- schamlos abkassiert werden, um öffentliche Haushalte zu dernisiert haben, zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Es füllen. Das ist die ganz simple Logik, die dahinter steht. ist für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbar, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dass das Verbrennen von Gas durch dieses Gesetz dras- tisch verteuert wird und das Verbrennen von Kohle zu Dieses Gesetz ist Teil einer gigantischen Mehrbelastung Heizzwecken nach wie vor überhaupt nicht besteuert mit Steuern und Sozialabgaben durch die Regierungwird. Wo ist denn da die Ökologie? Das ist weder öko Schröder-Schröpf. Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf noch logisch! Das ist unsystematisch! Dass die Grünen ab; denn die Ökosteuer hat keine doppelte Dividende, sie hier als Hauptverfechter der deutschen Steinkohle auftre- ist eine doppelte Legende. ten, ist bezeichnend. (B) (D) Der erste Grundfehler – das haben wir immer kritisiert, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Trittin – ist die steuerliche Belastung von Energie im der CDU/CSU) nationalen Alleingang. Umwelt macht nun einmal nicht an den Grenzen Halt und im Wettbewerb um Arbeitsplätze Der vierte Grundfehler besteht darin, dass die Staats- konkurrieren wir mit anderen Ländern. Die steuerliche quote nach Auffassung der FDP zu hoch ist. Ein Anstei- Belastung im nationalen Alleingang schränkt die Wettbe- gen der Staatsquote auf der Ausgabenseite kann nicht werbsfähigkeit Deutschlands für die Waren des produzie- durch Erhöhung der Steuern und Sozialabgaben kompen- renden Gewerbes international erheblich ein. siert werden; vielmehr müssen die staatlichen Aufgaben und Ausgaben zurückgeführt werden. Der Glaube von Der zweite Grundfehler, den es von Anfang an gab, be- Rot-Grün an eine doppelte Dividende durch die Öko- steht darin, dass der notwendige Strukturreformbedarf bei steuer, nämlich einer ökologischen Wirkung auf der einen der Rentenversicherung durch die Ökosteuer verschlei- Seite und einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge ert worden ist. Es ist ein Fehler gewesen, zu glauben, dass auf der anderen Seite, ist gescheitert. Insofern gibt es keine mit Mehreinnahmen durch die Besteuerung von Umwelt doppelte Dividende, sondern eine doppelte Legende. die Rentenversicherungsbeiträge im Verhältnis eins zu eins gesenkt werden könnten, wie dies in der Koalitions- Zudem haben die Beratungen im Finanzausschuss – es vereinbarung 1998 festgehalten worden ist. wäre auch für Umweltpolitiker manchmal ganz interes- sant gewesen, den Beratungen zu folgen – gezeigt, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dieses Gesetz einer Überprüfung in der Wirklichkeit nicht Es wurde erklärt, dass die Lohnnebenkosten aufgrund der standhält. Das Finanzministerium hat in den Beratungen Ökosteuer zum Ende der letzten Periode auf unter 40 Pro- einräumen müssen, dass die Erstattungsbeträge fürBe- zent sinken würden. Das war die Maßgabe, mit der Sie in triebe des produzierenden Gewerbessteigen, wenn, die Ökosteuer gestartet sind. Im nächsten Jahr steigen die wie es im nächsten Jahr der Fall ist, die Rentenversiche- Lohnnebenkosten trotz der fünften Stufe der Ökosteuer rungsbeiträge steigen. Das würde zu dem absurden Er- und der sechsten Stufe mit der Fortführung dieses Geset- gebnis führen, dass die Betriebe des produzierenden Ge- zes. Die Ökosteuereinnahmen steigen auf insgesamtwerbes bei steigenden Rentenversicherungsbeiträgen eine 63 Milliarden Euro. Die Lohnnebenkosten steigen um höhere Erstattung erhalten würden. Wenn der Rentenver- 0,9 Prozent auf 42,2 Prozent. Das sind gerade einmal sicherungsbeitrag deutlich über 20,3 Prozent steigen 0,1 Prozent weniger, als Rot-Grün 1998 von der von ihr würde, wie das nach diesem Gesetz vorgesehen ist, wür- so sehr gescholtenen früheren Koalition übernommen den die Betriebe mehr Erstattung der Ökosteuer erhalten, hat. als sie nach diesem Gesetz überhaupt bezahlen müssten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 599

Carl-Ludwig Thiele (A) Dazu sage ich: Total öko! Total logisch! Total grün! Das sieren aber gleichzeitig die Ökosteuer. Merken Sie nicht, (C) zeigt, wie widersinnig die angebliche Logik der gesamten wie widersprüchlich Sie da argumentieren? ökologischen Steuerreform ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zusammenfassend bleibt aus Sicht der FDP festzustel- DIE GRÜNEN) len, dass bei den Verbrauchern massiv abkassiert wird und Entweder haben wir eine Marktwirtschaft, in der Preis- gerade energieintensive Branchen, wie die Aluminium-, impulse einen zentralen Stellenwert haben – dann ist es die Buntmetall- und die Stahlindustrie, aber auch die richtig, die Preisimpulse zu verändern –, oder wir haben Landwirtschaft, steuerlich drastisch belastet werden. Der sie nicht. Sie können aber nicht auf der einen Seite sagen, Grundfehler besteht darin, dass unter dem Deckmantel Sie seien für die Ökologie, und auf der anderen Seite jede und unter dem Vorwand der Ökologie schamlos abkassiert Strukturveränderung ablehnen. Das passt nicht zusam- wird. Diesem Weg wird die FDP nicht folgen. men. Politik muss sich entscheiden. Auch Sie müssen sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) entscheiden. Es geht nicht, dass Sie sich, wenn die öffent- liche Debatte geführt wird, sozusagen so verhalten wie Mercedes beim Elchtest der A-Klasse. Sie sind im Som- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mer mit Ihrer Art von Politik dramatisch durchgefallen; Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller für sie hat sich nämlich als nicht praxistauglich erwiesen. die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Ähnlich ist es bei der FDP. Eine Zeitung hat geschrie- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da beißt ben: „Die FDP ist zur Empathie nicht fähig.“ Das heißt, die Maus keinen Faden ab: Die Ökosteuer ist eine Frage, die FDP besitzt nicht die Fähigkeit, an das Gemeinwohl bei der sich zeigt, ob man fähig ist, Zukunftsverantwor- zu denken. Mit dieser Analyse hat die Zeitung aus meiner tung zu übernehmen oder nicht. Sicht völlig Recht. Sie schreibt weiter: Der zentrale Punkt der FDP sei die Unterordnung ihrer Argumentation unter (Lachen bei der CDU/CSU) die Stimmungstauglichkeit. Sie können noch so viel darum herumreden: Das ist die (Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP: entscheidende Frage, bei der sich zeigt, ob Sie fähig sind, Oh!) aus Erkenntnissen zu lernen, oder ob Sie nur reagieren, wenn die Katastrophe da ist. Genau das ist der Punkt. Politik kann aber nicht auf Stimmungstauglichkeit ausge- legt sein. Politik muss die Übernahme von Verantwortung (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein. Da ist selbst Herr Rexrodt schon sehr viel weiter ge- (D) DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ wesen. CSU]: Die Katastrophe sind allein Sie!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Man muss auch Ich weiß wirklich nicht, was ich bei Ihnen mehr be- ehrlich sein! – Weitere Zurufe von der FDP) wundern soll: die Schlichtheit der Argumentation oder das Kurzzeitgedächtnis – beides ist erschreckend. Er hat in einem Papier von 1996 beispielsweise geschrie- ben, dass es sehr wohl sehr sinnvoll sei, einen nationalen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Alleingang bei der Ökosteuer zu machen, um Impulse Ende August gab es von allen Parteien Aussagen in der Öf- auszulösen, damit andere mitgehen. Da war er einmal sehr fentlichkeit, wie sehr sie dieökologische Modernisie- viel weiter. rung nach vorne stellen wollen. Das ist drei Monate her (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP) und Sie haben schon wieder alles vergessen. Das darf doch nicht wahr sein, meine Damen und Herren! Politik heißt – Das hat er zur Ökosteuer gesagt. Übernahme von Verantwortung, heißt Zukunftsvorsorge. (Dr. Christian Eberl [FDP]: Aber doch nicht Sie sagen heute das eine und am nächsten Tag das Gegen- zur Rentenversicherung) teil. Das geht nicht, das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Ich will Ihnen übrigens einmal sagen: Sie kennen noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht einmal die Zahlen. Ich weiß gar nicht, wie Sie auf DIE GRÜNEN) 63 Milliarden Euro kommen. Dieses Jahr nehmen wir Das Hochwasser im August war keine singuläre Er- durch die Ökosteuer 14 Milliarden Euro ein. scheinung. Sie wissen das, Herr Paziorek. Wir haben nach (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher?) den Untersuchungen beispielsweise der Klima-Enquete- Kommission heute 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Wenn ich alle bisherigen Einnahmen zusammenrechne, Atmosphäre. 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmo- komme ich auf 40 Milliarden Euro. Ich habe den Ein- sphäre heißt: Die Wasserkreisläufe verändern sich. Wenn druck, dass Sie schon beim Zusammenzählen Schwierig- man diese Erkenntnis hat, dann kann man doch nicht so keiten haben. Wie wollen Sie da den Gesamtzusammen- tun, als ob wir alle so wie bisher weitermachen könnten; hang richtig bewerten? dann müssen wir doch Strukturänderungen einleiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Meister, ich kann es wirklich nicht verstehen: Sie DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: sagen auf der einen Seite, die Regierung habe keinen Mut, Im nächsten Jahr! Wir diskutieren doch auch notwendige Strukturveränderungen durchzuführen, kriti- 2003!) 600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Michael Müller (Düsseldorf) (A) So einfach, wie Sie es sich machen, geht das jedenfalls teln zurückgegangen ist? Er wird auch weiter zurück- (C) nicht. gehen. Die ökologische Steuerreform ist sicherlich ein (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Durch die schwieriger Weg. Sie ist sicherlich ein Weg, der von vie- Ökosteuer?) len Leuten viel verlangt und auch riskant ist. Wir sagen Das ist ein richtiger Weg und genau diesen gehen wir. aber auch: Wenn wir nicht anfangen, die ökologische Mo- dernisierung mit Preissignalen durchzuführen, dann ist Ich sage Ihnen noch einmal: Wir können den Primär- das Risiko künftig sehr viel größer. energieansatz unter offenen Grenzen nicht realisieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir hätten dies gerne gemacht, aber dies hätte in der Tat zu massiven Verschiebungen in den Konkurrenzbedin- Wir müssen uns heute entscheiden. Der Punkt in der gungen geführt, hätte für viele die Konkurrenzsituation Politik, bei dem sich beweist, ob sie etwas kann, liegtdramatisch verschlechtert. Insofern plädiere ich dafür, darin, in einer Situation, in der das Bisherige nicht mehr dass wir unsere Politik an den realen Bedingungen, unter ausreicht, um Probleme zu lösen, aber das Neue nochdenen wir leben, orientieren und nicht parteitaktisch nicht völlig implementiert ist, einen Weg zu finden, der Scheindebatten führen, den Umbau dennoch möglich macht. Die ökologische Steuerreform ist nicht der einzige Weg. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das macht doch keiner!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aha!) was vielleicht etwas für die Stimmung, aber nicht für eine Ich glaube, wir sind uns einig, dass sie nur eines der mög- rationale Auseinandersetzung bringt. lichen Instrumente ist. Es ist aber richtig, dass die ökolo- gische Steuerreform ein notwendiges und auf jeden Fall (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unverzichtbares Element einer ökologischen Modernisie- DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte rung ist. Das ist in der Tat der Praxistest, bei dem sich [CDU/CSU]: Sie sind doch außerhalb der zeigt, ob man es ernst meint mit der Bewahrung der Realität!) Schöpfung oder nicht. Genau das, meine Damen und Her- Wir bleiben dabei: Die ökologische Modernisierung ist ren, tun wir, während Sie wegtauchen. ein wesentlicher Ansatz, um die volkswirtschaftlich ren- (Dr. Christian Eberl [FDP]: So hehre Worte an tablen Effizienzpotenziale zu mobilisieren. Dies ist auch der Stelle!) unter dem Arbeitsmarktgesichtspunkt ganz entscheidend. Es geht darum, Produktivität auf eine Art und Weise zu si- – Natürlich ist es so. Die hehren Worte, die bei Ihnen im chern, die nicht immer nur durch die Übernahme von Ar- (B) Parteiprogramm stehen, sind schön und gut, aber die Ent- beit durch Technik gekennzeichnet ist. Der Weg in höhere (D) scheidung fällt hier im Bundestag. Energie- und Ressourcenproduktivität ist der Weg ei- Schauen wir uns das Modell von Herrn Rexrodt aus ner modernen Volkswirtschaft. Diesen Weg gehen wir dem Jahre 1995 an. Schauen wir uns das Modell an, das weiter. Herr Repnik im Rahmen des „Konzept 2000“ entwickelt Wir sind übrigens gar nicht so allein, wie Sie immer hat. Fast alle Modelle sind identisch mit dem, was ge- tun. Viele Länder machen das und ich halte das auch für macht wurde. richtig. Wir sagen allerdings auch – das ist notwendig –: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hat nichts mit Dieser Weg muss noch mehr europäisch abgestimmt und der Rentenversicherung zu tun!) koordiniert werden. Darum bemühen wir uns. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass unser (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!) Konzept unter den gegebenen Bedingungen – offene– Natürlich bemühen wir uns darum. Aber in Europa wird Märkte und europäische Restriktionen – sinnvoll und rea- sich nichts bewegen, wenn sich nicht einzelne starke lisierbar ist. Volkswirtschaften bewegen. Das ist der entscheidende (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hat nichts mit Punkt. der Rentenversicherung zu tun!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Natürlich, Herr Thiele, kann man eine Primärenergie- DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: steuer erheben. Dann möchte ich aber nicht erleben, wie Die starke Volkswirtschaft wird schwächer!) beispielsweise die FDP aufschreit, dass aufgrund der of- Sie glauben, der Schutz der Umwelt fällt vom Himmel, fenen Märkte unterschiedliche Bedingungen für die Kon- aber er fällt nicht vom Himmel. Er ist eine Frage der Po- kurrenz der Unternehmen entstehen. Sie müssen hier ehr- litik. Wir sind bereit, hier politische Verantwortung zu lich argumentieren. Wir leben in einer konkreten Welt und übernehmen. In diesem Punkt ist die Alternative ganz nicht in einer abstrakten Modellrechnung. Das ist doch klar: Sie befinden sich noch in der Nurankündigungs- der Punkt. phase und wollen Ihre Ankündigungen dann, wenn es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ernst wird, überhaupt nicht mehr wahrhaben. Wir aber DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: machen es. Was machen Sie mit der Steinkohle?) Wir wissen: Das ist ein schwieriger Weg, er ist nicht – Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie nicht mitbekom- einfach durchzuhalten. Wir wissen aber auch, dass wir men, wie sehr der Anteil der Kohle an den Heizmit- dann, wenn wir es nicht tun würden, in den nächsten Jah- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 601

Michael Müller (Düsseldorf) (A) ren viel größere Probleme hätten und dies wollen wirschon seit Jahren Umstellungsverfahren in beträchtlichem (C) nicht. Umfang, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die können (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Sie nicht mehr steigern!) die langfristig spezifische Einsparungen in einer Größen- Dies ist verantwortliche Zukunftsvorsorge. Deshalb ge- ordnung von bis zu 35 Prozent gegenüber 1990 bringen hen wir diesen Weg. werden. Dies ist also noch mehr als das, was die Selbst- verpflichtung der deutschen Wirtschaft beinhaltet. Inte- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ressant ist: In der vorliegenden schriftlichen Stellung- DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: nahme des RWI für die Anhörung am Dienstag wurde Aber das ist doch im Moment ein Abbruch- nachgewiesen, dass dies nichts mit einem Preisimpuls unternehmen!) über die Ökosteuer zu tun hat, sondern dass der Stromkos- tenblock ein entscheidender Wettbewerbsfaktor ist, der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: trotz der Preisrückgänge seinen Beitrag zur weiteren Kos- tenreduzierung in der deutschen Wirtschaft leisten muss. Nun hat der Kollege Dr. Paziorek, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. Die Frage ist doch nur: Warum belohnen Sie diese Ak- tivitäten nicht? Warum bestrafen Sie diese Aktivitäten? So wie Sie heute hier argumentieren und wie auch Sie, Herr Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Minister, heute hier argumentiert haben, senden Sie doch eine für die Umweltpolitik fatale Botschaft aus. Diese Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was Botschaft lautet: Sie können noch so viel in der Umwelt- Rot-Grün hier vorlegt, ist keine ökologische Weiterent- politik, bei der Reduzierung des Energieeinsatzes oder bei wicklung, sondern eine umweltpolitische Bankrotterklä- der Reduzierung des CO2-Ausstoßes erreichen, wir wer- rung. Sie benutzen die Umweltpolitik nur, um von Ihrer den immer auf die Idee kommen, Sie zu Sündenböcken zu gescheiterten Fiskalpolitik abzulenken. degradieren, und weiter an der Steuerschraube drehen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können machen, was Sie wollen, wir werden Sie immer wieder finanziell bestrafen. – Ich sage Ihnen ganz deut- Sie haben leider die Umweltpolitik zu einem bloßen lich: Dafür wollen wir die Umweltpolitik in Deutschland Instrument der Finanzpolitik degradiert. Eine umwelt- nicht benutzen, meine Damen und Herren. politische Sinnhaftigkeit ist bei Ihrem Vorgehen nicht zu erkennen, und zwar aus folgenden Gründen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen weiter berücksichtigen: Der verminderte (B) Erstens. Die ökologische Lenkungswirkungdieser (D) Ökosteuer ist nicht nur zweifelhaft, sie ist bis jetzt noch Heizölverbrauch steht in einem größeren Zusammen- gar nicht nachgewiesen. hang, nämlich mit den milden Wintern in den letzten Jah- ren und weniger mit der vermeintlichen Segnung durch die (Jörg Tauss [SPD]: Falsch!) Ökosteuer. Wichtig ist, dass der Verbrauch vonBenzin zum Beispiel deshalb zurückgegangen ist, weil sich viele Herr Minister Trittin, Sie argumentieren – vorhin, aber Autofahrer heute durch den Tanktourismus einen Preis- auch sonst immer – mit dem tatsächlich vorhandenen vorteil holen. Rückgang des Kraftstoffeinsatzes im Automobilbe- reich. Es gibt aber noch keine Untersuchung, die dar- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ legt, ob dieser Rückgang im Wesentlichen durch die Öl- DIE GRÜNEN) preisverteuerungen oder durch andere Maßnahmen wie Die vorliegenden Zahlen sind in der Tat bedauerlich. Sie zum Beispiel die bessere Antriebstechnik bewirkt wor- haben noch gar nicht realisiert, dass man heute mit einem den ist. LKW von Warschau bis nach Paris durchfahren kann, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ ohne in Deutschland zu tanken. DIE GRÜNEN]: Aber warum kaufen die Leute (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ die bessere Antriebstechnik?) DIE GRÜNEN]: Wollen wir das Warschauer Man muss dazu sagen: Diese technologische Entwick- Niveau einführen? Was wollen Sie damit sa- lung im Automobilbereich ist nicht erst 1999 eingetreten. gen?) Diese hat schon Anfang der 90er-Jahre begonnen. Wie Dadurch wird der CO2-Ausstoß nicht reduziert, aber wir können Sie diese Verbesserung in der Antriebstechnik mit stellen fest: In Deutschland wird nicht mehr bei der Ihrer Ökosteuer begründen? Durchreise getankt. Dadurch dass diese LKWs nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Deutschland betankt werden, sinkt in der Statistik für unser Land automatisch der Benzin- und Dieselverbrauch. Aber auch bei der viel zitierten Anhörung am Dienstag Weshalb lachen Sie darüber? sind weitere Fragen offen geblieben, zum Beispiel zum Stromverbrauch. Das RWI hat bei der Anhörung am (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wollen wir das Warschauer Dienstag dargelegt, dass in Deutschland der spezifische Niveau einführen?) Stromverbrauch deutlich zurückgegangen ist, obwohl durch die Liberalisierung die Strompreise zurückgeführt Wir stellen fest: Sie haben gerade einen Mechanismus worden sind. Es gibt nämlich in der deutschen Industrie bewirkt, der letztlich umweltpolitisch nicht sinnvoll ist, 602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Peter Paziorek (A) sondern nur Vermeidungsstrategien im falschen Sinne tiges Verhalten gar nicht belohnen wollen. Das ist ja gar (C) eröffnet. Das ist äußerst bedenklich. nicht Ihr Interesse. Sie wollen ja mehr Geld einnehmen und können deshalb gar nicht auf Anreize setzen. Sie kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei nen nicht auf Belohnung setzen, sondern Sie müssen eine Abgeordneten der FDP) Steuer so konzipieren, dass auch diejenigen, die sich um- Sie betonen immer die Erfolge. Ich würde von Ergeb- weltpolitisch richtig verhalten, letztlich doch zur Finan- nissen und nicht von Erfolgen beimKlimaschutz spre- zierung Ihrer Steuer beitragen. Das ist umweltpolitisch chen, denn dann müssten wir viel weiter sein. Die Ergeb- äußerst bedenklich. nisse beim Klimaschutz, die Sie in einem Atemzug mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Ökosteuer nennen, haben – das muss man klar und deutlich sagen – nichts mit einer etwaigen Lenkungswir- Drittens. Eine der ökologischen Hauptschwächen der kung dieser Ökosteuer zu tun. Es ist ganz wichtig, das Ökosteuer ist, dass sie nicht gezielt am Schadstoffgehalt herauszustellen. Die umweltpolitischen Erfolge dieser der einzelnen Energieträger ansetzt, sondern Energie un- Steuer, die Sie immer unterstreichen, können Sie bis zum spezifisch, rein willkürlich besteuert. heutigen Tage wissenschaftlich tatsächlich gar nicht bele- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ gen. Das ist die wichtige Botschaft, die heute von dieser DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Debatte ausgehen muss. Der Energiegehalt von Erdgas wird nach Ihrem Gesetz- (Horst Kubatschka [SPD]: Eine falsche entwurf stärker belastet als der von leichtem Heizöl. Beim Botschaft!) Kohlenstoffgehalt – dieser ist sehr wichtig für eine Poli-

Wenn Sie den Mut hätten, etwas umweltpolitisch wirklich tik zur Reduzierung der CO2-Emissionen – ist die Belas- Sinnvolles zu tun, würden zum Beispiel die Beträge zur tung von Erdgas nahezu zweimal so hoch. Wie wollen Sie Verbesserung im Gebäudebereich – Sie haben gar keine das klimapolitisch begründen? Ich sage Ihnen ganz deut- Beträge genannt, Herr Minister Trittin, Sie haben gerade lich: Sie können das klimapolitisch gar nicht begründen, gesagt: wir wollen ein Sanierungsprogramm auflegen –, weil die Zahlen offenkundig sind. Damit steht fest: Die bedeutend höher sein als die von Ihnen tatsächlich veran- Ökosteuer ist auch ein Schlag gegen die bisherigen ge- schlagten 150 Millionen Euro. Über 1 Milliarde Euro aus meinsam formulierten Grundsätze der Klimaschutzpoli- der Ökosteuer wollen Sie jetzt in den Haushalt stecken. tik. Deshalb ist auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf Warum stecken Sie denn nur 150 Millionen Euro in die abzulehnen. Sanierung des Gebäudebestandes, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Viertens. Die von Ihnen konzipierte ökologische Steu- (B) DIE GRÜNEN]: Das ist viel mehr, als Sie je (D) erreform hat keine überzeugende Verknüpfung – Herr hineingesteckt haben!) Schultz, hier muss ich Ihnen eindeutig widersprechen –

wo wir doch wissen, dass 25 bis 30 Prozent des CO 2-Aus- mit den übrigen einschlägigen umweltpolitischen Instru- stoßes in Deutschland tatsächlich durch die Gebäudeer- menten wie der Selbstverpflichtung der deutschen Wirt- wärmung erfolgen? Warum stecken Sie dann nicht 50 Pro- schaft, dem Emissionshandel, der eingeführt werden soll, zent, also über 500 Millionen Euro, in diesenund dem weiteren ordnungsrechtlichen Instrumentarium. umweltpolitisch wichtigen Bereich? Weil Sie es gar nicht Es gibt in Deutschland zum Beispiel das ordnungsrecht- wollen. liche Instrumentarium der Kleinfeuerungsanlagenverord- nung. Diese bewirkt, dass zum 1. Januar 2003 Umstellun- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gen bei Heizungsanlagen vorgenommen werden müssen. Warum haben Sie es denn nie gemacht?) Ich frage Sie: Warum setzen Sie hier noch eine Ökosteuer Das Umweltpolitische ist doch nur vorgeschoben. Siedrauf, wenn Sie das schon vorher ordnungsrechtlich gere- brauchen diese Einnahmen tatsächlich, um Ihre Haus- gelt haben? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dass haltslöcher zu sanieren. Das ist der umweltpolitische Vor- Sie nur abkassieren wollen und dass Sie in Wirklichkeit wurf, den man Ihnen machen kann. keine Änderung des Verhaltens der Menschen bewirken wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb sage ich: Ihre ökologische Steuerreform steht Zweitens. Eine Ökosteuer kann nur dann zur Lösung in keinem Zusammenhang mit den übrigen Instrumenten der Umweltprobleme beitragen, wenn sie einerseits Ver- der Umweltpolitik. Sie verspielen mit der weiteren Er- brauchern und Unternehmen ökonomische Anreize für höhung der so genannten Ökosteuer die Glaubwürdigkeit eine nachhaltige Konsum- und Produktionsweise gibt und der ökologischen Steuerreform. Deshalb wäre es aus un- andererseits verbleibende Einnahmen der Umweltpolitik serer Sicht wichtig und ehrlich, wenn Sie das Kind beim zur Verfügung stellt. Bei der Anreizwirkung versagt Ihre Namen nennen würden. Nennen Sie die Ökosteuer Ren- Konstruktion der Ökosteuer. Man muss klar und deutlich tensicherungssteuer oder Haushaltskonsolidierungssteuer, als Ergebnis hier festhalten: Die privaten Haushalte sind aber nicht Ökosteuer! bei der gegenwärtig vorgesehenen Regelung, die Sie auf den Tisch legen, die Nettozahler der Reform. Sie haben (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) keine Möglichkeiten, sich zu entlasten. Das hängt damit Auch wir wollen eine Ökosteuer. zusammen, dass Sie die Erdgassteuer drastisch erhöhen, aber letztlich auch damit, dass Sie umweltpolitisch rich- (Zurufe von der SPD: Jetzt aber!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 603

Dr. Peter Paziorek (A) Sie muss aber andere Bestandteile beinhalten. Für diebe schon das letzte Mal gesagt: Mit Strom zu heizen ist so, (C) Ökosteuer in der jetzigen Form gibt es keine ökologische als ob man Butter mit der Motorsäge durchschneiden Begründung. Deshalb werden wir den vorliegenden Ge- würde. Das ist einfach unvernünftig. Dem muss ein Ende setzentwurf aus Umweltgründen ablehnen. gemacht werden. Es ist außerdem wichtig, dass wir mit der Begünstigung von Erdgas bis zum Jahr 2020 Anreize (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaffen – das gilt vor allen Dingen für die Busflotten, aber auch für die PKWs –, einen relativ schadstoffarmen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Brennstoff im Verkehrsbereich zum Einsatz zu bringen. Nächster Redner in der Debatte ist der KollegeDas ist übrigens auch eine Einstiegstechnik für biogene Dr. Loske, Bündnis 90/Die Grünen. Treibstoffe, also für Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen. – Wenn ich das alles zusammenfasse, dann stelle ich fest: Die ökologische Lenkungswirkung wird Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch diese Schritte deutlich erhöht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, dient dem Abbau sowie bei Abgeordneten der SPD) umweltschädlicher Subventionen, der Verbesserung der Lenkungswirkung der ökologischen Steuerreform und der Ich komme kurz auf die Kohle zu sprechen, um eine Förderung ökologischer Investitionen. Mär auszuräumen. Ich stehe wirklich nicht in dem Ruf, ein großer Freund der Kohle zu sein. Aber lassen Sie es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bitte sein, zu behaupten, die Kohle würde von der ökolo- und bei der SPD) gischen Steuerreform nicht berührt. Das ist Unfug. Die Erstens: der Subventionsabbau. Wir erhöhen – das ist Braun- und Steinkohle wird fast komplett zur Stromer- schon gesagt worden – den Regelsteuersatz für das pro- zeugung eingesetzt und so fast voll und ganz von der duzierende Gewerbe von 20 auf 60 Prozent. Wir führen Stromsteuer erfasst. Es gibt hier keine Privilegierung. beim Spitzensteuersatz einen Ausgleichsmechanismus Bitte unterlassen Sie diese Lüge. ein, der auch energieintensiven Unternehmen Anreize (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum sparsamen Umgang mit Energie gibt. Summa sum- und bei der SPD) marum bauen wir durch diese Maßnahme Subventionen in Höhe von 400 Millionen Euro ab. Gerade die Libera- Mein letzter Punkt. Ich möchte kurz die Zahlen für die len, die sich so gerne als Kämpfer gegen Subventionen zusätzlichen Investitionen im ökologischen Bereich nen- darstellen, sind in dieser Frage vollkommen unglaubwür- nen – Herr Kollege Paziorek, passen Sie einmal auf – : Das (B) dig. Programm zur Förderung der Altbausanierung umfasst(D) bis jetzt 200 Millionen Euro. Aus den Einnahmen der (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wer hat denn die Ökosteuer nehmen wir hierfür 150 Millionen Euro pro Subventionen eingeführt?) Jahr heraus. Das macht zusammen 350 Millionen Euro Die Europäische Union hat immer darauf hingewiesen, pro anno. Sie haben zu Ihrer Zeit – das habe ich in den dass Subventionen zeitlich befristet und degressiv gestal- Haushaltszahlen nachgesehen – 20 Millionen Euro aus- tet sein müssen. Das setzen wir mit dem vorliegenden Ge- gegeben. Wir wenden also das 17,5fache von dem auf, setzentwurf um. Insofern ist er ein ganz klarer Beitrag was Sie veranschlagt hatten. Wenn man das Ergebnis et- zum Subventionsabbau. was aufrundet, könnte man sagen, dass das unser Pro- jekt 18 ist, mit dem Unterschied, dass unser Projekt ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- lingen wird; Ihres ist ja gescheitert. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zweitens: die Lenkungswirkung. Der Minister hat be- und bei der SPD) reits darauf hingewiesen, dass seit drei Jahren die CO2- Emissionen im Bereich des Verkehrs und der privaten Haushalte kontinuierlich zurückgehen. Beim Verkehr sind Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: es etwa 2 bis 3 Prozent jährlich. Das ist ein klarer Trend- Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage? bruch. Das ist im Wesentlichen auf die Preisanreize zu- rückzuführen. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Bitte. Das, was uns die Wissenschaft mitteilt, ist keineswegs ab- strakt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Dr. Christian Eberl (FDP): stellt fest, dass durch die ökologische Steuerreform die Herr Kollege Dr. Loske, ich habe folgende Frage: Stim- CO -Emissionen um 20 Millionen bis 25 Millionen Ton- 2 men Sie mit dem Ergebnis der wissenschaftlich und statis- nen zurückgehen. All das sind Beiträge zur Erhöhung der tisch abgesicherten CO-Statistik des Statistischen Bun- Lenkungswirkung der Ökosteuer. 2 desamtes, die am 5. November dieses Jahres vorgestellt

Dazu trägt in besonderem Maße auch der Abbau der wurde, überein, wonach die CO2-Emissionen in Deutsch- Sonderregelung für Nachtspeicherheizungen bei. Ich ha- land von 1990 bis 2000 rückläufig waren, seit 2001 aber 604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Christian Eberl (A) wieder ansteigen? Wie erklären Sie das angesichts der an- immer mehr Abgaben, immer mehr Staat. Der rot-grüne (C) geblich ökologischen Lenkungswirkung dieser Steuer? Erhöhungskurs stürzt unser Land in eine gefährliche De- pression. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Außer im rot-grün regierten Deutschland findet man in Europa keine Regierung, die der eigenen Wirtschaft so Es gibt in den verschiedenen Sektoren unterschiedliche viel Schaden zufügt. Obwohl sich Deutschland in einer Entwicklungen. Ich habe gerade vom Bereich der priva- konjunkturell schwierigen Phase befindet, soll die Wirt- ten Haushalte und vom Bereich des Verkehrs gesprochen. schaft bis 2006 mit weiteren 35 Milliarden Euro an Steu- Im Verkehrsbereich ist es so, dass der Rückgang in den ern belastet werden. Hinzu kommen 36 Milliarden Euro Jahren 2000 und 2001 – die Prognosen des Mineralöl- durch die Erhöhung von Abgaben. wirtschaftsverbandes gehen auch für 2002 davon aus – bei 2 bis 3 Prozent pro anno gelegen hat. Bei den privaten Kein Wunder, dass wir aufgrund der hohen Belastung Haushalten bestehen ähnliche Größenordnungen. Im Be- mit Steuern und Abgaben einen ungeheuerlichen Wachs-

reich der Industrie hat es beim CO2-Ausstoß, nachdem er tumseinbruch erleben. Kein Wunder, dass wir derzeit zwischen 1990 und 1993 durch die Entwicklung in den eine Beschleunigung der Insolvenzwelle und eine Er- neuen Bundesländern dramatisch gesunken ist, einenhöhung der Zahl der Betriebsschließungen sowie der Be- leichten Anstieg gegeben. Das hat mit der Inbetriebnahme triebsverlagerungen ins Ausland erleben. Kein Wunder, eines großen Kohlekraftwerks in den neuen Bundeslän- dass häufig die Geschäftstätigkeit in Staaten mit besseren dern zu tun. Insofern stimmt das, was Sie sagen. steuerlichen Rahmenbedingungen verlegt wird. Kein Wunder, dass ein weiterer Arbeitsplatzabbau mit horren- Mein abschließendes Argument gilt der Verwendung den Folgen für die Sozialsysteme stattfindet. Herr Minis- der Mittel aus der Ökosteuer – meine Redezeit geht lei- ter Trittin, das ist die einzige Wirkung Ihrer Ökosteuer. der schon dem Ende zu –. Auch hier erzählen Sie Mär- Nachhaltig ist bei Ihnen nur die laufende Erhöhung der chen. Durch die Ökosteuer fließen im nächsten JahrSteuern. 18,4 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt. Davon wer- den knapp 17 Milliarden Euro für die Rente verwendet; Unser Konzept lautet dagegen: mehr Eigenverantwor- das sind über 90 Prozent. Das heißt, diese ökologische tung, mehr Leistung, mehr Wachstum und mehr Entbüro- Steuerreform ist im Wesentlichen aufkommensneutral. kratisierung. Ihre rot-grüne Steuerpolitik hat die Grenzen der Zumutbarkeit, der Belastbarkeit und vor allem der (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das merkt ökonomischen Vernunft weit überschritten. keiner!) (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) 230 Millionen Euro fließen in das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien, 150 Millionen Euro in die Alt- Trotzdem wird heute eine Fortsetzung der ökologi- bausanierung. Nur die verbleibenden 7 Prozent werden schen Steuerreform mit neuen Belastungen für Wirtschaft für die Haushaltskonsolidierung verwendet. Das ist – das und Bürger beschlossen. Das rot-grüne Abkassiermodell gebe ich zu – ein kurzfristiges Abweichen vom Pfad der läuft geradezu auf vollen Touren. Der Herr Bundesfi- Tugend der Aufkommensneutralität. Dorthin wollen wir nanzminister zieht es vor, nicht selbst in die Debatte ein- wieder zurück. zusteigen; er überlässt es den Ökofantasten und den Öko- ideologen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war der Sündenfall!) (Rolf Hempelmann [SPD]: Auf eurer Seite?) Das ist bestensfalls ein Sonderopfer. Aber 93 Prozent ge- Wir haben ein Problem mit den Finanzen und der Ver- hen in die Rentenversicherung und in die Ökologie. Das schuldung in diesem Land. Dazu müsste er etwas sagen. ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Danke schön. Es wird zu Steuererhöhungen kommen: für Erdgas und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flüssiggas um 58 Prozent und für schweres Heizöl um und bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: 40 Prozent. Energieintensive Unternehmen und die Land- Rente hat nichts mit Ökologie zu tun!) und Forstwirtschaft werden 200 Prozent mehr Steuern zah- len. In nächster Zeit sollen die Mindeststeuer, die Wert- zuwachssteuer, die Firmenwagensteuer, die Organschaft- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: steuer, die Werbeartikelsteuer, die Warenvorratsteuer, die Gewerbesteuerrevitalisierung, die Erbschaftsteuerverschär- Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach, fung, die Vermögensteuerwiedereinführung und die Mehr- CDU/CSU-Fraktion. wertsteuererhöhung hinzukommen. Das ist der Weg in den (Jörg Tauss [SPD]: Der große Ökoexperte!) totalen rot-grünen Steuerstaat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans Michelbach (CDU/CSU): Lachen bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- Das ist nichts anderes als eine rot-grüne Steuerorgie. gen! Wirtschaft und Verbraucher kapitulieren vor dem rot- Die Leute haben diese Erhöhungen der Steuern und Ab- grünen Steuerdruck in Deutschland: immer mehr Steuern, gaben satt und die Firmen können es sich nicht mehr leis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 605

Hans Michelbach (A) ten. Meine Damen und Herren, Deutschland kann sich beitsplatzverlusten führen; das ist Fakt. Sie belasten die(C) Rot-Grün nicht mehr leisten. Wirtschaft. Sie testen die deutsche Wirtschaft auf ihre Be- lastungsfähigkeit und wundern sich dann, dass es in die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sem Land immer mehr Arbeitslose gibt. Das alles ist dazu angetan, unser Land endgültig in die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Staatswirtschaft zu führen. Zur Vernebelung nennt sich neten der FDP) das bei Rot-Grün dann Steuervergünstigungsabbaugesetz oder, wie Sie es nennen, ökologische Steuerreform. Mit Rot-Grün hat unser Land zum Sanierungsfall gemacht. diesen Bezeichnungen betreiben Sie nichts anderes als ei- Dabei haben Sie sich einer Beitrags-, Schulden- und Steu- nen Etikettenschwindel, um Steuererhöhungen zu ver- erlüge bedient. Wir müssen deutlich sehen, dass diese Po- schleiern. In wenigen Wochen steigt die Ökosteuer um litik nicht länger fortgesetzt werden kann. eine weitere Stufe, obwohl, so die Hiobsbotschaft, damit Es ist ein Skandal, dass der Bundesfinanzminister nicht das Wachstum vernichtet und die Arbeitslosenzahl erhöht den Mut hat, diese Steuererhöhung persönlich zu vertre- wird; außerdem werden die Steuereinnahmen einbrechen. ten. Wahrscheinlich hat er sich in seinen Steuer- und Hinzu kommt das Defizitverfahren durch die Europäische Schuldenstaat zurückgezogen. Union. Die Ökospezialisten und Ökoideologen von Rot- Grün bleiben beratungsrestistent. Es wird nur noch Flick- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Er ist fertig schusterei betrieben, und zwar nach dem Motto: Augen zu mit den Nerven!) und durch! Im Arbeiter- und Bauernstaat hat man die Öffentlichkeit Diese Bundesregierung hat bisher vor allem Schaden letzten Endes auch gescheut. angerichtet und die Menschen sowie unsere Wirtschaft (Widerspruch bei der SPD) verunsichert; das ist die Situation. Kolleginnen und Kol- legen von Rot-Grün, nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Er hätte die Steuererhöhung hier vertreten müssen, meine Unsere Volkswirtschaft steckt in einer schweren Krise. Damen und Herren. Er würgt die Binnennachfrage ab, wodurch er unserem Land einen Bärendienst erweist. Er (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wohl wahr!) sollte zurücktreten und den Weg für einen finanzpoliti- Ihr Versagen in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeits-schen Neuanfang frei machen. Das wäre richtig, damit es marktpolitik ist die Ursache für dieses Debakel. in Deutschland wieder aufwärts geht. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- DIE GRÜNEN]: Wenn ich Ihnen noch länger neten der FDP – Michael Müller [Düsseldorf] (B) zuhören muss, wird mir ganz schlecht!) [SPD]: Unglaublich! – Dr. Uwe Küster [SPD]: (D) Er ist aber nicht Staatsratsvorsitzender! – Albert Dass die Bundesregierung in dieser Situation zu weite- Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE ren Steuer- und Abgabenerhöhungen greift, zeigt das Aus- GRÜNEN]: Ich bin völlig deprimiert nach der maß der Unfähigkeit zur ökonomischen Vernunft. Es gibt Rede des Kollegen Michelbach!) in Deutschland einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Ich sage Ihnen, was die Ökosteuer für die Betriebe letz- ten Endes bedeutet: Die Ökosteuer ist für sie kostenstei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gernd und wettbewerbsschädigend. Für Verbraucher und Ich erteile der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch das Mieter ist sie preissteigernd und unsozial. Sie hat schon Wort. jetzt zu unsozialen Preissteigerungen insbesondere für den kleinen Mann und die Menschen im ländlichen Raum geführt. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Auf der Abgabenseite hat sie nichts bewirkt! Sie haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu ver- ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Der Saal füllt antworten. Deshalb ist Ihr Traum von der These, dass Sie sich deshalb, weil eine namentliche Abstimmung bevor- die Energie verteuern, um den Faktor Arbeit verbilligen steht und es jedem ans Geld geht, der nicht daran teil- zu können, letzten Endes wie eine Seifenblase zerplatzt. nimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Meine Damen und Herren, die Fortschreibung der öko- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) logischen Steuerreform hat fast nichts mit Ökologie, aber viel mit Steuererhöhungen zu tun. Bisher hat die Bundes- Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, zu regierung mit den Einnahmen der Ökosteuer die Renten- welchen Preissteigerungen das führt: Ein Vierpersonen- löcher gestopft. Jetzt, nach der Erhöhung der Renten- haushalt zahlt im Jahr schon jetzt 479 Euro Ökosteuer. beiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent, gehen sogar die (Jörg Tauss [SPD]: Was?) Autoren des Gesetzes davon aus, dass im Jahr 2003 die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Sanierung der Haus- Ein mittelständischer Industriebetrieb muss im Jahr 2003 haltslöcher genutzt werden. Sie ist also eine simple Mehr- durchschnittlich 100 000 Euro Ökosteuer zahlen. Das sind wertsteuererhöhung. 70 000 Euro mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig steigen die Sozialversicherungskosten um 120 000 Euro. Das kann Die Bundesregierung hatte bisher immer auf die entlas- doch nur zu weiteren Investitionsverweigerungen und Ar- tende Wirkung der Ökosteuer auf die Lohnnebenkosten 606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Gesine Lötzsch (A) verwiesen. Immerhin konnte man mit den Steuereinnah- egal wie sie diese Haltung zu verbrämen versucht hat. Sie (C) men die Rentenbeiträge eine gewisse Zeit stabil halten. hat Ankündigungen über die 90er-Jahre hinaus und auch Jetzt will man die Steuer nur noch nutzen, um den Bun- in diesem Wahlkampf gemacht, die anders lauten. Ins- deshaushalt zu sanieren. besondere ihr Spitzenkandidat hat diesen Wackelkurs vorgeführt. Aber heute ist deutlich geworden: Alles wird Aber lassen Sie uns die Einnahmeseite etwas näher an- einem billigen Parteienkalkül untergeordnet. schauen, meine Damen und Herren. Von den geplanten circa 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr sollen Frederic Vester aus dem „Club of Rome“ hat richtig ge- nur 400 Millionen – also ein Fünftel – auf das produzie- sagt: rende Gewerbe entfallen. Vier Fünftel bleiben bei den pri- Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitze vaten Haushalten und man kann ziemlich sicher sein, dass sich Ministerpräsident Edmund Stoiber ... gesetzt das produzierende Gewerbe dieses eine Fünftel über die hat, zeigt überdeutlich, worum es ihm geht: Nicht um Preise beim Verbraucher abladen wird. Die Steuer bleibt die notwendigen Weichenstellungen, die uns und den demzufolge eine Steuer für den zunehmend umweltbe- kommenden Generationen eine lebenswerte Umwelt wussten Bürger und nicht für die wirklich unökologischen garantieren, es geht ihm nur darum, aus der Situation Stromfresser im produzierenden Gewerbe. parteipolitisches Kapital zu schlagen. Sehr geehrte Abgeordnete aus den neuen Bundeslän- Das trifft auf Sie insgesamt zu. dern, sehr geehrter Herr Stolpe, diese Ökosteuernovelle geht besonders stark zulastenostdeutscher Haushalte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe das gestern im Haushaltsausschuss thematisiert, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aber ich habe von der Regierungsseite keine befriedi- In dieser Woche fand eine ebenso aufschlussreiche An- gende Auskunft bekommen. Man schaue nicht auf regio- hörung zum Thema ökologische Steuerreform statt. nale Aspekte, wurde mir mitgeteilt. Bekanntlich hat aber der Bundeskanzler massiv dagegen interveniert, leichtes (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aufschluss- reich war sie!) Heizöl zu verteuern. Dabei dürfte er die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen im Blick gehabt haben.Wenn man Ihnen heute zugehört hat, dann gewinnt man Denn in Westdeutschland sind nach wie vor Ölheizungen den Eindruck, es habe nur Kritik gehagelt. Dem war bei weit verbreitet. In den neuen Ländern dagegen wurden weitem nicht so. Das wissen Sie. Sie haben hier sehr ein- seit der Wende Braunkohleöfen überwiegend durch Gas- seitig zitiert. kessel und nicht durch Ölheizungen ersetzt. (Beifall bei der SPD) Gleiches gilt für Neubauten. In den 90er-Jahren wurde Richtig ist: Es gab in der Tat ein breites Meinungs- (B) auch durch die Gesetzgebung des Bundestages eindeutig spektrum. Das ist bei einem solchen Thema normal; denn (D) auf einfache Gasheizungen gesetzt. 70 Prozent der ost- es gibt bei diesem Thema in unserer Gesellschaft ein ge- deutschen Wohnungen und Einfamilienhäuser werden nauso breites Spektrum an Interessen. Deutlich ist aber mittlerweile mit Gas beheizt. Bei ihnen schlägt die Ver- auch geworden: Es gibt gerade auch bei den wissen- teuerung von Erd- bzw. Flüssiggas voll durch. schaftlichen Instituten sowohl zur ökologischen Steuerre- Da die Anlagen relativ neu und die Brennstoffkosten form, wie sie seit Jahren gilt, als auch zu der Gesetzesän- für Vermieter nur Durchlaufposten zu den Mietern sind, derung, wie wir sie jetzt vorgelegt haben, Zustimmung. geht von dieser Novelle aber auch kein Impuls zu einer (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Umstellung auf umweltfreundlichere dezentrale Anla- Und Ablehnung!) gen aus. Was bleibt, ist die Abzocke der Wohnungsnut- Es ist ausdrücklich konzediert worden, dass es in den zer. letzten Jahren nicht durch die von Ihnen genannten Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus der Sicht derGründe, Herr Paziorek, sondern durch diese ökologische PDS kann ich aus den genannten Gründen dieser Geset- Steuerreform Lenkungswirkungen gegeben hat. zesnovelle nicht zustimmen und werde sie ablehnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Vielen Dank. Paziorek [CDU/CSU]: Das war eben nicht der Fall!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Es gab in großem Umfang eine Senkung der CO2-Belas- tung. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hempelmann für die SPD-Fraktion. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Schon vor der Ökosteuer!)

Rolf Hempelmann (SPD): Im Bereich der Mobilität wurde der Schritt zu kleineren Autos vollzogen. Dies zeigte sich auch in der Forschung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- mit dem Einliterauto. Erstmals gab es – sogar zwei Jahre leginnen! Liebe Kollegen! Wir stehen am Ende einer aus- hintereinander – in unserem Land einen niedrigeren Ge- gesprochen aufschlussreichen Debatte. Die Opposition samtkraftstoffverbrauch, und zwar nicht aus den Grün- hat deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich gegen eine den, die Sie angeführt haben, ökologische Steuerreform ist, (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Doch, genau (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein!) aus den Gründen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 607

Rolf Hempelmann (A) sondern aufgrund der ökologischen Steuerreform. In die- ten Legislaturperiode eine ganze Reihe von sinnvollen(C) ser Anhörung ist deutlich geworden: Wir brauchen wei- Maßnahmen auf den Weg gebracht, neben der Ökosteuer tere Signale, um den Energieverbrauch zu senken. Des- auch die KWK und das EEG. In dieser Legislaturperiode wegen ist es begrüßt worden, dass wir diesen weiteren wird uns das Thema Emissionshandel beschäftigen. Schritt gegangen sind. Wichtig wird sein, diese Instrumente, die novelliert wer- den müssen, fein aufeinander abzustimmen. Das ist eine (Beifall bei der SPD) Aufgabe, an der Sie teilnehmen sollten, auch im Interesse Ein weiterer Punkt ist in dieser Anhörung angespro- der deutschen Wirtschaft und im Interesse derjenigen, die chen worden. Es ist Ihnen von Instituten vorgehalten wor- Kunden im Energiebereich sind. Verweigern Sie sich den, dass Sie jetzt nicht Beifall zu Forderungen klatschen nicht, nehmen Sie an dieser Arbeit teil sollten, die Sie jahrelang selber gestellt haben und die nun (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, erfüllt werden. Sie haben immer den Abbau von Steuer- stoppen Sie sie!) vergünstigungen gefordert. Jetzt gehen wir diesen Schritt. Die Institute – ich gebe zu, es waren nicht alle, und jonglieren Sie nicht so mit Zahlen, wie Sie das heute aber es waren eine ganze Reihe – getan haben! (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Okay!) Herr Paziorek, ich weiß, dass Sie bei Schalke tätig sind. haben diesen Weg ausdrücklich begrüßt. Wir streichen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja!) Vergünstigungen beim Gas. Wir tun das bewusst, weil die Ich bilde einmal ein Beispiel: Sie verhandeln mit einem bisherigen Preisvorteile beim Gas eben nicht an den Kun- Spieler und bieten ihm ein Drittel mehr. Der Spieler will den weitergegeben worden sind. Deswegen ist dieser Weg aber ein Viertel mehr. Was geben Sie ihm dann? So wie Sie richtig. Er wird sich für den Endkunden als nicht schäd- heute argumentiert haben, sagen Sie, ein Viertel ist zu viel. lich erweisen. (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/ Wir streichen Vergünstigungen bei Nachtspeicheröfen. CSU]: Das macht man bei Rot-Weiß Essen, Es ist deutlich, dass wir Strom in einem Bereich eingesetzt aber nicht bei Schalke!) haben, für den er viel zu edel war. Deswegen ist es rich- tig, dass wir bei den Nachtspeicheröfen Zug um Zug und Bleiben wir auf dem Teppich! Sehen Sie ein, dass wir ei- Jahr für Jahr degressiv vorgehen und diese Bevorzugung nen guten Weg gegangen sind! In Abwandlung eines Zitats zurückschneiden. In Kombination mit unserem Förder- von George Bernard Shaw sage ich Ihnen: Wer es kann, der programm gibt das den Menschen die Gelegenheit, um- soll regieren, wer es nicht kann, soll opponieren. So wie es zurüsten. aussieht, werden Sie noch sehr lange opponieren. (B) (D) Was haben wir noch getan? Wir haben 150 Millionen Vielen Dank. Euro zur Gebäudesanierung in die Hand genommen. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben Sie in Ihrer Zeit nie geschafft. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie fordern heute von uns ein Mehrfaches, aber Sie haben Ich schließe die Aussprache. in Ihrer Zeit nur einen Bruchteil davon, ein Achtzehntel, eingesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Ab- stimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Wir geben der besonders energieintensiven Wirtschaft Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf einen Spitzenausgleich, der dafür sorgt, dass sie weiterhin zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform auf wettbewerbsfähig tätig sein kann. Das Gleiche tun wir für Drucksache 15/21. Der Finanzausschuss empfiehlt auf den Unterglasgartenbau. Das ist Politik mit Augenmaß. Drucksache 15/71, den Gesetzentwurf in der Ausschuss- Das ist eben das Gegenteil von ideologischer Politik, die fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Sie uns immer unterstellen. setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, Professor Jarass hat es auf den Punkt gebracht: Das Ge- um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- samtpaket erfüllt systematisch die auch von den deut-hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- schen Unternehmensverbänden erhobene Forderung nach tung angenommen. Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen. Wir kommen zur Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen des hier zu diskutierenden Ökosteuerpakets wird mehr als 1 Milli- dritten Beratung arde Euro an Steuervergünstigungen und Subventionen und Schlussabstimmung. Hierfür ist namentliche Abstim- abgebaut. Das und nicht das, was Sie den Menschen vor- mung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen zumachen versuchen, ist die Realität. und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Abstimmung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Damit ist Energiepolitik für diese Legislaturperiode Stimme nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall natürlich bei weitem nicht zu Ende. Wir haben in der letz- zu sein. Ich schließe die Abstimmung. 608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Rolf Hempelmann (A) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit Peter Götz (CDU/CSU): (C) der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- 1 Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Menschen wurden mung wird Ihnen später bekannt gegeben. vor der Wahl bewusst getäuscht und belogen. Nach und Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-nach kommt das ganze Desaster auf den Tisch. Die ßungsanträge. Wer für den Entschließungsantrag derschriftliche Bestätigung haben Sie gestern von den Steu- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/87 stimmt, erschätzern, den Wirtschaftsweisen und der Brüsseler den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Wer Kommission in einer nicht mehr zu überbietenden Deut- möchte sich der Stimme enthalten? – Der lichkeit Ent- bekommen. „Staatsfinanzen – Am Abgrund“ schließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen der titelte heute das „Handelsblatt“. Gestern wurden aufgrund Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen der aktuellen Steuerschätzung dramatische Einnahmeein- der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. brüche für Bund, Länder und Gemeinden angekündigt – eine fürchterliche Katastrophe für den Bundeskanzler und Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion seinen Finanzminister, aber auch, was noch schlimmer ist, der FDP auf Drucksache 15/86? – Gegenprobe! – Enthal- für unser Land. tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor abgelehnt. Die größten Verlierer sind wieder einmal die Kommu- nen. Sie verlieren endgültig ihre politische Handlungs- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: fähigkeit. Immer neue Einbußen bei den Einnahmen und Zuweisung von zusätzlichen Aufgaben durch rot-grüne Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Bundesgesetze führen unsere Städte und Gemeinden sys- Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, weite- tematisch an den Rand des finanziellen Ruins. Nach der ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU gestern veröffentlichten Steuerschätzung büßen die Städte eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- und Gemeinden in diesem Jahr mehr ein als Bund und rung des Gesetzes zur Neuordnung derLänder zusammen. Von den 5,9 Milliarden Minderein- Gemeindefinanzen (Gemeindefinanzreformge- nahmen bei Bund, Länder und Gemeinden entfallen allein setz) auf die Gemeinden 4,1 Milliarden. Dieses Missverhältnis ist eindeutig ein Skandal. Der Finanzminister aber stellt – Drucksache 15/30 – sich hin und erklärt: Alle anderen sind schuld, nur nicht Überweisungsvorschlag: diese Bundesregierung. Finanzausschuss (f) Innenausschuss (Bernd Scheelen [SPD]: Da hat er Recht!) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Vor zwei Jahren haben Sie den Kommunen im Rahmen (B) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO der Anhebung der Gewerbesteuerumlage viele Milliar- (D) den weggenommen. Der Finanzminister nennt so etwas Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sparen. In Wahrheit findet eine plumpe Verschiebung in- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Wider- nerhalb des bundesstaatliches Finanzsystems statt. Die spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so be- Gründe, die Sie dafür angegeben haben, haben sich als schlossen. falsch erwiesen. Es ist unanständig, wenn Sie diese Er- Ich eröffne die Aussprache. Als Erstem erteile ich dem höhung nicht rückgängig machen; denn nicht einen Ihrer Kollegen Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion dasRechtfertigungsgründe können Sie aufrechterhalten. Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Peter Götz (CDU/CSU): Ihre Versuche, ständig Verschiebebahnhöfe zulasten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! kommunaler Haushalte zu betreiben, sind ausgereizt. Bei Rot-Grün hat uns innerhalb von wenigen Jahren systema- den Kommunen ist nichts mehr zu holen. Sie können tisch in die schlimmste Finanzkrise seit Bestehen derkeine neuen Aufgaben mehr finanzieren; schon die beste- Bundesrepublik Deutschland geführt. henden Aufgaben können sie kaum noch wahrnehmen. Sie haben vier Jahre lang Städte und Gemeinden wie eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zitrone ausgepresst. (Jörg Tauss [SPD]: Nennen Sie Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: einmal Beispiele!) Herr Kollege Götz, einen Augenblick bitte. Ich wäre – Ich nenne Ihnen gerne einige Beispiele: von der Grund- dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an die- sicherung der Rente über die Mitfinanzierung des Kin- ser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen, dergeldes oder die wegen Ihrer schlechten Arbeitsmarkt- den Saal verließen, damit diejenigen, die sich an der De- politik zunehmende Zahl von Sozialhilfeempfängern bis batte beteiligen wollen, ihr auch wirklich konzentriert fol- hin zu Integrationskosten für in Deutschland lebende Aus- gen können. länder. Es handelt sich hierbei um ein Ausgabevolumen in der Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbe- Bitte schön, Herr Götz. trags, das Sie den Kommunen in den letzten vier Jahren nach und nach aufs Auge gedrückt haben. 1 Ergebnis Seite 612 C (Zuruf von der SPD: Das ist doch gelogen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 609

Peter Götz (A) Auf der Einnahmenseite verhalten Sie sich genauso Zweitens haben die Länder bei der Übertragung (C) des kommunalfeindlich: Durch die Versteigerung der UMTS- Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz von der da- Lizenzen hat der Finanzminister für den Bund 50 Milliar- maligen Bundesregierung die dazugehörigen Mittel be- den Euro kassiert. kommen. (Bernd Scheelen [SPD]: Und in die (Ute Kumpf [SPD]: Sie sind nicht angekom- Schuldentilgung gesteckt!) men!) Kommunikationsunternehmen schreiben nun auf Jahre Nur – das billige ich Ihnen zu – sind sie an vielen kleb- hinaus große Verluste und zahlen keine Steuern mehr – rigen Fingern der Länderfinanzminister hängen geblieben Telekom lässt grüßen: Sie brauchen nur die Pressekon- und nicht durchgereicht worden. ferenz der Telekom, die im Moment parallel stattfindet, zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verfolgen. Den Kommunen entgehen dabei mehr als neten der FDP) 7 Milliarden Euro. Warum sage ich das? Es muss wieder der Grundsatz Es geht munter weiter zulasten der untersten Ebene un- gelten: Wer bestellt, der bezahlt. Wir brauchen das Kon- seres Staates: Nach der neuen Koalitionsvereinbarung nexitätsprinzip, damit die Dinge wieder auf die Beine sollen die Gemeinden für 20 Prozent aller Kinder bis zum gestellt werden. Alter von drei Jahren eineTagesbetreuung vorhalten. Der Bundeskanzler verkündet die Wohltat und lobt sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei selbst für einen Bundeszuschuss von 1,5 Milliarden Euro. Abgeordneten der FDP) In Wirklichkeit liegen die Kosten in einer Größenordnung Ökosteuererhöhung und Erdgassteuer – darüber wurde von mindestens 2,5 Milliarden Euro. Eine satte Milliarde gerade debattiert – führen zu einer drastischen Erhöhung bleibt bei den Städten und Gemeinden hängen, mit zu- der Energiepreise für die Menschen und die Unterneh- nehmender Tendenz. men, aber auch für Städte und Gemeinden, die viele öf- (Beifall bei der CDU/CSU) fentliche Einrichtungen aus ökologischen Gründen auf Erdgas umgestellt haben. Dafür werden sie jetzt bestraft. 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen sind die nächs- Ich sage ganz deutlich und unmissverständlich: Die Ge- te Wohltat des Kanzlers. Pro Schule macht meinden dies können keine weiteren Belastungen überneh- 20 000 Euro. Das reicht kaum, um Geschirr zu kaufen, ge- men, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen sollen. Das scheint schweige denn für Investitionen oder gar zur Finanzierung noch nicht ganz bis zu Ihnen durchgedrungen zu sein. Re- der Personalkosten; wieder sollen die Kommunen zahlen. den Sie einmal vor Ort in Ihren Wahlkreisen mit den Kom- munalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern! Oder ge- (B) (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hen Sie denen inzwischen aus dem Weg? Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage (Jörg Tauss [SPD]: Na, na!) des Kollegen Tauss? Nach einer Berechnung des Deutschen Städtetages aus diesem Monat wird das Haushaltsdefizit der deutschen Peter Götz (CDU/CSU): Kommunen in diesem Jahr bei 8 Milliarden Euro liegen. Dies ist mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Gern. Im Jahr 1998 – am Ende einer CDU/CSU-geführten Re- gierung – hatten die Kommunen einen positiven Gesamt- Jörg Tauss (SPD): saldo von über 2 Milliarden Euro. Damals gab es noch eine kommunalfreundliche Politik in diesem Haus. Lieber Herr Kollege Götz, würden Sie mir zubilligen, dass es einen kleinen Unterschied ausmacht, ob der Bund (Lachen bei der SPD) ein Gesetz macht, ohne einen Pfennig dazuzugeben, wie Wie sieht es heute, nach vier Jahren Rot-Grün, aus? es seinerzeit der Fall war, als Sie das Kindergartengesetz Täglich stehen neue Katastrophenmeldungen aus den verabschiedet haben, oder ob – wie wir es jetzt machen – Städten und Gemeinden in den Zeitungen. Immer mehr den Ländern und den Kommunen für die Ganztagsbetreu- Kommunen gehen Pleite. SPD-Bürgermeister beklagen ung entsprechende Mittel von rund 1,5 Milliarden Euro öffentlich die falsche Politik von Rot-Grün. Der Ober- pro Jahr zur Verfügung gestellt werden? Wenn Sie über bürgermeister aus des Bundeskanzlers Heimatstadt Belastungen reden, sollten Sie der Fairness halber versu- Hannover warnt vor dem Ende der kommunalen Selbst- chen, Ihre damalige Verhaltensweise mit dem, was diese verwaltung und fordert – wie noch diese Woche auf dem Regierung tut, in Einklang zu bringen. CDU-Bundesparteitag in Hannover – deren Stärkung ein. Der Mann hat Recht. Nur wäre es besser, wenn er dies (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch seinen Genossen im Bundeskanzleramt deutlich sa- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen würde; denn dort wäre es angebrachter. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (CDU/CSU): Peter Götz neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Der hat Erstens haben Sie dem Gesetz seinerzeit zugestimmt. aber vor 14 Tagen etwas anderes gesagt!) Ob Sie da schon im Bundestag waren, weiß ich nicht. Sein roter Kämmerer sekundiert und sagt: „So habe ich (Jörg Tauss [SPD]: Na, na, na!) mir sozialdemokratische Steuerpolitik nicht vorgestellt.“ – 610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Peter Götz (A) Ich könnte, wenn Sie das hören möchten, die Kommen- tige Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, (C) tare von SPD-Kommunalpolitikern noch eine Weile fort- die Sie beschlossen haben. Lassen Sie den Gemeinden ihr setzen. Sogar Schröders heimlicher niedersächsischerGeld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg! Für die Kronprinz, , stimmt ein: „Die Leute vor Kommunen würde dieser Schritt zu einer schnellen und Ort merken doch langsam, dass da etwas im System nicht spürbaren Entlastung führen: im nächsten Jahr 2,3 Milliar- stimmt.“ den Euro und im Jahr 2004 2,6 Milliarden Euro. Umgekehrt gilt: Wenn dieses Geld nicht fließen wird, fehlen diese Be- Die Menschen in Deutschland merken es auf schmerz- träge in den kommunalen Kassen. liche Weise. Die Kommunalpolitiker müssen sich vor Ort mit der Schließung von Schwimmbädern, Freizeit- und Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Wir wollen Sporteinrichtungen auseinander setzen. Schulen sind in auch in Zukunft lebenswerte Städte und Gemeinden, die einem unwürdigen Zustand. Straßen und Brücken werden in der Lage sind, ihre Aufgaben für die Bürgerinnen und nur noch notdürftig geflickt, wenn nicht gar gesperrt.Bürger zu erfüllen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen. Theater, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen – überall Herzlichen Dank. ist die Lage furchtbar. Inzwischen finanzieren viele Kom- munen ihre Ausgaben für Sozialhilfe und Gehälter nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch auf Pump. Das widerspricht dem kommunalen Haushaltsrecht. Über kurz oder lang brauchen wir in Deutschland keine Bürgermeister mehr, sondern nur noch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Staatskommissare, die den kommunalen Mangel verwal- Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild für die ten. Das kann doch nicht unser Ziel sein. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Horst Schild (SPD): Das hat überhaupt nichts mehr mit kommunaler Selbst- Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehr- verwaltung zu tun. ter Herr Kollege Götz, ich kann mich noch gut an die Dis- kussion erinnern, die wir im Januar zum gleichen Thema Was sind die Folgen? In den letzten Jahren sind die hier führten. Seinerzeit waren wir aber nicht die sozialis- kommunalen Investitionen ständig überproportional ge- tischen Umverteiler, sondern der Knecht des Großkapi- sunken. Das ist eine Katastrophe für die Zukunft unseres tals, Landes: für das Handwerk, für den Mittelstand und für den Arbeitsmarkt. Die Gemeinden schieben einen riesi- (Zuruf von der CDU/CSU: Beides ist richtig!) gen Investitionsstau vor sich her. Nach dem Deutschen (B) weil wir den Großkonzernen die Steuergeschenke nur so (D) Institut für Urbanistik müssen sie in den nächsten zehn hinten reingeschoben haben. – Die Zeiten wandeln sich, Jahren 686 Milliarden Euro investieren, um den Standort die Argumente auch. Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenz- fähig zu halten. Herr Kollege Götz, wir wissen alle, dass die Kommu- nen spürbare Rückgänge bei den Gewerbesteuereinnah- Ohne funktionierende kommunale Selbstverwaltung men zu verkraften haben und dass sie Hilfe brauchen. Sie bekommen wir einen anderen Staat: zentralistischer, büro- haben eben sehr beredt die Not der Gemeinden in diesem kratischer, schwerfälliger und für die Menschen fremder. Lande geschildert. CDU und CSU wollen keinen Zentralismus. Wir wollen starke Städte und Gemeinden in unserem Land. (Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist leider so!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Aber – damit komme ich zu Ihrem Antrag – was fällt Abgeordneten der FDP) Ihnen in dieser Situation ein? Nichts anderes als die Ab- senkung der Gewerbesteuerumlage! Manchmal hat man den Eindruck, alte sozialistische Zentralstaatsinstinkte kommen wieder zum Vorschein. (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre ein Anfang!) (Zurufe von der SPD: Oh! – Jörg Tauss [SPD]: Alte Textbausteine!) Sie haben den Antrag, den der Freistaat Bayern und an- dere Bundesländer in den Bundesrat eingebracht haben, Der Aufbruch zur viel gepriesenen neuen Mitte ist von Ih- wörtlich übernommen. nen schon lange zu den Akten gelegt worden. Die alte Linke dominiert das politische Geschehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist doch rich- tig!) (Joachim Poß [SPD]: Fragen Sie Herrn Rexrodt! Er war in der Roten Zelle Ökonomie!) Viel Geistesschmalz ist da offensichtlich nicht hineinge- flossen. Die kommunale Selbstverwaltung wird durch Ihre Politik systematisch ausgehöhlt. Wenn Ihnen das Freude bereitet, (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: ist es umso schlimmer. Wir fordern eine Umkehr dieser Das war auch nicht zu erwarten!) falschen Politik. Die Unionsfraktion verfährt hier offensichtlich wieder Eine Chance haben Sie. Eine Chance, zu einer kom- nach dem Motto „Alle Jahre wieder“ und möchte die munalfreundlichen Politik zurückzukehren, ist die sofor- Löcher der Kommunen mit neuen Löchern bei Bund und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 611

Horst Schild (A) Ländern stopfen. Was Sie hier beredt beklagen, gilt ja für zahlen vorsahen, hätten die Gewerbesteuer noch weiter(C) alle staatlichen Ebenen. Ihr Vorschlag, die Gewerbe-nach unten gedrückt. steuerumlage auf den Stand vor der Steuerreform abzu- (Joachim Poß [SPD]: Die wurden im Ausschuss senken, führt nur zu neuen Löchern bei Bund und Län- von den kommunalen Spitzenverbänden abge- dern. Das kann nicht die Lösung sein. Das wiederholte lehnt!) Einbringen solcher Gesetzentwürfe bringt uns nicht wei- ter. Die Gewerbesteuerumlage ist nicht der Grund für die aktuelle Entwicklung. Die wahren Ursachen liegen in der Es sei Ihnen vergönnt, dass Sie sich des Sachverstan- schwachen Konjunktur, in der schlechten Gewinnlage des des Landes Bayern bedienen. Ich hoffe, dass sich die der Unternehmen Parlamentarier der Unionsfraktion zukünftig nicht zum bloßen Anhängsel der Bayerischen Staatsregierung ma- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: In der chen. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Beispiele Bundesregierung!) dafür bekommen, dass sie uns fast wortwörtlich – biswei- und in den weit reichenden Gestaltungs- und Umstruktu- len mit Modifikationen bei den finanziellen Auswirkun- rierungsmöglichkeiten der Unternehmen. Es sind eben gen – das hereinreichen, was die Bayerische Staatsregie- nicht die strukturellen Defizite der Gewerbesteuer, die zu rung formuliert hat. dieser Entwicklung geführt haben. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Ungeheuer Das sagt auch die amtierende Städtetagspräsidentin, konstruktiv!) Frau Roth, und verweist ausdrücklich auf die Aushöhlung Ich möchte einmal am Rande erwähnen, dass im letz- der Gewerbesteuer lange vor Antritt der jetzigen Bundes- ten Jahr der Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischenregierung. Wir müssen die Strukturprobleme der Gewer- Landtag auf Absenkung derGewerbesteuerumlage im besteuer angehen. Wir müssen eine stabile Basis für die Land Bayern keine Mehrheit fand. Kommunalfinanzen schaffen. Das ist eine Lösung für die Kommunen. (Zurufe von der SPD: Oh! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Bundesrat (Beifall bei Abgeordneten der SPD) übrigens auch nicht!) Ich sehe nicht, welchen Beitrag die Union dazu leistet, Ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit und ein bisschenaußer ständig, litaneienhaft die gleichen Gesetzentwürfe mehr Substanz wären vielleicht hier und da geboten. einzubringen. Was ist Ihr Konzept? Mit der Senkung der Wieso haben die unionsgeführten Länder nicht bereits Gewerbesteuerumlage reißen Sie nur neue Löcher in die Haushalte von Bund und Ländern. (B) ihren Beitrag geleistet – die kommunalen Spitzenver- (D) bände haben sie dazu aufgefordert – und den Umlage- Wir haben bereits strukturelle Sofortmaßnahmen ein- anteil zumindest für ihr jeweiliges Bundesland gesenkt, geleitet. um damit zu einer Stabilisierung der Kommunen in den (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Steuer- jeweiligen Bundesländern beizutragen? Die Wahrheit ist erhöhungen habt ihr eingeleitet!) doch: Die Kommunen können froh sein, dass die Steuer- vorschläge der Union bislang nie Wirklichkeit geworden Wir haben im Unternehmensteuerfortentwicklungs- sind. gesetz vom Dezember letzten Jahres die ersten Verbes- serungen für die Gewerbesteuerbasis der Kommunen (Beifall bei der SPD) vorgenommen. Ohne diese Maßnahmen wären die Ge- Die Union ist kein verlässlicher Partner der Kommunen. werbesteuereinnahmen der Kommunen schon in diesem Die Forderung nach Senkung der Umlage der Gewerbe- Jahr noch deutlicher gesunken. Das ist doch unstrittig. steuer ist ein politischer Schnellschuss. Sie ist auch sach- Diese Sofortmaßnahmen haben wir gegen Ihren Wider- lich nicht gerechtfertigt. Es ist nun einmal so, dass unsere stand durchgesetzt, während Sie weitere Steuersenkun- Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gen gefordert haben. Das hat die heutigen Debatten wie im Zuge der Steuerreform auch Mehreinnahmen im Rah- ein roter Faden durchzogen: Zwischen dem, was Sie hier men der Gewerbesteuer nach sich ziehen. Das setzt natür- fordern, und dem realen Handeln gibt es keinen Zusam- lich voraus, dass die Konjunktur besser wird. Aber dies menhang. trägt zur Stabilisierung bei. Weitere Verbesserungen haben wir im Koalitions- Die Gewerbesteuerrückgänge im letzten und auch in vertrag beschlossen. Wir werden sie im Bundestag ver- diesem Jahr sind – das haben Sie hier entgegen besserer abschieden. Wir haben die Anliegen der kommunalen Einsicht immer wieder betont; so unterstelle ich einmal – Spitzenverbände aufgegriffen. Ein Beispiel ist die Ab- nicht auf unsere Steuerreform zurückzuführen. Darauf schaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft. Hier haben die kommunalen Spitzenverbände immer wieder können die unionsregierten Länder zeigen, ob sie im Inte- hingewiesen. resse der Kommunen handeln oder ob sie eine Blockade- politik betreiben wollen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die Steuervorschläge der Union in der Vergangenheit – ich weiß nicht, inwieweit Sie sich davon verabschiedet Um im Übrigen noch einmal auf die Präsidentin des Deut- haben –, die eine Absenkung der Gewerbesteuermess- schen Städtetages zurückzukommen: Frau Roth hat im 612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Horst Schild (A) Interesse der Städte und Gemeinden unsere Vorschläge Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) ausdrücklich begrüßt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bevor ich Meine Damen und Herren, wir wollen die gewerbe- dem nächsten Redner das Wort gebe, darf ich Ihnen das steuerliche Organschaft abschaffen. Ich bin gespannt, wie von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte sich die Union im Bundestag und im Bundesrat dazu ver- Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Ge- hält. Wir werden es abwarten. Ich hoffe bei den zukünf- setzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ tigen Beratungen auch im Interesse der Kommunen in diesem Lande auf eine konstruktive Zusammenarbeit und Die Grünen zur Fortentwicklung der ökologischen Steuer- nicht nur auf die ständige Wiederholung abgegriffener reform bekannt geben. Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja Gesetzentwürfe. haben gestimmt 303, Ich danke Ihnen. (Jörg Tauss [SPD]: Kanzlermehrheit!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit Nein haben gestimmt 274, Enthaltungen gab es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keine.

Endgültiges Ergebnis Christel Humme Ulrike Merten Abgegebene Stimmen: 578; Siegmund Ehrmann Lothar Ibrügger Hans Eichel Brunhilde Irber Ursula Mogg davon Marga Elser Renate Jäger Michael Müller (Düsseldorf) ja: 303 Gernot Erler Jann-Peter Janssen Christian Müller (Zittau) nein: 275 Petra Ernstberger Klaus Werner Jonas Gesine Multhaupt Karin Evers-Meyer Johannes Kahrs Franz Müntefering Ja Annette Faße Ulrich Kasparick Dr. Rolf Mützenich Elke Ferner Susanne Kastner Volker Neumann (Bramsche) SPD Rainer Fornahl Hans-Peter Kemper Dr. Erika Ober Dr. Lale Akgün Gabriele Frechen Klaus Kirschner Holger Ortel Ingrid Arndt-Brauer Hans-Ulrich Klose Heinz Paula Lilo Friedrich (Mettmann) Astrid Klug Johannes Pflug Hermann Bachmaier Iris Gleicke Dr. Heinz Köhler Joachim Poß Ernst Bahr (Neuruppin) Günter Gloser Dr. Wilhelm Priesmeier (B) Uwe Göllner Fritz Rudolf Körper (D) Dr. Hans-Peter Bartels Angelika Graf (Rosenheim) Karin Kortmann Dr. Eckhardt Barthel (Berlin) Dieter Grasedieck Rolf Kramer Karin Rehbock-Zureich (Starnberg) Monika Griefahn Gerold Reichenbach Sören Bartol Ernst Kranz Dr. Sabine Bätzing Gabriele Groneberg Nicolette Kressl Christel Riemann- Achim Großmann Volker Kröning Hanewinckel Wolfgang Grotthaus Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Karl Hermann Haack Angelika Krüger-Leißner Reinhold Robbe (Extertal) Horst Kubatschka René Röspel Hans-Werner Bertl Hans-Joachim Hacker Ernst Küchler Dr. Helga Kühn-Mengel Karin Roth (Esslingen) Klaus Hagemann Ute Kumpf Michael Roth (Heringen) Lothar Binding (Heidelberg) Alfred Hartenbach Dr. Uwe Küster Gerhard Rübenkönig Michael Hartmann Christine Lambrecht Ortwin Runde Gerd Friedrich Bollmann (Wackernheim) Christian Lange (Backnang) Marlene Rupprecht Klaus Brandner Anke Hartnagel Christine Lehder (Tuchenbach) Nina Hauer Waltraud Lehn Thomas Sauer Dr. Elke Leonhard Anton Schaaf (Hildesheim) Reinhold Hemker Eckhart Lewering Axel Schäfer (Bochum) Hans-Günter Bruckmann Rolf Hempelmann Götz-Peter Lohmann Gudrun Schaich-Walch Dr. Barbara Hendricks (Neubrandenburg) Marco Bülow Gabriele Lösekrug-Möller Bernd Scheelen Petra Heß Erika Lotz Dr. Dr. Michael Bürsch Monika Heubaum Dr. Siegfried Scheffler Hans Martin Bury Gabriele Hiller-Ohm Dirk Manzewski Horst Schild Hans Büttner (Ingolstadt) Stephan Hilsberg Tobias Marhold Otto Schily Marion Caspers-Merk Gerd Höfer Lothar Mark Horst Schmidbauer Dr. Peter Wilhelm Danckert Walter Hoffmann (Nürnberg) Dr. Herta Däubler-Gmelin (Darmstadt) (Aachen) Karl Diller (Wismar) Silvia Schmidt (Eisleben) Martin Dörmann Frank Hofmann (Volkach) Markus Meckel (Meschede) Peter Dreßen Eike Hovermann Ulrike Mehl Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Detlef Dzembritzki Klaas Hübner Petra-Evelyne Merkel Heinz Schmitt (Berg) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 613

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Uta Zapf Dr. Wolfgang Götzer (C) Walter Schöler Manfred Helmut Zöllmer Dietrich Austermann Dr. Christoph Zöpel Kurt-Dieter Grill Karsten Schönfeld Günter Baumann Fritz Schösser BÜNDNIS 90/ Ernst-Reinhard Beck Hermann Gröhe Wilfried Schreck DIE GRÜNEN (Reutlingen) Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Dr. Manfred Grund Gerhard Schröder (Bremen) Gisela Schröter Otto Bernhardt Volker Beck (Köln) Holger Haibach Brigitte Schulte (Hameln) Reinhard Schultz Klaus-Jürgen Hedrich (Everswinkel) (Berlin) Grietje Bettin Dr. Maria Böhmer Ursula Heinen Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Siegfried Helias Ekin Deligöz Wolfgang Börnsen Uda Carmen Freia Heller Dr. Thea Dückert (Bönstrup) Erika Simm Jutta Dümpe-Krüger Wolfgang Bosbach Jürgen Herrmann Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Cornelie Sonntag- Dr. Uschi Eid Klaus Brähmig Ernst Hinsken Wolgast Hans-Josef Fell Dr. Wolfgang Spanier Joseph Fischer (Frankfurt) Robert Hochbaum Dr. Margrit Spielmann Katrin Dagmar Göring- Klaus Hofbauer Jörg-Otto Spiller Eckardt Monika Brüning Dr. Ditmar Staffelt Joachim Hörster Verena Butalikakis Hubert Hüppe Rolf Stöckel Antje Hermenau Hartmut Büttner Susanne Jaffke Christoph Strässer Peter Hettlich (Schönebeck) Dr. Rita Streb-Hesse Ulrike Höfken Cajus Caesar Dr. Egon Jüttner Dr. Peter Struck Thilo Hoppe (Emstek) Bartholomäus Kalb Joachim Stünker Michaele Hustedt Peter H. Carstensen Steffen Kampeter Jörg Tauss (Nordstrand) Irmgard Karwatzki Jella Teuchner Renate Künast Bernhard Kaster Dr. Gerald Thalheim Markus Kurth Volker Kauder Wolfgang Thierse Undine Kurth (Quedlinburg) Siegfried Kauder Franz Thönnes Dr. Reinhard Loske (B) Albert Deß (Bad Dürrheim) (D) Hans-Jürgen Uhl Anna Lührmann Gerlinde Kaupa Rüdiger Veit Jerzy Montag Vera Dominke Eckart von Klaeden Simone Violka Kerstin Müller (Köln) Thomas Dörflinger Jürgen Klimke Jörg Vogelsänger Winfried Nachtwei Marie-Luise Dött Julia Klöckner (Pforzheim) Christa Nickels Maria Eichhorn Kristina Köhler Dr. Marlies Volkmer Manfred Kolbe Hans Georg Wagner Simone Probst Georg Fahrenschon Norbert Königshofen Hedi Wegener (Augsburg) Hartmut Koschyk Andreas Weigel Krista Sager Dr. Hans Georg Faust Thomas Kossendey Petra Weis Christine Scheel Albrecht Feibel Rudolf Kraus Reinhard Weis (Stendal) Irmingard Schewe-Gerigk Matthias Weisheit Rezzo Schlauch Ingrid Fischbach Günther Krichbaum Gunter Weißgerber Albert Schmidt (Hitzhofen) Hartwig Fischer (Göttingen) Günter Krings (Leipzig) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Martina Krogmann (Wiesloch) Petra Selg Axel E. Fischer Dr. Hermann Kues Dr. Ernst Ulrich von Ursula Sowa (Karlsruhe-Land) (Zingst) Weizsäcker Rainder Steenblock Dr. Dr. Norbert Lammert Jochen Welt Klaus-Peter Flosbach Barbara Lanzinger Dr. Rainer Wend Hans-Christian Ströbele Karl-Josef Laumann Lydia Westrich Jürgen Trittin Dr. Hans-Peter Friedrich Inge Wettig-Danielmeier Marianne Tritz (Hof) Werner Lensing Dr. Hubert Ulrich Jochen-Konrad Fromme Peter Letzgus Andrea Wicklein Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Michael Fuchs Walter Link (Diepholz) Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Fuchtel Eduard Lintner Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Ludger Volmer Dr. Dr. Klaus W. Lippold Dr. Dieter Wiefelspütz Josef Philip Winkler Dr. Jürgen Gehb (Offenbach) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Margareta Wolf (Frankfurt) Engelbert Wistuba Dr. Michael Luther Barbara Wittig Dorothee Mantel Dr. Nein Georg Girisch Verena Wohlleben Michael Glos (Recklinghausen) CDU/CSU Waltraud Wolff Ralf Göbel (Altötting) (Wolmirstedt) Tanja Gönner Cornelia Mayer Heidemarie Wright Ilse Aigner Peter Götz (Baiersbronn) 614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Dr. Martin Mayer Dr. Matthäus Strebl Joachim Günther (Plauen) (C) (Siegertsbrunn) (Heilbronn) Dr. Wolfgang Meckelburg Franz Romer Michael Stübgen Dr. Michael Meister Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Michaela Tadjadod (Homburg) Dr. Dr. Klaus Rose Klaus Haupt Friedrich Merz Dr. Norbert Röttgen Edeltraut Töpfer Ulrich Heinrich (Hamm) Dr. Christian Ruck Dr. Hans-Peter Uhl Birgit Homburger Doris Meyer (Tapfheim) Volker Rühe Dr. Werner Hoyer (Weiden) Volkmar Uwe Vogel Dr. Heinrich L. Kolb Hans Michelbach Peter Rzepka Gudrun Kopp Klaus Minkel Anita Schäfer (Saalstadt) Andrea Astrid Voßhoff Jürgen Koppelin Dr. Wolfgang Schäuble Gerhard Wächter Sibylle Laurischk Dr. Gerd Müller Harald Leibrecht Hildegard Müller Norbert Schindler Peter Weiß (Emmendingen) Ina Lenke Stefan Müller (Erlangen) Georg Schirmbeck Gerald Weiß (Groß-Gerau) Sabine Leutheusser- Bernward Müller (Gera) Schnarrenberger (Bremen) Christian Schmidt (Fürth) Annette Widmann-Mauz Markus Löning Günter Nooke Andreas Schmidt (Mülheim) Klaus-Peter Willsch Dirk Niebel Dr. Georg Nüßlein Dr. Andreas Schockenhoff Willy Wimmer (Neuss) Günther Friedrich Nolting Franz Obermeier Dr. Ole Schröder Hans-Joachim Otto Melanie Oßwald Bernhard Schulte-Drüggelte Werner Wittlich (Frankfurt) Dagmar Wöhrl Eberhard Otto (Godern) Rita Pawelski Wilhelm Josef Sebastian Elke Wülfing Detlef Parr Dr. Peter Paziorek Wolfgang Zeitlmann Ulrich Petzold Kurt Segner Wolfgang Zöller Gisela Piltz Dr. Matthias Sehling Willi Zylajew Dr. Andreas Pinkwart Sibylle Pfeiffer Marion Seib Dr. Günter Rexrodt Dr. Friedbert Pflüger Heinz Seiffert FDP Marita Sehn Dr. Hermann Otto Solms Bernd Siebert (Münster) Dr. Rainer Stinner Rainer Brüderle Carl-Ludwig Thiele Daniela Raab Dr. Dieter Thomae Dr. Christian Eberl Jürgen Türk Hans Raidel Jörg van Essen Dr. Guido Westerwelle Dr. Christian Freiherr von Ulrike Flach Dr. Claudia Winterstein (B) Helmut Rauber Stetten (D) Christa Reichard (Dresden) Gero, Storjohann Horst Friedrich (Bayreuth) fraktionslos Hans-Peter Repnik Andreas Storm Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Dr. Gesine Lötzsch

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver- sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Daub, Helga Rossmanith, Kurt J. FDP CDU/CSU

Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Der beispiellose Absturz der kommunalen Steuer- einnahmen infolge staatlicher Lastenverschiebungen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erheblich gestiegener Sozialausgaben engt den finanziel- DIE GRÜNEN) len Handlungsspielraum der gemeindlichen Ebene in dra- Nun setzen wir die Debatte fort. Als nächstem Redner matischer Weise ein. erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Pinkwart, FDP- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Fraktion. Der starke Verfall der kommunalen Investitionen ver- stärkt die wirtschaftliche Talfahrt und verschärft die Pro- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): bleme am Arbeitsmarkt. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Der Sachverständigenrat legt in seinem Herbstgutach- Herren! Der Standort Deutschland leidet Not unter der ten mit der Wachstumsprognose für 2003 von nur 1 Pro- Last rot-grüner Reformverweigerung und mit ihm leiden zent den Finger in die Wunde: Unser Land befindet sich die Städte und Gemeinden und die in ihnen lebenden nicht in einer Konjunktur-, sondern in einer tief greifen- Bürger. den Strukturkrise. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 615

Dr. Andreas Pinkwart (A) Eines der maßgeblichen Strukturprobleme liegt in Ihre so genannte Ich-AG steuerlich gestalten, sodass sie (C) den Fehlentwicklungen bei der Aufgaben- und Finanz- trotz der Bürokratielast noch irgendeinen Menschen in verteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden be- diesem Lande interessiert? gründet. Unser erster Bundespräsident, Theodor Heuss, hat es einmal auf die griffige Formel gebracht: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Steuer- Das Wichtigste im Staat sind die Gemeinden, und das freibeträge!) Wichtigste in der Gemeinde sind die Bürger. Die zweite Säule der Gemeindefinanzreform bildet die Rot-Grün hat sich von diesem demokratischen Grundsatz, konsequente Überprüfung der Aufgaben und Ausga- den Staat von unten nach oben aufzubauen, durch noch ben. Nur wenn sichergestellt ist, dass den Kommunen die mehr staatliche Regulierung und einseitige Aufgaben- durch Übertragung von Ausgaben und Ausführung von und Lastenverteilung zulasten von Gemeinden und Bür- Leistungsgesetzen entstehenden finanziellen Mehrbelas- gern weit entfernt. tungen ausgeglichen werden, kommen wir im Ergebnis (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zur dringend gebotenen Selbstbeschränkung der Politik der CDU/CSU) auf allen Ebenen, zur systematischen Aufgabenkritik und zur weiterhin notwendigen Effizienzsteigerung. Hierzu Bürgern und Gemeinden werden immer neue Fesseln gehört auch eine kritische Überprüfung von Normen und angelegt und finanzielle Lasten aufgebürdet. Die Defizite Standards. Kostenintensive, aber für die Aufgabenerfül- in den kommunalen Verwaltungshaushalten haben – das lung nicht notwendige Standards müssen von den Kom- hat ein Vorredner deutlich gemacht – zwischenzeitlich munen endlich flexibler gehandhabt werden können. Rekordhöhen erreicht. Nach den aktuellen Steuerschät- zungen vom November sehen sich die Gemeinden mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weiteren Einnahmeausfällen gegenüber dem Ergebnis der der CDU/CSU) Maischätzung konfrontiert: in Höhe von 2,4 Milliarden Die Kommunen stecken gegenwärtig in einer tief grei- Euro für dieses Jahr und von 2,9 Milliarden Euro für das fenden Finanzkrise. Noch bevor eine umfassende Fi- kommende Jahr. nanzreform wirkt, ist eine Stabilisierung der kommunalen Kommunale Selbstverwaltung bedeutet Freiraum und Finanzen dringend geboten. Angesichts der hohen Steuer- Verantwortung für Entscheidungen vor Ort, und zwar so- ausfälle erweist sich die von Ihnen durchgeführte Anhe- wohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite. bung der Gewerbesteuerumlage zulasten der Gemeinden Deshalb muss eine Gemeindefinanzreform, die ihren Na- als völlig unangemessen und muss zurückgenommen men wirklich verdient, die kommunale Autonomie insge- werden. samt stärken. Die vorliegende Gesetzesinitiative der Unionsfrak- (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tion – Herr Kollege Schild, ich habe hier gelernt, dass sie (D) eigentlich gar nicht aus der Feder der CDU/CSU stammt, Hierzu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, die sondern offensichtlich von der SPD-Landtagsfraktion in das gesamte kommunale Steuersystem auf eine tragfähige Bayern abgeschrieben worden ist – halten wir jedenfalls Grundlage stellt und dem Prinzip der Finanzierung der ei- für eine sehr gelungene Vorlage in diese Richtung und genen Aufgaben durch ein eigenes effektives Heberecht werden sie im Rahmen der Ausschussberatungen positiv wieder Geltung verschafft. begleiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich danke für die Aufmerksamkeit. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ziel muss dabei eine weit gehende Vereinfachung des Steuerrechts für Bürger und Unternehmen sein. Wir spre- chen uns daher für den Wegfall der konjunkturanfälligen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gewerbesteuer und ihren Ersatz durch ein eigenes Hebe- recht der Kommunen an der Einkommen- und Körper- Herr Kollege Pinkwart, dies war Ihre erste Rede im schaftsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Steuertarifsätze Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Na- sowie eine sachgerechte Beteiligung der Kommunen an men des ganzen Hauses herzlich. der Umsatzsteuer aus. (Beifall) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin der CDU/CSU) Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen. Eine Revitalisierung der viel zu komplizierten und darü- ber hinaus international wettbewerbsverzerrenden Gewer- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besteuer durch Senkung der Freibeträge, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und die Ausweitung des Kreises Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! der Steuerpflichtigen lehnen wir ganz entschieden ab. Es ist natürlich völlig richtig, dass die Gewerbesteuerein- nahmen im letzten Jahr, aber auch in diesem Jahr massiv (Horst Schild [SPD]: Nein, Sie verlagern es zurückgegangen sind. In den Städten sind die Rückgänge auf die Einkommensteuerzahler!) im Durchschnitt noch höher als in den einzelnen Kom- munen in ländlichen Regionen. Dies ist eingetreten, weil Ich möchte Ihnen die Frage, die im Finanzausschuss bis- sich die Konjunktur in Deutschland negativ verändert hat. her nicht beantwortet wurde, zurufen: Wie wollen Sie, wenn Sie schon über eine Revitalisierung nachdenken, (Zuruf von der CDU/CSU: Ursache?) 616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Christine Scheel (A) Im Vorfeld, in den Jahren 1999 und 2000, hatten wir noch steuerumlage erhöht und damit den Gemeinden das we- (C) sehr gute Gewerbesteuereinnahmen. niger verbleibende Geld auch noch weggenommen? (Zuruf von der CDU/CSU: Ja klar! 1997 und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 1998!) Michael Glos [CDU/CSU]: So sind sie!) Deshalb hat man in dieser Zeit weder vonseiten der Ge- meindetage noch vonseiten der Städte- oder Landkreis- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tage Klagen gehört. Die kommunalen Spitzenverbände Klatschen Sie nur. Ich kann Ihnen genau sagen, sind erst auf uns zugekommen und haben gesagt: „Tut et- was für uns!“, als die Einnahmen zurückgegangen sind. (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja hoffentlich!) Das ist in Ordnung und wir setzen uns damit auseinander. warum die Gewerbesteuerumlage damals verändert wor- Ich möchte Sie nur bitten – das gilt sowohl für den Kol- den ist. legen Götz von der CDU als auch für den Kollegen Pinkwart von der FDP –, hier nicht so zu tun, als habe die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Von Ihnen!) Steuergesetzgebung der Regierung, als habe zum Beispiel Wir haben damals beschlossen, die Einkommensteuer- die Unternehmensteuerreform etwas mit den Einbrüchen reform mit Steuersenkungen in drei Stufen bis zum bei den Kommunen zu tun. Jahr 2005 durchzuführen. Wir haben beschlossen, die (Ute Kumpf [SPD]: Das gilt auch für einen Körperschaftsteuer für die Unternehmen in der Bundesre- Professor!) publik Deutschland so zu gestalten, Das ist völlig falsch. Herr Braun vom Deutschen Indus- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dass sie keiner trie- und Handelskammertag hat das eindeutig bestätigt. mehr zahlt!) Auch die Führungen der kommunalen Spitzenverbände dass die Steuersätze international im Wettbewerb Be- und des Deutschen Städtetages haben konstatiert, dass stand haben. Diese beiden Maßnahmen wurden im Bun- nicht die Steuergesetzgebung die Ursache für diese Ein- desrat auch von Ländern, in denen Ihre Partei regiert, brüche ist, sondern dies eindeutig Folge der zurückgegan- also auch von CDU-regierten Ländern, so verabschiedet. genen Gewinne der Unternehmen, der Bereinigungen Man hat im Bundesrat auch verabschiedet, dass die Ge- und der Wertaufholungen, die vorgenommen wurden, ist. werbesteuerumlage verändert wird, weil selbstverständ- Wer sich ein bisschen mit dem Aufstellen von Bilanzen lich über Steuersatzsenkungen weniger Geld in die ein- auskennt, wer weiß, dass Vorauszahlungen von Unterneh- zelnen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – men rückerstattet werden, wenn sich die Gewinnspanne hineinfließt. (B) (D) verschlechtert hat, muss doch zugeben, dass in Wirklich- Sie wissen, dass die Einkommensteuer zu 42,5 Prozent keit hier die Ursache für die Einbrüche liegt. Angesichts beim Bund, zu 42,5 Prozent bei den Ländern und zu dessen kann man sich doch nicht so blöd – entschuldigen 15 Prozent auf der kommunalen Ebene veranschlagt wird. Sie den Ausdruck, das meine ich nicht persönlich – geben Bei der Körperschaftsteuer ist es halbe-halbe. und so tun, als gäbe es eine ganz andere Ursache. (Peter Götz [CDU/CSU]: Ich habe nach der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewerbesteuerumlage gefragt!) und bei der SPD) Es ist doch völlig klar, Herr Götz – wenn ich das ab- Ich bitte einfach darum, hier einmal korrekt zu argumen- schließend dazu sagen darf –: In dem Moment, wo ich we- tieren und gemeinsam daran zu arbeiten, die Probleme, niger Steuereinnahmen habe, weil ich aus wirtschaftli- die wir haben – und zwar in allen Bereichen und auf den chen Gründen und auch, um die Haushalte von Klein- und verschiedenen Ebenen, was die Steuereinnahmen anbe- Mittelverdienern zu entlasten, die Steuern in diesem Land langt –, zu lösen. senken will, fließt auch weniger Geld. Das heißt, ich muss die Verhältnismäßigkeit in der Steuerverteilung zwischen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: allen Steuerarten und zwischen den einzelnen Ebenen über die Gewerbesteuerumlage ausgleichen. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz? (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war der Hintergrund. Das ist damals auch, wie gesagt, durch den Bundesrat und durch das Vermittlungsverfah- Gerne, Herr Götz. ren gelaufen und wurde auch mit Ihrer Zustimmung da- mals so verabschiedet. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Widerspruch bei der CDU/CSU) Bitte sehr. – Lesen Sie die Protokolle nach. Ich weiß es noch sehr gut, weil ich das Vermittlungsverfahren damals selbst mitge- Peter Götz (CDU/CSU): macht habe. Frau Kollegin, wenn Ihre Argumentation stimmt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ warum haben Sie dann vor zwei Jahren dieGewerbe- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 617

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Es ging dabei um die Abschreibungsmöglichkeiten bei (C) den Branchentabellen. – Die konjunkturelle Situation war Frau Kollegin, wären Sie geneigt, eine weitere Zwi- schwierig; in bestimmten Bereichen – Maschinenbau und schenfrage des Kollegen Fromme zuzulassen? anderen – hatten wir konjunkturelle Dellen. In diesem (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kontext haben wir gesehen, dass es aus wirtschaftspoliti- Nein!) schen Gründen richtig ist, zu sagen: In diesem Bereich nehmen wir keine Veränderung zuungunsten unserer klei- nen und mittelständischen Wirtschaft in der Bundesrepu- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blik Deutschland vor. Damit sind Steuerausfälle in einer Ich weiß ja nicht – Herr Fromme? Ja, er ist nett. Größenordnung von rund 200 Millionen Euro verbunden. Das ist aber nicht das Geld, das heute den Kommunen (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehlt. Wir haben damals wirtschaftspolitisch völlig richtig und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: gehandelt. So ist es!) Herr Fromme, Sie müssen sich langsam entscheiden: Wollen Sie dauernd Steuern senken und damit auch die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Einnahmen bei den Kommunen reduzieren – dies ist Das ist kein Kriterium nach den Bestimmungen unse- nämlich die Konsequenz –, wollen Sie alle möglichen rer Geschäftsordnung. Abschreibungsmöglichkeiten für die Unternehmen bei- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) behalten, dies aber zuungunsten der Gewerbesteuerein- nahmen, Es liegt aber im Belieben des Redners, solche Zwi- schenfragen zuzulassen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie wollen Steuern erhöhen, das wissen wir!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie so weiter- machen, will Sie keiner mehr fragen!) oder wollen Sie eine vernünftige Steuerbasis? Beides zu- sammen geht nicht. Man muss sich entscheiden. Man kann nicht immer nur Entlastungen versprechen, ohne Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gleichzeitig zu sagen, woher die Einnahmen kommen. Herr Präsident, da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es wäre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein bisschen eigenartig, wenn das das einzige Kriterium und bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/ wäre. Es gibt allerdings Leute, deren Zwischenfragen ich CSU]: Niedrige Steuersätze bringen mehr Ein- einfach nicht brauche. Bei Ihnen, Herr Fromme, ist das nahmen!) (B) aber in Ordnung. (D) Man muss auch an einer anderen Stelle in dieser De- batte ganz ehrlich sein: Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): (Zuruf von der CDU/CSU: Man sollte immer Danke schön, Frau Kollegin Scheel. ehrlich sein! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Müssen Sie mir nicht bestätigen, dass die Hauptbe- Sind Sie sonst nicht ehrlich?) gründung für die Anhebung der Gewerbesteuerumlage Die Gewerbesteuerumlage ist eine Umlage, die zu gut ei- die Veränderung der AfA-Tabellen war nem Drittel dem Bund und zu etwa zwei Dritteln den Län- (Zuruf von der SPD: Quatsch!) dern zugute kommt. Dies gilt entsprechend bei einer Er- höhung. Nun werden Anträge gestellt und Vorschläge und dass Sie diese Veränderung der AfA-Tabellen zwar gemacht, die Gewerbesteuerumlage wieder auf das alte für den Mittelstand gemacht haben, für die Branchen-Niveau zu setzen. Diese Vorschläge kommen vorwiegend tabellen aber nicht? aus dem CSU-regierten Bayern, von Herrn Stoiber, oder (Zurufe von der SPD: So ein Unsinn! – Das auch von Herrn Koch oder anderen CDU-Ministerpräsi- zeigt, dass Sie es nicht verstanden haben!) denten. Ich stelle fest, dass der Länderanteil an der Gewerbe- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): steuerumlage und deren Erhöhung in Höhe von zwei Drit- teln durchaus in Eigenverantwortung von den Ländern an Herr Fromme, vielen Dank für die Frage. Bei denihre Kommunen weitergegeben werden kann. Warum AfA-Tabellen gibt es eine Haupttabelle und Branchenta- macht Bayern dies nicht? Warum macht Hessen dies bellen. Wir haben damals in der Grundtabelle die Abschrei- nicht? Warum soll nur der Bund hier tätig werden? bungsfristen zuungunsten der Wirtschaft, aber zugunsten der Steuereinnahmen verändert. Bei den Branchentabellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war es so, dass die Opposition – die CDU/CSU-Fraktion und bei der SPD) und auch die FDP-Fraktion – mit einem Riesentumult im An einem weiteren Punkt wird deutlich, wie unlauter Lande gesagt hat: Verändert nicht die Branchentabellen, das Sie, die Union, Politik betreiben: Bayern hat – ich weiß dies ruiniert die kleinen und mittelständischen Unternehmen und noch sehr gut, denn es ist noch gar nicht so lange her – die Transportwirtschaft in unserem Lande. im Bundesrat einen Antrag gestellt, dass die Umlage wie- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nein, die der auf das alte Niveau gesenkt werden sollte. Diese Vor- AfA-Tabelle!) lage ist im Finanzausschuss des Bundesrates mit der 618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Christine Scheel (A) Mehrheit der CDU-regierten Länder abgelehnt worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Dies ist die Wahrheit. und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP) (Ute Kumpf [SPD]: Hört! Hört!) Sollten sich die Schätzungen als zu niedrig erweisen – oder Stellen Sie sich doch nicht immer hier hin und tun Sie als zu hoch, das kann ja auch einmal sein –, werden wir das nicht so, als ob wir diejenigen wären, die irgendwelche zu korrigieren haben. Das ist doch überhaupt keine Frage. Entscheidungen zum Schaden der Kommunen treffen. (Ina Lenke [FDP]: Na gut, dann nehmen wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Sie beim Wort!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das glauben die wirklich!) Dann werden eben die Ausgaben vorgelegt und der Bund wird es entsprechend korrigieren. Das ist eine vernünftige Wir haben eine Kommission eingesetzt, in der auch die Politik. kommunalen Spitzenverbände vertreten sind. Diese Kom- mission wird hoffentlich bis zum Frühjahr oder Früh- Wir haben das Konnexitätsprinzip in unserem Koali- sommer nächsten Jahres Vorschläge tionsvertrag festgeschrieben. Ich bin gespannt darauf, wie sich beispielsweise der Freistaat Bayern in diesen Tagen (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wenn ich nicht gegenüber seinen Kommunen zur Frage des Konnexitäts- mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeits- prinzips äußern wird. Wenn man ehrlich ist, müsste man kreis!) das Prinzip auch auf der Länderebene anwenden und nicht für eine finanziell solide ausgestaltete Kommunalpolitik immer nur mit dem Finger auf die Bundesregierung zei- erarbeiten. Wir werden diese Vorschläge selbstverständ- gen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen. lich gesetzgeberisch umsetzen. Dies ist gar keine Frage. Danke schön. Es sind bestimmte Vorgaben gemacht worden: Plan- barkeit, das Band zwischen Kommunen und Betrieben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stärken, eigene Hebesatzrechte und vieles mehr. Herr und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Pinkwart, auch Sie haben dies angesprochen. Ich gebe Ih- Schlecht informiert, die Dame!) nen hier auch völlig Recht. Über die Bedingungen sind wir uns einig, das ist überhaupt keine Frage. Wir müssen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Vorschläge nur umsetzen. Für die Bundesregierung erteile ich nun der Parlamen- Ich möchte nun mit einer Mär aufräumen. CDU/tarischen Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks das Wort. CSU-Bürgermeister und -Landräte ziehen durch die Ge- (B) gend und sagen: Durch die Entscheidungen des Bundes (D) Parl. Staatssekretärin beim werden die Haushalte der Kommunen belastet. Dr. Barbara Hendricks, Bundesminister der Finanzen: (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das wissen die Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- von der SPD genauso! – Weitere Zurufe von der gen! Den Antrag, den die CDU/CSU heute hier vorlegt, CDU/CSU) kann man wirklich als einen typischen Schaufensteran- Alle Maßnahmen, die aktuell durchgeführt werden, ob trag bezeichnen. diese die Grundsicherung im Alter betreffen oder ob dies (Beifall bei der SPD) beispielsweise Maßnahmen im Rahmen des Einwande- rungsgesetzes wie die Integration von ausländischen Kin- Ich will die Geschichte dieses Antrages kurz erläutern. dern sind, werden in einem Fall nur vom Bund und in dem Die Daten sind jetzt gar nicht mehr so relevant. Der erste anderen Fall vom Bund und den Ländern finanziert. Aufschlag war: Der Freistaat Bayern stellte ebendiesen Antrag im Bundesrat und unterlag damit. Er bekam also Es ist nicht Aufgabe des Bundes, dafür zu sorgen, dass keine Mehrheit. Der zweite Aufschlag – und damit kom- das Geld, das wir in diesem Zusammenhang an die Län- men wir zu dem, was Sie, Herr Kollege Pinkwart, eben der geben – wir dürfen es aus verfassungsrechtlichengesagt haben –: Die bayerischen Sozialdemokraten mach- Gründen gar nicht an die Kommunen durchreichen –,ten sich das im Landtag zu Bayern zu Eigen und bean- auch zu den Kommunen gelangt, also von den Ländern tragten ebendieses bei der Bayerischen Staatsregierung den eigenen Kommunen zur Verfügung gestellt wird. für die bayerischen Kommunen, denn, wie ja gerade die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegin Scheel zu Recht gesagt hat, Gewerbe- die und bei der SPD) steuerumlage geht zu zwei Dritteln zugunsten der Län- der und nur zu einem Drittel zugunsten des Bundes. Der Dieses Geld wird von den Ländern in ihre eigenen Haus- Freistaat Bayern, der gerade im Bundesrat unterlegen war, halte einverleibt, aber nicht an die Kommunen weiterge- war also nicht in der Lage, zugunsten seiner Kommunen geben. auf diese zwei Drittel zu verzichten. Das hat er bis heute nicht getan. Das war der zweite Schritt des Schaufenster- (Jörg Tauss [SPD]: Klebrige Finger!) antrages. – Das ist das Thema „klebrige Finger“. Völlig richtig! Jetzt kommt der dritte Schritt, noch einmal im Bun- Wenn wir – ich sage das hier ganz deutlich – neue Auf- desrat. Dieses Mal gab es eine Mehrheit für die Überwei- gaben vom Bund auf die Kommunen übertragen, geben sung des Antrages in die Ausschüsse und da schmort er wir ihnen auch die notwendigen Mittel an die Hand. zurzeit. Der vierte Schritt: Die Union macht das hier. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 619

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Es ist also ein Antrag ohne Substanz, und Arbeitnehmer, aller Freiberufler, aller Selbstständi-(C) gen und natürlich auch zulasten des Mittelstandes, eben (Ute Kumpf [SPD]: Immer nur abschreiben!) nur zulasten derjenigen, die bisher nicht gewerbesteuer- der den Kommunen in keiner Weise nützt pflichtig sind, entlasten. Sie sagen, das solle durch eine Senkung von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fragen Sie aufgefangen werden, damit die Menschen nicht überbelas- einmal die Städte und Gemeinden, was die dazu tet sind. Ein löblicher Ansatz! Nur, wer um Himmels wil- sagen!) len soll denn bei dieser riesigen Umverteilung – die Be- und der in diesen vier Schritten schon die beiden Kam- lastung liegt ja momentan bei der Großindustrie; dann mern auf der Bundesebene und den Landtag von Bayern würde sie bei den Arbeitnehmern liegen – auf seine An- beschäftigt hat, ohne dass irgendetwas zugunsten derteile an den Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und Kommunen dabei herausgekommen wäre oder auch nur der Einkommensteuer verzichten? Sagen Sie mir bitte, herauskommen könnte. Denn, liebe Kolleginnen und Kol- wer das sein soll! Das können nach Lage der Dinge wie- legen, die Kommunen, denen es am allerschlechtesten der nur die Länder und der Bund sein. Damit wäre auf geht, die gar keine Gewerbesteuer mehr einnehmen, pro- Dauer die Belastung von einer Gruppe auf eine völlig an- fitieren natürlich auch nicht von einer Absenkung der Ge- dere gewechselt. Das sollte man wissen, bevor man sol- werbesteuerumlage, che Vorschläge vorträgt. Natürlich sind die Interessen des BDI und des VCI legitim. Aber man muss zumindest in (Michael Glos [CDU/CSU]: Auf die Idee der Lage sein, deren Interessen aufzudecken. Das habe ich wären wir nicht gekommen!) hiermit getan. Das wird sicherlich in Zukunft noch häufi- weil sie die ja auch nicht abführen müssen. ger notwendig sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael DIE GRÜNEN) Glos [CDU/CSU]: Das ist ja genial!) Würden Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen, dann Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: würde innerhalb der kommunalen Familie denjenigen, de- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nen es verhältnismäßig gut geht, darüber hinaus geholfen Pinkwart? werden und denjenigen, denen es ganz schlecht geht, würde gar nicht geholfen werden, sodass sich der relative Abstand zwischen denen, denen es einigermaßen gut Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim geht, und denen, denen es ganz schlecht geht, noch er- Bundesminister der Finanzen: (B) (D) höhen würde. Das wäre Folge dieses Antrags – und dass Ja. Bund und Länder auf Einnahmen verzichten müssten, wovon zwei Drittel zulasten der Länder gingen. Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Dasselbe ist natürlich auch aus Ihrem Vortrag zu ent- nehmen, Herr Kollege Pinkwart. Sie haben ja für die Zu- Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie fragen, ob man kunft der Gewerbesteuer das Modell vorgeschlagen, das das rein fiskalisch betrachten muss oder ob man das nicht auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie und auch wirtschaftspolitisch betrachten darf. Steuersenkun- vom Verband der Chemischen Industrie vorgeschlagen gen zugunsten der Wirtschaft – diese schieben Sie ja hi- wird. naus – könnten ja die Konjunktur beleben und damit mehr Beschäftigung schaffen, was wiederum weniger Ausga- (Ute Kumpf [SPD]: Schon wieder ben für die staatlichen Sicherungssysteme, höhere Steuer- abgeschrieben!) einnahmen und mehr Sozialbeiträge bedeutet. Kann da- Natürlich kann man sagen, das sei ein Vereinfachungs- durch unter dem Strich nicht mehr bewirkt werden als punkt. Natürlich kann man sagen, dann gebe es keine durch das von Ihnen vorgeschlagene Modell? Gewerbesteuer mehr und jede Steuer weniger sei besser. (Zuruf von der SPD: Haben wir alles schon Selbstverständlich stimmt das rein unter diesem Ge- gemacht!) sichtspunkt. Wenn man eine Steuer überhaupt nicht mehr verwalten muss, ist das natürlich eine Erleichte- rung. Das ist nicht zu bestreiten. Aber die Verwirkli- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim chung dieses Vorschlags, den Sie sich gerade zu Eigen Bundesminister der Finanzen: gemacht haben, Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das, rein theoretisch betrachtet, nicht von der Hand zu weisen. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Den hatten wir Aber noch vor wenigen Monaten, also bis zum Ende des vorher schon!) Wahlkampfes, wurde uns zum Beispiel vom Kandidaten selbstverständlich bei gleichzeitiger Absenkung der Ein- Stoiber ja vorgehalten, wir beteiligten die deutsche kommen- und Körperschaftsteuer, wäre gar nicht mög- Großindustrie überhaupt nicht mehr am Steuerzahlen. lich. Hintergrund dieses Vorschlags ist Folgendes: Die bis Was hat denn die deutsche Großindustrie in der Zwi- jetzt gewerbesteuerpflichtige Wirtschaft, namentlich die schenzeit getan? Hat sie jetzt Arbeitsplätze geschaffen größeren Unternehmen, würden sich zulasten aller Ein- und mehr investiert oder hat sie keine Steuern gezahlt kommensteuerzahler, also auch aller Arbeitnehmerinnen und trotzdem keine Arbeitsplätze geschaffen und keine 620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Investitionen getätigt? Dieses Beispiel, das nur wenige Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Monate alt ist, müsste uns zu denken geben. Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU-Fraktion. DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Es ging um die Veräußerungsgewinne, Frau Staatssekretärin!) (CDU/CSU): Was kann man also zugunsten der Kommunen wirklich Georg Fahrenschon tun? Selbstverständlich kommt es darauf an, die kommu- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und nalen Finanzen auf sichere Füße zu stellen. Ich darf daran Kollegen! Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Ich hätte erinnern, dass die letzte Gemeindefinanzreform in unse- nicht gedacht, dass wir heute über Verfahrensspielereien rem Land noch in der alten Bundesrepublik Deutschland diskutieren – das ist mein Eindruck –, sondern hätte ei- – unser Land hat sich ja Gott sei Dank verändert – imgentlich erwartet, dass Sie am Tag nach der Übergabe der Jahre 1970 durchgeführt wurde. Man merke sich dieses Steuerschätzung diesen Antrag mit einem großen Strauß Datum! Zwischen damals und heute lagen die 80er- und von Argumenten fachlich und sachlich entkräften. die 90er-Jahre mit der Wiedervereinigung, in denen nichts geschah. Die jetzige Bundesregierung hat im März dieses (Jörg Tauss [SPD]: Das hat sie gerade getan!) Jahres – zugegeben, später als gewollt; das lag daran, weil Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Sie haben zur Frage uns die Bayerische Staatsregierung und die Regierungen der aktuellen finanziellen Lage der Kommunen kein ein- der übrigen Südländer mit einer Klage gegen den bundes- ziges Wort verloren, sondern sind nur auf Verfahrensspie- staatlichen Finanzausgleich vor dem Bundesverfassungs- lereien eingegangen. Diese interessieren uns heute nicht. gericht rein zeitlich dazwischengekommen sind – die Vor- arbeiten für eine Gemeindefinanzreform begonnen. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gemeindefinanzreformkommission tagt. Sie ist breit neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ja, Seriosität angelegt. Ihr gehören nicht nur Vertreter des Bundes, son- ist nicht gefragt!) dern in Absprache mit den Ländern auch Landesminister, Es geht heute um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, also Landesfinanzminister, Landeswirtschaftsminister, der sich mit der aktuellenNotlage der Kommunen in Landesarbeitsminister, Landesinnenminister, und selbst- Deutschland beschäftigt und nicht damit, wer wann wo verständlich auch Vertreter der Wirtschaft und der kom- welchen Antrag gestellt hat. Es ist richtig, heute über ihn munalen Spitzenverbände an. zu sprechen; denn die Lage der Kommunen war noch nie Diese Kommission wird spätestens am Ende des ersten so dramatisch. Das haben wir gestern schriftlich bekom- Halbjahres des nächsten Jahres, also gegen Ende Juni 2003, men. (B) (D) Vorschläge vorlegen. Ich bin zuversichtlich, dass diese (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Kommission einvernehmliche Vorschläge vorlegen wird. Jörg Tauss [SPD]) Wenn dies nicht geschehen sollte, sind wir natürlich nicht reformfähig. Wenn wir eine vernünftige Gemeindefinanz- Mich wundert, angesichts der anfänglich guten Zu- reform tatsächlich auf den Weg bringen wollen, werden sammenarbeit im Finanzausschuss, die ich als Neuling wir sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat verfas- konstatieren darf, dass die Vorsitzende des Finanzaus- sungsändernde Mehrheiten brauchen. Wir werden also schusses nach ihrem Beitrag den Saal schon wieder ver- darauf angewiesen sein, dass die verantwortlichen Politi- lassen hat. Sie zeigt damit, dass sie sich der Diskussion ker in Bund und Ländern an diesem Projekt gemeinsam nicht wirklich stellt. arbeiten. Deshalb haben wir von Anfang an diese Kom- mission – das sieht man auch an ihrer Zusammensetzung – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auf Konsens angelegt. Jeder kann sich zwar wünschen, Michael Glos [CDU/CSU]: Seid froh was er will. Aber wir werden verfassungsändernde Mehr- drum!) heiten in beiden Häusern brauchen. Deswegen müssen Ich komme auf einen wesentlichen Punkt in unserem wir uns im Laufe des nächsten halben Jahres annähern. Antrag zu sprechen. Die Aussage, die Spitzenverbände Übrigens, auf der Fachebene ist das kein Problem. Ich hätten die damalige Steueränderung uneingeschränkt un- leite in dieser Kommission die Arbeitsgruppe zu den kom- terstützt, ist falsch. Die deutschen Spitzenverbände haben munalen Steuern. Hier gibt es bisher keine großen Pro- gerade die Gewerbesteuerumlageerhöhung ganz expli- bleme etwa zwischen den A-Ländern und den B-Ländern, zit abgelehnt. Deshalb darf man hier nicht den Eindruck wie man sie von der Bundesebene her kennt. Ich glaube, erwecken, sie wären mit fliegenden Fahnen für diese Ge- wir können es schaffen, den benötigten Konsens zu erzie- setzesänderung gewesen, sondern an dem Punkt, um den len. Wir werden den Kommunen zu Beginn des Jahres es im Antrag der CDU/CSU geht, haben sie Ihre Politik 2004 eine verlässlichere Besteuerungsgrundlage anbieten mit deutlichen Worten abgelehnt. können, wenn wir es gemeinsam anpacken. In den 80er- und 90er-Jahren sind in dieser Hinsicht Versäumnisse ent- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der standen, die wir nur gemeinsam aufholen können. Ich SPD: Nein!) hoffe, dass auch Sie uns die Hand dazu reichen werden. – Dann lesen Sie die Unterlagen des Deutschen Städteta- Herzlichen Dank. ges. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Er hat eine bayerische DIE GRÜNEN) Ausgabe gelesen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 621

Georg Fahrenschon (A) Da finden Sie es in der Dokumentation zu der Änderung trum seines Appells steht zur Überraschung des Betracht- (C) im Jahr 2000 schon im Vorwort. Darüber hinaus können ers aber nicht der Stadtrat von Saarbrücken, sondern die Sie auch in den Protokollen des Finanzausschusses nach- Bundesregierung. lesen; denn der Finanzausschuss hat eine Überprüfung (Ina Lenke [FDP]: Na so was!) protokollarisch festgehalten. Das Problem der Kompensa- tion, die in dieser Gewerbesteuerumlageerhöhung steckt, Unter der Überschrift „Appell an die Vernunft“ wurde also schon im Finanzausschuss der 14. Wahlperiode schreibt er der Bundesregierung ins Stammbuch: diskutiert. Man hat damals gesagt – Sie nicken –, man Der Einbruch bei der Gewerbesteuer wird uns laut un- müsse sich erst die Zahlen anschauen, um über eine Kom- serer aktuellen Finanzplanung bis 2004 rund 107 Mil- pensation nachzudenken. lionen Euro kosten. Das ist ein Betrag, den wir nicht (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genau so war alleine durch Sparen an Papier oder Telefonkosten es!) wieder reinholen können. Man muss sich mit dieser Frage also sehr wohl beschäfti- Herr Oran fährt fort: gen. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist der Auftakt Ich frage mich, ob die Damen und Herren, die am für diese Auseinandersetzung. Steuersenkungsgesetz gearbeitet haben, sich dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Konsequenz bewusst waren. neten der FDP) Das ist die einzig richtige Frage, die ein Finanzdezernent Meine Damen und Herren, in der Vorbereitung aufheutzutage stellen kann. diese Rede habe ich mich in der kommunalen Landschaft Um diesen Punkt geht es in der Debatte heute Abend. umgeschaut und bin auf Harald Schröder gestoßen. Keine Erstens geht es darum, welcher Fehler der Regierung im Angst, es handelt sich nicht um einen verschollenen Bru- Jahr 2000 beim Steuersenkungsgesetz unterlaufen ist, und der oder einen neuen Cousin des Bundeskanzlers, nein, zweitens, was zu tun ist, um diesen Fehler schnellstmög- Harald Schröder teilt mit dem Bundeskanzler nur seinen lich zu beheben. Geschäftsgrundlage der Beteiligung der Familiennamen und trägt dasselbe Parteibuch. Er ist Bür- Städte und Gemeinden an der Finanzierung der rot-grünen germeister der Gemeinde Elsdorf im Erftkreis, einer Ge- Steuerreform vom 23. Oktober 2000 war, dass sich die meinde mit 21 500 Einwohnern und einemGewerbe- Finanzpositionen der Gemeinden im Vergleich zu denen steueraufkommen von rund 7 Millionen Euro im Jahr des Bundes und der Länder nicht verschlechtern sollten. 2000. Dank der Politik seines Parteifreundes teilt Herr Das war das erklärte Ziel dieser Reform. Schröder jetzt nicht nur den Nachnamen mit dem Kanz- ler, sondern auch die Sorgen; denn das Aufkommen aus (Bernd Scheelen [SPD]: Haben wir auch (B) (D) der Gewerbesteuer ist von 7 Millionen Euro im Jahr 2000 erreicht!) auf nur noch 600 000 Euro zusammengeschmolzen. Das Vor diesem Hintergrund schrieb Rot-Grün eine stufen- Problem muss man vor Augen haben, wenn man sich den weise Erhöhung der Gewerbesteuer fest. Die Gegenfi- Antrag der CDU/CSU-Fraktion anschaut. nanzierung wurde mit blumigen Prognosen schönge- (Beifall bei der CDU/CSU) rechnet. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Prognose einer jährlichen gesamtwirtschaftlichen Investitionszuwachs- Der jährliche Ausfall bei dieser Gemeinde mit 21 500 Ein- rate von 5 Prozent war zentraler Punkt der Gegenfinan- wohnern schlägt also mit 6,4 Millionen Euro zu Buche. zierung. Diese gesamtwirtschaftliche Investitionszu- Es erschrecken aber nicht nur die nackten Zahlen, son- wachsrate von 5 Prozent wurde in keinem einzigen Jahr dern auch die konkreten Beispiele. Die Gemeinde Elsdorf erreicht. Die gesamte Gegenfinanzierung ist Lug und hat vor wenigen Monaten, finanziert aus Spenden der Bür- Trug. Deshalb haben die Kommunen jetzt das Problem gerschaft, eine neue Jugendeinrichtung eingeweiht. Aller- mit ihren Haushaltszahlen. dings können die jungen Männer und Frauen diese Jugend- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einrichtung in den Wintermonaten höchstwahrscheinlich nicht nutzen, da der Zuschuss der Gemeinde zu den Heiz- Meine Damen und Herren, es überrascht uns nicht. Den kosten dieser Jugendeinrichtung gestrichen wurde, weil Kommunen geht es wie vielen Bürgerinnen und Bürgern. kein Geld mehr da ist. Sie muss zumachen; ab November Mit den Versprechen, die Rot-Grün damals verkündet hat, ist sie geschlossen. Die Jugendeinrichtung – das tolle Pro- geht es ihnen so wie mit den Versprechen von Gerhard jekt – in der Gemeinde Elsdorf ist aufgrund Ihrer verfehl- Schröder im Bundestag: Heute versprochen und schon ten Finanzpolitik in den Wintermonaten geschlossen. morgen gebrochen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Am neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Na ja! Da gleichen Tag!) bringen wir mal Kohlen hin!) An dieser Stelle will ich nicht vertiefen, dass es auch Wenn Ihnen das Beispiel nicht genügt, nenne ich Ihnen sachliche, fachliche und grundsätzliche Fehler bei der ein weiteres: Der Finanzdezernent der Stadt Saarbrücken Gegenfinanzierung gibt. Ich nenne ein Beispiel: Bei der – Sie dürften die politischen Verhältnisse in der saarländi- Gegenfinanzierung gibt es eine vollkommen überpropor- schen Landeshauptstadt besser kennen als ich –, Frank tionale Belastung der Kommunen. Im Gegensatz zum Oran, hat seine Einbringungsrede zum Haushalt 2002 un- Steueraufkommen der Städte und Gemeinden, das im ter das Motto „Appell an die Vernunft“ gestellt. Im Zen- Jahr 2001 um circa 5,5 Prozent gesunken ist, haben sich 622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Georg Fahrenschon (A) die Einnahmen des Bundes um lediglich 2,5 Prozent re- nen, das die gesamte Dramatik darstellt: Der Landkreis(C) duziert. Das ist eine klare Schieflage zulasten der Kom- München musste am Montag einen Nachtragshaushalt be- munen. schließen, um die Kassenkredite um 20 Millionen Euro zu erhöhen, und zwar allein deswegen, damit der Landkreis Wenn Sie sich die Struktur, die Sie gewählt haben, an- das Weihnachtsgeld auszahlen kann. Die Gründe dafür schauen, erkennen Sie, dass die Ursache auf der Hand sind Nachforderungen gegenüber Sozialleistungsträgern liegt: Rot-Grün ist es im damaligen Verfahren gelungen, aufgrund von Budgetvereinbarungen im Jahr 2002 und die Entlastungen der Steuerpflichtigen vornehmlich auf verzögerte Auszahlungen von Fördermitteln des Bundes dem Rücken der Gemeinschaftssteuern zu gewähren.und des Landes. Gleichzeitig wurden die reinen Bundessteuern – nament- lich die Mineralölsteuer und die so genannte Ökosteuer – Wenn Sie uns schon nicht glauben dürfen oder wollen, erhöht. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Ausfälle zu- dann darf ich noch einen Kronzeugen anführen. Am 15. Ok- lasten der Kommunen und nicht zulasten des Bundes ge- tober, also vor knapp einem Monat, trafen sich erstmals in hen. Er hat seine Bundessteuern nämlich im Trockenen. der Geschichte Münchens alle Arbeiter und Angestellten der Stadt. 15 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trafen Sie haben einen zweiten wesentlichen Fehler gemacht; sich unter dem Motto „München ist pleite“. denn Sie haben in der Systematik etwas geändert. Sie ha- ben den Interessenzusammenhang zwischen der Wirt- (Jörg Tauss [SPD]: Kirch! Bertelsmann!) schaft und der Standortgemeindeentscheidend ge- Ich darf den Oberbürgermeister, Christian Ude, der schwächt. Wenn Sie diesen Weg weitergehen, laufen Sie schließlich das Aushängeschild der bayerischen SPD ist, Gefahr, dass die örtliche Wirtschaft von der Lokal- und zitieren: Kommunalpolitik nicht mehr gebraucht wird, weil diese nichts mehr davon hat, dass sich erfolgreiche Unterneh- (Ute Kumpf [SPD]: Ein guter Mann!) men in einem Gewerbe- und Industriegebiet neu ansie- deln. Bei der Gewerbesteuer haben wir dramatische Ein- brüche zu verzeichnen. Wir müssen sogar Rückzah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lungen in bisher unvorstellbarem Ausmaß leisten. neten der FDP) Jetzt kommt es: Meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit diesen Strukturdefiziten auseinander setzen, werden Sie erken- Das hat mit Fehlern der Steuergesetzgebung in Berlin nen: Wer ein Interesse an einer gesunden Mischung von zu tun. Wohnen und Arbeiten am Platz hat, wer ein Interesse an Wo der Mann Recht hat, hat er Recht! kurzen Wegen zwischen den Wohnstätten und dem Ar- (B) beitsplatz hat und wer ein Interesse an flexiblen Konzep- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) tionen – gemeinsam mit den örtlichen Betrieben – zur Be- Deshalb will ich Ihnen zum Schluss meines Beitrags die treuung von Kindern hat, muss dieses Gesetz wiederResolution der 15 000 Beschäftigten der Stadt München ändern. Durch dieses Gesetz geht die Schere nämlich ganz nicht vorenthalten. eindeutig auseinander, sodass die Kommune kein Inte- resse mehr daran hat, Wirtschaftsunternehmen vor Ort an- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) zusiedeln. Sie kann nicht mehr davon profitieren und wird Der erste von insgesamt vier Punkten, die sich an die Bun- sich für eine Villengegend bzw. eine ruhige Gegend ent- desregierung richten, lautet: schließen; denn Standorte für neue Betriebe werden nicht mehr belohnt. Die ab 1. Januar 2001 von 20 auf 30 Prozent erhöhte Abschöpfung der Gewerbesteuereinnahmen ist so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fort zurückzunehmen. neten der FDP) Dem ist nichts hinzuzufügen. Angesichts der aktuellen Haushaltslage klingt es auch zynisch, wenn das Bundesfinanzministerium in seinem (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall Monatsbericht von Mai 2002 wie folgt auf die Handha- bei der FDP) bung von Kassen- und Kassenverstärkungskrediten hinweist: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bei zahlreichen Kommunen scheinen sich die Kas- Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen im Namen des senkredite aber mehr und mehr zu einem dauerhaften ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Bun- Finanzierungsinstrument der laufenden Ausgaben im destags. Verwaltungshaushalt zu entwickeln. Hierin dürfte sich auch die prekäre finanzielle Situation zahlrei- (Beifall) cher Städte und Gemeinden widerspiegeln. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Scheelen, Es ist in hohem Maße zynisch, wenn das Finanzminis- SPD. terium den Kommunen vorwirft, sie spielten mit Kassen- und Kassenverstärkungskrediten. Sie sind nämlich gar (SPD): nicht mehr in der Lage, anders zu reagieren. Ich kann mit Bernd Scheelen meinem Heimatlandkreis München, der der an Umlage- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- kraft stärkste Landkreis in Bayern ist, ein Beispiel nen- ren! Herr Kollege Fahrenschon, wir sind uns sicherlich darin Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 623

Bernd Scheelen (A) einig, dass die Lage in vielen Kommunen durchaus ernst ist. neue Aufgaben auf die Kommunen verlagern, aber kein(C) Aber Ihr Antrag hilft den Kommunen in keiner Weise, Geld bereitstellen. Das, Herr Kollege Götz, haben Sie jah- relang, sogar jahrzehntelang gemacht. Ich weiß gar nicht, (Beifall bei der SPD) mit welcher moralischen Berechtigung Sie solche Vor- schon gar nicht dem von Ihnen hier zitierten Bürgermeis- würfe erheben. Sie haben während der 16 Jahre von ter von Elsdorf, Harald Schröder. Denn wenn Sie vor- Helmut Kohl einiges mitzuverantworten. tragen, dass die Gewerbesteuereinnahmen in Elsdorf von Wir zum Beispiel haben bei den Themen Grundsiche- 7 Millionen Euro auf 600 000 Euro abgestürzt sind, dann rung, Ganztagsbetreuung und Krippe das Geld gegen können Sie sich nach Ihrer Systematik leicht ausrechnen, Ihren erbitterten Widerstand gleich mitgeliefert. Wir ha- dass die Gemeinde fast nichts zurückbekäme, wenn Ihr ben uns in der letzten Legislaturperiode über die Grund- Antrag beschlossen würde. Das würde ihr nicht helfen. sicherung unterhalten und sie beschlossen. Sie wissen, Das Einzige, was ihr wirklich hilft, ist eine grundlegende dass der Bund den Kommunen über die Länder dafür pro Gemeindefinanzreform, und die führen wir durch. Jahr 409 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Nach zwei (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard Jahren werden wir überprüfen, ob das Geld reicht. Wenn Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es nicht reicht, wird der Bund seinen Verpflichtungen NEN]) nachkommen und entsprechend mehr zahlen. Wenn es aber zu viel ist, wird sich der Bund vorbehalten, dem- Lassen Sie mich etwas zu dem Verhalten der kommu- nächst weniger zu zahlen. Das ist gelebte Konnexität. Das nalen Spitzenverbände im Zusammenhang mit der Be- ist die Politik dieser Regierung. ratung der Unternehmensteuerreform anmerken. Sie ha- ben behauptet, die Spitzenverbände hätten der Erhöhung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Gewerbesteuerumlage nicht zugestimmt. Das ist so des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht richtig. Ich war an den Gesprächen beteiligt. Die Dasselbe gilt für den zweiten Punkt, dieGanztagsbe- kommunalen Spitzenverbände haben akzeptiert, dass die treuung. Wir sehen für die kommende Legislaturperiode Gewerbesteuerumlage ein Ausgleichsmechanismus ist, vor, den Ländern jedes Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung um zwischen verschiedenen Steuerarten und den ver- zu stellen, um 10 000 neue Plätze in Ganztagsschulen be- schiedenen staatlichen Ebenen einen Ausgleich herzustel- reitzustellen. len. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die vorgesehene Erhöhung bis zum Jahr 2004 befristet wird. Unter dieser Der dritte Punkt: Wir stellen 1,5 Milliarden Euro für Voraussetzung waren sie einverstanden. die Krippenbetreuung bereit. Das steht in unserer Ko- alitionsvereinbarung. Wir wollen die Ersparnisse von Deswegen haben wir in den Gesetzestext hineinge- mindestens 1,5 Milliarden Euro, die die Hartz-Pläne bei (B) schrieben, im Jahr 2004 eine Revision vorzunehmen, um (D) den Kommunen bewirken, den Gemeinden zur Verfügung im Lichte dessen, was die Unternehmensteuerreform be- stellen, damit sie eine Betreuung für Kinder unter drei Jah- wirkt hat, zu sehen, ob die Prognose richtig war oder ob ren organisieren können. man steuernd eingreifen muss. Aber jetzt haben wir erst das Jahr 2002, nicht 2004. Erst im Jahr 2004 werden wir in diesem Bereich aktiv werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zum Kollegen Pinkwart. Sie plädieren für die Abschaf- Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen fung der Gewerbesteuer. Deswegen ist die FDP mögli- Götz? cherweise von vielen Kommunalpolitikern nicht gewählt worden. Diese wissen genau, wen sie wählen müssen. Sie (SPD): erkennen nämlich, dass SPD und Grüne für sie etwas tun, Bernd Scheelen nicht andere. Bitte, Herr Kollege. (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Götz (CDU/CSU): Sie verkaufen das unter dem Stichwort Vereinfachung, die Können Sie mir sagen, warum die Landräte gegen das Sie für Bürger und Unternehmen fordern. Es ist eine tolle Grundsicherungsgesetz, das Sie gerade so sehr loben, kla- Vereinfachung, die Unternehmen keine Steuern mehr be- gen? zahlen zu lassen und die Belastungen auf die Bürger zu verlagern. Das ist sehr einfach, aber diese Politik machen (SPD): wir nicht mit. Bernd Scheelen Das ist relativ einfach. Wenn Sie sich einmal die Par- Bei der Ich-AG liegen die Freibeträge oberhalb des- teibücher dieser Landräte anschauen, dann stellen Sie sen, was als Einkommen vorgesehen ist. Deswegen gibt fest, dass sie alle bei Ihnen organisiert sind. Ich kenne sie. es im Zusammenhang mit der Ich-AG keine Probleme mit Das war Bestandteil des Bundestagswahlkampfes und der Gewerbesteuer. eine sehr billige Masche. Ich würde diesen Landräten und (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wie wer- auch den Bürgermeistern empfehlen, sich mit dem Gesetz den die denn versteuert, Herr Kollege?) auseinander zu setzen; dann wüssten sie, dass auf sie keine Kosten zukommen. Der Kollege Götz hat hier sehr starke Worte gebraucht. Unter anderem hat er uns vorgeworfen, wir würden immer (Beifall bei der SPD) 624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bernd Scheelen (A) Es gibt Anträge, die einfach nicht totzukriegen sind. Ih- Der Deutsche Städtetag sagt in der Überschrift einer Pres- (C) rer gehört dazu. Wir haben in diesem Jahr, wie ich glaube, seerklärung: „Städte sehen bei der Koalition gute Absich- zum dritten Mal die Gelegenheit, uns mit der Frage der ten zur Bekämpfung der kommunalen Finanzkrise“. Gewerbesteuerumlage auseinander zu setzen. Das erste (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Von wann ist die Mal war am 25. Januar dieses Jahres, als die CDU/CSU Erklärung? – Zuruf von der CDU/CSU: Weiter- die Debatte beantragt hatte. Das zweite Mal war am lesen!) 21. März, als die PDS das Thema aufgewärmt hat. Jetzt kommt die CDU/CSU wieder damit an. Sie ist von Hauptgeschäftsführer Dr. Stephan Articus und es geht um die Beurteilung der Koalitionsvereinbarung. Das Thema wird immer wieder dann auf die Tagesord- nung gesetzt, wenn irgendwo Wahlen bevorstehen. Ich Ausdrücklich hat er vier Punkte hervorgehoben. Er hat glaube, Ihr Antrag hängt in diesem Fall mit den Landtags- gesagt, es sei sehr zu begrüßen, dass die Koalition die Fi- wahlen zusammen, die in Hessen und in Niedersachsen vor nanzkraft der Gemeinden stärken wolle; besonders zu be- der Tür stehen. Aus diesem Grunde wurde der Ladenhüter grüßen sei, dass von einerGewerbesteuerreform ge- Gewerbesteuerumlage aus der Tasche geholt. Die Zielrich- sprochen werde. Es geht also nicht um die Abschaffung tung, die Sie damit verfolgen, ist klar. Sie wollen den Bür- der Gewerbesteuer, sondern um eine Reform der Gewer- gern in den betroffenen Ländern weismachen: Wenn ein besteuer. Damit beschäftigt sich die schon angesprochene Schwimmbad geschlossen wird, dann ist das nicht unsere Kommission. Das wird bis Ende nächsten Jahres zu einem Schuld. Daran ist die Bundesregierung in Berlin schuld. guten Ergebnis geführt. Diese Strategie wird Ihnen nicht gelingen; denn der Sehr positiv nennt er dann die Zusammenführung von Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen – so dramatisch Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Das ist etwas, was im er in der einen oder anderen Gemeinde auch ist – hat mit Hartz-Konzept angedacht ist, aber eben auch in der Ge- der Steuerreform dieser Bundesregierung nichts, abermeindefinanzreformkommission bearbeitet wird. Das auch rein gar nichts zu tun. wird zum 1. Januar 2004 seine volle Wirkung entfalten und entsprechende Einsparungen in den kommunalen (Beifall bei der SPD) Haushalten zur Folge haben, die dann in Investitionen Wenn Sie dafür noch Bestätigungen brauchen: Sie kön- umgesetzt werden können. nen sich das jeden Tag von den kommunalen Spitzenver- Er begrüßt des Weiteren, dass das Konnexitätsprinzip bänden bestätigen lassen. Die Spitzenverbände wissen, in der Koalitionsvereinbarung einen hohen Stellenwert dass das mit der Steuerreform nichts zu tun hat. Sie wis- hat, nämlich Konnexität im Rahmen des bundesstaat- sen, dass die Rückgänge bei der Gewerbesteuerkon- lichen Finanzausgleichs. junkturbedingt sind. Sie wissen auch, dass das mit den (B) Folgen Ihrer Steuerpolitik zusammenhängt. Denn Sie, Schließlich begrüßt der Städtetag ausdrücklich unser(D) meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, haben da- Vorhaben, die gewerbesteuerliche Organschaft abzu- mals noch beschlossen, die konjunkturunabhängigen Be- schaffen. Das ist ein Punkt, über den wir schon lange dis- standteile der Gewerbesteuer abzuschaffen. kutiert haben und der auch in den kommunalen Spitzen- verbänden lange diskutiert wurde. Es macht gerade aus (Zurufe von der SPD: Aha!) heutiger Sicht Sinn, die Gewerbesteuer tatsächlich da an- Diese Teile sind weg. Was jetzt übrig ist, ist sozusagen fallen zu lassen, wo Betriebe sind und wo Gewinne ge- eine reine Gewinnsteuer. Wenn die Konjunktur nicht gut macht werden. Das ist für die Kommunen eine wichtige läuft, wenn die Unternehmen keine Gewinne machen, Entscheidung. Die Kommunen brauchen auch einen An- dann zahlen sie überhaupt keine Gewerbesteuer mehr. reiz – das ist vorhin schon einmal angesprochen worden –, Wenn sie geringe Gewinne machen, dann zahlen sie eben sich weiterhin um die Ansiedlung von Gewerbebetrieben nur wenig Gewerbesteuer. zu bemühen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wenn sie keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gewinne machen, sollen sie zusätzlich Steuern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zahlen? Wo ist die Logik? – Weiterer Zuruf von Besser ist eine Koalitionsvereinbarung von einem der FDP: Sollen die aus ihren Verlusten Steuern kommunalem Spitzenverband noch niemals beurteilt zahlen?) worden. Erst jetzt wird also deutlich, wie konjunkturreagibel das Wir werden das, was wir vor der Wahl gesagt haben, ist, was Sie uns hinterlassen haben. nach der Wahl auch tun. Wir werden die Finanzkraft von (Beifall bei der SPD) Städten und Gemeinden stärken und auf eine breite und solide Basis stellen. Wir werden das korrigieren; denn Kämmerer brauchen mehr Verlässlichkeit. Sie brauchen Stetigkeit in den Haus- Leider ist meine Redezeit schon zu Ende. Ich hätte Ih- halten. Sie brauchen Planbarkeit für ihre Haushalte. Das nen gern noch etwas über Hessen erzählt und über die Art werden wir gewährleisten. und Weise, in der in Hessen, ähnlich wie in Bayern, die Kommunen ausgeplündert werden. Der Deutsche Städtetag hat uns außergewöhnlich ge- lobt; das ist noch gar nicht so lange her. (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt reden Sie doch mal von NRW!) (Rainer Funke [FDP]: Wie sind da die Mehr- heiten? – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Bei wel- Als Letztes Folgendes: Sofern diese Debatte auf Phoe- chen Mehrheiten?) nix übertragen wird, sitzen sicherlich alle CDU-Minister- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 625

Bernd Scheelen (A) präsidenten mit hängender Zunge vor dem Apparat und Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Informations- (C) hoffen, dass Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit bekommt; gesellschaft vor, der genau diese Ziele verfolgt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir setzen damit die EU-Richtlinie „Urheberrecht in der Informationsgesellschaft“ um. Sie legt das Fundament denn sie wissen, dass ihre Haushalte dann noch verfas- für die Gestaltung des europäischen Urheberrechts im sungswidriger werden, als sie es zurzeit schon sind. Internetzeitalter. Zugleich konkretisiert sie die zentralen Vielen Dank. Bestimmungen der Verträge der Weltorganisation für geistiges Eigentum über das Urheberrecht und über Darbie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungen und Tonträger. DIE GRÜNEN) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aber noch nichts Originelles, was Sie hier vortragen! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Diese Verträge wollen wir zusammen mit den anderen Ich schließe die Aussprache. Mitgliedstaaten der Europäischen Union möglichst schnell Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs ratifizieren; deshalb haben wir Ihnen auch den Entwurf ei- auf Drucksache 15/30 an die in der Tagesordnung aufge- nes Gesetzes vorgelegt, mit dem die Zustimmung zu die- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- sen Verträgen geregelt wird. weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Bekanntlich muss diese Richtlinie bis zum Ende des Überweisung so beschlossen. Jahres umgesetzt werden; uns bleibt also nicht mehr viel Zeit. Mit diesem Umsetzungsgesetz wollen wir deshalb Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf: in einem ersten Schritt nur all das regeln, was uns die Richtlinie und die WIPO-Verträge zwingend vorschrei- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ben. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha, Schmal- lung des Urheberrechts in der Informations- spur!) gesellschaft In einem zweiten Schritt wollen wir mit einem weiteren – Drucksache 15/38 – Gesetz die Fragen regeln, die wir jetzt offen lassen, weil Überweisungsvorschlag: wir sie mit den Beteiligten ohne Zeitdruck ausführlich Rechtsausschuss (f) erörtern wollen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (B) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Landwirtschaft DIE GRÜNEN) Ausschuss für Kultur und Medien Jeder Schritt erfordert eine sorgsame Abwägung der In- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- teressen aller Beteiligten. Dass diese Interessen sehr di- gebrachten Entwurfs einesGesetzes zu den vergent sind, muss ich Ihnen hier nicht sagen. WIPO-Verträgen vom 20. Dezember 1996 über Unser Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Infor- Urheberrecht sowie über Darbietungen und mationsgesellschaft berücksichtigt alle Seiten: sowohl die Tonträger berechtigten Interessen der Urheber und der ausübenden – Drucksache 15/15 – Künstler als auch die der Kunden, der Industrie und des Überweisungsvorschlag: Handels, aber auch die von Wissenschaft und Unterricht. Rechtsausschuss (f) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja sehr Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit konkret!) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Ich werde jetzt gleich konkreter. Ausschuss für Kultur und Medien Wir führen mit diesem Gesetz ein neues „Recht der öf- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- fentlichen Zugänglichmachung“ zugunsten der Urheber sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen ein. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! – Beifall bei Ab- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die geordneten der SPD und des BÜNDNIS- Frau Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries. SES 90/DIE GRÜNEN) – Danke schön. – Damit stellen wir klar, dass zunächst Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: einmal allein der Urheber bestimmt, ob und wie sein Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undWerk, zum Beispiel im Internet, öffentlich gemacht wird. Herren! Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter mit sei- Das gleiche Recht bekommen natürlich auch die aus- nen vielen neuen Medien braucht zeitgemäße Regeln.übenden Künstler für ihre Darbietungen. Dazu gehören der Rechtsschutz für Urheber sowie die Der Entwurf erlaubt deshalb – quasi im Umkehr- Förderung der Kultur und Medienwirtschaft und ihrerschluss – Urhebern oder den von ihnen beauftragten Ver- Entwicklung. Die Bundesregierung legt Ihnen heute den wertern, die Werke mit technischen Vorrichtungen zum 626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Schutz vor Kopien zu versehen. Selbstverständlich dürfen zelabrechnung, der individuellen Lizenzierung, im digita- (C) Musikunternehmen kopiergeschützte CDs verkaufen. Al- len Bereich abzulösen. Die Entwicklung technischer lerdings müssen die CDs, die kopiergeschützt sind, ent- Schutzmechanismen ist weder abgeschlossen noch aus- sprechend gekennzeichnet sein; denn wir müssen auch die gereift. Unser Entwurf fördert aber die Entwicklung von Verbraucher schützen, die wissen wollen, was in dereinsatzfähigen Systemen der sicheren individuellen Ab- Packung ist. rechnung. Ich weiß natürlich, dass es einen großen Inte- ressenverband gibt, der sehr großen Wert darauf legt, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diese individuelle Abrechnung dann auch Bestandteil des DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke nächsten Korbes wird. Wir werden das zu verhandeln ha- [FDP]) ben und werden auch sehen müssen, wie weit die techni- Niemand soll die Katze im Sack kaufen müssen und dann sche Entwicklung bis dahin gekommen ist. erst zu Hause merken, dass er eine CD nicht kopieren (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainer kann. Funke [FDP]) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein Hinweis Ich glaube, wir haben mit dieser Gesetzesinitiative ei- für den möglichen Dieb!) nen ersten großen Schritt für ein faires Urheberrecht vor- Das neue Gesetz verbietet es, den Kopierschutz zugelegt. Den weiteren Schritt im Laufe des nächsten Jahres knacken, und bezieht auch die Herstellung und die Ver- wollen wir gemeinsam gehen. breitung der so genannten Hackersoftware in das Verbot (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein. Wer gegen diese Verbote gewerblich verstößt, der DIE GRÜNEN) muss mit Geldstrafen oder sogar mit Gefängnis rechnen. Allerdings betonen wir ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das heißt in der konkreten Abwägung: Wenn sich zum neten der FDP) Beispiel ein Schüler aus dem Internet Software herunter- lädt, um einem Klassenkameraden ein Musikstück zu ko- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): pieren, dann bleibt dieser straffrei. Wir wollen nämlich nicht den Schulhof kriminalisieren, sondern wir zielen auf Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die gewerblichen Rechtsverletzer. Herren Kollegen! Wenn wir uns heute eine halbe Stunde (B) über Fragen des Urheberrechts unterhalten dürfen und wir (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diese Debatte von Tagesordnungspunkten zur Steuer- und DIE GRÜNEN) Finanzpolitik sowie zu künftigen Auslandseinsätzen der Im Einklang mit der Richtlinie und den Erfordernissen Bundeswehr eingerahmt finden, könnte der Eindruck ent- des digitalen Zeitalters bestimmen unsere Schrankenrege- stehen, dieses Hohe Haus halte eine Weile inne, um sich lungen, in welchen Fällen Urheber es hinnehmen müssen, anschließend wieder den wirklichen Zukunftsthemen der dass ihre Werke ohne ihre Zustimmung genutzt werden. deutschen Politik zuzuwenden. So haben wir eine Regelung vorgesehen, wonach in den (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Zukunfts- neuen Medien veröffentlichte Werke für den Unterricht an thema!) Schulen und Hochschulen sowie für die Forschung ge- nutzt werden können. Damit entsprechen wir, so meinen Eine solche Einschätzung teile ich ausdrücklich nicht. Sie wir wenigstens, den Bedürfnissen der Wissensgesell-ginge auch an der wahren Bedeutung des Urheberrechts schaft und stärken die Wettbewerbsfähigkeit deutscher für unsere moderne Informationsgesellschaft und unsere Schulen und Hochschulen im internationalen Vergleich. Wirtschaft vorbei. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! Kurve noch ge- DIE GRÜNEN) kriegt!) Zugleich stellen wir klar, dass auch die digitale Privat- Fast 600 000 Menschen arbeiten in Deutschland in kopie zulässig ist. Es darf sich also jeder von seiner Lieb- Kulturberufen. Zusammen erwirtschaften sie mehr als 8 Prozent unseres Bruttosozialproduktes; jeder zwölfte lings-CD eine Kopie für seinen MP-3-Player im Auto Euro wird in der deutschen Wirtschaft mit Produkten ver- brennen. dient, die unmittelbar auf den Schutz des Urheberrechts (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Kopie angewiesen sind. Dieser wichtige Zweig unserer Volks- für den MP-3-Player?) wirtschaft erwartet endlich klare rechtliche Regelungen zur digitalen Verbreitung von urheberrechtlich geschütz- – Ja, natürlich. – Selbstverständlich bleibt es dabei, dass ten Werken. den Urhebern ein Ausgleich dafür zusteht, dass ihre Werke ohne ihre Einwilligung genutzt werden dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch ist die Zeit nicht reif, unser System der pauscha- len Vergütung, das durch die Verabschiedung dieses Ge- Die neuen elektronischen Medien eröffnen eine Fülle setzentwurfs erhalten bleibt, durch ein System der Ein- neuer Verbreitungsmöglichkeiten, sie schaffen damit aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 627

Dr. Günter Krings (A) zugleich eine ebenso große Vielzahl an Gefahren während des die für den Kultur- und Wirtschaftsstandort(C) Missbrauchs und der Werkpiraterie. Dem gilt es Einhalt zu Deutschland vordringlichen Aufgaben liegen bleiben. gebieten, denn Urheberschutz ist Eigentumsschutz und (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker die Verletzung von Urheberrechten ist nichts anderes als [SPD]: Das war aber billig!) Diebstahl geistigen Eigentums. Ich gestatte mir allerdings die Hoffnung, dass dies unter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der neuen Ressortchefin im Justizministerium anders wird. Vor wenigen Jahrhunderten glaubte man noch, diesen Fällen geistigen Diebstahls mit Verfluchungen beikom- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da müssen men zu können; so wünschte mancher Autor in seinem wir erst einmal abwarten!) Vorwort denjenigen „Aussatz und Hölle“, die sein Werk Nach so langer Zeit hätten wir und vor allem die Auto- unberechtigt kopierten. ren, Künstler und Verleger erwarten können, dass uns ein (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann bitte umfassender und ausgewogener Gesetzentwurf vorgelegt aber nur der Regierung!) wird. Ich denke, inzwischen ist auch bei der amtierenden Bun- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schmalspur!) desregierung die Erkenntnis gereift, dass vom modernen Wer diese Erwartung hatte, sieht sich in vielen Punkten Rechtsstaat auf diesem Gebiet schon etwas mehr anleider herb enttäuscht. Der Gesetzentwurf ist an vielen Schutz und Rechtssicherheit erwartet werden kann. Stellen offensichtlich mit der berühmten rot-grünen (Beifall bei der CDU/CSU) heißen Nadel genäht. Einige Punkte fehlen und andere Teile sind wirklich noch sehr verbesserungsbedürftig. Umso unverständlicher ist es für unsere Fraktion daher, dass es insgesamt sechs Jahre gebraucht hat, um einen Re- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter gierungsentwurf zur Regelung des Urheberrechts in der [CDU/CSU]: Als wenn sie es nicht besser ge- Informationsgesellschaft in den Bundestag einzubringen. wusst hätten!) (Jörg Tauss [SPD]: Wir regieren erst seit vier Der Entwurf ist von schwer überbietbarerNaivität, Jahren!) etwa wenn man sich in § 53 der Neufassung damit be- gnügt, die altbekannten Regeln für die analoge Verviel- Nach der Unterzeichnung der internationalen Verträge im fältigung, also zum Beispiel für die private Kopie eines Rahmen der Weltorganisation für geistiges EigentumBuches, eins zu eins auf die digitale Vervielfältigung zu Ende 1996 – die Ministerin wies darauf hin – ließ man übertragen. Wer schon einmal selbst eine Stunde an einem sich zunächst einmal vier Jahre auf europäischer Ebene (B) Kopierer zugebracht hat, um – im Rahmen des Erlaubten, (D) Zeit, um auf dieser Basis eine Richtlinie der Europäischen versteht sich – ein Buch zu kopieren, Union zu erarbeiten. Anschließend ging dann ein weiteres Jahr ins Land, ehe man sich jetzt offenbar etwas verwun- (Lothar Mark [SPD]: Was? Wir müssen über- dert die Augen reibt und feststellt, dass die Frist zur Um- prüfen, ob das stimmt!) setzung der Richtlinie in nationales Recht am 22. Dezem- muss wissen, dass das mit einem etwas größeren Aufwand ber dieses Jahres ausläuft. Erst unter dem Eindruck der verbunden ist als das rasche Kopieren einer Datei auf ei- drohenden Sanktionen aufgrund der Verletzung des EG- nem Computer. Wenn das digitale Kopieren so viel leich- Vertrages wurde das Gesetzgebungsverfahren nunmehr ter und schneller von der Hand geht, ist es nur logisch, auf den Weg gebracht. dass man dann besondere Schutzvorkehrungen gegen sol- Angesichts dieses Schneckentempos dürfen wir uns che Kopierarten vorsehen muss. nicht wundern, (Beifall bei der CDU/CSU) (Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die konnten es Private Raubkopien sorgen dafür, dass die Medien- nicht und können es nicht!) branche Jahr für Jahr erhebliche Umsatzeinbußen zu ver- dass uns in der Kultur- und Medienwirtschaftandere zeichnen hat. Die Film- und Kinowirtschaft klagt inzwi- Länder nicht nur längst überholt haben, sondern uns sogar schen gar darüber, dass Blockbuster-Filme bereits Monate meilenweit voraus sind. vor ihrem Kinostart in Deutschland als Raubkopie im In- ternet die Runde machen. Die im Gesetzentwurf vorge- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter schlagene pauschale Gleichbehandlung von elektroni- [CDU/CSU]: Beispielsweise USA!) schen und herkömmlich analogen Vervielfältigungen Diese Verzögerung ist aber zugleich auch die Folge öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. falscher Prioritätensetzung auf dem Gebiet der Rechtspo- Bleibt die Bundesregierung hier bei ihrer Position, litik. In der Zeit, in der sich die ausgeschiedene Justizmi- dann verfehlt sie im Übrigen auch einen ganz wesentli- nisterin im vergangenen Jahr dringend um einen wirksa- chen Zweck dieses Gesetzgebungsprojekts, nämlich die men Schutz urheberrechtlicher Werke vor Raubkopien Umsetzung der gerade genannten EU-Richtlinie 2001/29. hätte kümmern müssen, bastelte sie lieber an dem rechtli- Hier heißt es im 38. Erwägungsgrund, dass „den Unter- chen Monstrum einer angemessenen Vergütung für Ur- schieden zwischen digitaler und analoger privater Ver- heber, das erst in letzter Minute entschärft werden konnte. vielfältigung gebührend Rechnung“ zu tragen ist. So ist es offenbar bei dieser Bundesregierung: Die ideo- logischen Lieblingsthemen werden vorangetrieben, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) 628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Günter Krings (A) Es lohnt sich, auch einmal das Kleingedruckte einer euro- saftigen Bußgeld rechnen, dessen Obergrenze pikanter-(C) päischen Richtlinie zu lesen. weise doppelt so hoch liegt wie die Buße, die demjenigen droht, der einen solchen Schutzmechanismus knackt, dem (Beifall bei der CDU/CSU) Cracker oder Hacker also. Wir als Unionsfraktion verstehen jedenfalls die Fach- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja un- verbände, die sich dagegen wehren, dass ein Rechtsre- glaublich! – Jörg Tauss [SPD]: Der Hacker ist gime, das dem Zeitalter des Papierkopierers entstammt, ein Guter! – Gegenruf des Abg. Steffen nun ohne weiteres auf den CD-Brenner übertragen wer- Kampeter [CDU/CSU]: Der Tauss ist immer auf den soll. Hier muss dringend nachgebessert werden. der Seite der Verbrecher!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Schutzgedanke des Urheberrechts wird hier auf den Zustimmung verdient der Gesetzentwurf, soweit er den Kopf gestellt. besonderen Gefahren der Werkpiraterie im digitalen Be- (Beifall bei der CDU/CSU) reich das strafbewehrte Verbot der Umgehung von Schutztechnologien gegenüberstellt. An anderer Stelle werden Regelungen in den Gesetz- entwurf hineingemogelt – in ihm soll doch eigentlich nur (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Drängendes geregelt werden –, die nun wirklich nichts Der massenhafte Diebstahl von geistigem Eigentum wird mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zu tun haben. Das heute durch die flächendeckende Verbreitung von Umge- gilt etwa für den neu eingefügten § 5 Abs. 3, der immer- hungstechnologien erleichtert, die dem Verbraucherhin mit einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesge- Werkzeuge an die Hand geben, um kopiergeschützterichtshofs, inzwischen vom Bundesverfassungsgericht Werke zu knacken. Diese Instrumente finden sich inzwi- bestätigt, bricht. schen auf den Seiten bekannter Internetprovider ebenso Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass die Gesetzge- wie in den Regalen großer Supermarktketten. Das Un- bungsmaschinerie in Sachen eines verbesserten Urheber- rechtsbewusstsein tendiert hier offenbar gegen null. rechtsschutzes in dermodernen Informationsgesell- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein schaft nun endlich in Schwung gekommen ist. Skandal! – Jörg Tauss [SPD]: Vielleicht muss (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Ronald sich die Industrie auch anstrengen!) Pofalla [CDU/CSU]: Endlich!) Geistiges Eigentum hat Anspruch auf den gleichen Ideen und menschliches Wissen sind die wichtigsten Schutz wie Sacheigentum. Es macht eben keinen Unter- Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Das Urheberrechtsgesetz (B) schied, ob Werkzeugsätze zum Aufbrechen von Woh-wird daher zu dem zentralen Marktordnungsrecht des(D) nungs- oder Autotüren angeboten werden oder solchedigitalen Zeitalters. zum Aufbrechen eines digitalen Kopierschutzes. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Genau deshalb werden wir es nicht zulassen, dass dieses wichtige Gesetz jetzt im Schweinsgalopp durch das par- Das europäische Recht lässt dem deutschen Gesetzge- lamentarische Beratungsverfahren getrieben wird. Die ber ausreichend Raum, um effektive Mechanismen zum CDU/CSU-Fraktion will die Anhörung von Sachverstän- Schutz des geistigen Eigentums einzuführen. Es steht in digen im Gesetzgebungsverfahren, damit am Ende ein unserer Verantwortung, diesen zu nutzen. Es reicht nicht Gesetz steht, das den berechtigten Anliegen von Urhebern aus, nur Verbots- und Straftatbestände ins Gesetz zuund der Medienwirtschaft auf der einen Seite und den schreiben; Werknutzern auf der anderen Seite Rechnung trägt und sie zu einem gerechten Ausgleich bringt. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da kann ja denn wir können und wollen nun einmal nicht hinter je- wohl niemand ernsthaft dagegen sein!) dem Computerarbeitsplatz einen Staatsanwalt postieren. Immerhin geht es auch um die Sicherung von Tausenden (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) von Arbeitsplätzen in Deutschland. Die Zukunft des Urheberschutzes gehört daher dem di- Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es noch einiges zu gitalen Rechtemanagement als einer neuen, intelligenten tun. Die CDU/CSU-Fraktion bietet ihre Mithilfe an, um Schutzstrategie. Frau Ministerin, Sie haben sich verbal aus diesem spät und hastig zusammengezimmerten Ent- dazu bekannt. Allerdings trifft der Gesetzentwurf zu die- wurf ein gutes Gesetz zu machen. sem modernen Schutzkonzept keine konkreten Regelun- gen. Im Gegenteil: Durch den Anspruch auf Aufhebung (Zuruf von der SPD: Das können wir von Schutzmechanismen, unter anderem für private Ko- auch alleine!) pierzwecke, erwächst in § 95 b – es lohnt sich, auch die- Vielen Dank. sen einmal zu lesen – der Eindruck, dass der Rechteinha- ber für den Einsatz von Schutzmechanismen nachgerade (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg bestraft werden soll. Kommt er diesem Aufhebungsan- Tauss [SPD]: Gestern habt ihr es von der Ta- spruch nämlich nicht nach, muss er, der doch nur sein Ur- gesordnung genommen! Jetzt jammert ihr heberrecht, also sein Eigentum schützen will, mit einem herum!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 629

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wollen wir (C) das Internet auch für neue Geschäftsmodelle nutzen. Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun- Doch das im Zusammenhang mit dem Urheberrecht viel destag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses dazu. diskutierte Digital Rights Management stellt aus Sicht (Beifall) der Grünen kein Allheilmittel dar. Wer sich heute ein Buch ausleiht oder ein paar Stellen daraus kopiert, muss Es ist vorbildlich, dass Sie Ihre Redezeit nicht überschrit- dafür nicht erst den Urheber oder den Verlag um Erlaub- ten haben. nis bitten. Genauso wenig dürfen die Userinnen und User Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. bestraft werden, wenn sie sich Texte oder Audiofiles auf den Rechner laden, ohne zu wissen, dass es sich dabei um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geschütztes Material handelt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GRÜNEN]: Richtig!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich ist uns klar, dass der individuelle Wir alle, jedenfalls die, die die neuen Medien nutzen, kostenpflichtige Bezug von digitalen Gütern sicherlich merken es in unserer tagtäglichen Arbeit: Das Medium In- ternet bietet uns eine riesige globale Wissensdatenbank, die ein Baustein zukünftiger Vergütungsregelungen sein weltweit ihresgleichen sucht. Zwar sind wir aufgrund in- wird. Aber die digitale Vielfalt, die wir alle anstreben, er- frastruktureller und politischer Probleme noch meilenweit fordert keine Patent- oder Pauschallösungen, geschweige von einer vernetzten Weltgesellschaft entfernt. Doch die denn blindes Vertrauen in zurzeit noch unsicheretech- Grundlagen, die noch der konkreten Ausgestaltung bedür- nische Lösungen. fen – damit beschäftigen wir uns heute –, sind jetzt gelegt. Im Übrigen können Gesetzgeber in die technischen Ein konkretes Beispiel für diese Ausgestaltung ist das Entwicklungen in diesem Bereich insgesamt nur beglei- Urheberrecht im Zeitalter der digitalen Vervielfältigungs- tend oder moderierend eingreifen möglichkeiten, das wir heute diskutieren. Wem gehört das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das will der Wissen? Dies ist eine zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Gesetzentwurf ja!) Dabei ist es aus unserer Sicht ganz besonders wichtig, und dort Vorschriften machen, wo urheberrechtlich ge- dass wir die digitale Spaltungüberwinden und unser schütztes Material illegalerweise vertrieben wird. Doch Wissen auch in ärmere und strukturschwache Regionen gehört das Recht zum privaten Vervielfältigen natürlich übertragen. Andernfalls bleibt dieses Wissen im Besitz grundsätzlich nur in begrenztem Umfang zu einem grund- der Nationen, die sich moderne Netze und Computer leis- (B) legenden Verbraucherrecht, das per Urteil vom Bundes- (D) ten können. verfassungsgericht so festgeschrieben wurde. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie Aus unserer Sicht muss dies natürlich genauso wie für doch mal etwas zum Gesetz!) die analoge Welt auch für die digitale Welt gelten. Neben der Notwendigkeit des freien Zugangs zum (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glauben Wissen steht genauso unmissverständlich fest: Urheberin- wir aber nicht so uneingeschränkt!) nen und Urheber, Künstlerinnen und Künstler sowie Au- torinnen und Autoren müssen im digitalen Zeitalter für Denn die digitale Welt besteht ebenso wie die analoge aus ihre Arbeit entsprechend entlohnt werden. vielen Akteuren – ich habe sie bereits erwähnt –: aus den Nutzerinnen und Nutzern, den Verwertern, den Urhebern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Industrie. Sie alle haben sehr legitime Interessen. und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ Diese müssen in der Informationsgesellschaft gewahrt CSU]: Das war der erste Satz, dem ich zustim- bleiben. Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetz- men konnte! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss entwurf unseren Beitrag leisten. [SPD]: Das sind die geistigen Grundlagen un- seres Gesetzentwurfes, Herr Kampeter!) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Der heute zu debattierende Gesetzentwurf weist auf jeden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fall in die richtige Richtung. Er stellt einenInteressen- und bei der SPD) ausgleich zwischen allen vom Urheberrecht betroffenen Gruppen dar. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Darüber hinaus müssen wir aber vonseiten der Politik Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke. auch dafür sorgen, dass das Wissen, das beispielsweise mit öffentlichen Mitteln generiert wird, auch der Öffent- lichkeit breit zugänglich gemacht wird. Um nur ein klei- Rainer Funke (FDP): nes Beispiel zu nennen: Die Bibliotheken sind oftmals ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr zwungen, das mit öffentlichen Geldern produzierte Kollege Krings, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede Wissen mit Steuergeldern sozusagen zurückzukaufen. und heiße Sie im kleinen Kreis der Parlamentarier, die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hier geht es sich mit dem Urheberrecht beschäftigen, herzlich will- um Eigentumsrechte, gnädige Frau!) kommen. 630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Rainer Funke (A) Frau Ministerin, wir haben Ihre Rede sehr wohlwol- Im analogen Bereich, Frau Kollegin, konnten wir Pri- (C) lend entgegengenommen. vatkopien natürlich zulassen, weil es die Geräteabgabe gegeben hat. Insoweit war ein gewisser Erlös für die Ur- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) heber vorhanden. Im digitalen Bereich sind die Verhält- Sie haben immerhin erklärt, dass Sie den schlechten Ge- nisse anders, deswegen müssen wir auch andere gesetz- setzentwurf, den Sie hier vorlegen, nachbessern wollen. liche Regelungen finden. (Heiterkeit des Abg. Steffen Kampeter (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) [CDU/CSU]) Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Gesetz arbei- Diesen schlechten Gesetzentwurf haben nicht Sie zu ver- ten! antworten. Er ist in der letzten Legislaturperiode von Ihrer Frau Ministerin, ich teile nicht ganz Ihre Auffassung Vorgängerin in den Bundesrat eingebracht worden. Derbezüglich der Individuallizenz. In einem Punkt allerdings Bundesrat hat dazu ausführlich Stellung genommen – im sollten wir uns einig sein: Die Zukunft gehört der Indivi- Übrigen auch SPD-Länder –, indem gesagt wurde, dass in duallizenz und daran sollten wir arbeiten. dieser Urheberrechtsnovelle keine klare Linie erkennbar ist. Vielen Dank. Lassen Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten diesen Gesetzentwurf gründlich überarbeiten, damit die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bedürfnisse aller Beteiligten tatsächlich berücksichtigt werden, und kein Flickwerk machen! Wir sind dazu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – auch in ausführlichen Berichterstattergesprächen – be- reit. Darüber haben wir uns schon verständigt. Ich glaube, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski. wir kommen da zu einem guten Ergebnis. Die Umset- zungsfristen im Hinblick auf die entsprechende Richtlinie Dirk Manzewski (SPD): sind sowieso schon abgelaufen. Jetzt kommt es auf die eine oder andere Woche nicht mehr an. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, Was die WIPO-Verträge angeht, muss ich Ihnen sagen: das deutsche Urheberrecht der Entwicklung im Bereich Wir sind ohnehin das letzte Land unter den Vertragsstaa- der Informations- und Kommunikationstechnologie an- ten, die diese ratifizieren. zupassen. Dies ist insbesondere deshalb notwendig ge- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wieder worden, weil es – das ist schon angesprochen worden – einmal das letzte Land!) mittlerweile aufgrund der digitalen Technologie völlig unproblematisch geworden ist, urheberrechtlich ge- (B) Das ist eine Schande; aber es ist nun einmal passiert. Jetzt schützte Inhalte über ein weltumfassendes Netz binnen(D) können wir in Ruhe darüber beraten. kürzester Zeit zu übermitteln und zu verbreiten. Es geht um zukunftsweisende Regeln. Diese wollen Als Grundlage für den Gesetzentwurf diente die bereits wir im Interesse unserer Industrie umsetzen. angesprochene EU-Richtlinie, die bestimmte Aspekte (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/ des Urheberrechts sowie der verwandten Schutzrechte in CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Nur wegen der der Informationsgesellschaft unter den Mitgliedstaaten Industrie?) harmonisieren will und die wir in deutsches Recht umzu- setzen haben. – Ich komme gleich dazu, Herr Tauss. – Es geht hier nicht um Peanuts, wie man heute sagen würde, sondern um Mil- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) liardenbeträge. Dabei geht es zum einen darum, den Schutz der Rechts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) inhaber zu gewährleisten, und zum anderen darum, den Verwertern und Nutzern einen angemessenen Rechtsrah- „Kleine Novelle zum Urheberrecht“ klingt ja recht hübsch. men vorzugeben, der den Einsatz der neuen Technologien Aber tatsächlich geht es um starke wirtschaftliche Inte- zulässt und die Entwicklungen in der Informationsgesell- ressen, um Milliardenbeträge. schaft fördert. Dazu muss ich sagen, dass Sie bislang im Rahmen der Ur- Meiner Auffassung nach – sie unterscheidet sich von heberrechtsnovelle das Recht der Nutzer auf Privatkopien der der Kollegen Funke und Krings – wird der Regie- und den elektronischen Pressespiegel nicht hinreichend rungsentwurf dem gerecht. berücksichtigt haben. Wir müssen uns vor Augen führen – das hat der Kollege Krings schon zu Recht gesagt –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede!) So enthält er klare Regelungen für die Verwertung von ge- schützten Leistungen im digitalen Umfeld. Zugunsten der dass Urheberrechte auch Eigentumsrechte sind. Nicht der Urheber und Leistungsberechtigten wird das so genannte Gesetzgeber sollte über diese Eigentumsrechte verfügen, Recht der öffentlichen Zugänglichmachungeinge- sondern es muss ein gerechter Interessenausgleich vorge- führt. Damit werden wir verdeutlichen, dass Werke in den nommen werden. elektronischen Medien wie dem Internet nur mit Zustim- mung der Urheber verwertet werden dürfen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da müssen Sie die Kollegin Bettin anschauen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 631

Dirk Manzewski (A) Andererseits werden die so genanntenSchranken- Die Umgehung der zulässigen und wirksamen techni-(C) regelungen den Erfordernissen des digitalen Zeitalters schen Schutzmaßnahmen soll daher verboten werden. angepasst und wird genau bestimmt, in welchen Fällen es Verstöße hiergegen werden mit einem Bußgeld oder, Urheber hinnehmen müssen, dass ihre Werke auch ohne wenn dies gewerblich erfolgt, sogar mit einer Geld- oder ihre Zustimmung genutzt werden können. Dies soll ins- Freiheitsstrafe geahndet werden können. besondere da erfolgen, wo die Bundesregierung ohnehin Ich halte es allerdings für richtig – insoweit teile ich die einen Schwerpunkt ihrer Politik legt, nämlich in den Be- Auffassung der Ministerin –, den Rechtsinhabern aufzu- reichen Unterricht und Forschung. geben, dies auf den Produkten deutlich zu kennzeichnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Verbraucher muss wissen, ob er sich von einer ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kauften CD eine Privatkopie ziehen darf oder nicht, mit all den wirtschaftlichen Konsequenzen, die das für beide Hier können urheberrechtlich geschützte Werke künftig Beteiligten bedeuten kann. ohne Zustimmung der Urheber einem bestimmten, abge- grenzten Bereich von Personen, etwa zur Veranschau- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja lichung im Unterricht oder zur eigenen wissenschaftli- auch in Ordnung!) chen Forschung, zugänglich gemacht werden, wenn Dass durch den Gesetzentwurf ausübende Künstler wie – insoweit teile ich die Kritik – dieses am Ende auch et- Musiker oder Schauspieler hinsichtlich ihrer Rechtsstel- was enger lung endlich den Urhebern angenähert werden, wird von (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) mir ebenfalls begrüßt. als noch im Gesetzentwurf vorgesehen umgesetzt wer- Lieber Herr Kollege Krings, die Bundesregierung hat den sollte. Darüber werden wir sicherlich noch reden die in diesem Zusammenhang betroffenen Kreise schon müssen. frühzeitig in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Sie wissen das, wenn Sie die letzte Legislaturperiode ver- Klargestellt wird zudem – das ist sehr wichtig –, dass folgt haben. auch digitale Privatkopien zulässig sein sollen. Ich halte das für vernünftig, weil dies der Systematik der Vergan- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da ist der genheit entspricht. Wer also – die Ministerin hat das Bei- Gesetzentwurf versandet!) spiel angesprochen – von seiner Lieblings-CD eine Kopie Herr Kollege Funke wird, auch wenn er in anderen Berei- für den CD-Player im Auto brennen möchte, wird dies chen anderer Meinung ist, bestätigen, dass das Urheber- auch in Zukunft tun dürfen. Ich weise jedoch darauf hin, recht der Ministerin sehr wichtig war. dass auch ich hier noch ein wenig Diskussionsbedarf (B) habe. (Rainer Funke [FDP]: Sie hat es nur nicht (D) umgesetzt!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist denn eine Privatkopie? Das muss konkretisiert wer- Der Gesetzentwurf hat deshalb auch Empfehlungen einer den!) bereits in der vorletzten Legislaturperiode vom Bundes- tag zu diesem Themenbereich eingesetzten Enquete- Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit in diesem Zu- Kommission sowie ein vom Max-Planck-Institut einge- sammenhang eine Regelung sinnvoll wäre, die solche Pri- holtes Gutachten aufgegriffen. Dies gilt ebenso – das vatkopien aus legalen Quellen, also vom eigenen Origi- halte ich für wichtig – für die Empfehlungen, die in zwei nal, zulässt. Die Bundesregierung weist zwar zu Recht Sachverständigenanhörungen zum Referentenentwurf, darauf hin, dass dies schwer zu kontrollieren wäre, aber im Herbst 2001 und im Frühjahr dieses Jahres, gemacht ich meine, dass wir darüber noch einmal reden müssen. wurden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich beurteile auch die Situation ein wenig anders als Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr guter Vor- Sie: Ich meine, dass von den Verbänden und Institutionen schlag!) im Großen und Ganzen Zustimmung zu dem Gesetzent- Meine Damen und Herren, die grundsätzliche Zuläs- wurf signalisiert wird. sigkeit von Privatkopien einerseits darf jedoch nicht da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günter rüber hinwegtäuschen, dass den Rechtsinhabern anderer- Krings [CDU/CSU]: Haben Sie die Gutachten seits ebenso zugestanden werden muss – wenn sie dies überhaupt gelesen, Herr Kollege?) eben nicht wollen –, sich davor durch technische Maß- nahmen zu schützen. Der Gesetzentwurf ist nicht zuletzt Ähnliches gilt für die Stellungnahme des Bundesrates. Zu deshalb notwendig geworden, weil es immer häufiger zu Detailfragen habe ich selten eine so politische Stellung- einer Verletzung der Urheberrechte gekommen ist, und nahme gelesen, die im Grunde genommen wenig von dem aufgreift, was man sachlich und fachlich zu dem Gesetz- zwar mit zum Teil erheblichen wirtschaftlichen Nachtei- entwurf sagen könnte. len für die Betroffenen. Um dies zu verhindern, sind von den Rechtsinhabern in der Vergangenheit immer wieder (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie brauchen neue technische Schutzmaßnahmen getroffen worden. aber die Zustimmung!) Leider haben diese nicht vor illegaler Umgehung schüt- Ich gehe mit Ihnen insoweit konform, dass wir über zen können. Detailfragen sicherlich noch zu diskutieren haben. Ich (Jörg Tauss [SPD]: Die waren auch nicht gut!) halte es aber für richtig, dass die Bundesregierung nicht 632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dirk Manzewski (A) allen Empfehlungen folgt und keine weit über die EU- Ich danke Ihnen. (C) Richtlinie hinausgehende Veränderung des Urheberrechts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vornehmen will. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: sind einige der gemachten Vorschläge, zum Beispiel zur Das hat Herr Krings durch seinen guten Rede- Behandlung von Archivbeständen, auf EU-Ebene noch beitrag deutlich gemacht!) nicht abschließend diskutiert worden; dem sollte meiner Ansicht nach nicht vorgegriffen werden. Zum anderen wäre es unter Berücksichtigung der vorgesehenen Umset- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zungsfrist unsinnig – selbst wenn wir es nicht bis zum Jah- Ich schließe die Aussprache. resende schaffen sollten –, bei insoweit noch bestehenden Kontroversen im Detail möglicherweise fehlerhafte Ent- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe scheidungen zu treffen. auf den Drucksachen 15/38 und 15/15 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Nach meiner Auffassung kann die Diskussion überGibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der diese noch strittigen und nicht umsetzungsbedürftigen Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Punkte auch noch im nächsten Jahr, also nach dem Ge- setzgebungsverfahren, erfolgen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie so Beratung des Antrags der Abgeordneten schnell arbeiten wie bisher, wird es auch im Dr. Werner Hoyer, Jörg van Essen, Günther nächsten Jahrzehnt nichts!) Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der – Das ist immer Ihr großes Problem: Manchmal sind wir Fraktion der FDP – gerade in der Rechtspolitik – zu schnell, manchmal sind Rechtssicherheit für die bewaffneten Einsätze wir zu langsam. Je nachdem, wie es Ihnen gerade passt, deutscher Streitkräfte schaffen – ein Gesetz zur Herr Kollege. Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr einbringen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Drucksache 15/36 – In der Rechtspolitik habe ich in den letzten vier Jahren die Überweisungsvorschlag: Erfahrung gemacht, dass wir Sie mit schnellen und durch- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und dachten Gesetzgebungsverfahren in der Regel überfordert Geschäftsordnung (f) haben. Da muss man wohl durch. Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss (B) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Rechtsausschuss (D) Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verteidigungsausschuss NEN] – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ist frech! – Zuruf des Abg. Rainer Funke Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen [FDP]) Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Lieber Kollege Funke, der Untergang des Abendlandes, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der den Sie in so vielen Bereichen beschworen haben – ich Abgeordnete van Essen. denke beispielsweise an die Schuldrechtsreform und die Zivilrechtsreform –, ist nicht eingetreten. Jörg van Essen (FDP): (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben wohl die Steuerdebatte heute Nachmittag nicht mit- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Entwurf, den wir heute debattieren, haben wir bereits bekommen!) zum Schluss der vergangenen Legislaturperiode in den Man darf nicht zu viel Wert auf das legen, was Sie da so Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind damals nicht sagen. zum Ende der Beratungen gekommen. Man kann es auch deutlicher sagen: Wir konnten erst gar nicht so richtig da- Soweit der Bundesrat in seiner Stellungnahme noch mit anfangen. Trotzdem ist es sehr wichtig, dass wir die einmal für den Vorrang vonIndividualabrechnungen Fragen, die wir aufgeworfen haben, debattieren und dass plädiert, bleibt mir nur, wie die Ministerin es getan hat, wir zu einer Lösung kommen. Ich glaube, dass die Debatte darauf hinzuweisen, dass die Technologien hierfür noch insbesondere zeigen wird, dass wir noch eine Menge of- nicht ausgereift sind. Kollege Funke, ich folge Ihnen in fene Fragen haben, auf die wir Antworten geben müssen. der Tendenz; wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass das Pauschalvergütungssystem zumindest nicht völ- Ich will eine Position klar und deutlich an den Beginn lig abgeschafft werden kann. stellen, weil ich mich über eine Bemerkung einer frak- tionslosen Abgeordneten heute Morgen ganz außeror- (Rainer Funke [FDP]: Dann müssen wir eine dentlich geärgert habe. Diese Abgeordnete hat gesagt, wir Öffnungsklausel machen!) wollten die Beteiligung des Deutschen Bundestages an Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion wird sich an der Zustimmung zu den Auslandseinsätzen abschaffen. den anstehenden Beratungen konstruktiv beteiligen.Das Gegenteil ist der Fall. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich (Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting hoffe, dass Sie es genauso machen werden. [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 633

Jörg van Essen (A) Wir wollen, dass es bei der konstitutiven Zustimmung des Dieses geheime Gremium hat im Übrigen noch einen (C) Deutschen Bundestages zu den Auslandseinsätzen bleibt. weiteren Vorteil: Dadurch könnte sichergestellt werden, Das hat uns das Bundesverfassungsgericht übrigens aus dass das Parlament über fortlaufende geheime Einsätze guten Gründen aufgegeben, unterrichtet werden kann. Ich nenne Ihnen nur ein Bei- spiel: Wir haben aus der Zeitung erfahren, dass es einen (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der neuen Auftrag für das Kommando Spezialkräfte gegeben SPD) hat. Das kann natürlich nicht in der Öffentlichkeit ange- und zwar deshalb, weil die Bundeswehr ganz bewusst als sprochen werden. Dieses Gremium wäre, wie ich finde, Parlamentsarmee gestaltet ist und es für die Soldaten genau die richtige parlamentarische Grundlage für die ganz außerordentlich wichtig ist, dass sie ihre zum Teil Unterrichtung des Deutschen Bundestages. sehr schwierigen Aufträge jeweils vor dem Hintergrund Wir haben auch keine Klarheit bezüglich der Frage der Zustimmung des Parlaments – einer großen Mehrheit – auch das möchte ich hier ansprechen –: Was ist eigent- des Parlaments – durchführen. Ich will es noch einmal lich ein bewaffneter Einsatz? Da gibt es durchaus unter- ausdrücklich betonen: Wir wollen daran nichts ändern. schiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Ich nenne Ih- Trotzdem gehört zur Bestandsaufnahme, die wir jetzt, nen ein Beispiel: Nach einem Erdbeben in Afghanistan nach einiger Zeit der Notwendigkeit der Zustimmung zu erfolgte der Einsatz von Sanitätskräften. Angesichts der Auslandseinsätzen durchführen können und müssen, dass Situation in Afghanistan konnten wir die Sanitätskräfte wir feststellen, dass es Bereiche gibt, für die wir keine nicht ohne Bewaffnung – die so genannte Selbstschutz- wirklichen Antworten haben. Ich will nur ein Beispiel an- komponente – in diesen Auftrag schicken. Ist eine solche führen: Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmtehumanitäre Hilfeleistung mit Selbstschutzkomponente Dinge vorgegeben für Einsätze, die ohne Verzug erfolgen schon ein bewaffneter Einsatz? – Dies hätte zur Konse- müssen. Wir haben einen solchen Einsatz einmal gehabt, quenz, dass alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts als Geiseln in Tirana befreit werden mussten. Da kann es erfüllt sein müssen. – Oder fallen solche Einsätze in den nicht sein, dass der Deutsche Bundestag zusammenkom- Bereich unterhalb dieser Schwelle? Wir möchten, dass men muss. Da muss es die Möglichkeit einer schnellen klar geregelt wird, wann ein bewaffneter Einsatz beginnt. Entscheidung und der nachträglichen Zustimmung des Dies dient der Sicherheit der Bundesregierung, der Si- Deutschen Bundestages geben. cherheit des Parlaments, aber vor allem der Sicherheit un- Ich will aber in diesem Zusammenhang nicht ver-serer Soldaten. schweigen, dass wir bislang keine Klarheit haben – auch (Beifall bei der FDP) nicht in der Geschäftsordnung der Bundesregierung –, wer eigentlich die Anordnung trifft: das Kabinett als Bei der Planung und Vorbereitung eines bewaffneten (B) Ganzes, der Verteidigungsminister, der Bundeskanzler? Einsatzes können wir meiner Meinung nach etwas fle-(D) Ich fände hier Klarheit gut, weil das auch die Verantwor- xibler sein, als wir dies in der Vergangenheit waren. Wir tung deutlich macht. Das ist ein Bereich, über den wir uns erleben immer wieder, dass die Bundesregierung erst sicherlich unterhalten sollten; denn ich glaube, dass das dann Transportraum anmietet, dass sie erst dann be- ein sehr wichtiger Punkt ist. stimmte Lokalitäten für die Bundeswehr oder Frachtraum anmietet, wenn die konstitutive Zustimmung des Deut- Das genannte Beispiel ausgenommen, haben wir sol- schen Bundestages im jeweiligen Fall erteilt ist. Ich finde, che Einsätze bisher noch nicht gehabt; sie können aber auf wir sollten dabei ein bisschen großzügiger sein und dem uns zukommen. Die Geiselbefreiung in Tirana war ein ge- Bundesverteidigungsminister die Möglichkeit geben, be- heimer Einsatz und war sofort und auf der Stelle not- stimmte Planungsschritte vorwegzunehmen, die sich wendig. Es wird aber irgendwann auch Einsätze geben, zunächst noch nicht auswirken. Diese wirken sich erst die geheim zu halten sind und die lange vorbereitet wer- dann aus, wenn die Zustimmung des Deutschen Bundes- den – eine Woche, 14 Tage –, sodass dann grundsätzlich tages tatsächlich erfolgt ist und damit Soldaten in den Ein- eine Beteiligung des Deutschen Bundestages möglichsatz gehen. wäre. Es kann aber nicht sein, dass wir hier im Deutschen Bundestag beispielsweise die Größe des Kontingents der Gegenwärtig erleben wir es oft, dass beispielsweise Bundeswehr in aller Breite diskutieren, dass wir uns da- Flugzeuge schon weg sind – diese gibt es nur begrenzt auf rüber auseinander setzen, dass die Bundesregierung dies dem Weltmarkt – oder bestimmte Plätze wie etwa unzer- alles in eine Vorlage schreibt und dass der, der möglicher- störte Gebäude, in denen unsere Soldaten untergebracht weise durch eine geheime Operation überrascht werden werden könnten, bereits von unseren Alliierten für ihre soll, das alles vorher nachlesen kann. Deshalb müssen wir Zwecke in Anspruch genommen worden sind, sodass un- uns Gedanken darüber machen, wie wir das regeln kön- sere Soldaten in ein Feldlager müssen – und dies in einer nen. schwierigen Umgebung. Es ist notwendig, darüber zu sprechen. Wir als FDP machen einen Vorschlag und sagen: Wir haben ja einen Bereich, in dem es eine ähnliche Proble- Meine letzte Bemerkung betrifft dieGeschäftsord- matik gibt, nämlich den der Nachrichtendienste, der Ge- nung des Deutschen Bundestages. Das gegenwärtige Ver- heimdienste. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, ein ähnli- fahren orientiert sich an einer parlamentarischen Übung, ches parlamentarisches Gremium einzurichten, das, zu die dem Gesetzgebungsverfahren nachgebildet worden Beginn einer Legislaturperiode gewählt, unter Leitung ist. Wir tun so, als ob es sich um so etwas wie eine erste des Bundestagspräsidenten den Bundestag bei der notwen- Lesung handeln würde. Dies ist es aber nicht. Deshalb digen Zustimmung ersetzt. möchten wir, dass wir speziell für die Zustimmung zu 634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Jörg van Essen (A) Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Abschnitt in die destag vorbehalten bleiben. DiesenParlamentsvorbe- (C) Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufneh- halt hat das Bundesverfassungsgericht in dem viel zitier- men. In diesem könnten auch die Unterrichtungspflichten ten Urteil aus dem Jahr 1994 ausdrücklich bekräftigt und der Bundesregierung gegenüber dem Parlament näherwir wollen nicht davon abrücken. dargelegt werden. Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist momentan die verfas- Wir laden Sie ein, über unseren Vorschlag zu sprechen. sungsrechtliche Ausgangslage? Das Bundesverfassungs- Ich weiß, dass das eine oder andere durchaus unter-gericht hat in seinem Urteil aus dem Jahr 1994 entschieden, schiedlich gesehen werden kann. Meine Bitte aber ist, dass für den Fall eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfte dass wir schnell zu einer Lösung kommen. Mich freut, im Einklang mit der deutschen Verfassungstradition seit dass uns der Bundesverteidigungsminister wegen unserer 1918 grundsätzlich im Voraus die Zustimmung des Deut- Ansätze gelobt hat. Daher glaube ich, dass es eine Ge- schen Bundestages einzuholen ist. Das ist der konstitutive sprächsbasis quer durch dieses Parlament gibt. Gesetzesvorbehalt. Das Zustimmungserfordernis gilt nach Ansicht des Gerichts jeweils für den konkreten Bündnis- Herzlichen Dank. fall, unabhängig von der Zustimmung des Parlaments zur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) abstrakt-generellen Beistandsverpflichtung. Ich führe es etwas ausführlicher aus, denn wenn wir darüber reden, müssen wir wissen, welche Lage wir vorfinden und was Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wir regeln wollen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht. Das Handeln der Bundesregierung auf dem Gebiet der auswärtigen Verteidigung muss durchgehend und zu Christine Lambrecht (SPD): Recht von einer parlamentarischen Kontrolle begleitet werden. Einzig bei Gefahr im Verzug ist die Bundes- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr van regierung berechtigt, den Einsatz von Streitkräften vor- Essen, ich kann Ihnen unsere Gesprächsbereitschaft läufig zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen schon vorab zusagen. Sie können sich auf uns verlassen. in den Bündnissen und in internationalen Organisationen Wir werden im Geschäftsordnungsausschuss als wahr- ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament scheinlich federführendem Ausschuss den einen oder an- mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bun- deren Punkt sicherlich näher beleuchten. desregierung muss jedoch auch in diesen Fällen das Par- Seit dem Fall der Mauer gab es Schritt für Schritt auch lament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz außerhalb der Grenzen Deutschlands Einsätze der Bun- befassen. Bei dieser besonderen Fallgestaltung wären die deswehr, so den Einsatz von Sanitätern in Kambodscha, Streitkräfte zurückzurufen, wenn der Bundestag es ver- (B) (D) um UNO-Soldaten zu betreuen. Dazu gehört auch derlangt. Im Übrigen hat der Bundestag über die Einsätze Einsatz von 1992 bis 1996 in der Adria, um das Waffen- bewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2 embargo durchzusetzen und zu überwachen. Von 1993 bis Grundgesetz, also mit Mehrheit, zu entscheiden. 1995 beteiligten sich Bundeswehrsoldaten an der NATO- Dieser Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestag Aktion zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien. allerdings keine Initiativbefugnis. Auch darüber sind wir Deutsche Soldaten waren im humanitären Einsatz in So- uns einig. Das heißt, der Bundestag kann lediglich einem malia. 4 000 Soldaten beteiligten sich am IFOR-Einsatz in von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine Bosnien zur Sicherung des Dayton-Abkommens. Wieder Zustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweise Jahre später nahmen deutsche Tornadokampfflugzeuge an ohne seine Zustimmung schon begonnen hat, also bei Ge- einem begrenzten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien fahr im Verzug, unterbinden. Er kann aber nicht die Re- teil. Bundeswehrsoldaten sind zur Unterstützung einer gierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflich- Friedenstruppe im Kosovo und in Mazedonien. Schließlich ten. Auch darüber müssten wir sprechen. beteiligen sich bewaffnete deutsche Streitkräfte auch am Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan. Morgen Die Frage des Rückholrechts während eines laufenden werden wir hier im Deutschen Bundestag namentlich über und vom Bundestag bereits gebilligten Streitkräfteeinsat- die Fortsetzung dieses Einsatzes in Afghanistan abstim- zes ist, das muss ich zugeben, nicht abschließend geklärt. men. Auch darüber sollten wir uns Gedanken machen. Natürlich beruhte die Entsendung all dieser deutschen (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sie ist Kontingente stets auf Beschlüssen des Bundestages. Dies umstritten! Die herrschende Meinung sagt: muss man ganz deutlich sagen. DerParlamentsvorbe- Nein! – Jörg van Essen [FDP]: Das ist richtig!) halt für den militärischen Einsatz von Streitkräften ent- – Es kommt darauf an, wen Sie als herrschend ansehen. spricht seit 1918 Verfassungstradition. So sollte es – da kann ich Ihnen nur zustimmen – auch in Zukunft bleiben. Der verfassungsrechtlich geforderte Parlamentsvorbe- halt gilt also ungeachtet näherer gesetzlicher Ausgestal- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tung unmittelbar kraft Verfassung. Bundesregierung und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundestag haben natürlich die Möglichkeit, ein Gesetz zu Auch wenn vielen von uns die Entscheidung über den erlassen, das eine förmliche parlamentarische Beteiligung Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland sehr schwer an der Entscheidung über militärische Einsätze näher aus- fällt, möchte ich gerade dafür plädieren, dass diese tief gestalten kann. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, greifenden Entscheidungen auch in Zukunft dem Bun- wenn wir schon unsere Rechte und Pflichten näher defi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 635

Christine Lambrecht (A) niert wissen wollen, dann sollten wir dieses Anliegen ge- Sie Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. Ich glaube, (C) rade nicht an die Bundesregierung delegieren, sondern es das ist eine ganz wichtige Sache, die wir in den letzten selbst übernehmen, falls möglich, mit einem interfraktio- Jahren bei vielen Fragen nicht immer erlebt haben. nellen Antrag. (Zuruf von der SPD: Das können wir zurück- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried geben!) Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Für uns ist wichtig, dass das, was der Kollege van Damit hätten wir natürlich auch eine Grundlage, auf der wir Essen eingangs seiner Rede gesagt hat, auch in Zukunft alle stehen könnten, und es wäre ein noch besseresBestand hat: Die Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen eine Signal der Rechtssicherheit an die Soldatinnen und Solda- Parlamentsarmee, das heißt, dass jeder von uns Verant- ten. Über den Regelungsbedarf wäre dann im federführen- wortung für den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten den Ausschuss, vermutlich also im Geschäftsordnungsaus- trägt, egal ob er gerade in der Opposition ist oder viel- schuss, zu beraten und zu beschließen, woran wir uns gern leicht morgen in der Regierung sein wird. Das war in der konstruktiv beteiligen. Das habe ich Ihnen schon zugesagt. Vergangenheit so und das soll auch in Zukunft so bleiben. Die Frage ist nur, wie und auf welche Weise wir diese Ver- Inhaltlich habe ich bei einigen Punkten Ihres Antrags antwortung wahrnehmen. Das Spektrum der Wahrneh- allerdings Bedenken. mung der Verantwortung ist ja ziemlich groß: Die einen (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das kann im Parlament fühlen sich als Ersatzfeldherr, während die ich mir gar nicht vorstellen!) anderen ungefragt ihre Verantwortung bei der Regierung abgeben möchten. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, Er erscheint mir nicht ganz ausgereift. So bedarf meiner zwischen diesen beiden Positionen einen vernünftigen Meinung nach die Frage, ob die Delegation parlamenta- Weg zu finden. rischer Befugnisse auf andere Gremien möglich und sinn- voll ist, einer gründlichen verfassungsrechtlichen Prüfung. Das Bundesverfassungsgericht hat uns dazu einiges aufgetragen. Ich möchte das für diejenigen Kolleginnen Die in Ihrem Antrag verlangte Kanzlermehrheit würde und Kollegen, die die einschlägigen Bundesverfassungs- eine Verfassungsänderung voraussetzen, denn nach dem gerichtsurteile nicht ständig im Kopf haben, noch einmal so genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungs- deutlich machen. Das Bundesverfassungsgericht hat in gerichts hat der Bundestag über Einsätze nach Art. 42seiner Entscheidung von 1994 festgestellt: Abs. 2 Grundgesetz zu entscheiden, das heißt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen,soweit dieses Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. So ist es derzeit. Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher Wollten wir also die Kanzlermehrheit, müssten wir die auszugestalten. Je nach dem Anlass und den Rah- (B) (D) Verfassung ändern. Dann muss man sich fragen: Wollen menbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streit- wir das wirklich? Müssen wir das wirklich? Oder verfolgt kräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung man nicht vielleicht sogar den Zweck, Rot-Grün das eine – des Parlaments – oder andere Mal vermeintlich vorführen zu können, wenn wir diese Kanzlermehrheit nicht zustande bringen? Ich denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschied- kann Ihnen aber versichern: Wir von Rot-Grün stehen hin- liche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, die ter unserer rot-grünen Regierung und werden die Kanz- keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer lermehrheit auch morgen früh wieder zustande bringen. Bedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt und die Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu Zum Schluss möchte ich sagen: Wir stehen nicht nur umgrenzen. hinter unserer rot-grünen Bundesregierung, sondern vor allem auch hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im Ich glaube, man wird im Großen und Ganzen sagen kön- Ausland, nen, dass sich das, was wir in der Vergangenheit prak- tiziert haben, bewährt hat. Wir schicken seit zehn Jahren (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Gott – davon vier Jahre unter Rot-Grün – Soldatinnen und Sol- sei Dank ist das nicht identisch!) daten in internationale Einsätze. Man kann sagen, dass die die auch ohne ein solches Gesetz derzeit keine Rechts- Regelungen, die wir im Parlament aufgrund des Bundes- unsicherheit befürchten müssen. verfassungsgerichtsurteils vereinbart haben, uns selten ge- hindert haben, Soldaten in Einsätze zu schicken. Vielen Dank. Man muss allerdings auch feststellen, dass es Schwach- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen gibt. Kollege van Essen hat einige aufgezeigt. Ich DIE GRÜNEN) möchte das gerne ergänzen, damit wir Stoff für die Ge- spräche haben, die Frau Lambrecht angekündigt hat. Der Beirat für innere Führung hat gerade im letzten Jahr ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gutachten herausgegeben – es ist dem Verteidigungsaus- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey. schuss zur Verfügung gestellt worden –, in dem er sehr deutlich festgestellt hat, dass eines der Hauptprobleme darin besteht, die Soldaten möglichst früh und genau über (CDU/CSU): Thomas Kossendey Art, Zeitraum und Auftrag ihres Einsatzes zu informieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genau das ist eines der wichtigen Probleme, die wir Par- Zuerst herzlichen Dank, Frau Kollegin Lambrecht, dass lamentarier haben: Die Vorgesetzten der Soldaten, der 636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Thomas Kossendey (A) Minister, die Hardthöhe, können erst dann präzise infor- Wir werden schnell in ein Dilemma geraten. Sollte(C) mieren, wenn das Parlament einen entsprechenden Be- nämlich eines Tages der NATO-Rat oder ein Gremium der schluss gefasst hat; denn vorher sind ihnen ja die Hände EU beschließen, ein Verband der EU oder der NATO gebunden. Wir selbst sind also die Hauptursache für die- werde in einem bestimmten Gebiet eingesetzt, und unser ses Dilemma; denn ohne dass wir über einen Auslands- Vertreter in diesem Gremium hat zugestimmt, dann stehen einsatz endgültig entschieden haben, können in derwir vor einer Situation, die wir alle uns nicht wünschen: Truppe weder vorbereitende Aktivitäten entfaltet werden Entweder wir lassen den Vertreter mit seinem Ja im Re- noch Informationen mitgeteilt werden. gen stehen oder wir müssen einen Entschluss fassen, den Wir haben uns allerdings in den letzten Jahren zuneh- wir vielleicht nicht fassen wollen. Solch eine Entschei- mend daran gewöhnt, dass dieser zeitliche Ablauf, den das dung kann sich kein Abgeordneter wünschen, in eine Si- Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, durch dietuation gebracht zu werden, in der er nur mit Nein stim- Praxis der Regierung und des Parlamentes zugunsten ei- men kann und damit einen außenpolitisch großen ner effektiven Einsatzmöglichkeit unserer Soldaten still- Schaden für unser Land hinnehmen muss. schweigend unterlaufen wird. Es gibt aber auch gegen- Noch schwieriger wird die Lage, wenn unsere Solda- teilige Beispiele. Ich erinnere an den Einsatz unsererten in internationalen Verbänden bestimmte Aufgaben Soldaten in Mazedonien. Damals haben wir im Parlament wahrnehmen, die von anderen nicht wahrgenommen wer- – ich formuliere das vorsichtig – so lange diskutiert bzw. den können. Dann kann am Veto des Bundestages unter hatte sich der Entscheidungsgang zwischen Exekutive Umständen ein internationaler Einsatz scheitern. Ich und Regierung bzw. Parlament so verlangsamt, dass un- glaube nicht, dass das die Bündnisfähigkeit und die Ko- sere Soldaten, als sie in Mazedonien eintrafen, feststellen alitionsfähigkeit unseres Landes stärken würde. mussten, dass ein Großteil der Waffen, die sie eigentlich Es gibt also viele gute Gründe, den Antrag der Freien De- einsammeln sollten, schon von den NATO-Partnern ein- mokraten in den zuständigen Ausschüssen ausführlich und gesammelt worden waren. Das kann eigentlich nicht im ernsthaft zu beraten. Wir sollten das ohne parteipolitische Interesse der Bündnisfähigkeit unseres Landes sein. Schranken tun. Ich bin dankbar dafür, dass sich sowohl der Lassen Sie mich noch das Beispiel ergänzen, das der Verteidigungsminister vor einiger Zeit sehr positiv zu die- Kollege van Essen genannt hat. Als unsere Luftlande-sem Antrag geäußert hat als auch in der Vergangenheit man- brigade 31 in Kabul tätig war, gab es just zu dieser Zeit cher sozialdemokratische Abgeordnete. Kollege Zumkley ein dramatisches Erdbeben in Afghanistan. Unsere Solda- zum Beispiel hat darüber im letzten Jahr intensive Überle- ten sind dann, ohne auf ihr Mandat zu achten, weit nach gungen angestellt. Frau Lambrecht, herzlichen Dank dafür, Afghanistan hineingefahren, um den dort lebenden Men- dass Sie das so ausführlich dargestellt haben. schen zu helfen. Das haben wir alle begrüßt. Aber wir ha- (B) Für unsere Soldaten im Einsatz wäre es sehr schwer(D) ben auch stillschweigend hingenommen, dass das jenseits verständlich, wenn vernünftige Regelungen dieser Ein- der Grenzen des Mandates war. Was wäre wohl passiert, sätze, die wir zu breiten Teilen in diesem Parlament wün- wenn ein Wagen auf dem Weg dorthin auf eine Mine ge- schen, nur deswegen nicht zustande kämen, weil die Grü- fahren wäre? Was wäre wohl passiert, wenn ein Wagen nen in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben, das Zielobjekt von Taliban geworden wäre? Das hat Ge- dass dieses Thema nicht auf die Tagesordnung kommt. Ich neral von Butler auf seine eigene Kappe genommen. Ich glaube, das darf nicht sein. Deswegen möchte ich ab- weiß nicht, ob wir alle bereit gewesen wären, diesen schließend feststellen: Keinem Parlamentarier würde außermandatsmäßigen Einsatz hier zu billigen. durch eine Änderung der Verfahren irgendein Recht ge- Ich will nun einen weiteren Punkt nennen, einen Punkt, nommen werden. Es müssen aber Möglichkeiten gefun- der meiner Meinung nach zu wenig beachtet worden ist. den werden, unter Beachtung der Grenzen des Urteils des Die Bundeswehr wird, wie das in der Vergangenheit der Bundesverfassungsgerichts von 1994 sowohl den außen- Fall war, ihre internationalen Einsätze auch in Zukunft politischen Interessen unseres Landes als auch den ganz nur im Rahmen der Vereinten Nationen, der OSZE, der konkreten Sicherheitsinteressen unserer Soldatinnen und NATO oder künftig auch der EU oder von anderen Koali- Soldaten gerecht zu werden. Wenn dies das Ergebnis die- tionen durchführen. Das heißt, wir werden mit unseren ses Gespräches sein sollte, dann, glaube ich, können un- Soldaten in internationale Verflechtungen eingebunden sere Soldaten auf dieses Parlament stolz sein. Das wäre werden, aus denen wir uns nur sehr schwer herauslösen ein gutes Ziel. können, wenn wir im Bundestag eine andere Entschei- Schönen Dank. dung treffen sollten. Diese internationale Verflechtung unserer Soldaten muss bei den Entscheidungsverfahren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie vielmehr berücksichtigt werden. Gerade jetzt bei der zur bei Abgeordneten der SPD) Diskussion stehenden NATO-Response-Force wird das wichtig sein. Minister Fischer hat heute Morgen zwar ge- sagt, dass erst der NATO-Rat und darauf folgend das Par- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lament beschließen müssen und dass erst dann unsere Sol- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei. daten in den Einsatz gehen könnten. Ich glaube, er irrt hier; der reale Ablauf dieser Dinge sieht anders aus. Ein (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): solcher Fall wird wesentlich schneller und intensiver auf Winfried Nachtwei uns zukommen, als wir ihn im Augenblick mit unseren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schwerfälligen Verfahren bewältigen könnten. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind kein Mittel der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 637

Winfried Nachtwei (A) Politik wie viele andere, sie sind in der Regel besonders die Frage nach den Grenzen dieses Selbstverteidigungs- (C) teuer, sie sind riskant und deshalb auch besonders be-rechts. Wenn zum Beispiel das Recht beansprucht wird, gründungsbedürftig. Auch wenn es für uns immer umzu jeder Zeit und an jedem Ort gegebenenfalls mit multilaterale Einsätze geht, so ist zugleich klar, dass die Präemptionsangriffen gegen die terroristische Bedrohung Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an multi- vorzugehen, wird das völkerrechtliche Gewaltverbot der lateralen Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht inUN-Charta unterhöhlt und seine Beachtung de facto in New York, nicht in Washington und nicht in Brüssel fällt. das Belieben der Stärksten gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt ein 12. Juli 1994 klargestellt, dass diese Verantwortung nicht Einsatz bewaffneter Streitkräfte dann vor, wenn Bundes- allein der Bundesregierung überlassen werden darf. Es wehrsoldaten in – Zitat – „bewaffnete Auseinanderset- ist vielmehr der Deutsche Bundestag, der konstitutivzungen einbezogen werden können“. Beobachtermissio- über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zunen, wie zum Beispiel in Georgien, oder unbewaffnete entscheiden hat. Hilfseinsätze, wie vor einiger Zeit bei der Flutkatastrophe (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) in Mosambik, fallen eindeutig nicht darunter. Die parlamentarische Entscheidungshoheit über den Abgrenzungsprobleme gibt es aber in der Tat bei Einsatz der Streitkräfte ist eine fundamentale demokra- Hilfseinsätzen mit Selbstschutzkomponente – Herr van tische Errungenschaft. Der konstitutive Parlamentsvorbe- Essen hat den Fall Afghanistan angesprochen – sowie bei halt ist nicht nur verfassungsrechtlich vorgeschrieben, bewaffneten Erkundungs- und Vorauskommandos. sondern auch politisch überaus sinnvoll. (Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) In dem Bereich der vorbereitenden Maßnahmen und vor Er gewährleistete bisher eine besonders intensive parla- allem dann, wenn bewaffnete Streitkräfte sehr schnell ent- mentarische Beratung und trug, so meine ich, immer zu sandt werden sollen, gibt es sicherlich Klärungsbedarf. einer verantwortlichen Entscheidungsfindung und breiten Das wird zurzeit vor allem im Kontext des US-Vorschlags Konsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bei. einer NATO-Response-Force diskutiert. Bei der Klärung dieser Fragen ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen: (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Erstens darf der konstitutiven Befassung des Bundes- Der Parlamentsvorbehalt ist zugleich Eckstein der mi- tages nicht vorgegriffen werden; sie darf nicht präjudiziert litärpolitischen Zurückhaltung der Bundesrepublik, der werden. sich, so glaube ich, weiterhin alle Fraktionen verpflichtet fühlen. Zweitens sind die Erfahrungen mit VN-Friedensmis- (B) sionen zu bedenken, wonach eine zügige Einsatzbereit-(D) Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von schaft der nationalen Kontingente und dabei – das sage 1994 haben wir umfassende Erfahrungen mit den ver- ich ausdrücklich und ich betone es – der militärischen, po- schiedensten Arten von Auslandseinsätzen der Bundes- lizeilichen und zivilen Komponenten entscheidend für wehr gemacht. Man kann wirklich sagen: Keiner war dem ihre Wirksamkeit ist. anderen gleich. Dabei ergaben sich zugleich bestimmte Die aktuelle Diskussion um die Schnellst-Einsatzbe- Anforderungen. Die wichtigste Anforderung an die Recht- reitschaft einer NATO-Response-Force und die An- mäßigkeit von Auslandseinsätzen ist selbstverständlich führung angeblicher Probleme, die sich aufgrund der bis- ihre völkerrechtliche Legalität. Diese war bei der Betei- herigen Parlamentsbeteiligung ergeben hätten, scheinen ligung der Bundesrepublik an den NATO-Luftangriffen mir allerdings weitgehend an der Sache vorbeizugehen. In auf die Bundesrepublik Jugoslawien strittig. Es bestand Not- und Rettungseinsätzen ist in der Tat eine Entsendung und besteht in diesem Haus aber auch ein breiter Konsens in kürzester Zeit notwendig. Wenn es auch keine ganz darüber, dass das Übel der Nichtmandatierung durch den klare Regelung gibt, so gibt es doch zumindest eine ge- VN-Sicherheitsrat nicht als Präzedenzfall, sondern als wisse abgesicherte Praxis. Bei allen anderen umfassenden Ausnahme in einem Wertekonflikt und bei Bestehen einer Kriseneinsätzen sind das Vorliegen einer politischen Kon- völkerrechtlichen Regelungslücke verstanden werdenzeption, die Abstimmung unter Partnern und die Flankie- muss. rung durch nicht militärische Fähigkeiten unverzichtbar. (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Das braucht selbstverständlich eine gewisse Zeit. Ich meine, diese Zeit reicht allemal auch für eine fundierte Die Bundesregierung hat bewiesen, dass sie eine ein-Beteiligung des Bundestags. deutige völkerrechtliche Legitimation seitdem immer zur Voraussetzung für Auslandseinsätze macht. Deshalb hat Die Streitkräfte und das Regierungshandeln in mi- sie auch immer eine Mandatierung durch den VN-Sicher- litärischen Fragen unterliegen immer einer besonderen heitsrat angestrebt. parlamentarischen Kontrolle durch den Verteidigungsaus- schuss, den Wehrbeauftragten und aufgrund des Budget- Neue Fragen ergeben sich allerdings bei der militä- rechts des Parlaments. Der Einsatz vonSpezialkräften rischen Bekämpfung des Terrorismus. Mit den einschlä- erfordert eine besondere Geheimhaltung. Spezialsoldaten gigen Resolutionen, mit denen er das naturgegebeneagieren praktisch immer verdeckt und auch in so genann- Recht zur individuellen undkollektiven Selbstvertei- ten unkonventionellen Einsätzen, bei denen sich die Frage digung bekräftigte, gab der UN-Sicherheitsrat eine Art stellen kann, wie dabei die Regeln des Kriegsvölkerrechts Einstiegslegitimation. Immer deutlicher stellt sich aber eingehalten werden können. 638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Winfried Nachtwei (A) In der vorigen Legislaturperiode war meiner Erfahrung mentarischen Befassung mit diesem Thema gesammelt(C) nach eine parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsät- haben. Aber bisher unterschied sich jeder einzelne Einsatz zen de facto nicht gewährleistet. in seinem Charakter, seinen Risiken und auch hinsichtlich der jeweiligen Umstände von den anderen Einsätzen. (Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) Deswegen stehe ich der in dem Antrag enthaltenen For- In der Koalitionsvereinbarung ist deshalb ausdrücklich derung, in einem Gesetzentwurf zu definieren, was unter festgehalten worden, dass die parlamentarische Kontrolle dem Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ zu verste- von Spezialeinsätzen gewährleistet werden muss. Nach hen ist, skeptisch gegenüber. meiner bisherigen Erfahrung in dieser Legislaturperiode Sie haben eine Unterscheidung zwischen zwölf Son- erfolgt die Unterrichtung des Parlaments über die Obleute derfällen einschließlich des Einsatzes regulärer Streit- ordnungsgemäß. Nichtsdestoweniger meine ich, dass wir kräfte vorgeschlagen, die noch erweitert werden kann. weiter darüber diskutieren sollten, ob in diesem Zusam- Aber gerade das von Ihnen, Herr van Essen, genannte Bei- menhang nicht doch eine der Geheimdienstkontrolle ver- spiel der Bundeswehr-Mission in Afghanistan, die plötz- gleichbare Einrichtung des Parlaments angebracht wäre. lich zur Erdbebenhilfe herangezogen wurde, zeigt, dass Zur politischen Kontrolle der Auslandseinsätze gehört diese Einsätze im Zweifelsfall in keine bestimmte Kate- auch ihre regelmäßigepolitische Bewertung. Hierzu gorie hineinpassen. Dies kann auch dann eintreten, wenn wurden vor allem im Rahmen von Enduring Freedom er- wir einen relativ langen Katalog von bestimmten standar- hebliche Fortschritte gemacht. Durch Vorlage eines zwei- disierten Einsatzmöglichkeiten vorsehen. Wenn die Ein- ten bilanzierenden Gesamtberichts der Bundesregierung satzmöglichkeiten zu genau definiert sind und der Fall zur deutschen Beteiligung an Enduring Freedom ist das eintritt, dass sich der Charakter oder die Umstände des Parlament nun in ganz anderer Weise in der Lage, zu be- Mandats oder die Situation, in der dieser Einsatz stattfin- urteilen, wie wirksam dieser Einsatz tatsächlich war. det, verändern: Muss sich dann der Bundestag damit er- neut befassen? Kommen wir dann nicht eher in Schwie- Angesichts dieser Debatte meine ich, dass wir mit der rigkeiten? Klärung der heute angesprochenen und zum Teil noch of- fenen Fragen gut vorankommen können. Völlig zu Recht heißt es in dem Antrag, dass wir vor al- lem bei der Planung und Vorbereitung auch den zeitlichen Danke schön. Ablauf der Beratungen optimieren müssen. Das ist si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherlich richtig. Dies gilt auch für Erkundungsmissionen. und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen Wir werden morgen über die Verlängerung von Enduring [FDP]) Freedom diskutieren und abstimmen. Herr Nachtwei, Sie (B) haben völlig Recht: Dazu gehört auch eine politische Be- (D) wertung, die wir für jedes Mandat und auch für eine Man- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: datsverlängerung öffentlich und damit im Plenum vor- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Schockenhoff. nehmen müssen. Als wir vor einem Jahr Enduring Freedom beraten und Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): beschlossen haben, waren zur selben Zeit Soldaten schon in Kuwait, um sich vor Ort sachkundig zu machen. Aber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sie waren dort nicht in Uniform, sondern in Zivil. Sie ha- Wir sind uns offensichtlich über alle Fraktionen des Hau- ben deshalb zu manchen Informationen und zu manchen ses hinweg darüber einig, dass in bestimmten Fragen Re- Stellen in Kuwait überhaupt keinen Zugang gehabt. Das gelungsbedarf besteht. Ich gehe davon aus, dass wir diese war ineffektiv und im Grunde genommen für die Soldaten Fragen auch ziemlich ähnlich bewerten. Deswegen be- unwürdig. Deshalb spricht vieles dafür, der Bundesregie- grüße ich die Initiative der FDP-Fraktion und bin nach rung für eine Erkundungsmission zur Vorbereitung und dem bisherigen Verlauf der Debatte der Überzeugung, Planung eines Einsatzes mehr Spielraum zu lassen oder dass wir zu einvernehmlichen Regelungen kommen wer- sie nach Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses schon vor den. der Befassung der Gremien oder des gesamten Parlamen- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legt eindeu- tes handlungsfähiger zu machen. tig fest, wer konstitutiv über Einsätze zu entscheiden hat, (Jörg van Essen [FDP]: Das zeigt, dass man die wer das Initiativrecht hat und wer die Umstände der Einsätze definieren muss, weil es da noch kein Einsätze bestimmt. In dem Antrag wird zu Recht darauf Einsatz war!) verwiesen, dass im Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seiner Begründung die Frage offen bleibt, was unter – Gerade deswegen, Herr van Essen, glaube ich nicht, dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu verstehen ist. dass wir einen Einsatz genau definieren und in bestimmte Ich meine aber, dass das Bundesverfassungsgericht die Schubladen einsortieren können, weil im Zweifelsfall genaue Definition oder Kategorisierung von Einsätzen keine Schublade passt. nicht aus Nachlässigkeit unterlassen hat, Herr van Essen, Auf jeden Fall muss eine Wehrpflichtarmee immer eine sondern dass es aus gutem Grund so gehandelt hat, weil Parlamentsarmee bleiben. Aus diese Grunde ist schon zu sich nämlich alle Einsätze voneinander unterscheiden. Recht gesagt worden, dass die Information und die Be- Der Kollege Kossendey hat darauf hingewiesen, dass schlussfassung des Bundestages nur dann in einemGe- wir seit mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit der parla- heimgremium stattfinden sollten, wenn dies aus Sicher- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 639

Dr. Andreas Schockenhoff (A) heitsgründen unabdingbar ist. Dies darf aber nicht die Re- Heute unterstützen deutsche Soldaten eine Friedens-(C) gel werden. truppe im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Im Mazedonien-Einsatz hat sich die Bundeswehr hohe Aner- (Jörg van Essen [FDP]: So wollen wir das kennung im In- und Ausland erworben. Im Rahmen der auch!) UN-Friedensmission haben sich unsere Streitkräfte als Wir dürfen jedenfalls nicht sagen: Eine Behandlung wesentliche Stütze der Strategie von Stabilisierung und in einem Gremium ist manchmal weniger mühsam und Friedenssicherung in Afghanistan erwiesen. Ohne diese von der Geschäftsordnung einfacher zu handhaben. Dies engagierte Arbeit wäre der Friedensprozess so nicht mög- gilt ebenso für Zeiten, in denen es mit der parlamentari- lich gewesen. schen Planung nur schwer in Einklang zu bringen ist, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oder auch dann, wenn wir uns an Feiertagen zu Hause des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des aufhalten und nicht im Plenum sind. – Zu diesen Argu- Abg. Jörg van Essen [FDP]) menten sage ich: Jeder Einsatz ist gefährlich und setzt die Soldaten Risiken aus. Deswegen muss jeder Einsatz Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf – ich komme noch einmal auf Sie zurück, Herr Nachtwei –, Folgendes hinweisen: Der Deutsche Bundestag hat in wenn er nicht unabdingbar in einem Geheimgremium der 14. Wahlperiode 17-mal über Auslandseinsätze abge- beraten werden muss, öffentlich bewertet und begründet stimmt. Bis zum Jahresende wird sich das Parlament in werden. Daher muss die Behandlung im Plenum die Re- dieser neuen Legislaturperiode viermal mit Auslands- gel bleiben. Wir müssen die Verbesserungen, die der einsätzen befasst haben. Schon morgen früh stimmen wir Regierung mehr Handlungsspielraum geben, und auch namentlich über die Fortsetzung unserer Beteiligung an solche, die uns in die Lage versetzen, dies in der Ge- Enduring Freedom ab. Über die zeitliche Nähe der Ein- schäftsordnung leichter handhabbar zu machen, mitei- bringung Ihres Antrags und der Mandatsverlängerung bin nander verbinden. ich – das sage ich ganz deutlich – ein bisschen unglück- Dazu ist die Initiative geeignet. Dafür finden wir über lich. Wir sollten jeden Eindruck vermeiden, dass es einen die Fraktionen hinweg bestimmt gute Regeln. unmittelbaren Zusammenhang gibt und das Parlament in seinen Rechten beschnitten werden soll. Danke. Gleichwohl sollten wir Gelegenheit nehmen, uns auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Zeit nehmen, über die Empfehlung aus dem Urteil des bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Bundesverfassungsgerichts nachzudenken. Ich brauche Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das jetzt nicht noch einmal zu zitieren; Sie haben das NEN]) schon an verschiedenen Stellen getan. Ich will aber noch (B) einmal hervorheben, dass das Verfassungsgericht uns die (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestaltung überlassen hat. Es hat dafür weder ein zwin- gendes Gebot aufgestellt noch eine Frist gesetzt. Insofern Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten. gibt es keinen unmittelbaren Entscheidungsdruck. Heute, nach mehr als zehn JahrenEinsatzerfahrung Ulrike Merten (SPD): und auch vor dem Hintergrund der sehr praktischen Er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fahrungen, die unsere Soldaten in der Vorbereitung von Herr Kollege van Essen, es ist ganz unzweifelhaft, dass Mandaten machen, ist es meines Erachtens angezeigt, da- unsere Soldaten bei den Auslandseinsätzen der Bundes- rüber nachzudenken – das ist auch schon an vielen Stellen wehr einen Anspruch auf Rechtssicherheit haben. Aber es gesagt worden –, welche tatsächlichen Probleme sich zwi- ist auch unzweifelhaft, dass diesem Anspruch bereitsschen Bundestag und Bundesregierung bei konkreten jetzt, wie ich finde, gründlich Rechnung getragen wird. Einsätzen bewaffneter Streitkräfte ergeben haben. Zu welchem Schluss wir auch immer kommen: Grundlage (Jörg van Essen [FDP]: Das wird nicht infrage bleibt unsere Verfassung. Daran hätte sich auch ein Par- gestellt!) lamentsbeteiligungsgesetz unter allen Umständen zu ori- Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom entieren. Das ist wichtig zu wissen, auch für diejenigen, 12. Juli 1994 ist klar, dass die Bundesregierung vor einer die erst jetzt in die Debatte einsteigen und die glauben, deutschen Beteiligung an einem bewaffneten Einsatz die hiermit solle das Parlament möglicherweise wichtiger Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen muss. Rechte enthoben werden. Das ist auch die Praxis, die wir nun schon viele Jahre (Jörg van Essen [FDP]: Im Gegenteil!) üben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bisher Entscheidend dabei ist, dass sich durch die Notwen- allenfalls kurz angedachten, keineswegs aber ausführlich digkeit der konstitutiven Zustimmung die Regierung und diskutierten Fragen von großer Komplexität sind. Sie be- das gesamte Parlament gleichermaßen für die Bundes- dürfen meines Erachtens zunächst einer intensiven juris- wehr verantwortlich fühlen. Die Bundeswehr – das betone tischen und politischen Analyse. Dabei ist umfassend zu ich – darf niemals zum Werkzeug einer Regierungsmehr- untersuchen, welche offenen Fragen tatsächlich bestehen, heit, gleich welcher Couleur, werden. ob zwingend etwas neu geregelt werden muss und wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christian dies sachgerecht geschehen könnte. Wenn wir zu einer Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist gut!) Änderung kommen, dann sollte es unser gemeinsames 640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Ulrike Merten (A) Ziel sein, die Rechtslage so zu gestalten, dass sie auch natürlich auch ein Teil der Rechtfertigung des Verfas-(C) über einen längeren Zeitraum Bestand hat. sungsgerichts gewesen, als es darum ging, eine in sich schlüssige, kluge Entscheidung zu treffen. Mit dieser Ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der scheidung ist es dem Bundesverfassungsgericht gelun- CDU/CSU) gen, einen offensichtlichen Streit, den wir nun einmal hat- Dies kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn wir ten und der eigentlich nicht zielführend war, vernünftig zu uns über die offenen Fragen und über einen Lösungsweg beenden. Sedes materiae ist nicht Art. 87 a des Grund- verständigen können. Dafür brauchen wir einen breiten gesetzes. Die Problematik des Einsatzes deutscher Streit- Konsens über die Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag kräfte im Ausland bleibt bestehen. Sedes materiae ist aber der FDP kann als ein Beitrag zu der Debatte verstanden auch nicht Art. 24 des Grundgesetzes. Die Entscheidung werden, an deren Anfang wir erst stehen. Ich habe den des Bundesverfassungsgerichts ist aus der Verfassung he- Eindruck, dass wir auf einem guten Wege sind. raus entwickelt worden. Sie knüpft an einer Rechtsvor- stellung an, die ein starkes Parlament vorsieht. Das ist gut Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. und das ist richtig. Ich entsinne mich an die sehr kontro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ versen Debatten in der 12. Legislaturperiode vor der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AWACS-Entscheidung. Gemessen daran war diese Ent- FDP) scheidung des Bundesverfassungsgerichts ein wirklich verfahrensbefriedendes Urteil, was wir bis heute merken. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Allerdings stellt sich doch die Frage, ob gerade in sol- chen dynamischen Prozessen, wie es Einsätze ihrer Natur Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt. nach nun einmal sind, ein relativ statisches Verfahren wie ein Zustimmungsverfahren – der Antrag räumt uns, den Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Abgeordneten des Bundestages, nicht die Möglichkeit ein zu gestalten; vielmehr können wir nur Ja oder Nein sagen; Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen wir können allenfalls über politischen Druck oder über und Kollegen! Bei so viel Konsens neigt man fast dazu, Protokollnotizen die eine oder andere Ergänzung errei- diesen Antrag noch heute Abend verabschieden zu wollen. chen – der Lösung der Probleme, denen wir gegenüber- (Widerspruch bei der SPD – Winfried Nachtwei stehen, vollkommen gerecht wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die Formal ist die Beteiligung gesichert. Diese Sicherheit Konsensfalle, die er aufgestellt hat! – Jörg van ist – das ist von den Kollegen mehrfach dargelegt wor- Essen [FDP]: Nein!) den – holprig. Das ist einer der Gründe, wieso wir sie in (B) – Kollege van Essen, diese Reaktion wollte ich einfach der Tat „einschleifen“ müssen. Es ist zu klären, ob die(D) nur hören, damit Sie nicht auf die Idee kommen – Sie wür- Bundeswehr an Vorauskontingenten oder an Vorgängen den es nicht tun –, sich jetzt schon fälschlicherweise in teilnimmt, die in einem gewissen Rahmen stattfinden, der dem Gefühl einer sicheren Mehrheit zu wiegen. Wir ha- nach dem Prinzip „minima non curat curia“ ablaufen. Es ben festgestellt, dass dieser Punkt im Koalitionsvertrag, muss nicht unbedingt sein, dass ein Parlament mit 603 Ab- den wir alle aufmerksam gelesen und archiviert haben, geordneten in einer Sondersitzung darüber bestimmt, dass nicht enthalten ist, obwohl wir das eigentlich erwartet ha- fünf oder sechs Soldaten der Bundeswehr in eine Position ben. Da der Koalitionsvertrag in so vielen Punkten zwi- gebracht werden, ob das ein Einsatz ist oder nicht. Ich schenzeitlich schon überholt ist, ergibt sich hier vielleicht möchte mit dieser Bemerkung nur auf die Dimension die Möglichkeit, eine positive Entwicklung anzustoßen. verweisen. Wir können und sollten in der Tat Verfahren finden, die uns in solchen Fällen – in der vergangenen Le- Vorneweg möchte ich Folgendes sagen: Ich bin schon gislaturperiode waren es 17; in dieser Legislaturperiode sehr dankbar dafür – das möchte ich unterstreichen –, dass werden es möglicherweise nicht weniger sein – zu einer wir tatsächlich einen Konsens haben. Der Deutsche Bun- gewissen Flexibilität verhelfen. Das heißt nicht, dass wir destag hat im Vergleich zu den anderen Parlamentenetwas von unseren Rechten abgeben. Europas, vielleicht sogar der Welt – ich sage das, obwohl ich diesbezüglich keinen vollkommenen Überblick habe – Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass die stärkste Stellung, was die Zulassung der Beteiligung die Rechtspraxis wieder an einem gewissen Punkt ange- der Streitkräfte des eigenen Landes an militärischen an- langt ist, der es nötig macht, für eine verfahrensmäßige geht. Die Tweede Kamer in den Niederlanden hat ein ge- Regelung zu sorgen. wisses Entscheidungsrecht. Wir kennen aus den USA den Die damalige Bundesregierung tendierte zu Beginn ih- so genannten War Powers Act. Er ist im Wesentlichen ein rer Regierungszeit klugerweise dazu, sehr detaillierte Rückholrecht bzw. Befristungsrecht. Er ist nicht gleich- Anträge zu stellen. Das hat uns dazu verführt, in den Aus- zusetzen mit dem Gebot der Zustimmung der Konstitu- schüssen nahezu militärstrategische Erwägungen zu dis- tive, das unser Bundesverfassungsgericht in einer – sehr kutieren. lobenswerten – Entscheidung formuliert hat. Wenn man ganz ehrlich ist, dann muss man einräumen: Das Verfas- (Jörg van Essen [FDP]: Es war meistens nur sungsgericht hat dabei im Wege der Rechtsschöpfung ge- Taktik, nicht Strategie!) arbeitet. Kollege Karl Lamers hat damals – wir saßen einmal einen Frau Kollegin, Sie haben auf das Zitat aus dem Jahre Tag vor Weihnachten zusammen – im Auswärtigen Aus- 1918 hingewiesen. Das, was da gesagt worden ist, istschuss davon gesprochen, dass es doch eigentlich unnötig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 641

Christian Schmidt (Fürth) (A) sei, wirklich jeden Feldspaten aufzuführen. Das ist nicht schon einmal die Kollegen, die uns da vertreten, darauf(C) der Weg, den wir gehen können. Wir sind nicht der Er- hingewiesen, dass wir auch über diese Frage reden müs- satzgeneralstab, sondern der Aufsichtsrat bezüglich Ent- sen. Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages sendungen der Bundesregierung. Deshalb sollte meiner müssen – vielleicht unter Einschränkung gewisser Rechte Meinung nach diese Form von Kontrolle auch eine ge- des Deutschen Bundestages – andere legislative Organe wisse Selbstbeschränkung beinhalten. Faktisch ist diemit einer Kontrollfunktion hinsichtlich der ESVP bedacht Selbstbeschränkung eigentlich über die gelobten Prinzi- werden. pien hinaus im letzten Jahr durchgehalten worden. Mor- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) gen verfahren wir auch wieder so. Es gibt sehr viel zu tun. Ich habe nur einige wenige Wir hatten uns nicht nur darauf verständigt, sondern Punkte genannt, über die wir reden sollten. Gott sei Dank auch das Urteil so interpretiert, dass ein Vorratsbeschluss sind wir schon über Zustände früherer Zeiten hinaus: Ich nicht möglich ist. Ich würde gern einmal eine Diskussion erinnere mich, wie ein Bundeskanzler vor einem Einsatz darüber führen – das können wir bei diesem Thema im – ich weiß nicht mehr, um welchen es ging – versuchte, Plenum nicht leisten, aber schon im Rahmen der Geset- den damaligen Oppositionsführer Engholm in Afrika oder zesberatungen –, ob nicht der Enduring-Freedom-Beschluss Australien aufzuspüren, um seine Zustimmung einzuho- eigentlich ein Vorratsbeschluss ist: über die halbe Welt len, was damals nicht gelungen ist. Die jetzige Opposition gültig, größtmöglicher Freiraum bei der Benennung von ist immer hier in Berlin erreichbar. Wenn sie formal ein- Stärken und eine völlig im Allgemeinen gelassene Ziel- gebunden wird, ist sie auch sehr gerne bereit, sachbezo- setzung der Aktion. Angesichts dieser Charakterisierung gen im Sinne unseres Landes und unserer Soldaten mög- sind wir eigentlich bei einer Form von Vorratsbeschluss lichst in Form von geregelten Verfahren diese Dinge im angelangt. Ich sage ganz offen, dass so etwas natürlich Konsens zu beschließen. auch nicht befriedigt, denn das ruft nach dauerhafter Kon- trolle. Da entsteht in der Tat das Bedürfnis nach ständiger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Information und der Möglichkeit ständiger Einflussnahme. Diese ist aber nur über das Setzen von Fristen und immer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wieder erneuter Positionierung in der Frage möglich. Als letztem Redner in der Debatte erteile ich nun dem In der Praxis sind die Beschlüsse inzwischen mit einer Abgeordneten Christoph Zöpel das Wort. Jahresfrist versehen. Müssen wir aber nicht darüber nachdenken, ob wir bei einem solchen Gesetz über das reine Ja oder Nein hinaus nicht auch in grundsätzlichen Dr. Christoph Zöpel (SPD): (B) Fragen ein Gestaltungsrecht verlangen sollten, zwar nicht Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- (D) in Details oder der Frage des Auftrags, aber schon in der legen! Lassen Sie mich mit einer ganz allgemeinen Ein- Frage der Befristung? Wir haben gehört, dass die Mandate sicht beginnen. Zu dem, was mich an Hinweisen während ursprünglich für sechs Monate galten, dann für ein Jahr meiner jetzt langen administrativen wie parlamentari- und dann wieder für sechs Monate. Das Parlament sollte schen Tätigkeit besonders beeindruckt hat, gehörte der doch einmal von sich aus über die Frage desRückhol- Hinweis eines nordrhein-westfälischen Beamten kurz vor rechtes diskutieren. seiner Pensionierung. Er war liberal-konservativ einge- Auf ein Problem, von dem ich hoffe, dass es Ihnen, stellt und stark von Willi Weyer geprägt. Er hat mir ein- Herr Verteidigungsminister, und uns nie ins Haus steht, mal, als wir über ein Gesetz sprachen, gesagt: Herr Minis- möchte ich noch zu sprechen kommen, nämlich dass wir ter, wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, Aufträge erteilen, aber das Budget für die Erfüllung die- dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. ser Aufträge nicht mehr ausreicht. Natürlich müssen der (Heiterkeit bei der SPD) Haushaltsausschuss und das Parlament zustimmen. Aber wir müssen doch über die Frage diskutieren, ob nicht das Diesen ersten Gedanken würde ich über diese Diskussion Budgetrecht – vom Kollegen Nachtwei zu Recht als Kö- stellen. Ist es notwendig, ein Gesetz zu machen? nigsrecht des Parlaments bezeichnet – hier einen stärke- (Jörg van Essen [FDP]: Ja, leider!) ren Einfluss haben könnte oder sollte. Das ist nicht ab- schließend gemeint; vielmehr werden wir intensiv über Ich bin mir nicht sicher. Herr Kollege, ich bin bereit, mit den Antrag der FDP diskutieren, der sehr lobenswert ist. Ihnen darüber nachzudenken, aber ich bin noch nicht Dies möchte ich aber zu bedenken geben. überzeugt. Ein letzter Gedanke: Die NATO-Response-Force, de- Der konstitutive Beschluss des Bundestages zu Einsät- ren Gründung in Prag beschlossen werden soll und die ich zen deutscher Soldaten im Ausland hat sich bewährt. Es für sehr wichtig halte – wir haben an anderer Stelle darü- ist vielleicht das Schönste in dieser Debatte, dass die Red- ber diskutiert –, wird ebenso wie eine ESVP-Truppe mit ner aller Fraktionen dies gesagt haben. Er hat sich weit da- konkretem Auftrag eine andere Qualität in das Themarüber hinaus insofern bewährt, als er im Verfahren des Bundestages funktional ist. Er hat sich als ein Beitrag zur bringen, weil hier Einsatzstrukturen multilateral ausge- Stabilisierung von Demokratie in Deutschland und zur legt und noch weniger Einflussnahmen nationaler Parla- demokratischen Integration bewährt. mente möglich sein werden. Ich weiß nicht, wie der ge- genwärtige Stand der Behandlung dieses Themas im Der schwierige Prozess öffentlich wirksamer Debatten Europäischen Konvent ist. Ich hatte aber bei Gelegenheit hier im Hause darüber, was deutsche Soldaten – vor allem 642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002

Dr. Christoph Zöpel (A) nach 1989, als wir wieder eine andere Handlungsfähigkeit vielen anderen Bereichen ist unumstritten. Diese Zusam- (C) im globalen und internationalen Zusammenhang bekom- menarbeit ist notwendigerweise zunächst einmal eine Zu- men haben – im Ausland dürfen oder nicht, war wichtig sammenarbeit der Regierungen. Diese internationale und unverzichtbar. So berechtigt es sein mag, sich heute Zusammenarbeit beschränkt sich aber nicht auf die Zu- vorzuhalten, was der eine vor einigen Jahren gesagt oder sammenarbeit von Regierungen, sondern sie wird in vie- nicht gesagt hat, es gäbe ohne diesen intensiven Diskus- len Bereichen – das ist besonders kritisch im Bereich der sionsprozess, der nur in Verbindung mit diesem konstitu- Sicherheitspolitik zu sehen – zunehmend zu einer Auf- tiven Recht möglich war, heute nicht diese kritische und gabe sich verselbstständigender internationaler Büro- erforderlichenfalls auch zustimmende Haltung der großen kratien. Mehrheit der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch- Ich will nicht von vornherein etwas gegen diejenigen land bei schwierigen Weltlagen. Institutionen sagen, die sich um die Sicherheit kümmern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber wenn es richtig ist, dass die Frage von Krieg und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frieden eine Schicksalsfrage ist, dann muss man sich fra- gen, ob hinsichtlich der Sicherheit der öffentliche Diskurs Dass diese in Westdeutschland zurzeit etwas stärker ist als und die parlamentarische Kontrolle reichen. in Ostdeutschland, ist völlig begreifbar. An solchen Stel- len wird historisches Schicksal offenkundig, nämlich dass Solange wir in Europa – natürlich auch weltweit – noch der, der sich erst später in diesen demokratischen Diskurs nicht darüber nachgedacht haben, wie eine parlamentari- einschalten konnte, mehr Zeit braucht, um aufzuholen. sche Begleitung der von internationalen Institutionen ver- antworteten Politik möglich ist, sollten wir besonders an Der erwähnte Prozess war und bleibt notwendig als ein unserem konstitutiven Recht festhalten und es geradezu Beitrag Deutschlands zur Diskussion innerhalb von und als Vehikel benutzen, zunächst in Europa und dann welt- zwischen Demokratien über dieFunktion von Mi- weit darüber zu diskutieren, wie mehr parlamentarische litäreinsätzen. Dass Deutschland besonders kritisch da- Kontrolle gegenüber sich sonst verselbstständigenden in- mit umgeht, bleibt historisch notwendig. Es gibt gar kei- ternationalen Bürokratien organisiert werden kann. Diese nen Grund, nicht Stolz darauf zu sein, dass wir Deutschen Frage stellt sich mir im Zusammenhang mit dem Punkt, die Lehre aus den verbrecherischen Möglichkeiten, Sol- den Sie angesprochen haben. daten in andere Länder zu schicken, gezogen haben und jetzt auf der internationalen Bühne besonders kritisch da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit umgehen. Insoweit ist es kein Zufall, sondern ein DIE GRÜNEN) Grund, berechtigt und dennoch wieder nachdenklich hin- Deswegen bin ich an dieser Stelle ganz besonders vor- sichtlich der eigenen Geschichte den deutschen Parla- sichtig. (B) mentsvorbehalt betreffend Soldateneinsätze international (D) zu verteidigen und auch zu erklären. Die NATO-Response-Force ist aufgrund des Parla- mentsvorbehalts ein Problem. In diesem Punkt gab es eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gute Analyse und es wurden die richtigen Fragen gestellt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Antwort lautet: Gerade bei der NATO-Response- Wenn Deutschland hinsichtlich Krieg das nachdenk- Force sollten wir an dem Parlamentsvorbehalt festhalten lichste Land unter den Demokratien ist, dann ist das not- und mit allen Alliierten darüber sprechen, wie er auch wo- wendig und gut. Für den Alltag finde ich es schön, wenn anders eingeführt werden kann. der deutsche Vertreter im NATO-Rat bei den ersten Über- Eine weitere Bemerkung. Der Umgang mit diesem legungen über die NATO-Response-Force darauf hin-Recht des Parlaments ist nicht immer einfach. Das mag weist, es gebe in Deutschland den Parlamentsvorbehalt von Regierung zu Regierung unterschiedlich sein, abhän- und an dem solle festgehalten werden. Ich halte das für ei- gig davon, von welchen Parteien sie gestützt werden. Ich nen Beitrag zur demokratischen Kultur innerhalb der in- glaube aber, dass alle Regierungen große Mühe aufwen- ternationalen Gemeinschaft. den mussten, entsprechende Beschlüsse zu erreichen. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nehme da keine Regierung aus. DIE GRÜNEN) (Jörg van Essen [FDP]: Manchmal gab es auch Verschiedene Hinweise sind gegeben worden, worüber handwerkliche Fehler!) im Einzelnen nachgedacht werden kann. Ich komme noch – Wenn man lange in diesem Bereich tätig ist, weiß man, darauf zurück. dass handwerkliche Fehler nie auszuschließen sind. An einer Stelle möchte ich Ihnen zwar nicht direkt wi- (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) dersprechen, Herr Kollege Kossendey, aber ich muss sa- Wenn man zu viele handwerkliche Fehler macht, kann gen, dass ich da nachdenklich geworden bin. Es geht um man daran scheitern. Man kann aber auch scheitern, wenn Ihren Hinweis, die Art der internationalen Zusammenarbeit man sich nicht um eine ausreichende demokratische Le- in Fragen der Sicherheitspolitik müsse uns dazu veranlas- gitimation bemüht. sen, zu überprüfen, wie ein solcher Parlamentsvorbehalt zur Geltung gebracht werden kann. Die Frage ist berechtigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will dazu sehr offen sagen: Die Notwendigkeit in- ternationaler Zusammenarbeit in der Sicherheitspoli- Lassen Sie mich deshalb mehr an die Adresse meiner tik, in der Umweltpolitik, in der Wirtschaftspolitik und in Partei und an die des Koalitionspartners sagen: Es war Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 643

Dr. Christoph Zöpel (A) anstrengend in der letzten Legislaturperiode, für be-mit diesen Einsätzen umgegangen, mit vielen positiven(C) stimmte Bundeswehreinsätze eine Zustimmung zu be-Wirkungen: Alle Einsätze, die wir für nötig hielten, haben kommen. Ich denke, Bundeskanzler Gerhard Schröder und stattgefunden. Den Soldaten ist dabei meines Erachtens die Parlamentarischen Geschäftsführer waren manchmal im Ergebnis nichts geschehen, was sie in Unsicherheit ge- nachdenklich. Aber mein Eindruck ist: Diese Debatten ha- bracht hätte. Die Legitimation in der Bevölkerung, die ben sich gelohnt, weil sie die Demokratie stabilisiert haben dadurch erzielt wurde, war erheblich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In der derzeitigen Lage haben wir den Eindruck, die Si- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cherheitssituation könnte in zwölf Monaten wieder völlig anders sein als heute. Wer kann das so genau voraussa- und die Legitimation außerhalb des Parlaments eingeholt gen? Die Abgrenzung zwischen dem Militär und der in- haben. Auf diese Leistung, die auch in Zukunft notwendig ternationalen Polizei mag Gegenstand eines neuen völ- ist, möchte ich nicht verzichten. Auch diesen Punkt sollte kerrechtlichen und dann auch in den einzelnen Staaten zu man sehen. beachtenden Gesetzesvorhabens sein. Lassen Sie uns vor Die Vorredner meiner Fraktion haben die Gesprächs- diesem Hintergrund diese Angelegenheit eher in Ruhe be- bereitschaft signalisiert. Ich schließe mich dem an. Lassen trachten, als vorschnell etwas zu tun. Dennoch, Herr Kol- Sie mich deshalb aus meiner Sicht nur noch die Richtung lege van Essen, Ihre Anregung ist richtig. nennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man über Herzlichen Dank. die Geschäftsordnung reden sollte: Wie kann man die Rechte des Parlaments respektieren, ohne die Abläufe zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verzögern? Es entspricht nämlich nicht der Lebenswirk- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lichkeit, davon auszugehen, dass ein Parlament an 365 Ta- gen jeweils 24 Stunden zur Verfügung stehen kann. Auch das sollte man berücksichtigen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe damit die Aussprache. Ich als Nichtjurist bin sehr skeptisch, ob ein kasuisti- sches Gesetz, das regelt, was in welchem Fall eines inter- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nationalen Vorfalls passieren sollte, überhaupt möglich Drucksache 15/36 an die in der Tagesordnung aufgeführ- ist. Stellen wir uns einmal vor, wir hätten dieses Gesetz ten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit offen- vor fünf Jahren verabschiedet. Ich vermute; ein Großteil sichtlich einverstanden. Dann verfahren wir auch so. Die der dann vorgenommenen Legaldefinitionen würde der Überweisung ist beschlossen. Situation nach dem 11. September nicht entsprochen ha- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- ben. Dann hätten wir jetzt eine neue Debatte. Reichen un- nung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen (B) sere Definitionen? Das ist meine Hauptskepsis. (D) Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. November Deshalb neige ich dazu, primär die Geschäftsordnung 2002, 9 Uhr, ein. heranzuziehen und sich dann doch eines zu sagen: Wir Die Sitzung ist geschlossen. sind auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, interpre- tiert durch das Bundesverfassungsgericht, ganz ordentlich (Schluss: 18.56 Uhr)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 645

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Daub, Helga FDP 14.11.2002* Hoffmann (Chemnitz), SPD 14.11.2002 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 14.11.2002 Jelena Herta Kubicki, Wolfgang FDP 14.11.2002 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 14.11.2002 Lietz, Ursula CDU/CSU 14.11.2002 Fritz, Erich G. CDU/CSU 14.11.2002 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 14.11.2002 Möllemann, Jürgen W. FDP 14.11.2002 Gradistanac, Renate SPD 14.11.2002 Nitzsche, Henry CDU/CSU 14.11.2002 Freiherr von und zu CDU/CSU 14.11.2002 Rossmanith, Kurt J. CDU/CSU 14.11.2002* Guttenberg, Karl-Theodor * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 , Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980