XII Einleitung

Der Gesamtausgabenband „Kleinere Bühnenwerke“ enthält umgearbeitet5 und in den Werkausgaben von Florian in vielen alle einem musikdramatischen Genre zuzurechnenden Werke Auflagen bis weit in das 19. Jahrhundert gedruckt.6 Welche Bartholdys mit Ausnahme der Singspiele Textvorlage dem jungen Mendelssohn konkret zur Verfügung seiner Kinder- und Jugendzeit, des Opernfragmentes Lorelei stand, ist nicht bekannt. Die Werke des Dichters, der vor allem MWV L 7 und der großen Schauspielmusiken der 1840er mit Fabeln und Romanen berühmt geworden war, wurden in Jahre, die für den König Friedrich Wilhelm IV. komponiert der frankophilen Familie Mendelssohn insbesondere zu Beginn wurden.1 Zusätzlich werden Arrangements einzelner Sätze der 1820er Jahre gern gelesen. Die Kinder erhielten Franzö- mitgeteilt. Der Terminus „Bühnenwerke“ ist etwas weiter ge- sisch-Unterricht7 und vertonte allein zwi- fasst, da nicht in jedem Falle eine szenische Umsetzung be- schen März und Juni 1820 elf Lieder nach Texten von Florian.8 legt ist beziehungsweise sich die Texte oder die Stücke dazu in Ihr Bruder Felix Mendelssohn komponierte sein erstes Sololied Grenzbereichen zwischen einer konzertanten Aufführung und ebenfalls auf einen Text dieses Dichters,9 bevor er auf Blanche et einer Bühnenaufführung bewegen. Zudem handelt es sich um Vermeille aufmerksam wurde. Ob dies anhand des Textbuches Werke, die in Besetzung, Charakter und Umfang höchst unter- oder aufgrund besagter Komposition von Rigel geschah, bleibt schiedlich sind. Die „Bühne“ für die ersten Werke bildete der offen.10 Salon der Mendelssohns, in dem regelmäßig kleinere Stücke Das kurzweilige Stück ist in dem für das 18. Jahrhundert so szenisch oder halbszenisch aufgeführt wurden: zu Weihnachts- beliebten Schäfer-Milieu angesiedelt und thematisiert die festen, Geburtstagen und zu anderen familiären Anlässen. Der Liebe der beiden Schwestern Blanche und Vermeille, die sich Knabe Felix Mendelssohn wuchs in diese Atmosphäre hinein, nach etlichen Verwirrungen mit ihren Partnern Lubin und erlebte die Festivitäten und war bald bemüht, sich mit eigenen Colin zusammenfinden und diese schlussendlich heiraten.11 Beiträgen daran zu beteiligen. Der vorliegende Band enthält Der elfjährige Mendelssohn beschränkte sich bei der musika- mehrere Fragmente aus der Kinderzeit, einen 1833 gedruckten lischen Umsetzung auf den Anfang des Stückes. Erhalten sind Beitrag für ein Festspiel des Berliner Dichters Gustav Julius, ein vollständiger Satz und der Beginn einer weiteren Szene. vier Schauspielmusiken für die Düsseldorfer Bühne (1833– Mendelssohn fasste den Text der 1. Szene und den Anfang der 1835) und eine Gelegenheitskomposition für das Leipziger 2. Szene zu einem Satz zusammen. Als 1. Szene singt Vermeille, Theater (1839). allein am Spinnrad sitzend, eine Ariette, in der sie ihre Gefühle zu Lubin ausdrückt. Im anschließenden Duett erwidert der hin- zukommende Lubin ihre Liebe. In der 3. Szene tauschen sich MWV M 1 die beiden Schwestern Blanche und Vermeille über ihren Ge- Ein Fragment mit französischem Text mütszustand aus, wobei Blanche gesteht, nicht mehr in Colin, sondern in einen Prinzen verliebt zu sein. Vom Textdichter ist Mendelssohn eröffnete diese Werkgruppe im März 1820 und in dieser Szene eine weitere Ariette, „L’autre jour, au fond du griff dafür den Text einer französischen Comédie pastorale auf. bois“, vorgesehen. Höchstwahrscheinlich war es diese Ariette, Es handelte sich um Blanche et Vermeille des bekannten und er- für die Mendelssohn die ersten Takte notierte. Konzipiert ist folgreichen Dichters Jean-Pierre Claris de Florian (1755–1794). das Musikstück für drei solistische Holzbläser (zwei Oboen, ein Dessen 1780/1781 entstandenes Werk2 hatte seine Premiere Fagott) und Streichinstrumente. Doch nach acht Takten bricht am 5. März 1781 mit der Musik von Henri-Joseph Rigel der Satz noch vor dem Einsatz der Solostimme ab, so dass keine (1741–1799) im Theater der Comédie Italienne in Paris.3 In eindeutige Aussage über die Stimmlage von Blanche und den der Folgezeit wurde Blanche et Vermeille mehrfach aufgeführt,4 angedachten Text getroffen werden kann.

1 Siehe Serie V, Bände 1–10 dieser Ausgabe, sowie Band 12 für das Fragment der Oper Lorelei MWV L 7. 2 Zur Entstehung und frühen Rezeption des Stückes siehe Michel Cointat, Florian 1755–1794, Aspects méconnus de l’auteur de Plaisir d’amour, Paris 2007 (im Folgenden: Cointat, Florian), S. 176–177. 3 Nicole Wild / David Charlton, Théâtre de l’Opéra-Comique Paris, Répertoire 1762–1972, Sprimont 2005, S. 47 und 165. 4 Allein im Jahre 1781 elfmal, siehe Cointat, Florian [Anm. 2], S. 177. 5 Aus der ursprünglich dreiaktigen entstand eine zweiaktige Fassung. 6 Florians Werke, die in immer neuen Auflagen erschienen, fanden auch außerhalb Frankreichs Verbreitung. Von besonderer Bedeutung ist die 1820 von Antoine-Augustin Renouard (1765–1853) herausgegebene sechzehnbändige Gesamtausgabe. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Florian ein größerer Lexikonartikel von Louis Lacour gewidmet, siehe: Nouvelle Biographie générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à nos jours, publiée par MM. Firmin Didot frères sous la direction de M. le Dr Hoefer, Vol. 17, Paris 1856, Sp. 952–955. 7 Mendelssohns erster erhaltener Brief vom 18. August 1817 an Karl von Stein (1800–1871) ist in französischer Sprache verfasst. 8 Renate Hellwig-Unruh, Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy. Thematisches Verzeichnis der Kompositionen, Adliswil/Lottstetten 2000, S. 82–90. 9 Pauvre Jeanette, im Übungsbuch bei Zelter MWV Z 1, Nr. 43. 10 Zumindest ist bei Rigel der Grundgestus der betreffenden Szene mit ihrem lyrischen, wiegenden Charakter eindeutig vorgeprägt. Rigel veröffentlichte sein Werk in der zweiaktigen Fassung bei Lauriers in Paris. Ein Exemplar befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (im Folgenden: D-B), Mus. Mb 32. In diesem Exemplar ist die Widmung „dédiée à Monsieur le Cavalier de Florian“ auf dem Titelblatt entfernt, hier ergänzt nach Angaben aus: David J. Buch, Magic Flutes & Enchanted Forests: The Supernatural in Eighteenth- Century Musical Theater, Chicago 2008, S. 412. 11 Eine ausführlichere Zusammenfassung des Werkinhalts findet sich in:Correspondance littéraire, philosophique et critique, adressée à un souverain d’Alle- magne, depuis 1770 jusqu’en 1782, par le Baron de Grimm et par Diderot, Paris 1812, Bd. 5, S. 274–275. XIII

MWV M 2 fortschreitenden Handlung Abraham Mendelssohn noch mit Ein Ausschnitt aus der Familiengeschichte seinem Bruder streitet, ob Spontini ein guter Komponist sei, er- scheint auf der Bühne ein fremder Künstler. Er fragt sich bei ver- Lustspiel in 3 Scenen steht als Titel in kindlicher Handschrift schiedenen Mitarbeitern der Bank bis zu den Geschäftsführern­ über einem Fragment, das im Sommer 1820 entstand. Die durch und trägt die Bitte vor, ein Konzert geben zu dürfen. Handlung spielt im Bankhaus der Mendelssohn-Familie, die Plötzlich ist der Streit vergessen und die beiden Mendelssohns tragenden Figuren sind Vater und Onkel des Komponisten, sind sich völlig einig in ihrer vehementen Ablehnung: „Schon nämlich Abraham und Joseph Mendelssohn. Da Letzterer am wieder einer von dieser Race, mach, dass Du fort kommst, da- 11. August 1820 seinen 50. Geburtstag feierte, ist es nicht aus- mit ich Dich nicht hasse, fort, fort, fort, fort.“ Der Künstler, geschlossen, dass das runde Jubiläum die Anregung für diesen dem Felix Mendelssohn das Stimmfach des drama­tischen So- Kompositionsversuch gab.12 Beide Brüder leiteten seit 1804 ein prans übertrug, antwortet mit einer kurzen, aber fulminanten Bankinstitut, das ihren Namen trug: „J. & A. Mendelssohn“.13 Rache-Arie, die sowohl an Mozarts „Königin der Nacht“ als Der elfjährige Knabe begann das Stück folgerichtig, indem er auch an die großen Arien Spontinischer Opern denken lässt. diese Namenskürzel vertonte: „Ich, J. Mendelsohn“ (Tenor), Der elfjährige Mendelssohn muss eine genaue Vorstellung ge- „Ich, A. Mendelssohn“ (Bass), und gleichzeitig mit verschie- habt haben, wie eine solche Arie zu klingen habe, und traf den denen Schreibweisen des Namens spielerisch umging.14 Wäh- Gestus einer Bravourarie genau, ohne bereits über die hand- rend sich die Brüder bei dienstlichen Belangen völlig einig sind, werkliche Fähigkeit zu verfügen, die vielen Koloraturen me­ kommt es bald zu einem Streit über den guten musikalischen trisch exakt in einer Partitur darzustellen. – Die folgende Szene Geschmack. Ausgangspunkt für den Vorwurf, Joseph Mendels- spielt im Inneren des Bankkontors. Die Bankangestellten,­ die sohn sei unmusikalisch,15 bildete das divergierende Verhältnis einen kleinen Chor bilden, werden durch das rücksichtslose beider zum Komponisten Gaspare Spontini (1774–1851), der Verhalten des Herrn Jordan gestört, der laut vor sich hinträllert 1820 als königlich-preußischer Generalmusikdirektor nach und dann auch noch rauchen möchte: „Ich tu, was ich mag, das Berlin wechselte und dort sogleich mit seinen Opern für Auf- wehret mir keiner“. Ob die Situation durch den hinzutreten- sehen sorgte. Die in Mendelssohns Fragment genannte Olimpie den Mitarbeiter Emden gelöst wird, kann nicht eruiert werden, hatte ihre Premiere am 20. Dezember 1819 in Paris, wo die denn die Szene bricht nach 53 Takten mitten in einer Akkolade Mendelssohn-Brüder das Werk gehört haben müssen, denn erst mit dessen Worten ab: „Stille, stille, hier ist noch Tee, wer will 1821 gelangte es auf den Spielplan der Königlichen Oper. Die ihn haben“. Über die Fortsetzung und die geplante dritte Szene französische Vorlage16 hatte E. T. A. Hoffmann übersetzt.17 Seit fehlen ebenso Hinweise wie über die Autorschaft des humor- der ersten Aufführung am 14. Mai 1821 spaltete die Oper das vollen Textes. Wer immer ihn entworfen hat, muss der Familie Publikum. Am Tag darauf notierte Rahel Varnhagen: „Großer Mendelssohn sehr nahe gestanden haben. Beifall des Königs und des Hofes in der gestrigen Oper, Spon- tini hervorgerufen und bekränzt. Der König hat Spontini’n danksagend und belobend, ihn eine Viertelstunde bei der Hand MWV M 3 gehalten. Das Publikum ist nur zum Theil in dieser Richtung, Musik zu L’homme automate der überwiegende Theil ist widerspenstig gegen den Geschmack des Königs, findet die Oper bloßen Lärm, Spontini’n ohne Während das Lustspiel in 3 Scenen vom Komponisten abgebro- Verdienst, und beseufzt dessen Wirksamkeit, Ansehen und Be- chen wurde, handelt es sich bei der Musik MWV M 3 um ein soldung.“18 Neun Tage später hieß es: „Es wird versichert, der Opus, das erst durch die Überlieferung fragmentiert wurde und König habe durch Kabinetsbefehl verboten, in die hiesigen dessen Werkzuordnung zum Bühnenstück L’homme automate Zeitungen tadelnde Rezensionen von Spontini’s Olympia auf- als hypothetisch gelten muss. Am 10. Mai 1820 war im Pari- zunehmen. Das Publikum ist noch immer sehr getheilt über ser Théâtre des Variétés die PosseL’homme automate von An- dieses Werk.“19 Diese Spaltung der Gemüter wurde, wie das toine François Varner und Jacques Gilbert Ymbert zur ersten Fragment MWV M 2 interessanterweise zeigt, bereits 1820 in Aufführung gebracht worden.20 Lea Mendelssohn übersetzte der Familie Mendelssohn vorweggenommen. Während in der dieses Stück ins Deutsche und ließ es am 3. Februar 1821 in

12 Als Erster hat Larry Todd diese Hypothese aufgestellt, siehe: R. Larry Todd, Mendelssohn. A Life in Music, Oxford etc. 2003, S. 64. 13 Die Bank war 1795 von Joseph Mendelssohn gegründet worden und agierte mit wechselnden Beteiligungen unter verschiedenen Adressen. Seit 1815 residierte das Unternehmen in der Berliner Jägerstraße 51. In diesem Gebäude dürfte die Handlung von MWV M 2 spielen. Abraham Mendelssohn schied 1821 als Teilhaber aus der Bank aus. Zur Frühgeschichte der Bank, zu ihren verschiedenen Namensformen und zu ihrer weiteren Entwicklung siehe Wilhelm Treue, Das Bankhaus Mendelssohn als Beispiel einer Privatbank im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mendelssohn-Studien 1 (1972), S. 29–80. 14 Textpassage beider: „[…] wir, J. et A. Mendel, Mendelsohn, zahlen, empfangen, zahlen, empfangen nur bares Geld und Tresorscheine […]“. 15 Textpassage Abraham Mendelssohns: „Doch von Musik verstehst Du nichts“. 16 Der Text der Tragédie lyrique stammt von Joseph-Marie-Armand-Michel Dieulafoy (1762–1823) und Charles Brifaut (1781–1857) nach der gleich­ namigen Tragödie von Voltaire (1763). 17 Das Textbuch wurde sogleich gedruckt: Olimpia. Eine ernste Oper in 3 Aufzügen, von dem ersten Kapellmeister und General=Musik=Direktor Herrn Ritter Spontini, Berlin 1821. 18 Schriftstück vom 15. Mai 1821, zitiert nach: Rahel Levin Varnhagen, Briefwechsel mit Ludwig Robert, hrsg. von Consolina Vigliero, München 2001, S. 776. 19 Schriftstück vom 24. Mai 1821, zitiert nach: ebd., S. 776. 20 Textbuch L’homme automate, folie-parade mêlée de couplets; par MM. *** [Jacques Gilbert Ymbert und Antoine François Varner]. Représentée pour la pre- mière fois, sur le Théâtre des Variétés, le 10 mai 1820, Paris 1820, Exemplare in The British Library, London, 11738.o.24.(6.), und in Paris, Bibliothèque nationale de France, Bibliothèque de l’Arsenal, GD-11620 und THN.6349. XIV ihrem Hause21 aufführen. Ihr Sohn, der an diesem Tag sei- delssohn: „Wir besitzen jetzt einen Wunderdoktor, nicht im nen 12. Geburtstag feierte, hatte zu diesem Anlass sein erstes gewöhnlichen Sinne, (denn er will erst eben anfangen zu kuri- Singspiel Soldatenliebschaft MWV L 1 beigesteuert 22 und eine ren) er thut aber in allen Fächern gesellschaftlicher Ausbildung kleine Ouvertüre zur erwähnten Posse geschrieben. Die stolze Wunder, spielt, singt, dichtet, ahmt allen Schauspielern nach, Mutter berichtete darüber ihrer Cousine nach Wien: „In dem ist selbst ein vortrefflicher Schauspieler, u. über das alles ein gut- geräumigen Saale, deßen Du Dich noch von der Maskerade bei müthiges, muntres Seelchen, das andrer Talente uneigennützig T. Ephraim23 her erinnern wirst, war ein allerliebstes vollständi- bewundert ud. geltend macht.“27 1820 war Casper zusammen ges Theater gebaut: den mittlern Raum nahm das Orchester, aus mit Abraham Mendelssohn in Paris und übersetzte dort mit der den besten Mitgliedern der königl. Kapelle erlesen, Felix: am Soldatenliebschaft ein erstes Libretto für den Sohn des Bankiers. Klaviere in der Mitte sitzend, ein; der hintere Platz war erhöht Bis 1823 sollte er nicht weniger als vier Singspieltexte für den ud. dicht mit Zuschauern besetzt. Vorher gab man eine Poße jungen Mendelssohn schreiben, wobei es sich meist um Adap- aus dem Französischen, die ich übersetzt ud. so viel möglich tionen französischer Vaudevilles handelte.28 Doch neben den lokalisirt hatte. Sie heißt ‚l’homme automate‘ ud. ist wahrhaft vollständigen Libretti für die Singspiele hat Casper auch Texte ergötzlich. Fränkel24 spielte einen Gastwirth ud. Dr. Casper entworfen, deren musikalische Umsetzungen in den Zusam- das Automat ganz vortrefflich. Felix hatte dazu eine ouverture menhang dieses Gesamtausgabenbandes gehören. Dazu zählt gemacht, worin nach franz. Art, bekannte Volkslieder verwebt die Musik zu einer Freischütz-Parodie MWV M 4. waren.“25 In einem über mehrere Tage geschriebenen, insgesamt zwölf- Der Hinweis auf die Verwendung von Volksliedern hat dazu seitigen Brief kam Doris Zelter (1792–1852), die Tochter geführt, ein in Oxford überliefertes unbezeichnetes Partitur- Carl Friedrich Zelters, auf die Feier zum 46. Geburtstag von fragment diesem Stück zuzuordnen.26 Es handelt sich um die Abraham Mendelssohn Bartholdy am 12. Dezember 1822 zu letzte Seite eines Orchesterstückes, das in der Flöte die Melodie sprechen: „Auf den Abend waren wir sämmtlich in grellen klei- „O du lieber Augustin“ zitiert und hinsichtlich Papiersorte und dern bei Mendelssohns dessen Geburtstag mit Vaters auf einen Schriftduktus in jener Zeit geschrieben sein dürfte. Als verloren Tag fällt, einige Späße wurden vorgenomen[.] Den Beschluß gelten muss wenigstens ein Doppelblatt, denn die erhaltenen machte ‚Der Freischüz‘29 in seiner Art ganz verändert aber beiden Akkoladen der Partitur tragen die Ziffern10 und 11, höchst lächerlich nur von der Hausgenossenschaft aufgeführt[.] was auf neun vorangehende Akkoladen schließen lässt. Die Musik dazu war von Felix[.] Die Gesellschaft war ungefähr 60 Personen stark […].“30 Carl Maria von Webers romantische Oper Der Freischütz war am 18. Juni 1821 in Berlin uraufge- MWV M 4 und M 5 führt worden und erreichte in den folgenden Monaten eine Zwei Parodien nach Texten von J. L. Casper beispiellose Popularität. Eine satirische Auseinandersetzung mit dem allseits bekannten Stoff lag also nahe, und für die literari- Mit dem Einakter Soldatenliebschaft war Johann Ludwig Casper sche Umsetzung eines solchen Spaßes schien J. L. Casper genau (1796–1864) als ein neuer Textdichter in das Leben Mendels- der Richtige zu sein. Von seiner Hand ist zumindest ein Libretto sohns getreten. Casper studierte zu dieser Zeit Medizin und überliefert, das zwar keinen Titel trägt, aber in nicht weniger wurde später als Rechtsmediziner berühmt, daneben aber als fünf Akten die Geschichte des Freischützen umdichtet.31 wirkte er schriftstellerisch. Schon 1818 hatte er unter dem Pseu- Der Erstdruck dieses Textbuches erfolgte 2009 durch Frank donym Till Ballistarius das romantische Trauerspiel Die Karfun- Ziegler,32 der den Inhalt mit den Worten zusammenfasste: „Die kel-Weihe veröffentlicht. Im Februar 1819 schwärmte Lea Men- Handlung ist folgende: Max Tell ist bereits mit Agathe ver-

21 Die Mendelssohns lebten damals in der Spandauer Vorstadt von Berlin im Haus der Mutter von Lea Mendelssohn, Bella Salomon, geb. Itzig (1749–1824), in der Commandantenstraße (Neue Promenade) Nr. 7. Siehe dazu Manfred Kliem, Die Berliner Mendelssohn-Adresse Neue Promenade 7. Zeitliche Zuord- nung und soziales Umfeld als Forschungsanliegen, in: Mendelssohn-Studien 7 (1990), S. 123–140. 22 Zu einer Voraufführung mit Klavierbegleitung war es schon am 11. Dezember 1820 zum 44. Geburtstag seines Vaters gekommen; nun erklang das Singspiel erstmals mit Orchester. Siehe dazu die Einleitung zu Felix Mendelssohn Bartholdy, Soldatenliebschaft. Komisches Singspiel in einem Akt, hrsg. von Salome Reiser, Wiesbaden/Leipzig/Paris 2006, Serie V, Band 2 dieser Ausgabe (im Folgenden: Einleitung Soldatenliebschaft). 23 Gemeint ist Lea Mendelssohns Tante Rebecka Ephraim, geb. Itzig (1763–1847). 24 Joseph Maximilian Fränkel (1787–1857) war zwischen 1806 und 1827 Teilhaber des Mendelssohnschen Bankhauses. 25 Brief vom 26. und 27. Februar 1821 (Zitat im Briefteil vom 27. Februar) von Lea Mendelssohn an Henriette von Pereira-Arnstein (1780–1859), D-B, MA Nachl. 15, 11, zitiert nach: Einleitung Soldatenliebschaft [Anm. 22], S. XIV. 26 Bemerkung von Rudolf Elvers: „Von dieser Ouvertüre kann bislang nur ein Partitur-Blatt nachgewiesen werden, in dem die Melodie von ‚O du lieber Augustin‘ vorkommt […].“, in: Mendelssohn-Studien 13 (2003), S. 75, dort Anm. 2. 27 Brief vom 18. Februar 1819 von Lea Mendelssohn an Henriette von Pereira-Arnstein, D-B, MA Nachl. 15, 9, zitiert nach: Einleitung Soldatenliebschaft [Anm. 22], S. XII, dort Fußnote 4. 28 Die beiden Pädagogen MWV L 2 nach Eugène Scribe; Die wandernden Komödianten MWV L 3 nach Louis-Benoît Picard; dazu Soldatenliebschaft MWV L 1 und Der Onkel aus Boston / Die beiden Neffen MWV L 4 nach jeweils unbekannter französischer Vorlage. 29 Der Werktitel wurde in der Quelle in runde Klammern statt in Anführungszeichen gesetzt. 30 Brief vom 11., 13., 15. und 16. Dezember 1822 von Doris Zelter an „Meine Herzens Karoline“, Washington, D.C., The Library of Congress, Music Division, Gertrude Clarke Whittall Foundation Collection, Mendelssohn Papers, ML 30.8j, Box 9, Folder 23, Briefzitat auf S. 4 unter dem Datum des 13. Dezember, die Feier muss demzufolge am 12. Dezember stattgefunden haben. Als Briefadressatin darf Karoline Schulze (1794–1881), Tochter des Potsdamer Architekten Johann Gottlob Schulze (1755–1834), angenommen werden. 31 D-B, MA Ms. 61. 32 Frank Ziegler, Felix Mendelssohn Bartholdy und , in: Mendelssohn-Studien 16 (2009) (im Folgenden: Mendelssohn und Weber), S. 51–100, Edition des Textbuches S. 72–100. XV heiratet. Seine Angst, beim Schießen zu versagen, rührt nicht Ähnlich wie die Freischütz-Parodie muss die Musik zu einer von einem bevorstehenden Probeschuss her, vielmehr kann Mozart-Parodie MWV M 5 umgesetzt worden sein, von der der Jäger seine Familie nicht mehr ernähren, die (so auch Tells nur das Fragment einer Singstimme überliefert ist. Auch hier Selbstanklage bei Schiller) seinetwegen darben muss. Caspar hat sich ein Textbuch von Casper erhalten.37 Die darin vor- überredet Max dazu, gemeinsam in der Wolfsschlucht Duka- kommenden Personen lassen recht deutlich die literarisch-mu- ten (keine Freikugeln) zu gießen, doch dann erscheint Samiel sikalischen Vorlagen erkennen. Handelnde Personen sind: (= Komtur) und lädt die Delinquenten zu einem Gastmahl. Colifichette, ihr Freund, der Friseur Zigaro, Gräfin Elvire, Caspar schlüpft nun in die Rolle des Don Giovanni und kon- Graf Rosenthal, schließlich ein italienischer Komponist Felix tert mit einer Gegeneinladung. Zu diesen drei Hauptebenen­ mit dem vollständigen Namen Felice Enrioso di Notofressini, (‚Freischütz‘ – ‚Wilhelm Tell‘ – ‚Don Giovanni‘) kommt eine cavaliere del Hosenband. Mit leicht variiertem Titel kommt vierte: Die Mendelssohn-Kinder, die als Darsteller der Parodie dieser Felice auch in einem undatierten Mendelssohn-Brief vom agieren, treten mehrfach aus ihren Rollen heraus, schaffen also Dezember 1822 vor, der einen Tag vor der 49. Aufführung des ein familieninternes Bezugsfeld: Fanny, die neben ihrer Mit- Freischütz, hier abschätzig als „Samielsäfferey“ bezeichnet, ge- wirkung bei der Musik (wohl am Klavier) das Annchen spielt, schrieben und mit „Felice di Notofressine, Cavaliere del Hosen- wird von Agathe als Annchen-Fannchen tituliert, Rebecka, die bandino“ unterzeichnet wurde.38 Das Stück wimmelt von An- im III. Akt den Sohn Tells darstellt, figuriert im I. Akt – eine spielungen auf Mozarts Le nozze di Figaro,39 Don Giovanni oder hübsche Wortspielerei – als Rehböckchen, und Paul, der als Die Zauberflöte, aber auch auf Rossinis Barbier von Sevilla und Jüngster den Samiel/Komtur gibt, wird nicht nur mehrfach mit auf eigene Werke. So wird erneut ein Vers der Soldatenliebschaft seinem Namen angesprochen (Akte I und V), sondern muss dem Inhalt entsprechend parodiert40. Im Textbuch vorgesehen – so die Anweisung des Textes – im V. Akt wiederholt ‚mit na- ist auch „Ach du lieber Augustin, Augustin, Augustin, wo sind türlicher Stimme‘ (also aus dem Ton der Rolle fallend) dekla- meine Pläne hin?“, was möglicherweise Bezug auf MWV M 3 mieren. Mehrfach werden zudem Namen von Freunden und nimmt.41 Die erhaltene Musik stammt aus dem Finale des Bekannten der Familie Mendelssohn aufgegriffen bzw. es wird Stückes. Überliefert ist die letzte Seite einer Einzelstimme der auf familiäre Begebenheiten angespielt.“33 Schon diese Inhalts­ Colifichette, in der auch die Tuttipassagen jenes Couplets no- zusammenfassung macht deutlich: Das Libretto bot Raum für tiert wurden, das der „Notenfresser“ Felice in Caspers Libretto zahlreiche Bezüge und Scherze und entsprach damit genau für den Silvesterabend geschrieben hatte und in denen die den in den Mendelssohnschen Familienkreisen so geschätzten Wünsche für das neue Jahr ausgedrückt werden.42 geist- und humorvollen Anspielungen auf andere Werke, Per- sonen oder Ereignisse. Ziegler interpretierte die erste Rollen­ bezeichnung „Max – Tell“ als Werktitel und bezog sich dabei auf MWV M 6 eine spätere Erwähnung des Stückes durch Lea Mendelssohn Musik zu Was wir bringen: Ein Originalbeitrag zu einem Bartholdy.34 In dem Textbuch sind an einigen Stellen Verweis- Festspiel zeichen angebracht, an denen Musikstücke eingebaut werden sollten. Die von Doris Zelter erwähnte Musik „von Felix“ muss Das rätselhafteste Stück der ganzen Werkgruppe ist die Mu- demzufolge zu großen Teilen aus der Adaption Weberscher und sik zum Festspiel Was wir bringen MWV M 6. Nichts ist über Mozartscher Musik bestanden haben. Teilweise wurden Details die Hintergründe dieser Musik bekannt, die im Jahre 1833 in der Soldatenliebschaft35 und von L’homme automate in Erinne- Berlin unter Mendelssohns Namen veröffentlicht wurde. Zwei rung gerufen36. Darüber hinaus dürften aber zumindest kleine Sätze, ein Sololied und ein Männerchor, der hinter der Szene zu Teile von Mendelssohn komponiert worden sein, von denen singen ist, erschienen als Musikbeilage zu einem Opus mit dem allerdings derzeit nichts bekannt ist. merkwürdigen Titel: Talassio oder allerlei Töpfe und Scherben für

33 Ebd., S. 64. 34 „Das Manuskript beginnt ohne Titelangabe, die erste Personenbezeichnung ist quasi auch als Titel zu lesen, denn Lea Mendelssohn Bartholdy spricht in der Nachschrift zum Brief ihres Mannes an Wilhelm Hensel vom 28. Januar 1825 von Caspers Fortsetzung des ‚Max Tell‘ […].“, ebd., S. 73, dort Anm. 1. 35 „Alles ruht in süßen Träumen“ mit Bezug auf 9 Terzetto „Alles schwelgt in süßen Träumen“, außerdem „Und wenn gar erst Agathe wieder erwacht – die Weiber sind ’ne böse Klippe“ mit Bezug auf 8 Duetto „Die Weiber sind ’ne böse Klippe“ der Soldatenliebschaft MWV L 1. 36 Max Tell: „Kick! (es blitzt! Der Automat.)“, zitiert nach: Mendelssohn und Weber [Anm. 32], S. 89. 37 Textbuch in D-B, MA Ms. 60. 38 Undatierter Brief an Johann Ludwig Casper am Vorabend der 49. Aufführung desFreischütz , die am 13. Dezember 1822 stattfand, Bodleian Library, University of Oxford (im Folgenden: GB-Ob), MS. M. Deneke Mendelssohn c. 32, fol. 1, erstmals gedruckt in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 1, hrsg. und kommentiert von Juliette Appold und Regina Back, Kassel etc. 2008, S. 99. Eine zeitliche Nähe zur Mozart-Parodie MWV M 5 liegt nahe. 39 Die trällernde Soubrette Colifichette singt gleich am Anfang: „Heut will die Gräfin ein Tänzchen wagen“. 40 „Die Männer sind ’ne böse Klippe | Die uns schon scheitern oft gemacht“, was sich wiederum auf 8 Duetto der Soldatenliebschaft MWV L 1 bezog, wo es heißt: „Die Weiber sind ’ne böse Klippe, die manchen scheitern schon gemacht“, sowie auf die Freischütz-Parodie MWV M 4, siehe auch Anm. 35. Zum Kontext siehe Einleitung Soldatenliebschaft [Anm. 22], S. XVI. 41 Das diesem Werk zugeordnete Partiturfragment (siehe oben) kann aus graphologischer Sicht nicht erst 1822 entstanden sein, siehe Roland Dieter Schmidt-Hensel, Mendelssohns Handschrift: Bausteine zu einer Schriftchronologie der 1820er Jahre, in: Die Tonkunst 3 (2009), Nr. 2 (April), S. 201–210. 42 Dieser Textausschnitt hat in der Vergangenheit dazu geführt, das Stück als Teil einer Neujahrsmusik zu betrachten, siehe J. A. Stargardt, Katalog 502 Autographen (20. März 1952), Nr. 239 „Neujahrskanon, überschrieben ‚Colifichette‘. Beginnt: ‚Wird sich die Politik zum Frieden neigen, so blicke ich getrost ins neue Jahr‘.“ XVI lustige Polterleute.43 Es handelt sich dabei um einen Sammel- ist wirklich bei Shakespeare in die Schule gegangen […].“51 band mit schwankartigen, bisweilen derb humoristischen Tex- Das erwähnte Vorspiel wird bezeichnet als: Was wir bringen. ten rund um die Themen Polterabend, Hochzeit und Ehe.44 Das Ein romantisches Vorspiel mit Gesang. Allegorische Figuren wie Büchlein steht unter dem zum Nachdenken anregenden Motto: der Frohsinn, die Musik, die Gelegenheit oder der Witz tre- „Ihr wisset aber, daß auch der Scherz seinen Ernst haben will.“45 ten zu Wortgefechten mit- und gegeneinander an. An einigen Als Dichter des Talassio wird Wilhelm Emil angegeben, doch Stellen sind musikalische Beiträge vorgesehen, die im Anhang handelt es sich dabei offensichtlich um einen verschlüsselten des Buches als Musikstücke52 abgedruckt sind. Dort werden sie Namen. Ein zeitgenössisches­ Lexikon über die in den 1830er mit Angabe der Seitenzahl des Textbuches und dem Hinweis Jahren unter Pseudonym arbeitenden Literaten46 identifizierte „(zu dem Festspiel ‚Was wir bringen‘)“ versehen. In der Publi- zwar unter „Wahre Namen der enthüllten Pseudonymen“ den kation Talassio sind Musikstücke von insgesamt sechs Autoren Dichter als Emil Wilhelm Julius,47 nannte jedoch als einziges aus dem Berliner Umfeld abgedruckt, von denen 1833 bereits Opus eben dessen Talassio und konnte keine biographischen drei nicht mehr lebten.53 Für das Vorspiel sind neben einem Daten beitragen.48 1827 waren bereits Emil’s dramatische Ver- Beitrag von Zelter zwei Kompositionen von „F. Mendelssohn suche erschienen.49 Demselben Dichter ist wohl auch noch ein Bartholdy“ angegeben. Erstmals machte Leopold Hirschberg Lustspiel zuzuordnen, das 1859 publiziert wurde.50 Über das 1925 auf diese beiden unter Mendelssohns Namen gedruckten Hauptwerk Talassio urteilte eine zeitgenössische Rezension: „In Stücke aufmerksam.54 Den endgültigen Beweis für die Autor- der That ein merkwürdiges Talent für geistreiche Polterabend- schaft Mendelssohns konnte Peter Ward Jones allerdings erst gedichte, das sich in dieser Sammlung kundgibt und um so ei­ im Frühjahr 2015 erbringen, als es ihm gelang, den Berliner gen­thümlicher, als es ausschließlich diese Richtung festzuhalten Theologiestudenten und späteren Publizisten Gustav Julius scheint; wenigstens erinnern wir uns nicht, dem Verf. auf an- (1810–1851) als Verfasser des Talassio zu ermitteln. Julius dern Gebieten begegnet zu sein. Auf diesem aber bewegt er sich hatte Mitte Oktober 1833 an Mendelssohn geschrieben: „Nun in den mannichfaltigsten Formen, bald dramatisch, bald lyrisch, werden Sie sich erinnern, daß Sie so freundlich waren, mir zu bald altdeutsch=naiv, bald modern=sentimental, hier humoris- einem dieser Festspiele ein Paar Compositionen zu machen. tisch, launig, witzig, dort tief, gefühlvoll, zart, stets geistreich, Auch diese habe ich abdrucken lassen, ohne vorher Ihre Erlaub- frei, originell, anmuthig. Er zeigt sich, wiewol im Gelegenheits- niß einzuholen. Also – Verzeihung! Die Zeit drängte, Reimer gedicht festgebannt, als ein wahrer Dichter, er gibt uns einzelnes wollte das Buch zur Michaelismesse fertig haben und Sie waren vorzüglich Schönes und erscheint nebenher als ein großer Vers= in England. […] Ich tröstete mich nur damit, daß ich einiges und Reimkünstler. Die ‚Narrenrede‘, im Hans=Sachs’schen Styl, Recht hätte mit den Liedern zu schalten u[nd] zu walten, da Sie und das romantische Vorspiel: ‚Was wir bringen‘, sind in dieser mir dieselben geschenkt.“55 Die Verbindungen zwischen dem Gattung unbedenklich nicht blos Musterstücke, sondern für- Pseudonym Wilhelm Emil, dem im 19. Jahrhundert ermittel- wahr an wahrem poetischen Gehalt so reich, wie ganze Bände ten Namen Wilhelm Emil Julius und dem Autor Gustav Julius dramatischer Dichtungen, die wir kennen, es nicht sind. Wir können in unserem Zusammenhang nicht abschließend geklärt wünschten, wir hätten Raum, dies Ur­theil mit beweisenden werden. Auch sind damit nähere Informationen zum Entste- Proben zu belegen, so geistreich tummeln sich in diesem Vor- hungshintergrund und zum Kompositionsdatum weiter unbe- spiel Gelegenheit, Witz, Frohsinn, Musik, die Blütenkönigin kannt, doch steht die Authentizität als Werk Felix Mendelssohn und die Dämonen der Zwietracht umher. Der Witz besonders Bartholdys nun außer Frage.

43 Erschienen im Verlag von Georg Andreas Reimer (1776–1842) in Berlin 1833 (im Folgenden: Talassio). Ein Exemplar befindet sich in D-B,Ys 6188. 44 So gibt es unter anderem eine Kurzweilige Narren=Rede von gemein weltlichem Lauf, ehelichem Leben und unterschiedlichem Poltern; ein allegorisches Fest- spiel Ehstandsglück; sodann Gassenkünstler, eine Szene mit Gesang und obligater Drehorgel samt Tambourin; einen Feenschwank Elfenhuld mit Gesang und Tanz; dann Der Wunderdoktor, Szene mit einer Arie von Rossini, sowie Amors Pfeile, einen Schwank mit Tanz. 45 Talassio [Anm. 43], Motto auf Titelseite, der Verfasser widmete das Werk „Seinem theuren Vater in kindlicher dankbarer Liebe am 26sten October 1833“. 46 Andreas Gottfried Schmidt, Gallerie deutscher pseudonymer Schriftsteller vorzüglich des letzten Jahrzehents. Ein Beitrag zur neuesten Literaturgeschichte, Grimma 1840. 47 Ebd., S. 246. Die Zuordnung wird bestätigt durch Emil Weller, Die maskirte Literatur der älteren und neueren Sprachen, I. Index Pseudonymorum, Leipzig 1856, S. 47: „Emil, Wilhelm – Emil Wilhelm Julius“. 48 Der vollständige Eintrag lautet: „Emil, Wilhelm. | Emil Wilhelm Julius. §§. Talassio, oder allerlei Töpfe u. Scherze [sic] für lustige Polterleute. (Theatralisches u. Gedichte.) Berl., Reimer 1833. 8 2/3 B. m. Musikbeil. u. Titelk. gr. 12.“, ebd., S. 53. 49 Anzeige in: Unterhaltungsblätter für Welt- und Menschenkunde. Wöchentliche Übersicht des Bemerkenswerthesten auf dem Erdball 44 (1827), No. 52 (26. Dezember), S. 842. 50 Verrechnet. Lustspiel in 1 Akt, nach dem Französischen von Emil, Berlin 1859. Es erschien als Nr. 203 im Rahmen von L. W. Both’s Bühnen-Repertoir des Auslandes, das unter dem Pseudonym Both von Louis Schneider (1805–1878) herausgegeben wurde. 51 Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 187 (6. Juli 1834), S. 774. 52 Im Inhaltsverzeichnis gibt Emil dazu folgenden Kommentar: „Zu allen Liedern welche in den Festspielen vorkommen, findet sich die Musik in der Beilage. Das Accompagnement wird leicht können für Blaseinstrumente arrangirt werden.“, Talassio [Anm. 43], S. VIII. 53 Gestorben waren Carl Friedrich Zelter (1758–1832), Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) und Carl Maria von Weber (1786–1826). Neben Men- delssohn lebten noch Eduard Grell (1800–1886) und C. Böhmer, bei dem es sich wohl um Carl Herrmann Ehrfried Böhmer (1799–1884) handeln dürfte, der zeitweilig ein Engagement am Königlichen Theater in Berlin innehatte und später nach London ging, wo er sich Charles Böhmer nannte. 54 Leopold Hirschberg, Zwei unbekannte Werke Mendelssohns?, in: Jede Woche Musik. Illustrierte Wochenschrift des Berliner Tageblatts, Nr. 28 (11. Juli 1925). 55 Brief vom 14. Oktober 1833 von Gustav Julius an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 28, Green Books II-123. Da Mendelssohn auf das Schriftstück nicht reagierte, kam das Werk in einem weiteren Brief noch einmal kurz zur Sprache, wobei auch deutlich wurde, dass Textautor und Komponist durch Zelter und die Berliner Singakademie miteinander bekannt waren, siehe Brief vom 30. November 1833 von Gustav Julius an Mendelssohn, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 28, Green Books II-156. Peter Ward Jones (Oxford) sei herzlich für den entscheiden- XVII

MWV M 7 bis M 10 ud ich würde Ihnen Recht geben müssen. So müßte es aber Werke für Karl Immermann und das Düsseldorfer Theater kommen, wenn ich eine Musik schreiben wollte, die mich selbst nicht befriedigte ud an die ich nicht mit Muth gehen könnte. Insgesamt vier szenengebundene Werke schrieb Felix Mendels- Nur aus diesem Beweggrunde erlaube ich mir Ihnen anzuge- sohn Bartholdy für die Düsseldorfer Bühne. Auftraggeber für ben, weshalb ich damit nicht einverstanden sein kann, wohl diese Kompositionen war der um 13 Jahre ältere Karl Immer- wissend, daß es sonst die größte Arroganz wäre. Nur das, was mann.56 Persönlich kennengelernt hatten sich die beiden Ende mich bei der Composition stört, kann ich aussprechen, selbst November 1831 bei einem Besuch Mendelssohns in Düssel- in musikalischer Hinsicht müssen Sie es nur als meine persön- dorf, wobei der Komponist auf ein Opernlibretto spekulierte: liche Empfindung ansehen.“59 In einem weiteren Brief führte „Die Hauptsache aber ist, daß Immermann meinen Text macht; Mendelssohn aus, was für ihn Voraussetzung guten Komponie- er war die Liebenswürdigkeit selbst, zugänglich und mitthei- rens sei: „Daß ich aber nicht angefangen habe, die Stellen zu lend, und ich hoffe ein nobles Gedicht zu bekomen. Den der componiren, die mir so schön und musikalisch erschienen, das Mann ist ein Dichter und weiß was die Poesie ist. Unsre Be- liegt in meiner ganzen Art ein Gedicht in Musik zu setzen. Ich kanntschaft war angenehm gemacht: Mittags spielte ich ihm in kann das nicht stückweise machen, meine Lieblingsstelle zuerst der Stadt vor und sang Lieder, Abends trabte ich im entsetz- und dann nach und nach so weiter nach außen hin, sondern lichsten Wetter zu ihm hinaus aufs Land und er las mir seine ich muß mit dem ganzen Gedicht ganz einverstanden und ganz Gedichte und die angefangenen Sachen vor. Der Gegenstand, davon erfüllt sein und mich so hinein denken, daß ich es noch den er zu meiner Oper nimt, ist der Sturm von Shakespeare.“57 einmal empfinden ud hervorbringen kann, sonst würde ich im Als Talentprobe und freundliche Geste vertonte Mendelssohn Gegentheil auf die Stellen, die mich nicht ergriffen hatten, spä- bei jenem ersten Besuch mit dem Todeslied der Bojaren ein ter gar nicht zurückkommen können.“60 Stück aus Immermanns Trilogie Alexis, die unmittelbar vor der Immermann erwies sich als nicht nachtragend und entwarf so- Drucklegung stand. Die Instrumentation dieses Liedes bildete gar später noch ein weiteres Libretto mit dem Titel Das Auge dreieinhalb Jahre später als Musik zu Alexis MWV M 10 den der Liebe, das jedoch Fragment blieb.61 Mendelssohn fühlte sich letzten Beitrag für die Düsseldorfer Bühne. In gewisser Weise Immermann wiederum verpflichtet und erfüllte im März 1833 stellt diese Komposition den Rahmen einer durch Höhen und dessen Wunsch nach einer Vertonung. So entstand die Musik Tiefen gekennzeichneten Beziehung zwischen zwei individua- zu Der standhafte Prinz MWV M 7, noch bevor der Komponist listischen Künstlerpersönlich­keiten dar. Die hohen Erwartun- in Düsseldorf wohnte. Sie war mit immerhin fünf Sätzen der gen, die Mendelssohn an einen Operntext stellte, wurden im umfangreichste Beitrag zu den kleineren Bühnenwerken. Falle des Shakespeareschen Sturm nicht erfüllt.58 In wohlge- In seiner Funktion als Städtischer Musikdirektor oblag Men- wählten Worten formulierte Mendelssohn die Ablehnung ge- delssohn seit Herbst des genannten Jahres neben der Betreuung genüber Immermann: „Ich bin nämlich, nachdem ich Ihren der Kirchenmusik und des Konzertwesens auch die Leitung der Sturm wieder und wieder gelesen habe, ud gerade nachdem ich Theateraufführungen. Für eine solche schrieb er im Dezember die großen Schönheiten darin habe verstehen ud würdigen ler- 1833 die Musik zu Andreas Hofer MWV M 8. Den Schwer- nen, dennoch zu der Überzeugung gekommen, daß ich es in punkt der Theatertätigkeit 1833/1834 bildeten jedoch keine dieser Gestalt nicht componiren kann. Dies würde ich nicht zu eigenen Stücke,62 sondern die so genannten „Mustervorstellun- sagen wagen, ja viel lieber, als Ihnen dies schreiben, möchte ich gen“. Diese von Karl Immermann angeregten Veranstaltungen eine Oper selbst gegen meine Überzeugung componiren, aber sollten dazu dienen, dem Publikum, insbesondere den Aktio- dann würde es Ihnen ud mir später desto unangenehmer sein, nären des im Aufbau begriffenen neuen Stadttheaters, einen Sie würden mit der Composition Ihrer Worte unzufrieden sein, Vorgeschmack auf das zu erwartende künstlerische Profil des

den Hinweis zur Identifizierung gedankt. Zum Lebensweg von G. Julius siehe Heinz Warnecke,Gustav Julius (1810–1851) – Biographisches über einen Mann, dem Marx im Juli 1851 in London die letzte Ehre erwies, in: Marx-Engels-Edition und biographische Forschung, Berlin/Hamburg 2000 (= Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge), S. 217–230 und ders., Gustav Julius (1810–1851): Streiter für eine „Freie Presse“, in: Helmut Bleiber u. a. (Hrsg.), Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49, Berlin 2003, S. 295–360. 56 Landgerichtsrat, Schriftsteller und späterer Theaterintendant Karl (eigentlich Carl) Leberecht Immermann (1796–1840), in diesem Band wird immer die Namensform Karl Immermann verwendet. 57 Brief vom 6. Dezember 1831 an Franz Hauser, nur abschriftlich erhalten, D-B, MA Nachl. 7; 30, 1 [Nr. 7], S. 35–38, Verbleib des Originals unbe- kannt, gedruckt in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 2, hrsg. und kommentiert von Anja Morgenstern und Uta Wald, Kassel etc. 2009, S. 423–425, das Zitat S. 424. 58 Werner Deetjen, Immermann’s Bearbeitung des „Sturms“ als Operntext, in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 57 (1921), S. 65–76. Immer- manns Bearbeitung trug den Titel Der Zaubermantel in Calibans Händen und war am 10. Mai 1832 beendet worden. 59 Brief vom 27. Juli 1832 an Karl Immermann, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf (im Folgenden: D-DÜhh), 51.4897/3, zuerst gedruckt in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 57 (1921), S. 67–72. 60 Brief vom 7. August 1832 an Karl Immermann, D-DÜhh, 51.4897/4, zuerst gedruckt in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 57 (1921), S. 72–73 (dort nach einer Abschrift irrtümlich datiert 17. August 1832). 61 Das 22seitige Manuskript befindet sich in D-B, MA Ms. 88, siehe Eva Beck, „Das Auge der Liebe“ und seine Wandlung. Zwei unveröffentlichte Bearbei- tungen, in: Immermann-Jahrbuch 6 (2005), S. 9–33, insbesondere S. 17–33. Das zwischen 1832 und 1834 entstandene Opernlibretto bildete die Über­ arbeitung eines ursprünglich 1823 geschriebenen Lustspiels, das 1827 von Carl von Holtei im Hause der Mendelssohn-Familie rezitiert wurde. 62 Bühnenwerke stehen in Mendelssohns kompositorischer Arbeit während seiner Düsseldorfer Jahre 1833–1835 eher am Rande, siehe Ralf Wehner, „Ein paar neue Lieder habe ich gemacht, und eine Clavier Etüde, die aber nichts taugt“. Felix Mendelssohn Bartholdys Kompositionen für Düsseldorf, in: „Übrigens gefall ich mir prächtig hier“. Felix Mendelssohn Bartholdy in Düsseldorf, hrsg. von Bernd Kortländer (Katalog zur Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts, Düsseldorf, 1. Oktober 2009 bis 10. Januar 2010), Düsseldorf 2009, S. 70–87. XVIII

Zwei-Sparten-Hauses zu vermitteln.63 So wurden wechselnd Entscheidung und schrieb befreit an seine Mutter: „Ich war hier Schauspiele und Opern als „Muster“ für die Zukunft gege- in eine entsetzliche Verwirrung und Hetze hineingerathen, und ben. Infolgedessen legten alle Beteiligten bei den Inszenierun- mir ging es schlimmer, als in der geschäftigsten Zeit in London. gen besonderen Wert auf die schauspielerische Darstellung, Wenn ich mich Morgens zur Arbeit setzte, so klingelte es wäh- das Bühnenbild, die Kostümierung, aber auch auf die Quali- rend jedem Tact, da kamen unzufriedene Choristen die man an- tät der musikalischen Umsetzung. Vertreter der Düsseldorfer schnauzen, ungeschickte Sänger, die man einstudiren, schabige Kunstakademie lieferten Bühnenbilder, und Schauspieler stell- Musikanten, die man engagiren mußte, und wenn es so den ten eindrucksvolle „lebende Bilder“ auf der Bühne. Diese Kul- ganzen Tag fortgegangen war, und ich mir dann sagen mußte tur der tableaux vivants, die im 19. Jahrhundert in Düsseldorf das sei nun alles für das Düsseldorfer Theater und dessen Heil, zu hoher Blüte geführt wurde,64 blieb nicht ohne Auswirkun- so wurde ich schwer ärgerlich; endlich vorgestern entschloß ich gen auf Felix Mendelssohn Bartholdy, denn beim Aufbau eines mich[,] machte einen salto mortale, sprang aus der ganzen Ge- solchen „lebenden Bildes“ erklang eine untermalende Musik.65 schichte heraus, und bin nun wieder ein Mensch.“68 Diese musste strukturell so eingerichtet sein, dass sie zeitlich Immermann gelang es, den Theaterbetrieb zu stabilisieren und zum Bühnengeschehen passte. Mendelssohn löste das Problem, gegen etliche Widerstände über drei Spielzeiten aufrechtzu- indem er bestimmte Abschnitte seiner Musik wiederholen ließ erhalten.69 Julius Rietz (1812–1877) stand ihm als Theater­ und erst, wenn der Bildaufbau auf der Bühne seinem Ende kapellmeister zur Seite. Die Düsseldorfer Musterbühne aber zuging, in die Coda überleitete. Diese Technik findet sich in konnte auf Dauer nicht bestehen und schloss am 31. März 1837 der Musik zu Kurfürst Johann Wilhelm im Theater MWV M 9, mit einer Aufführung des DramasGriseldis des österreichischen­ geschrieben zur Eröffnung des Stadttheaters am 28. Oktober Dichters Friedrich Halm.70 1834, und in Mendelssohns Einrichtung von zwei Sätzen der Beethovenschen Klaviersonate op. 26.66 Es grenzt an eine gewisse Tragik, dass ausgerechnet in jenem MWV M 7 Moment, in dem das Theater eröffnet wurde und sich die jah- Der standhafte Prinz: Erster Beitrag für Düsseldorf relange Mühe gelohnt zu haben schien, die künstlerischen An- sichten zwischen Intendant und Musikdirektor so divergierten, Am 20. Februar 1833 berichtete Mendelssohn seinem Freund dass ein Bruch unabwendbar war, in dessen Folge Mendelssohn Carl Klingemann von einem neuen Kompositionsprojekt: „[…] seine Tätigkeit als Operndirektor aufgab. Bereits drei Tage nach habe ich doch noch einen Auftrag übernommen, der mir gar der Eröffnung bekannte er gegenüber seinem Freund Franz zu gut gefällt; es ist in Düsseldorf nämlich ein Verein zur Ver- Hauser: „Hier gab es nun mit dem Theater u. der daran hän- besserung des dortigen Theaters gebildet worden, der durch genden Wirthschaft vollauf zu thun; ich tauge nicht dazu, mir Immermann, Uechtritz71 etc. klassische Stücke so vollkom- fehlt es an Lust u. Talent bey allen Geschäftssachen derart, u. men als möglich zur Aufführung bringen lässt, und da bin ich am Ende kommen wir auch nicht über die Mittelmäßigkeit hi- nun aufgefordert, zum standhaften Prinzen die Chöre und die naus, ein Wort das mir sehr zuwider ist. Letzten Dinstag fing es Geistererscheinung zu komponieren, im April, wenn ich durch an, ich möchte es hätte da aufgehört.“67 Mendelssohn traf eine Düsseldorf komme, der ersten Aufführung beizuwohnen und

63 Eine umfassende, wenn auch aus heutiger Sicht durch stark subjektive Einschätzungen geprägte Darstellung des Themas bietet Richard Fellner, Geschichte einer Deutschen Musterbühne. Karl Immermanns Leitung des Stadttheaters zu Düsseldorf, Stuttgart 1888 (im Folgenden: Fellner, Musterbühne). Das Buch, das die Verdienste Immermanns in verklärender Weise hervorhebt, gewinnt aber seine Bedeutung durch die Fülle des ausgewerteten Quellenmaterials. Fellner verfügte zum Zeitpunkt des Entstehens seines Buches über einen bedeutenden Teil des Immermannschen Nachlasses. 64 Bernhard R. Appel, ‚Mehr Malerei als Ausdruck der Empfindung‘ – Illustrierende und illustrierte Musik im Düsseldorf des 19. Jahrhunderts, in: Akademie und Musik. Erscheinungsweisen und Wirkungen des Akademiegedankens in Kultur- und Musikgeschichte: Institutionen, Veranstaltungen, Schriften. Festschrift für Werner Braun zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolf Frobenius, Nicole Schwindt-Gross und Thomas Sick, Saarbrücken 1993 (= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft. Neue Folge; 7), S. 255–268 und 361–364. 65 Brigitte Metzler, „Denn jedes Bild will seines Rahmens Wände verlassen …“ Felix Mendelssohn Bartholdy und die Lebenden Bilder, in: Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit. Mendelssohns Wirken in Düsseldorf, hrsg. von Andreas Ballstaedt, Volker Kalisch und Bernd Kortländer, Schliengen/Markgräflerland 2012 (im Folgenden: Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit), S. 35–55. 66 Siehe hierzu Ralf Wehner, „… das sei nun alles für das Düsseldorfer Theater und dessen Heil …“ Mendelssohns Musik zu Immermanns „Kurfürst Johann Wilhelm im Theater“ (1834), in: Die Musikforschung 55 (2002), Heft 2 (April–Juni), S. 145–161 (im Folgenden: Wehner, Kurfürst), zur Beethoven- Instrumentation speziell S. 157–159. 67 Brief vom 1. November 1834 an Franz Hauser, nur abschriftlich erhalten, D-B, MA Nachl. 7; 30, 1 [Nr. 20], S. 71–76, Verbleib des Originals un- bekannt, zuerst gedruckt in: Eduard Hanslick, Briefe von F. Mendelssohn, in: Aus neuer und neuester Zeit. Musikalische Kritiken und Schilderungen, Berlin 21900 (= Der modernen Oper IX. Teil), S. 288–290. 68 Brief vom 11. November 1834 an Lea Mendelssohn Bartholdy, Music Division, The New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations (im Folgenden: US-NYp), *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 211, mit Abweichungen und unter dem Da- tum 4. November 1834 gedruckt in: Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy (Hrsg.), Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863 (im Folgenden: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847), S. 57–59; ähnliche Bemerkungen in Mendelssohns Brief vom 30. November 1834 an seinen Freund Klingemann, D-DÜhh, 62.685, gedruckt in: Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, hrsg. und eingeleitet von Karl Klingemann (jun.), Essen 1909 (im Folgenden: Briefwechsel mit Klingemann), S. 154–156. 69 Ein Gesamtverzeichnis des Theaterrepertoires unter Immermanns Leitung bietet Karl Leberecht Immermann, Briefe, Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden, hrsg. von Peter Hasubek, München 1978, 1979 und 1987 (im Folgenden: Immermann, Briefe), Bd. III.2, S. 1490–1513. 70 Pseudonym für Eligius Franz Joseph Freiherr von Münch-Bellinghausen (1806–1871). 71 Peter Friedrich von Uechtritz (1800–1875) war wie Immermann Jurist und betätigte sich als Schriftsteller dramatischer Werke. XIX das Orchester zu dirigieren.“72 Gegenüber Franz Hauser hieß alles recht eingreift, und damit kein andrer als ich zu ändern es am selben Tag, dass er das Stück „mit ernsthaften Chorälen brauchte, wenn Aendrungen nöthig werden.“76 spicken“73 wolle. Der Auftrag aus Düsseldorf kam mit einem Die Dramen von Calderón77 erfreuten sich Anfang des 19. Jahr- heute verschollenen Brief Immermanns vom 13. Februar 1833, hunderts in Deutschland großer Beliebtheit und lagen in Über- auf den Mendelssohn freudig und ausführlich reagierte: „Auch setzungen von August Wilhelm von Schlegel (1767–1845) ich bin seit den letzten Monaten so tief in Arbeiten und Be- und Johann Diederich Gries (1775–1842) vor. Karl Immer- schäftigungen mancherlei Art, daß mir es fast leid thut, gerade mann hatte mehrere Stücke für die Bühne bearbeitet.78 Zu ih- jetzt Ihren Auftrag wegen der Musik zum standhaften Prinzen nen gehörte auch Der standhafte Prinz.79 Die Besonderheit der erhalten zu haben, weil ich nur wenige Momente zum Nach- Musik zu diesem Stück bestand darin, dass sich Mendelssohn denken darüber finden werde; aber ich werde sie auf jeden Fall bei der Komposition nach Schlegels Übersetzung richtete, die machen, denn die Gelegenheit ist gar zu schön und es ist mir Bearbeitung des Stückes durch Immermann aber in Düssel- so lieb auch irgend etwas zu dem Vereine beizutragen. Die vier dorf erfolgte, ohne dass weitere Absprachen getroffen werden Musikstücke von denen Sie mir schreiben, sollen bis Ende März konnten.80 Die Folge war eine Divergenz zwischen den Inten- in der Partitur bei Ihnen sein, das kann ich versprechen; aber tionen, wie sie durch die autographe Partitur überliefert sind, freilich wäre es prächtig, wenn ich die Aufführung selbst mit er- und der dann tatsächlich erklungenen Fassung. Immermann leben und bei der Musik thätig sein könnte, drum thun Sie mir hatte dem Komponisten zwar den Text eines von ihm zusätzlich den Gefallen mich wissen zu lassen, ob Anfang April der spä- eingeschalteten Chores geschickt, ihn aber beispielsweise über teste Termin dafür ist, oder ob es sich vielleicht noch verschiebt, die Verwendung einer Schlachtmusik im Unklaren gelassen. Bis wie es bei so complicirten Leistungen fast immer geschieht; zum 13. März 1833 arbeitete Mendelssohn an seiner Sinfonie wenn sichs bis in die Mitte des Monats verzöge, ud. ichs vorher A-Dur MWV N 16, der so genannten Italienischen Sinfonie. wüßte, so könnte ich wahrscheinlich kommen, und mit dem Fünf Tage später stand die Musik zu Der standhafte Prinz auf Orchester ordentlich probiren und einstudiren. Auch wünsche dem Papier und wurde mit erklärenden Zeilen vom 18. März ich zu wissen, ob ich für ein vollständiges Orchester ud. einen nach Düsseldorf befördert: „Hiebei die verlangten Musikstücke vollständigen Chor componiren soll? Sobald ich darüber Ihren zum standhaften Prinzen. Ich hatte mir vorgenommen, eine Bescheid erhalte, will ich anfangen und die fertigen Stücke Ih- Ouvertüre dazu zu schreiben, aber meine Beschäftigungen ha- nen zuschicken, damit sie bei Zeiten ausgeschrieben werden. ben mir es nicht erlaubt, da Sie Beschleunigung wünschten. Ich Eine Ouvertüre machte ich am liebsten selbst dazu, denn jede habe es sogar nicht bis zum 21sten zu Ihnen schaffen können, fremde bleibt dem Stück fremd, doch fürchte ich daß es meine aber der eine Tag später wird hoffentlich nichts schaden. – Ich Zeit nicht erlaubt, so sehr ichs wünsche; dann würde ich Ihnen weiß nun leider nicht, ob die Musik überall passen wird, denn mit der Musik entweder diejenige schicken, die hier gegeben schon an Ihrer Eintheilung nach 5 Acten sah ich daß Sie eine worden ist,74 oder wenn sie hier dazu etwa eine ganz lustige ha- andre Bearbeitung, als die Schlegelsche Uebersetzung geben ben, wie sie das bei Trauerspielen gern thun, so würde ich Ihnen werden, und wußte nun nicht, wo der Schluß des ersten Acts eine andre auszufinden suchen. Aber ich will das Selbst Com- mit seinem Chor stehen soll, wo die Schlacht anfängt etc. Gern poniren doch nicht verschwören. Die Aufgabe reizt mich gar zu hätte ich Sie erst darum gefragt, damit die Schlüsse der Musik- sehr.“75 Mendelssohn deutete an, das Stück flüchtig zu kennen stücke recht einpassen, indeß war keine Zeit mehr, und meine und es vor längerer Zeit gelesen zu haben. „Auch deshalb, weil Musik, der die Eile wohl anzumerken ist, besonders in den bei- ich keine Idee davon habe wie Sie nun diese Aufführungen an- den ersten Stücken, ergiebt sich Ihnen auf Gnad’ und Ungnade, ordnen, wäre es gut wenn ich selbst dabei sein könnte, damit auf Streichen u da Capo, so viel Sie wollen; nur lassen Sie eine

72 Brief vom 20. Februar 1833 (zusammen mit Rebecka Dirichlet) an Carl Klingemann, Original in Privatbesitz, zitiert nach: Briefwechsel mit Klingemann [Anm. 68], S. 112–113. 73 Brief vom 20. Februar 1833 an Franz Hauser, nur abschriftlich erhalten, D-B, MA Nachl. 7; 30, 1 [Nr. 14], S. 50–54, gedruckt in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 3, hrsg. und kommentiert von Uta Wald unter Mitarbeit von Juliane Baumgart-Streibert, Kassel etc. 2010, S. 129–131, das Zitat S. 130. 74 Der standhafte Prinz war in Berlin zuletzt 1824/1825 in Wiederaufnahme der Premiere vom 15. Oktober 1816 mit der Musik von Joseph Augustin Gürrlich (auch Gürlich, 1761–1817) gegeben worden. Einzelne Streicherstimmen, darunter jene zu zwei Chören, einer Schlachtmusik und einem Marsch, sind erhalten in D-B, Mus.ms. 8790/5. Die Berliner Aufführung hatte insofern für die Düsseldorfer Theaterproduktion eine Bedeutung, als Beschreibungen und Abbildungen der originalen Kostüme als Vorlagen für die Inszenierung am Rhein dienten, s. u. Anm. 87. 75 Brief vom 18. Februar 1833 an Karl Immermann, D-DÜhh, 51.4897/5, in Auszügen erstmals gedruckt in: Ursula Galley, Bilder aus Düsseldorfs musi- kalischer Vergangenheit, in: 110. Niederrheinisches Musikfest in Düsseldorf, Jahrbuch 1956, hrsg. von Julius Alf, Düsseldorf [1956], S. 33–49, das Zitat S. 45–46. Von Immermanns Brief vom 13. Februar 1833 ist derzeit nur eine inhaltliche Zusammenfassung aus seinem das Werk betreffenden Diarium [Näheres s. u. Anm. 82] bekannt, Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar (im Folgenden: D-WRgs), GSA 49/382, fol. 131. 76 Brief vom 18. Februar 1833 an Karl Immermann, ebd. 77 Calderón, mit vollständigem Namen Pedro Calderón de la Barca y Barreda González de Henao Ruiz de Blasco y Riaño (1600–1681), war ein spanischer Dichter, dessen Märtyrertragödie El príncipe constante 1636 in Madrid gedruckt wurde. 78 Bearbeitungen und Bühneneinrichtungen für die Aufführungen von: Das Leben ein Traum (18. Januar 1835), Der Arzt seiner Ehre (9. August 1835), Der Richter von Zalamea (17. Januar 1836, mit Musik von J. Rietz), Der wundertätige Magus (21. November 1836, dto.), Semiramis, oder Die Tochter der Luft (8. Januar 1837). In runden Klammern mitgeteilt sind die Premieren. 79 Immermanns Bearbeitung blieb bis heute ungedruckt. Über seine künstlerischen Auffassungen und die Konzeption seiner Inszenierung unterrichtet das Dokument: Ueber die Darstellung des standhaften Prinzen und die Recitation des Calderonischen Verses, D-WRgs, GSA 49/382, fols. 140–143, gedruckt in: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 788–790. 80 Die Änderungen sind im Soufflierbuch nachvollziehbar, D-WRgs, GSA 49/355. So hatte Immermann die ursprünglich drei Abteilungen in fünf Akte gegliedert und umfangreiche Textpassagen sowie mehrere handelnde Figuren gestrichen. Eine Übersicht über die Kürzungen und Umstellungen vermit- telt: Fellner, Musterbühne [Anm. 63], S. 241–244, siehe auch Rebecca Rosenthal, Felix Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusiken. Untersuchungen zu Form und Funktion, Frankfurt am Main etc. 2009, S. 95–98. XX schöne große Trommel und Becken im Orchester zur Schlacht auf: „Singet hier, weil unsre schöne Phönix, während sie sich sein, denn ohne das giebt es keine Mohren.“81 Über eine Reak- kleidet, manchmal gern ihr Ohr geweidet“. Die „Christenskla- tion Immermanns gegenüber Mendelssohn ist nichts bekannt. ven“ widersetzen sich zunächst, singen aber dann doch und be- Im Diarium über die Vorbereitungen zum „standhaften Prinzen“ klagen ihr Schicksal unter dem schwerlastenden Joch des Unter- notierte er am 22. März 1833 lediglich: „ging die Musik von drückers, dem greisen König von Fez. Mendelssohn gestaltete Mendelssohn ein und wurde an die Regisseure abgegeben.“82 diese drückende Stimmung in einem Chor in f-Moll, der durch Das Stück wurde als Dritte Subscriptions-Vorstellung am 9. Ap- gleichbleibende, sich wiederholende Figuren der Streichinstru- ril 1833 gegeben. Der Theaterzettel vermerkte: „Tragödie in mente und schneidende, seufzerartige Einwürfe der Holzbläser 5 Akten aus dem Spanischen des Calderon de la Barca von charakterisiert wird. Immermann fasste die ersten Szenen bei A. W. v. Schlegel übersetzt. Für die Darstellung bearbeitet von Calderón zu einer großen Szene zusammen, an deren Ende er K. Immermann. Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy[.] Der einen weiteren Sklavenchor einfügte. Dieser zweite Chor gibt Prospect der Stadt Fetz nach einer Farbenskizze W. Schirmers, sich optimistischer angesichts des zu erwartenden Erretters in Mitgliedes hiesiger Akademie, nebst den übrigen neuen Deco­ Gestalt des Prinzen von Portugal, Don Fernando88: „Überm rationsstücken von Hausmann. Die Garderobe ist neu dazu Meere wallet fröhlich Held Fernandos Kreuzpanier!“ angefertigt“83. Immermann hatte sechs Wochen Arbeit in das Im Zentrum des Werkes steht mit der Schlachtmusik ein Uni- Projekt investiert und wurde mit Erfolg belohnt. Seinem Bru- kum im Schaffen des Komponisten. In Immermanns Einrich- der berichtete er, „daß Don Fernando vorgestern Abend auf tung fand diese Musik am Ende des 2. Aktes Verwendung. hiesiger Bühne bei Tanger gelandet ist, unter dem Könige von Signalhaft eingesetzte Bläser, die Zerrissenheit der Streicher­ Fez gelitten, und als Geist im blauen Feuer das Heer der Portu- figuren und der Einsatz von Piccolo-Flöte, Bassposaune, großer giesen zum Siege geführt hat. […] Ich wünschte nur, Du wärest Trommel und Becken zeichnen eine effektvolle Programm­‑ zugegen gewesen! Ich sage Dir, die Kerls sprachen die Caldero- musik. In einem mittleren Teil, der durch den Wechsel der Ton­ nischen Verse, als wäre ihnen nie Th. Hellsche Prosa84 in’s Maul art eingeleitet wird, führt Mendelssohn die Schlachtmusik im gekommen. Alle Künste hatten mitgewirkt, wie der anliegende Stile eines Geschwindmarsches weiter. Während der Komposi- Zettel besagt. Ich bin mit einem sehr frohen und feierlichen Ge- tion schwebte ihm, wie die Formulierung von den „Mohren“89 fühle über diese Verkörperung der wunderbarsten Poesie nach zeigt, eine Art osmanischer Janitscharenmusik vor. Durch die Hause gekommen.“85 Auch die Tagespresse lobte die Vorstel- dynamische Zurücknahme am Ende des Satzes, die wiederkeh- lung: „Das Szenische war wohl geordnet, der Prospect der Stadt renden Trompetensignale des Anfangs und das Verklingen im Fez nahm sich gut aus, die Comparserie griff schicklich ein, und Pianissimo entsteht der bühnenwirksame Eindruck einer vo­ die Ausstattung des Ganzen war recht würdig. Dafür verdient rüberziehenden Militärkapelle. Bei der Inszenierung in Düssel- die Direction und die Regie allen Dank.“86 Besondere dorf erklang diese Musik hinter der Szene und deutete damit die Mühe hatte man auf die Herstellung der Kostüme verwendet in der Handlung vorgesehene Schlacht, in deren Folge die Ge- und sich zu diesem Zwecke eine Abschrift der Berliner Inszenie- fangennahme des Helden Fernando steht, nur symbolisch an.90 rung von 1824/1825 schicken lassen.87 Zwei kurze, musikalisch korrespondierende Stücke im Gestus Mendelssohn, der letztlich nicht zur Premiere nach Düssel- eines Trauermarsches bilden den Abschluss der Komposition. dorf gekommen war, hatte insgesamt fünf statt der geplanten Am Ende des 4. Aktes war Don Fernando, der sich im Laufe der vier Musikstücke komponiert. Den Anfang bilden zwei Män- Handlung als charakterfester und im Glauben standhafter Prinz nerchöre mit Orchesterbegleitung. Als Eröffnung der in Ma- erwiesen hatte, an seinen Qualen gestorben, der kurze 5. Akt rokko spielenden Handlung fordert die Dienerin Zara im kö- spielte nachts an der Seeküste bei Tanger, wo die christlichen niglichen Garten am Meere die als Sklaven gehaltenen Christen Truppen zur Befreiung gelandet waren. Mendelssohn forderte

81 Brief vom 18. März 1833 an Karl Immermann, nur abschriftlich erhalten, D-WRgs, GSA 49/202,2, fol. 13, Verbleib des Originals unbekannt, zuerst gedruckt in: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 804–805. 82 Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 805. Das in D-WRgs, GSA 49/382, fol. 131, aufbewahrte Diarium erstreckt sich vom 13. Februar bis zum 9. April 1833, siehe auch Kommentar in ebd., Bd. III.2, S. 788. 83 Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. II, S. 172–173. Ein Exemplar in D-WRgs, GSA 49/382, fol. 165, ein orthographisch leicht geänderter Programmzet- tel der Wiederholungsaufführung Siebente( Vorstellung im sechsten Abonnement) am 14. April 1833 ebd., fol. 168. Friedrich Hausmann (um 1800–1871) war Theatermaler und Bühnentechniker. 84 Gemeint sind die damals verbreiteten Lustspiele von Karl Gottfried Theodor Winkler (1775–1856), der unter dem Pseudonym Theodor Hell veröffent- lichte. 85 Brief vom 11. April 1833 von Karl Immermann an Wilhelm Ferdinand Immermann (1802–1847), Original, wie alle im Folgenden zitierten Immer- mann-Dokumente, wenn nicht anders angegeben, in D-WRgs, Bestand 49, zitiert nach: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. II, S. 165–172, das Zitat S. 168. Der erwähnte „anliegende Zettel“ war der Programmzettel. 86 Düsseldorfer Zeitung vom 14. April 1833, S. [4], Hervorhebung im Original. 87 Der standhafte Prinz | Costüme auf dem Berliner Theater (aus dem Garderobebuche. ausgezogen). Dieses mit Zeichnungen versehene Schriftstück enthielt eine detaillierte Aufstellung aller Kleidungsstücke sowie eine vollständige Abbildung der eingekleideten Schauspieler Don Enrique und Don Fernando, wie sie zehn Jahre zuvor in Berlin gegeben worden waren, Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. II, S. 136–142 mit Reproduktionen. 88 Die Figur geht auf die historische Gestalt Ferdinand von Avis (Fernando de Portugal, 1402–1443) zurück, der 1470 seliggesprochen wurde. Wenige Jahre vor Immermanns Bearbeitung kam ein Buch mit der Lebensgeschichte des Prinzen heraus: Ignaz von Olfers, Leben des standhaften Prinzen. Nach der Chronica seines Geheimschreibers F. Joam Alvares u. a. Nachrichten, Berlin/Stettin 1827. 89 Siehe den oben erwähnten Brief vom 18. März 1833 an Karl Immermann [Anm. 81]. 90 Fellner, Musterbühne [Anm. 63], S. 242 zitiert aus dem Soufflierbuch: „Schlachtmusik hinter der Szene. Signale von Hörnern und Trompeten, Trom- meln, Kanonenschüsse. Unterdessen [sic für: Während dessen] bleibt die Bühne leer.“ Das Original befindet sich heute in D-WRgs, GSA 49/355, der Eintrag auf fol. 23v. XXI in seiner Nr. 4 zehn Bläser „Auf dem Theater“, am Ende stim- officiell von Dir erbäte?“98 Mendelssohn ging unmittelbar da- men leise tremolierend die Streichinstrumente im Orchester- rauf ein: „Was meine Musik zum standhaften Prinzen betrifft, graben mit ein. Die Musik wird durch den Einschub der ge- so weißt Du daß ich alles was ich schreibe, Dir immer mit sprochenen Worte zum Melodram, sie bildet eine Begleitmusik Freuden schicken werde“.99 Vor allem hatte er Bedenken wegen zum Auftreten der „Erscheinung“91 des Geistes Fernandos, der einer Nutzung auf der Berliner Bühne100 und übersandte die seine Landsleute zum Kampf ruft. Das letzte Stück (Nr. 5), um Musik daher, wie auch die Antwort belegt,101 nicht. In seinem Pauken und Oboen erweitert, ist ein Trauermarsch, der zur Be- Besitz verblieb aber auch keine Partitur, so dass Mendelssohn, gleitung des Sarges des Prinzen gespielt werden sollte.92 Auch als er sich, bereits in Leipzig wohnend, erneut für das Stück in- hier hatte der Komponist ein selbständiges Orchester „Auf der teressierte, nach Düsseldorf schreiben musste: „Können Sie mir Bühne ganz vorne“ intendiert. In besonderer Weise wird an meine Musik zum standhaften Prinzen (Partitur) abschreiben diesen beiden Stücken, in denen die Zeitgenossen „aufgelöste lassen, und mir mit Buchhändl. Gelegenheit (durch Beyer)102 an katholische Kirchenhymnen“ wahrnahmen,93 die Differenz Breitkopf und Härtel schicken, so thun Sie mir einen rechten zwischen Komposition und Inszenierung deutlich, bei der die Gefallen […].“103 Rietz stieß bei der Suche nach der Partitur Musik nicht auf der Bühne, sondern hinter der Bühne erklang. auf unerwartete Schwierigkeiten, denn er hatte keinen direk- Das Soufflierbuch gibt über Immermanns Intentionen und die ten Zugang mehr zum Notenarchiv. „Die Musik zum stand- letztendliche Verwendung der Musik Auskunft. Richard Fell- haften Prinzen soll sobald erfolgen, als der Oberbürgermeister ner fasste zusammen: „Während der Worte Fernandos: ‚Zum v. Fuchsius, der den Schlüssel zur Bibliothek des ehemaligen Angriff, Held Alfonso! Waffen! Waffen!‘ feierliche Musik hinter Stadttheaters in Verwahrsam hat, zurückgekehrt ist.“104 Wann der Szene. Erneute Musik, während die Erscheinung über die die Zusendung erfolgte, ist momentan nicht zu eruieren, doch Bühne schreitet.“94, am Ende: „Wenn der Sarg erhoben wird, findet sich im eigenhändigen Musikalienverzeichnis von 1844 beginnen wieder die ersten Takte des Marsches.“95 ein entsprechender Eintrag, der auf eine von Julius Rietz ko- Die Ausführung der Musik war, glaubt man den Anmerkungen pierte Partitur schließen lässt.105 eines kritisch eingestellten Zeitgenossen, „durch ein schlecht einstudiertes Orchester fast ungenießbar“96. Doch die Mu- sik selbst geriet dank ihrer Qualität in der Folgezeit nicht in MWV M 8 Vergessenheit. Noch 1840 ist Immermanns Bearbeitung mit Andreas Hofer: Ein Tirolerlied und ein Franzosenmarsch Mendelssohns Schauspieleinlagen wiederholt worden.97 Bereits 1834 hatte sich Eduard Devrient in Vorbereitung einer für den Bei der von Mendelssohn geleiteten Mustervorstellung von Herbst desselben Jahres geplanten Neuinszenierung in Berlin Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni, damals allenthal- für das Stück interessiert und geschrieben: „Ich […] hätte gern ben Don Juan genannt, kam es am 19. Dezember 1833 zum deine Musik dazu, würdest Du sie uns geben, wenn man sie Eklat. Die Gegner des neuen Theaters hatten sich Zutritt ver-

91 Die Erscheinung war eine damals gern in das Bühnengeschehen einbezogene Kunstform, in der durch Musik das Vorhandensein eines Geistes unter- mauert werden sollte. Es war wohl genau jener Teil, auf den sich Mendelssohns Formulierung von der geplanten „Geistererscheinung“ in seinem Brief vom 20. Februar 1833 bezog [Anm. 72]. 92 In der äußeren Form mit seinen wiederholenden Teilen und der abschließenden Coda nimmt er die Musik zu Kurfürst Johann Wilhelm im Theater MWV M 9 vorweg. 93 Fellner, Musterbühne [Anm. 63], S. 244. 94 Ebd., S. 243. Anweisungen Immermanns im Soufflierbuch, D-WRgs, GSA 49/355, fols. 65v und 66v. 95 Ebd., S. 244 und Soufflierbuch, ebd., fol. 71v. Immermann sah vor, dass – wenn der Anfang des Marsches noch einmal wiederholt wurde – der Vorhang fallen sollte. Somit endete das Theaterstück mit Mendelssohns Musik. 96 Aus Biedermeiertagen. Briefe Robert Reinicks und seiner Freunde, hrsg. von Johannes Höffner, Bielefeld/Leipzig 1910, S. 63. 97 Einladung für Friedrich Wilhelm und Elisabeth Grube „zur Vorlesung der Tragödie von Calderon: Der standhafte Prinz mit Begleitung der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy“ für den 22. März 1840, Stadtarchiv Aachen, zitiert nach: Immermann, Briefe, [Anm. 69], Bd. 2, S. 1063. Mendelssohn erfuhr von dieser Aufführung durch das Schreiben eines unbekannten Absenders vom 11. März 1840: „In diesen Tagen will uns Imermann auch den standhaften Prinzen lesen und zwar mit Ihrer Musik, von welcher er mit wahrer Begeisterung spricht.“, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 37, Green Books XI-89 (fragmentarisch). 98 Brief vom 14. Juni 1834 von Eduard Devrient an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 29, Green Books III-175. 99 Brief vom 25. Juni 1834 an Eduard Devrient, Halifax (Kanada), Dalhousie University Library, Ellen Ballon Collection, zuerst gedruckt in: Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig 1869 (= Dramatische und Dramaturgische Schriften; Bd. 10), S. 170. 100 „[…] da ich aber den lebhaften Wunsch habe gegen das Berliner Theater mich nicht gefällig zu zeigen, ud da ich, selbst wenn sie es officiell verlangten (was sie auch verdämmern werden) es officiell abschlagen würde, so würde ich Dich bitten, sie nicht mit meinem Namen hinzugeben, sonst aber damit zu machen, was Dir gefällt, sie zu brauchen oder nicht zu brauchen.“, ebd. 101 „Ich dachte mir es wohl, daß Du die Musik zum standhaften Prinzen nicht gern unsrem Theater geben würdest u ich verdenke es Dir im Grunde nicht. Ehe ich Dich nun meinetwegen weiter darum quäle, will ich einmal mich erst erkundigen ob die, welche früher zu dem Stücke gebraucht wurde, irgend erträglich ist.“, und fragt nach: „Hattest Du das Lied der Sclawen ‚zur Erobrung Tangers sandte usw‘ (4ter Act) komponirt? vierstimmig? oder zweistim- mig?“, Brief vom 29. Juni 1834 von Eduard Devrient an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 29, Green Books III-189. 102 G. H. Beyer & Comp. war eine Buch- und Musikalienhandlung in Düsseldorf, die ihren Sitz in der Neustraße hatte, siehe Offizielles Adress-Buch für Rheinland-Westphalen, hrsg. von Rüttger Brüning, Elberfeld [1838], S. 15. 103 Brief vom 28. September 1837 an Julius Rietz, Verbleib des Originals unbekannt, zitiert nach: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 5, hrsg. und kommentiert von Uta Wald unter Mitarbeit von Thomas Kauba, Kassel etc. 2012, S. 342. 104 Brief von Julius Rietz an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 12. Oktober 1837, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 32, Green Books VI-84. 105 Für Nachweis und Zuordnung siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle [D]. XXII schafft und störten massiv die Vorstellung. Unmittelbarer Aus- werden. Seinem Vater berichtete er: „Ich habe ein Lied zu Im- löser war die Erhöhung der Eintrittspreise durch den amtieren- mermanns Hofer componirt, oder eigentlich nur eine Tyroler den Theaterdirektor Derossi106. Die Ereignisse wuchsen sich zu Volksmelodie dazu arrangirt mit einem Franzosenmarsch zu- einem handfesten Skandal aus,107 der aber auch seine gute Seite sammen, aber mir gefällt das Ding und ich wills Fanny schi- hatte: „Besonders ist mirs lieb, daß die Sänger, die wie ich höre cken. Wir denken den Hofer auch diesen Winter zu geben anfangs gegen diese Mustervorstellungen ud mich persönlich […].“114 Schwester Fanny Hensel meldete sich am 18. Februar gestimmt waren, sich jetzt für mich todtschlagen lassen, und 1834 postalisch: „Der Hofer gefällt mir sehr, u. muß sich an die Zeit gar nicht erwarten wollen, bis ich wieder eine Oper Ort u Stelle prächtig machen.“115 gebe.“108 Mendelssohn hatte sehr viel Zeit in die Probenarbeit Zur Illustration der in den Tiroler Bergen spielenden Hand- investiert109 und das Werk genauestens einstudiert, immerhin lung vertonte Mendelssohn zunächst den in Dialekt gehaltenen handelte es sich um seine erste öffentliche Opernaufführung.­ Text „Trala. A frischer Bua bin i, hab drei Federle am Hut“ auf Seit dem 30. November fanden jeden Tag Proben statt, zumal die Melodie „Kommt a Vogerl geflogen“. Dieses Volkslied war auch noch andere Stücke, wie Beethovens Musik zu Goethes schon in den 1820er Jahren sehr populär und fand durch Carl Trauerspiel Egmont, für die nächste Mustervorstellung­ am von Holtei Einzug in die Kunstmusik. Dieser hatte es in einer 18. Januar 1834 vorbereitet werden mussten.110 In dieser ange- prägnanten Szene seiner 1824 in Berlin uraufgeführten Lie- spannten und ereignisreichen Phase komponierte Mendelssohn derposse Die Wiener in Berlin116 verwendet. Am Anfang seines eine skurrile Musik zu Andreas Hofer MWV M 8. Stückes ließ Mendelssohn die beiden Tenöre einen Jodler an- Immermann hatte bereits 1826 ein Trauerspiel in Tyrol verfasst. stimmen. Die Suche nach dem im Brief genannten „Franzosen- Eine Lesung dieses Stückes, die Carl von Holtei (1798–1880) marsch“ gestaltete sich schwierig. Lange galt er als verloren.117 im Hause Mendelssohn in Berlin 1827 veranstaltete, stellte so- Bei genauer Betrachtung des erhaltenen Klavierauszuges aber gar die erste Verbindung Immermanns zur Familie des Kompo- zeigte sich, dass dieser Marsch kein eigenständiges Stück war. nisten her.111 Denn die begeisterte Lea Mendelssohn Bartholdy Vielmehr verfremdete Mendelssohn im Mittelteil (ab Takt 64) bat den Dichter am 17. September 1827 erfolgreich um die beziehungsreich die Marseillaise und kombinierte sie schließlich Zusendung eines Dramenexemplars. Zuvor hatte sie ihm einige mit der zweiten Strophe des bereits erwähnten Tirolerliedes: themenbezogene Zeichnungen geschickt.112 1833 überarbeitete „A Büchsel zum Schieß’n, a Stoßring zum Schlag’n, a Dirnerl Immermann das Trauerspiel zum Drama Andreas Hofer, der zum Lieben muss a frischer Bua haben.“ Die Uraufführung am Sandwirth von Passeyer.113 Nun wollte er es dem Düsseldorfer 26. April 1834 wurde ein voller Erfolg.118 Vier Düsseldorfer Publikum präsentieren. Mendelssohn übernahm die Kom- Maler hatten nach einer Farbskizze ihres Lehrers Johann Wil- position einer Szene, in der fröhlich feiernde Tiroler von der helm Schirmer (1807–1863) das Bühnenbild mit der Tiroler Nachricht des herannahenden französischen Heeres überrascht Bergwelt so überzeugend gestaltet, dass nicht nur das Publikum,

106 Joseph Derossi (1768/70–1841) stand dem Theater insgesamt fast 20 Jahre vor, siehe Erläuterungen in:Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 765–766. 107 In seinem Notizbuch schrieb Mendelssohn von einem „grand scandale“, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn g. 4, fol. 31r, eine ausführliche Beschrei- bung findet sich in der Düsseldorfer Zeitung vom 22. Dezember 1833, Neudruck in: Matthias Wendt, Amt und Alltag. Annotationen zu Mendelssohns Notizen aus Düsseldorfer Zeit (im Folgenden: Wendt, Amt und Alltag), in: Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit[Anm. 65], S. 69. 108 Brief vom 28. und 29. Dezember 1833 an die Eltern, US-NYp, *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 174, gedruckt in: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 [Anm. 68], S. 17–23. 109 Mendelssohn erwähnte rückblickend zwanzig Proben, siehe den ausführlichen Bericht über die Aufführung im Brief vom 7. Februar 1834 an Ignaz Moscheles, University of Leeds, Leeds University Library, Brotherton Collection, ohne Signatur (Album Mendelssohn’s Letters to Moscheles 1826–1847), fol. 15, gedruckt in: Briefe von Felix Mendelssohn Bartholdy an Ignaz und Charlotte Moscheles, hrsg. von Felix Moscheles, Leipzig 1888, S. 72–77, beson- ders S. 75–76. Zwischen Probenbeginn und Premiere lagen genau zwanzig Tage. 110 Einblick in die Vielzahl der Termine vermittelt Mendelssohns Notizbuch, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn g. 4, fols. 29–31, hier lässt sich auch ein Teil der Mozartproben nachvollziehen, siehe Wendt, Amt und Alltag [Anm. 107], S. 56–78, mit Übertragung der Notizen vom 30. November bis zum 23. Dezember, dem Datum einer zweiten Aufführung desDon Juan, S. 65–67. 111 Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 907. 112 Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.1, S. 485–486, siehe Brief von Karl Immermann an Wilhelm Ferdinand Immermann vom 25. Oktober 1827: „Zuerst sandte mir eine von der Vorlesung des Hofer begeisterte Dame aus Berlin OriginalHandzeichnungen, Speckbacher, seine Frau, und seine Alpen- hütte darstellend.“, zitiert nach: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. I, S. 606–608, das Zitat S. 607. 113 Das Werk wurde 1835 gedruckt. Die Bearbeitung fand überwiegend im Februar und März 1833 statt, erhielt aber letzten Schliff, nachdem Immermann auf einer Reise im Herbst 1833 auch Tirol gesehen und dabei, wie Peter Hasubek schreibt, „die historischen Stätten, Heimatmuseen und Verwandte der Freiheitskämpfer“ aufgesucht hatte, Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 791. 114 Brief vom 28. und 29. Dezember 1833 an die Eltern [Anm. 108]. 115 Brief mit Poststempel vom 18. Februar 1834 von Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 29, Green Books III-47, zuerst gedruckt in: The Letters of Fanny Hensel to Felix Mendelssohn. Collected, Edited and Translated with Introductory Essays and Notes by Marcia J. Citron, [Stuyvesant, N.Y.] 1987, S. 454. 116 Das Stück wurde in Düsseldorf am 17. Dezember 1834 gespielt, Theaterzettel in D-WRgs,GSA 49/392, fol. 34. 1825 war ein Klavierauszug bei Cranz in Hamburg erschienen: Ouverture und Gesänge der Liederposse „Die Wiener in Berlin“, eingerichtet für das Pianoforte. Ein Faksimile des Duetts „Kommt a Vogerl geflogen“, in dem die Melodie ähnlich wie bei Mendelssohn in Terzen gesungen wird, findet sich bei Hans Schneider, Tutzing, Katalog 446 (2009), S. 35. Die 2. Strophe beginnt hier wie bei Immermann mit „Und a Büchserl zum Schiessen“, siehe ferner Otto Erich Deutsch, „Kommt a Vogerl geflogen“. Woher und wohin?, in: Österreichische Musikzeitschrift 13 (1958), S. 253–257. 117 Zu diesem Problemkreis siehe Ralf Wehner, „It seems to have been lost“: On Missing and Recovered Mendelssohn Sources, in: The Mendelssohns: Their Music in History, ed. by John Michael Cooper and Julie D. Prandi, Oxford etc. 2002, S. 3–25. 118 Das Stück erlebte von allen Immermann-Stücken mit Mendelssohnschen Beiträgen die meisten Wiederholungen, so in Bremen (26. Mai 1834), Düs- seldorf (8. Mai 1836, 26. Januar 1837), Elberfeld (17. Oktober 1836) und Krefeld (12. Mai 1836). XXIII sondern auch der sonst so selbstkritische Immermann begeistert noch erscheinenden, das Theaterwesen betreffenden, gesetz‑ war: „Das Stück erfreute mich durch sei[ne] frische Gestalt und lichen und polizeilichen Vorschriften strenge zu beobachten ein wirklich fortschreitendes Leben.“119 und das wegen der gesetzlichen Abgabe an die Armen verein- barte Abkommen zu erfüllen.“123 Ebenso verankert war ein Passus über die Leitung: „Die Führung der Intendanz ist vom MWV M 9 Herrn Landgerichtsrath Immermann, die Stelle des Mu- Kurfürst Johann Wilhelm: Musik zur Eröffnung des sikdirectors von Herrn Felix Mendelssohn-Bartholdy Düsseldorfer Theaters übernommen worden.“124 Somit waren beide aufs engste mit- einander verbunden, was bald aufgrund der Unterschiede im 1834 wurden endlich die institutionellen Grundlagen für ein Lebensalter und in den Ansichten über Kunst und Theater und neues Theater in Düsseldorf gelegt.120 „Das Theater zu Düssel- insbesondere über die Organisation des Theaterbetriebs zu Rei- dorf hört auf, eine Privatunternehmung zu seyn, die Stadt, als bungen führen musste. Naturgemäß waren die letzten Tage vor Eigenthümerin des Schauspielhauses gründet und führt dasselbe der festlichen Eröffnung am 28. Oktober 1834 durch äußerste weiter als städtische Anstalt unter dem Namen: ‚Stadt-Theater Hektik geprägt. Immermann arbeitete bis zuletzt an einem Vor- zu Düsseldorf.‘“121 Mit diesem Satz, formuliert am 3. April spiel, das er Kurfürst Johann Wilhelm im Theater nannte.125 1834, begann das Statut des neuen Theaters. In 26 Paragraphen Dieses den Abend eröffnende Vorspiel ist ein kurzes Drei- wurden die Besonderheiten des Theaters und die Aufgaben aller Personen-Stück, das vom geistreichen, zum Teil auch humor- Beteiligten beschrieben. Am 18. Juli 1834 erteilte der Ober-­ vollen Zwiegespräch zwischen dem Architekten des neuen Präsident der Rheinprovinz, Ernst Freiherr von Bodelschwingh Theaters und seinem Gehilfen lebt.126 Beziehungsreich flocht (1794–1854), eine „Concession für den Verwaltungs-Rath des Immermann dazu die stumme Rolle des auf dem Marktplatz Stadt-Theaters zu Düsseldorf zu theatralischen Vorstellungen vor dem Theater stehenden überlebensgroßen Reiterstandbildes­ in den Städten Düsseldorf und Elberfeld, für die fünf Jahre des Kurfürsten Johann Wilhelm (Jan Wellem genannt), des vom 1. Juli 1834 bis dahin 1839“.122 Voraussetzung dafür war Schutzpatrons der Stadt, ein, das jeder Düsseldorfer kannte.127 die Abwicklung des bisherigen Unternehmens. Dazu hieß es: Die Idee war gleichermaßen­ originell und naheliegend, konnte „Nachdem der Theaterunternehmer Joseph Derossi auf die sich Immermann doch sicher sein, dass das Publikum mit der ihm am 28. Juni 1832 für 6 Jahre zu theatralischen Vorstel- vom Hofbildhauer Gabriel Grupello (1644–1730) geschaffe- lungen in den Städten Düsseldorf und Elberfeld erteilte Con- nen bronzenen Figur als Wahrzeichen der Stadt mehr anfan- cession zu Gunsten der Actien-Gesellschaft zur Bildung eines gen konnte als mit der historischen Person des 1658 geborenen Stadttheaters in Düsseldorf, welche so wie ihre Statuten heute Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg, Herzog von Jülich und von mir genehmigt worden sind, verzichtet hat, wird hierdurch Berg, seit 1690 Kurfürst von der Pfalz, der 1716 in Düsseldorf dem Verwaltungs-Rathe des Stadttheaters zu Düsseldorf in der gestorben war. So schuf der Dichter eine Identifikationsebene Person seines Vorsitzenden, des Herrn Oberbürgermeister von für die Zuschauer und gleichzeitig ein wirksames und bezie- Voiss genannt Fuchsius die nachgesuchte Concession er­ hungsreiches Bühnenbild, das durch die abschließende Einbe- theilt, mit der für das erwähnte Stadttheater gebildeten Gesell- ziehung eines lebenden Bildes seine Krönung fand. Die erste schaft während der fünf Jahre von 1. Juli 1834 bis dahin 1839 Szene zeigt den Düsseldorfer Marktplatz mit dem Reiterstand- in den Städten Düsseldorf und Elberfeld theatralische Vorstel- bild, rechts davon die Fassade des alten Gießhauses, in dem lungen zu geben, unter der Bedingung: den erforderlichen Ge- 1711 die Reiterstatue gegossen worden war und in dem sich werbschein zu lösen, die bereits bestehenden, so wie die künftig nun das neue Theater befand. Der Architekt lädt am Ende

119 Karl Immermann. Zwischen Poesie und Wirklichkeit. Tagebücher 1831–1840. Nach den Handschriften unter Mitarbeit von Bodo Fehlig hrsg. von Peter Hasubek, München 1984 (im Folgenden: Immermann, Tagebücher), S. 248. 120 Zum schwierigen Weg der Erneuerung des Düsseldorfer Theaters und die im Vorfeld notwendigen verschiedenen Schriftstücke sieheImmermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 739–752. Eine Sammlung von handschriftlichen und gedruckten Statuten, Regulativen und Theatergesetzen heute in D-WRgs, GSA 49/383. 121 Statut des Stadt-Theaters zu Düsseldorf, Separatdruck mehrerer mit dem Theater zusammenhängender offizieller Schriftstücke, S. [1]; Exemplar in: D-WRgs, GSA 49/383, fols. 36–43, ein weiteres Exemplar zugänglich in der Digitalen Bibliothek der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf; der Teil vom 3. April 1834 vollständig gedruckt in: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. II, S. 486–492. 122 Statut des Stadt-Theaters zu Düsseldorf, Separatdruck, S. 7. 123 Statut des Stadt-Theaters zu Düsseldorf, Separatdruck, S. 7, Hervorhebung im Original. Auch gedruckt in: Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 745. Der erwähnte Joseph von Voiss, gen. Fuchsius (1793–1854), war 1833–1848 kommissarischer Oberbürgermeister in Düsseldorf. 124 Statut des Stadt-Theaters zu Düsseldorf, Separatdruck, S. 8, Mitteilung des Oberbürgermeisters vom 20. August 1834. 125 Konzept in D-WRgs, GSA 49/38. Mendelssohns Musik zu diesem Stück war bis Ende des 20. Jahrhunderts unbekannt, Näheres zum Kontext und zur Entdeckung der Handschrift siehe Wehner, Kurfürst [Anm. 66]. Zur Eröffnung wurden ferner Carl Maria von Webers Jubelouvertüre und eine Festmusik von Beethoven, vermutlich dessen Ouvertüre zu Die Weihe des Hauses op. 124, gegeben. Am Ende stand Heinrich von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg. 126 Erstdruck des Immermannschen Textes im Anhang von [Dietrich Christian] Grabbe, Das Theater zu Düsseldorf mit Rückblicken auf die übrige deutsche Schaubühne, Düsseldorf 1835, S. 91–111 (im Folgenden: Kurfürst, Textbuch). Immermann nahm beträchtlichen Einfluss auf die Gestaltung dieser Veröffentlichung, siehe hierzu Alfred Bergmann,Zur Entstehung von Grabbes Abhandlung über das ‚Theater zu Düsseldorf mit Rückblicken auf die übrige deutsche Schaubühne‘, in: Düsseldorfer Heimatblätter 5 (1936), Heft 9, S. 226–231 sowie Peter Hasubek, Karl Leberecht Immermann. Ein Dichter zwischen Romantik und Realismus, Köln etc. 1996, S. 190–192. 127 Wie sehr auch Mendelssohn diese Statue fasziniert hat, mag der Umstand belegen, dass sich gleich auf dem ersten Brief, den der Komponist am 27. Sep- tember 1833 kurz nach Ankunft in der Stadt an seinen Freund Friedrich Rosen nach London schrieb, eine Zeichnung jenes Standbildes findet. Die Zeichnung ist unter anderem reproduziert in: Briefwechsel mit Klingemann [Anm. 68], S. 117, das Original wird aufbewahrt in D-DÜhh, 62.687. XXIV des 2. Auftrittes die Statue des Kurfürsten ein, sich ihren zum Zur Aufführung gelangten: „1) Raphael und seine Geliebte von Theater gewandelten Geburtsort näher anzusehen.128 In einer Raphael. 2) Das trauernde Königspaar von Lessing. 3) Der Par- weiteren Szene, die im Inneren des Theaters spielt, findet ein naß von Raphael.“136 Das letztgenannte Bild ist ein Hinweis Dialog zwischen dem skeptischen Gehilfen und dem optimisti- darauf, dass zu diesem Anlass der zweite Teil der Musik zu Im- schen Architekten129 über die Ziele und Ansprüche des Theaters mermanns Vorspiel Kurfürst Johann Wilhelm im Theater noch statt. Während die beiden in Streit geraten, ob die Bühne über- einmal erklungen ist.137 haupt in dieser Zeit noch Bestand habe,130 erscheint die Statue Mendelssohns musikalischer Beitrag zur Eröffnung des Düs- und lässt durch Gesten ihr Wohlwollen über die Gestaltung seldorfer Theaters ist auch ein Beispiel für geistvolle Mozart- des neuen Hauses erkennen. In dieser Szene wird der Kurfürst Rezeption. Denn im ersten Teil des Stückes werden musika- auch befragt, ob sein Segen noch über dieser Stadt schwebe. lisch Bezüge zur berühmten Komtur-Szene des Don Giovanni Seine Reaktion ist positiv und versöhnlich zugleich. Immer- hergestellt. Einerseits verwies Mendelssohn damit auf die um- mann schrieb für das Ende seines Bühnenstückes vor: „Die Sta- strittene Musteraufführung der Oper ein knappes Jahr zuvor. tue (deutet winkend nach der Hinterwand und versinkt dann Andererseits setzte der Komponist die in Immermanns Text- langsam, so, daß sie nicht eher versunken ist, als bis die Musik vorlage vorgesehene Parodie auch musikalisch um, indem er aufgehört hat.)“ 131 Zeitgleich damit setzte die letzte Aktion ein: Mozarts Begleitmusik zum Erscheinen einer marmornen Figur „(Die Hinterwand erhebt sich und das Gemälde Raphaels: der als Ausgangspunkt­ für seine Begleitmusik zum Auftreten der Parnaß, wird in lebenden Figuren sichtbar. Die Musik dauert bronzenen Figur wählte. Er ließ sie immer dann erklingen, fort, bis der Vorhang fällt. Sobald das Bild sichtbar wurde, ha- wenn sich die Statue auf der Bühne bewegte. Blieb diese stehen, ben sich Architect und Gehülfe leise und schicklich zurückgezo- verstummte die Musik. Mit der Untermalung der Pantomime gen.)“132 Ursprünglich war als Höhepunkt ein anderes Tableau unterstützte die Musik die nonverbale Kommunikation der geplant gewesen: „H.[err] Hildebrandt legte den Kupferstich stummen Rolle des Johann Wilhelm mit den beiden sprechen- von Volpato, ‚Der Parnaß von Raphael‘ vor. Es wurde beschlos- den Schauspielern, dem Architekten des Theaters und seinem sen, danach und nicht nach dem Ruscheweihschen Blatte das Gehilfen. Tableau im Vorspiele zu stellen. H[err] Hildebrandt versprach das Arrangement dieses lebenden Bildes zu leiten.“133 Immer- manns Ziel, mit dem eigens zu dem Anlass verfassten Text MWV M 10 das Publikum direkt und aktuell anzusprechen, wurde bei der Alexis: Die erste und letzte Musik für Karl Immermann Urauf­führung zur Zufriedenheit des Textdichters erreicht: „[…] und da die Leute ihren Marktplatz mit dem Pferde sahen, und Über den ersten persönlichen Kontakt mit Immermann Ende von Actionairen[,] Pempelfort, Rath der Alten, Überbau und November 1831 informierte Mendelssohn seinen Vater: „Im- dergl. mehr reden hörten, so konnte es mehreren Stellen an Bei- mermann, der nur auf einige Tage verreist war, ist längst wieder fall nicht fehlen. Zuletzt erschien das Tableau, welches wirklich hier und hat mich mit der größten Freundlichkeit aufgenom- einen entzückenden Anblick gewährte, den sich das Publicum men; das freut mich um so mehr, da sein ganzes Wesen sehr denn auch gefallen ließ.“134 Die positive Wirkung des Tableaus verschlossen und einsam zu sein scheint, und da ich höre er sey wurde ausgenutzt, indem es wenige Tage später gleich noch meist ganz kalt und abstoßend. Ich zweifle nicht, daß er ein einmal verwendet wurde. Am 8. Dezember 1834 kamen drei wirklicher Dichter ist und wenn der wollte, da hätte ich was mir „Lebende Bilder mit Musikbegleitung“135 zur Aufführung. Die jetzt fehlt und was ich nothwendig haben muß, meinen Text. tableux vivants wurden von den Malern Theodor Hildebrandt Nach seiner ganzen Art aber bin ich überzeugt, daß er meinen (1804–1874) und Carl Ferdinand Sohn (1805–1867) in Szene Antrag annehmen wird, ich sah ihn gestern zum erstenmal gesetzt, die Musik stammte von Felix Mendelssohn Bartholdy. Abends bei Schadow, er sprach fast den ganzen Abend mit mir,

128 „[…] wenn Sie geruhen wollten, ein kleines Wunder zu thun, von ihrem Rosse zu steigen, und uns an Ihrer Geburtsstätte zu besuchen.“, Kurfürst, Textbuch [Anm. 126], S. 101. 129 Charakteristisch ist ein Ausspruch wie: „Ich bin ein Rheinländer. Das heißt, Einer, der hinterm Schöppchen bis in die Wolken baut, und am Ende auch dankbar zufrieden ist, wenn ein mäßiges Häuschen zu Stande kommt.“, Kurfürst, Textbuch [Anm. 126], S. 97. 130 Gehilfe: „Die Zeiten des Theaters sind für Deutschland überhaupt vorbei.“, Architekt: „Ja, so tönt, bis zum Ekel wiederholt, das Gewinsel der Journale. Und doch beweist grade diese allgemeine Klage wenigstens das allgemeine Bedürfniß der Sache.“, Kurfürst, Textbuch [Anm. 126], S. 103 f. Der Befürch- tung des Gehilfen, „Lauter Trauerspiele in fünf Acten, und alte vergessene classische Opern“ zu hören, entgegnet der Architekt mit dem Hinweis auf die vielen Proben, die für solche Werke notwendig seien, so „daß wir mit Jamben und Gluck nicht überschüttet werden.“, ebd., S. 105. 131 Kurfürst, Textbuch [Anm. 126], S. 111. 132 Ebd. 133 Eintrag für den 15. Oktober 1834, Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 353. Eine Reproduktion des erwähnten Kupferstichs von Volpato in: Bür- gerlichkeit und Öffentlichkeit [Anm. 65], S. 52 und in: Wehner, Kurfürst [Anm. 66], S. 158. Der ursprünglich aus Neustrelitz stammende Zeichner und Kupferstecher Ferdinand Ruscheweih (1785–1845) lebte seit 1808 in Italien, wo er der katholischen Kirche beitrat. 134 Eintrag für den 28. Oktober 1834, Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 368. 135 Laut Anzeige in der Düsseldorfer Zeitung vom 7. Dezember 1834, S. [4], und laut Theaterzettel in D-WRgs,GSA 49/392, fol. 29, bestand der Abend aus drei Teilen. Zunächst wurde Pierre-François Mervilles Lustspiel Les deux Anglais (1817) gegeben, frei nach dem Französischen von Carl Wilhelm August Blum als Die beiden Briten, es folgte die „Symphonie in C moll von Beethoven“, den Schluss bildeten die lebenden Bilder. Näheres hierzu siehe Wehner, Kurfürst [Anm. 66], S. 158. 136 Düsseldorfer Zeitung, ebd. 137 Der Parnaß wurde auch am 16. September 1836 anlässlich eines Besuches des preußischen Kronprinzen als lebendes Bild gestellt. Bei diesem Anlass beschrieb Immermann das Tableau näher, Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 499 sowie Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. III.2, S. 1117. Es ist davon auszugehen, dass auch hier Mendelssohns Musik erklang. XXV kam bald auf Opern und Operntexte und aus seinem Gespräch Die Hauptschwierigkeit, welche sich bei dem Geschäfte zuerst zeigte sich, daß er wohl schon oft darüber gedacht haben müsse aufthat, war, daß fast alle Rollen sich als Charakterrollen zeig- und auf eine solche Idee gewiß eingehen werde. Wir gingen ten, und eigentlich keine in der hergebrachten Bühnenweise dann noch mit einander nach Hause und begleiteten einander zu spielen war.“142 Doch am 20. und 21. April 1834 ging das hin und her, morgen will er mir sein neues Trauerspiel Alexis Ganze in Szene.143 Von der Streichung einzelner Szenen nicht vorlesen und heut oder morgen will ich dann feierlich wer- betroffen war dasTodeslied der Bojaren, wobei sich im Umfeld ben.“138 Man darf wohl annehmen, dass beim Verlesen aus dem der Aufführung Überlegungen zur Verbesserung der Inszenie- Manuskript des Alexis die Idee aufgekommen ist, das im ersten rung ergaben: „Der Todesgesang der Bojaren trainirte. Teil des Trauerspiels vorgesehene Todeslied der Bojaren in Musik Bei einer Repetition soll Gordon während des Liedes sprechen, zu setzen. Auch Mendelssohn hatte einen guten Eindruck bei und vielleicht nur ein Vers gesungen werden.“144 Es ist wohl Immermann hinterlassen. In einem Brief vom 12. Dezember davon auszugehen, dass das Lied nicht mit Klavierbegleitung 1831 schrieb Immermann seinem Bruder Hermann Immer- aufgeführt wurde, sondern in derjenigen Instrumentation, die mann (1807–1868): „Seine Kompositionen sind originell, und im vorliegenden Band erstmals gedruckt wird. ich habe gute Hoffnung zu ihm. Dieß hat mich denn auch mit- Fast zehn Jahre nach dem Entstehen des Todesliedes wandte sich bestimmt, ihm den Gefallen zu thun, und ihm das Opernbuch im September 1841 Joseph Fischhof (1804–1857) aus Wien an zu schreiben. […] man muß sehn, ob sich die Sache ausführen den Komponisten mit einer speziellen Bitte: „Nun noch einen läßt.“139 Als Beleg erhielt der Bruder das Lied mit den Worten: Wunsch, wozu Sie mich ermuthigten;145 ich besitze nämlich „Hierbei sende ich eine Komposition meines Bojarenliedes von nicht v. Ihnen die Rhapsodie, die in der Berliner Musikzeitung Felix Mendelssohn, welche Ihr Euch von Hermann Voigtel vor- abgedruckt ist, sowie den 4stimigen Gesang aus Imermann’s tragen laßen könnt. Mir ist sie gut und charakteristisch vorge- Alexis.“146 Sehr wahrscheinlich beruhten diese Formulierungen kommen.“140 Seinem Tagebuch vertraute Immermann eine et- auf einem Mendelssohn-Werkverzeichnis, das Dr. Alfred Julius was differenziertere Sicht an: „Vom 27. Novbr bis 4. December Becher (1802–1848) für den Orpheus verfasst hatte und in dem Felix Mendelssons Besuch. Freund Schadow hat […] ein „Vierstimmiger Gesang aus Immermann’s Trauerspiel Alexis; mir viel von dem Intreße M[endelssohn]s an mir, welches die- als Beilage darin abgedruckt“ Erwähnung fand.147 Mendelssohn sen Besuch motivire, vorgeschwatzt; und am Ende war es doch nutzte die Gelegenheit, sich gegenüber Fischhof erkenntlich zu nur der Wunsch des jungen Komponisten, ein Opernbuch von zeigen. Er überarbeitete eine Abschrift des Todesliedes,148 fügte mir zu haben, welcher ihn herbrachte. Ich habe es denn zu- am 13. Oktober 1841 eine Widmung hinzu und legte das Blatt gesagt, weil ich die Möglichkeit sehe, eine poetische Oper zu einem mit 12. Oktober 1841 datierten Brief an Fischhof bei.149 schreiben, weil ich etwas bei dieser Arbeit lernen kann, und weil Ebenfalls am 13. Oktober 1841 wandte sich Mendelssohn an mir der Junge gar sehr gefallen hat. Eine überaus frische, junge, einen anderen Adressaten in Wien. Mittlerweile hatte auch liebenswürdige Natur.“141 der Komponist den Orpheus in die Hand bekommen.150 Nun Mit der Drucklegung des Alexis im Sommer 1832, in dem das schrieb er an den Autor des Werkverzeichnisses und kam auf die Todeslied der Bojaren in der Fassung für Singstimme und Piano­ Idee zurück, einen Opernstoff aus Wien zu erhalten. „Am liebs- forte als Musikbeilage wiedergegeben war, fand das Stück seine ten wär mir’s freilich wenn ich mich mit Ihnen oder Prechtler151 erste Verbreitung. Im Frühjahr 1835 stellte Immermann eine selbst vorher über ein rechtes Sujet vereinigen könnte, denn we- eigene Bühnenfassung seines Werkes her. „Es war eine gewaltige der der Sturm noch der standhafte Prinz an die ich früher viel Arbeit, diese 10 Acte in wenigen Wochen in Szene zu setzen. dachte, sind der Art, wie ich mir jetzt eins in meinen Wünschen

138 Brief vom 27. November 1831 an Abraham Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 140. Durch den Porträt- und Historienmaler Friedrich Wilhelm Schadow (1788–1862) war Mendelssohn bereits im Frühjahr 1831 in Italien mit Gedichten Im- mermanns in Berührung gekommen. 139 Brief vom 12. Dezember 1831 von Karl Immermann an Hermann Immermann, Immermann, Briefe [Anm. 69], Bd. I, S. 1007–1010, das Zitat S. 1008–1009. 140 Ebd., das Zitat S. 1008, Carl Hermann Voigtel war der 1807 geborene Sohn des königlichen Regierungsdirektors Johann Karl Traugott Voigtel (1761–1840). 141 Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 61–62, Hervorhebung im Original. 142 Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 458. 143 Theaterzettel in D-WRgs,GSA 49/392, fols. 112–113. Wiederaufnahme am 26. Januar 1837. Als Regiebuch Immermanns diente für den ersten Teil Die Bojaren ein eingerichtetes Druckexemplar des Alexis von 1832, D-WRgs, GSA 49/33,3. 144 Immermann, Tagebücher [Anm. 119], S. 460, Hervorhebung im Original. Das Regiebuch [Anm. 143] enthält auf S. 158 weitere Gedanken Immer- manns zur Gestaltung dieser Szene. Die Rolle des schottischen Oberst Gordon hatte Eduard Euling übernommen. 145 In Mendelssohns vorhergehendem Brief vom 23. September 1841 an Joseph Fischhof hatte Mendelssohn seinen Briefpartner ermuntert, ihm einen Auftrag zu geben, damit er etwas in Berlin besorgen könne. 146 Brief vom 30. September 1841 von Joseph Fischhof an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 40, Green Books XIV-103. 147 Orpheus. Musikalisches Album für das Jahr 1842, hrsg. von August Schmidt, 3. Jg., Wien [1841], S. VII. Ebenda wird die „Rhapsodie für Pfte.“ erwähnt, womit das Scherzo h-Moll MWV U 69 gemeint war. 148 Siehe Kritischer Bericht zu MWV M 10, Quelle D. 149 Brief vom 12. Oktober 1841 an Joseph Fischhof, University of Leeds, Leeds University Library, Brotherton Collection, ohne Signatur (Album Mendels- sohn’s Lettres to Moscheles 1826–1847). 150 Mendelssohns mit einer auf den 12. September 1841 datierten Widmung von August Schmidt versehenes Exemplar befindet sich in GB-Ob, Deneke 313. 151 Otto Prechtler (1813–1881) lieferte 1842 mehrere Librettoentwürfe, die aber keine Umsetzung durch Mendelssohn erfuhren. XXVI ausmale. So ein recht Leidenschaftliches, Menschliches, Natür- sie mirs länger vorher sagen. Dieses wurmte mich; Cécile hatte liches, alle Leute gleich Berührendes, Ursprüngliches möcht’ sich erkältet ud. lag Abends um 9 und schlief, da überlegte ich ich haben! Entweder gar keine Liebe darin, oder gleich Liebe mir die Sache, fing meine Partitur an; Mittwoch war den gan- zum Tollwerden; so was was jeder schon einmal empfunden, zen Morgen Concertprobe, Donnerstag Concert, ud. Freitag und noch keiner componirt hat, möcht’ ich.“152 Zu einer voll- früh war die ganze Ouvertüre beim Abschreiber, wurde Mon- ständigen Umsetzung dieser Idee ist es nie gekommen. tag erst im Concertsaal 3mal dann einmal im Theater probirt, Abends zu dem infamen Stück gespielt, und hat mir einen so großen Spas gemacht, wie nicht bald eine von meinen Sachen. MWV M 11 Im nächsten Concert wiederholen wir sie auf Begehren, da Musik zu Ruy Blas von Victor Hugo: Eine Schauspielmusik nenne ich sie aber nicht Ouvertüre zu Ruy Blas, sondern zum für Leipzig Theaterpensionsfonds.“156 Die zuletzt genannte Wiederholung im Gewandhaus bildete den Auftakt zu einer Entwicklung, die Im November 1844 sammelte Felix Mendelssohn Bartholdy das ursprüngliche Eröffnungsstück der Schauspielmusik­ hin zu Materialien für ein Autographenalbum, das seine Frau zu Weih- einer selbständigen Konzert-Ouvertüre nahm.157 nachten geschenkt bekommen sollte. In diesem Zusammen- Mendelssohns spontaner Entschluss, eine Ouvertüre beizusteu- hang bat er Julius Stern (1820–1883), der in Paris lebte, um ern, fand auch in der öffentlichen Ankündigung der Benefiz-­ ein Autograph von Victor Hugo (1802–1885) mit den Worten: Veranstaltung zwei Tage zuvor Erwähnung: „N. S. So eben „Da ich einmal zum Ruy Blas die vollständige Musik geschrie- erhielt der Einsender dieses die angenehme Nachricht, daß ben habe, so thäte mir Victor Hugo vielleicht den Gefallen, Herr D. Mendelssohn=Bartholdy das Pensions=Verwaltungs= selbst wenn er, der Vielbelästigte, es sonst Andern versagt … Sie Comité noch mit dem Geschenke einer neuen, von ihm für würden mir eine große Freude dadurch machen! Verzeihung! den wohlthätigen Zweck der Vorstellung eigens compo- Verzeihung!“153 Die „vollständige Musik“, von der Mendelssohn nirten Ouverture über­rascht hat, mit der dieselbe am Montage schrieb, war in Wirklichkeit eine ausgewachsene Ouvertüre würdig eröffnet werden wird. Durch die großmüthige Unter- und ein Stück für Frauenchor und Orchester, die fünfeinhalb stützung eines so ausgezeichneten und von allen Freunden der Jahre zuvor für das Stadttheater zu Leipzig entstanden und am Kunst so verehrten Mannes erhält das Institut eine neue Bürg- 11. März 1839 zum ersten Mal auf der Bühne gegeben worden schaft für die rege Theilnahme des Publicums in Gegenwart waren.154 Über die näheren Umstände unterrichtete­ der Kom- und Zukunft.“158 Die Zeitung enthielt ferner auf der Titelseite ponist seine Mutter wenige Tage nach der Uraufführung: „Du eine „Bekannt­machung“ mit dem Hinweis: „Die Musik zu der willst wissen,155 wie es mit der Ouvertüre zugegangen ist – lustig in der zweiten Handlung vorkommenden Romanze ist, so wie genug; vor 6=8 Wochen kam die Bitte an mich für die Vor- eine neue Ouverture, von Herrn Doctor Mendelssohn= stellung des Theaterpensionsfonds (einer sehr guten und wohl- Bartholdy componirt.“159 Bei der Aufführung wurde allerdings thätigen Anstalt hier die zu ihrem Benefiz Victor Hugo’s Ruy der direkte Eindruck durch verschiedene Umstände geschmä- Blas gab) eine Ouvertüre ud. die in dem Stück vorkommende lert: „Durch das Geräusch und Gedränge der Ankommenden Romanze zu componiren, weil man sich davon eine bessere Ein- und vorwärts Schreitenden ging uns der Zusammenhang der nahme versprach wenn mein Name auf dem Titel stände. Ich las Ouverture, deren sanftere Verbindungssätze uns nur undeut- das Stück, das so niederträchtig unter jeder Würde ist wie mans lich ummurmelten, ganz verloren. Die voranstehenden Hörer gar nicht glauben kann, ud. sagte zu einer Ouvertüre hätte ich bewiesen ihr Wohlgefallen durch die gewöhnlichen Zeichen keine Zeit, ud. componirte ihnen die Romanze. Montag (heut des Beifalls. Man wird sie im letzten Abonnement-Konzert vor 8 Tagen) sollte die Vorstellung sein; Dinstag kommen die wiederholt zu Gehör bringen, damit man ungestört sich der- Leute nun, bedanken sich höflich für die Romanze, ud sagen selben erfreue. Die Romanze (der Blumenmädchen) hörten wir es wäre so schlimm, daß ich keine Ouvertüre geschrieben hätte, viel besser, ob sie gleich hinter der Szene mit nicht starker, nur aber sie sähen sehr wohl ein, daß man zu einem solchen Werk guitarrenähnlicher Begleitung vorgetragen wurde. Sie ist völlig Zeit brauche, und im nächsten Jahre, wenn sie dürften wollten angemessen und angenehm wirksam. Es wird aber auf der Szene

152 Brief vom 13. Oktober 1841 an Alfred Julius Becher, D-DÜhh, 51.4916, gedruckt in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 8, hrsg. und kommentiert von Susanne Tomkovič, Christoph Koop und Sebastian Schmideler, Kassel etc. 2013, S. 219–220, das Zitat S. 220. 153 Brief vom 4. November 1844 an Julius Stern, Original in Privatbesitz, zitiert nach: Hartung & Hartung, München, Katalog 107 (13.–15. Mai 2003), S. 414 (Nr. 2464). 154 Vier Monate vorher hatte die Uraufführung des Dramas in Paris stattgefunden. 1838 war auf Initiative von Victor Hugo und Alexandre Dumas eine Gesellschaft mit Namen Théâtre de la Renaissance ins Leben gerufen worden. Diese Theater-Kompagnie trat mit HugosRuy Blas am 8. November 1838 in der Pariser Salle Ventadour zum ersten Mal in Erscheinung. 155 Die Mutter hatte vorher geschrieben: „Deine ouvert. giebt mir die erste Lust, Ruy Blas zu lesen, mein Felix! […] Bitte, sag es mir: auf weßen Veranla- ßung, denn Du bist ja ein Gegner u Verächter, sogar des Notre dame, was mir noch das beste seiner Werke scheint. Ich habe nicht deutlich verstanden, ob es im Theater zur Aufführung gekommen, oder nur für die Koncerte? Sag mir auch Dein Urtheil über das Stück!“ Brief vom 17. März 1839 von Lea Mendelssohn Bartholdy an ihren Sohn, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 36, Green Books X-235. 156 Brief vom 18. März 1839 an Lea Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 398; der Brief wurde erstmals (mit Abweichungen) gedruckt in: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 [Anm. 68], S. 189–190. 157 Auf diese weitere Verwendung als Konzert-Ouvertüre MWV P 15 und Mendelssohns später distanziertes Verhältnis zu seinem Werk wird in anderem Zusammenhang näher eingegangen, siehe Serie I, Band 9 dieser Ausgabe. 158 Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 68 vom 9. März 1839, S. 390, Hervorhebungen im Original. 159 Ebd., S. [389], dito. XXVII bei fortgehender Handlung während des Gesanges gesprochen, Wochen nach der Leipziger Uraufführung wandte sich der was die Aufmerksamkeit der Meisten theilt, so dass die Musik Übersetzer an den Komponisten: „Journale und Freunde be- ausserhalb des Theaters gewinnen muss.“160 richten mir, wie Ew. Wohlgeboren­ zu der, mit Ausnahme Ihrer Wie die Ouvertüre ging auch die erwähnte „Romanze“ für schönen Musik, ziemlich erfolglos vorübergegangenen Überset- Frauenchor später eigene Wege. Das Autograph gelangte zu- zung165 des ‚Ruy Blas‘ eine sehr werthvolle Composition des da- nächst zu Friedrich Wilhelm Jähns (1809–1888). Mendelssohn rin vorkommenden Liedes geliefert haben.“166 Dräxler äußerte entschuldigte sich bei der Übersendung der Handschrift, dass die Bitte, „die der gefeierte Compositeur dem Dichter verzeihen er kein neues Stück komponieren könnte, erklärte dann aber und gewähren möge“, ihm „eine Abschrift dieser Composition die Besonderheit und die Position des Frauenchor-Liedes im etwa mit Pianoforte=Begleitung gütigst hieher zukommen“167 Drama: „Es war meine Absicht Ihnen eins meiner Stücke ei- zu lassen. Mendelssohn bedankte sich am 3. Mai 1839 bei dem gends abzuschreiben […]. Leider hielten mich ununterbrochen Übersetzer und schickte ihm das gewünschte Klavierarrange- (unmusikalische) Geschäfte von der Ausführung meines Vor- ment unter der Bedingung, es nicht zu publizieren.168 Auf die satzes ab, und so müssen Sie entschuldigen wenn ich Ihnen nur weitere Geschichte des Liedes hat erstmals Rudolf Elvers auf- beikommende Kleinigkeit für Ihre Sammlung anbieten kann. merksam gemacht.169 Denn dem Wunsch Mendelssohns, das Es ist ein kleines Chor=lied, das in Victor Hugo’s Ruy Blas vor- Stück unveröffentlicht zu lassen, wurde nicht entsprochen. komt und für die Aufführung in Leipzig componirt war: die Schon im Oktober 1839 erschien die Romanze in Wien als No- Königinn sitzt in ihren Hofzimmern, mit ihrem Hofstaat, ud. tenbeilage zu Orpheus, einem musikalischen Taschenbuch für sehnt sich nach der frischen Luft; da hört sie draußen die Wä- das Jahr 1840.170 Mit dem Herausgeber des Orpheus, Dr. August scherinnen singen, die von der Arbeit nach Hause ziehn, und Schmidt (1808–1891), gab es daraufhin einen unerfreulichen beneidet die von Herzen. Daß niemand anders die kleine Com- Briefwechsel,171 der nichts an der Tatsache änderte, dass die Ro- position hat, ist das einzige was ich zur Entschuldigung anfüh- manze „Wozu der Vöglein Chöre“ fortan als Duett mit Klavier- ren kann, wenn ich sie Ihnen sende; die schlechte äußere Ge- begleitung gern gesungen wurde und im 19. Jahrhundert weite stalt ud. Schrift weiß ich aber kaum zu entschuldigen ud. hoffe Verbreitung fand.172 auf Ihre Nachsicht!“161 Jähns bedankte sich umgehend für die Mendelssohns eingangs besprochener Wunsch nach einem Au- Übersendung des erbetenen Beitrages und freute sich aufrichtig tograph von Victor Hugo wurde entsprochen. Julius Stern be- über jenen Chor der Wäscherinnen, den er als „charaktervolle wie dankte sich aus Paris und übersandte die gewünschten Verse liebliche Composition, zumal als ein Unicum“162 bezeichnete. von Victor Hugo für Cécile Mendelssohn Bartholdys Album.173 Den deutschen Text für den Chor (und für das gesamte Schau- Dabei übermittelte er, dass der französische Schriftsteller sehr spiel163) hatte Carl Ferdinand Dräxler (1806–1879), genannt angetan gewesen sei, dass Mendelssohn seinen Ruy Blas kom- Dräxler-Manfred, nach Hugos Original164 angefertigt. Sechs poniert habe.174

160 Allgemeine musikalische Zeitung 41 (1839), Nr. 12 (20. März), Sp. 239–240. 161 Brief vom 7. April 1844 an Friedrich Wilhelm Jähns, New York, The Morgan Library & Museum,Heineman MS 144. 162 Brief vom 8. April 1844 von Friedrich Wilhelm Jähns an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 45, Green Books XIX-217. 163 Victor Hugo, Ruy Blas. Drama in fünf Handlungen, Deutsch von C. Dräxler-Manfred, Frankfurt am Main 1839, darin Romanze S. 74–75. Die Vorrede des Verfassers ist – wie im französischen Original, siehe folgende Anm. – mit 25. November 1838, das Nachwort des Übersetzers mit 18. Dezember 1838 datiert. Zwischen Uraufführung und deutscher Übersetzung liegen damit nur wenige Wochen. 164 Das Theaterstück war bei Brockhaus und Avenarius erschienen: Victor Hugo, Ruy Blas, Drame en cinq actes, Leipzig 1838, die Einleitung ist mit 25. No- vember 1838 datiert. Hugos Originalmanuskript, zwischen dem 8. Juli und dem 11. August 1838 entstanden, und weiteres Material zur Entstehung und zur Uraufführung befinden sich heute in Paris, Bibliothèque nationale de France, Département des Manuscrits,NAF 13373. 165 Im Vorfeld war die Übersetzung sehr gelobt worden, das Leipziger Tageblatt [Anm. 158], S. 390, zitierte aus der Zeitung Die Eisenbahn. Unterhaltungs- blatt für Volk und Haus, Nr. 16: „Dräxler Manfreds Verdeutschung ist in sprachlicher Beziehung ein Meisterstück; der rhythmische Schwung der Victor Hugo’schen Verse ist mit Portraitähnlichkeit wiedergegeben. In jedem Falle verdankt das Schauspiel=Repertoir unserer Bühne dem Pensionsfonds eine erfreuliche Novität.“ 166 Brief vom 18. April 1839 von Carl Ferdinand Dräxler an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 35, Green Books IX-130. 167 Ebd. Der Brief ist unterschrieben mit Dr. Draexler Manfred. 168 Brief vom 3. Mai 1839 an Carl Ferdinand Dräxler, Privatbesitz. Zugänglich ist momentan nur eine kurze Zusammenfassung des Briefes in: Dr. Ernst Hauswedell, Hamburg, Katalog 63 (2. Dezember 1955), Nr. 383: „Als Dank u. Anerkennung für eine gelungene Übersetzung schenkt ihm der Komponist den Klavierauszug einer Romanze, den er nicht zu veröffentlichen bittet. Es schien ihm bei der Romanze, die er wohl zu der Übersetzung komponiert hat ‚darauf anzukommen gerade an 1. Stelle ein recht einfaches Liedchen, recht im Gegensatz zur schwülen unbequemen Hofluft hinzustel- len‘ etc.“. 169 Die erste Veröffentlichung der Romanze zu Victor Hugo’s „Ruy Blas“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, hrsg. von Rudolf Elvers, Berlin 1968 (im Folgenden: Elvers, Verlegerbriefe), S. 349–352. 170 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle F. 171 Ausführlich behandelt bei Elvers, Verlegerbriefe [Anm. 169] mit vollständigem Abdruck eines Briefes vom 12. März 1841 von A. Schmidt an Felix Men- delssohn Bartholdy, ebd. S. 350–351. Schmidt stellte die Sache so dar, dass er davon ausgegangen wäre, dass Mendelssohn ein Freund von Dräxler sei, der ihm das Manuskript zum Druck angeboten habe. Originalbrief in: GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 39, Green Books XIII-122. Weder vom Übersetzer noch vom Verleger ist eine weitere Korrespondenz mit dem Komponisten bekannt. 172 Dies insbesondere, nachdem das Stück 1849 in die Sammlung von drei Duetten opus 77 aufgenommen wurde (darin Nr. 3). 173 GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn b. 2, fol. 62. 174 „Von Victor Hugo, der sich über die Nachricht, daß Sie, Ruy Blas durch Ihre Composition zugleich musikalischen Werth gegeben, sehr gefreut, folgen anbei mit seinen besten Empfehlungen, die gewünschten Verse.“ Brief vom 19. November 1844 von Julius Stern an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 46, Green Books XX-172. XXVIII

Mit der Musik zu Ruy Blas endet der disparate Komplex von Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf; Halifax (Kanada), Dal- Mendelssohns kleineren Bühnenwerken. Anfang der 1840er housie University Library; University of Leeds, Leeds Univer- Jahre traten infolge der Anstellung in Berlin zunächst als Capell­ sity Library, Brotherton Collection; Leipzig, Stadtarchiv; Stadt- meister, dann als General-Musik-Director die vollständigen geschichtliches Museum Leipzig; Music Division, New York Schauspielmusiken nach antiken Themen,175 die Erweiterung Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Til- der Sommernachtstraum-Ouvertüre zur vollständigen Musik den Foundations; New York, The Morgan Library & Museum; zu Ein Sommernachtstraum176 MWV M 13 und die Musik zu Bodleian Library, University of Oxford; Bibliothèque natio- Athalia von Racine177 MWV M 16 in den Vordergrund des nale de France, Paris; Washington, D.C., The Library of Con- Komponierens. Ohne die Erfahrungen, die Mendelssohn mit gress, Music Division; Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar; den Musiken für die Düsseldorfer und Leipziger Bühne, aber Wien, Österreichische Nationalbibliothek,­ Musiksammlung. auch mit den ersten Versuchen seiner Kinderzeit gesammelt Spezieller Dank gilt Camille Richez (Berlin), die den Herausge- hatte, wären diese großen Bühnenwerke, die als Auftragswerke ber insbesondere bei den in diesem Band auftretenden sprachli- für den preußischen König figurierten, undenkbar gewesen. chen und historischen Bezügen zu Frankreich beriet. In beson- derem Maße haben auch Birgit Müller und Christian Martin *** Schmidt an der Edition mitgewirkt, ferner Thomas Frenzel, Clemens Harasim und in früheren Stadien Salome Reiser (†), Der Herausgeber hat bei der Vorbereitung dieses Bandes erheb- Armin Koch und Christoph Hellmundt. Die Edition und liche Unterstützung erfahren. So gilt der erste Dank zunächst Kommentierungen der mit Karl Immermann zusammenhän- denjenigen Bibliotheken, die die Einsicht und Auswertung genden Bühnenwerke wären ohne die Veröffentlichungen und ihrer Bestände erlaubten und Reproduktionen ausgewähl- persönlichen Hinweise von Peter Hasubek kaum möglich gewe- ter Seiten gestatteten. Zusammen mit den in der Einleitung sen. Ihnen allen sei herzlicher Dank für ihre Mitwirkung an der zitierten Dokumenten stammen die Handschriften aus fol- Herausgabe dieser Werkgruppe ausgesprochen. genden Bibliotheken: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußi- scher Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv; Leipzig, zu Pfingsten 2015 Ralf Wehner

175 Musik zu MWV M 12, Musik zu Oedipus in Kolonos MWV M 14 und Musik zu König Oedipus MWV M 15. Siehe hierzu Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen 2005 (= Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste; Bd. 44). 176 Serie V, Bände 8 (2000) und 8A (2002) dieser Ausgabe sowie Christian Martin Schmidt, Mendelssohns Schauspielmusik zum ‚Sommernachtstraum‘, in: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Bericht über die Tagung der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz am 26. und 27. November 1998, hrsg. von Dagmar Beck und Frank Ziegler, Mainz etc. 2003 (= Weber-Studien; Bd. 7), S. 268–277. 177 Serie V, Bände 9 (2010) und 9A (2005) dieser Ausgabe.